Protokoll:
17184

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 184

  • date_rangeDatum: 14. Juni 2012

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:07 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/184 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 184. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abge- ordneten Hans-Ulrich Klose, Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Hans-Christian Ströbele, Helga Daub und Wolfgang Bosbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Annette Sawade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Annette Sawade als Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 29 und 53 e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum G-20-Gipfel am 18./19. Juni 2012 in Los Cabos (Mexiko) . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Josip Juratovic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Durchsetzung des Entgelt- gleichheitsgebotes für Frauen und Männer (Entgeltgleichheitsgesetz) (Drucksache 17/9781) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Möhring (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg von Polheim (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Yvonne Ploetz (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 52: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 21859 A 21859 C 21859 C 21859 D 21860 B 21860 C 21860 C 21865 B 21868 A 21870 A 21873 B 21875 A 21877 C 21878 D 21880 B 21881 C 21882 D 21884 C 21884 C 21885 D 21887 B 21888 C 21889 C 21890 C 21891 D 21893 C 21894 C 21896 A 21897 A 21898 B 21900 A 21901 A 21903 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 zes zur Änderung des Übereinkommens vom 8. April 1959 zur Errichtung der Interamerikanischen Entwicklungsbank (Drucksache 17/9697) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Übereinkommens vom 18. Oktober 1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank (Drucksache 17/9698) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Übereinkommens vom 19. November 1984 zur Errichtung der Interamerikanischen Investitions- gesellschaft (Drucksache 17/9699) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Bun- desbesoldungs- und -versorgungsanpas- sungsgesetzes 2012/2013 (BBVAnpG 2012/2013) (Drucksache 17/9875) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mehr Sicherheit bei Medizin- produkten (Drucksache 17/9932) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Memet Kilic, Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Visapolitik liberalisieren (Drucksache 17/9951) . . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Ulrich Schneider, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zweckge- bundene und steuerfreie Übungsleiter- pauschalen und Aufwandsentschädigun- gen für bürgerschaftliches Engagement nicht auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch an- rechnen (Drucksache 17/9950) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Lieferung von U-Booten an Israel stoppen (Drucksache 17/9738) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 53: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung des Übereinkommens vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimm- ter Straßen mit schweren Nutzfahrzeu- gen (Drucksachen 17/9343, 17/9843) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Markenrechts- vertrag von Singapur vom 27. März 2006 (Drucksachen 17/9691, 17/9991) . . . . . . . c) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Achten Gesetzes zur Ände- rung eisenbahnrechtlicher Vorschrif- ten (Drucksachen 17/9692, 17/9953) . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/9995) . . . . . . . . . . . . . d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 4. Oktober 2003 zur Gründung des Globalen Treuhandfonds für Nutz- pflanzenvielfalt (Drucksachen 17/9696, 17/9955) . . . . . . . f) – m) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 437, 438, 439, 440, 441, 442, 443 und 444 zu Peti- tionen (Drucksachen 17/9760, 17/9761, 17/9762, 17/9763, 17/9764, 17/9765, 17/9766, 17/9767) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Verlängerung der Arbeit der Enquete- Kommission „Internet und digitale Gesell- schaft“ (Drucksache 17/9939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes (Drucksache 17/9918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21905 A 21905 A 21905 B 21905 B 21905 C 21905 C 21905 C 21905 D 21906 A 21906 A 21906 C 21906 C 21906 D 21907 A 21907 D 21907 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 III Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Wahl der Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsme- chanismusgesetzes (Drucksache 17/9919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der CDU/CSU und FDP: Der Netzent- wicklungsplan als Meilenstein der Energie- wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Si- cherungsverwahrung (Drucksache 17/9874) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- weiterung der jugendgerichtlichen Hand- lungsmöglichkeiten (Drucksachen 17/9389, 17/9990) . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Risiken der Riester-Rente offenlegen – Al- tersvorsorge von Finanzmärkten entkop- peln (Drucksache 17/9194) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung ei- nes Nachtrags zum Bundeshaushalts- plan für das Haushaltsjahr 2012 (Nach- tragshaushaltsgesetz 2012) (Drucksachen 17/9040, 17/9649, 17/9650, 17/9651) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Priska Hinz (Herborn), Katja Dörner, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energie- wende und Klimaschutz solide finanzie- ren – Nachtragshaushalt nutzen (Drucksachen 17/8919, 17/9911) . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 21908 B 21936 D 21908 C 21909 B 21936 D 21909 B 21909 C 21910 C 21912 A 21913 D 21914 D 21916 B 21917 B 21918 B 21919 B 21920 C 21921 D 21923 B 21924 B 21924 C 21924 D 21926 B 21927 C 21929 B 21930 C 21932 A 21933 D 21935 A 21937 A 21937 B 21938 C 21940 A 21941 B 21941 C 21943 B 21944 D 21945 B 21946 B 21947 C 21948 A 21950 B 21950 B 21950 C IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Hans-Christian Ströbele, Dr. Konstantin von Notz, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Förderung von Transparenz und zum Diskriminierungsschutz von Hinweis- geberinnen und Hinweisgebern (Whistle- blower-Schutzgesetz) (Drucksache 17/9782) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Begleitung der Reform der Bundeswehr (Bundeswehrreform-Begleitgesetz – BwRefBeglG) (Drucksachen 17/9340, 17/9954) . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/9994) . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: 10 Jahre Frauen in der Bundeswehr (Drucksachen 17/7351, 17/8496) . . . . . . . Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Karin Roth (Esslin- gen), Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Christoph Strässer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wirksame Maß- nahmen gegen ausbeuterische Kinderar- beit durchsetzen (Drucksache 17/9920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Volker Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Fortbe- 21952 B 21952 D 21954 C 21956 A 21957 B 21958 C 21959 B 21961 A 21962 C 21963 D 21965 B 21967 C 21965 D 21966 A 21969 B 21970 D 21972 A 21973 A 21974 A 21975 D 21977 A 21977 B 21977 B 21977 C 21979 A 21980 C 21981 C 21982 B 21982 D 21984 A 21985 A 21985 C 21986 C 21987 B 21988 C 21988 D 21989 D 21991 A 21991 D 21992 D 21993 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 V stand des Klosters Mor Gabriel sicher- stellen (Drucksachen 17/9185, 17/9914) . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kloster Mor Gabriel weiter schützen (Drucksache 17/9921) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Rio 2012 – Nach- haltige Entwicklung jetzt umsetzen (Drucksache 17/9922) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Heike Hänsel, Eva Bulling-Schröter, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rio+20 – Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapitalismus (Drucksachen 17/9732, 17/9988) . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Michael Grosse-Brömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tokio-Konferenz zu einem entwicklungspolitischen Erfolg füh- ren (Drucksache 17/9923) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unseriöses Inkasso zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher stop- pen (Drucksache 17/9746) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grundlage der Resolution 1701 (2006) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 2004 (2011) vom 30. August 2011 des Si- cherheitsrates der Vereinten Nationen (Drucksache 17/9873) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . Michael Link, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Auskunftspflichten der Europäischen Zentralbank einfordern und für eine ausreichende Eigenkapitalba- sis der Kreditwirtschaft sorgen (Drucksache 17/9585) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen (Psych-Entgeltgesetz – PsychEntgG) (Drucksachen 17/8986, 17/9992) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ergeb- nisoffene Prüfung der Fallpauscha- len in Krankenhäusern – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Einführung eines pauschalierenden psychiatri- schen Entgeltsystems zur qualitati- 21994 B 21994 C 21994 D 21994 B 21995 A 21996 C 21997 C 21998 B 21999 D 22000 D 22002 A 22002 B 22002 C 22002 D 22003 C 22004 D 22006 B 22007 B 22008 B 22009 B 22009 B VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 ven Weiterentwicklung der Versor- gung nutzen (Drucksachen 17/5119, 17/9169, 17/9992) Tagesordnungspunkt 20: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Übersetzungserfor- dernisse der nationalen Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014 bis 2020 berücksichtigen – Übersetzungen auch im intergouvernementalen Rahmen sicherstellen (Drucksachen 17/9736, 17/10003) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Gustav Herzog, Garrelt Duin, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schifffahrts- verwaltung des Bundes und ein modernes Wasserstraßenmanagement (Drucksache 17/9743) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: a) Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Harald Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tagespflegepersonen stärken – Qualifikation steigern (Drucksache 17/9925) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsge- rechtes Angebot an Kindertagesbetreu- ung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2011 (Dritter Zwi- schenbericht zur Evaluation des Kin- derförderungsgesetzes) (Drucksache 17/9850) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Silvia Schmidt (Eisleben), Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Barrierefreier Tourismus für alle (Drucksachen 17/5913, 17/9853) . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten Tankred Schipanski, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Potenziale der Ein- richtungen des Bundes mit Ressortfor- schungsaufgaben stärken (Drucksachen 17/7183, 17/9912) . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Barbara Höll, Jan Korte, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wirk- samer Schutz für Flüchtlinge, die wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden (Drucksache 17/9193) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg), Michael Kretschmer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Sylvia Canel, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der 22009 C 22010 A 22010 B 22010 C 22010 D 22010 D 22011 A 22012 A 22013 A 22014 B 22015 A 22016 A 22017 A 22017 B 22018 B 22019 D 22021 A 22022 A 22022 D 22023 D 22024 A 22025 D 22027 B 22027 C 22029 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 VII Fraktion der FDP: Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der Lehrerausbildung (Drucksache 17/9937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen (Drucksache 17/9947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus – zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Horst Meierhofer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Kinder- und Jugendtouris- mus unterstützen und weiter fördern – zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski- Weiß, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reisen für Kinder und Jugendli- che ermöglichen – Förderung sicher- stellen und „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterentwickeln (Drucksachen 17/8451, 17/8924, 17/9913) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mitgliedschaft in der Inter- national Organisation of Social Tourism (Drucksachen 17/4844, 17/9308) . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Menschenrechte in Zentralasien stärken (Drucksache 17/9924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Andreas G. Lämmel, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia Bögel, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Neue Heraus- forderungen der regionalen Wirtschafts- struktur meistern – GRW fortführen und EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert ge- stalten (Drucksache 17/9938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Marco Bülow, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Keine 22029 D 22030 A 22031 A 22031 D 22034 D 22035 C 22036 D 22037 C 22037 D 22039 A 22039 D 22040 D 22041 C 22043 A 22044 A 22044 B 22044 B 22045 C 22046 D 22047 D 22048 D 22050 A 22050 A 22051 C 22052 D 22054 A 22055 C 22056 B 22056 C 22058 A 22059 A 22059 C 22060 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 deutsche Zustimmung zu einer europäi- schen Förderung der Atomenergie (Drucksachen 17/9554, 17/9799) . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs (Drucksachen 17/1221, 17/9841) . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Tom Koenigs, Hans-Christian Ströbele, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Eigengebrauch von Cannabis wirksam entkriminalisieren – Nationale und internationale Drogenpolitik evaluieren (Drucksache 17/9948) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechts- änderungsgesetzes – Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklä- rungs- und Präventionshilfe (… StrÄndG) (Drucksache 17/9695) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/9851) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Ute Kumpf, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Ulrich Schneider, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Freiwilli- gendienste in zivilgesellschaftlicher Verant- wortung stärken (Drucksache 17/9926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Für effektive EU-Regeln zur Beteili- gungstransparenz an börsennotierten Unter- nehmen und die Möglichkeit des Stimmrechts- verlustes von Aktionären bei Verstößen gegen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a des Wertpapierhandelsgesetzes in der Fas- sung des Anlegerschutz- und Funktions- verbesserungsgesetzes (Drucksache 17/9940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 22061 B 22061 B 22062 C 22063 B 22064 B 22065 B 22066 A 22067 A 22067 B 22068 B 22069 C 22070 A 22070 D 22071 D 22071 D 22073 C 22074 C 22075 B 22076 A 22077 A 22077 B 22078 B 22078 D 22079 C 22080 B 22081 A 22081 A 22082 B 22083 B 22084 A 22084 D 22085 C 22085 D 22086 A 22087 B 22088 A 22089 B 22090 A 22092 A 22092 D 22092 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 IX Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 40: Antrag der Abgeordneten Michael Groschek, Uta Zapf, Rainer Arnold, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD sowie der Ab- geordneten Katja Keul, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für einen wirkungsvollen UN- Waffenhandelsvertrag (Arms Trade Treaty) (Drucksache 17/9927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Klimaziel der EU auf 30 Pro- zent anheben – zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Europäisches Kli- maschutzziel für 2020 auf 30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen – Über- schüssige Emissionsrechte stilllegen – zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU- Klimaziel anheben – 30 Prozent Emis- sionsminderung bis 2020 (Drucksachen 17/9561, 17/9562, 17/9175, 17/9993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 41: Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Schutz- und Sicherheitskonzepte für den Bau und Betrieb von Offshore-Windparkanlagen weiterentwickeln (Drucksache 17/9928) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 43: Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neuausrichtung der Bundesanstalt für Im- mobilienaufgaben (Drucksache 17/9930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Brackmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 42: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Entschließungsan- trag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 22094 A 22094 C 22095 B 22096 B 22097 B 22097 B 22098 C 22099 B 22100 B 22101 A 22102 B 22102 B 22104 A 22105 A 22105 D 22106 C 22107 D 22108 A 22108 D 22109 C 22110 B 22110 C 22111 B 22112 A 22112 A 22113 B 22114 C 22115 C 22116 D 22117 C X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 Zur Situation von Roma in der Euro- päischen Union und in den (potentiel- len) EU-Beitrittskandidatenstaaten (Drucksachen 17/8868, 17/5536, 17/7131, 17/9915) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Entschließungsan- trag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Be- ratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Situation von Roma in der Europäischen Union und in den (potentiellen) EU-Beitrittskandidaten- staaten (Drucksachen 17/8869, 17/5536, 17/7131, 17/9723) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 44: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ehr- licher Dialog über europäische Grund- werte und Grundrechte in Ungarn (Drucksachen 17/9032, 17/10004) . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Nord (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 45: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Anette Kramme, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken – Rahmenfrist verlängern – Regelung für kurz befristet Beschäftigte weiterentwi- ckeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Arbeitslosengeld statt Hartz IV – Zugang zur Arbeitslo- senversicherung erleichtern – zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversi- cherung besser absichern (Drucksachen 17/8574, 17/8586, 17/8579, 17/9612) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgre- miums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes teilgenommen haben (Tagesordnungspunkt 6) Anlage 3 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an der Wahl der Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 2 des Stabilisierungsmechanismusge- setzes teilgenommen haben (Tagesordnungs- punkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Remmers, Ulla Jelpke, Kersten Steinke und Sabine Stüber (alle DIE LINKE) zur Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung: Sammelübersicht 444 zu Petitionen (Tages- ordnungspunkt 53 m) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22118 B 22118 C 22118 D 22120 A 22121 C 22122 B 22123 C 22124 C 22125 A 22126 A 22127 D 22128 C 22129 A 22130 A 22131 B 22131 C 22132 D 22134 B 22135 A 22135 D 22136 D 22137 A 22137 B 22140 A 22142 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 XI Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes über die Feststel- lung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012 (Nachtragshaus- haltsgesetz 2012) (Tagesordnungspunkt 5 a) . Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus-Peter Willsch und Manfred Kolbe (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes über die Feststellung ei- nes Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012 (Nachtragshaushalts- gesetz 2012) (Tagesordnungspunkt 5 a) . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Wirksame Maßnahmen gegen aus- beuterische Kinderarbeit durchsetzen (Tages- ordnungspunkt 12) Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicherstellen – Antrag: – Kloster Mor Gabriel weiter schüt- zen (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Tokio-Konferenz zu einem ent- wicklungspolitischen Erfolg führen (Tages- ordnungspunkt 15) Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP) . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Unseriöses Inkasso zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher stop- pen (Tagesordnungspunkt 16) Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Auskunftspflichten der Europäi- schen Zentralbank einfordern und für eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Kredit- wirtschaft sorgen (Tagesordnungspunkt 18) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen (Psych-Entgeltgesetz – PsychEntgG) – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Ergebnisoffene Prüfung der Fallpau- schalen in Krankenhäusern – Einführung eines pauschalierenden psy- chiatrischen Entgeltsystems zur qualita- tiven Weiterentwicklung der Versor- gung nutzen (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 22143 A 22143 B 22143 D 22144 D 22145 D 22147 A 22148 B 22149 B 22149 D 22151 B 22152 C 22153 C 22154 B 22155 D 22156 C 22157 C 22158 B 22159 B 22160 D 22161 C 22162 C 22163 B 22164 A 22165 B 22166 B 22166 D 22167 B 22168 C XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Übersetzungserfordernisse der nationalen Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014 – 2020 berücksichti- gen – Übersetzungen auch im intergouverne- mentalen Rahmen sicherstellen (Tagesord- nungspunkt 20) Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und ein modernes Wasserstraßenmanagement (Ta- gesordnungspunkt 21) Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Tagespflegepersonen stärken – Qualifikation steigern – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertages- betreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2011 (Dritter Zwischen- bericht zur Evaluation des Kinderförde- rungsgesetzes) (Tagesordnungspunkt 22 a und b) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Beschlussempfehlung zu den Anträgen – Kinder- und Jugendtourismus unter- stützen und weiter fördern – Reisen für Kinder und Jugendliche er- möglichen – Förderung sicherstellen und „Aktionsplan Kinder- und Jugendtou- rismus in Deutschland“ weiterentwi- ckeln – Beschlussempfehlung zu dem Antrag: – Mitgliedschaft in der International Or- ganisation of Social Tourism (Tagesordnungspunkt 28 a und b) Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 17 Erklärung der Abgeordneten Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stär- ken (Tagesordnungspunkt 24) . . . . . . . . . . . . 22169 B 22170 D 22171 D 22173 A 22173 D 22175 A 22176 B 22177 B 22178 A 22178 D 22179 B 22180 C 22181 C 22182 B 22183 B 22184 A 22184 C 22185 B 22186 C 22187 C 22188 C 22189 D 22190 C 22191 B 22192 A 22193 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 21859 (A) (C) (D)(B) 184. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 Beginn: 9.01 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22137 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 14.06.2012 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 14.06.2012 Bellmann, Veronika CDU/CSU 14.06.2012 Brinkmann (Hildes- heim), Bernhard SPD 14.06.2012 Dyckmans, Mechthild FDP 14.06.2012 Gohlke, Nicole DIE LINKE 14.06.2012 Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.06.2012 Kauder (Villingen- Schwenningen), Siegfried CDU/CSU 14.06.2012 Krichbaum, Gunther CDU/CSU 14.06.2012 Lemme, Steffen-Claudio SPD 14.06.2012 Leutheusser- Schnarrenberger, Sabine FDP 14.06.2012 Lindner, Christian FDP 14.06.2012 Menzner, Dorothée DIE LINKE 14.06.2012 Möller, Kornelia DIE LINKE 14.06.2012 Otto (Frankfurt), Hans-Joachim FDP 14.06.2012 Dr. Reinemund, Birgit FDP 14.06.2012 Rößner, Tabea BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.06.2012 Roth (Esslingen), Karin SPD 14.06.2012 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 14.06.2012 Schreiner, Ottmar SPD 14.06.2012 Süßmair, Alexander DIE LINKE 14.06.2012 Wagner, Daniela BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.06.2012 Dr. Westerwelle, Guido FDP 14.06.2012 Zapf, Uta SPD 14.06.2012 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 14.06.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kon- trollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes teilgenommen haben (Tagesordnungspunkt 6) CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Anlagen 22138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22139 (A) (C) (D)(B) Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Annette Sawade Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Carsten Schneider (Erfurt) Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg- Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Christiane Ratjen- Damerau Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff (Rems-Murr) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Beate Walter-Rosenheimer Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler 22140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Anlage 3 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl der Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Absatz 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes teilgenommen haben (Tagesordnungspunkt 7) CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Manfred Behrens (Börde) Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht (Weiden) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22141 (A) (C) (D)(B) Klaus Barthel Sören Bartol Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Kerstin Griese Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Annette Sawade Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Carsten Schneider (Erfurt) Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg- Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Christiane Ratjen- Damerau Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff (Rems-Murr) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Niema Movassat Wolfgang Nešković 22142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Thomas Nord Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Birgitt Bender Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Claudia Roth (Augsburg) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Beate Walter-Rosenheimer Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Remmers, Ulla Jelpke, Kersten Steinke und Sabine Stüber (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung: Sammelübersicht 444 zu Petitionen (Tagesordnungspunkt 53 m) Wir stimmen – wie auch schon in der Sitzung des Pe- titionsausschusses – gegen den Abschluss der Petition zur Abschaffung der Residenzpflicht. Dem Anliegen der Petition wurde in keiner Weise ent- sprochen, denn bei den jüngst beschlossenen Gesetzes- änderungen handelt es sich lediglich um Korrekturen im Detail, die den menschenrechtlichen Skandal der „Resi- denzpflicht“ insgesamt unverändert bestehen lassen. Wir lehnen das ab. Der fortbestehende Skandal be- steht darin, dass das Menschenrecht auf Bewegungsfrei- heit ohne stichhaltige Begründung – zur Abschreckung – eingeschränkt wird und Verstöße mit erheblichen Strafen – bis hin zur Freiheitsstrafe und der späteren Verweigerung eines Bleiberechts unter Hinweis auf eben diese Strafen – geahndet werden. Die beschlossenen Gesetzesänderungen halten im Grundsatz an den Beschränkungen der Bewegungsfrei- heit, an der Genehmigungspflicht und an den strafrecht- lichen Sanktionen fest. Es steht nunmehr lediglich im Ermessen der Behörden, den eingeschränkten Kreis der Bewegungsfreiheit etwas weiter zu ziehen. Weitere Aus- nahmeregelungen gelten nur für Personen, an deren Ver- bleib in Deutschland ein besonderes staatliches Interesse besteht, wie zum Beispiel junge und gut ausgebildete Menschen. Diese selektive Herangehensweise aber steht im Widerspruch zur bedingungslosen Gewährleistung von Menschenrechten. Eine große Gruppe von Betroffe- nen kann in der Praxis von den Gesetzesänderungen nicht profitieren, wenn ihnen eine Nichtmitwirkung ge- genüber den Behörden oder „Straftaten“ vorgehalten werden. Wir sind nicht einverstanden, dass infolge der im Grundsatz weiter bestehenden Residenzpflicht rassisti- sche Kontrollen der Polizei gefördert werden, die sich nach Äußerlichkeiten von einzelnen Personen richten. In der Beschlussempfehlung heißt es: „Die in § 56 AsylVfG getroffenen Regelungen zur räumlichen Be- schränkung von Asylbewerbern dienen einer gleichmä- ßigen Verteilung der mit der Aufnahme von Asylbewer- bern verbundenen Aufgaben und Belastungen auf die Länder und Kommunen und bewirken durch die jeder- zeitige Erreichbarkeit der Asylantragsteller eine Be- schleunigung der Verfahren. Das Gleiche gilt für in Deutschland geduldete Ausländer. Dies ist in keiner Weise zutreffend. Zunächst ist der Begriff „Residenzpflicht“ erläuterungsbedürftig, da es in der öffentlichen und politischen Debatte hierum – und auch in der Petition – nicht (vorrangig) um die Pflicht geht, einen bestimmten Aufenthaltsort zu nehmen – diese sogenannte „Verteilung“ wird in den §§ 44 f. AsylVfG geregelt und nicht in § 56 AsylVfG, sondern um die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit. Letzte- res ist gerade nicht erforderlich, um eine „gleichmäßige Verteilung“ der Asylsuchenden und der damit verbunde- nen Aufgaben auf die Länder zu bewirken. Auch eine Beschleunigung des Asylverfahrens wird mit der Residenzpflicht nicht erreicht, denn die Betroffe- nen müssen ohnehin sicherstellen, dass sie jederzeit er- reichbar sind. Wenn dies nicht der Fall ist, geht dies zu ihren Lasten, vergleiche § 10 AsylVfG. „Das Gleiche“ – Beschlussempfehlung – kann für Geduldete schon gar nicht gelten, weil sie kein Asylverfahren betreiben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22143 (A) (C) (D)(B) Was die „jederzeitige Erreichbarkeit“ – etwa für Ab- schiebungen – betrifft, ist auch dies kein Argument. Konkret von Abschiebung bedrohte Menschen, die sich einer Abschiebung entziehen wollen, tauchen unter. Dies hat mit der Frage ihrer Bewegungsfreiheit bis zu dem Zeitpunkt einer konkret beabsichtigten Durchsetzung der Abschiebung nichts zu tun, und keine Vorschrift zur Be- schränkung der Bewegungsfreiheit kann sie hiervon ab- halten, wenn sie dies aus Angst vor den Folgen einer Ab- schiebung für richtig halten Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bun- deshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012 (Nachtragshaushaltsgesetz 2012) (Tagesord- nungspunkt 5 a) Der Nachtragshaushalt 2012 schafft die haushalts- rechtlichen Voraussetzungen, um die noch in diesem Jahr erforderliche Einzahlung der ersten beiden Tran- chen des deutschen Anteils am Eigenkapital des Euro- päischen Stabilisierungsmechanismus, ESM, leisten zu können. Es geht um eine Summe von 8,687 Milliarden Euro. Entscheidend für die Ausgabe ist indes die Rati- fikation des ESM-Vertrags. Wenn der ESM-Vertrag nicht ratifiziert wird, dann entfällt die Verpflichtung zur Be- zahlung der Einlage. Die parlamentarische Debatte über die Richtigkeit des ESM ist bei seiner Ratifikation zu führen, nicht im Rahmen des Nachtragshaushalts. Ob- wohl ich gegen die Ratifizierung des ESM stimmen werde, stimme ich daher dem Nachtragshaushalt zu. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus-Peter Willsch und Manfred Kolbe (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes über die Fest- stellung eines Nachtrags zum Bundeshaushalts- plan für das Haushaltsjahr 2012 (Nachtrags- haushaltsgesetz 2012) (Tagesordnungspunkt 5 a) Wir werden dem Nachtragshaushalt nicht zustimmen, weil mit dem Nachtragshaushalt die Voraussetzung dafür geschaffen wird, dass Deutschland die ersten beiden Ra- ten in Höhe von etwa 8,7 Milliarden Euro in den ESM einzahlen kann. Dieses Geld ist etwa ein Drittel von dem, was wir in diesem Jahr dem Bundesverkehrsminis- terium zur Verfügung gestellt haben. Gleichzeitig wird zu Recht allerorten ein riesiger Investitionsstau in unsere Verkehrsinfrastruktur beklagt. Im Gegensatz zum Ausbau unserer Infrastruktur ist das Geld beim ESM denkbar schlecht angelegt. Das Dogma der Bail-out-Politik, Staaten um jedem Preis vor einem Staatsbankrott zu bewahren und in der Euro-Zone zu behalten, ist ökonomisch falsch. Einigen Staaten hängt der starke Euro wie ein Mühlstein um den Hals. Die Hoffnung, dass sich die Wirtschaften im Euro-Raum einander annähern, hat sich nicht bewahrheitet. Eine Währungsunion muss allen ihren Mitgliedern nutzen. Es führt kein Weg an einem neuen Zuschnitt der Euro-Zone vorbei. Der ESM zementiert den Weg in eine Schuldenunion und institutionalisiert den fortgesetzten Vertragsbruch. Damit haben wir den Vertrag von Maastricht auf den Kopf gestellt. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was wir den Menschen bei der Einführung des Euro verspro- chen haben. Ohne jegliche Legitimation verwandeln wir die Europäische Union in ein Gebilde, das wir nie haben wollten. Seit dem Ausbruch der Euro-Krise im Frühjahr 2010 haben sämtliche Wahlen in den Mitgliedstaaten zu Regierungswechseln geführt. Wir müssen die Menschen mitnehmen und nicht das bürokratische Europa der Eli- ten noch weiter ausbauen. Wir sprechen uns für mehr Transparenz und Bürger- nähe der europäischen Institutionen aus, schaffen aber immer weiter Bürokratie. Europa stand einst für die „Einheit durch Vielfalt“. Gerade wir Deutsche mit unse- rem föderalen Staatsaufbau müssten uns gegen immer mehr Zentralismus und Gleichheitswahn erwehren. Wir brauchen keine gleichgemähte Wiese. Nur wenn dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit wieder Geltung ver- schafft werden wird, können die Wirtschaften Europas wieder blühen. Die Vielfalt war, was Europa immer stark gemacht hat. Der eingeschlagene Weg führt uns unwei- gerlich immer tiefer in die Krise und entzweit die Völ- ker. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Wirksame Maßnah- men gegen ausbeuterische Kinderarbeit durch- setzen (Tagesordnungspunkt 12) Stefan Rebmann (SPD): Kofi Annan hat einmal ge- sagt: „Am Ende wird die Geschichte uns nicht an dem, was wir sagen, messen, sondern an dem, was wir tun.“ Also: Dann reden wir nicht nur von und über die Kinder- arbeit, sondern tun wir etwas dagegen – glaubhaft, nach- vollziehbar und wirkungsvoll. Ja, es gibt zahlreiche internationale Abkommen gegen Kinderarbeit bei der ILO, es gibt die UN-Kinderrechts- konvention, und wir hören in vielen schönen Reden, wie schlimm das alles mit der Kinderarbeit ist. Nur Reden und Abkommen alleine helfen nicht, wir müssen auch konsequent handeln. Immer noch müssen über 220 Millionen Kinder mehr als zwölf Stunden tagtäglich schuften. Die Ursache für Kinderarbeit ist in erster Linie die enorme Armut, die in vielen Ländern herrscht. Durch unsere Geiz-ist-geil- und Billig-billig-will-ich-haben-Mentalität sind wir auch mitverantwortlich für ausbeuterische Produktionsstruk- turen, Lohndumping und Kinderarbeit. Damit sind wir auch mitverantwortlich, wenn Kinder zum Lebensunter- 22144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) halt – und zum Überleben – ihrer Familien beitragen müssen. Wir dürfen es nicht weiter zulassen, dass Kinder ihrer Kindheit beraubt werden, dass ihnen die Zeit zum Er- wachsenwerden, Spielen und Träumen gestohlen wird, und wir dürfen es nicht zulassen, dass ihnen Bildungs- chancen und damit Lebenschancen genommen werden. Denn wer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ar- beiten muss, kann nicht zur Schule gehen. Welch eine Vergeudung von Ressourcen und Lebenschancen. Ich will gar nicht wissen, wie viele kleine unentdeckte Ein- steins der Kinderarbeit schon zum Opfer gefallen sind. Bildung ist der wichtigste Schlüssel zur Bekämpfung von Armut, und deshalb müssen wir die Bekämpfung von Armut und Kinderarbeit, den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen und die Bildung zu einem Schwer- punkt unserer Entwicklungspolitik machen. Vielen von uns ist gar nicht bewusst, dass viele Pro- dukte und Lebensmittel oft auch durch ausbeuterische Kinderarbeit mit produziert werden. Wer von uns weiß schon, dass selbst vor Grabsteinen aus Kinderhand nicht haltgemacht wird. Viele klatschen Beifall, wenn ich sage: Wer arbeitet, muss auch von seiner Hände Arbeit leben können. 87 Prozent der Deutschen sind für einen gesetzlichen Mindestlohn und gegen Lohndumping. Wenn wir für all das sind und nicht nur an uns denken, dann müssen wir mehr als bisher gegen Kinderarbeit vorgehen – und auch deshalb unser heutiger Antrag. Aber nicht nur wir Politiker und Politikerinnen sind gefordert, auch die Verbraucher können einiges dafür tun, dass sich Unternehmen an sozialverträgliche Nor- men halten. Nehmen wir als Beispiel Schokolade: NGOs und Ge- werkschaften fordern seit langem bessere Bedingungen für die Bauern und faire Handelsbedingungen. 12,4 Pro- zent des weltweit angebauten Kakaos wird bei uns ver- arbeitet; jede achte geerntete Kakaobohne wird in Deutschland konsumiert, und von hier aus bedienen wir den zweitgrößten Schokoladenmarkt weltweit. In den letzten zehn Jahren ist der Kakaopreis ständig gesunken, und gleichzeitig ist der Verbrauch von Schokolade enorm gestiegen. Höhere Renditen und Gewinne bei sinkenden Ern- teerlösen für die Bauern stehen in einem engen Zusam- menhang mit Kinderarbeit und Armut. Wollen wir wirklich Kinderschokolade von Kindern für Kinder pro- duziert, mitproduziert von ausgebeuteten armen Kindern in Afrika für glückliche Wohlstandskinder hier bei uns? Wollen wir das wirklich? Ein Cent mehr an Produktionskosten für das Überra- schungsei, und unsere Kinder würden Schokolade essen können, die nicht durch Kinderarbeit produziert wurde. Fairer Handel und faire Arbeitsbedingungen ohne Kinderarbeit überall auf der Welt lassen sich nur dann durchsetzen, wenn wir auch als Verbraucher bereit sind, für das Produkt einen fairen Preis zu zahlen. Letztend- lich werden alle Beteiligten am Wertschöpfungsprozess und die Regierungen zusammenarbeiten müssen, um für faire Bedingungen zu sorgen. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass künftig alle Unternehmen eine lückenlose Prüfung ihrer Zulieferketten vornehmen müssen. Für die Verbraucher muss klar erkenntlich sein, bei welchen Produkten in der Herstellung soziale Mindeststandards eingehalten werden. Wir brauchen ein einheitliches Zertifizierungssystem. In jedes EU-Handelsabkommen muss das Verbot von Kinderarbeit aufgenommen werden. Ich will eine Rote Karte für Unternehmen, die meinen, mit Kinderarbeit hier bei uns Geschäfte machen zu können. Nicht an unseren Worten, sondern an unseren Tagen werden wir uns messen lassen müssen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicherstellen – Antrag: Kloster Mor Gabriel weiter schützen (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Ute Granold (CDU/CSU): Nach den Ausschussbera- tungen befassen wir uns heute erneut mit unserem Koali- tionsantrag zum Erhalt des syrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel im Tur Abdin im Südosten der Türkei. Denn dieses und andere Klöster sehen sich nach wie vor durch eine Reihe von Gerichtsverfahren in ihrer Existenz bedroht. Ich begrüße es sehr, dass wir heute in der Sache große Übereinstimmung erzielt haben, das Kloster Mor Gabriel in Deutschland und Europa auch weiterhin aktiv beim Kampf um seine Existenz zu unterstützen. Zwar haben in den vergangenen Jahren Vertreter der Bundesregierung und Bundestagsabgeordnete – ich selbst war zuletzt im Oktober 2011 vor Ort – mehrfach auf die Probleme des Klosters hingewiesen und diese auch in Gesprächen mit der türkischen Regierung zur Sprache gebracht, an der Situation des Klosters hat sich aber bislang nichts geändert. Es besteht demnach noch immer dringend Handlungsbedarf. Die heutige Türkei versteht sich als weltlicher Staat, der zu Europa gehören und der EU beitreten will, doch verweigert sie den wenigen verbliebenen Christen ele- mentare Rechte bzw. Menschenrechte. Dies wird gerade auch durch die Zwangsenteignung des Klosters Mor Gabriel, einem der ältesten christlichen Klöster der Welt, belegt. Heute leben weniger als 100 000 Christen in der Tür- kei und stellen nur noch 0,2 Prozent der Bevölkerung des Landes dar. Diese Zahl ist in den vergangenen Jah- ren sogar noch rückläufig. Die restriktiven Gesetze, die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22145 (A) (C) (D)(B) nach wie vor stark in die Religionsfreiheit eingreifen, gefährden den Fortbestand der christlichen Gemeinden. Trotz einiger Fortschritte in den vergangenen Jahren kann von Religionsfreiheit in der Türkei keine Rede sein. Der Umgang mit nichtmuslimischen Minderheiten entspricht nicht den Standards der Europäischen Union. Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommis- sion listet seit Jahren Defizite auf: Eine Befreiung vom grundsätzlich verpflichtenden sunnitisch-muslimischen Religionsunterricht ist entge- gen einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahre 2007 – der Fall Zengin – in der Praxis nach wie vor nicht problemlos möglich. Da die Türkei den syrisch-orthodoxen Christen an- ders als ihren jüdischen, griechisch-orthodoxen und armenischen Staatsbürgern keinen Status als „nicht-reli- giöse Minderheit“ im Sinne des Vertrages von Lausanne zubilligt, haben diese auch nicht das Recht, eigene Schu- len in aramäischer Sprache zu unterhalten. Religiösen Minderheiten ist es nicht gestattet, ihren geistlichen Nachwuchs auszubilden. Die religiöse Zuge- hörigkeit wird in Personaldokumenten festgehalten und bietet Anlass für vielfältige Diskriminierung im Alltag. Die mittlerweile auf Antrag mögliche Änderung der Ein- tragung – auch das Freilassen des Feldes – hat die glei- chen Folgen. Immer wieder kommt es zu Gewalt gegen Anders- gläubige und ihre Gebetshäuser. Obwohl seit Aufhebung des Art. 163 TStGB „Mission“, also die öffentliche Wei- tergabe des Glaubens, formal nicht mehr verboten ist, wird unter anderem auch von staatlicher Seite so gehan- delt, als wäre der Artikel noch in Kraft, und es kommt wegen des Vorwurfs der Missionierung weiterhin zu An- klageerhebungen. Es geht hier also nicht nur um den Erhalt des Klosters Mor Gabriel und der 1 600 Jahre alten klösterlichen Tradition, sondern auch um den Erhalt der christlichen Gemeinden – insbesondere der Aramäer – und deren Traditionen in der Türkei, in dem Land, um genau zu sein in Antiochia, wo sich die Christen zum ersten Mal Christen nannten. Mor Gabriel ist das kulturelle Erbe aller Aramäer: der syrisch-orthodoxen, der syrisch-katholischen, der sy- risch-protestantischen Christen und anderer Mitglieder der syrischen Kirche in der Türkei. Diese sehen sich als nicht anerkannte indigene Minderheit ständigen Bedro- hungen und Übergriffen ausgesetzt, die bereits zu einem beinahe vollständigen Exodus der Aramäer aus ihrer Heimat, dem Tur Abdin, geführt haben. Wir müssen uns daher neben dem Erhalt des Klosters auch dafür starkmachen, dass der christliche Glaube in der Türkei frei gelebt werden kann, dass Christen und insbesondere Priester keine Angst haben müssen, ermor- det zu werden, und dass neue Priester ausgebildet wer- den können. Die wenigen in der Türkei verbliebenen Christen müssen wieder eine Perspektive haben. Darüber hinaus ist die Anerkennung der Schule im Kloster Mor Gabriel als „Minderheitenschule“, damit dort „legal“ gemäß Lausanner Vertrag – mit staatlichen Subventionen – Sprache und Religion gelehrt und prakti- ziert werden können, unerlässlich. Diese Forderungen scheinen gering, wenn man bedenkt, dass die Zahl der Moscheen in Deutschland stetig steigt, in diesem Jahr an deutschen Schulen teilweise islamischer Religionsunter- richt eingeführt werden soll und sogar über eine umfas- sende deutsche Imam-Ausbildung nachgedacht wird. Sollten wir dann nicht im Gegenzug erwarten können, dass zumindest die bereits seit Jahrhunderten bestehen- den christlichen Klöster in der Türkei erhalten bleiben und die christlichen Minderheiten anerkannt werden? Auch die Parlamentarische Versammlung des Europa- rats hat in ihrer Resolution vom 27. Januar 2010 die Tür- kei dazu aufgefordert, den Aramäern den Minderheiten- status gemäß Lausanner Vertrag zu gewähren und die illegale Landnahme aramäischen Eigentums zu beenden. Das Europäische Parlament hat Ende März 2012 einen ähnlichen Beschluss gefasst. Der Rechtsstatus als anerkannte ethnische Minderheit würde den Aramäern eine große Rechtssicherheit und gleichzeitig eine Anspruchsgrundlage bieten, ihr Eigen- tum, ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Tradition und ihr Recht auf ungehinderte Religionsausübung – mit allem, was dazu gehört – durchsetzen zu können. Dabei wäre der Erhalt des Klosters Mor Gabriel durch den türki- schen Staat ein starkes Signal für ein Zugehen der Türkei auf die religiösen Minderheiten im Land – insbesondere die Christen. Denn klar ist: Solange die Defizite im Bereich der re- ligiösen Minderheiten fortbestehen, ist ein positiver Ab- schluss des EU-Beitrittsverfahrens nicht möglich. Die umfassende Verwirklichung der Menschenrechte und der Kopenhagener Kriterien ist eine unumstößliche Grund- voraussetzung für eine Aufnahme der Türkei in die EU. Abschließend möchte ich noch einmal die Ziele unse- res Antrags nennen: Wir wollen zeigen, dass wir die Ge- richtsverhandlungen weiterhin genau verfolgen und be- gleiten werden. Wir wollen ein klares Signal an die türkische Regierung senden, dass ein „Auf-Zeit-Spielen“ zwecklos ist, da unser Interesse am und unsere Hilfe für das Kloster nicht nachlassen wird. Wir werden Mor Gabriel nicht im Stich lassen. Das Kloster ist für uns der Lackmustest dafür, dass es die Türkei mit der Umset- zung der Religionsfreiheit ernst meint und insbesondere die religiösen Minderheiten wie die Aramäer in ihrem Land endlich anerkennt. Dass es der Türkei gerade mit dem zuletzt genannten Punkt ernst ist, könnte sie im Rahmen der aktuellen Ver- fassungsreform unter Beweis stellen und damit ein wich- tiges Zeichen in Richtung EU-Beitritt setzen. Frank Heinrich (CDU/CSU): Wir reden über den Er- halt des Klosters Mor Gabriel, und damit über nicht we- niger als ein markantes Symbol der Religionsfreiheit – oder eben der Einschränkung der Religionsfreiheit für Minderheiten in der Türkei. 22146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Das syrisch-orthodoxe Kloster Mor Gabriel liegt im Südosten der Türkei, nahe der syrischen Grenze, in der türkischen Provinz Mardin. Das Kloster und die örtliche Gemeinde sehen sich in ihrer Existenz bedroht. Es steht zu befürchten, dass das Kloster Mor Gabriel in mehreren seit Jahren anhängigen Gerichtsverfahren enteignet und entwidmet werden könnte. Es handelt sich um eine Viel- zahl von Prozessen gegenüber dem Kloster selbst, aber auch gegenüber dem Vorsitzenden der Klosterstiftung, Herrn Ergün, und anderen syrisch-orthodoxen Christen. Damit droht das Abreißen einer seit mehr als 1 600 Jah- ren gepflegten liturgischen und klösterlichen Tradition und damit eines der ältesten christlichen Klöster der Welt. Da das Kloster eine entscheidende Rolle bei der Pflege der syrisch-orthodoxen Kirchen- und Alltagsspra- che spielt und institutionell das kulturelle Erbe der sy- risch-orthodoxen Bevölkerung sichert, bleibt der Fortbe- stand der Kultur der syrisch-orthodoxen Christen insgesamt gefährdet, da eine Enteignung Folgen für um- liegende Klöster und Gemeinden hätte, die sich einer Prozessflut gegenübersehen und sich an diesem Präze- denzfall messen lassen müssten. Schon heute sehen wir Auswirkungen der Repressa- lien: Von den 200 000 syrisch-orthodoxen Christen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Türkei lebten, sind gerade noch 13 000 verblieben. Oder eine andere Zahl: Vor 60 Jahren betrug der Anteil der Christen an der Be- völkerung der Türkei 20 Prozent; heute sind es weniger als ein einziges Prozent, 0,15 Prozent, um genau zu sein. Auch der Fortbestand der über zweieinhalb Jahrtau- sende alten aramäischen Sprache – der Sprache, in der Jesus Christus gesprochen hat – ist gefährdet. Es ist da- her wichtig, uns an die Seite der syrisch-orthodoxen Christen zu stellen. Nur durch diese Initiativen einzelner Länder und der Europäischen Union hat das Kloster eine Chance, zu überleben. Ohne unsere Solidarität, so hat es der Klostervorsteher Erzbischof Aktas mehrfach betont, würde es das Kloster Mor Gabriel heute nicht mehr ge- ben. Mit der Debatte um das Kloster Mor Gabriel berühren wir eine Vielzahl angrenzender Themenfelder. Wir kön- nen sie hier und heute nicht in der Tiefe diskutieren. Da- für reicht die Zeit nicht, und dafür sind sie jeweils in sich zu wichtig. Aber zumindest vier Stichworte möchte ich kurz be- nennen: Erstens die Frage nach der Nähe der Türkei zur EU: Müssen wir von einem privilegierten Partner, mit dem die EU ergebnisoffene Beitrittsverhandlungen führt, nicht verlässliches und rechtssicheres Verhalten erwarten können, insbesondere wenn – wie im Fall der Restaura- tion des Klosters, das ja im Übrigen den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes besitzt – Fördermittel der EU im Spiel sind? Der Umgang mit nichtmuslimischen Min- derheiten entspricht nicht den Standards der Europäi- schen Union. Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission listet seit Jahren Defizite auf. Zweitens die Frage nach dem Umgang der Türkei mit seiner Historie und Gegenwart bezüglich der Minderhei- ten, ihrer Kultur und ihrer Sprache. Damit ist die Verbin- dung zu den Massakern an den Aramäern und den Arme- niern nicht weit. Können wir zulassen, dass der Völkermord bis heute geleugnet wird? Oder sollten wir hier, ähnlich wie Frankreich es im vergangenen Jahr vor- gemacht hat, noch deutlicher Position beziehen? Immer- hin hat das Europäische Parlament Ende März 2012 be- schlossen, sich dafür einzusetzen, dass die Türkei die religiösen Minderheiten, namentlich die Aramäer, aner- kennt und unterzeichnete Verträge zu ihrem Schutz auch umsetzt. Drittens die Frage nach der Integration: Wie können wir den Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass, um es mit Christian Wulffs Worten zu sagen, „der Islam zu Deutschland gehört“, wenn sich nicht gleichzeitig musli- misch geprägte Länder, zumal solche mit einer solchen Nähe zu Europa wie die Türkei, ihrerseits um die Inte- gration von religiösen Minderheiten bemühen? Zwar hat das eine rechtlich nicht notwendig mit dem anderen zu tun, doch die Stimmung, das Klima in der Bevölkerung für eine positive Integration des Islam hängt stark von gegenseitigen Handlungen ab. Im Übrigen unterstützen viele der in Deutschland lebenden Muslime diesen An- satz. Viertens die Frage nach der Religionsfreiheit insge- samt. Die Wahrung der Menschenrechte im Allgemeinen und – in diesem Fall – des Rechtes auf Religionsfreiheit sind für die Bundesrepublik ein hohes Gut. Die Türkei garantiert als laizistischer Staat die Religionsfreiheit per Verfassung. Sie hat auf dem Gebiet der praktischen Um- setzung große Fortschritte gemacht. Zu nennen sind etwa die Erlaubnisse für Gottesdienste der griechisch-or- thodoxen Christen im ehemaligen Kloster Sümela und armenischer Christen in der Kirche auf der Insel Akda- mar in den Jahren 2010 und 2011. Auch im Stiftungs- recht hat es seit 2008 erhebliche Verbesserungen gege- ben. Zu begrüßen ist nicht zuletzt das Dekret mit Gesetzeskraft vom 27. August 2011. Dieses gibt religiö- sen Gemeindestiftungen das Recht, binnen zwölf Mona- ten nach Inkrafttreten die Rückgabe von Immobilien zu verlangen, die ihnen nach 1936 durch Enteignung entzo- gen wurden. Alternativ besteht ein Entschädigungsan- spruch zum heutigen Marktwert. Doch bis heute bleiben viele Benachteiligungen in rechtlicher und sozialer Hin- sicht bestehen. Trotz einiger kleiner Fortschritte in den vergangenen Jahren ist die Religionsfreiheit in der Tür- kei nach wie vor stark eingeschränkt; insbesondere sind die Rechte betroffen, Eigentum zu besitzen, eigene Ge- betsstätten zu errichten und Geistliche auszubilden. Wir behandeln also hier ein sensibles Thema im Kon- text einer vielfältigen Problemlage. Umso wichtiger scheint mir, dass wir mit einer starken Stimme reden, und ich bitte Sie daher um Zustimmung für unseren An- trag. Wir hatten über die Möglichkeit eines gemeinsa- men Antrags gesprochen. Unter dem Drängen der Zeit sind die Fraktionen von CDU/CSU und der FDP in Vor- leistung gegangen. Die SPD hat nun doch noch einen ei- genen Antrag formuliert. Das ist schade, zumal es keinen großen inhaltlichen Dissens zu unserem Antrag gibt und der Antrag der SPD nicht wirklich weiterführend ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22147 (A) (C) (D)(B) Doch sollen nicht unser politischer Alltag und oder un- sere wechselseitigen „Spielchen“ heute das Thema sein. Vielmehr geht es um das Kloster Mor Gabriel und um den Schutz der christlichen und anderer Minderheiten in der Türkei. Ich darf Sie daher um breite Zustimmung bitten. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Vor wenigen Wochen haben wir hier im Plenum das erste Mal den Antrag der Koalitionsfraktionen beraten. Damals stand ein weiterer Prozesstag gegen den Stiftungsvorsitzenden des Klosters, Herrn Kuryakos Ergün, gerade bevor. Ihm wird vorgeworfen, er habe sich in seiner Funktion als Stiftungsvorsitzender fremden Boden angeeignet. Das Kloster habe mit einer Mauer widerrechtlich öffentli- chen Grund eingefasst. Umliegende Dörfer, aber auch die staatliche Forstbehörde, klagten. Die Debatte im Bundestag war ein wichtiges Zeichen, in der deutlich wurde, dass wir alle diesen Prozess im Blickwinkel ha- ben. Inzwischen haben wir verärgert zur Kenntnis neh- men müssen, dass der Prozess dann abermals verscho- ben wurde – ohne Begründung, zum elften Mal. Als neuer Verhandlungstermin wurde der gestrige 13. Juni festgelegt. Und heute wissen wir: Erneut vertagt – dies- mal auf den 12. September. Der bizarre Rechtsstreit zeigt, dass es hier um mehr geht als um den Konflikt um eine Mauer. Die Mauer steht schon lange. Sie war unter anderem in den Zeiten des Kampfes des türkischen Staates gegen die PKK, wo die Klöster des Tur Abdin mitten im Kampfgebiet lagen, ein wichtiger Schutz. Die Mauer steht aber auch symbo- lisch für den Schutz des Klosters. Wird sie niedergeris- sen, ist das Kloster schutzlos und mit ihm das, was es in seinem Kern ausmacht: der syrisch-orthodoxe christliche Glauben. Daneben ist auch die Existenz des Klosters ge- fährdet; denn seinen Unterhalt bestreitet es durch das Bewirtschaften der umliegenden Felder. Auch diese Ei- gentumsrechte wurden ihm in zurückliegenden Prozes- sen streitig gemacht. Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung: Das christ- liche Kloster wurde vor circa 1 600 Jahren in rein christ- licher Umgebung gegründet. Heute steht es inmitten ei- nes muslimisch geprägten Umfelds. In die meisten Nachbardörfer des Klosters sind nach den Kämpfen des türkischen Staates gegen die PKK entweder die kurdi- schen Familien zurückgekehrt, oder es haben sich tür- kisch-muslimische Familien niedergelassen. Sie leben von karger Landwirtschaft und bewirtschaften die Felder neben dem Klostereigentum. Als Solitair steht hier hoch über den Dörfern auf einem Hügel Mor Gabriel: Seit dem 4. Jahrhundert ist es geistliches und soziales Zen- trum der Christen, Sitz des Erzbischofs, Heimat für we- nige Nonnen und Mönche und Wallfahrtsort. Unter der Woche werden hier Schüler unterrichtet, es gibt Sprach- kurse in aramäisch, der Sprache Jesu, die in diesem Kloster noch gesprochen wird. Die Priesterausbildung wurde vom türkischen Staat ja bereits 1980 verboten. Wenn es nicht um die Steine dieser Mauer geht: Um was geht es dann? Es geht wohl schlicht um die Macht, nämlich, ob den aramäischen Christen ihre über 1 600 Jahre alten Rechte zugesprochen werden. Und diese Rechte beinhalten nicht nur ihre Duldung, sondern auch die Garantie darauf, ihre Rechte durch den Schutz des Staates gewährleistet zu bekommen. Und da ist das Angebot der Türken, das Kloster könne ja das eigene Land nach der Enteignung pachten, ein verräterisches Zeichen. Man will das Kloster in Abhängigkeit halten, ihm die Selbstständigkeit nehmen. Der Deutsche Bundestag hat sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich mit dem Überlebenskampf des Klosters beschäftigt. Fraktionsübergreifend haben wir versucht, ein gemeinsames Zeichen zu setzen. Das ist uns auch immer wieder gelungen – zuletzt 2009 in einem Antrag der SPD, CDU/CSU und der FDP –, was auch der türkischen Seite deutlich macht, dass es ein großes Anliegen des Bundestages ist, sich für das Kloster einzu- setzen. Ich habe schon in meiner ersten Rede zu diesem An- trag vor einigen Wochen deutlich gemacht, dass es uns sehr verwundert, dass die Regierungsfraktionen es dies- mal nicht für notwendig gehalten haben, erneut ein ge- meinsamen Zeichen des Deutschen Bundestages in Richtung türkischen Staat zu senden. Nach der ersten Lesung habe ich bei Ihnen, Frau Granold, nachgefragt, ob ein gemeinsamer Antrag nicht möglich und vor allem effektiver wäre. Ich habe Sie gebeten, die Opposition einzubinden. Sie lehnten nach einigen Tagen Bedenkzeit ohne Begründung ab. Wir hätten ja, so meinten Sie dann im Ausschuss, die Möglichkeit, Ihrem Antrag zuzustimmen und damit un- seren gemeinsamen Willen zu dokumentieren. Verehrte Frau Granold, dies ist mit Sicherheit nicht das, was ich und meine Fraktion unter einer gemeinsamen Initiative verstehen, wobei ich damals im Plenum schon zum Aus- druck gebracht habe, dass Ihr Antrag ergänzungsbedürf- tig ist. Wir haben Ihnen das nun mit unserem Antrag vor- gemacht! Sie schildern ausführlich, in welchen Instanzen türki- sche Gerichte gegen Mor Gabriel entschieden haben. „Das Kloster und die örtliche Gemeinde sehen sich in ih- rer Existenz bedroht“, heißt es. Dem stimme ich unein- geschränkt zu. Auch den weiteren Ausführungen und Forderungen in Ihrem Antrag stimme ich zu. Aber er ist wenig konkret. Die kulturelle und historische Einbettung des Klosters zum Beispiel ist für das Verständnis der Situation und der gegenwärtigen zahlreichen Rechtsstreitigkeiten un- erlässlich. Wir weisen nun auf den kulturhistorischen Kontext deutlich hin. Auch hat sich die Türkei vor knapp 90 Jahren im Lau- sanner Vertrag dazu verpflichtet, dass Minderheiten die gleichen Rechte besitzen wie muslimische Türken. Die syrisch-orthodoxen Christen werden in der Realpolitik der türkischen Regierung aber nicht als Minderheit in diesem Sinne verstanden, ein Beispiel, wie problema- tisch der Umgang der türkischen Republik mit den Min- derheiten nach wie vor ist. Daher fordern wir in unserem Antrag konsequenterweise die Bundesregierung dazu 22148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) auf, sich dafür einzusetzen, dass die türkische Regierung den Minderheitenstatus gemäß dem Lausanner Vertrag auch wirklich einhält. Ebenso fordern wir, dass die türkische Regierung den Vorbehalt zu Art. 27 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte, IPbpR, in dem die Minderheitenrechte geregelt sind, endlich streicht. Und weiter: Zu einem ernsthaften Minderheitenschutz gehört außerdem, dass die Türkei die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen und die Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten unterzeichnet. Ich möchte mit einer allgemeinen Bemerkung zum Minderheiten- und Religionsverständnis enden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte beachten, dass vier Finger derselben Hand auf einen selber deuten. Nach meiner Auffassung sind die Christen und ihre historische und moderne Kultur ein wichtiger Bestandteil auch des mo- dernen Lebens und der Kultur in der Türkei. Sie gehören also zur Türkei. Ihr Fraktionsvorsitzender Volker Kauder erklärte neulich, dass der Islam nicht zu Deutschland ge- höre. Ich sehe das anders: Der Glaube und die Kultur von muslimischen Menschen, die seit vielen Jahrzehnten friedlich in Deutschland leben, ist ein Teil unseres Le- bens geworden und darf nicht ausgegrenzt werden. Er gehört ebenso wie die Gläubigen inzwischen zu uns. Wer das nicht akzeptiert, ist in seinen Forderungen nach der Anerkennung der Christen und dem Kampf um den Er- halt christlicher Stätten meines Erachtens nur begrenzt glaubwürdig. Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag. Pascal Kober (FDP): Wir debattieren heute erneut über den Erhalt des syrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel, zu dem nun auch die SPD einen eigenen Antrag eingebracht hat. Eingangs möchte ich das Problem des Klosters Mor Gabriel noch einmal kurz umreißen. Es gibt Befürchtun- gen, dass das in der südöstlichen Türkei gelegene Kloster enteignet und entwidmet werden soll. Mehrere Gerichts- verfahren sind in diesem Zusammenhang anhängig, wo- rin der Orden beschuldigt wird, illegal Land besetzt zu haben. Daher sehen sich die Nonnen und Mönche bedau- erlicherweise seit längerem juristischen Drangsalierun- gen seitens der türkischen Behörden ausgesetzt. Derzeit leben dort 14 Nonnen, 10 Mönche und unge- fähr 40 Schüler. Die Bedeutung des Klosters Mor Gabriel ergibt sich jedoch nicht aus der Anzahl der Men- schen, die dort wohnen, arbeiten und ihren Glauben le- ben. Das im Jahr 397 gegründete Kloster ist vielmehr das geistige Zentrum der syrisch-orthodoxen christlichen Minderheit in der Türkei und eines der ältesten christli- chen Klöster weltweit. Vor kurzem habe ich mich mit Vertretern des europäi- schen Dachverbands der syrisch-orthodoxen Minderheit getroffen. Sie bezeichnen das Kloster als ihre „letzte Burg“ im Südosten der Türkei, die für den Fortbestand dieser religiösen Minderheit in der Region von zentraler Bedeutung ist. Hier wird der syrisch-orthodoxe Glauben unterrichtet und weitergegeben, der für die Identität die- ser religiösen Minderheit von zentraler Bedeutung ist. Daher kommt dem Kloster eine größere Bedeutung zu, denn es steht stellvertretend für die Situation der syrisch- orthodoxen christlichen Minderheit in der Türkei. Von ihm geht ein starkes Signal aus, wie die Türkei mit ihrem religiösen und kulturellen Erbe, das zugleich auch unser europäisches Erbe ist, umgeht. Somit ist die Geschichte von Mor Gabriel zugleich auch die schwierige Geschichte der syrisch-orthodoxen Christen. Es ist die Geschichte einer religiösen Minder- heit, die in der Türkei vor 100 Jahren noch 200 000 Mit- glieder zählte, deren Zahl aber auf heute nur noch circa 13 000 Personen abgenommen hat. 3 000 von ihnen sind in der Region um Mor Gabriel beheimatet. Sie berichten seit Mitte 2008 von vermehrter widerrechtlicher Beset- zung ihrer Grundstücke und sind nach Angaben von Menschenrechtlern von Enteignungen bedroht. Im Zu- sammenhang mit der erstmaligen Landvermessung zur Anlage von Grundbüchern in der Region kam es zu zahl- reichen Konflikten um Grundeigentum mit rund 300 an- hängigen Gerichtsverfahren. Der Streit um die Liegenschaften des Klosters Mor Gabriel steht also emblematisch für die Probleme der sy- risch-orthodoxen Christen und die Situation weiterer nichtmuslimischer religiöser Minderheiten in der Türkei. Zwar garantiert die türkische Verfassung die Religions- und Gewissensfreiheit, die individuelle Glaubensfrei- heit wird respektiert und die individuelle Religions- ausübung ist frei möglich. Für nichtmuslimische Min- derheiten bestehen jedoch weiter Einschränkungen ihrer kollektiven Religionsfreiheit als Gruppen in Fragen der Rechtspersönlichkeit, der Eigentumsrechte sowie ihrer Möglichkeit, Geistliche auszubilden und Gebetsstätten zu errichten. Unser Antrag möchte auf dieses nach wie vor bestehende Problem hinweisen und die Türkei ermu- tigen, weitere Reformen auf diesem Gebiet anzugehen. Denn durchaus hat die Türkei in den letzten Jahren auf diesem Gebiet Fortschritte gemacht. Im August 2011 verkündete Ministerpräsident Erdoğan eine neue Verord- nung, wonach Stiftungen anerkannter religiöser Minder- heiten Immobilien zurückerhalten sollen, die nach 1936 enteignet wurden. Diese Stiftungen können Immobilien, die sie 1936 registriert und in der Folge der politischen Krisen an den türkischen Staat verloren hatten, nach der neuen Verordnung innerhalb eines Jahres grundsätzlich zurückfordern. Die neue Verordnung soll zudem die Be- weislast zugunsten der Stiftungen umkehren. Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich begrüßen, dass am 20. Februar dieses Jahres Vertreter der religiö- sen Minderheiten einschließlich der syrisch-orthodoxen Minderheit vor der türkischen Verfassungskommission angehört wurden. Dies verbinde ich mit der Hoffnung, dass sich die neue türkische Verfassung bei der Reli- gionsfreiheit auf europäische Standards stützen wird und die religiöse und kulturelle Vielfalt dieses Landes als Be- reicherung sieht, die es zu schützen und zu erhalten gilt. Denn die FDP-Fraktion unterstützt grundsätzlich den Weg der Türkei in Richtung Europa und damit in Rich- tung einer stärkeren Beachtung der Menschenrechte. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22149 (A) (C) (D)(B) Unser Antrag enthält daher die Aufforderung, der sy- risch-orthodoxen Minderheit in der Türkei im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention die Rechte zu gewähren, die auch in der EU-Beitrittspartner- schaft mit der Türkei eindeutig festgelegt sind. Des Wei- teren fordert unser Antrag von der türkischen Regierung die uneingeschränkte Einhaltung der Verpflichtungen aus Art. 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, also das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit aller religiösen Min- derheiten. Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD hingegen fordert explizit, die türkische Regierung solle die syrisch-orthodoxen Christen als Minderheit gemäß dem Lausanner Vertrag anerkennen. Dies würde zwar zunächst die rechtliche Situation dieser Minderheit ver- bessern, es würde jedoch an der Situation der Religions- freiheit in der Türkei nichts ändern und würde die Be- deutung dieses schon sehr alten und statischen Vertrags aufwerten. Wie ich soeben ausgeführt habe, ist es jedoch das Anliegen unseres Koalitionsantrags, die freie Reli- gionsausübung der syrisch-orthodoxen und auch aller anderen religiösen Minderheiten in der Türkei vor allem im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskon- vention und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu unterstützen. Daher scheint mir ein expliziter Rückgriff auf den Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 nicht sinnvoll. Aus diesem Grund ziehe ich unseren eigenen Antrag ihrem Antrag vor. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Vorgestern fand in Midyat wieder ein Gerichtstermin gegen das Kloster Mor Gabriel statt – und wurde wieder vertagt. Wie schon zwölfmal vorher seit Mitte 2008. Es ist eine unendliche und unglaubliche Geschichte von Enteig- nungsversuchen dieses uralten Ortes aramäischer Reli- gion und Kultur. Und eine Geschichte, wie eine Minder- heit von vielen in der Türkei drangsaliert, ja verfolgt wird. Eine Minderheit – nicht nur eine Glaubensgemein- schaft. Insofern stellen die Angriffe und Übergriffe von türkischer Seite auf das Kloster Mor Gabriel nicht nur eine Bedrohung der Religionsfreiheit dar, sondern eine eklatante Verletzung der Menschenrechte. Nicht um- sonst stehen im Mittelpunkt der Prozesse, mit denen das Kloster Mor Gabriel seit Jahren von der türkischen Justiz überzogen wird, Eigentumsfragen. Jahrhundertealtes Ei- gentum wird dem Kloster streitig gemacht. Es geht um die freie Ausübung der Religion; ja, und ihre Weitergabe an die nächsten Generationen. Es geht um den Erhalt der uralten aramäischen Sprache für die heutige Zeit. Aber es geht auch um die wirtschaftliche Existenz dieser Minderheit, die einmal 200 000 Men- schen in Ostanatolien zählte und heute nicht mehr als 2 000 zählt. Sie sollen entmutigt werden, weiterhin dort zu leben, wo sie seit 3 500 Jahren verwurzelt sind – am besten in alle Winde zerstreut, ohne Zusammenhang der Sprache, der Kultur, der Tradition. Das ist das Ziel der türkischen Maßnahmen gegen sie – und hier müsste un- sere parlamentarische Aufmerksamkeit ansetzen und da- mit möglicherweise Hilfe schaffen. Das aber heißt: Schluss mit den wohlklingende, aber völlig wirkungslo- sen Appellen an die türkische Regierung, die seit Jahren verhallen! Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist ein Beispiel dafür: Er wiederholt einfach, was schon so oft gefordert wurde: Einwirkung auf die türkische Regierung von deutscher Regierungsseite – gut gemeint, aber die lang- jährige Erfahrung zeigt, dass damit nichts erreicht wird. Diesen Antrag haben wir bei der ersten Lesung bereits abgelehnt und lehnen ihn auch jetzt ab. Der Änderungsantrag der SPD bleibt leider ebenfalls im Bereich des Appellativen. Er listet zwar wichtige De- tails auf: so die Forderung, dass die Türkei der Europäi- schen Charta für Regional- und Minderheitensprachen sowie der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten vorbehaltlos beitritt und den Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Minderheiten- rechte garantiert, aus dem Jahr 2003 ebenfalls vorbehalt- los einhält. Aber das allein wird nicht ausreichen, um der aramäi- schen Minderheit, wie anderen Minderheiten auch, die in der Türkei leben, einen gleichberechtigten Status zu er- möglichen. Schon bei der ersten Lesung des Koalitionsantrags im April dieses Jahres habe ich vorgeschlagen, über „andere solidarische Hilfen“ für Mor Gabriel nachzudenken, zum Beispiel über einen von der Bundesregierung beauf- tragten ständigen Beobachter aus dem christlichen oder zivilgesellschaftlichen Bereich – anstelle der bisherigen sporadischen Prozessbeobachter. Beim Verhandlungster- min vorgestern war kein Beobachter anwesend – bei den vielen Vertagungen und Verschiebungen ist das auch kein Wunder. Aber das ist ja genau das, was die türki- sche Seite erreichen will: internationales Desinteresse nach so langer, zermürbender Zeit. Also müsste man eine deutsche oder europäische Prozessbeobachtung institutionalisieren – und jedesmal Information und Un- terrichtung aus Midyat nach Europa verschicken. Wir dürfen in dieser Menschenrechtsfrage nicht nach- lassen – und nach den bisherigen Erfahrungen sind eben Appelle nicht genug. Insofern sind uns auch beide Anträge „nicht genug“, das heißt: Wir werden sie ablehnen, im Fall des SPD- Antrags außerdem auch deshalb, weil auch er in seinem Begründungstext so tut, als habe es in der vergangenen Legislaturperiode nur einen Antrag der Fraktionen CDU/ CSU, SPD und FDP zur Situation des Klosters Mor Gabriel gegeben. Dabei stammte der ursprüngliche An- trag von der Linksfraktion – ich hatte ihn zusammen mit Monika Griefahn und Claudia Roth formuliert. Die Große Koalition hat ihn einfach kopiert und uns von der gemeinsamen Antragstellung ausgeschlossen. So viel Verdrehung der Wahrheit lassen wir nicht zu – schon aus Gründen der politischen Kultur nicht und gerade dann nicht, wenn es um den Umgang von Mehrheiten mit Minderheiten im demokratisch gewählten Parlament geht. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Antrag der Koalition zum syrisch-orthodoxen Klos- 22150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) ter Mor Gabriel enthält viel Wahres, aber es fehlt auch Einiges. Den Großteil der Ausführungen, Erläuterungen und auch Forderungen im Antrag können wir ohne Wei- teres unterstützen und mittragen. Seit den 90er-Jahren haben immer wieder Abgeordnete meiner Fraktion das Kloster besucht und die Religionsfreiheit in den auf die Türkei bezogenen Debatten immer wieder angespro- chen. Deswegen haben wir dem Antrag im federführenden Menschenrechtsausschuss zugestimmt und werden es auch heute tun. Wohler wäre uns gewesen, wenn wir nur den drei For- derungen des Antrags hätten zustimmen müssen. Sie sind richtig und verdienen unsere Unterstützung. Und daher haben wir uns auch durchgerungen, oder sind viel- mehr zu der Überzeugung gekommen, dass der Grund- tenor des Antrages richtig ist. Erwähnen möchte ich aber auch, dass ich Ihren Text in seiner epischen Breite und etwas länglichen Ausfüh- rung etwas misslich finde. Ellenlange Feststellungsteile zur Welterklärung liefern viele Gründe, sich zu fragen, ob man zustimmen kann, obwohl man mit den Forderun- gen eigentlich d’accord ist, oder ob es nicht doch ein Haar in der Suppe gebe, das der Zustimmung entgegen stehe. Deshalb hatten wir im Ausschuss ja auch zunächst den Antrag gestellt, über den Feststellungsteil und den Forderungsteil getrennt abzustimmen. In diesem Fall hätten wir unterschiedlich votiert: Ihren ellenlangen und ideologisch dann doch leicht verbrämten Feststellungs- teil abgelehnt und den Forderungen zugestimmt. Ich sage „ideologisch leicht verbrämt“, weil ich die Aufarbeitung der Problematik der Religionsfreiheit in der Türkei in diesem Antrag für defizitär und einseitig halte. Man muss beispielsweise mehr zu der großen Minderheit der Aleviten in der Türkei sagen, die auch massive Probleme hat. Wenn in dem Antrag schon Vie- les so fein aufgedröselt wird, können Sie nicht nur über das Kloster und die Rechtsprobleme sprechen, sondern müssen auch andere Fragen thematisieren; wo hat sich etwas verbessert und wo nicht. Uns als Opposition bringt Ihr Antrag in eine unange- nehme Lage: Selbstverständlich wollen wir die Türkei politisch unter Druck setzen, die Frage des Klosters Mor Gabriel zu lösen. Und auch die Religionspolitik in der Türkei ist mehr als fragwürdig. Aber es werden längst nicht alle Fragen von diesem Antragstext erfasst. Sie waren so entgegenkommend, einen konkreten Verbesserungsvorschlag, den ich in der 62. Sitzung des Menschenrechtsschusses unterbreitete, in der wir über Ihren Antrag debattierten, in den Antrag aufzunehmen. Dort steht nun in Forderung 2 richtigerweise nicht nur „nichtmuslimische Minderheiten“, sondern: „… nicht- muslimische bzw. nichtsunnitische Minderheiten“. Es wäre schön, wenn wir künftig öfter an solchen Stellen zusammenarbeiten. Und das fällt umso leichter, wenn man Inhalte, Fragen und Textquellen, bei denen schon im Vorhinein klar ist, dass sie auf der jeweils anderen politischen Seite nicht zustimmungsfähig sind, einfach weglässt oder notfalls zumindest in die Begründung ei- nes Textes verschiebt. Die Gerichtsverfahren gegen das syrisch-orthodoxe Kloster Mor Gabriel stellen bedauerlicherweise die Spitze des Eisberges ständiger und bereits langanhalten- der Bedrohungen und Übergriffe dar, denen die Aramäer als nicht anerkannte indigene Minderheit in der Türkei ausgesetzt sind und die zu einem fast vollständigen Exo- dus der Aramäer aus ihrer Heimat im Südosten der Tür- kei geführt haben. Es ist wichtig und notwendig, in den einzelnen, bekannt werdenden Fällen wie im Fall des Klosters Mor Gabriel sich gegen die Bedrohung zu stel- len und zu versuchen, das Schlimmste abzuwenden. Die- ser Einzelfall, der traurige Berühmtheit erlangt hat, darf jedoch nicht vergessen lassen, dass zahlreiche andere Kirchen und Klöster, aramäische Ortschaften und viele Aramäer als Einzelpersonen (auch mittelbar hier in Deutschland) mit Hunderten von Enteignungsverfahren konfrontiert sind, die ihr Eigentum bedrohen und denen man weitgehend rechtlos gegenübersteht. In dem langen Feststellungsteil wird aber leider an der einen oder anderen Stelle deutlich, welchen Fehler insbesondere die Union immer wieder begeht, wenn sie versucht, für das Menschenrecht auf Glaubens- und Re- ligionsfreiheit einzutreten. Denn Sie setzen bei diesem Thema stets doppelte Standards an. Was Sie vollkom- men zu Recht für verfolgte Christinnen und Christen in anderen Staaten fordern, sind Sie zugleich nicht bereit, den Muslimas und Muslimen in Deutschland zuzuerken- nen. Selbstverständlich ist es richtig, von der türkischen Regierung zu fordern, dass nichtmuslimische Minder- heiten Rechtspersönlichkeit erlangen und als anerkannte Minderheiten ihre Rechte uneingeschränkt ausüben kön- nen. Dann müssen Sie aber auch endlich einsehen, dass die Bundesrepublik Deutschland ebenso in der Pflicht steht, dass nichtchristliche Minderheiten Rechtspersön- lichkeit erlangen und als anerkannte Minderheiten ihre Rechte hier in Deutschland uneingeschränkt ausüben können. Wir lehnen es – offenbar im Gegensatz zu Ihnen – entschieden ab, bei der Durchsetzung der Men- schenrechte und der Religionsfreiheit Doppelstandards anzuwenden! Und dann schwingt natürlich noch ein leiser Ton mit, den ich hier in der Debatte kritisieren muss. Es ist doch so, dass die CDU/CSU aus rein innenpolitischen und ideologischen Interessen die Beitrittsperspektive der Türkei, die diesbezügliche Politik der EU und deren Glaubwürdigkeit immer wieder torpediert und dann so tut, als ob nur die mangelhafte Religionsfreiheit in der Türkei das Hauptproblem wäre. Die Türkei kann man nur mit einem glaubwürdigen und ernst gemeinten Kurs dazu bringen, alle Kopenhagener Kriterien umzusetzen. Die Türkei respektiert nach dem Lausanner Vertrag nur zwei christliche Glaubensgemeinschaften, nämlich die griechisch-orthodoxe und die armenisch-apostoli- sche Kirche, zudem die jüdische Glaubensgemeinschaft. Die Protestanten und Katholiken werden dort offiziell nicht anerkannt. Die Ausbildung von Pfarrern ist nicht möglich. Die Einreise von Pfarrern aus dem Ausland wird erschwert, auch von Pfarrern der orthodoxen Kir- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22151 (A) (C) (D)(B) che. Das dürfen wir der Türkei als einem befreundeten Land nicht durchgehen lassen. Wir müssen deutlich machen: Wir fordern gleiche Rechte für die Christen in der Türkei. Aber wir fordern selbstverständlich auch gleiche Rechte für die Aleviten; sie sind keine Christen. Sie bilden die größte religiöse Gruppe neben dem sunnitischen Islam in der Türkei. Wir verlangen von der Türkei auch, dass die Cem-Häuser mit den Moscheen gleichgestellt werden und die Zwangsas- similierung an den sunnitischen Islam von alevitischen Kindern in der Schule aufhört, wie das auch der Europäi- sche Gerichtshof für Menschenrechte von Ankara gefor- dert hat. Deswegen unterstützen wir Ihren Antrag, wir hoffen aber sehr, dass unsere Kooperationsbereitschaft Ihnen ein wenig zu denken gibt und Sie sich unsere Kritik- punkte ebenfalls zu Herzen nehmen. Zum Schluss noch kurz ein paar Worte zum eilig ge- schriebenen und mitaufgesetzten Antrag der SPD. Er ist besser als der der Koalition. Die Forderungen sind präzi- ser und im wahrsten Sinne des Wortes menschenrechtli- cher. Angesichts der Tatsache, dass der türkische Staat versucht, dem syrisch-orthodoxen Kloster Mor Gabriel und seinen Bewohnern die Existenz mit juristischen Mit- teln zu erschweren, ist dies genau der richtige Ansatz. Zudem kommt der Feststellungsteil ohne ideologische Zwischentöne und ohne eine ähnlich einseitige Schwer- punktsetzung auf das Christentum aus, wie es im Koali- tionsantrag der Fall ist. Selbstverständlich werden wir ihm deshalb auch zustimmen. Aber eine Bemerkung sei mir gestattet; auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD haben im Feststellungsteil offensichtlich die Alevi- ten vergessen, wenn Sie sagen: „der Umgang mit nicht- muslimischen Minderheiten entspricht nicht den Stan- dards des Europäischen Union“. Sie lassen hier also mal eben so etwa 20 Prozent der türkischen Bevölkerung un- erwähnt. Wenn sich schon die Koalition in ihrem Antrag bereit erklärt, hier Änderungen vorzunehmen und von „nicht-sunnitischen Minderheiten“ zu sprechen, dann stünde es Ihnen gut zu Gesicht, dies an allen Stellen Ih- res Antrags auch zu tun. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Tokio-Konferenz zu einem entwicklungspolitischen Erfolg führen (Tagesordnungspunkt 15) Sybille Pfeiffer (CDU/CSU): Wenn am 8. Juli 2012 die internationale Gemeinschaft zur Tokio-Konferenz zusammenkommt, so dient dies zwei Zielen: einerseits dem Blick zurück auf bisher Erreichtes, andererseits aber auch dem Blick nach vorn. Was erwartet Afghanis- tan von der internationalen Gemeinschaft in der soge- nannten Transformationsdekade, also den zehn Jahren, die sich an die Transition anschließen werden? Vor allem aber auch: Was erwartet die internationale Gemeinschaft von Afghanistan. Was kann sie erwarten? Eines ist klar: Afghanistan ist eine Generationenaufgabe. Vieles wurde schon erreicht. Unser Antrag benennt exemplarisch Er- folge aus den unterschiedlichen Sektoren des deutschen Engagements. So wurden mit deutscher Hilfe im Norden des Landes deutliche Verbesserungen bei der Arbeit der staatlichen Institutionen, der Energieversorgung, beim Zugang zu Trinkwasser, im Bereich Grund- und Berufs- bildung sowie bei der Privatwirtschaftsentwicklung er- zielt. Dies alles wäre – so umstritten es auch in der öf- fentlichen Meinung sein mag – ohne die militärische Komponente des Einsatzes nicht erreicht worden. Das ISAF-Mandat – und damit auch der Einsatz der Bundes- wehr – ist das Fundament für eine verbesserte Sicher- heitslage und den Wiederaufbau des Landes. Deshalb gilt an dieser Stelle mein Dank sowohl den Soldaten als auch den Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit. Auf der anderen Seite bestehen aber auch nach wie vor erhebliche Entwicklungsdefizite. Afghanistan bleibt ausweislich des Human Development Index der Verein- ten Nationen eines der ärmsten Länder der Welt. Dies wird regelmäßig durch Indikatoren wie Lebenserwar- tung, Bildungsniveau und Einkommen reflektiert. Genauso berechtigt wie es also ist, auf Erfolge hinzu- weisen, verstehe ich auch diejenigen, welche sich Sor- gen um die zukünftige Entwicklung des Landes nach dem Abzug der militärischen Kampfverbände nach 2014 machen. Aber es hilft nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Die internationale Gemeinschaft hat Afghanis- tan auf der Bonner Afghanistan-Konferenz im Novem- ber 2011 und jüngst erneut im Rahmen des G-8-Gipfels in Camp David ihre Solidarität zugesichert. Wir werden die afghanische Bevölkerung auch langfristig nicht im Stich lassen, sondern ihr weiterhin mit ziviler Hilfe, aber auch mit der Unterstützung der afghanischen Sicher- heitskräfte zur Seite stehen. Der mit dem Ende der militärischen Präsenz verbun- dene Paradigmenwechsel, weg von schneller Sichtbar- keit hin zu nachhaltiger Entwicklung, wird vermutlich nicht ohne Auswirkungen auf die öffentliche Debatte bleiben. Die zu erwartende Abschwächung des außen- und sicherheitspolitischen Diskurses birgt auch die Ge- fahr, dass Afghanistan vom Radar der internationalen Gemeinschaft verschwindet, sobald andere Konfliktre- gionen – und derer gibt es derzeit nun wahrlich genug – in den Vordergrund treten. Hierüber müssen wir uns Ge- danken machen. Unser Leitbild für die kommenden Jahre wird es sein, Afghanistan bis 2024 – dem Ende der Transformations- phase – zu einem sicheren und stabilen Staat zu machen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Sicherheit in Deutsch- land braucht Stabilität in Afghanistan. Genauso wie es ohne eine erfolgreiche Sicherheitspolitik keine Entwick- lung geben kann, kann es keine dauerhafte Befriedung ohne Entwicklung geben. Deshalb arbeitet Deutschland gemeinsam mit den anderen 40 Partnern dafür, dass Afghanistan stabil und sicher ist. Wir wissen aus der Historie: Nur durch die Entwicklung des Landes kann es gelingen, dem Terrorismus dauerhaft den Boden zu ent- ziehen. Erinnern wir uns: 2001 – zu Beginn des Einsat- zes – bestand der Nährboden für terroristische Aktivitä- 22152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) ten aus einer fehlenden staatlichen Ordnung, fehlender Rechtsstaatlichkeit, fehlenden Bildungschancen und feh- lenden Perspektiven für die Bevölkerung. Bei allen nach wie vor bestehenden Problemen hat sich dies grundle- gend gewandelt. Wie also wird es weitergehen? Der Entwicklungszu- sammenarbeit wird in der Transformationsdekade eine noch größere Rolle zukommen. Im Rahmen der anste- henden Afghanistan-Konferenz in Tokio soll die Unter- stützungszusage der internationalen Gemeinschaft in den kommenden Jahren mit Leben erfüllt werden. Die Bundesregierung ist hier mit gutem Beispiel vo- rangegangen und hat sich zu einer Verstetigung der Mittel auf derzeitigem Niveau, 430 Millionen Euro, bekannt. Dies ist nicht nur wegen der bereits angesprochenen De- fizite notwendig, sondern auch, um die wirtschaftlichen Risiken abzufedern, die sich aus dem Abzug der auslän- dischen Truppen ergeben werden. Dennoch appelliere ich dafür, ehrlich mit uns selber zu sein: Wir reden von einem langfristigen Engagement. In den vergangenen Jahren waren zur Legitimierung des militärischen Ein- satzes schnell sichtbare Erfolge gefragt. Die Zeitlinien einer nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit hinge- gen bemessen sich mehr in Jahrzehnten, denn in Jahren. Im Fokus werden nach Übergabe der Sicherheitsverant- wortung also Programme und Projekte stehen, die nicht primär schnelle Sichtbarkeit, sondern nachhaltige Ent- wicklung ermöglichen. Darauf ist die deutsche Entwick- lungszusammenarbeit, die immer schon langfristig und nachhaltig ausgerichtet war, jedoch besser eingestellt als die anderer Partner. Deswegen werden etwaige Anpas- sungen im deutschen entwicklungspolitischen Portfolio auch geringer ausfallen als jene anderer Partner. Ein noch stärkeres deutsches Engagement wäre aus meiner Sicht beispielsweise im Bereich der ländlichen Entwick- lung wünschenswert. Denn die Generierung von Be- schäftigung und Einkommen im ländlich geprägten Af- ghanistan ist gerade auch hinsichtlich der Gefahr eines Wiedererstarkens der Taliban nach Abzug der internatio- nalen Kampftruppen von übergeordneter Bedeutung. Gleichzeitig haben wir deutlich gemacht – und wer- den dies auch weiterhin tun –, dass Deutschland im Ge- genzug von der afghanischen Regierung verstärkte An- strengungen in den Bereichen gute Regierungsführung, Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung erwartet. Damit ist das auf der Bonner Afghanistan-Konferenz Ende letzten Jahres vereinbarte Prinzip des Quid pro Quo (Zug um Zug) angesprochen. Fortschritte in den an- gesprochenen Bereichen müssen fortlaufend überprüft und vonseiten der Gebergemeinschaft bewertet werden. Deutschland hat Afghanistan klar signalisiert, dass es bereit wäre, Finanzmittel auszusetzen oder zu kürzen, falls bestimmte Reformziele seitens der afghanischen Regierung nicht erreicht werden. Dies sind wir nicht zu- letzt auch unseren eigenen Steuerzahlern schuldig. Abschließend erlauben Sie mir in diesem Zusammen- hang die Bemerkung, dass sich die veränderte Aufga- benstellung in der Transformationsdekade – weg von der Umfeldstabilisierung hin zu einer noch stärkeren Fokus- sierung auf eine nachhaltige Entwicklungszusammenar- beit – auch in einer sukzessiven Verschiebung der Fi- nanzmittel niederschlagen muss. Das heißt, dass es zu einer finanziellen Abschmelzung der im AA angesiedel- ten Maßnahmen der Umfeldstabilisierung bei entspre- chender Verlagerung der Mittel in den Einzelplan des BMZ kommen muss. Dies ist zwischen den Ressorts mittlerweile auch grundsätzlich Konsens. Doch der Teu- fel steckt wie so oft im Detail. Auch an dieser Stelle müssen in den kommenden Monaten konkrete Vorstel- lungen entwickelt werden. Diesen Klärungsprozess wol- len wir parlamentarisch begleiten. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Ich freue mich, dass wir heute einen für unser gesamtes Afghanistan-En- gagement so wichtigen Antrag beraten. Er ist entwick- lungspolitisch bedeutsam, mehr noch: Er passt in unsere außenpolitische Strategie. Deshalb möchte ich meine heutigen Ausführungen auf diese außenpolitische Di- mension konzentrieren, da der entwicklungspolitische Kern bereits intensiv erörtert wurde. Der vorliegende Antrag steht nicht isoliert für sich selbst, sondern ist die konsequente Fortschreibung der politischen Beschlüsse, die sich mit der Neuausrichtung unseres außen- und sicherheitspolitischen Ansatzes in Afghanistan beschäftigen. Als wir Anfang des Jahres das neue Mandat für ISAF mit großer Mehrheit verabschie- det haben, war es unser zentrales Anliegen, die An- schlussfähigkeit der bis 2014 laufenden Transition an das sich anschließende Transformationsjahrzehnt – 2015 bis 2024 – sicherzustellen. Diese kohärente Planung aus Stärkung des zivilen politischen Prozesses und Übergabe der Sicherheitsver- antwortung wird einerseits durch die beschlossenen Schwerpunkte des ISAF-Mandates und andererseits durch die Ergebnisse der Bonner Afghanistan-Konferenz vom Dezember 2011 gewährleistet. Ich habe bei der ers- ten Lesung zum neuen Mandat ausgeführt, dass ich bei- des zusammen für eine erhebliche politische Leistung dieser Bundesregierung und ihrer Partner halte. Bei die- ser Neuausrichtung haben wir auf vier Aspekte besonde- ren Wert gelegt: erstens Stärkung der Ausbildung der ANSF, zweitens Restrukturierung des deutschen Ein- satzkontingents, drittens regionale Einbettung des Tran- sitionprozesses, viertens Ausrichtung des zivilen Enga- gements. Da wir heute über die künftige Ausrichtung des zivilen Engagements – und hierbei insbesondere des entwick- lungspolitischen Anteils – diskutieren sowie grundsätz- lich die sicherheitspolitisch notwendigen Entscheidun- gen getroffen haben, möchte ich im Weiteren gerne auf die regionale Einbettung unserer künftigen Afghanistan- Politik bei den nördlichen Anrainerstaaten abheben. Es wurde durch die Kollegin Pfeiffer völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass im Verlauf der Transformations- dekade der Schwerpunkt von der Umfeldstabilisierung hin zu einer noch stärkeren Fokussierung auf eine nach- haltige Entwicklungszusammenarbeit verlagert werden muss. Gleichzeitig bleibt die Stabilisierung Afghanistans Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22153 (A) (C) (D)(B) untrennbar mit der Stabilität in der Region verbunden. Dieser außenpolitische Zusammenhang wird insbeson- dere in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, von 2014 bis 2019, zu beachten sein, und dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass regionale Zusammenarbeit trotz der Vielzahl regionaler Organisationen und bilateraler bzw. trilateraler Gipfelprozesse sowohl politisch als auch öko- nomisch und gesellschaftlich unterentwickelt ist. Die Gründe hierfür sind laut Antwort der Bundesregierung – Drucksache 17/6218 – auf die Kleine Anfrage der Kolle- ginnen und Kollegen der Grünen vom letzten Jahr „unter anderem regionale politische Konflikte, unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsstände, divergierende wirt- schaftliche Interessen und gegenseitiges Misstrauen. Weitgehende Einigkeit herrscht hinsichtlich der gravie- renden regionalen Probleme: Terrorismus, Extremismus, Drogenhandel, Flüchtlinge.“ Wir werden also weiterhin aufpassen müssen, dass insbesondere in und mit den nordafghanischen Anrainer- staaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan kein Konfliktpotenzial durch eine wahrgenommene Be- vorteilung Afghanistans entsteht. Denn wir als Deutsche und die internationale Gemeinschaft wollen das Finan- zierungsniveau für entwicklungspolitische Maßnahmen auf hohem Niveau halten. Es gilt, das Störpotenzial im Zusammenhang mit den in Nordafghanistan beheimate- ten ethnischen Minderheiten so gering wie möglich zu halten. Die Bundesregierung fördert beispielsweise seit 2010 ein Programm mit dem Titel „Pakistan – Afghanistan – Tajikstan Regional Integration Programme“, PATRIP. Dessen Zielsetzung ist – ich beziehe mich hier wieder auf die erwähnte Antwort der Bundesregierung – „die Förderung des grenzüberschreitenden Handels und Austauschs, um einen Beitrag zur wirtschaftlichen Ent- wicklung und politischen Stabilisierung der volatilen Grenzregionen zu leisten. Soziale und wirtschaftliche In- frastrukturmaßnahmen werden in enger Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung geplant und umgesetzt. Seit 2010 wurden grenzüberschreitende Projekte an der Grenze Afghanistan-Tadschikistan sowie an der Grenz- region zu Pakistan – Brücken, Bewässerungskanäle, Re- paratur von Wasserkraftwerken – durchgeführt.“ Diese außenpolitische Dimension unseres Engage- ments in Afghanistan ist seit langem erkannt, muss je- doch in der ersten Hälfte der Transformationsdekade weiter berücksichtigt werden. Dafür werbe ich heute! In Ergänzung dieses richtigen Ansatzes müssen bei grenzüberschreitenden Aktivitäten die Anstrengungen der NATO zur Sicherung ihrer Versorgungsrouten bis 2014 gesehen werden. Das wird viel Geld kosten. Von diesen Regelungen profitieren die Anrainerstaaten aus- drücklich; ein erstes Abkommen mit Kasachstan, Kirgi- sien und Tadschikistan wurde durch die NATO bereits unterschrieben. Allerdings werden wir noch zusätzliches politisches Kapital investieren müssen, um die regionale Einbettung des komplexen Überganges von Transition zu Transformation zu organisieren und dann in der ersten Phase der Transformation zu stabilisieren. PATRIP und Logistikabkommen sind wichtig; aber politisch kommt es darauf an, wie wir die nördlichen Anrainerstaaten da- bei einbinden wollen und können, ohne bestehendes Konfliktpotenzial zu vergrößern. Es ist unsere politische Aufgabe, unsere wesentliche Leistung, dieses Konflikt- potenzial auszuloten und deutlich zu reduzieren. Die regionale Zusammenarbeit wird weiterhin nur langsam und schrittweise verbessert werden können. Vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den Akteuren der Region sind in erster Linie über verstärkte Zusam- menarbeit bei Handel, Infrastrukturmaßnahmen, Ener- giekooperation, Wassermanagement oder Ähnliches zu realisieren. So kann es uns aber gelingen, die Transfor- mationsdekade auch in der Region abzustützen. Stefan Rebmann (SPD): Seit mehr als einem Jahr- zehnt ist Deutschland innerhalb der ISAF-Gemeinschaft am Einsatz in Afghanistan beteiligt. Wollte man zum jet- zigen Zeitpunkt Bilanz ziehen, dürfte diese nicht allzu viel Anlass zur Euphorie geben. Zwar sind durchaus nennenswerte Erfolge zu verbuchen: Angefangen mit der bloßen Existenz einer Verfassung, einer zentralstaat- lichen Exekutive, einer kontrollierten Armee sowie einer im Aufbau befindlichen Polizei – all dies gab es vor 2001 in Afghanistan nicht. Im zivilen wie auch im ent- wicklungspolitischen Bereich haben wir gemeinsam mit den NGOs dringend notwendige Projekte in Infrastruk- tur, Bildung – Aufbau von Schulen, insbesondere für Mädchen – und medizinischer Versorgung sowie beim Zugang zu Elektrizität und Trinkwasser angestoßen und gemeinsam umgesetzt. Diese Entwicklungen sind ge- messen an der Situation vor 2001 durchaus als Erfolge zu bezeichnen, allerdings gehen sie bei Weitem nicht so weit, wie wir uns das wünschen würden. Sie sind oftmals bedauerlicherweise nur punktueller Natur und reichen definitiv nicht aus, um Afghanistan fortan sich selbst zu überlassen. Insgesamt ist es aber nicht gelungen, in Afghanistan stabile demokratische Strukturen zu etablieren. Wir dür- fen uns keinen Illusionen hingeben: An der Regierung Karzai bestehen erhebliche Zweifel bezüglich der demo- kratischen Legitimität und der politischen Integrität. Nach wie vor beherrschen Korruption, Drogenökonomie und die Missachtung von Menschen- und insbesondere von Frauenrechten die politische Situation in Afghanis- tan. Auch ist weder ein Versöhnungsprozess mit den Ta- liban in Form von formaler und demokratischer Teilhabe an der Macht in Afghanistan in die Wege geleitet wor- den, noch ist es gelungen, die Taliban aus dem Land zu vertreiben. Und auch die Warlords sind weiterhin die entscheidenden lokalen Akteure vor Ort. Die Gefahr ei- nes erneuten Bürgerkriegs in naher Zukunft ist damit keineswegs gebannt. Immer noch ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt. Auf dem Index der Vereinten Nationen, dem Human Development Index, HDI, von 2011, der Lebens- erwartung, Bildungsniveau und Einkommen abbildet, belegt Afghanistan gerade mal Platz 172 von insgesamt 187 Ländern. Hohe Arbeitslosigkeit, besonders unter Ju- gendlichen, geringe Bildungsraten und, trotz aller Er- folge, nach wie vor lückenhafte Versorgung mit Trink- 22154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) wasser, Elektrizität und Medizin bestätigen dies. Auch hat es das ISAF-Mandat nicht in Gänze geschafft, ein Si- cherheitsfundament für die Arbeit der NGOs zu schaf- fen. Und nicht zuletzt haben kulturelle Verfehlungen wie die jüngsten Koranverbrennungen und fehlgeschlagene Militäroperationen wie das Bombardement der Tanklas- ter in Mazar-i-Sharif das Vertrauen der afghanischen Zi- vilbevölkerung in die internationalen Streitkräfte massiv geschädigt. Das ist die ernüchternde Bilanz der letzten zehn Jahre. Was aber bedeutet diese Entwicklung für die Zukunft Afghanistans und für das weitere Vorgehen der interna- tionalen Gemeinschaft? Die Flinte ins Korn zu werfen? – Mit Sicherheit nicht. Der beschlossene Abzug der inter- nationalen Truppen bis Ende 2014 ist richtig. Dies be- deutet aber nicht, dass wir Afghanistan nach 2014 al- leine lassen können oder dürfen. Das Land wird weiterhin wird in besonderem Maße und auf lange Zeit auf internationale Hilfe angewiesen sein. Die afghani- sche Westminster-Demokratie werden wir vielleicht nicht erreichen, aber wir müssen verhindern, dass Af- ghanistan auf einen Status quo ante – das heißt vor 2001 – zurückfällt und zu einem „failed state“ wird. Das Land benötigt für den Aufbau staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen, aber auch für die Festigung der innerafghanischen Sicherheitskapazitäten, Mittel, die nach dem Abzug des Militärs nicht versiegen dürfen. Die zivile Aufbauhilfe muss garantiert werden, um den Menschen in Afghanistan eine Perspektive zu geben. Hier ist die Verlässlichkeit der internationalen Politik un- mittelbar gefordert. Die bevorstehende Konferenz der so genannten Ge- berländer in Tokio bietet hierfür die zentrale Chance, eine dringend benötigte Agenda für den Aufbau des Lan- des nach dem Truppenabzug 2014 auf den Weg zu brin- gen. Die Bundesregierung hat als gewichtiges Mitglied der ISAF-Gemeinschaft und als Mitglied der G 8 die Möglichkeiten, entscheidende politische Impulse mit zu setzen. Diese Chance muss genutzt werden. Dabei wer- den sich die Ergebnisse der Tokio-Konferenz nicht allein an der Höhe der Summe, die von der internationalen Ge- meinschaft zum Wiederaufbau bereitgestellt wird, und auch nicht an der Anzahl von Dokumenten, die auf der Konferenz beschlossen werden, messen lassen. Was letztlich zählt, ist die tatsächliche Schaffung sicherer, demokratischer und stabiler Lebensbedingungen für 30 Millionen Afghaninnen und Afghanen. Dr. Christiane Ratjen-Damerau (FDP): Wer erin- nert sich nicht an den 11. September 2001? Viele von uns wissen noch exakt, was sie an diesem Tag getan ha- ben und wann sie von den Anschlägen auf das World Trade Center gehört haben. Der 11. September 2001 ist ein Tag des gemeinschaft- lichen Bewusstseins. Die meisten Menschen können noch im Detail beschreiben, was sie getan haben, als sie die schreckliche Nachricht gehört haben, mit wem sie zusammen waren und wo sie die ersten Bilder der Flug- zeuge sahen, die ins World Trade Center flogen. Die Menschen spürten am 11. September 2001 unmit- telbar, dass die Ereignisse in New York die Welt ver- ändern würden, dass der Einsturz der Zwillingstürme Reaktionen der Vereinigten Staaten und der Weltgemein- schaft hervorrufen würde. Am 7. Oktober 2001 begann der Krieg in Afghanis- tan. Dieser Krieg wurde auch begonnen, um die Men- schen in Afghanistan aus der Tyrannei der Taliban zu be- freien. Der Krieg brachte, trotz seiner dunklen Seite, den Menschen mehr Freiheit, mehr Demokratie und mehr Wohlstand. Ende 2014 ist der ISAF-Einsatz in Afghanistan been- det. Wir werden weiter das afghanische Volk auf dem Weg zu Stabilität, Gleichberechtigung und wirtschaftli- chem Aufschwung begleiten und unterstützen. Die Transformation eines der ärmsten und am wenigsten ent- wickelten Länder ist eine Generationenaufgabe. Mit dem Abzug der militärischen Truppen wird sich unser Enga- gement zwar verändern, aber unsere Solidarität und un- ser Versprechen gegenüber Afghanistan bleiben langfris- tig. Vor diesem Hintergrund ist die im Juli in Tokio unter dem Leitthema „Nachhaltige Entwicklungsstrategien für Afghanistan“ zu den zivilen Aspekten der Transforma- tionsdekade von 2015 bis 2024 stattfindende Konferenz ein wichtiger Meilenstein. Ziel ist, die Entwicklung Af- ghanistans zu einem voll funktionsfähigen, stabilen und demokratischen Staat zu unterstützen. In der Vergangenheit wurde bereits viel erreicht. Dies zeigt sich besonders deutlich bei den Frauen. Sie haben am meisten unter den Taliban gelitten. 72 Prozent aller Frauen erklären bei einer Umfrage in Afghanistan, dass sich ihr Leben seit der NATO-Intervention im Jahr 2001 verbessert habe. Das ist ein großer Erfolg, auf den wir und die Afgha- nen stolz sein können. Denn der Grad der Entwicklung eines Landes bemisst sich auch immer am Grad der Frei- heit der Frauen. Nach dem Truppenabzug 2014 rechnen 37 Prozent der Frauen mit einer Verschlechterung ihrer Situation. 86 Prozent haben Angst vor einer Rückkehr der Taliban. Jede Fünfte verwies dabei auf drohende Einschränkun- gen bei der Schulausbildung ihrer Töchter. Eine Studie der Hilfsorganisation Oxfam zeigt deut- lich, wie dringend notwendig unsere Unterstützung der Frauen ist: Die Studie gibt an, dass 87 Prozent der Af- ghaninnen schon Opfer von Gewalt in der Familie ge- worden sind. Im März dieses Jahres konstatierte die Menschen- rechtsorganisation Human Rights Watch: „Afghanische Frauen leiden unter Belästigung, Bedrohungen und manchmal sogar Mord. Zwangsheiraten, die Verheira- tung Minderjähriger und häusliche Gewalt sind weit ver- breitet und noch immer zu sehr akzeptiert.“ Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22155 (A) (C) (D)(B) „Der Platz der Frau ist entweder das Haus ihres Man- nes oder ihr Grab“, so lautet bis heute ein weit verbreite- tes afghanisches Sprichwort. Frauen leiden am meisten unter der fragilen Sicher- heitslage. Sie werden diejenigen sein, die als erste in ih- ren Freiheiten und Grundrechten eingeschränkt werden, sollte sich die Situation in Afghanistan nach dem Trup- penabzug destabilisieren. Es sind folglich insbesondere die Frauen, die die internationale Gemeinschaft in ihren Fokus rücken muss. Die im Zuge der Friedensverhandlungen mit den Tali- ban hart erkämpften Frauenrechte dürfen auf keinen Fall zur Disposition gestellt werden. Das wäre ein falsch ver- standener Friedensprozess. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, an dem 2011 auf der internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn festgeschriebenen Prinzip des Quidproquo – also langfristiges Engagement der internationalen Gemein- schaft wird nur geleistet, wenn Reformfortschritte der afghanischen Regierung sichtbar sind – insbesondere bei den Frauenrechten festzuhalten. Wir sind nur bereit, die afghanische Regierung zu un- terstützen, wenn die Grundrechte der Frauen gewahrt sind! Ein weiteres Problem nach dem Ende des ISAF-Ein- satzes ist die Entwicklung der afghanischen Volkswirt- schaft. Schon heute kommt nur ein verhältnismäßig geringer Anteil der finanziellen Unterstützung Afghanis- tans auch direkt bei den Händlern und Produzenten vor Ort an. Die meisten Güter, die ausländische Organisatio- nen oder Militärs benötigen, werden im Ausland gekauft und ins Land transportiert. Dies führt dazu, dass kaum Arbeitsplätze in Afghanistan selbst geschaffen werden. Neben der allgegenwärtigen Korruption ist dies vor allem der mangelnden Verfügbarkeit der Güter vor Ort geschuldet. Die dringende Aufgabe liegt in dem Aufbau von privatwirtschaftlicher Produktion. Eine Steigerung der lokalen Wertschöpfung ist essenziell für den Aufbau von Afghanistan. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, ihren Beitrag zur Stärkung der afghanischen Privatwirtschaft zu leisten. Nur durch die Stärkung privater Betriebe und deren Unternehmergeist kann die Abhängigkeit Afgha- nistans von internationalen Unterstützungen verringert werden. Gleichzeitig kann auch die deutsche Wirtschaft ihren Beitrag zum Aufbau Afghanistans bewirken. Unser Wis- sen, unsere Technologien und unser Kapital können ei- nen wichtigen Wachstumsschub auslösen. Die Bundesre- gierung sollte sich daher verstärkt für Investitionen in Afghanistan einsetzen. Abseits der großen Städte und Zentren ist die Lage für die Menschen dramatisch: Im ländlichen Raum ist die Armut am größten, und im ländlichen Raum gelten die staatlichen Institutionen und die von der Verfassung ga- rantierten Rechte am wenigsten. Daher müssen wir den ländlichen Raum in unseren Fokus nehmen. Wir sollten Afghanistan dabei unterstützen, ihn als Lebensraum zu entwickeln. In ihm müssen sich die Menschen versorgen und sicher fühlen können. Vernetzte Sicherheit bedeutet die ressortübergreifende Zusammenarbeit und eine umfassende Vernetzung staat- licher und nichtstaatlicher Akteure in Krisenregionen. Dabei ist der vernetzte Ansatz mehr als das bloße Be- schützen von Menschen und Dingen. Der vernetzte Ansatz hat in den vergangenen Jahren zu mehr Stabilität und Erfolg beim Wiederaufbau von Afghanistan geführt. Nach wie vor gilt, dass militärische Operationen al- leine keinen Frieden schaffen und keine dauerhafte Si- cherheit garantieren können. Das Militär kann jedoch Zeit für diplomatische Lösungen oder die nötigen Si- cherheit beim Wiederaufbau schaffen. Mit der vernetzten Sicherheit werden Konfliktlö- sungsmechanismen entwickelt, die die ganze Komplexi- tät moderner Konfliktszenarien abbilden und einen um- fassenden Lösungsansatz bieten. Gerade für Afghanistan benötigen wir ein besonders hohes Maß an Vernetzung. Die Bundesregierung sollte diesen Weg weiter gehen. Die Menschen in Afghanistan werden noch über viele Jahre unsere Solidarität und unsere Unterstützung benö- tigen. Dies gilt insbesondere für die Schwächsten der af- ghanischen Gesellschaft: für die Frauen und Kinder. Die westliche Welt hat eine besondere Verpflichtung, Afghanistan auf seinem Weg der wirtschaftlichen und demokratischen Entwicklung beizustehen. Auf der Kon- ferenz in Tokio werden hierfür die Grundsteine gelegt. Mit unserem Antrag zeigen wir den von uns zu leisten- den Beitrag für ein friedliches und demokratisches Af- ghanistan auf. Heike Hansel (DIE LINKE): Vor einer Woche wur- den 18 Zivilisten bei einem Luftangriff der NATO getö- tet; am Dienstag kamen sieben Zivilisten bei einem An- schlag auf Sicherheitskräfte ums Leben; jeden Tag sterben dort Menschen durch Krieg. Am Montag verlo- ren über 80 Menschen bei einem Erdbeben ihr Leben. Das Dorf, in dem sie lebten, soll nun zum Massengrab erklärt werden, weil eine Bergung der Toten nicht mög- lich ist. Das sind die Nachrichten aus Afghanistan, wäh- rend wir im Bundestag zur besten Debattenzeit über flie- gende Teppiche streiten, anstatt darüber zu diskutieren, wie wir den Krieg beenden. Es wäre besser gewesen, Herr Niebel hätte statt Teppichen die deutschen Soldaten aus Afghanistan mitgebracht und sich damit ein Beispiel an der neuen französischen Regierung genommen, die ihre Truppen dieses Jahr abziehen will. Die Bilanz der bisherigen Unterstützung fällt aller- dings verheerend aus. Sie formulieren es in ihrem Antrag selbst: Ob Human Development Index, Lebenserwar- tung, Kindersterblichkeit – Afghanistan belegt überall ei- nen der letzten Ränge, und das nach über zehn Jahren sogenannter Unterstützung. Milliarden wurden in Afgha- nistan ausgegeben, auch für die zivile Hilfe, so viel, wie 22156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) in keinem anderen Land, und das, um ein solches Ergeb- nis zu erzielen. Das zeigt: Im Krieg kann es keine Ent- wicklung geben. Die Fraktion Die Linke fordert seit Jah- ren: Schluss mit dem NATO-Krieg, Truppen raus aus Afghanistan, weil erst dann Entwicklung überhaupt mög- lich wird. Jetzt schreiben Sie, dass die Kampftruppen bis Ende 2014 Afghanistan verlassen haben werden. Tatsächlich aber werden noch lange danach, und zwar mindestens bis 2024, NATO-Truppen stationiert bleiben. Das heißt, dass deutsche Soldaten noch zehn weitere Jahre dort statio- niert sein werden. Die militärische, strategische und geheimdienstliche Kooperation mit Afghanistan, für Ausbildung und Terrorismusbekämpfung mit Spezialein- heiten wird für die Zeit nach 2014 festgeschrieben. Es wird erwartet, dass eine Truppenstärke von 15 000 Mann im Land verbleiben wird, darunter etwa 1 000 Bundes- wehrsoldaten. Ein vollständiger Truppenabzug sieht an- ders aus. Es ginge darum, „die Entwicklung Afghanistans zu ei- nem voll funktionsfähigen Staat weiterhin zu unterstüt- zen“, schreiben Sie. Weiterhin? Entwicklung zu einem funktionsfähigen Staat? Wie sah diese Entwicklung denn bislang aus – mit Ihrer Unterstützung? Als Kriegspartei sind die ISAF-Truppen am Töten in Afghanistan betei- ligt, Zehntausende von Zivilisten wurden in Afghanistan auch durch die Angriffe der ISAF getötet. Doch Deutsch- land ist nicht nur Kriegspartei, sondern hat auch eine kor- rupte Regierung, verbrecherische Warlords und Funda- mentalisten im Land gestärkt. Politische Stabilität und graduelle Demokratisierung wollen Sie in Afghanistan feststellen? Frauenrechte, die sowieso nur auf dem Papier standen, werden wieder zur Disposition gestellt. Korruption und Misswirtschaft do- minieren das Land. Gestern habe ich auf das Verbotsver- fahren gegen die Solidaritätspartei, die sich gegen die Besatzung und die Warlords und Drogenbarone in Parla- ment und Regierung engagiert und für den Abzug der Truppen wirbt und gegen die herrschenden Warlords auf die Straße geht, verwiesen. Wo bleibt gegen diese staatli- che Repression die Reaktion vonseiten der Bundesregie- rung und von Minister Niebel? Was schlagen die Fraktionen der Regierungskoalition nun vor? Leider nichts Neues, sondern nur mehr vom Alten. Im Sinne des kürzlich abgeschlossenen bilatera- len Kooperationsabkommens zwischen der Bundesregie- rung und Afghanistan setzen sie auf genau das Konzept, das bereits gescheitert ist: Die Wirtschaft Afghanistans soll weiter liberalisiert, bessere Bedingungen für private Investoren sollen geschaffen werden. Sie haben die Inte- ressen der deutschen Wirtschaft fest im Blick. Die Libe- ralisierung, der Afghanistan unter der Kuratel der inter- nationalen „Geber“ unterzogen wird, hat allerdings schon mehr als genug Schaden angerichtet. Vor allem re- gionale Märkte sind dadurch zusammengebrochen, die die Armut in den ländlichen Regionen massiv verstärkt hat. Mit dieser Politik tragen sie nicht zu Stabilität, Ent- wicklung und Demokratisierung bei. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dieses Jahr ist ein weiteres wichtiges Jahr für die Zukunft der Menschen in Afghanistan. Nach der Bonner Konferenz im letzten Dezember und dem NATO-Gipfel im Mai wird jetzt die Geberkonferenz in Tokio darüber entschei- den, ob die internationale Gemeinschaft in der Lage ist, die Weichen für ein Afghanistan nach 2014 richtig zu stellen. Wir Grünen finden es sehr wichtig, dass in Tokio tat- sächlich substanzielle Vereinbarungen getroffen werden. Denn in den vergangenen Jahren mussten wir immer wieder erleben, wie in Afghanistan falsche Prioritäten gesetzt wurden und wie die richtige Einsicht nicht umge- setzt wird. Tokio ist deswegen so wichtig, weil dort beschlossen werden muss, dass das Ende des Militäreinsatzes nicht auch das Ende der zivilen Unterstützung bedeutet. Aus diesem Grund begrüße ich es, dass die Koalition den An- trag „Tokio-Konferenz zu einem entwicklungspoliti- schen Erfolg führen“ vorgelegt hat. Er geht in die rich- tige Richtung. Aber er geht nicht weit genug. Afghanistan hat sich verändert. Es gibt Fortschritte für die Entwicklung im Land. Zu nennen sind hier der Bildungssektor oder der Gesundheitsbereich. So wurden im Rahmen der deutsch-afghanischen Zusammenarbeit allein seit 2009 34 000 Lehrkräfte an Grund- und weiter- führenden Schulen aus- und fortgebildet. Insgesamt hat sich seit 2001 die Anzahl der Schülerinnen und Schüler von einer auf 8 Millionen gesteigert, darunter viele Mäd- chen. Aber auch bei den Menschenrechten konnten teil- weise signifikante, für die Menschen spürbare Verbesse- rungen erreicht werden. Hoffnung gibt eine aktive und zuletzt weiter erstarkte und zunehmend gut vernetzte af- ghanische Zivilgesellschaft. Aber sicherlich gibt es auch besorgniserregende Ent- wicklungen in Afghanistan. Die Sicherheitslage ist be- unruhigend. Rückschritte zeichnen sich am Horizont ab. Beschämend ist, wie wenig hoffnungsfroh die Lage der Frauen in Afghanistan ist. Nach deutlichen Fortschritten in der Zeit nach 2001 gibt es in letzter Zeit zu viele negative Beispiele. Ich nenne die geplante Verstaatlichung und Kontrolle der af- ghanischen Frauenhäuser oder einen Gesetzentwurf zur Regelung von Hochzeiten, der letztendlich die Rechte von Frauen beschneiden sollte. Beide Initiativen kamen zynischerweise aus dem afghanischen Frauenministe- rium. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Regierung Karzai auf dem Weg ist, das afghanische Frauenministe- rium zu einem Sittenwächter umzufunktionieren. Auch lassen sich die genannten Beispiele als Versuch verste- hen, den wieder erstarkenden konservativen Kräften in der afghanischen Gesellschaft entgegenzukommen. Das ist bitter, denn das dokumentiert auch ein Versagen der internationalen Politik. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, was ich in Ihrem Antrag vermisse, ist eine kritische Ausei- nandersetzung mit dem deutschen Engagement. Bis heute gibt es keine unabhängige Evaluierung des deut- schen Engagements in Afghanistan. Wir Grünen fordern Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22157 (A) (C) (D)(B) dies seit Jahren ein. Der jährlich vorgelegte Fortschritts- bericht reicht da bei weitem nicht aus. Denn eine feh- lende Auseinandersetzung mit den Fehlern der Vergan- genheit heißt auch, dass man nicht bereit ist zu lernen. Daran leidet letztlich die Qualität des deutschen Einsat- zes. Mit dem Konzept der vernetzten Sicherheit wurde ein Tabu gebrochen und das Entwicklungspolitische dem Militärischen nachgeordnet. Dies hat dem Verhältnis zur Zivilgesellschaft geschadet. Eine kritische Aufarbeitung wäre auch wichtig für die weitere Strategie. So erklärt sich auch, warum Deutsch- land beim Aufbau Afghanistans generell so strategielos wirkt und international in der zweiten Reihe steht. Hier schließt sich auch der Kreis zu Ihrem Antrag. Es finden sich keine ambitionierten Ziele für die Zukunft Afgha- nistans. Stattdessen lese ich Dinge, die Fragen aufwer- fen. Im Antrag legen sie fest, dass für die Phase der Tran- sition die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit und den zivilen Aufbau verstetigt werden sollen. Sprich, das wären dann die insgesamt 430 Millionen, davon 240 Millionen Euro aus dem Haushalt des BMZ. So weit, so gut. Für die Transformationsdekade von 2014 bis 2024 wird dagegen nur noch von einem „substanziellen Bei- trag“ gesprochen, der regelmäßig in Art und Umfang überprüft werden solle. Ich interpretiere das so, dass dies dann die schleichende Abkehr bzw. Reduktion der zivi- len Unterstützung für Afghanistan bedeutet. Ich finde, hierzu müssen sie sich erklären. Ich kritisiere die Ankündigung, die Ausarbeitung ei- nes bilateralen Rohstoffabkommens prüfen zu lassen. Ich finde es besser, Afghanistan dabei zu unterstützen, die eigenen Rohstoffe überhaupt erst einmal fördern zu können und dies zum Nutzen der gesamten Bevölkerung zu tun, sprich, ohne Korruption und für einen Staats- haushalt, der der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Solange dies nicht garantiert ist, sollten wir tunlichst die Finger davon lassen. Ich möchte auch noch einen weiteren Widerspruch in Ihrem Antrag aufzeigen: Ich verstehe nicht, wie Ihre ri- gorose Ablehnung von Budgethilfen für Afghanistan mit dem von Ihnen erweckten Eindruck zusammenpasst, den afghanischen Staat eigenständig machen zu wollen. Sie möchten Afghanistan dazu ermächtigen, aus eigenen Einnahmen, wohl auch durch Rohstoffexporte, die nöti- gen Mittel aufzubringen, um Entwicklung und Sicher- heitskräfte zu finanzieren. Gerade Budgethilfen sind ein geeignetes Instrument, um ein Land beim Aufbau von Finanzmanagement zu unterstützen, das Koordinations- problem der vielen Geber aufzulösen und endlich mal aus dem Klein-Klein herauszukommen. Ich sage Ihnen: Ein Land, das nicht in der Lage ist, verantwortungsvoll mit Budgethilfen umzugehen, ist auch nicht in der Lage, aus Rohstoffeinnahmen etwas Gutes für das Land zu er- reichen. Auch hier müssen Sie sich Kritik gefallen las- sen. Auch deshalb können wir dem Antrag nicht zustim- men. Zum Schluss. Die Tokio-Konferenz ist wichtig. Die Geber müssen Farbe bekennen. Deutschland muss aktiv für ein weiteres, verbessertes ziviles und entwicklungs- politisches Engagement eintreten. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Unseriöses Inkasso zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbrau- cher stoppen (Tagesordnungspunkt 16) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Mit dem stetigen Aufwachsen des Onlinehandels und Telefonmarketings sind leider zunehmend unseriöse Geschäftspraktiken zu einem großen Übel für Verbraucherinnen und Verbrau- cher geworden: Rechnungen infolge unerlaubter Tele- fonanrufe, aufgrund von sogenannten Abo-Fallen im In- ternet oder in mittelbarer Folge durch den Missbrauch datenschutzrechtlicher Einwilligungen. Die Methoden sind vielfältig, letztlich aber eng miteinander verfloch- ten. Am Ende derartiger Betrugsketten steht meist nicht nur die Beitreibung nicht existierender Forderungen selbst. Es sind auch unangemessene Beitreibungsmetho- den und vor allem das Anschwellen einer Bagatellforde- rung durch überhöhte Inkassokosten, die Verbraucherin- nen und Verbraucher drücken. In den letzten Jahren hat sich zudem das wettbe- werbsrechtliche Abmahnwesen für Bagatellen als ein neuer Geschäftszweig im negativen Sinne etabliert. Mit Hilfe von Suchmaschinen werden kleinste Verstöße im Internetauftritt identifiziert und folgend abgemahnt. Häufigen Anlass für diese Masche geben Verstöße gegen Marktverhaltensregelungen im Sinne von § 4 Nr. 11 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, insbeson- dere die Impressumspflicht nach dem Telemediengesetz, der Gebrauch unzulässiger Allgemeiner Geschäftsbedin- gungen und Verstöße gegen die Preisangabenverord- nung. Für Mitbewerber ist es dabei oft zu keiner spürba- ren Wettbewerbsverzerrung gekommen, für den zumeist betroffenen Kleinunternehmer hingegen stellen die im Rahmen der Abmahnung geforderten Kosten eine exis- tenzbedrohende große Belastung dar, die, und das ist der wesentliche Punkt, in keinem Verhältnis zur Geringfü- gigkeit des Verstoßes stehen. Die Drohgebärden der unseriösen Inkassounterneh- men werden durch das Versenden vorformulierter Klage- schriften oder umfänglicher vermeintlich zutreffender Urteilssammlungen zugunsten der angeblichen Forde- rungsinhaber unterstützt, um den Druck noch weiter zu erhöhen. Die Verbraucherzentrale in meinem Heimatland Sachsen hat im Rahmen einer Erhebung aus dem Jahre 2011 lediglich 1 Prozent von 4 000 untersuchten Be- schwerden als eindeutig berechtigte Inkassoforderungen identifiziert. Die Zahl derer, die den Weg zu den Ver- braucherzentralen nicht gesucht und stattdessen unter dem Druck sich anhäufender Mahnungen gezahlt haben, 22158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) dürfte um ein Wesentliches höher liegen: die sogenannte Grauzone. Die Inkassobranche hat nicht zuletzt ob dieser Methoden mancher insgesamt keinen guten Ruf beim Verbraucher. Der vorliegende Antrag der PDS richtet sich gegen die schwarzen Schafe einer Branche, die für das Funk- tionieren des Geschäftslebens insgesamt aber unabding- bar ist. Inkassounternehmen ermöglichen vielen Unter- nehmen aus sämtlichen Branchen die Konzentration aufs Kerngeschäft, indem sie bestehende Forderungen im außer- gerichtlichen Inkasso realisieren. Wir dürfen eines nicht verkennen in der ganzen Diskussion: Viele Schuldner er- halten zu Recht Inkassoschreiben, weil sie säumig mit einer unbestreitbaren Forderung sind. Die Inkassovergü- tung ist dann Teil des Verzugsschadenersatzanspruchs des Gläubigers. Die christlich-liberale Koalition sieht angesichts des Missbrauchs in der Branche natürlich Handlungsbedarf. Das Kind mit dem Bade ausschütten wollen und werden wir aber nicht. Entgegen der Darstel- lung im Antrag sind wir in diesem Bereich auch alles an- dere als untätig. Im März haben wir hier im Haus das Gesetz gegen Kostenfallen im elektronischen Geschäftsverkehr verab- schiedet, mit dem den sogenannten Abo-Fallen ein wei- terer Riegel vorgeschoben wird. Das war ein wichtiger weiterer Schritt zur Umsetzung unserer rechts- und ver- braucherpolitischen Agenda, mit dem wir den Hebel am Anfang der skizzierten Betrugskette ansetzen. Die Bundesregierung, in Person die Ministerinnen Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger – das will ich in diesem Zusammenhang gern nochmals betonen –, hatte erfolgreich die Aufnahme dieser Regelung in die am 12. Dezember 2011 in Kraft getretene EU-Verbrau- cherrechte-Richtlinie erreicht. Wir waren danach die ers- ten in Europa, die umgesetzt haben. Wir haben die euro- päisch abgestimmte Regelung erreicht. Auch gegen verbundene unseriöse Geschäftsprakti- ken, gegen unseriöse Inkassounternehmen und die er- wähnte Bagatellabmahnindustrie werden wir vorgehen. Der entsprechende Referentenentwurf des Bundesminis- teriums der Justiz liegt bereits vor. Die Schwerpunkte darin sind mehr Transparenz beim Forderungseinzug, Darlegungs- und Informationspflich- ten bei Inkassodienstleistungen und erweiterte Sank- tionspflichten der Aufsichtsbehörden einschließlich empfindlicher Bußgelder sowie Rahmensetzung im Ge- bührenbereich. Der vorliegende Antrag ist also weitgehend erledigt. Ihre Forderung nach einer neuen Behörde lehnen wir ab, da es keinen Vollzugsmangel gibt, sondern zusätzlicher Regulierung bedarf – und die kommt. Mechthild Heil (CDU/CSU): Erst das Vergnügen – dann die Arbeit: Zunächst möchte ich nämlich etwas durchaus Erfreuliches feststellen: Im Verbraucherschutz liegen die Positionen in diesem Hause weniger weit aus- einander als in anderen politischen Fragen. Weniger erfreulich ist allerdings, dass wir uns immer wieder mit Anträgen wie diesem beschäftigen müssen, in denen Sie etwas fordern, was wir schon längst tun. Wir sind uns doch beim Thema: „Unseriöses Inkasso zu- lasten Verbraucherinnen und Verbrauchern stoppen“ grundsätzlich einig. Seriöses Inkasso ist im Wirtschafts- leben normal und wichtig. Viele Firmen sind beim Ein- zug ihrer Forderungen auf die Hilfe seriöser Inkasso- unternehmen angewiesen. Einige schwarze Schafe bringen aber die gesamte Branche zunehmend in Verruf. Schlimmer noch: Die be- troffenen Verbraucherinnen und Verbraucher fühlen sich durch ungerechtfertigte Mahnungen bedroht und einge- schüchtert. Sie müssen einen finanziellen Schaden hin- nehmen, auch wenn sie entweder keine oder nur gering- fügige Rechtsverstöße begangen haben. Deshalb: Den Praktiken von unseriösen Inkassounternehmen in Deutschland muss ein Riegel vorgeschoben werden. Und das machen wir. Ja, es ist richtig, dass Verbraucherinnen und Verbrau- chern von solchen unseriösen Unternehmen in vielen Fällen Gebühren zugemutet werden, die ungerechtfertigt hoch sind. Ja, es ist auch richtig, dass eine Informations- pflicht in Zusammenhang mit den Zahlungsaufforderun- gen von Inkassounternehmen eingeführt werden muss, damit Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollzie- hen können, woher die Zahlungsverpflichtungen kom- men, und damit sie überprüfen können, ob diese Forde- rungen berechtigt sind. Ja, es ist richtig, dass der Sanktionsrahmen gegen un- seriöses Inkasso qualitativ und quantitativ erweitert und die entsprechenden Kontrollmechanismen ausgebaut werden müssen. Ja. Ja. Ja. – Aber trotzdem: Nein, meine Damen und Herren von der Linken, zu Ihrem Antrag! Denn: Wir brauchen diesen Antrag nicht. Die genannten Kritikpunkte hat das BMJ schon längst in seinem Ge- setzentwurf zur Bekämpfung unseriöser Geschäftsprak- tiken mit gezielten Neuregelungen gegen unseriöse Inkassotätigkeit im Rechtsdienstleistungsgesetz aufge- griffen. Der Entwurf befindet sich derzeit noch in der Ressortabstimmung. Vorgesehen ist unter anderem: Aus Inkassoschreiben muss eindeutig zu entnehmen sein, für wen das Inkassounternehmen arbeitet, worauf die Forderung beruht und wie sich die Inkassogebühren zusammensetzen. Dies ist für seriös arbeitende Perso- nen, die Inkassodienstleistungen erbringen, schon heute selbstverständlich, sodass mit dieser Verpflichtung für die Mehrheit der seriösen Marktteilnehmer kein bürokra- tischer Mehraufwand und kein Kostenaufwand entste- hen. Die Aufsicht über die Inkassobranche soll verbessert werden. Schon heute benötigen Inkasso-Unternehmen eine Registrierung. Die Widerrufsmöglichkeiten für die Registrierung sollen erweitert werden, damit unseriöse Unternehmen schneller vom Markt verschwinden. Eine einfache und transparente Gebührenregelung soll verhindern, dass Verbraucherinnen und Verbraucher überzogene Inkassogebühren zahlen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22159 (A) (C) (D)(B) Derzeit gibt es keine klare Regelung, bis zu welcher Höhe Inkassogebühren geltend gemacht werden können. Mit der Einführung von Inkassoregelsätzen kann jeder Verbraucher sofort erkennen, bis zu welcher Höhe sol- che Kosten erstattungsfähig sind. Eine faire, dem tat- sächlichen Aufwand angemessene Staffelung der Kosten nimmt unseriösen Abzockern in dieser Branche den An- reiz. Verknüpft werden diese Maßnahmen gegen unseriö- ses Inkasso mit neuen Regelungen zu Telefonwerbung und Abmahnwesen, da hier ein inhaltlicher Zusammen- hang besteht. In vielen Fällen beziehen sich unseriöse Inkassopraktiken auf Forderungen, die während eines unerlaubten Werbeanrufs begründet worden sind. Wir reagieren damit auf die Forderungen des Bundes- rates vom Mai 2011 und der Verbraucherschutzminister- konferenz vom vergangenen September sowie auf die im Dezember veröffentlichten Untersuchungsergebnisse der Verbraucherzentrale, auf die Sie sich in Ihrem Antrag ebenfalls beziehen und die übrigens vom BMELV geför- dert wurde. Wir brauchen allerdings keine bundesweit tätige Verbraucherschutzbehörde, die die Inkassounter- nehmen überwacht, wie Sie es fordern. Die Aufsicht er- folgt heute durch die Länder. Eine Übertragung der Auf- sichtspflicht auf eine Bundesbehörde würde nur zu Know-how-Verlust führen. Auch Ihre Forderung, eine Inkassogenehmigung dürfe nur nach eingehender, vorheriger behördlicher Prüfung erteilt werden, läuft ins Leere. Eine Zulassung für Inkassounternehmen wird heute schon nur erteilt, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen: Die Inkassodienstleister müssen geeignet und zuverlässig sein, die besondere Sachkunde besitzen, die notwendig ist, um die Rechtsdienstleistung zu erbringen, und eine Berufshaftpflichtversicherung abgeschlossen haben. Worum es hier geht, worum es uns geht, ist, Betrü- gern in einem im Übrigen seriösen und leider notwendi- gen Dienstleistungsbereich das Handwerk zu legen, in- dem wir die schwarzen Schafe erkennen, sie von dieser Tätigkeit ausschließen und gegebenenfalls bestrafen. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Damit, ich sagte es bereits, setzen wir um, was Sie heute fordern: den umfassenden Schutz der Verbraucherinnen und Ver- braucher vor unseriösem Inkasso. Hier trifft das arabi- sche Sprichwort zu: „Weisheit, die auf Eseln reitet, kommt immer zu spät.“ Kerstin Tack (SPD): Wieder einmal geht es heute um unseriöse Inkassounternehmen. Ein Problem, das in- zwischen nahezu jedem hier bekannt sein sollte: Forde- rungen werden teilweise ungeprüft gestellt, und dafür werden horrende Beträge verlangt, die die eigentliche Forderung teilweise überschreiten. Alle sind sich hier ei- nig: So geht das nicht. Die Bundesjustizministerin hatte hierzu einen Gesetzentwurf erarbeitet. Ein Missgeschick führte dazu, dass dieser Gesetzentwurf die Öffentlichkeit erreichte. Und obwohl der Gesetzentwurf tatsächlich eine Verbesserung der Verbraucher dargestellt hätte, liegt er nun auf Eis. Die in dem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommende Begrenzung des Streitwertes auf 500 Euro beispielsweise finde auch ich ein adäquates Mittel. Über weitere Details müsste man sich unterhalten. Aber – und dieses „aber“ kommt ja inzwischen auch schon aus den eigenen Reihen der Koalition – Fernsehmoderatoren führen hierüber Nachgespräche. Aber, meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf wurde bis heute nicht im Kabinett beschlossen. Die Regierung bleibt auch in die- sem Punkt untätig. Anhalten, aufhalten, einstampfen. Schade um die Kapazitäten der Ministerien. Wenn wir nun also darüber reden, wie wir die schwar- zen Schafe unter den Inkassounternehmen an die Kan- dare legen wollen, dann müssen wir uns klarmachen, wo die Probleme liegen. Mit dem Begriff Inkasso bezeich- nen wir das Eintreiben fremder Forderungen. Wenn wir den Normalfall anschauen, ist das auch unproblema- tisch: Ein Kunde bezahlt die Rechnung nicht, also soll er hierzu verpflichtet werden. Problematisch wird es aber – und deswegen unterhalten wir uns hier und heute darüber –, wenn zweifelhaft ist, ob die Forderung über- haupt besteht, oder wenn für das Eintreiben der Forde- rung deutlich mehr Geld verlangt wird, als die Forde- rung selbst wert ist. Schauen wir uns beispielsweise Abmahnungen im Urheberrechtsbereich an: Der Verein gegen den Ab- mahnwahn e. V. hat im Jahr 2011 über 218 000 Abmah- nungen mit einem Gesamtforderungsvolumen von über 165 Millionen Euro geschätzt. Wenn diese Schreiben alle bezahlt worden wären, so hätte jedes über 750 Euro gekostet. Der Verein geht von einer Zahlungsquote von 40 Prozent aus. Das heißt, 218 000 Abmahnungen erge- ben 66 Millionen Euro. Pro versandtem Brief ergibt das immer noch etwas mehr als 300 Euro, über 300 Euro für ein maschinell erstelltes Aufforderungsschreiben, mit dem jemand gebeten wird, ein Verhalten künftig zu un- terlassen. Das ist problematisch. Deshalb unterstütze ich die Forderung, die auch im heute zur Debatte stehenden Antrag enthalten ist, Inkassogebühren für den Regelfall zu deckeln, ausdrücklich. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch einmal darauf hinweisen, dass es bei einer solchen Abmahnung weder um einen Schadenersatz geht, den der oder die Abgemahnte bezahlen soll, noch um eine strafrechtliche Sanktion. Für beides haben wir andere Vorschriften. Hier geht es lediglich darum, ein Verhalten abzumahnen, so- dass dies künftig unterlassen wird. Hohe Gebühren sind da nicht angebracht. Probleme gibt es auch in anderen Bereichen, beispielsweise bei Vertragsschlüssen auf- grund von Telefonwerbungen. Die Telefonate haben manchmal noch nicht einmal stattgefunden, was die Un- ternehmen nicht immer davon abhält, diese Forderungen – ohne jede Vertragsgrundlage – durchsetzen zu lassen. Die Inkassounternehmen prüfen nicht, sondern ziehen den Betrag sofort ein. Cary Grant sagte einmal: „Mach deine Arbeit und verlange deine Bezahlung – aber bitte in dieser Reihenfolge.“ Diese Reihenfolge wird aber eben genau nicht eingehalten. Vielmehr fordern unse- riöse Inkassounternehmen Gelder ein, ohne geprüft zu haben, ob sie dazu überhaupt berechtigt sind. Die Arbeit überlassen sie erst einmal den Verbraucherinnen und Verbrauchern und gucken, ob die sich gegen die Forde- rung wehren. So kann das aber nicht weitergehen. 22160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Wir müssen Verbraucherinnen und Verbraucher davor bewahren, dass Unternehmen unberechtigte Forderun- gen stellen. Um Verbraucherinnen und Verbraucher vor unseriösem Inkasso zu schützen, müssen daher folgende Eckpunkte gesetzlich verankert werden: Die Gebühren müssen begrenzt werden. Mehr als 100 Euro für ein ers- tes, einfaches Aufforderungsschreiben sind unverhältnis- mäßig. Das gilt nicht nur, aber ganz besonders bei Ab- mahnungen mit Unterlassungsandrohungen. Man muss sich doch einmal anschauen, worum es hier geht: Unter- lasse das, sonst wird es teuer! Das ist die Aussage einer Abmahnung. Und nicht: Zahle teures Geld, weil Du et- was falsch gemacht hast. Zweitens brauchen wir ein breiteres Sanktionsspek- trum gegen die schwarzen Schafe unter den Inkasso- unternehmen. Es kann doch nicht angehen, dass Forde- rungen ohne die Prüfung, ob sie überhaupt bestehen könnten, durchgesetzt werden. Wenn so etwas passiert, dann muss die Aufsicht auch mal ein Bußgeld verhängen dürfen. Und wenn so etwas häufig passiert, dann muss es auch möglich sein, das Unternehmen zu schließen. Drittens müssen wir die Verbraucherzentralen zu ei- nem Finanzmarktwächter ausbauen. Wir brauchen ein Organ im Markt, das Fehlverhalten aufdeckt und kennt- lich macht. Die Verbraucherzentralen bieten die Infra- struktur, um Marktmissstände frühzeitig zu erkennen. Sie stehen im direkten Austausch mit Verbraucherinnen und Verbrauchern. Über ihr breites Netz an Verbraucher- zentralen einerseits, aber auch über Onlineplattformen andererseits kann sich nahezu jede deutsche Verbrauche- rin und jeder deutsche Verbraucher mit Problemen ein- fach an die Verbraucherzentralen wenden. Die zum Marktwächter erstarkten Verbraucherzentralen könnten Probleme am Markt filtern und an eine schlagkräftige Aufsicht weitergeben. Dann brauchen wir keine bürokra- tisch organisierte Verbraucherbehörde, wie sie im vorlie- genden Antrag gefordert wird. Wir wollen eine bürger- und marktnahe Einrichtung, die die Probleme der Ver- braucherinnen und Verbraucher kennt. Viertens muss gewährleistet sein, dass alle Bereiche des Finanzmarktes einer schlagkräftigen Aufsicht unter- stellt sind. Das muss auch für Inkassounternehmen gel- ten. Die Zivilgerichte können diese Aufgabe nicht leisten. Ihre Aufgabe ist das Wachen über Rechtsdienstleistun- gen. Ihre Struktur ist über das gesamte Bundesgebiet ver- teilt. Traditionell kam es bei Inkassounternehmen genau auf diese Art der Aufsicht an. Denn Inkassounternehmen sollten fremde Forderungen einziehen. Sie sollten eine rechtsnahe Dienstleistung erbringen. Heute zeigt sich aber, dass es auch auf die inhaltliche Arbeit der Unterneh- men ankommt. Die Aufsichtsbehörde muss im Zweifel eben auch beachten und beobachten, ob ein Inkassounter- nehmen Forderungen überprüft hat, bzw. Sanktionen ver- hängen, wenn das nicht der Fall war. Für eine solche Überprüfung bedarf es einer schlagkräftigen Aufsicht, die Missständen nachgehen und diese sanktionieren kann. Die Zivilgerichte sind hierzu weder strukturell noch per- sonell in der Lage. Erst wenn wir ein solches Gesamtkon- zept verabschiedet haben, wird sich der Markt regulieren. Das Zusammenspiel von Marktwächter und Aufsichtsbe- hörde ist dabei der entscheidende Schlüssel, um eine ef- fiziente Kontrolle des Marktes ohne zu gravierende Ein- schnitte zu gewährleisten. Denn der Marktwächter beobachtet den Markt aus der Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher. Er ist eine Bündelung der vielen schwa- chen Einzelinteressen, die unter ihm versammelt werden. Er schaut sich an, wo Defizite bestehen, und diese meldet er an die Aufsicht. Diese ist wiederum alleinige Sank- tionsbehörde. Sie prüft, entscheidet und verhängt gegebe- nenfalls Sanktionen gegen unseriöse Marktteilnehmer. Dieses Marktwächtermodell berücksichtigt die Inte- ressen der Verbraucherinnen und Verbraucher ohne eine übermäßige Regulierung. Es ist günstiger und effektiver als die Schaffung einer Behörde. Und ein Marktwächter hat deutlich bessere Handlungsmöglichkeiten, um prä- ventiv vorzubeugen. Verbraucherinnen und Verbraucher können ohne große Hemmungen mit dem Marktwächter kommunizieren und sich über Gefahren und Miss- brauchsmechanismen des Marktes kundig machen. Mit einem ausbalancierten Rechte- und Pflichtensys- tem, mit einer schlagkräftigen Aufsicht und mit einem Marktwächter, der die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher im Blick hat, können wir auch unseriö- ses Inkasso langfristig eindämmen. Stephan Thomae (FDP): Die Linke stellt in ihrem Antrag ihre Überlegungen zu unseriösem Inkasso vor. Ich muss zunächst eins klarstellen: Es ist mitnichten so, dass die Bundesregierung das Problem unseriöser Inkas- sounternehmen ignoriert hätte. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger hat einen Referentenentwurf zur Be- kämpfung unseriöser Geschäftspraktiken vorgelegt. In diesem wird neben den Themen unerlaubte Telefonwer- bung, Abmahnungen nach dem Gesetzt gegen unlauteren Wettbewerb und nach dem Urheberrechtsgesetz auch das Problemfeld unseriöser Inkassopraktiken behandelt. Lassen Sie mich nun auf die Forderungen der Linken im Einzelnen eingehen. Erstens. Die Linke schlägt vor, dass die Schuldnergebühren für die ersten beiden Mah- nungen 100 Euro nicht überschreiten dürfen. Wie das ge- gen unseriöse Machenschaften helfen soll, erschließt sich mir nicht. Hier muss man eins bedenken: Eine Ge- bührendeckelung trifft seriöse Inkassounternehmen ge- nauso wie unseriöse. Wenn die Unternehmen aber nur geringe Gebühren verlangen dürfen, können sie auch nur diese geringen Gebühren einsetzen um die einzelnen Fälle seriös abzuwickeln. Dies wirkt sich natürlich auf die Qualität des Inkassos aus. Seriös arbeitende Unter- nehmen haben dann weit weniger Mittel zur Verfügung, um die Prüfung und Fallbearbeitung im Einzelfall mit der gebotenen Intensität zu betreiben. Der Vorschlag der Linken würde nicht dazu führen, dass wir unseriösen In- kassounternehmen das Wasser abgraben. Vielmehr wäre die Konsequenz einer Kostendeckelung, wie sie die Linke vorschlägt, dass das Niveau seriösen Inkassos ins- gesamt sinkt. Das sollten wir nicht wollen. Der Referen- tenentwurf des BMJ sieht daher auch vor, dass durch eine Verordnung Inkassoregelsätze aufgestellt werden, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22161 (A) (C) (D)(B) die es seriösen Unternehmen ermöglichen, sinnvoll zu arbeiten. Zweitens. Weiter fordert die Linke, dass Inkassoun- ternehmen umfangreiche Informationspflichten auferlegt werden. Dies geht in der Sache in die richtige Richtung und seriöse Unternehmen erfüllen diese Voraussetzun- gen heute bereits. Aber auch hier muss man mit Augen- maß vorgehen. Der vorliegende Vorschlag sieht vor, dass Inkassounternehmen verpflichtet werden. Verbraucher immer auch die Anschrift des Auftraggebers der Inkas- sounternehmen zu übermitteln. Dies übersieht aber voll- ständig, dass dabei auch datenschutzrechtliche Aspekte berücksichtigt werden müssen. Daher sieht der Entwurf der Bundesjustizministerin vor, dass auf die Angabe der Anschrift verzichtet werden kann, wenn dargelegt wird, dass der Benennung der Anschrift besondere Schwierig- keiten oder schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen entgegenstehen. Dies könnte der Fall sein, wenn es im Vorfeld wiederholt zu Bedrohungen oder Stalking durch die Schuldnerin oder den Schuldner gegenüber dem Gläubiger gekommen ist. Drittens. Eine weitere Forderung Ihres Papiers ist die Erhöhung des Bußgeldrahmens. In dieser Hinsicht kann ich Sie voll und ganz beruhigen. Der Referentenentwurf sieht vor, dass im Rahmen von § 20 RDG, Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen, verhängte Bußgelder bis zu 50 000 Euro betragen können. Dies be- deutet eine Verzehnfachung des bisherigen Rahmens. Wir sind uns in diesem hohen Hause alle einig, dass ge- gen unseriöse Inkassounternehmen etwas unternommen werden muss, um die Verbraucher zu schützen. Wir dürfen dabei aber nicht aufgrund einzelner Unter- nehmen eine ganze Branche unter Generalverdacht stel- len. Die schwarz-gelbe Bundesregierung möchte präzise die Betrüger unter den Inkassounternehmen treffen und nicht diejenigen, die ihre Arbeit legitim durchführen. Die Linke verfährt aber offensichtlich nach dem Prinzip: „Bei den Inkassounternehmen trifft man sowieso nicht den Falschen.“ Das zeigt sich auch anhand der Tatsache, dass die Linke behauptet, die „Inkassoindustrie“ finan- ziere sich dadurch, dass den Verbraucherinnen und Ver- brauchern „weiterhin unberechtigt Geld aus der Tasche gezogen“ werde. Wer seriöse Unternehmen so leichtfer- tig mit betrügerischen Unternehmen vermengt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, es gehe ihm nicht nur darum, die unberechtigten Inkassoschreiben zu verhin- dern, sondern dass er ebenfalls in Kauf nimmt, die seriö- sen Inkassounternehmen gleich mit abzuwürgen. Die Inkassoforderung muss zur außergerichtlichen Beilegung eines Zahlungsverzugs auch weiterhin mög- lich sein. Der Kampf gegen unseriöse Geschäftsprakti- ken in der Inkassobranche darf nicht auf dem Rücken der Gläubiger ausgetragen werden. Diese möchten ihre For- derungen ja zu Recht beglichen sehen und sind daher oft auf die Dienste seriöser Inkassounternehmen angewie- sen. Das BMJ hat einen Entwurf, zur Lösung dieser Fra- gen vorgelegt. Dieser ist in den Augen meiner Fraktion der deutlich bessere Weg als das, was die Linke hier vor- schlägt. Vor diesem Hintergrund können wir dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Dr. Erik Schweickert (FDP): Die meisten Inkasso- büros arbeiten solide und fair. Sie erfüllen in unserer Wirtschaftordnung eine wichtige Aufgabe. Sie fungieren als Vertreter des Gläubigers und realisieren Forderungen gegen säumige Schuldner. Durch die eigenbetriebliche Übernahme der Durchsetzung von Forderungen entlas- ten sie insbesondere Unternehmen in erheblichem Um- fang. Seriöse Inkassounternehmen arbeiten für Gläubiger und Schuldner gleichsam kostengünstig und effizient. Aber leider gibt es auch die Kehrseite der Medaille: Drohen, erpressen, abzocken – das ist für einige windige Inkassobüros der tägliche Dreiklang. Unlauteres Inkasso ist in Deutschland leider auf dem Vormarsch, nicht sel- ten in einer unheiligen Allianz mit unerlaubter Telefon- werbung oder Abzocke im Internet. Mit Phantasiezinsen und nicht nachvollziehbaren Gebühren werden die dem Verbraucher in Rechnung gestellten Kosten in die Höhe getrieben. Nicht selten übersteigen diese Kosten am Ende die Forderung um das Vielfache. Aber nicht nur das: Verbrauchern wird bei Nichtzahlung mit einem Schufa-Eintrag gedroht, obwohl das Inkassobüro gar nicht Schufa-Mitglied ist und somit auch gar keinen Ein- trag erwirken kann. Und die ganz Windigen versuchen gar, Forderungen beizutreiben für Verträge, die ein Ver- braucher niemals abgeschlossen hat. Das Unternehmen Lotto 3000 hat dies beispielsweise im großen Stil auch in meinem Wahlkreis versucht. So nicht! Die schwarz-gelbe Bundesregierung geht hier deutlich voran und wird den windigen Inkassounter- nehmen Ketten anlegen und damit die Verbraucher vor Abzocke schützen. Allerdings, und das sage ich mit Blick auf den vorlie- genden Antrag der Fraktion Die Linke, habe ich den Ein- druck, Sie waren zu lange zu sehr mit sich selbst und Ih- ren Führungsdebatten beschäftigt in letzter Zeit. Darüber scheinen Sie etwas den Überblick über die tagespoliti- schen Entwicklungen verloren zu haben. Wir sind näm- lich schon sehr viel weiter, als Ihr Antrag es vorgibt. Ich kläre Sie aber gerne darüber auf, was die Bundesregie- rung und die FDP-Bundestagsfraktion bereits an Maß- nahmen vorgeschlagen und auf den Weg gebracht haben. Am 24. Oktober 2011 hat die FDP-Bundestagsfrak- tion auf meine Initiative hin ein Positionspapier be- schlossen, das künftige gesetzgeberische Maßnahmen angeregt hat. Dies hat das Bundesjustizministerium auf- gegriffen und inzwischen einen Entwurf vorgelegt, der unseriöse Geschäftspraktiken ins Visier nimmt und diese abstellen möchte. Dazu gehört erstens, dass Inkassoun- ternehmen zukünftig transparenter machen müssen, für wen welche Forderung geltend gemacht wird. Die Nen- nung von Name bzw. Firma des Auftraggebers wird ebenso vorgeschrieben wie die Nennung von Vertragsda- tum, Vertragsumstand und Inhalte des Vertragsschlusses. Zweitens schiebt der Entwurf dem Gebührenauswuchs einen Riegel vor, indem Inkassoregelsätze eingeführt werden sollen, nach denen die Gebühren berechnet wer- 22162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) den. Eine Kopie mit einem Aufwand von 200 Euro zu berechnen, wird damit der Vergangenheit angehören. Wir werden aber keine Gebührendeckelung vorneh- men bei einem bestimmten Prozentsatz der Hauptforde- rung, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern. Wir sind der Meinung, tatsächlich anfallende Kosten sollen auch wei- terhin abgerechnet werden dürfen. Es muss lediglich transparent nachgewiesen werden, dass diese Kosten wirklich entstanden sind. Ihr Vorschlag würde beispiel- weise das Inkasso bei geringen Forderungen zu einem Zuschussgeschäft machen, da bestimmte Kosten immer anfallen, egal wie hoch die Hauptforderung ist. Wir wol- len nicht, dass Bagatellforderungen von wenigen Euro nicht mehr beigetrieben werden können, weil schon die Versendung eines umfangreichen Briefs an den Schuld- ner teurer ist als die Forderung selbst. Wir wollen jedoch, dass Zinssätze transparent darge- legt werden und sollte ein höherer Zinssatz als der ge- setzliche Verzugszins berechnet werden, dies nur dann geschehen darf, wenn die Umstände begründet dargelegt werden, warum dies nötig ist. Schließlich sieht der Entwurf des BMJ die Erweite- rung der Bußgeldvorschriften vor. Wir brauchen ein ab- gestuftes Sanktionssystem. Denn gerade das Beispiel Deutsche Zentralinkasso zeigt, dass allein der Entzug der Zulassung als Inkassodienstleister nicht ausreicht, um dem Problem des unlauteren Inkasso zu begegnen. Denn dieses Schwert mag zwar auf den ersten Blick scharf sein, aber wenn es am Ende von den Gerichten aufgrund der hohen Hürden nicht angewendet wird, dann bringt es dem Verbraucher nichts und ist auf den zweiten Blick eben leider sehr stumpf. Deshalb wollen wir über die Möglichkeit des Entzugs der Zulassung hi- naus auch Bußgeldmöglichkeiten beim Verstoß gegen oben angeführte Transparenzpflichten schaffen. Ordnungs- widrigkeiten sollen künftig nicht nur mit 5 000 Euro, sondern mit 50 000 Euro geahndet werden können. Und diese Geldbußen sollen nicht mehr nur durch die Staats- anwaltschaften verhängt werden dürfen, sondern auch durch die jeweils zuständigen Registrierungsbehörden. Die Bundesregierung hat das Problem erkannt und wird entsprechend handeln. Denn wir stehen an der Seite der Verbraucher. Deshalb unterstützen wir auch die Ver- braucherzentralen – in diesem Jahr mit 8,7 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt. Was dieser Aspekt im Zusammenhang mit unlauterem Inkasso in Ihrem Antrag zu suchen hat, erschließt sich mir zwar nicht, aber ich nutze dies gerne, um ausdrücklich die gute Arbeit der Verbraucherzentralen zu loben und ihnen zuzusichern, dass wir als christlich-liberale Koalition die Arbeit der Verbraucherzentralen gerne auch weiterhin entsprechend fördern werden. Denn die Verbraucherzentralen zahlen dies mit sehr guter Verbraucheraufklärung und -beratung auch zurück. Gerade beim unlauteren Inkasso hat der Verbraucherzentrale Bundesverband äußerst wertvolle Arbeit bei der Aufdeckung schwarzer Schafe geleistet. Dafür nochmals auch mein expliziter Dank. Lassen Sie mich abschließend noch kurz darauf hin- weisen, dass wir nicht nur das Thema Inkasso angehen, sondern auch das zu Beginn genannte unheilvolle Zu- sammenspiel von Internetabzockern und unlauterem In- kasso. Es ist diese schwarz-gelbe Bundesregierung ge- wesen, die bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen hat, um die Bestellsituation im Internet eindeutiger und nach- vollziehbarer zu gestalten. Mit dem verpflichtenden Be- stätigungsfeld bei kostenpflichtigen Vertragsabschlüssen im Internet sind wir vor allem denen zu Leibe gerückt, die bisher die Kostenpflichtigkeit von Angeboten be- wusst verschleiert haben, um die Verbraucher dann spä- ter mit Forderungen zu überziehen. Dieses Unterjubeln von Kosten wird künftig nicht mehr funktionieren, und damit haben wir auch schon vielen Inkassoabzockern ihre Geschäftsmodelle entzogen. Und all jenen, die auf andere Weise auf die Abzocke der Verbraucher als Ge- schäftsmodell setzen, werden wir dieses durch oben be- schriebene Maßnahmen ebenfalls zerschlagen. Caren Lay (DIE LINKE): Unseriöses Inkasso ist ein Riesenproblem. Häufig stehen die Forderungen unseriö- ser Unternehmen im Zusammenhang mit unerlaubter Te- lefonwerbung oder mit Kostenfallen im Internet und bil- den damit den unrühmlichen Abschluss einer langen Betrugskette. Häufig führen auch völlig überzogene und nicht nachvollziehbare Phantasiegebühren aus kleinen Beträgen zu großen Schulden. Mit Ihrem Klick auf das Feld „Jetzt anmelden“ schließen Sie dann ein Abo ab. Kosten: 96 Euro pro Jahr. Da sind Sie schnell 200 Euro los, ehe Sie sich versehen haben. Das Abo gilt gleich für zwei Jahre. Windige Geschäftemacher haben das Geschäft mit den echten oder mit vermeintlichen Schulden schon seit langem entdeckt. Und wie so oft lässt die Bundesregie- rung die Verbraucherinnen und Verbraucher im Regen stehen: Ein Gesetzentwurf war für diesen Juni verspro- chen. Aber weil die Koalition einmal wieder zerstritten ist, wird daraus nichts. Die Leidtragenden dieser Koali- tionsquerelen sind wieder einmal die Verbraucherinnen und Verbraucher. Seit Jahren gehen bei den Verbraucherzentralen Un- mengen von Beschwerden gegen Inkassobescheide ein. In mühsamer Kleinarbeit versuchen die Verbraucher- schützer, auf das Problem „Inkasso“ aufmerksam zu ma- chen. Sie warnen vor unseriösen Machenschaften, sie reichen Klagen ein und machen sogar auf eigene Rech- nung Studien. Denn Tatsache ist, dass es eine riesige Grauzone gibt, in der windige Geschäftemacher mehr oder weniger nach Lust und Laune agieren können. Es wird Zeit, dass auch die Bundesregierung endlich han- delt! Uns geht es nicht darum, Inkasso zu verbieten. Wir sagen aber als Linke: Inkasso braucht Regeln! Weil die Koalition das offenbar nicht so wichtig findet, legen wir als Linke heute einen Antrag vor, damit endlich etwas passiert. Erstens. Inkassounternehmen müssen verpflichtet werden, Verbraucherinnen und Verbraucher gut zu infor- mieren. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen nachvollziehen können, aus welchem Vertrag eine For- derung stammt, wie hoch die eigentliche Forderung ist und wofür welche Gebühr erhoben wird. Diese Gebüh- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22163 (A) (C) (D)(B) ren wollen wir verbindlich regeln und nach oben de- ckeln, damit Gebührenwucher und Phantasieabgaben endlich ein Ende haben. Zweitens. Wir brauchen dringend eine Aufsicht, die die Inkassounternehmen kontrolliert. Es kann doch nicht sein, dass nach der gerichtlichen Registrierung und Zu- lassung eines Unternehmens keinerlei Kontrolle mehr stattfindet. Das einzige, was die Gerichte und die Auf- sichtsbehörden tun können, ist, die Registrierung eines solchen Unternehmens zu widerrufen. Ein solcher Wi- derruf ist allerdings an äußerst strenge Voraussetzungen geknüpft. Deshalb laufen Klagen der Verbraucherzentra- len ja leider so oft ins Leere. So geht es also nicht. Wir sagen deshalb: Die Geschäftspraktiken unseriöser Anbieter müssen zentral kontrolliert werden. Es macht keinen Sinn, wenn über das Bundesgebiet verteilt knapp 80 Behörden zuständig sind. Die Linke fordert deshalb erneut eine Verbraucherschutzbehörde, die zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher Inkassounterneh- men und verbraucherschädigende Geschäftspraktiken überwacht und, wo nötig, auch sanktioniert. Und damit komme ich zum dritten Punkt: Die bisher möglichen Sanktionen sind absolut unzureichend und verdammen jede Aufsicht, egal ob Landgericht oder Ver- braucherschutzbehörde, zu einem Dasein als zahnloser Tiger. Die Erhöhung der Bußgelder ist überfällig, aber nicht ausreichend. Wir fordern für unseriöse Machen- schaften einen abgestuften Sanktionskatalog von Geld- strafen bis zum Entzug der Zulassung. „Die Vorstellung, der Wettbewerb könne den Markt regeln, ist ein Irrglaube.“ Das sagt Die Linke ja schon lange, aber diesmal ist es ein Zitat vom Branchenver- band der Inkassounternehmen, der dringend staatliche Regulierung einfordert. Die Inkasso-Branche muss gesetzlich geregelt wer- den, sonst hört es nie auf mit der Prellerei und der Be- drohung der Verbraucherinnen und Verbraucher. Die schwarz-gelbe Koalition soll ihre Streitereien nicht wei- ter auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbrau- cher austragen. Die unseriösen Inkassomachenschaften müssen endlich gestoppt werden. Wie gut, dass die Linke als erste Partei dieses Thema aufgreift – auch im Interesse der seriösen Inkassounternehmen und der Ver- braucherinnen und Verbraucher. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Un- seriöse Geschäftspraktiken von Inkassodiensten sind ein großes Ärgernis. Eine Studie der Verbraucherzentralen Ende 2011 sieht 99 Prozent der 4 000 erhobenen Be- schwerden als berechtigt an. Drei Viertel der Betroffenen fühlten sich durch die Briefe der Inkassounternehmen bedroht oder eingeschüchtert, und viele haben gezahlt, obwohl die Forderungen unberechtigt waren. Die Bundesregierung hat die Forderungen des Bun- desrates vom 27. Mai 2011 zur Bekämpfung unseriöser Inkassodienste sowie der Verbraucherschutzminister- konferenz vom 16. September 2011 ignoriert. Ein Refe- rentenentwurf des BMJ vom 12. März sieht Informa- tionspflichten, Gebührenordnung und Bußgelder bei Verstoß gegen Registrierungspflichten vor, ist aber im schwarz-gelben Koalitionskrach stecken geblieben. Auf- sicht und Selbstregulierung der Branche versagen, zu viele Unternehmen am Markt können frei agieren, weil es an effektiven Kontrollen mangelt. Die Untätigkeit der Bundesregierung beim Thema un- seriöses Inkasso zeigt den desolaten Zustand der schwarz-gelben Koalition. Wir fordern Sie auf: Legen Sie den schwarzen Schafen endlich das Handwerk. Die Handlungsaufträge liegen auf der Hand: Erstens. Einfüh- rung einer Inkassokostenordnung mit angemessenem Verhältnis zwischen Haupt- und Nebenforderung. Die arbeitsteilige Durchsetzung von Zahlungsforderungen nimmt immer mehr zu. Der neue Dienstleistungsmarkt führt bisher nicht zu einem angemessenen Kostenrah- men, sondern macht mit Fantasiegebühren, von der Hauptforderung entkoppelten Zahlungsforderungen, auch ohne berechtigten Grund, von sich reden. Hier braucht es einen ordnenden Eingriff in das Marktgesche- hen, damit das bereits „erhebliche gestörte Rechtsemp- finden“, BMJ, wieder geheilt wird. Dem Beispiel Öster- reichs folgend ist die Verhältnismäßigkeit zwischen Haupt- und Nebenforderungen rechtlich festzuschreiben. Zweitens. Darlegungs- und Infopflichten: Auftragge- ber, Forderungsgrund und -höhe, ladungsfähige An- schrift, Verzugsdatum, Adresse Beschwerdestelle. Um betroffene Verbraucher und Verbraucherinnen in die Lage zu versetzen, Inkassoforderungen prüfen und re- klamieren zu können, müssen diese Informationen min- destens vorliegen. Drittens. Landesweiter behördlicher Kontrollplan mit einem jährlichen Bericht der Bundesregierung. Statt auf 80 Gerichte soll die Aufsicht auf 16 Behörden (eine zu- ständige Aufsichtsbehörde pro Bundesland) konzentriert werden, um Synergieeffekte in der Verwaltung zu nutzen und Bürokratie abzubauen. Die Bundesregierung soll die Koordination für die jährliche Auswertung der Kontrol- len übernehmen und einen Jahresbericht vorlegen. Viertens. Bußgelder auf bis zu 100 000 Euro erhöhen. Das Fehlverhalten von Inkassodiensten muss effektiver sanktioniert werden. Die Geldbußen sind auf bis zu 100 000 Euro anzuheben. Die Höhe des Bußgeldrah- mens leitet sich aus dem erheblichen Einfluss auf das Rechtsempfinden der Bürgerinnen und Bürger und die Akzeptanz der Rechtsordnung ab. Der Entzug der Regis- trierung ist strenger zu prüfen. Unseriöse Geschäftspraktiken zu erkennen und publik zu machen, bedarf einer starken unabhängigen Marktbe- obachtung, daher fordern wir die Einführung eines Marktwächters bei den Verbraucherzentralen. Der An- trag der Fraktion Die Linke greift viele unserer Forde- rungen auf, lediglich drei lehnen wir ab. Unseriöses Inkasso ist zu einer Plage geworden. Las- sen Sie Ihren kleinlichen schwarz-gelben Streit hinter sich und handeln Sie im Sinne der Verbraucher und Ver- braucherinnen. 22164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Auskunftspflichten der Europäischen Zentralbank einfordern und für eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Kreditwirtschaft sorgen (Tagesordnungspunkt 18) Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Wir befassen uns heute mit einem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Auskunftspflichten der Europäi- schen Zentralbank einfordern und für eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Kreditwirtschaft sorgen“. Darin fordern die Grünen, die Informations- und Auskunfts- pflichten der Europäischen Zentralbank, EZB, gegen- über den Bürgerinnen und Bürgern zu erhöhen. Begrün- det wird diese Forderung damit, dass die von der EZB Ende 2011 bzw. Anfang 2012 durchgeführten 3-Jahres- Tender (Refinanzierungsgeschäfte) unüblich gewesen seien und diese Maßnahmen die Ausfallwahrscheinlich- keiten bei der EZB – sowohl aufgrund der Höhe der aus- gegebenen Kredite als auch aufgrund der gesunkenen er- forderlichen Sicherheiten und der langen Laufzeiten – erhöhten. Darüber hinaus wird gefordert, dass Banken, die bestimmte Eigenkapitalanforderungen nicht erfüllen, eine Gehaltsobergrenze von 500 000 Euro einzuhalten hätten und keine Dividenden ausschütten sollten, so- lange sie über Liquidität aus den oben genannten Ten- dern verfügen. Der Antrag ist zwar interessant, aber weder ausrei- chend durchdacht noch scheint er ernsthaft gewollt. Sollte er ernsthaft gewollt gewesen sein, hätte man sich um eine Mehrheit bemüht, sich zumindest aber ins Be- nehmen mit den anderen Oppositionsfraktionen gesetzt. Selbst Letzteres ist offensichtlich nicht erfolgt; denn die Grünen stellen diesen Antrag alleine. Ich möchte aber trotzdem gerne auf einige Punkte hinweisen: Die von den Grünen in ihrem Antrag angesprochenen Maßnahmen der EZB, also die Refinanzierungsge- schäfte mit einer Laufzeit von bis zu 36 Monaten, hatten vor allen Dingen den Sinn und Zweck, die Kreditver- gabe an die Realwirtschaft zu unterstützen und die Li- quiditätssituation am Euro-Geldmarkt zu verbessern. Die Tender haben zu einer temporären Stabilisierung des Bankensektors in der Euro-Zone geführt und die Anste- ckungsrisiken im Dreieck zwischen Bankenstabilität, Staatsfinanzierung und konjunktureller Entwicklung (Kreditversorgung) reduziert. Trotzdem sehen wir diese EZB-Politik mit großer Sorge. Letztlich handelt es sich bei den Tendern um relativ unkonditionierte Maßnah- men. Gerade die Konditionalität war bislang immer Grundbedingung für politisch organisierte Stützungspa- kete wie die EFSF oder zukünftig den ESM. Insofern kann es sich bei der Art und Weise, wie diese Tender he- rausgelegt worden sind, nur um eine Ausnahme handeln, die der Tatsache geschuldet ist, dass andere tragfähige Stabilisierungskonzepte noch nicht zur Verfügung ste- hen. Auf weitere kritische Punkte der Vorgehensweise der EZB wird im Antrag hingewiesen. Rein rechtlich gesehen hat sich die EZB mit den bei- den 3-Jahres-Tendern nach überwiegender Einschät- zung zwar im Grenzbereich, aber noch innerhalb ihres Mandats bewegt. Das vorrangige Mandat der EZB ist und bleibt die Wahrung der Preisstabilität. Daneben un- terstützt die EZB auch die allgemeine Wirtschaftspolitik, wozu auch Maßnahmen zur Förderung der Liquidität und Vermeidung von Kreditklemmen gehören. Um die Liquidität am Markt zu steuern, kann die EZB durchaus längerfristige Refinanzierungsgeschäfte durchführen. Auch wenn diese normalerweise kürzer ausfallen als 36 Monate, so sind längerfristige Kredite nicht ausge- schlossen. Die Europäische Zentralbank ist im Übrigen politisch unabhängig. Diese Unabhängigkeit ist im institutionel- len Rahmen für die einheitliche Geldpolitik festgelegt. Das heißt, dass die EZB ihr Mandat und ihre Aufgaben unabhängig von anderen Stellen – also unabhängig von Weisungen beispielsweise von Organen und Einrichtun- gen der Europäischen Union oder den Regierungen der Mitgliedstaaten – erfüllt. Diese Unabhängigkeit ist enorm wichtig, und wir sollten der Versuchung widerste- hen, daran zu rütteln – auch bzw. gerade in Situationen, in denen wir das Handeln der EZB kritisch betrachten und uns an der einen oder anderen Stelle mehr Einfluss- möglichkeiten wünschen. Es ist allerdings auch ein Grundprinzip demokrati- scher Gesellschaften, dass sich unabhängige Institutio- nen gegenüber den Bürgern und deren gewählten Vertretern für die Durchführung ihrer Maßnahmen verantworten müssen. Es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, dass die EZB dieser Rechenschaftspflicht nicht nachkommt. Die EZB muss beispielsweise vor dem Europäischen Parlament Rechenschaft für ihre geldpolitischen Ent- scheidungen ablegen. Der Präsident der EZB spricht vierteljährlich vor dem zuständigen Ausschuss des Euro- päischen Parlaments, dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung. Diese Rechenschaftspflicht gegenüber der Be- völkerung Europas sowie den von ihr gewählten Vertre- tern stellt also ein wichtiges Gegengewicht zur Zentral- bankunabhängigkeit dar. Das ist zwar nicht das von den Grünen unter II.1 im Antrag geforderte Format, aber auch über dieses Format lässt sich trefflich streiten. Im Zuge der Finanzkrise ist die Geldpolitik der EZB aber – wie schon erwähnt – eindeutig in den Grenzbe- reich ihres Mandats vorgestoßen, was für sich genom- men durchaus eine erhöhte Transparenz rechtfertigen würde. Dies findet seine Grenzen jedoch eindeutig da, wo es um eine Information über einzelne Geschäftspart- ner geht. Die Grünen fordern in Punkt II.2 ihres Antrags, dass „die EZB nach einer angemessenen Frist die Öf- fentlichkeit darüber informiert, welche Institute in wel- cher Höhe Mittel über die längerfristige Refinanzie- rungsfazilität mit einer Laufzeit über sechs Monate erhalten haben“. Dies würde Angaben über einzelne, in Deutschland im Rahmen des Zivilrechts durchgeführte Refinanzierungsgeschäfte erforderlich machen. Das ist allerdings mit den Geheimhaltungsregelungen des Bun- desbankgesetzes und der Satzung des Europäischen Sys- tems der Zentralbanken und der EZB nicht vereinbar. Insbesondere Angaben zu den im Rahmen geldpoliti- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22165 (A) (C) (D)(B) scher Operationen aufgenommenen Krediten oder den eingereichten Sicherheiten könnten Hinweise auf das Liquiditätsmanagement und die Geschäftsmodelle der Institute geben. Unter bestimmten Umständen könnte die Veröffentlichung der Teilnehmer an geldpolitischen Operationen des Euro-Systems auch Zweifel der Märkte an der finanziellen Solidität der betroffenen Institute för- dern und so deren Zugang zu Liquidität im Markt behin- dern. Dies wäre nun genau ein Effekt, den wir nicht wol- len – sozusagen eine „self-fulfilling prophecy“. So weit zu den Informationen. Es wäre im Übrigen sehr aufschlussreich gewesen zu hören, was die Grünen mit den von ihnen geforderten Informationen angefan- gen hätten; denn Informationen an sich sind nur bedingt ein Wert. Erst die Verarbeitung der Informationen zu konkreten Maßnahmen führt weiter. Hierzu schweigen die Grünen aber leider in ihrem Antrag. Bei der in Nr. II.3 des Antrags geforderten Begren- zung von Gehaltszahlungen und dem Verbot der Auszah- lungen von Dividenden, falls bestimmte Eigenkapital- kennziffern nicht eingehalten werden, handelt es sich um einen bankaufsichtsrechtlichen Eingriff, der nur von den dafür berufenen Bankaufsichtsbehörden auf Grundlage entsprechender rechtlicher Regelungen umgesetzt wer- den kann. Es wäre des Weiteren sehr interessant gewe- sen, zu untersuchen, inwieweit die oben erwähnten posi- tiven ökonomischen Effekte der Tender unter den Bedingungen Gehaltsbegrenzung und Ausschüttungs- verbot tatsächlich eingetreten wären. Ich halte den Ge- danken dennoch für durchaus interessant, auch wenn er in keinerlei Verhältnis zu der etwas marktschreierischen Ankündigung in der Überschrift des Antrags „… und für eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Kreditwirtschaft sorgen“ steht. Ich denke, dazu bedarf es anderer Instru- mente, wie beispielsweise einer zügigen Umsetzung von CRD IV. Insgesamt gesehen befassen wir uns mal wieder mit einem typischen Antrag der Grünen – einige interessante Gedanken, viel problematisiert, einige partikulare Lö- sungsversuche und die latente Unterstellung, dass Dinge mit Absicht verborgen werden. Manchmal hat man bei diesem immer wiederkehrenden Muster das Gefühl, dass es auch und gerade darum geht, hinterher sagen zu kön- nen, „Ich habe es ja schon damals gesagt“ bzw. „Hätte ich die Informationen gehabt, dann hätte ich es schon da- mals gesagt“. Sonderlich zielführend ist das nicht, kon- struktive Politik sieht anders aus. Wir werden den An- trag daher ablehnen. Manfred Zöllmer (SPD): Die Finanz- und Schulden- krise beschäftigt uns mit all ihren Facetten seit 2008 tag- täglich. Im Moment stehen die Banken Spaniens mit ih- ren Liquiditätsproblemen im Fokus. Insgesamt sind die Probleme im Bankensektor in Europa weiterhin sehr groß und wir müssen hier dringend zu Lösungen kom- men. Die europäischen Banken leiden auch darunter, dass amerikanische Geldmarktfonds und auch US-Banken ihre Engagements in Europa drastisch reduzieren. Diese Scheu vor dem europäischen Markt wurde uns Finanz- politikern auf unserer aktuellen Ausschussreise nach Ka- nada und in die USA besonders deutlich. Diese Zurück- haltung amerikanischer Investoren und Banken ist langfristig gefährlich für das europäische Finanzsystem. Durch die falsche Krisenpolitik der Bundesregierung wurde die Europäische Zentralbank zum Handeln ge- zwungen. EZB-Chef Draghi griff – um, wie er sagte, ei- nen Crash zu verhindern – im Dezember zu einer drasti- schen Maßnahme: Die EZB machte den europäischen Banken das Angebot, sie praktisch unbegrenzt mit No- tenbankkrediten mit einer ungewöhnlich langen Laufzeit von drei Jahren zu versorgen. Von diesem Angebot, das die EZB den Banken im Dezember und im Februar die- ses Jahres unterbreitet hatte, machten die Banken inzwi- schen in einem Umfang von fast 1 Billion Euro Ge- brauch. Mit Zinsen von einem Prozent lassen sich durch den Kauf von Staatsanleihen bei dem derzeitigen Zinslevel hohe Gewinne für die Banken erzielen. Damit konnten die Banken, wie von Draghi vorgesehen, den Staatsan- leihenmarkt etwas beruhigen. Ein Resultat ist aber zum Beispiel eine drastische Erhöhung der Bilanzsumme der Zentralbank auf über 3 Billionen Euro. Es stellt sich die Frage, wohin die Kredite der EZB geflossen sind. Mit ihrem Antrag fordern die Grünen de- taillierte Auskunftspflichten der EZB zu dieser Kredit- vergabe. Gleichzeitig soll nach Auffassung der Grünen für eine ausreichende Kapitalbasis der Banken gesorgt werden. Schließlich soll die EBA koordinierend darauf hinwirken, dass unterkapitalisierte Banken keine Gehäl- ter über 500 000 Euro inklusive Bonuszahlungen aus- zahlen und Dividenden ausschütten. Die EZB wehrt sich gegen die Forderung, die Namen der Banken preiszugeben, die sich zwischen Dezember und Februar mit dem Notenbankgeld versorgt haben. Sie begründet ihre Ablehnung mit geldpolitischen Pflichten, der Wahrung der Finanzstabilität und dem kommer- ziellen Interesse der Kreditinstitute. Die EZB will die Geheimhaltung individueller Transaktionen mit Gegen- parteien wahren. Dieser Schutz privater Unternehmens- interessen und der gesamten Finanzmarktstabilität wiege schwerer als das öffentliche Interesse an den Daten. Mit Ihrem Antrag wollen die Kolleginnen und Kolle- gen von den Grünen nunmehr quasi Schützenhilfe durch die Bundesregierung, die sich im Rat der europäischen Finanzminister für eine Veröffentlichungspflicht einset- zen soll. Im Grunde geht es – wie so oft – auch hier um den Grundkonflikt zwischen dem Bedürfnis nach Trans- parenz und öffentlichem Informationsinteresse und pri- vatem Betriebsgeheimnis. Eine Verhältnismäßigkeitsab- wägung, wie wir sie auch unter anderem aus Art. 14 Grundgesetz kennen: das Eigentumsrecht mit seiner Ausgestaltung des Rechts am eingerichteten und ausge- übten Gewerbebetrieb. Ich halte die Argumente der EZB für durchaus nach- vollziehbar – nicht, weil ich gegen Transparenz bin oder dem öffentlichen Interesse entgegenstehen will. Aber wir wissen doch alle, wie hochsensibel im Moment die Lage der Banken ist und wie irrational die Märkte häufig re- 22166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) agieren. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustel- len, wie die Reputation eines Finanzinstituts beschädigt werden könnte, wenn solche detaillierten Informationen öffentlich werden. Die Märkte würden zweifelsohne da- rauf reagieren. Gleichzeitig sind die Aktivitäten der EZB öffentlich, und Transparenz dient der sachlichen Bewertung der Geldpolitik der Zentralbank. Dies ist notwendig für eine vernünftige Abstimmung zwischen Geld- und Fiskal- politik und damit ein wichtiger Bestandteil einer erfolg- reichen Krisenpolitik. Es bleibt die Frage: Wie detailliert müssen die Infor- mationen sein? Einzelne Notenbanken wie zum Beispiel die Banca d’Italia haben im Nachgang veröffentlicht, wie viel Geld ihre Banken insgesamt abgerufen hatten. Deutsche Banken haben sich laut Reuters-Berechnungen beim zweiten Tender im Februar mit rund 42 Milliarden Euro eingedeckt, also etwa 8 Prozent der Gesamtsumme. Das verteilt sich wohl auf 460 Banken, darunter gut 430 kleinere Sparkassen und Volksbanken. Transparenz ist ein wichtiges Element der Demokra- tie. Aber es muss immer mit anderen Rechtsgütern abge- wogen werden. Diese Abwägung fehlt bei dem vorlie- genden Antrag. Was in Ihren Antrag nicht passt und zu unspezifisch ist, sind Ihre Forderungen nach Gehalts- reglementierung. Es ist auch ein wichtiges Thema. Aber was hat die Transparenz der EZB mit der Bonizahlung zu tun? Wie für eine ausreichende Eigenkapitalausstattung der Banken gesorgt werden soll, wird nicht weiter the- matisiert. Der Antrag ist offensichtlich mit sehr heißer Nadel gestrickt worden. Holger Krestel (FDP): Liebe grüne Antragsteller hier im Hause, Sie präsentieren sich gerne als Partei der Vielfalt, aber wenn Sie die Möglichkeit haben, werden bei Ihnen alle gleichgemacht. Sie präsentieren sich gerne als Partei, die den Datenschutz verteidigt, aber sobald es um etwas geht, was Sie selbst gerne wissen würden, wer- den so wie hier ganz schnell die Fühler ausgestreckt. Sie präsentieren sich gerne als Partei der Freiheit, die sich für den Schutz der Rechte des Individuums einsetzt, aber wenn es darauf ankommt, zeigen Sie Ihr wahres Gesicht und wollen jedem knallhart vorschreiben, was er zu tun oder zu lassen hat, weil der Staat doch vorgeblich am besten weiß, was der Einzelne wirklich will. Dass Sie ihn genau damit seiner Freiheit berauben, ist Ihnen egal. Dass Sie den Managern in den Krisenbanken die Gehäl- ter kürzen wollen, mag ja schön und gut sein, aber mir ist schleierhaft, weshalb hier die EBA als Aufsichtsbe- hörde auftreten soll. Das ist eine Aufgabe für den Ge- setzgeber, denn nur der hat auch die Möglichkeit, mit ei- nem Gesetz regulierend in die Personalpolitik der Banken einzugreifen. Im Rahmen des Finanzmarktstabi- lisierungsfondsgesetzes und des Restrukturierungsgeset- zes haben wir dies auf nationaler Ebene ja bereits getan. Aber wenn Sie fordern, dass eine europäische Behörde, deren elementare Aufgabe es ist, die nationalen Behör- den zu koordinieren, jetzt die Gesetzgeber koordinieren soll, geht das nicht nur weit über die Kompetenzen die- ser Behörde hinaus, sondern zeigt, dass Ihre Kompetenz in diesem Bereich doch sehr zu wünschen übrig lässt. Und jetzt, wo die Politamateure von den Piraten plötzlich mit dem diffus transportierten Thema Transpa- renz in der Öffentlichkeit punkten, ohne dabei konkrete Forderungen zu präsentieren, sehen Sie schon Ihre Felle davonschwimmen, und Ihre schon vorher leeren Wort- hülsen sind Ihnen nun absolut gar nichts mehr wert. Sie springen blind auf einen Zug auf, ohne sich darum zu kümmern, was die Maßnahmen im Einzelfall bedeuten. Sie wollen Stabilität schaffen, erreichen aber nur das Ge- genteil. Gerade bei der FDP weiß man, dass die Wertpa- piermärkte nicht immer perfekt rational funktionieren und bisweilen in Krisenzeiten wie den jetzigen sogar sehr emotional auf kleinste Signale reagieren. Das stän- dige Bombardement der Marktteilnehmer mit den von Ihnen geforderten Insiderdetails würde zu hochvolatilen und selbstverstärkenden Marktbewegungen führen, da ein solcher Informationsstrom zu enormen Spekulatio- nen einlädt. Scheinbar schwache Institute oder gar Staa- ten könnten dann leichter durch Leerverkäufe attackiert oder gar zu Fall gebracht werden, obwohl sie in Ihrer langfristigen Planung überlebensfähig waren. Mindestens genauso problematisch ist es, dass viele Verantwortliche unter den von Ihnen geforderten Bedin- gungen wider besseres Wissen nicht mehr zwingend die ihrer Erkenntnis nach langfristig besten Entscheidungen treffen, sondern die erwarteten kurzfristigen Reaktionen der Märkte antizipieren und ihre Aktionen daran ausrich- ten würden, aus Angst, die bis dahin erarbeitete Stabilität zu gefährden. Die Unabhängigkeit der EZB ist ein hohes Gut, und dieses gilt es zu bewahren. Ein politisch moti- viertes, ständiges Nachkorrigieren in Einzelfällen, den Blick stets nur auf den nächsten Tag gerichtet, aber trotz- dem immer noch einen Schritt hinterher, würde doch nur maßgeblich dazu beitragen, dass die Krise sich noch weiter hinzieht und wir lediglich später die wahre Rech- nung präsentiert bekommen würden, die dann um ein Vielfaches höher wäre, als sie es jetzt schon ist. Dieses Spiel, in dem der Schwarze Peter stets in die Zukunft weitergereicht wird, werden wir in keinem Fall mitspielen, sondern stattdessen für stabile Verhältnisse in Europa sorgen. Darum werden wir Ihren Antrag ab- lehnen. Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Der Antrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Ausweitung der Aus- kunftspflichten der Europäischen Zentralbank zielt zwei- fellos in die richtige Richtung – deswegen werden wir ihn auch unterstützen. Er bleibt aber zugleich weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Die Auskunftspflichten der EZB müssen natürlich er- weitert werden, aber nicht nur, weil Ihr letzter Mega- Tender den Banken über 1 Billion Euro mit dreijähriger Laufzeit zur Verfügung gestellt hat. Eine Zentralbank ist die Spinne im Netz eines moder- nen Finanzsystems. Es ist einer Demokratie unwürdig, wenn eine derart zentrale und machtvolle Institution von den Spielregeln der demokratischen Kontrolle und Re- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22167 (A) (C) (D)(B) chenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit bzw. dem demokratisch gewählten Parlament ausgenommen ist. Es sind aber nicht in erster Linie die heutigen Zen- tralbanker der EZB, denen man das vorwerfen muss. Es sind vielmehr die Hardliner in den deutschen Bundesre- gierungen und in der Deutschen Bundesbank in den 1990er-Jahren, die bei der Ausgestaltung der Europäi- schen Währungsunion die EZB nach dem Vorbild der vermeintlich unabhängigen und unbestechlichen Bun- desbank konzipiert haben. Ich kann mich sehr gut an die regelmäßigen Auf- schreie in Bundesbank und EZB erinnern, wenn seitens der Politik im Interesse von mehr Beschäftigung eine konstruktive Rolle der Zentralbank gewünscht wurde. Die Zentralbanker gerieren sich dann regelmäßig, als würde man sich in ihre intimsten Privatangelegenheiten mischen. Ein solches Verhalten ist völlig inakzeptabel: Zentralbanker sind Staatsbedienstete und haben sich an die gesetzlichen Rahmenbedingen zu halten. Es ist allerdings sehr wohl das Recht der EZB und der Bundesbank, der Politik den Spiegel vorzuhalten – im Sinne von: Wenn ihr von uns eine andere Geldpolitik wollt, dann müsst ihr das politisch beschließen und die geldpolitischen Ziele der EZB in den europäischen Ver- trägen ändern. Ich will mich im Übrigen von dieser Stelle aus bei all denjenigen in der EZB und den europäischen Zentral- banken bedanken, die zum Glück schon seit längerer Zeit in der EZB darauf dringen, auch trotz des engen Korsetts der europäischen Verträge als EZB eine stabili- sierende Rolle zu spielen, zum Beispiel durch Interven- tionen an den Märkten für Staatsanleihen. Es ist nun höchste Zeit, dass das geldpolitische Kor- sett der EZB anders zugeschnitten wird. Wohlgemerkt: Ich bin auch nicht für eine Geldpolitik der Zentralbank, bei der der Finanzminister dem Zentralbankchef jeden Montag die Umdrehungsgeschwindigkeit der Noten- presse diktiert. Aber es gibt noch eine ganze Reihe von sinnvollen Möglichkeiten, was die Zentralbank zur Ent- schärfung der Krise beitragen kann. Dazu gehört insbe- sondere, dass Krisenländer zu denselben Konditionen EZB-Kredite bekommen sollten, wie sie Geschäftsban- ken bekommen. Es ist pervers, dass Geschäftsbanken das von einer öffentlichen Institution bereitgestellte Geld für 1 Prozent Zinsen ausleihen können, während die öf- fentliche Hand in kriselnden Euro-Staaten 6, 8 oder 10 Prozent Zinsen dafür bezahlen muss. Daher, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen: Fordern Sie nicht nur mehr In- formationen über die Geldpolitik der EZB, fordern Sie mit uns auch gleich eine andere Geldpolitik. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ende des Jahres 2011 stand das europäische Finanzsys- tem vor dem Kollaps: Die Banken, insbesondere im Sü- den unseres Kontinents, gerieten in teils existenzielle Refinanzierungsschwierigkeiten. Sogar in Frankreich begannen Geldmarktfonds, ihre Mittel aus den Banken abzuziehen. Vor diesem Hintergrund beschloss die Euro- päische Zentralbank zuvor nie dagewesene Rettungs- maßnahmen: Sie schuf ein neues Angebot an dreijähri- gen Liquiditätsmitteln bei gleichzeitig deutlicher Reduktion der Sicherheitsanforderungen. Insgesamt ha- ben die Institute über 1 Billion Euro an diesen Mitteln abgerufen. Den Banken gelang es auf diese Weise, hohe Gewinne zu erwirtschaften, zum Beispiel durch den Rückkauf eigener Verbindlichkeiten oder die Investition in höher verzinste Staatsanleihen. Einen großen Bankencrash quer über den Kontinent konnte die EZB mit diesem neuen Rettungskurs abwen- den. Aber letztlich handelt es sich bei dieser Operation um eine äußerst fragwürdige Art der Bankenrettung: Erstens. Anders als sonst bei Bankenrettungen zu Recht üblich, erfolgen die Stabilisierungen ohne Aufla- gen und Bedingungen. So ist nicht sichergestellt, dass die Banken die EZB-bedingten Zinsgewinne tatsächlich zur Reparatur ihrer Bilanzen und Stärkung ihres Eigen- kapitals einsetzen, sondern es ist durchaus denkbar, dass diese Gewinne als Dividenden oder Boni gleich wieder ausgeschüttet werden. Der letztlich hilflose Appell von EZB-Präsident Draghi im März an die Banken, ihre zu- sätzlichen Erträge nicht auszuschütten, sondern die ei- gene Solidität zu stärken, illustriert die Berechtigung meiner Kritik sehr deutlich. Zweitens. Für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler der Euro-Zone, die letztlich hinter der EZB stehen, ha- ben die Risiken stark zugenommen. Ausfälle bei der EZB sind aufgrund der gestiegenen Höhe ausgereichter Mittel, der schlechteren Sicherheiten und der deutlich gestiegenen Laufzeit der Kredite wahrscheinlicher ge- worden. Ein erstes Anzeichen dafür gab der aufgrund der Risikovorsorge gesunkene Bundesbankgewinn. Doch der Steuerzahler erhält – anders als normalerweise bei Bankenrettungen – keine Gegenleistung, zum Bei- spiel in Form einer Beteiligung am gestützten Unterneh- men. Damit tragen die Steuerzahler die Risiken, ohne dafür angemessen entlohnt zu werden. Drittens. Parlamentarische Kontrolle, Information und Transparenz sind faktisch nicht vorhanden. So gibt es keine offiziellen Informationen zu der Frage, welche Banken die Mittel in welcher Höhe abgerufen haben und was sie genau mit diesen Mitteln gemacht haben. Damit wird eine öffentliche Debatte auf Basis gesicherter Fak- ten über den neuen Kurs der EZB nahezu unmöglich. Viertens. Wir sehen erhebliche Mitnahmeeffekte bei der EZB-Bankenrettung. So haben auch viele eigentlich gesunde Banken die Hilfen abgerufen, obwohl sie gar nicht hilfsbedürftig sind. Niemand weiß, wie hoch diese Mitnahmeeffekte ausfallen, die ebenfalls vom Steuer- zahler zu bezahlen sind. Aber eines ist klar: Wir reden hier nicht über Peanuts, sondern über Milliardensum- men. Wenn diese Form der Bankenrettung, die in den letz- ten Monaten über die EZB erfolgt, hier im Bundestag zur Abstimmung gestanden hätte, hätte es einen Auf- schrei der Empörung in Deutschland gegeben. Die Ko- 22168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) alitionsabgeordneten hätten sich lautstark eine Verge- meinschaftung der Haftung und gegen Geschenke an Bankaktionäre beklagt. Doch dieser Protest blieb aus, weil das alles völlig intransparent ist. Unser Antrag zielt nun darauf ab, in Bezug auf die Bankenrettung durch die EZB Transparenz zu schaffen. Wir sind der Auffassung, dass die Steuerzahler in der Euro-Zone ein Anrecht darauf haben, zu wissen, was hier geschieht. Die zusätzlichen Risiken auf der EZB-Bi- lanz dürfen nicht verschwiegen werden. Die Bürgerin- nen und Bürger sollten – zumindest nach einer gewissen Schonfrist der Vertraulichkeit – auch die Möglichkeit er- halten, nachzuvollziehen, welche Banken in welcher Höhe die Hilfen in Anspruch genommen haben. Außerdem wollen wir sicherstellen, dass die EZB-ge- nerierten Gewinne tatsächlich zur Stärkung der Stabilität des europäischen Bankensystems, also vor allem zur Stärkung der Eigenkapitalausstattung der Banken, ge- nutzt werden. Wir fordern deshalb Gehaltsdeckelungen und Ausschüttungsverbote für unterkapitalisierte Ban- ken, die die Hilfen in Anspruch genommen haben. Die EBA könnte das in Kooperation mit der EZB sicherstel- len. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Meine Kritik an den Vorgängen der letzten Monate gilt nicht der EZB. Die EZB wurde in die Rolle des wichtigsten Krisenma- nagers der Eurozone gezwungen, weil keine andere In- stitution handlungsfähig war und das Krisenmanagement der Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone unter Führung der deutschen Bundesregierung keine Entspan- nung, sondern eine permanente Verschärfung der Euro- Krise generiert hat. Und wir Grünen sind auch davon überzeugt, dass eine Stabilisierung des europäischen Finanzsystems notwen- dig ist. Doch was wir nicht akzeptieren, ist, dass Bürge- rinnen und Bürgern ständig die Wahrheit über die Rettungsmaßnahmen vorenthalten wird und die Intrans- parenz genutzt wird, um der Öffentlichkeit etwas vorzu- machen. Wenn die Daten offenliegen würden, würde schnell auch deutlich, dass wir die Währungsunion dringend um eine Bankenunion ergänzen müssen: Dann könnte der europäische Finanzsektor nämlich stabilisiert werden, ohne Milliarden weitgehend kontrollfrei an Bankaktio- näre und Bankmanager zu verteilen. Dann gäbe es, finanziert durch eine europäische Bankenabgabe, eine Institution, die bei einer Schieflage von grenzüberschrei- tend tätigen Banken in Europa eingreifen könnte, sodass die EZB sich wieder auf ihre eigentliche geldpolitische Aufgabe der Liquiditätsversorgung konzentrieren könnte. Wir mögen bei dieser letzten Frage im Bundestag der- zeit noch unterschiedlicher Auffassung sein. Worin es aber eigentlich keinen Dissens geben sollte, ist der An- spruch in Bezug auf Transparenz. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psych- iatrische und psychosomatische Einrichtun- gen (Psych-Entgeltgesetz – PsychEntgG) – Beschlussempfehlung und Bericht zu den Anträgen: – Ergebnisoffene Prüfung der Fallpau- schalen in Krankenhäusern – Einführung eines pauschalierenden psych- iatrischen Entgeltsystems zur qualitati- ven Weiterentwicklung der Versorgung nutzen (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Wir wollen heute ein Gesetz verabschieden, das unser Gesundheitssystem wieder ein Stück voranbringt auf dem Weg zu mehr Transparenz, zu mehr Wirtschaftlichkeit und damit auch zu mehr Patientenorientierung. Das Entgelt, das für einen stationären Aufenthalt in der Psychiatrie zu bezahlen ist, orientiert sich zukünftig nicht mehr an den Kosten, die dividiert durch die Be- rechnungstage zu einem Pflegesatz führen, sondern an den Angeboten, die den Patienten gemacht werden, an der Leistung. Dies führt zu einer nachvollziehbaren und transparenten Methode der Bezahlung. Damit werden nicht alle Probleme eines angemessenen Entgelts für eine bestimmte Behandlung gelöst sein. Man wird ein Auge darauf haben müssen, dass es nicht zu Fehlsteue- rungen und zum Setzen von falschen Anreizen für be- stimmte Indikationen kommt. Gerade deshalb ist das neue System als lernendes System angelegt, mit langen Übergangszeiten – mit vier budgetneutralen Jahren, da- von zwei Jahre freiwillig, und mit weiteren fünf Jahren der Konvergenz –, um den Übergang von den bisherigen Budgets zur zukünftigen Systematik abzufedern. Um bessere Anreize für die Optionsphase zu schaffen, wur- den die Bedingungen für die Teilnahme noch einmal nachgebessert. Eine entscheidende Weichenstellung findet auch an der Schnittstelle stationär und ambulant statt. Gerade in der Psychiatrie und Psychotherapie ist es falsch, sich einseitig auf den stationären Bereich auszurichten. Es ist nicht nur unwirtschaftlich, sondern dient auch nicht dem Wohl der Patienten. Deshalb fördern wir durch dieses Gesetz Modellvorhaben, die helfen, diese Sektoren zu überwinden. Auch an dieser Stelle schaffen wir mehr Qualität für die Patientinnen und Patienten. Einhergehend mit diesem Gesetz ist auch eine deutli- che Hilfe für die Krankenhäuser insgesamt verbunden. Die Krankenhäuser haben eine Tariferhöhung von 3 Pro- zent für das Jahr 2012 zu tragen. Dies führt bei einer Steigerung der Grundlohnsumme von 1,45 Prozent zu einem Defizit von circa 1,5 Prozent. Allerdings liegt die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22169 (A) (C) (D)(B) tatsächliche Steigerung aufgrund der Mehrleistungen, die Krankenhäuser erbringen und zum Teil auch erbrin- gen müssen, deutlich über dieser gekürzten Grundlohn- summensteigerung. Deswegen ist es uns wichtig, genau diese drei Knackpunkte zu adressieren: Erstens einen teilweisen Tarifausgleich für das Jahr 2012 in Höhe von insgesamt 280 Millionen Euro. Zweitens die Umsetzung des Orientierungswerts für das Jahr 2013. Die Steigerung der Krankenhausbudgets wird dann nicht mehr ausschließlich an die Einnahme- entwicklung der Krankenkassen gebunden sein – somit entfällt die stringente Grundlohnsummenanbindung. Da- rüber hinaus werden die Selbstverwaltungspartner in die Lage versetzt, in einem bestimmten Korridor die Verän- derungsrate für das jeweilige Jahr zu verhandeln. Drittens werden die Selbstverwaltungspartner beauf- tragt, bis spätestens zum Juni 2013 über eine Studie die Mehrleistungsproblematik, auch mit Blick auf die Quali- tät der Leistungen, zu untersuchen, um dadurch zu einem sinnvolleren und gerechteren Mehrleistungsausgleich zu kommen. Die jetzige Regelung wird außerdem auf zwei Jahre befristet, um für die Selbstverwaltungspartner die Notwendigkeit zu schaffen, auch zu einem Ergebnis hin- sichtlich der Studie zu kommen. Auch die von den Kran- kenhäusern oft kritisierte Regelung der sogenannten doppelten Degression kann in die Studie einbezogen werden. Wenn zu Recht von den Krankenhäusern eine latente Unterfinanzierung reklamiert wird, dann müssen bei die- ser Betrachtung insbesondere die Bundesländer einbezo- gen werden. Die Bundesländer machen es sich zu leicht, wenn sie sich auf den Standpunkt stellen, mit der Ein- führung der DRG werde der Markt schon alles richten. Eine konkrete Krankenhausbedarfsplanung werde da- durch überflüssig. Das Gegenteil ist der Fall. Gleichzei- tig sind die Bundesländer seit vielen Jahren nicht bereit, die Investitionskosten im notwendigen Umfang zur Ver- fügung zu stellen. Und wenn man Qualitätssteuerung nicht den Krankenkassen überlassen will, sind die Län- der über ihre Krankenhausbedarfsplanung umso mehr gefordert. Es dient aber nicht der Qualität, wenn alle Leistungen überall angeboten werden, sondern es dient der Qualität und damit den Patienten, wenn arbeitsteilig durch eine entsprechende Krankenhausbedarfsplanung vorgegangen wird. So werden Krankenhäuser im ländli- chen Raum gestärkt. Es ist kurzsichtig, zu glauben, dass Krankenhausstandorte dann gesichert werden, wenn je- des Haus alles macht. Dies führt zu einer Qualitätsver- schlechterung und damit im schlimmsten Fall zur Kran- kenhausschließung. Und genau das wollen wir nicht. Mit diesem Gesetz leisten wir einen hervorragenden Beitrag zur Qualitätssicherung und mittelfristig zu einer gerech- teren Krankenhausfinanzierung. Hilde Mattheis (SPD): In einem Punkt sind wir uns wahrscheinlich alle einig: Wir alle wollen die Versor- gungsstrukturen für psychisch kranke Menschen verbes- sern. Wir wissen, dass die Versorgung von psychisch kranken Menschen hohe Anforderungen an unsere Ver- sorgungsstrukturen stellt und dass in diesem Bereich viele Verbesserungen notwendig sind. Und wir wissen, dass gerade hier Vergütungsstrukturen, gerade in einem personalintensiven Bereich wie der Psychiatrie, einen entscheidenden Einfluss auf die Versorgungsqualität ha- ben. Die entscheidende Frage, die wir uns aber stellen müssen, ist: Schafft es das hier vorgelegte Entgeltgesetz der Bundesregierung, diesem Anspruch gerecht zu wer- den? Wird die Versorgungssituation von psychisch kran- ken Menschen durch das Gesetz verbessert? Werden durch das Gesetz integrierte Versorgungsansätze ge- stärkt? Werden die psychiatrischen und psychosomati- schen Krankenhäuser in Zukunft mit ausreichend Perso- nal ausgestattet sein? Werden die richtigen Weichen gestellt, um der wachsenden Zahl von psychisch Kran- ken in der Gesellschaft gerecht zu werden? Leider mussten wir als SPD-Fraktion feststellen: Mit diesem Gesetz stellt die Regierung die falschen Wei- chen. Ein modernes, am Bedarf der Betroffenen ausgerich- tetes Entgeltsystem für die Psychiatrie erfordert, dass den Bedürfnissen von psychisch Kranken ausreichend Rechnung getragen wird. Flexible Behandlungsformen müssen gefördert werden. Es müssen Anreize geschaffen werden, den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu stär- ken und die starren Sektorengrenzen zu überwinden. Das alles leistet das von der Regierung vorgelegte Gesetz nicht. Aus diesem Grund lehnen wir als SPD den Ge- setzentwurf ab. Die Entwicklung eines Entgeltsystems für die psych- iatrische und psychosomatische Versorgung ist ein Auf- trag aus der letzten Legislaturperiode. Damals wurden bewusst im Krankenhausfinanzierungsreformgesetz die psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäuser von dem DRG-System für die somatischen Krankenhäu- ser ausgenommen. Im § 17 d des KHG wurde verankert, dass ein pauschalisierendes, tagesbezogenes Entgeltsys- tem zu entwickeln sei. Dabei sollte „insbesondere von Leistungskomplexen“ ausgegangen werden, die der „Psychiatrie-Personalverordnung zu Grunde liegen“. Das neue Entgeltsystem erfüllt nach Ansicht der SPD diese im § 17 d KHG verankerten Ansprüche nicht. Insbe- sondere durch den Wegfall der Psych-PV und den Diagno- sebezug bei der Kalkulation werden finanzielle Anreize zur „Rosinenpickerei“ gesetzt. Diese grundsätzliche Kri- tik der SPD-Fraktion möchte ich an drei Punkten deut- lich machen: Als Erstes möchte ich auf die Psychiatrie-Personal- verordnung eingehen. Sie soll ab 2017 komplett ausge- setzt werden. Dies wird von der Mehrheit der Verbände und Krankenhäuser zu Recht stark kritisiert. Die Psych- PV setzt den Rahmen für eine adäquate Personalausstat- tung der Krankenhäuser und gibt damit auch den Rah- men für die Versorgungsqualität vor. Bisher ist sie je- doch in den Krankenhäusern leider nicht vollständig umgesetzt worden. Dies liegt vor allem daran, dass keine wirksamen Kontrollen stattfinden. Ohne eine vollstän- dige Erfüllung der Psych-PV in allen Krankenhäusern ist jedoch zu befürchten, dass das neue Entgeltsystem zu ei- 22170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) ner dauerhaften Unterfinanzierung in der psychiatri- schen Versorgung führt. Insbesondere Kinder und Jugendliche sowie schwer psychisch Kranke brauchen ein Versorgungssystem, das eine ausreichende Zuwendung durch Fachpersonal er- möglicht. Die Personalsituation darf nicht zu einer expe- rimentellen Spielwiese werden, sondern muss hinrei- chend gesichert und kontrolliert werden, damit die Qualität der Versorgung sichergestellt werden kann. Im § 17 d KHG wurde festgelegt, dass die Psychia- trie-Personalverordnung die Grundlage des neuen Ent- geltsystems sein soll. Diesen wichtigen Grundsatz hat die Bundesregierung nicht erfüllt. Richtig wäre es gewe- sen, eine verbindliche Personalbemessung nach der Psych-PV umzusetzen und später auf dieser Grundlage Mindestpersonalstandards für die Tagesentgelte festzule- gen. Dies ist nicht geschehen. Die Abschaffung der Psych-PV lehnen wir als SPD ganz klar ab. Zweitens. Das Psych-Entgeltsystem, so wie es im Ge- setzentwurf konzipiert ist, überträgt die Strukturen der somatischen Medizin auf die Versorgung von psychisch Kranken. Das halten wir als SPD für einen großen Feh- ler. Insbesondere der Diagnosebezug bei der Vergütung von Leistungen wird mit großer Wahrscheinlichkeit Fehlanreize setzen, Menschen mit schweren psychischen Krankheiten nur unzureichend zu behandeln. Diese Menschen brauchen eine sehr individuelle, therapeuti- sche und kontinuierliche Behandlung unter Einbezie- hung des eigenen Lebensumfeldes. Dies kann nicht mit einer Struktur gelingen, die sich an der Vergütung von Krankheiten auf der Grundlage der DRG orientiert. Eine psychische Krankheit ist eben nicht mit einem Bein- bruch oder einem Herzinfarkt vergleichbar. Im Bereich der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung kann nicht automatisch ausgehend von der Diagnose auf den entsprechenden Behandlungsumfang geschlossen werden. Krankheitsverläufe in diesem Bereich sind indi- vidueller und komplexer. Der daraus entstehende Versor- gungsbedarf muss sich auch im Entgeltsystem wider- spiegeln. Es finden sich jedoch im Gesetzentwurf der Bundesregierung keine Ansätze, diesem Bedarf gerecht zu werden. Für sehr gefährlich halten wir aus diesem Grund auch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Zu- und Abschläge bei Abweichung von behandlungstypischen Behand- lungszeiten. Auch hier werden ganz klar Anreize in Richtung einer nicht auf den individuellen Behandlungs- bedarf abgestimmten Versorgung gesetzt. Auch dies werden wir als SPD-Fraktion nicht mittragen. Mein dritter zentraler Kritikpunkt: Das neue Entgelt- system ist nicht sektorenübergreifend ausgerichtet. Es werden keine Anreize gesetzt, stationäre Behandlungen zu vermeiden. Psychisch Kranke werden auch in Zu- kunft keine Alternative zu stationären Aufenthalten ha- ben. Dies entspricht jedoch nicht ihrem tatsächlichen Versorgungsbedarf. Die im Gesetz festgelegten Pauschalen, die nur auf den stationären Bereich beschränkt sind, hemmen die Entwicklung hin zu einem integrierten Versorgungssys- tem, wie es schon seit Jahren von der Fachwelt gefordert wird. Die von der Regierung formulierten Prüfaufträge und die Weiterentwicklung der Vorgaben für Modellvorha- ben für eine sektorenübergreifende Versorgung sind uns zu wenig. Gute Versorgung darf es nicht nur in Modell- projekten geben. Bei den im Gesetz vorgeschlagenen Modellprojekten handelt es sich zudem vor allem um eine Bestandswahrung. Bereits bestehende Modellpro- jekte sollen weitergeführt werden. Das ist keine beson- ders große Innovation. Eine Innovation wäre es, erfolg- reiche Modellprojekte in die Regelversorgung zu überführen. Die Modellprojekte funktionieren zudem nicht in al- len Bereichen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es beispielsweise bundesweit nur ein einziges Modell- projekt. Das liegt vor allem daran, dass die Patientenzahl in teilweise größeren Versorgungsgebieten sehr gering ist und es sich daher nicht lohnt, Verträge für Modell- projekte auszuhandeln. Der Gesetzentwurf der Bundes- regierung sieht jetzt vor, für Modellprojekte kassenspe- zifische Verträge zuzulassen. Das bedeutet nach Einschätzung der Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass in die- sem Bereich erst recht keine Modellprojekte mehr umge- setzt werden. An diesem Beispiel können wir sehr klar sehen: Ein paar Modellprojekte sind für eine Förderung der sektorenübergreifenden Versorgung viel zu wenig. Das Gesetz der Bundesregierung folgt nicht dem Grundsatz, dass das Vergütungssystem der Versorgung dient. Als SPD-Fraktion fordern wir eine regionale, sekto- renübergreifende und bedarfsgerechte Versorgung. Wir fordern ein Vergütungssystem auf Grundlage der Psych- iatrie-Personalverordnung. Wir wollen eine integrierte Versorgung. Psychiatrische Krankenhäuser brauchen An- reize für den Ausbau personenzentrierter Behandlungs- und Hilfesettings im außerklinischen Bereich. Und wir wollen, dass auch die besonderen Bedarfe von Schwerst- kranken sowie Kindern und Jugendlichen im Versor- gungssystem Berücksichtigung finden. All dies finden wir im Gesetzentwurf der Bundesre- gierung nicht wieder. Auch in der weiteren Beratung wurde unseren bereits in der ersten Lesung vorgetrage- nen Argumenten nicht begegnet. Als SPD werden wir deshalb diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Dr. Erwin Lotter (FDP): Erneut beraten wir das Psych-Entgeltgesetz, welches meiner festen Überzeu- gung nach zu einer echten Erfolgsgeschichte werden wird. Schon in der ersten Beratung im März wurde deut- lich, dass der vorliegende Entwurf zu besserem Wettbe- werb und mehr Transparenz führen wird. Gleichzeitig wird eine leistungsgerechte Honorierung ermöglicht, die eine differenziertere Behandlung psychisch kranker Menschen zum Ziel hat. Auch haben wir dafür Sorge getragen, dass durch die lange Einführungsphase bis 2022 die Krankenhäuser Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22171 (A) (C) (D)(B) nicht überfordert werden. Es ist uns gelungen, zwei An- forderungen zu vereinen: die Besonderheiten eines „ler- nenden Systems“ zu berücksichtigen und finanzielle So- lidität für die teilnehmenden Krankenhäuser zu sichern. Besonders wichtig war es den Liberalen, dass alle Be- troffenen in den Prozess der Entwicklung des Psych- Entgeltgesetzes eingebunden worden sind. Zahlreiche Stellungnahmen von Fachverbänden, Experten und Krankenhäusern wurden eingearbeitet. Nicht zuletzt als Konsequenz der öffentlichen Anhörung am 23. April hat die Koalition eine Reihe von Änderungsanträgen entwi- ckelt. Diese greifen die Ideen und Bedenken der Betrof- fenen auf. Für mich ist das ein Musterbeispiel fairer und demokratischer Gesetzgebung. Dass die Regierung mit dem Gesetz nicht falsch lie- gen kann, beweist schon der Umstand, dass bei der Sit- zung des Gesundheitsausschusses am gestrigen Mitt- woch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen trotz einiger Kritik an Details den Entwurf nicht abgelehnt hat. Viel- mehr haben die Kolleginnen und Kollegen die Grund- linien des Gesetzes gelobt und sich bei der Abstimmung enthalten. Ich finde, das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und auch für das Vorbringen der Opposition durchaus ein offenes Ohr hatten. Gerne möchte ich die wichtigsten Punkte aus den ak- tuellen Änderungsanträgen erläutern: Es ist uns wichtig, dass in der Optionsphase ab 2013 möglichst viele psychiatrische Einrichtungen teilneh- men. Daher werden wir für die Optionshäuser die Mindererlösausgleiche für die Jahre 2013 und 2014 verbessern. Der Ausgleichssatz für Mindererlöse wird 95 Prozent betragen. Die ursprünglich vorgesehene Begrenzung der Nachverhandlungsmöglichkeit von Per- sonalstellen entfällt. Diese von der Psychiatrie-Personal- verordnung eingeräumte Möglichkeit wird vorerst auf- rechterhalten. Für Mehrerlöse gilt: Sie werden 2013 und 2014 zu 65 Prozent ausgeglichen. Ab 2015 sind 85 bzw. 90 Pro- zent Ausgleich möglich. Bereits für 2012 ist in der Somatik eine anteilige Be- rücksichtigung von Tariflohnsteigerungen vorgesehen. Ab 2013 werden im somatischen und im Psych-Be- reich die Selbstverwaltungspartner auf Bundesebene ei- nen anteiligen Orientierungswert vereinbaren, der die allgemeine Preisentwicklung ebenso spiegelt wie die be- sonderen finanziellen Notwendigkeiten dieser Bereiche. In der Konvergenzphase werden zusätzliche Leistun- gen mit sukzessive ansteigenden Vergütungsquoten be- rücksichtigt. Wie Sie sehen, haben wir mit diesen Änderungen die Sorgen der Krankenhäuser bezüglich einer finanziellen Schlechterstellung aufgegriffen und Verbesserungen be- schlossen. Niemand soll vor vollendete Tatsachen ge- stellt werden. Dem dient auch die neue Verpflichtung, vor Beginn der Konvergenzphase im Jahre 2017 eine gemeinsame Zwischenbilanz über die bis dahin erfolgte Einführung des neuen Entgeltsystems zu ziehen. Auf diese Weise tragen wir dem berechtigten Bedürfnis Rechnung, Erfah- rungen aus der Praxis in die Ausgestaltung der Konver- genzphase einfließen zu lassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Stärkung sektor- übergreifender Modellvorhaben. So werden neben Psych- iatrie und Psychosomatik weitere Fachdisziplinen einbe- zogen. Home Treatment wird in die Liste möglicher Modellvorhaben aufgenommen. Um weiße Flecken auf der Landkarte zu vermeiden, soll in jedem Bundesland mindestens ein Modellvorhaben durchgeführt werden. Schließlich tragen wir den Besonderheiten der Kin- der- und Jugendpsychiatrie Rechnung. Der Gemeinsame Bundesausschuss muss diese bei seinen Festlegungen zur Qualitätssicherung in der Versorgung berücksichti- gen. Dies gilt insbesondere für einen möglichen erhöh- ten Personalbedarf. Durch technische Neuerungen werden die Abläufe in der Psychiatrie und Psychosomatik vereinfacht. Kodie- rungen werden bundeseinheitlich geregelt. Ein elektroni- scher Datenaustausch zwischen Krankenhäusern und privaten Krankenversicherungsunternehmen ermöglicht den Verzicht auf manuelle Aufarbeitung. Nicht zuletzt verpflichten wir die Selbstverwaltungs- partner, einen gemeinsamen Forschungsauftrag zu ver- geben. Dieser soll die Ursachen für den Anstieg der Leistungsausgaben analysieren und Lösungsansätze für eine Entwicklung der Leistungen im medizinisch not- wendigen Umfang erarbeiten. Ziel ist es, die Effektivität im Krankenhausbetrieb zu verbessern und dadurch die Qualität der Versorgung unserer Patientinnen und Pa- tienten zu steigern. Ich bin zuversichtlich, dass der nunmehr verbesserte Entwurf in der praktischen Umsetzung auf große Zu- stimmung bei allen Beteiligten aus der Psychiatrie und Psychosomatik stoßen wird. Jeder, der in diesen Berei- chen arbeitet, ist aufgerufen, mitzumachen und persön- liche Erfahrungen einzubringen, um das System in den folgenden Jahren zu optimieren und noch besser an die Bedürfnisse von Ärzten, Krankenhäusern und Patienten anzupassen. Die Verabschiedung des neuen Psych-Ent- geltgesetzes liefert hierzu den Anstoß. Als Liberaler wie als Psychotherapeut freue ich mich darauf, diese längst überfällige Neuregelung mit auf den Weg zu bringen. Harald Weinberg (DIE LINKE): Heute wird hier ein Systemwechsel in der Finanzierung von psychiatrischen Krankenhäusern beschlossen. Bisher gibt es kranken- hausindividuell verhandelte Budgets. Hier spielen die Kosten, die in dem jeweiligen Krankenhaus entstehen, natürlich eine Rolle. Zum größten Teil geht es hier natür- lich – gerade im psychiatrischen Bereich – um Personal- kosten. Nach der geltenden Psychiatrie-Personalverord- nung ist der Personalbedarf verschiedener Abteilungen festgelegt und soll entsprechend finanziert werden. Nun soll dieses System – mit Übergangsfristen bis 2022 – umgestellt werden. Dann soll nicht mehr der Bedarf, sondern im Grundsatz die Leistung honoriert werden – allerdings nicht mehr einzeln für jede Klinik, sondern 22172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) landesweit pauschaliert. Eine Klinik in München soll also für die gleiche Abteilung den gleichen Tagessatz be- kommen wie eine Klinik im Bayerischen Wald, obwohl die Kostenstrukturen andere sein dürften. Die Kranken- häuser, die derzeit noch relativ hohe Kosten geltend ma- chen können, werden massiv sparen müssen – das geht fast nur beim Personal – oder werden Defizite erwirt- schaften und verschwinden. Das ist Folge dieses Geset- zes. Es gibt für dieses Vorgehen ein Vorbild. So wurde ab 2003 ja bereits das Fallpauschalensystem in den nicht- psychiatrischen, den somatischen, Krankenhäusern ein- geführt. Für eine bestimmte Diagnose erhält das Kran- kenhaus nun einen Betrag X, während zuvor die Liegezeit entscheidend war. Ist es nun sinnvoll, dieses Prinzip auch auf die psychiatrischen Kliniken zu übertra- gen? Ich meine, nein, weil wir mit diesem neuen System, bei dem auch eine Personalbemessung aufgegeben wurde, eher schlechte als gute Erfahrungen gemacht ha- ben. Viele Zielsetzungen sind nicht erreicht worden; es sind negative Effekte aufgetreten. Bei vielen Punkten können wir aber auch gar nicht wirklich sagen, welche Erfahrungen vorliegen, weil die gesetzlich vorgeschrie- bene Begleitforschung größtenteils gescheitert ist. Das Scheitern hatte seine Ursache darin, dass sich die im Gesetz bestimmten Auftraggeber, Kassen und Klini- ken, gegenseitig blockiert haben. Deshalb haben wir auch beantragt, dass die Bundesregierung einen Sach- verständigenrat einrichten soll, der eine Evaluation vor- nehmen soll; so könnten wir zu einer neutralen For- schung und politisch brauchbaren Ergebnissen kommen. Die wären wichtig, denn immerhin geht es hier um 17 Millionen Patientinnen und Patienten und über 50 Milliarden Euro jährlich. Schade, dass die Koalition und die SPD das ablehnen. Soweit man das auch ohne Begleitforschung abschät- zen kann, passierte Folgendes: Die Fallpauschalen er- zeugten wirtschaftlichen Druck auf die Krankenhäuser, möglichst viele Fälle abzurechnen – mit möglichst kur- zer Liegedauer. Die Krankenhäuser haben infolgedessen einen immer größeren Bedarf, Ärztinnen und Ärzte ein- zustellen, um diese Fallzahlen zu generieren und – nicht zuletzt – um die Kodierung für die Abrechnung vorzu- nehmen. Die Pflege hingegen wurde nun weniger ge- braucht, und hier bestanden neben dem technischen Dienst auch die größten Einsparpotenziale für die Kran- kenhäuser. Für die Beschäftigten bedeutet dies eine enorme Arbeitsverdichtung, für die Patientinnen und Pa- tienten trotz allem Einsatz der Pflegenden ganz klar eine Verschlechterung der Pflege. Es gibt massive Probleme bei den Reha-Kliniken, die durch die früheren Entlas- sungen teilweise Patientinnen und Patienten zugewiesen bekommen, die noch gar nicht rehabilitationsfähig sind. Die Fallpauschalen erzeugen einen hohen Bürokratieauf- wand. Der Anreiz, möglichst viele Fälle zu machen, könnte von den Krankenhäusern als Anreiz verstanden werden, auch unnötige Operationen durchzuführen. Und nun kann man sich fragen, welcher Fehlanreiz besser ist: Früher ließen die Krankenhäuser die Patientinnen und Patienten gerne einmal zwei oder drei Tage zu lange lie- gen, wenn nicht alle Betten ausgelastet waren; heute muss man sich fragen, ob die Operation tatsächlich not- wendig ist oder ob einfach der Operationssaal mehr Aus- lastung braucht. Trotz dieser Probleme kann man nicht feststellen, dass Krankenhäuser durch die Umstellung auf Fallpau- schalen wirtschaftlicher geworden sind. Kurz gesagt, gibt es Hinweise auf Verschlechterungen im Kranken- haus, aber ohne dass das System wenigstens günstiger geworden wäre. Wenn das so ist, dann muss man über Alternativen im somatischen Bereich nachdenken, aber nicht dieses System im Grundsatz als Vorbild für die psychiatrischen Kliniken nehmen. Denn nichts wird dort besser werden. Wenn man tat- sächlich die Versorgung in der stationären Psychiatrie verbessern will, dann muss man dafür sorgen, dass ge- nug gut qualifiziertes Personal dort zur Verfügung steht, wo es gebraucht wird. Man muss im ersten Schritt dafür sorgen, dass die Psychiatrie-Personalverordnung tatsäch- lich überall umgesetzt wird. Außerdem muss man für eine bessere sektorenübergreifende Zusammenarbeit sorgen. Nichts davon passiert hier. Im Gegenteil: Die Sektorengrenze zwischen Ambulant und Stationär wird noch weiter zementiert, weil ein neues stationäres Finan- zierungssystem bis weit in die 2020er-Jahre festge- schrieben wird. Die Koalition nutzt dieses Gesetz aber auch als Omni- bus, um andere Regelungen noch mitzunehmen, oder, wie Herr Lindemann von der FDP heute in der Welt zi- tiert wird: „Wir müssen aufsammeln, was in den vergan- genen Monaten gesetzgeberisch liegen geblieben ist oder unzureichend gelöst wurde“. Und da gibt es einiges! So gab es ja im März einen Tarifabschluss für die öffentli- chen Krankenhäuser. Bisher war völlig unklar, wann wie viel auf welche Art und Weise davon refinanziert wird. Die Koalition hat jetzt gewürfelt, und herausgekommen sind 30 Prozent. Einen Ratschlag, wie die Krankenhäu- ser die übrigen 70 Prozent finanzieren sollen, hat die Ko- alition nicht. Dazu kommt, dass diese 30 Prozent auch noch über die Landesbasisfallwerte auf alle Krankenhäu- ser verteilt werden, also auch auf die zum Teil privaten Häuser, für die die Tarifsteigerung gar nicht gilt, und auch auf die Krankenhäuser, die Personal entlassen. Für diejenigen, die ihre Beschäftigten ordentlich entlohnen, bleibt also unterm Strich sogar weniger als 30 Prozent ihrer individuellen Mehrkosten übrig. Die Koalition un- terstützt weiter den Wettbewerb über Lohndumping und schlechte Arbeitsbedingungen. Wir brauchen hier Ab- schläge für Krankenhäuser, die untertariflich zahlen, so- wie eine klare Mindestpersonalbemessung. Damit wäre den Beschäftigten geholfen. Bereits 2008 wurde ein Gesetz mit dem Ziel verab- schiedet, nicht mehr die Steigerungen der Löhne und Gehälter der Versicherten, sondern die Kostensteigerun- gen der Krankenhäuser als Maßstab für die Erhöhung der Krankenhausbudgets zu nutzen. Schon seit Mitte 2010 sollte dieser berechnet sein. Die Bundesregierung hat aber dieses Gesetz seitdem nicht umgesetzt und zu- dem noch solche Angst vor der Öffentlichkeit gehabt, dass sie das Statistische Bundesamt zur Verschwiegen- heit verpflichtet hat. Nun soll der Orientierungswert im Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22173 (A) (C) (D)(B) Jahr 2013 kommen. Immerhin, aber tosenden Beifall können Sie für diese Leistung von uns nicht erwarten. Alles in allem haben Sie mit den Änderungsanträgen das Gesetz zwar ein wenig verbessert. Aber durch die Umstellung der Finanzierung der Psychiatrieentgelte ist da doch deutlich mehr Schatten als Licht, und deshalb lehnen wir dieses Gesetz ab und bedauern, dass Koali- tion und SPD unseren Antrag zur Fallpauschalenfor- schung ablehnen. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der Bundestag bringt heute eine neue Vergü- tungsregelung für die stationäre Versorgung von psy- chisch kranken Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen auf den Weg. Diese Regelung soll gemäß der Begründung vonseiten der Bundesregierung zu mehr Transparenz und Leistungsgerechtigkeit bei der Finan- zierung psychiatrischer Krankenhausleistungen führen. In den letzten Jahren sind die Behandlungsfälle und die Kosten aufgrund einer psychischen Erkrankung kontinu- ierlich gestiegen, gleichzeitig sank die Verweildauer in den letzten zwei Jahrzehnten von durchschnittlich 45 auf 31 Behandlungstage. Die hohe Rate von stationären Wiedereinweisungen lässt Versorgungsbrüche zwischen den Krankenhäusern und der ambulanten vertragsärztli- chen und psychotherapeutischen Versorgung erahnen. Wir haben deshalb schon bei der Einbringung des Ge- setzentwurfs und mit einem eigenen Antrag deutlich ge- macht: Es muss um mehr gehen als ein neues Entgeltsys- tem; vielmehr muss der lange Übergangszeitraum für die Weiterentwicklung der Versorgung genutzt werden. Der Gesetzentwurf wurde dem nicht gerecht. Es drohte mit der Umstellung auf Tagespauschalen ein Ab- bau von Personalstandards in der Erwachsenen- und noch extremer in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Gleichzeitig war kein ernstzunehmender Anreiz für sek- torübergreifende und stationsersetzende Behandlungsan- sätze vorgesehen. Eine Woche vor der abschließenden Beratung haben Sie vonseiten der schwarz-gelben Koalition ein großes Paket mit Änderungsanträgen vorgelegt. Wir begrüßen den Mut zu deutlichen Veränderungen; Sie nehmen da- mit in Teilen die Vorschläge der Fachverbände, des Bun- desrates und aus unserem Antrag auf. Vor allen Dingen wurde der Versuch der Bundesregierung zurückgewie- sen, die Umstellung zu einem Spargesetz zulasten der Versorgung von psychisch Kranken zu machen. Die Möglichkeit für alle psychiatrischen Krankenhäuser, bis Ende 2016 ihr Personal analog der Psychiatrie-Personal- verordnung mit den Krankenkassen nachzubesetzen, ist im Interesse der Behandlungsqualität. Ich habe bereits seit längerem die fehlende Transparenz über die tatsäch- liche Personalbesetzung thematisiert. Bisher war das Ministerium nicht bereit, durch gesetzgeberische Maß- nahmen die Umsetzung der Psych-PV überprüfbar zu machen. Das soll nun geschehen; das ist gut. Wir begrüßen auch die Nachbesserungen bei den Mo- dellvorhaben. Sie müssen konsequent zur Weiterent- wicklung der Regelversorgung genutzt werden. Deshalb war es wichtig, wie von uns gefordert, in die Modellvor- haben ausdrücklich die komplexe psychiatrische Be- handlung im häuslichen Umfeld einzubeziehen und in jedem Bundesland ein solches Vorhaben zu realisieren. Ebenso wichtig wie eigentlich auch selbstverständlich: Die Ergebnisse der Modellvorhaben müssen bei der Be- gleitforschung genauso wie die Angebote der Regelver- sorgung miterfasst werden. Nur so ist ein qualitativer Vergleich überhaupt möglich. Trotz der Nachbesserungen hat sich unser grüner An- trag nicht erledigt. Völlig unverständlich ist es zum Bei- spiel, dass es keine Bereitschaft gab, die Umstellung durch eine interessensneutrale Expertenkommission un- ter Beteiligung von Patienten- und Angehörigenvertre- tern zu begleiten. Wir anerkennen im Teil der psychiatri- schen Krankenhäuser also die heutigen Beschlüsse als Schritte in die richtige Richtung. Kommen wir nun zum allgemeinen Krankenhausteil. Die Koalition hat angesichts der Wahlkämpfe reagiert und ist den Krankenhäusern bei der Bewältigung der Ta- rifkostensteigerungen scheinbar entgegengekommen. Eine solche Feuerwehrmaßnahme wäre jedoch nicht nö- tig gewesen, hätte die Koalition den Krankenhäusern die willkürliche Sparvorgabe im GKV-FinG nicht aufge- drückt und hätte sie sich früher dem Thema einer trans- parenten und verlässlichen Krankenhausfinanzierung ge- widmet. Es ist schon ein Husarenstück, uns eine so grundlegende und methodisch nicht unproblematische Frage quasi über Nacht auf den Tisch zu legen. Nachhal- tige Lösungen für eine belastbare Krankenhausfinanzie- rung, die endlich auch die Pflege wertschätzt, werden anders gefunden. Insgesamt können wir dem Gesetz heute nicht zustim- men und werden uns enthalten. Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit: Mit dem Gesetz zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen wird die Finanzierung der Krankenhäuser in Deutsch- land verbessert. Die Leistungsorientierung und Transpa- renz über die stationäre psychiatrische und psychosoma- tische Versorgung wird gestärkt. Wir sorgen für eine Verbesserung der Rahmenbedin- gungen der Krankenhausfinanzierung, indem wir ab 2013 den anteiligen Kostenorientierungswert einführen und im Vorgriff darauf noch in diesem Jahr die Tariflas- ten der Krankenhäuser erleichtern. Von einem Sparge- setz, wie von Krankenhausverbänden behauptet, kann deshalb bei dem vorliegenden Gesetzentwurf keine Rede sein. Mit dem Gesetz wird die Grundlohnrate als Ober- grenze für den Preisanstieg von Krankenhausleistungen durch den anteiligen Kostenorientierungswert abgelöst. Liegt der Orientierungswert über der Grundlohnrate, er- folgt im Rahmen eines vorgegebenen Verhandlungskor- ridors eine Erhöhung der Preisobergrenze. Damit werden unter Berücksichtigung der Kostensituation der Kran- kenhäuser erhöhte Verhandlungsspielräume für Preiszu- wächse eröffnet. 22174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Der Vorwurf von Krankenhausverbänden, mit dem anteiligen Orientierungswert werde die Grundlohnrate lediglich fortgeschrieben, geht komplett ins Leere. Viel- mehr werden den Krankenhäusern gute Argumente an die Hand gegeben, den eröffneten Verhandlungskorridor auch auszuschöpfen. Zudem müssen diese Krankenhausverbände zur Kenntnis nehmen, dass bereits die von der Großen Ko- alition geschaffene Rechtsgrundlage einen anteiligen Orientierungswert, nicht aber den geforderten vollen Orientierungswert vorsieht. Etwas anderes wäre im Sinne einer nachhaltig tragfähigen Finanzierbarkeit von Krankenhausleistungen auch nicht verantwortbar. Durch die Anwendung des anteiligen Orientierungswerts wird einerseits ein Beitrag zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser geleistet, andererseits werden mit Blick auf sozial tragbare Entgelte die zusätzlich entstehenden Belastungen der Kostenträger in Grenzen gehalten. Auch mit den aktuellen Tarifsteigerungen des Jahres 2012 lassen wir die Krankenhäuser nicht allein. Im Vor- griff auf den anteiligen Orientierungswert 2013 ist noch in diesem Jahr eine anteilige Finanzierung der vereinbar- ten linearen Tarifsteigerungen für das Jahr 2012 vorgese- hen. Damit werden die Kosten der Tarifsteigerungen, die die Grundlohnrate überschreiten, zu 50 Prozent finan- ziert. Allein durch diese Maßnahme erhalten die Kran- kenhäuser jährlich dauerhaft 280 Millionen Euro zusätz- lich. Es darf nicht übersehen werden, dass allein in den Jahren 2010 und 2011 die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Krankenhausleistungen um na- hezu 5 Milliarden Euro gestiegen sind. Das ist ein Zu- wachs von über 8,5 Prozent – trotz der ausgabenbegren- zenden Maßnahmen des GKV-Finanzierungsgesetzes im Jahr 2011. Im Vergleich dazu wuchsen die GKV-Ausga- ben für die vertragsärztliche Behandlung um 4,5 Prozent an. Maßgeblich für den dynamischen Ausgabenanstieg ist weniger die Preisentwicklung, sondern insbesondere die Mengenentwicklung. Die Leistungsdynamik wird nicht mehr durch gedeckelte Budgets begrenzt. Die Mor- bidität wird von den Kostenträgern übernommen. Aber die DRG-Begleitforschung der Selbstverwaltungspartner auf Bundesebene hat ebenso wie eine kürzlich vorge- legte Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung gezeigt, dass die Entwicklung der stationären Leistungen dynamischer verläuft, als durch die demografische Entwicklung und den medizinischen Fortschritt erklärbar. Vor diesem Hintergrund hat die Regierungskoalition immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine verbesserte Refinanzierung der den Krankenhäu- sern entstehenden Kosten nur im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Beeinflussung der Mengendynamik er- folgen kann. Um mittelfristig geeignete Lösungsansätze für eine Leistungsentwicklung im medizinisch notwen- digen Umfang zu entwickeln, werden die Selbstverwal- tungspartner auf Bundesebene mit der Vergabe eines ge- meinsamen Forschungsauftrags zur Mengendynamik beauftragt. Übergangsweise werden die derzeit noch unbefriste- ten Mehrleistungsabschläge weiter erhoben. Sie werden aber mit dem Psych-Entgeltgesetz auf die Jahre 2013 und 2014 begrenzt, wobei die Mehrheitsleistungen für das Jahr 2013 auch für das Jahr 2014 gelten. Zudem wer- den die Ausnahmetatbestände erweitert. Im Jahr 2015 entfällt der Mehrleistungsabschlag vollständig. Die Mengensteuerung soll unter Berücksichtigung der Er- gebnisse des Forschungsauftrags sowie der darauf basie- renden gemeinsamen Vorschläge der Selbstverwaltung erfolgen. Es wird nicht genug sein, für die jeweils be- kannte Position von SpiBu bzw. DKG ein wissenschaft- liches Gutachten in Auftrag zu geben. Wir nehmen die Selbstverwaltung in die Pflicht und erwarten, dass die je- weiligen Interessensgegensätze in der Form eines ge- meinsamen tragfähigen Vorschlags zur Mengenentwick- lung überwunden werden. Mit dem Psych-Entgeltgesetz werden auch die Rah- menbedingungen für ein modernes, Qualität, Transpa- renz und Wirtschaftlichkeit förderndes Vergütungssys- tem geschaffen. Die Vergütungsgerechtigkeit zwischen den Einrichtungen wird verbessert. Das neue Entgeltsystem wird im Rahmen eines lernen- den Systems mit einer vierjährigen budgetneutrale Phase und einer fünfjährigen Konvergenzphase eingeführt. In den Jahren 2013 und 2014 können die Einrichtungen das neue Entgeltsystem auf freiwilliger Grundlage anwenden. Der Anspruch zur Nachverhandlungsmöglichkeit von Stellen nach der Psychiatrie-Personalverordnung steht weiterhin allen Einrichtungen offen, für die diese Ver- ordnung Anwendung findet. Als Anreiz für eine frühzei- tige Anwendung des neuen Entgeltsystems werden in den Jahren 2013 und 2014 die Erlösausgleiche zeitlich befristet nachhaltig verbessert. Insgesamt wird den Einrichtungen durch den gesetzli- chen Rahmen ausreichend Zeit gegeben, sich auf die neuen Rahmenbedingungen einzustellen. Zudem werden die Selbstverwaltungspartner auf der Bundesebene ver- pflichtet, vor Beginn der Konvergenzphase eine gemein- same Zwischenbilanz über die bis dahin erfolgte Einfüh- rung des neuen Entgeltsystems zu ziehen. Vor Beginn der Konvergenzphase wollen wir wissen, wie das neue leistungsgerechte Entgeltsystem wirkt und insbesondere ob und welche Auswirkungen das Entgeltsystem auf die Versorgung in den Häusern hat. Begleitend werden ferner die Grundlagen für eine systematische Qualitätssicherung in der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung gelegt. Die Möglichkeiten für eine sektorenübergreifende Versorgung werden verbessert. Dies geschieht insbeson- dere durch die Weiterentwicklung der Vorgaben zur Durchführung von Modellvorhaben. Mit der Einführung des neuen Entgeltsystems wird nunmehr auch im Bereich der Psychiatrie und Psychoso- matik der Weg von der Finanzierung kostenorientierter Budgets hin zu einer leistungsorientierten Krankenhaus- vergütung konsequent fortgesetzt. Mit den Maßnahmen zur Krankenhausfinanzierung nimmt die Gesundheitspolitik die Herausforderung an, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22175 (A) (C) (D)(B) sowohl flächendeckende Defizite der Krankenhäuser zu verhindern, als auch unvertretbaren Mehrbelastungen der Kostenträger zu begegnen. In diesem Sinne formt das Gesetz einen Kompromiss, der das Notwendige und das finanziell Verantwortbare zum Ausgleich bringt. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Übersetzungserforder- nisse der nationalen Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014–2020 berücksichtigen – Übersetzungen auch im inter- gouvernementalen Rahmen sicherstellen (Ta- gesordnungspunkt 20) Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Wenn es noch ei- nes Beweises bedurft hätte, wie berechtigt und dringend der Antrag ist, den die Koalitionsfraktionen dem Deut- schen Bundestag heute vorlegen, dann waren es die letz- ten Wochen und Monate, wo wir uns fast wöchentlich im Zusammenhang mit der europäischen Staatsschulden- krise mit Problemen und Sachverhalten auseinanderzu- setzen hatten, denen eines gemein war: Sie waren und sind allesamt von hoher Komplexität und beinhalten gleichzeitig schwierige juristische und finanztechnische Themen. Vorlagen dieser Art nicht in seiner Mutterspra- che bearbeiten zu können, ist für Parlamentarier schlicht und ergreifend unzumutbar. Darüber sind wir uns sicher über Fraktionsgrenzen hinweg einig. Ich bin in diesem Zusammenhang dankbar, dass der Vorsitzende des Europaausschusses im Deutschen Bundestag, Gunther Krichbaum, dies vor wenigen Tagen auch in einem Zei- tungsinterview nochmals klar und deutlich zum Aus- druck gebracht hat. Das Problem, dass wichtige europäische Dokumente allenfalls in englischer oder französischer Sprache vor- liegen, ist für den Deutschen Bundestag alles andere als neu. Ich erinnere daran, dass wir dies schon in der letzten Legislaturperiode zum Ausdruck gebracht haben, dass wir dies in einem Gespräch mit der EU-Kommission im Europaausschuss kritisiert haben und dass wir in diesem Ansinnen auch durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages unterstützt worden sind. Ungeachtet dieser und bereits längere Zeit zurückliegender Initiativen dür- fen wir heute feststellen: Getan hat sich in dieser Frage nicht nur nichts, sondern das Problem ist im Gegenteil noch größer geworden. In der laufenden Legislaturpe- riode des Hohen Hauses sind es fast 100 Dokumente, die aufgrund der fehlenden Übersetzung ins Deutsche nicht beraten werden konnten. Dies ist ein unhaltbarer Zu- stand. Die Koalitionsfraktionen aus CDU/CSU und FDP fordern die Bundesregierung daher auf, ihren bereits un- ternommenen Bemühungen zur Problemlösung im Zusammenhang mit der Beratung des mehrjährigen EU- Finanzrahmens für 2014 bis 2020 nochmals neuen Nach- druck zu verleihen. Dafür muss nicht notwendigerweise mehr Geld in die Hand genommen werden. Wir sind der Auffassung, die benötigten Haushaltsmittel können auf der europäischen Ebene durch Umschichtungen erwirt- schaftet werden; denn wir wollen gleichzeitig an unserer Position festhalten, dass die Bemessungsgrenze für die Mittel, die aus den Nationalstaaten zur Finanzierung der Europäischen Union nach Brüssel abgeführt werden müssen, bei 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens liegt. Wenn wir in den letzten Monaten über Ausgaben- begrenzung und die Notwendigkeit einer Schulden- bremse in den Nationalstaaten gesprochen haben, dann gilt auch für die Europäische Union, dass man mit dem Geld auskommen muss, das zur Verfügung steht. Ich habe davon gesprochen, dass wir das Thema Übersetzungsregime schon einmal in der vergangenen Legislaturperiode und damals mit einem fraktionsüber- greifenden Antrag aufgegriffen haben. Dies war heuer leider nicht möglich, und ich bedauere dies ausdrücklich. Die Bereitschaft der Koalitionsfraktionen hierzu war da; das stelle ich mit Blick auf die gestrigen Ausschussbera- tungen noch einmal fest. Es hat unsererseits weder am guten Willen noch an der zur Verfügung gestellten Bera- tungszeit gefehlt. Wir sind aber an einigen zentralen Punkten ganz of- fenkundig unterschiedlicher Auffassung: Erstens. Ein Wort zuerst zu dem Änderungsantrag, den uns die Fraktion Die Linke vorgelegt hat. Auch wenn wir einen Ergänzungsbedarf in unserem Forde- rungskatalog nicht wirklich sehen, will ich durchaus konzedieren, dass der Ansatz im Änderungsantrag in die richtige Richtung weist. Aber: Welchen Sinn soll es ma- chen, die Frage des Übersetzungsregimes zu einer Art Guillotineklausel zu machen, was dann bedeuten würde, die Bundesregierung müsste den europäischen mehrjäh- rigen Finanzrahmen in Gänze ablehnen, wenn die Forde- rung in puncto Übersetzungsregime nicht erfüllt sind? So kann man weder auf der europäischen Ebene noch auf der nationalen Ebene Politik machen. Der Ansatz „alles oder nichts“ hat noch in den seltensten Fällen zu einem politischen Erfolg geführt. Zweitens zu den Argumenten, die SPD und Bündnis 90/ Die Grünen vorgetragen haben: Es gibt durchaus Gründe, einen Prozess kritisch zu hinterfragen, in dem Entscheidungsabläufe in Europa zunehmend auf der in- tergouvernementalen Ebene stattfinden, wodurch das Parlament entweder nicht oder nur indirekt beteiligt ist. Dabei sollten wir jedoch so fair sein und feststellen, dass gerade im Zusammenhang mit der europäischen Staats- schuldenkrise oft die Zeit und der Druck der Märkte das Prozedere diktiert haben. Aber: Wenn wir daneben den beschriebenen, bisweilen schleichenden Prozess als überzeugte Parlamentarier gemeinsam kritisch beleuch- ten, dann muss doch der Schluss aus dieser Überlegung gezogen werden, dass uns im Parlament gerade die wichtigen Dokumente aus dem intergouvernementalen Bereich in deutscher Sprache zur Verfügung stehen. Ich habe mich in der Ausschussberatung schon gefragt, wes- halb SPD und Bündnis 90/Die Grünen gerade dies als Argument anführten, unseren Antrag nicht mittragen zu können oder zu wollen. 22176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Drittens. Es hat sich mir genauso wenig erschlossen, wieso für den intergouvernementalen Bereich die Mit- gliedstaaten ins finanzielle Obligo für die Übersetzung gehen sollten. Auch wenn die Vertreter der Mitgliedstaa- ten im Europäischen Rat und den einzelnen Räten agie- ren, so bleiben die Räte doch zweifelsfrei ein europäi- sches Gremium. Damit ist für die Infrastruktur dieser Räte auch die Europäische Union zuständig. Ich betone dies deshalb, weil ich mich an ein Ge- spräch im EU-Ausschuss mit dem seinerzeit für Überset- zungsfragen zuständigen Kommissar erinnere, der die Lösung des von uns benannten Problems ganz einfach skizzierte: Wo ein nationales Parlament zusätzlichen Be- darf an Übersetzungen sehe, solle es diese im eigenen Interesse doch selbst finanzieren. Genau das wollen wir aber nicht. Wo die Zuständigkeiten klar gegeben sind, muss auch für die finanziellen Konsequenzen dieser Zu- ständigkeit Sorge getragen werden. Zurück zur Gemeinsamkeit in der Sache. Ich bin dankbar, dass wir in dieser Gelegenheit auch weiterhin auf die Unterstützung des Präsidenten des Deutschen Bundestages zählen können. Die Bemühungen des Parlamentspräsidenten etwa in der Konferenz der euro- päischen Parlamentspräsidenten sind sicher umso erfolg- reicher und nachdrücklicher, wenn er sich in seinem von uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg getragenen Ansinnen auch einer breiten Unterstützung in diesem Hohen Hause sicher weiß. Alois Karl (CDU/CSU): Ich bin den Koalitionsfrak- tionen, den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, au- ßerordentlich dankbar dafür, dass sie den hier in Rede stehenden Antrag in den Deutschen Bundestag einbrin- gen, wonach Übersetzungserfordernisse der nationalen Parlamente in die mehrjährige EU-Finanzplanung 2014 bis 2020 aufgenommen werden sollen und berücksich- tigt werden soll, dass dem Antrag gemäß auch die Über- setzung im intergouvernementalen Rahmen sicherge- stellt werden muss. Wir befassen uns mit dieser Materie nicht zum ersten Mal. Wir haben uns sowohl im Juni 2007 als auch im Oktober 2008 mit der Praxis der EU-Übersetzungsme- thoden befasst. Wir haben verschiedene Forderungen aufgestellt, die in der Tat an das Selbstverständnis des Deutschen Bundestages gehen. Die Problematik ist jedem klar: Der Deutsche Bun- destag wirkt mit den europäischen Institutionen am euro- päischen Recht mit. Wir haben gerade nach dem Vertrag von Lissabon weitreichende Mitwirkungsrechte und ha- ben das Recht – und aus dem Recht erwächst auch eine Pflicht –, alle für unsere Entscheidungen notwendigen Vorlagen und Unterlagen nicht nur rechtzeitig, sondern auch in einer autorisierten Übersetzung zu bekommen. In diesem Zusammenhang ist es ja geradezu ein Skan- dal, dass in dieser seit 2009 laufenden Wahlperiode des Deutschen Bundestages bereits mehr als 50 Vorlagen der Europäischen Union im Deutschen Bundestag nicht ab- schließend behandelt werden konnten oder sogar zurück- gewiesen werden mussten, weil sie aufgrund fehlender oder nicht vollständiger deutscher Übersetzungen im Ausschuss nicht behandelt werden konnten. Diese Praxis nagt am Selbstverständnis der frei ge- wählten deutschen Abgeordneten! Die Sache verschärft sich noch, wenn man weiß, dass die EU-Kommission in der Vergangenheit es sogar abgelehnt hat, auch auf Rü- gen hin Nachübersetzungen zu liefern. Auch unsere Auf- forderungen an die deutsche Bundesregierung vom 20. Juni 2007, „sich bei der EU um eine angemessene Stellung der deutschen Sprache zu bemühen“, hat dort nicht allzu viel Positives bewirkt. Auch einer weiteren Aufforderung von uns vom 17. Oktober 2008 war nicht mehr Erfolg beschieden. Wir sind an einer Stelle angelangt, wo man nicht mehr einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Ich sehe die Situation durchaus dramatisch. Unsere Ministerien sind nicht dafür da, entsprechende Übersetzungsarbeiten zu leisten. Nachdem wir bereits die Brüsseler Bürokratie durch unsere Beiträge finanziell ausgestattet haben, ist es unverantwortlich, ein zweites Mal für die Überset- zungsdienste – jetzt im nationalen Bereich – hohe Kos- ten aufzuwenden. Es ist dem Deutschen Bundestag auch nicht zuzumuten, dann über zwar übersetzte, aber nicht autorisierte Texte zu beraten. Hinzu kommt, dass wir damit die EU-Institutionen von ihren eigenen Übersetzungsleistungen entpflichten würden. Mit der Eigenübersetzung kämen wir auch in Zeitverzug, insbesondere dann, wenn es um die Frage von Subsidiaritätsprüfungen geht. Diese müssen, wie Sie wissen, innerhalb von acht Wochen abgeschlossen wer- den. Dies kann keine Lösung sein! Die Sache wird noch gravierender: Die EU-Kommission hat die überhaupt nicht überzogenen, geradezu denknotwendigen deut- schen Forderungen nicht nur nicht aufgegriffen, sondern die Sache wird geradezu auf die Spitze getrieben. Nach unserer Information soll die EU-Kommission noch in diesem Sommer beschließen, die Generaldirektion für Übersetzungen um 250 Stellen zu verkleinern. Mit der Verminderung soll 2013 begonnen werden; 2017 soll das „Massaker bei den Übersetzungsstellen“ abgeschlossen sein. Mit dem Wegfall dieser Stellen ist natürlich eine weitergehende Minderleistung bei den Übersetzungen verbunden. Noch weniger Dokumente können übersetzt werden; die Übersetzungsarbeit wird noch länger dauern als jetzt schon. Die Sache wird aber noch mehr auf die Spitze getrie- ben: Es soll insbesondere die deutsche Abteilung sein, die unter dem personellen Aderlass zu leiden hat. Gerade die Mitarbeiter der deutschen Abteilung zeichnen sich durch ein hohes Durchschnittsalter aus. Bei Pensionie- rung sollen sie großenteils nicht mehr ersetzt werden. Von den sechs Referaten der deutschen Abteilung sollen zwei geschlossen werden; es sollen nur noch vier übrig bleiben. Es kommt noch schlimmer: Die deutsche Abteilung soll von Brüssel wegverlegt und nach Luxemburg trans- feriert werden. Gerade dies sehe ich als skandalös an. Die deutsche Sektion soll damit augenscheinlich aufs Nebengleis, aufs Abstellgleis gestellt werden. Die Be- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22177 (A) (C) (D)(B) handlung der deutschen Sprache durch die Bediensteten der EU-Kommission ist geradezu skandalös! Den Mitarbeitern der Kommission sei ins Stammbuch geschrieben und zugerufen, dass Deutsch die mit Ab- stand am weitesten verbreitete Sprache im EU-Raum ist. Mehr als 90 Millionen EU-Bürger haben Deutsch als erste Muttersprache; auf den Plätzen zwei und drei fol- gen Italienisch und Englisch mit jeweils circa 65 Millio- nen; Französisch ist für circa 60 Millionen die Mutter- sprache. Wir verlangen ausdrücklich, dass die Bestimmungen, wie sie schon 1958 bei der Begründung der EWG festge- setzt worden sind, eingehalten werden. Die Europäer der ersten Stunde haben bereits 1958 festgelegt, dass Ver- ordnungen und andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung in den Amtssprachen abgefasst werden müssen. Amtssprache ist neben Englisch und Französisch auch Deutsch. Wir dulden hier keine Kompromisse; wir möchten, dass dies respektiert wird! Die ganze Misere kann meines Erachtens nur dadurch gelöst werden, dass wir bei den anstehenden Beratungen zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020 eine deutliche Sprache sprechen. Es kann nicht an- gehen, dass wir mit unserem Geld die EU-Kommission „auf ganz hohem Niveau füttern“ und zum Dank dafür nicht einmal die EU-Dokumente übersetzt zum Lesen bekommen. Die EU-Kommission ist offensichtlich auch nicht wil- lens, zu sparen. Der Finanzrahmen der letzten sieben Jahre belief sich auf 1,12 Prozent des Bruttonationalein- kommens der Europäischen Union; die jetzigen Forde- rungen der EU-Kommission für den neuen Finanzrah- men 2014 bis 2020 belaufen sich auf 1,11 Prozent des Bruttonationaleinkommens der EU-Staaten. Wir spre- chen dabei immerhin von der Kleinigkeit von circa 1,1 Billionen Euro. Wir wissen, Europa ist uns viel wert. Europa ist uns auch teuer! Wir wollen ausdrücklich, dass die Bundesre- gierung bei den Beratungen über den nächsten Finanz- rahmen darauf hinwirkt, dass unsere Zustimmung nur dann gegeben wird, wenn unsere jetzt zum wiederholten Male formulierten Anforderungen an die Übersetzungs- erfordernisse auch in der Europäischen Kommission auf fruchtbaren Boden fallen. Es geht nicht um Oberflächlichkeiten; es geht um viel. Es geht um die Kontrollmitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Euro- päischen Union. Wir möchten unseren Aufgaben und Pflichten nachkommen. Die Europäische Kommission hat deswegen Vorleistungen zu bringen, eine Bring- schuld, aus der wir sie nicht entlassen. Wenn die Kom- mission ihre Aufgaben nicht erfüllt, wird sie bei uns auf Granit beißen, wenn es um eine Haushaltsausstattung geht, wie sie den Damen und Herren in der Brüsseler Kommission vorschwebt. Nicht mit uns! Michael Roth (Heringen) (SPD): Für die Arbeits- fähigkeit des Deutschen Bundestages und anderer natio- naler Parlamente ist die zügige Vorlage übersetzter EU- Dokumente von zentraler Bedeutung. Es ist nicht hin- nehmbar, wenn EU-Vorlagen wegen der fehlenden Über- setzung nicht in den Fachausschüssen des Bundestages beraten werden können. Wir fordern daher seit Jahren eine grundlegende Reform des EU-Übersetzungsre- gimes. Auch für die SPD-Fraktion steht außer Frage, dass alle EU-Vorlagen in den 23 Amtssprachen der EU vorliegen müssen, damit die nationalen Parlamente ihre Mitwirkungs- und Kontrollaufgaben angemessen wahr- nehmen können. Das gilt für Dokumente, die im Rah- men der Gemeinschaftsmethode erarbeitet wurden, ebenso wie für Vorlagen aus dem Bereich des intergou- vernementalen Handelns der Mitgliedstaaten, also für Vorlagen der GASP/ESVP, zu den Rettungsschirmen EFSF und ESM, zum Fiskalpakt und zum Euro-Plus- Pakt. Im Grundsatz sind wir uns in dieser Frage fraktions- übergreifend einig. Umso ärgerlicher, dass die Koali- tionsfraktionen nicht bereit waren, sich mit der Oppo- sition noch einmal zusammenzusetzen, um einen akzeptablen Kompromiss zu schmieden. Der Dissens be- steht nämlich in der nicht unerheblichen Frage, aus wel- chem Topf das Geld für diese Übersetzungsleistungen genommen werden soll. Die Argumente von CDU/CSU und FDP zur Finanzierung des neuen Übersetzungsre- gimes sind mehr als abenteuerlich: Wenn es um die Zu- stimmungsvoraussetzungen für den ESM-Vertrag geht, erklärt uns die Bundesregierung seit Wochen, der dau- erhafte Rettungsschirm stehe „bewusst außerhalb des europäischen Rechtsrahmens“ und sei damit nicht als Angelegenheit der Europäischen Union nach Art. 23 Grundgesetz zu behandeln. Wenn es aber um Überset- zungsleistungen für Dokumente geht, die im Kontext des ESM-Vertrags erarbeitet werden, fordern die Koalitions- fraktionen wiederum, dass diese aus Mitteln des EU- Haushalts finanziert werden sollen. Diese Logik er- schließt sich mir nicht. Das passt doch vorne und hinten nicht zusammen. Des Weiteren fordern CDU/CSU und FDP in ihrem Antrag, die deutlich gestiegenen Übersetzungserforder- nisse der nationalen Parlamente „in gebührender Weise“ bei den laufenden Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU für den Zeitraum 2014 bis 2020 zu berücksichtigen. Das verwundert mich; denn eigent- lich spricht sich die Bundesregierung doch hartnäckig für eine Kürzung des Gesamtvolumens des MFR auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens aus. In Brüssel vertritt die Bundesregierung gerne das Motto Better Spending, während sie in Berlin dafür eintritt, mehr Geld auszugeben. Diese Milchmädchenrechnung kann in der Praxis nicht aufgehen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist klar: Für Dokumente, die nicht im Rahmen der klassi- schen Gemeinschaftsmethode, sondern im Bereich des intergouvernementalen Handelns der Mitgliedstaaten er- arbeitet worden sind, müssen zusätzliche finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden. Diese Mittel dürfen aus unserer Sicht jedoch nicht aus dem EU-Haushalt stammen, sondern sie müssen aus den nationalen Haus- halten der teilnehmenden Mitgliedstaaten finanziert wer- den. Es kann doch nicht angehen, dass die Europäische 22178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Union die Rechnung für die Merkel’sche Unionsme- thode zahlen soll! Aus den genannten Gründen kann meine Fraktion den Antrag von CDU/CSU und FDP nicht mittragen. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Der deutsche Dichter Julius Wilhelm Zinkgref hat einmal gesagt: „Zum Be- fehlen oder Gebieten brauche ich gern die deutsche, im Frauenzimmer die französische, im Rat die italienische Sprache.“ Zinkgref, ein Zeitgenosse des 17. Jahrhun- derts, hätte sicher auch im Europa des 21. Jahrhunderts noch seine Freude an der Schönheit und Vielfalt der Sprachen. Denn die europäische Idee der Einheit in Viel- falt gilt gerade mit Blick auf die vielen Amtssprachen in- nerhalb der Union. Sprachen ermöglichen Verständnis, Sprachen ermöglichen Teilhabe. Ein wesentlicher Pfeiler der EU baut darauf, dass alle Mitgliedstaaten trotz der Vielfalt an Sprachen am politischen Prozess partizipie- ren können. Voraussetzung dafür ist ein effektives Über- setzungsregime auf europäischer Ebene. Leider ist die Übersetzungsordnung in den vergange- nen Jahren etwas in Schieflage geraten. Vielfach werden Übersetzungen bestimmter Dokumente nicht oder nur unvollständig angefertigt. So musste der Deutsche Bun- destag in dieser Legislaturperiode schon über 50 EU- Vorlagen wegen fehlender oder nicht vollständiger deut- scher Sprachfassung zurückweisen oder konnte die Vor- lagen nicht abschließend beraten. Diese Tatsache steht daher im Widerspruch zur Verordnung Nr. 1 aus dem Jahr 1958, in der es heißt, dass „Verordnungen und an- dere Schriftstücke von allgemeiner Geltung … in den … Amtssprachen abgefasst“ werden. Dass das EU-Überset- zungsregime überarbeitet werden muss, hat der Bundes- tag bereits 2008 in einem interfraktionellen Beschluss festgestellt. Seitdem ist leider wenig passiert. Die Kom- mission hat zwar mehrfach eine Reform der Überset- zungsordnung angekündigt, allerdings folgten den Worten leider keine Taten. Seit dem letzten Bundestagsbeschluss vor vier Jahren haben sich zwei Entwicklungen ergeben, die eine Re- form der Übersetzungsordnung umso dringlicher machen. Erstens hat der Vertrag von Lissabon die Mitbe- stimmungsrechte der nationalen Parlamente deutlich ausgeweitet. Die Volksvertretungen können ihre Rechte im europäischen System aber nur effektiv wahrnehmen, wenn die entsprechenden Vorlagen und Dokumente auch in ihrer jeweiligen Sprache vorliegen. Es geht hier nicht darum, ob ein Parlament der englischen oder französi- schen Sprache der Vorlagen mächtig ist oder nicht. Viel- mehr geht es darum, dass bei detaillierten Entwürfen aus Brüssel gerade in komplexen Politikfeldern alle Parla- mente auf der gleichen Grundlage in ihren jeweiligen Landessprachen arbeiten sollten. Die europäische Inte- gration kann nur gelingen, wenn die nationalen Gesetz- geber auch weiterhin in den europäischen Willensbil- dungsprozess mit eingebunden werden. Die Bedingung hierfür ist ein leistungsstarkes Übersetzungsregime auf europäischer Ebene. Zweitens hat auch die intergouvernementale, das heißt zwischenstaatliche, Ebene in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Trotzdem werden beispielsweise Dokumente und Vorlagen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- bzw. Sicherheits- und Verteidigungspolitik so- wie der Euro-Gruppe nur sehr punktuell oder unvollstän- dig übersetzt. Für den intergouvernementalen Rahmen gibt es bisher noch keine einheitlichen Übersetzungs- richtlinien. Gerade aber im Bereich der Euro-Zone und der Stabilisierungsmaßnahmen ist das Vorhandensein von Übersetzungen essenziell. Deswegen ist es auch hier wichtig, dass die nationalen Parlamente mit den EU-In- stitutionen in einen Dialog treten und ihren spezifischen Übersetzungsbedarf ausloten. Zur Frage der Finanzierung von Übersetzungen ist Folgendes zu sagen: Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass man bei einer Reform der Übersetzungsstrategien auch über das Finanzielle reden muss. Hierzu ist es aber notwendig, dass EU-Kommission und der Rat transpa- rent klarstellen, wie viel Mittel sie für die Übersetzungs- aufgaben jeweils benötigen. Nur so kann festgestellt werden, welcher finanzielle Mehraufwand bei einem überarbeiteten Übersetzungsregime notwendig ist. Als Finanzierungsalternative haben wir im Antrag auch das sogenannte Marktmodell angesprochen. Es kann ein nützliches Instrument für die Übersetzung von Doku- menten sein, die nicht für alle Mitgliedstaaten gleicher- maßen relevant sind. Es steht also fest: Wir haben konstruktive Vorschläge in der Übersetzungsfrage gemacht. Wir wollen damit einen offenen und ergebnisorientierten Dialog mit den europäischen Institutionen anstoßen. Allerdings müssen sich nun auch die Kommission und der Rat bewegen und dem gestiegenen Übersetzungsbedarf entsprechend nachkommen. Abschließend bedauere ich, dass sich die Opposi- tionsfraktionen dem Koalitionsantrag nicht angeschlos- sen haben. Mehrfach haben wir ein Angebot hierzu unterbreitet. Die Beratungen im EU-Ausschuss haben gezeigt, dass wir in der Sache keinen Dissens haben und es lediglich um Nuancen in der Formulierung geht. Inso- fern hätten sie ruhig über ihren Schatten springen und sich diesem wichtigen Anliegen anschließen können. Andrej Hunko (DIE LINKE): Anscheinend sind wir uns alle einig, dass die Übersetzung aller relevanten EU- Texte eine notwendige Voraussetzung für die effektive parlamentarische Kontrolle der europäischen Politik ist. Das Problem ist doch Folgendes: Während sich manche hier im Hause damit brüsten, in Europa würde wieder „deutsch gesprochen“, liegen relevante EU-Dokumente, über die wir entscheiden sollen, oft nicht oder nicht rechtzeitig in deutscher Übersetzung vor. Ich bin der Meinung, dass jede und jeder Abgeordnete in der Lage sein sollte, diese EU-Dokumente in seiner oder ihrer Muttersprache zu prüfen, um dann entscheiden zu kön- nen. Es geht hier also nicht um Deutschtümelei, sondern darum, dass gute Fremdsprachenkenntnisse keine Vo- raussetzung sein dürfen, gewissenhaft ein Bundestags- mandat auszuüben. Der Antrag von CDU/CSU und FDP geht zunächst auf die drei entscheidenden Ebenen dieses Problems ein: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22179 (A) (C) (D)(B) Erstens auf die Kommission, die zahlreiche Anhänge und Arbeitspapiere nicht übersetzt. Die Antragsteller be- gründen ihre Kritik mit einer Verordnung von 1958, ver- kennen dabei aber, dass nach dieser nur „Verordnungen und andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung“, also mit legislativem Charakter, übersetzt werden müssen. Der reale institutionelle Hintergrund des Problems, vor allem die Verkleinerung der deutschen Sprachabteilung durch Stellenabbau, wird nicht angesprochen. Nun soll ein Marktmodell geprüft werden, das nichts anderes be- deutet, als ein Outsourcen öffentlicher Stellen auf den prekären und unregulierten Markt. Stattdessen müsste hier politisch entschieden werden, dass weitaus mehr Übersetzungen erforderlich sind, folglich die Stellenkür- zungen zurückgenommen, entsprechend neue Stellen ge- schaffen werden müssen und die Finanzierung dafür klar geregelt werden muss. Diese Konsequenz umgehen Sie. Ihre Forderung, das durch Umschichtungen im EU- Haushalt zu bewerkstelligen, dürfte die Durchsetzbarkeit nicht gerade erleichtern. Zweitens werden die Probleme im Rat der EU ange- sprochen, auf dessen Entscheidungen die deutsche Bun- desregierung ja erheblichen Einfluss hat. Hier hätte die Kritik nach meinem Geschmack deutlicher ausfallen müssen. Drittens werden die Probleme der in der Euro-Ban- kenkrise neugeschaffenen Systeme wie ESM und Fiskal- pakt aufgeworfen, die außerhalb der EU-Institutionen stehen. Für diese wurde jedoch keine Übersetzungsrege- lung vereinbart, was die ohnehin geschwächte parlamen- tarische Kontrolle weiter untergräbt. Der Antrag der Koalition hat also auf den ersten Blick ein durchaus unterstützenswertes Anliegen, nämlich die demokratischen Mitwirkungsrechte des Parlaments in EU-Fragen durch gute und zeitnahe Übersetzungen zu stärken, denn auf all diesen Ebenen bestehen tatsächlich gravierende Probleme. Nur sind die Regierungsfraktio- nen offenbar nicht bereit, diese Probleme ernsthaft und konsequent anzugehen. Es spricht jedoch für sich, dass Sie die Erfüllung der Bundestagsforderungen nicht mit der Zustimmung der Bundesregierung zum Mehrjähri- gen Finanzrahmen der EU verknüpfen wollten, wie die Linke es in einem Änderungsantrag im EU-Ausschuss vorgeschlagen hat. Aber ein Antrag nach § 9 EUZBBG wäre doch das mindeste Druckmittel gewesen, um hier zu einer befriedigenden Lösung zu kommen. Denn dann hätte die Bundesregierung begründen müssen, warum welche Belange der Stellungnahme nicht berücksichtigt wurden, und hätte sich gegebenenfalls auch einer Plenar- debatte stellen müssen. So bleibt der Antrag jedoch nur wirkungsloses Bekenntnis, das verschleiert, welches Desinteresse die deutsche wie auch andere Regierungen an einer notwendigen parlamentarischen Kontrolle ha- ben. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit dem Vertrag von Lissabon spielen die nationalen Parlamente in der Europäischen Union eine deutlich stärkere Rolle als zuvor. Mit dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind die Kontroll- und Mit- wirkungsrechte des Deutschen Bundestages in Angele- genheiten der Europäischen Union deutlich gestärkt worden. Es ist unser gemeinsames Anliegen, dass wir diesen Kontroll- und Mitwirkungsrechten auch gerecht werden können. Dazu gehört auch, dass uns die EU-Do- kumente, mit denen wir arbeiten, in einer übersetzten Version vorliegen, und das möglichst zeitnah. Ich glaube, dass es bei diesem Anliegen grundsätzlich keine unterschiedlichen Auffassungen in diesem Haus gibt. Wir haben ja bereits im Jahr 2007 dieses Anliegen in einem gemeinsamen Antrag unterstützt. Dass sich bis heute nichts geändert hat, dass die Kommission zahlrei- che Dokumente als Anhänge oder Arbeitspapiere klassi- fiziert und damit die Übersetzung in die 23 Amtsspra- chen umgeht, ärgert uns genauso wie sie. Dieser fraktionsübergreifende Konsens ist auch in der Aus- schusssitzung des Europaausschusses deutlich gewor- den. Es ist schade, dass wir heute nicht über einen gemein- samen Antrag aller Fraktionen abstimmen können. Die Bereitschaft zu einem gemeinsamen Papier haben wir von Beginn an signalisiert. Wir haben Ihnen auch Ände- rungsvorschläge gemacht, die jedoch nicht erwidert wur- den. Ich hatte den Eindruck, dass es vonseiten der Koali- tionsfraktionen keine wirkliche Bereitschaft oder nicht den Willen gab, einen gemeinsamen Antrag zu erarbei- ten. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass uns die erste Version der Koalition erst drei Tage vor Einbrin- gung zugeleitet wurde. Warum können wir den vorliegenden Antrag nicht mittragen, obwohl wir das Grundanliegen unterstützen? In dem Antrag geht es um die Berücksichtigung der er- forderlichen Übersetzungsleistungen im künftigen mehr- jährigen Finanzrahmen. Kurz: Die für die erforderlichen Übersetzungsleistungen notwendigen finanziellen Mittel müssen ab 2014 im EU-Haushalt auch vorgesehen wer- den. Übersetzt werden kann nur, wenn es dafür auch eine adäquate Ausstattung gibt. Wir sprechen hier also über den mehrjährigen Finanz- rahmen, also den gemeinsamen Haushalt der 27 EU-Mit- gliedstaaten. Unter Punkt II.6 des Antrags versuchen sie jetzt aber, die Kosten der Übersetzungen für die inter- gouvernementalen Gebilde der jüngsten Vergangenheit – ich spreche von EFSF, ESM und Fiskalpakt – dem EU-Haushalt unterzujubeln. Um das zu erklären: Der EU-Haushalt ist der gemeinsame und gemeinschaftliche Haushalt der 27 EU-Mitgliedstaaten. Er wird unter ande- rem vom Europäischen Parlament demokratisch kontrol- liert. EFSF, ESM und Fiskalpakt sind intergouvernemen- tale Gebilde. Die deutsche Regierung hat alles dafür getan, die europäischen Institutionen und vor allem das europäische Parlament aus diesen Gebilden herauszuhal- ten. In Bezug auf die Informationsrechte des Bundesta- ges vertritt sie sogar die Auffassung, dass es sich bei ESM und Fiskalpakt nicht um eine Angelegenheit der Europäischen Union handelt. Jetzt sprechen Sie aber in einem Antrag zum Haushalt der Europäischen Union über Angelegenheiten, die aus ihrer Sicht nichts mit der Europäischen Union zu tun haben. 22180 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir sind auch schwer dafür, dass wir in diesen Bereichen so schnell wie möglich alle relevanten Dokumente übersetzt be- kommen. Aber wenn sie es nicht europäisch, sondern ex- tra machen wollen, dann müssen sie die Kosten für die Übersetzungen extra regeln. Wir haben uns übrigens im- mer dafür eingesetzt, dass in diesen Gebilden, die teil- weise mit Grund intergouvernemental geregelt sind, so viel Europa steckt wie möglich. Wir vertreten auch die Auffassung, dass es sich bei der Euro-Rettung, also bei ESM und Fiskalpakt, um eine Angelegenheit der Euro- päischen Union handelt. Deswegen sind wir auch nach Karlsruhe gegangen. Das Bundesverfassungsgericht wird nächste Woche darüber entscheiden, ob es sich beim ESM um eine Angelegenheit der Europäischen Union handelt und uns die Bundesregierung entspre- chend unserer Informationsrechte gemäß EUZBBG fort- laufend und frühzeitig unterrichten muss. Sie sehen: Wir wollen Dokumente zum ESM und zum Fiskalpakt nicht nur übersetzt haben, wir wollen sie erst einmal über- haupt bekommen. Das ist der Grund, warum wir diesen Antrag heute nicht mittragen können. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, die Passagen zu den intergouvernementalen Fragen zu streichen. Sie sind leider nicht drauf eingegangen. Abschließend möchte ich noch auf ein zweites Pro- blem hinweisen: Die Übersetzung von wirklich allen re- levanten Dokumenten in die 23 Amtssprachen der Euro- päischen Union wird Geld kosten, Geld, das gut angelegt ist, aber auch Geld, das im EU-Haushalt noch nicht aus- reichend vorhanden ist. Kurz: Die Europäische Union muss in der Finanzperiode 2014 bis 2020 mehr Geld für Übersetzungsleistungen in die Hand nehmen. Die Bundesregierung fordert aber schon seit Mona- ten, den künftigen Finanzrahmen auf maximal 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu begrenzen. Das be- deutet ganz konkret, dass der Vorschlag der EU-Kom- mission um insgesamt 111 Milliarden Euro gekürzt wer- den müsste, um unter 1 Prozent zu kommen. Dieser Vorschlag sieht übrigens noch keine zusätzlichen Ausga- ben für zusätzliche Übersetzungsleistungen vor. Die Re- gierungskoalition fordert hier also Ausgabensteigerun- gen, obwohl in der Bundesregierung noch keiner einen blassen Schimmer hat, in welchen Bereichen man denn streichen könnte, um auf 1 Prozent zu kommen. Ich erkläre Ihnen mal, wie das laufen wird: Die ge- samte erste Säule der GAP soll unangetastet bleiben. Di- rektzahlungen sollen weiter und in gleicher Höhe flie- ßen. Das ist reiner Konsum; damit schaffen wir keine Innovationen, geschweige denn neue Arbeitsplätze. Dann müssen die 111 Milliarden Euro halt woanders herunter. Sie wissen selbst, was das bedeutet: Einsparun- gen bei den Strukturfonds, der vielversprechenden Con- necting-Europe-Strategie, vielleicht auch noch bei For- schung und Bildung. Anstatt die Chance zu nutzen und den EU-Haushalt zu einem echten Wachstumsprogramm in der Krise umzubauen, werden sie am Ende alle wachstums- und innovationsrelevanten Bereiche zusam- menkürzen müssen. Ich kann daher nur eindringlich an meine Kolleginnen und Kollegen appellieren: Setzen Sie dieser Irrfahrt der Regierung ein Ende. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine zukunftsfä- hige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und ein modernes Wasserstraßenmana- gement (Tagesordnungspunkt 21) Matthias Lietz (CDU/CSU): Der Antrag mit dem wir uns heute im Plenum auseinandersetzen, behandelt im Wesentlichen die Zukunft der Wasser- und Schifffahrts- verwaltung des Bundes. Grundsätzlich stimme ich der SPD dahin gehend zu, dass es sich hier um ein äußerst wichtiges und aktuelles Thema handelt, dem man beson- dere Aufmerksamkeit zollen sollte. Das hat die CDU/ CSU in der Vergangenheit getan, und das wird sie auch weiterhin tun! Wie schon in vorherigen Debatten zu diesem Sach- verhalt ausgeführt wurde, soll unter der Maßgabe des Beschlusses des Haushaltsauschusses vom 25. Mai 2011 eine Analyse der Aufgaben der Wasser- und Schiff- fahrtsverwaltung sowie des Netzes erfolgen. Das hiermit beauftragte Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung soll dazu die vorhandenen Strukturen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung untersuchen, um dann auf der Basis der Ergebnisse eine leistungsfähigere und vor allem für den Steuerzahler kostengünstigere Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ausgestalten zu kön- nen. Und während Sie, meine lieben Kollegen der SPD- Bundestagsfraktion, mal wieder polemische Anträge stellen, und das im Übrigen auch noch zu Sachverhalten, die SPD-Regierungen uns eingebrockt- bzw. lange Jahre nicht behoben haben, haben wir uns doch schon längst auf den Weg gemacht, die Wasser- und Schifffahrtsver- waltungen tatsächlich zukunftsfähig zu gestalten. Man muss schon sehr mutig sein, hier etwas als Herzensange- legenheit darzustellen, das man selbst jahrelang – als die Möglichkeit dazu bestand – nicht angerührt hat, wobei dies ist nicht ganz korrekt: 1999 rief die SPD-Regierung eine Projektgruppe „Entwicklungskonzepte für eine zu- kunftsorientierte WSV – Konzentration der WSV auf Kernaufgaben“ ins Leben. Vor dem Hintergrund von künftigen Personaleinsparungen und knapper werdenden Haushaltsmitteln wurde eine Möglichkeit zur weiteren Ausgestaltung der WSV untersucht. Soweit so gut. Aber nachdem die Endergebnisse 2001 vorlagen, passierte nichts mehr. Diesbezüglich sollte man sich das eine oder andere Ergebnis nochmal näher anschauen. So stellt die Projektgruppe beispielsweise fest, dass für Aufgaben, die der Gewährleistungsverantwortung zugeordnet werden, auch Dritte herangezogen werden könnten. Dies würde ein theoretisches Einsparpotenzial von 6 200 Dienstpos- ten bei damals rund 15 000 Mitarbeitern bedeuten, und das ist nur eine interessante Schlussfolgerung der dama- ligen Projektgruppe. Anstatt diese Schlussfolgerungen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22181 (A) (C) (D)(B) für Reformen zu nutzen, entschied sich die SPD damals allerdings lieber für die einfachere Variante: Nichtstun! Alles blieb bestehen, und die vorhandenen Strukturen wurden teilweise sogar noch weiter gefestigt. Zeit für Reformen zumindest hätte die SPD zur Genüge gehabt, immerhin führte sie das BMVBS bis in das Jahr 2009 selbst an! Wahrscheinlich erkannten die Sozialdemokra- ten aber einfach, dass diese Aufgabe ihnen eine Nummer zu groß war. Oder warum hagelte es erst nach dem Wechsel der Hausführung 2009 plötzlich oppositionelle Anträge von Ihnen zur Zukunft der WSV? Wir reden hier über eine wichtige Reform, die sehr viele Menschen betreffen wird und die vor allem die flei- ßigen Mitarbeiter der Wasser- und Schifffahrtsverwal- tungen vor neue Herausforderungen stellen wird. Das sage ich gegenüber den Behauptungen, mit dieser Re- form blindlings sozialen Kahlschlag zu betreiben. Im Gegenteil! Ich weiß als Abgeordneter mit einem Küsten-, Flüssen- und Seenwahlkreis sehr gut, wie wich- tig diese Menschen für den Betrieb und Erhalt eben die- ser Gewässer sind. Dennoch müssen wir die alten beste- henden Strukturen diskutieren und hinterfragen. Würden wir das nicht tun und uns vor Veränderungen so vehe- ment sträuben wie die SPD, wo würden wir dann heute leben? Man muss neuen Gedanken auch konstruktiven Raum lassen und Strukturen dem Wandel der Zeit anpas- sen dürfen! Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen jedenfalls Platz für eine sichere und leistungsfähigere Wasser- und Schifffahrtsverwaltung schaffen, und daher begrüße ich die dazu durchgeführten und beauftragten Untersuchungen, denn sie waren längst überfällig! Aber um nochmal auf den Antrag zu kommen: Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst anfangen soll, um die von Ihnen behaupteten Dinge richtigzustellen. Da schreiben Sie beispielsweise eingangs, dass es unser Ziel sei, „radi- kal umzustrukturieren“. Wie ich vorab bereits erklärte, erfolgte die Reform im Auftrag des Haushaltsauschus- ses. Mir ist nicht bekannt, dass eben dieser das BMVBS damit beauftragte, „radikal umzustrukturieren“ oder gar, wie im zweiten Absatz des Antrags nachzulesen ist, „Personal und Investition drastisch zu reduzieren“. Sie können dies auch gern in den Beschlussempfehlungen des Ausschusses nachlesen, dort werden Sie dann sehen, dass es um die Veranlassung einer ergebnisoffenen Orga- nisationsuntersuchung ging. Widersprüchlich daran ist aber vor allem, dass Sie im Satz zuvor noch beklagen, nicht zu wissen, wie die Reform nun schließlich ausse- hen wird. Zusätzlich stellen Sie noch richtig fest, dass uns diesbezüglich noch keine abschließenden Ergebnisse vorliegen. Mit Verlaub, liebe SPD-Bundestagsfraktion, aber Sie verursachen mit diesem widersprüchlichen Antrag doch Ihre eigene Unglaubwürdigkeit. Während meine Kolle- gen und Kolleginnen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf den bald erscheinenden endgültigen 5. Bericht zur WSV-Reform warten, jammern Sie schon einmal vor- weg und plustern sich über noch ungelegte Eier auf. Was heute schon klar ist, ist, dass wir die Fachkompe- tenz der WSV erhalten werden und die geringeren Ver- waltungskosten den Wasserstraßen durch Investitionen in diesem Bereich zugutekommen lassen wollen. Uns ist die wirtschaftliche Bedeutung der Wasserstraßen, der Häfen und der Hinterlandanbindungen sowie der mariti- men Infrastruktur wichtig und genau aus diesem Grund müssen wir auch bereit sein, neue Wege zu gehen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, noch bevor der abschließende Bericht aus dem Verkehrsministerium überhaupt vorliegt, und somit derzeit also noch gar nicht klar ist, welche konkreten Schritte die Regierung genau ergreifen wird, kritisieren Sie uns ohne Punkt und Komma wegen der Reformie- rung der WSV-Strukturen; dabei ist diese bereits vom Bundesrechnungshof angemahnte Organisationsreform notwendig, und das wissen Sie auch! Wie diese letztlich konkret aussehen wird, werden wir sicher bald wissen und dann dementsprechend diskutie- ren können. Solange und vor allem mit Blick auf meine Ausführungen zu Ihren Versäumnissen kann ich nur da- für werben, den vorliegenden Antrag abzulehnen. Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Die Wasser- straßen in unserem Land sind ein leistungsfähiges und umweltfreundliches Verkehrsnetz, auf das wir weder verzichten können noch verzichten wollen. Es ist ein Herzensanliegen dieser Koalition, im Rahmen des Mög- lichen und des Machbaren die Folgen von elf Jahren so- zialdemokratischer Misswirtschaft auf diesem Gebiet so schnell wie möglich zu korrigieren. Ich höre keinen Beifall von meinen sozialdemokrati- schen Kollegen. Warum eigentlich nicht? Wenn Sie ernst meinten, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, müssten Sie hier eigentlich in CDU-Trikots und CSU- Schals mit FDP-Mützen sitzen und donnernd applaudie- ren. Schließlich sind leistungsfähige Wasserstraßen und eine zukunftsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes nur durch diese bürgerliche Koalition ge- währleistet. Das sieht man daran, dass wir 2011 mehr als 1,8 Milliarden Euro für die Wasserstraßen ausgegeben haben. Der SPD waren die hier so hochgelobten Wasser- straßen 2005 nur rund ein Drittel davon wert. Wenn die jetzt so tun, als wollten wir die Wasserstraßen kaputtspa- ren, ist dies eine dreiste Heuchelei. Worum geht es wirklich? Wir müssen das Geld der Steuerzahler so wirtschaftlich wie irgend möglich zur Unterhaltung unserer Wasserstraßen einsetzen. Dazu ge- hört auch eine möglichst sinnvolle Organisation der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Matthias Wissmann hatte diesen Missstand schon in den 90er-Jah- ren erkannt und leitete die Umsetzung entsprechender Reformen 1997 ein – das war vor 15 Jahren! Wenn so- zialdemokratische Verkehrsminister seine Vorschläge konsequent umgesetzt hätten, würden wir heute nicht diesen Antrag diskutieren, sondern die Früchte seiner Arbeit bewundern. Diese Koalition zögert nicht, sie han- delt: Wir brauchen keine Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, die nur wegen einer Ideologie gemacht wird. Wir brauchen eine maßge- 22182 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) schneiderte Reform, die wegen besserer Ergebnisse ge- macht wird. Dieses Ziel kann man nur dadurch erreichen, dass man im ständigen Dialog mit denen steht, die etwas von der Sache verstehen und ihren Job engagiert machen: den Mitarbeitern der Wasser- und Schifffahrtsverwal- tung des Bundes. Ich kenne die Situation vor Ort und stehe schon seit langem im ständigen Kontakt mit dem Gesamtpersonalrat. Wir können und wollen nicht auf die Kompetenz dieser Menschen verzichten. Das können wir uns gar nicht leisten. Wir können es uns aber auch nicht leisten, alles beim Alten zu lassen. Wir werden sehr genau hinschauen, welche Aufgaben mit eigenen Mitteln aus eigener Kom- petenz vor Ort erledigt werden können. Wir werden aber auch gucken, was besser zentral bearbeitet wird, damit unnütze Doppelstrukturen endlich verschwinden. Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes ist kein Verwaltungsdenkmal mit unbegrenztem Bestandsschutz, sondern ein flexibler Organismus, der sich neuen He- rausforderungen stellt und entsprechend anpasst. Anpassungen kann man nicht mit der Brechstange vornehmen. Sie müssen mit der Feile des Uhrmachers fein und vorsichtig herausgearbeitet werden. Sonst ent- stehen Missverständnisse. Ich möchte dies am Beispiel der Vergaben verdeutlichen: Wenn man den Antrag liest, gewinnt man den Eindruck, dass diese Regierung alle Aufgaben, die nicht niet- und nagelfest sind, auf Teufel komm raus privatisieren will. Das ist ein typisches Bei- spiel dafür, wie die SPD mit Unwahrheiten Menschen verunsichert. Selbstverständlich werden wir niemals Aufgaben hoheitlicher Natur oder solche, die die Kern- kompetenz der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes betreffen, an Dritte vergeben. Das wäre nicht nur verfassungswidrig, sondern auch noch ziemlich dumm. Wir können und wollen nur andere Aufgaben vergeben, die Dritte preiswerter als die Wasser- und Schifffahrts- verwaltung des Bundes erledigen können. Dabei werden wir sehr darauf achten, dass wir ein ausreichendes Know-how beim Bund belassen. Wir dürfen uns nicht in eine Abhängigkeit von einem Oligopol einiger Markt- teilnehmer begeben. Das käme die Bundesrepublik Deutschland am Ende des Tages noch teurer. Ich möchte aber auch klarstellen, dass die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes dort sein muss, wo sie gebraucht wird. Dies wird auch zu Versetzungen führen – allerdings nur in Einzelfällen. Das sind wir den Steuerzahlern schuldig. Niemand würde in der Wüste Gobi eine Wasser- und Schifffahrtsverwaltung unterhal- ten – außer Gewerkschaftern und Sozialdemokraten. Sie sehen an diesen wenigen Beispielen, wie wichtig hier Augenmaß und Souveränität sind. Für diese Reform gilt nämlich: Maßanfertigung statt Konzeption von der Stange. Uwe Beckmeyer (SPD): Die Regierungskoalition will der WSV das Wasser abgraben. Nach mehreren gescheiterten Anläufen sieht das in dieser Woche erstmals von Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer in größerem Kreis vorgestellte Konzept einen Komplettumbau der Wasser- und Schifffahrtsver- waltung vor, mit massiven Auswirkungen auf die Ämter und die Direktionen vor Ort. Zwar sollen, so heißt es, alle Standorte „zunächst er- halten“ bleiben – über den Umfang der Dienststellen und also die künftige Zahl der Beschäftigten ist damit aber noch nichts gesagt. Hier ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Denn die Vorgabe des Ministers ist eindeutig: Weite Teile der WSV sollen zusammengelegt werden. In den Ohren der Beschäftigten dürfte die offizielle Sprachregelung denn auch wie Hohn klingen, wird doch mit der Umstrukturierung ab 2013 ein drastischer Ar- beitsplatzabbau einhergehen. Kein Wunder, dass die Per- sonalvertretungen in die Pläne vorab nicht eingeweiht und auch die Präsidenten der Direktionen überrumpelt wurden. Denn auch ihnen dürften die Pläne kaum schmecken: Während auf der einen Seite Personal gestri- chen wird, baut Ramsauer auf der anderen Seite neue Bürokratie auf. Die Direktionen – ob nun in Aurich, Mainz oder Mag- deburg – sollen zu bloßen Außenstellen einer neuen Zen- tralstelle degradiert werden, und die Ämter verlieren ihre regionale Zuständigkeit. Grundlage für die neue Verwal- tungsstruktur ist die überarbeitete Kategorisierung der Bundeswasserstraßen nach ihrer Transportfunktion – mit der Bundesminister Peter Ramsauer im Haushaltsaus- schuss des Deutschen Bundestages in den vergangenen zwölf Monaten mehrfach grandios gescheitert ist. Durch die Hintertür will der Bundesminister die Neu- ordnung des Wasserstraßennetzes nun doch noch umset- zen, indem er mit dem Umbau der Verwaltung Fakten schafft – nur um am Ende die Netzstruktur entsprechend anpassen zu können. Auf diese Weise versucht der Bun- desminister – angetrieben von der FDP, die seit Monaten eine Privatisierungskampagne gegen die WSV führt –, Bundestag und Bundesrat gezielt zu umgehen. Die Debatte um die künftige Struktur und Ausrich- tung der größten Verwaltung des Bundes wirft ein Licht auf das Demokratieverständnis dieser Regierungskoali- tion. Die Mitglieder des Deutschen Bundestages wurden in den vergangenen Monaten mit immer neuen inhaltslee- ren Berichten, Zeitplänen, Untersuchungen und Ankün- digungen abgespeist. Vorbei an Bundestag und Bundes- rat wurden dabei hinter den Kulissen bereits die Weichen für den Kahlschlag gestellt. Wir als SPD fordern von der Bundesregierung, ihre Pläne endlich dem Parlament vorzulegen – als Basis für alle weitergehenden Entscheidungen über die Zukunft der WSV und den Verkehrsträger Wasserstraße und ein transparentes, parlamentarisches Verfahren, das alle Be- troffenen und Beteiligten einbezieht. Ziel muss es sein, die besonderen Stärken der Wasserwege optimal zu nutzen und die vorhandenen Kapazitätsreserven zu er- schließen. Die jetzigen Pläne der Bundesregierung gefährden nicht nur massiv Arbeitsplätze, sie sind auch eine Kata- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22183 (A) (C) (D)(B) strophe für die Schifffahrt und die von leistungsfähigen Transportwegen abhängige regionale Wirtschaft. Der Vorgang zeigt aber auch einmal mehr das derzei- tige Kräfteverhältnis und die Gemengelage in der Regie- rungskoalition. Denn die jetzigen Umbaupläne werden entschieden von dem kleinen Koalitionspartner vorange- trieben. Die FDP hält unbeirrt am Totalumbau der WSV fest, ungeachtet aller verkehrspolitischen und wirtschaft- lichen Notwendigkeiten. Nach Auffassung der FDP könnten rund 80 Prozent der jetzigen Aufgaben der Behörde privatisiert werden. Hierzu gehören unter anderem sämtliche Ingenieursleis- tungen, der Stahl- und Wasserbau, aber auch die Unter- haltung von Wasserfahrzeugen. Die Liberalen folgen damit auch im Bereich der Ver- kehrspolitik – wie zuvor schon in anderen Feldern – er- neut einer Privatisierungsphilosophie, die sich letztlich jedoch als nichts anderes als bloße Klientelpolitik ent- puppt. Erst im Mai drohte die FDP dem Bundesverkehrs- minister unverhohlen mit einem eigenen Gesetzentwurf, sollte das Ressort nicht bald konkrete Ergebnisse liefern – und hat jetzt gar einen Universitätsprofessor zu prüfen beauftragt, wie der Bundestag mit einem eigenen Re- formgesetz den Umbau der Verwaltung erzwingen könnte. Das Gutachten liegt inzwischen vor – und dürfte von den Liberalen als Bestätigung ihrer Linie empfun- den werden, die Verwaltungsreform notfalls selbst auf den Weg bringen zu können. Bundesverkehrsminister Ramsauer folgt in voraus- eilendem Gehorsam der Privatisierungsstrategie der Li- beralen – ungeachtet massiver Kritik aus den eigenen Abgeordnetenreihen und ohne zu prüfen, welche Aufga- ben auf die WSV in der Zukunft zukommen und mit welcher Struktur und welchem Personal diese gelöst werden können. Die jetzigen Pläne der Regierungskoalition würden die Entwicklung des Wasserstraßennetzes in Deutsch- land behindern, die Verkehrssicherheit in Deutschland gefährden und die Nutzung der Wasserwege teurer ma- chen – zum Schaden unserer Umwelt, zulasten der Wett- bewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers Wasserstraße und auf Kosten Tausender von Arbeitsplätzen. Gustav Herzog (SPD): Seit dem „Herbst der Ent- scheidungen“ im Oktober 2010 hält die Bundesregierung mit der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes die Politik, über 12 000 Beschäftigte und ei- nen ganzen Wirtschaftszweig auf Trab. Vier Berichte wurden vorgelegt, die zunehmend weniger Substanz und Inhalt aufwiesen. Wir wurden vertröstet mit Studien und Untersuchungen, die stets ergebnisoffen sein sollten – auch wenn Parlamentarische Staatssekretäre ihren CDU- Freunden etwas anderes schreiben – und die uns noch immer nicht vorliegen. Was uns aber nun erreicht, ist die Gewissheit darüber, was wir seit Monaten befürchten. Hinter den Kulissen werden seit langem Fakten geschaf- fen; Berichte und Untersuchungen sollten nur Zeit schin- den. Der Umbau ist längst beschlossene Sache, und eine anständige Beteiligung des Parlaments war niemals vor- gesehen. 2013 soll es losgehen. Nicht nur, dass seit 20 Monaten Verunsicherung in die Verwaltung getragen wird und ein wichtiger Teil unserer Logistikbranche noch immer nicht weiß, was kommt. Was nun häppchenweise aus den Geheimgesprächen durchsickert, ist ein Anschlag auf die Schlagkraft der WSV. Zentralisierung der Strukturen bedeutet Rückzug aus der Fläche. Sieben Direktionen werden in einer zen- tralen Stelle gebündelt; die Direktionen werden in Au- ßenstellen umbenannt, verlieren ihre regionalen Kompe- tenzen, um dann über die Jahre hinweg ausgehungert und anschließend aufgelöst zu werden. Damit ver- schwinden kompetente Stellen vor Ort. Länder, Kommu- nen und Wirtschaft sind aber angewiesen auf schnelle und mit örtlichen Kompetenzen ausgestattete Ansprech- partner. Stattdessen soll – wie man hört – zentralistisch in Bonn darüber entschieden werden, was im Norden oder im Süden der Republik gebraucht wird. Neubaupro- jekte werden nicht vor Ort geplant, sondern weit weg. Ich bin sehr gespannt auf die Reisekostenabrechnungen der Zukunft. Und was soll noch kommen? Ämter sollen komplett umstrukturiert und zusammengelegt werden, Personal soll massiv abgebaut werden. Das wird innerhalb der Verwaltung zu erdrutschartigen Verlusten an Know-how führen und das System Schifffahrt nachhaltig beschädi- gen. Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir mit dem An- trag „Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schifffahrts- verwaltung des Bundes und ein modernes Wasserstra- ßenmanagement“ klar Position bezogen. Wir fordern die Koalition auf, mit uns den offenen Dialog zu suchen, die WSV im Einklang mit den Beschäftigten und anhand von ökonomischen und strukturellen Leitbildern zu re- formieren. Dazu brauchen wir die Vorlage der Untersu- chungsergebnisse der KoM-WSV. Wir brauchen einen Netzzustandsbericht, Dringlichkeitsszenarien für unsere Investitionsentscheidungen, seriöse Personalbedarfser- mittlungen und eine umfassende Aufgabenkritik, um un- sere Verwaltung noch besser an den Bedürfnissen unse- rer Wasserstraßen und vor allem an den Interessen der Nutzer, insbesondere der Binnenschifffahrt, auszurich- ten. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, wenn das, was heute ans Tageslicht durchgesickert ist, Realität wird, werden wir nicht nur unsere Verwaltung schwächen und die Beschäftigten beschädigen; es wird durch die Privatisierung über das gesunde Maß hinaus unter dem Strich noch deutlich teurer. Das können Sie auch im ersten Bericht des Verkehrsministeriums auf Seite 15 nachlesen: „Vergleichsberechnungen auf der Basis von Effektivkosten in Einzelfällen haben aber ge- zeigt, dass Vergaben gegenüber der Eigenerledigung bestenfalls kostenneutral, zum Teil sogar deutlich teurer sind“. Das kann es doch nicht sein. Lenken Sie ein, und lassen Sie uns gemeinsam an einem Strang ziehen, für den Erhalt einer guten und leistungsfähigen Verwaltung und für den nachhaltigen Verkehrsträger Schifffahrt. 22184 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) Torsten Staffeldt (FDP): Erneut beglücken uns die Sozialdemokraten mit einem Antrag zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Und ich muss mich schon über Sie wundern: Durch permanente Wiederho- lung werden Ihre Feststellungen und Forderungen nicht besser. Ganz im Gegenteil: Es zeigt, dass Sie sich offen- kundig mit der Materie, über die Sie hier reden, nie ernsthaft auseinandergesetzt haben. Unwissenheit ist zwar nicht verboten, aber was mich inzwischen ärgerlich macht, ist, dass Sie weiterhin mit falschen Behauptungen durchs Land ziehen und dadurch sowohl die geneigte Öffentlichkeit desinformieren als auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung Angst machen und sie nach- haltig verunsichern. Das hätte ich ausgerechnet von So- zialdemokraten nicht erwartet. Der Kollege Herzog hat im Dezember 2010 an dieser Stelle gesagt, die Mitarbei- terinnen und Mitarbeiter der Wasser- und Schifffahrts- verwaltung hätten keine schöne Weihnacht. Ich sage Ih- nen: Die Verantwortung dafür trägt die SPD ganz alleine. Sie unterstellen, dass der Umfang von Personal und Investitionen drastisch gesenkt werden solle und dass Stellenstreichungen und Privatisierung aus Prinzip statt- fänden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, das ist von niemandem, zu keiner Zeit, nirgendwo gefor- dert worden. Aber vielleicht wünschen Sie sich das ja, damit sich Ihre eigene Prophezeiung erfüllt. Das Gegenteil ist doch der Fall: Es muss ergebnisof- fen die Frage beantwortet werden, welche Kernaufgaben hoheitlich sind, mit eigenem Personal ausgeführt werden müssen, bzw. wo Erfüllungsgehilfen beauftragt werden können. Wir haben lediglich die Forderung erhoben, dass nach dem Vorbild der Ausschreibungen der Notfall- schlepper bei planbaren Aufgaben abzufragen ist, ob ein Markt vorhanden ist und ob eine Wirtschaftlichkeitsbe- rechnung zum Ergebnis kommt, dass die Dienstleistung privat billiger durchzuführen ist – ein Vorhaben, das so- zialdemokratische Verkehrsminister sich selber auch schon vor zehn Jahren auf die Fahnen geschrieben ha- ben. Warum soll das, was damals richtig war, jetzt falsch sein? Das müssen Sie mir erst einmal erklären. Als uns die Kategorisierung vorgestellt wurde, war auch ich überrascht; das muss ich ganz ehrlich bekun- den. Diese hatten wir nie eingefordert. Dennoch ist es si- cherlich sinnvoll, anhand einer solchen Priorisierung die knappen Haushaltsmittel zielgerichtet einzusetzen, wo sie am meisten Sinn stiften. Es ist allerdings eine Frech- heit von Ihnen, zu behaupten, dass die Überarbeitung der Kategorisierung aufgrund des massiven politischen Drucks der SPD-Fraktion geschehen sei. Da erzählen Sie eindeutig die Unwahrheit. Diese Koalition war es, die im Verkehrsausschuss einen entsprechenden Entschlie- ßungsantrag eingebracht und beschlossen hat. Sie haben dagegen gestimmt. Im Übrigen frage ich Sie, was eigentlich aus Ihrem letzten Antrag zur WSV aus dem Dezember 2010 ge- worden ist. Haben Sie überhaupt noch vor, diesen zur zweiten und dritten Lesung ins Plenum einzubringen? Sie beweisen doch wieder nur, nichts zu Ende bringen zu können. Und dann wollen Sie uns erklären, wie man eine Verwaltungsreform durchführen muss? Ich glaube es nicht. In dieses gesamte Sammelsurium von Gerüchten, Be- hauptungen und Unwahrheiten platzt heute noch die Pressemitteilung des Kollegen Beckmeyer. Herr Kollege Beckmeyer, hören Sie endlich auf, die Öffentlichkeit so unverschämt an der Nase herumzuführen. Es wird keine Kündigungen bei der WSV geben, und es wird auch in Zukunft zu einem reibungslosen Ablauf der Verkehre kommen. Sie kennen den Reformbericht nicht, haben aber schon eine Meinung dazu. Ich bin mir sicher, der Bericht wird Ihre Äußerungen widerlegen. Herbert Behrens (DIE LINKE): Beteiligung ist für diese Bundesregierung ein Fremdwort. Das zeigt sie ak- tuell bei der Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwal- tung. Weder Beschäftigte noch Personalrat noch die Mit- glieder des Bundestages werden ausreichend informiert – bis heute nicht. Der Minister lässt Berichte und Gut- achten anfertigen, aber nichts davon konnte ordentlich beraten werden. Jetzt kennen wir auch den Grund. Der Bundesminister will gar keine Mitberatung. Er will gar keine Vorschläge für eine zukunftsfähige WSV. Das, Herr Minister, ist eine Missachtung des Parlaments. Das akzeptieren wir nicht und fordern Sie auf: Stoppen Sie die Umbaupläne sofort, reden Sie endlich mit allen, die sich für eine gute Zukunft der WSV einsetzen. Gestern informierte der Hauptpersonalrat der WSV, dass ihre Behörde an der Basis geschwächt und in der Zentrale gestärkt werden soll. Ein Zentralamt in Bonn, das so nicht heißen darf, nimmt den dezentralen Behör- den die Aufgaben weg, und die Beschäftigten in den Ämtern werden darüber informiert, dass ihre bestehen- den Organisationseinheiten reduziert und neu organisiert werden. Nicht mehr die konkrete Situation vor Ort soll die Arbeit der Wasser- und Schifffahrtsämter bestimmen. Sie sollen künftig Fachaufgaben für mehrere Standorte übernehmen. Das widerspricht allen Aussagen der Fach- leute, mit denen ich gesprochen habe. Sie können nach- weisen, wie wichtig die Kenntnisse von Flüssen, von Kanälen, Schleusen und anderen Bauwerken vor Ort sind, um schnell und fachkundig arbeiten zu können. Be- währtes darf nicht zerschlagen werden, bevor nicht ein neues funktionierendes Konzept vorliegt. Eine neue Struktur der Behörde muss nicht falsch sein. Aber es ist zu befürchten, dass ohne Beteiligung der Beschäftigten und ohne parlamentarische Mitarbeit nur das dabei rauskommen wird, was von vornherein ge- wollt war: eine Behörde, die Arbeiten an Wasserstraßen weitgehend an private Anbieter vergibt und nur noch de- ren Kontrolle übernehmen soll. Eine Privatisierung öf- fentlicher Aufgaben nach dem Prinzip „Privat vor Staat“ lehnt die Linke ab. Aus guten Gründen. Wir wollen keine WSV, die den dezentralen Wasser- und Schifffahrts- direktionen die Steuerung wegnimmt und von Bonn aus erledigt. Wir wollen eine WSV, bei der die Wasser- und Schifffahrtsämter und die Außenbezirke nah dranbleiben können an ihrer Arbeit. Niemand kennt die Gewässer vor Ort besser als die Menschen, die damit tagtäglich zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22185 (A) (C) (D)(B) tun haben. Und wir brauchen diesen Sachverstand vor Ort dringend, wenn sich die WSV künftig noch stärker um die Flussökologie und die Umsetzung europäischer Vorgaben kümmern soll. Statt einer Orientierung an den Aufgaben geht es jetzt darum, den ganzen Betrieb erst mal zu zerlegen und ihn anschließend neu zusammenzu- setzen, berichtet der Hauptpersonalrat. Das Wie bleibt unklar. Sicher ist, dass dazu ein „Aufbaustab“ nötig sein wird. Das wird die Wasserbauer, die Ingenieure und die anderen Fachleute sicher freuen. Aber ihnen wird nicht nur ein Aufbaustab versprochen. Es wird eine Umset- zung der Beschäftigten geben – sozialverträglich organi- siert, wie es heißt, und betriebsbedingte Kündigungen solle es auch nicht geben. Das ist gut zu wissen. Aber wo sie künftig welche Aufgaben erledigen sollen, das wis- sen die Beschäftigten nicht. Wer eine Reform so angeht wie Minister Ramsauer, der hat ihr Scheitern bereits ein- geplant. Und noch eine Leerstelle in der Reform: Nach dem, was wir jetzt wissen, soll es eine „überarbeitete Katego- risierung der Bundeswasserstraßen nach ihrer Transport- funktion“ geben. Das ist für Unternehmen, die auf den Flüssen und Kanälen fahren, keine beruhigende Ansage. Im Gegenteil: Bereits vor einem Jahr kritisierte der Bun- desverband der Selbstständigen, Abteilung Binnen- schifffahrt den Zustand an den Binnenwasserstraßen. Die Probleme seien marode Schleusen, an denen ständig reparaturbedingte Sperrungen auftreten; Schleusen, an denen von zwei Kammern zeitweise oder sogar dauer- haft nur eine in Betrieb ist, weil entweder ein Schaden vorliegt oder nicht genügend Schleusenpersonal vorhan- den ist; unzureichend ausgestattete oder schlecht erreich- bare Liegestellen, die für die Menschen an Bord unzu- mutbar und unsozial sind, usw. usf. Das Problem sei nicht eine falsche Gewichtung der finanziellen Mittel an vermeintlich schwach frequentierten Wasserstraßen, sondern gravierende Defizite im Bestanderhalt des ge- samten Netzes. Die vom Minister vorangetriebene vermeintliche Re- form der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ist unver- antwortlich. Es droht die Verschlechterung der Leistung, die Zerschlagung bewährter Strukturen und die Verunsi- cherung von Beschäftigten und Kunden der WSV. Schluss damit, jetzt, sofort! Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Warum beschäftigt die Reform der Wasser- und Schiff- fahrtsverwaltung den Deutschen Bundestag nun bereits schon so lange und immer wieder? Die schiffbaren Flüsse in Deutschland werden von der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, WSV, seit dem vor- letzten Jahrhundert in ein und derselben Struktur verwal- tet: durch sieben selbstständige Direktionen, die parallel arbeiten und dazu noch alle sieben mit eigenen Füh- rungsebenen ausgestattet sind; und das in einer Zeit, in der von Verwaltungmodernisierung gesprochen wird. Das ist nicht mehr zeitgemäß! Die Bundesregierung hat in ihren schwarz-gelben Ko- alitionsvertrag geschrieben: „Wir werden (…) ein Ge- setz zur Wasser- und Schifffahrtsreform vorlegen“. Wann und mit welchem Inhalt dies genau sein wird, das steht noch in den Sternen. Vor allem kommt es darauf an, ob mit dem Gesetz auch eine Reform der Verwaltung umgesetzt wird. Das lief bisher mehr als schleppend. Mit Beschluss des Haushaltsausschusses berichtet nun das Bundesverkehrsministerium regelmäßig über den aktuel- len Sachstand. Vier Berichte haben wir Abgeordnete be- reits erhalten – davon half nur der erste etwas weiter. Jetzt soll der fünfte folgen, er wird der wohl brisanteste werden. Mit ihm – so die Ankündigungen der Koalition – würde eine strukturelle Veränderung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erfolgen. Man muss dazu sagen: Der Bundesrechnungshof hat bereits durch mehrmaligen Hinweis auf die Probleme bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sehr deutlich aufmerksam gemacht. Mit dem harten Beschluss des Haushaltsausschusses des Bundestages einschließlich ei- ner Beförderungssperre ist endlich auch im Bundesver- kehrsministerium etwas in Bewegung gekommen. Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung vereinigt in ihrer schon seit der Kaiserzeit bestehenden Struktur Oberbehörde, Mittelbehörde und Ausführungsebene in einer einzigen Verwaltung. Die Ämter mit ihren Außen- bezirken, die die eigentlichen Arbeiten zum Erhalt des Systems Wasserstraße leisten, entsprechen praktisch den kommunalen Bauhöfen der Verwaltung. Dort ist die Kompetenz für die Instandhaltung der Wasserstraßen ge- ballt vorhanden, aufgrund des mehrstufigen Verwal- tungsaufbaus aber nicht die Verfügungsmöglichkeit über die Ressourcen. Hier ist dringend Handlungsbedarf er- forderlich, um dieses Manko zu beseitigen. Die Kommu- nen haben uns vorgemacht, wie so etwas gehen kann: mit einer werteorientierten Haushaltsführung und einem modernen Steuerungsmodell auf der Basis von Zielver- einbarungen. Es lohnt sich, einen derartigen Weg auch in dieser Bundesverwaltung endlich einzuschlagen. Die Steuerungsaufgaben müssen dann aber auch end- lich zusammengefasst werden. Es kann doch nicht ange- hen, dass Standardisierung bislang ein ziemliches Fremdwort in der WSV ist. So gibt es immer wieder un- terschiedliche Lösungen für gleiche Aufgaben, nur weil jeweils eine andere Direktion zuständig ist. Es ist mir ab- solut unverständlich, dass im Süden und im Norden der Republik jeweils eigene Konzepte für die Fernsteuerung der Schleusen entwickelt worden sind. Sind die Direk- tionsgrenzen etwa so undurchlässig wie damals der Ei- serne Vorhang? Da muss jetzt dringend eine Lösung her, und das geht nur über ein Zentralamt, das die Prozesse im gesamten Bundesgebiet einheitlich steuert. Die Einteilung des Netzes in verschiedene Ausbau- und Erhaltungskategorien entsprechend der Nutzung der Wasserstraßen hatten wir Grüne der Bundesregierung ja schon 2010 vorgeschlagen. Nur so bekommen wir Ehr- lichkeit in die Planungen für Wasserstraßen hinein. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Bundesregierung so ein Priorisierungskonzept weiter verfolgt, trotz teils hef- tiger Kritik von Interessenverbänden. Ich möchte jedoch 22186 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) noch nicht zu schnell urteilen: Gemessen werden sollte die Bundesregierung an Ihren Taten und nicht an Ihren Ankündigungen! Von dem nun vorliegenden Antrag der SPD bin ich ehrlich enttäuscht. Hier fehlt das Bewusstsein, was ei- gentlich mit einer Verwaltungsreform erreicht werden kann – vor allem in einer Behörde wie der Schifffahrts- verwaltung. Seit den Umwandlungen von Bundespost und Bundesbahn hin zu betriebswirtschaftlich orientier- ten und leistungsfähigen Betrieben gibt es kaum einen anderen Bereich der öffentlichen Verwaltung mehr, der vor ähnlichen Veränderungen steht: Rund 12 500 Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter sind in den Verwaltungsstel- len der WSV beschäftigt. Sie kümmern sich um den Er- halt des Systems Wasserstraße und erledigen einen sehr guten Job. Davon habe ich mich bei meinen Besuchen vor Ort in den Ämtern und Außenbezirken immer wieder überzeugen können. Aber dort baut sich auch immer mehr Frustpotenzial auf. Unsere – und das sage ich ganz bewusst – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort vor Ort unmittelbar am Geschehen engagieren sich und wollen das System Wasserstraße weiterentwickeln. Sie verzwei- feln aber immer mehr auch an uns Politikern, weil wir einfache betriebswirtschaftliche Zusammenhänge schein- bar nicht erkennen wollen. Wir als Parlamentarier tragen auch einen Teil Arbeitgeberverantwortung. Nehmen wir sie endlich wahr und trauen wir uns, einen großen Wurf zu wagen. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möchten nicht weiter in Ungewissheit leben, wie es für sie weitergeht. Eine Verwaltungsreform kann also nur zusammen mit den Beamten und Angestellten erfolgen. Die SPD scheint den Ernst der Lage noch nicht er- kannt zu haben: Lassen wir alles beim Alten, wird die WSV langsam aber sicher ausgezehrt. Ohne die Verwal- tungsreform führen die jedes Jahr pauschal einzusparen- den etwa 2 Prozent der Stellen dazu, dass vor allem die Ämter und Außenbezirke ausbluten. Dort wird aber mit ihrer Objektveranwortung die Sicherheit des Systems Wasserstraße gewährleistet. Soweit möchten wir Grünen es nicht kommen lassen. Wenn die SPD sagt, das System Binnenwasserstraße sei unterfinanziert, dann muss sie dies auch begründen. Es kann nicht richtig sein, dass in der Vergangenheit Millionen in sinnlose Ausbauprojekte geflossen sind, auf denen dann kaum ein Schiff fährt. Mit einer bedarfs- orientierten Planung der Projekte hätte man das vermei- den können. Der Antrag ist eine große Wunschliste. Er suggeriert – ganz platt gesagt –, dass es immer so weitergehen könnte wie bisher. Wir brauchen aber viel mehr Mut und müssen uns trauen, auch neue Wege zu gehen, gerade in der Verkehrspolitik. Der vorliegende Antrag der SPD ist leider nicht nur ein Antrag, der zur falschen Zeit gestellt worden ist. Er ist auch ein Antrag, der in die falsche Richtung geht – und ein Antrag, den man leider nur ablehnen kann! Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Tagespflegepersonen stärken – Qualifikation steigern – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über den Stand des Ausbaus für ein be- darfsgerechtes Angebot an Kindertagesbe- treuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2011 (Dritter Zwischenbe- richt zur Evaluation des Kinderförderungs- gesetzes) (Tagesordnungspunkt 22 a und b) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Wir wollen die bestmögliche Betreuung für unsere Kinder gewährleisten, ob diese in der Kindertagesstätte stattfin- det oder bei den Eltern zu Hause. Dabei nehmen wir keine Wertung darüber vor, welche Form der Betreuung mehr Anerkennung verdient als eine andere. Es geht in erster Linie darum, bestmögliche Betreuung für die Kin- der sicherzustellen, Eltern Wahlfreiheit zu eröffnen und ihnen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu er- leichtern. Im Jahr 2007 ist der Ausbau der Kindertagesbetreu- ung vereinbart worden. Bis zum nächsten Jahr sollen insgesamt mit dem Abschluss zwischen 750 000 und 790 000 Plätze entstanden sein. Damit werden 39 Pro- zent der unter Dreijährigen ein staatlich finanziertes Be- treuungsangebot in Anspruch nehmen können. Darauf wird es einen Rechtsanspruch geben. Der aktuelle dritte KiföG-Bericht belegt, dass die Be- treuungsquote im Jahr 2011 in allen Bundesländern um 2,3 Prozent zum Vorjahr gestiegen ist. Die ostdeutschen Bundesländer wiesen im März 2011 eine Betreuungs- quote von 49 Prozent auf: Fast jedes zweite Kind unter drei Jahren wurde in einer Kita oder von einer Tagespfle- geperson betreut, in Westdeutschland jedes fünfte Kind. Das sind erfreuliche Zahlen, die uns Erfolge im Kitaaus- bau bescheinigen. Sicherlich ist stellenweise – von Bun- desland zu Bundesland unterschiedlich – noch Luft nach oben. Vor allem wäre es wünschenswert, dass die Länder und Kommunen ihren Beitrag ebenso leisten wie der Bund. Immer noch rufen einige der Länder nicht alle Gelder ab. Von den insgesamt vom Bund bereitgestellten finanziellen Mitteln zum Ausbau der Kindertagesbetreu- ung in Höhe von 4 Milliarden Euro stehen noch 700 Mil- lionen Euro zur Verfügung. Das ist umso mehr be- dauerlich, als dieses Vorgehen der Länder direkte Auswirkungen auf die Kinderbetreuung vor Ort hat. Wir haben viel über die Anzahl von Betreuungsplät- zen diskutiert und auch darüber, dass die Qualität in den Einrichtungen oder in der Tagespflege gesichert sein muss. Was bedeutet in diesem Zusammenhang Qualität in der Kindertagespflege? Qualität in der Kinderbetreuung wird in erster Linie durch die Qualifikation sowie die so- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22187 (A) (C) (D)(B) zialen und fachlichen Kompetenzen der Erzieherinnen und Erzieher bestimmt, ebenso aber auch durch ein gutes Verhältnis von Fachpersonal zur Anzahl der betreuten Kinder. Allein 30 Prozent der neu zu schaffenden Be- treuungsplätze sollen bis zum Jahr 2013 in der Tages- pflege entstehen. Trotz Werbemaßnahmen in Bund und Ländern ist bisher jedoch nicht absehbar, ob bis dahin die ausreichende Anzahl von Tagespflegepersonen für die Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Ein Hindernis stellen die oft schwierigen Rahmenbe- dingungen für Tagesmütter und Tagesväter dar. Über- wiegend sind Tagespflegepersonen als selbstständige Unternehmerinnen und Unternehmer mit steuerlichen und versicherungsrechtlichen Erschwernissen tätig. Zu- dem sind vor allem die Verdienstmöglichkeiten be- schränkt. Laut Befragungen liegt das Einkommen bei ei- nem Drittel der im Bereich der Tagespflege tätigen Personen nur bei 365 Euro im Monat. Diese Umstände tragen leider dazu bei, dass sich Frauen und Männer ge- gen eine Erwerbstätigkeit als Tagesmutter oder Tagesva- ter entscheiden. Unser Ziel ist es daher, die rechtlichen und finanziel- len Rahmenbedingungen für Tagesmütter und Tagesväter zu verbessern; das betrifft vor allem eine angemessene Vergütung sowie die Kranken- und Sozialversicherung. Ein weiteres Anliegen ist es, Festanstellungsverhältnisse zu fördern, damit die Tagespflegepersonen gegenüber dem Personal in Einrichtungen gestärkt werden. Ergän- zend dazu fordern wir, dass der Bund, gemeinsam mit Ländern und Kommunen, eine Initiative zur fairen Be- zahlung von Tagesmüttern und -vätern startet, mit der wir ebenso Tagespflegepersonen stärken. Diese Stärkung schließt übrigens auch die angemessene und unbürokra- tische Auslegung der EU-Hygienevorschriften ein, um mit einer pragmatischen Lösung Spielräume im Sinne der besonderen Situation der Tagespflegepersonen zu nutzen. Aber es ist nicht nur Aufgabe des Bundes allein, für eine ausreichend Zahl qualifizierter Tagespflegeperso- nen Sorge zu tragen. Auch die Länder müssen dazu bei- tragen. Wir fordern die Länder in unserem Antrag daher nochmals ausdrücklich dazu auf, ihre Verpflichtungen zum Kitaausbau einzuhalten. Und wir als Bund werden dabei auch weiterhin diesen Ausbau fördern und flankie- ren: Beispielsweise sollen zinsgünstige KfW-Kredite in Höhe von 350 Millionen Euro für die Kommunen und Träger zur Verfügung gestellt werden, die der Bund durch einen Zuschuss zu den Zinsen unterstützt. Darüber hinaus wird der Bund die Länder ab dem Jahr 2014 mit zusätzlichen 770 Millionen Euro jährlich für die Be- triebskosten der Kitas unterstützen. Sie sehen, wir als Regierungsfraktionen handeln und stärken die hochwertige Betreuung durch Tagesmütter und Tagesväter in unserem Land. Eine breite Unterstüt- zung durch alle Fraktionen hier im Hause für unseren Antrag wäre nicht nur für die jetzigen und zukünftigen Tagespflegepersonen ein sehr positives Signal, sondern auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. „Deutschland – Kinderland“ soll noch mehr Realität werden. Norbert Geis (CDU/CSU): Heute geht es nicht di- rekt um das Betreuungsgeld. Die heutigen Themen, der Ausbau der Kitas und die Kindertagesbetreuung, hängen jedoch eng mit der Diskussion um das Betreuungsgeld zusammen. Es geht um das Generalthema Familie. Je nach dem Wert der Familie lassen sich auch die Bedeu- tung von Kita und Kindertagesbetreuung beurteilen. Deshalb ist es richtig, sich zunächst zu verdeutlichen, von welchem Ansatz her diese einzelnen Themen zu denken und anzugehen sind. In dieser Diskussion zeigen sich verschiedene Auffas- sungen vom Zusammenleben der Menschen und damit der Familien. Diese Auffassungen lassen sich auf zwei Grundeinstellungen reduzieren: einerseits die radikal- materialistische Auffassung vom Menschen und ande- rerseits jenes Menschenbild, das aus der jüdisch-christli- chen Tradition kommend, am tiefgreifendsten unsere Kultur geprägt hat. Aus unserer Kultur entspringt unser traditionelles Familienbild, wie es auch in unserer Ver- fassung seinen Niederschlag gefunden hat. Nach unserer Verfassung sind die Eltern die ersten Erzieher ihrer Kin- der. Sowohl die Erfahrung des Alltags als auch wissen- schaftliche Forschungen zeigen, dass die Erziehung in der Familie für die Kinder das Beste ist. Die Politik der Kinderkrippen, wie sie in den kommunistischen Ländern üblich gewesen ist, war ein großer Fehler. Dies stellte der Staatsmann, der die Perestroika durchgesetzt hat, Michail Gorbatschow, in verschiedenen Reden und Schriften fest. Gorbatschow sagte, sie hätten erkannt, dass die vielen Mängel der Moral, der Kultur und der Produktion in seinem kommunistischen Land auch daher gekommen sind, weil man die wichtige Bedeutung der Familie für die Erziehung der Kinder missachtet habe. Natürlich ist mit dieser Feststellung kein Pauschalurteil über Kinderkrippen gefällt. Selbstverständlich kann die Kinderkrippe eine wichtige Hilfe sein. Dies gilt natürlich ebenso für die Tagespflege, die eine wichtige Ergänzung für die familiäre Erziehung sein kann. Um es aber nochmals zu betonen: Bei der Diskussion um die Kinderkrippen und auch um die Tagesbetreuung darf nicht übersehen werden, dass es erste Aufgabe der Politik sein muss, die Familien zu stärken, damit sie ihre einzigartige Aufgabe, die Erziehung der Kinder, erfüllen können. Die Förderung der Familie ist das Beste für das Kind, aber auch für die Mütter und Väter. Nur wenn sich dieses herumspricht, kann vielleicht bei den Eltern wie- der eher die Bereitschaft für das Kind wachsen und die Zahl der dringend benötigten Geburten steigen. Auch wirtschaftlich wäre dies der vernünftigere Weg, weil die direkte Familienförderung finanziell günstiger ist als die Finanzierung von Kinderkrippen und auch von Tages- müttern. Ich betone dies auch deshalb, weil wir uns im Westen inzwischen von der kommunistisch geprägten Vorstel- lung inspirieren lassen, die Familie sei ein überholtes Modell. Mit dieser Begründung haben die Machthaber im Reich des Kommunismus die Kindererziehung sozia- lisiert. Damals wollte man nicht die Lage der Menschen verändern, sondern den Menschen selbst. Man hatte sich vorgenommen, durch veränderte Strukturen und gesell- schaftliche nicht familiäre Erziehungssysteme einen 22188 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) neuen Menschen zu schaffen. Von der traditionellen Fa- milie haben die Kommunisten mit dem Ton der Verach- tung geredet. Sie wollten diese zum Verschwinden brin- gen. Deshalb setzten sie bei der Kindererziehung an. Nach ihren Vorstellungen gehören die Kinder nicht zu den Eltern, sondern zum Staat bzw. zur Gesellschaft. Deshalb griff man nach den Kindern und steckte sie frühzeitig in die Krippe. Ziel war, die Mütter möglichst wieder rasch an ihren Arbeitsplatz zurückzuschicken. Das eigentliche Ziel aber war, alle Hemmnisse für die fa- tale Herrschaft der Partei niederzureißen. Deshalb hat Stalin die Kleinbauern beseitigt und die Kolchosen ge- schaffen, und er hat versucht, die Familien zu zerstören. Gorbatschow hat recht: Dies war einer der Gründe für den Untergang des Sowjetreiches. Die Kommunisten hatten nämlich vergessen, dass es die Mutter ist, die dem Kind am nächsten ist, noch bevor es geboren ist. Diese Grunderfahrung des Kindes stiftet das Urvertrauen – das Wichtigste, was Erziehung in den ersten drei Jahren überhaupt leisten kann. Wir im Westen laufen nun Gefahr, dass wir dieses da- mals durch die kommunistische Diktatur dem Menschen aufgezwungene Familienbild übernehmen. Diese Grund- überlegungen sind zu berücksichtigen, wenn es um den Ausbau der Kita und die Kindertagespflege geht. Diese Grundüberlegung darf nicht dazu führen, die Kinder- krippe und auch die Tagespflege in Bausch und Bogen zu verurteilen. Wir müssen einfach feststellen, dass viele Frauen aus eigenem Antrieb – und nicht weil sie wirt- schaftliche Not dazu treibt – berufstätig sind und dies auch sein wollen. Wir haben zu respektieren, dass die Zeiten vorbei sind, da die Rollenverteilung klar definiert war, der Mann muss einen Beruf haben und seine Fami- lie ernähren, die Frau bleibt daheim und erzieht die Kin- der. Die Frauen sind heute selbst hochqualifiziert und wollen natürlich ihre Qualifizierung auch im Beruf um- setzen. Der Staat muss dieser Möglichkeit gerecht wer- den. Von daher ist es eine richtige Politik, Kitas einzu- richten, in die die Kleinkinder aufgenommen werden. Der Beschluss der Großen Koalition, bis zum 1. August 2013 ausreichend Kitaplätze zur Verfügung zu stellen, war richtig. Er muss jetzt umgesetzt werden. Der Bund hat dabei seine Pflicht erfüllt. Er hat das Geld bereitge- stellt und ist bereit, für die Betriebskosten jährlich eine knappe Milliarde bereitzustellen. Es kommt nun ent- scheidend auf die Länder und Gemeinden an. Dort hat man es ganz offensichtlich versäumt, diesen Beschluss der Großen Koalition aus dem Jahre 2008 ernst zu neh- men. Deswegen gelingt der Ausbau nicht in dem Maß, wie dies notwendig wäre. Es kommt aber nicht nur auf die Kita an, auch die Ta- gesbetreuung durch Tagesmütter oder Tagesväter ist weiterzuentwickeln. Dabei geht es nicht um die privat organisierten Tagesmütter, sondern um die vom Staat ausgebildeten und zur Pflege von Kindern eigens befä- higten Tagesmütter. Diese Tagespflegepersonen können einen wichtigen Beitrag für den Ausbau der Kinder- tagesbetreuung leisten. Diese Pflegepersonen – Tages- mütter und Tagesväter – haben den Vorteil, dass sie nur wenige Kinder betreuen und so eine engere Bindung zu den jeweiligen Kleinkindern aufbauen können. Dies ist den Erzieherinnen in einer Kita nicht so leicht möglich, weil es in den Kitas meist deutlich mehr Kinder zu be- treuen gibt. Diese Tagespflegepersonen arbeiten überwiegend – zu 94 Prozent – als selbstständige Unternehmerinnen und Unternehmer. Ihre Tätigkeit geschieht aber oft unter schlechten Rahmenbedingungen. Deshalb ist es zunächst einmal erforderlich, das Berufsbild der Kindertages- pflege attraktiver zu gestalten. Hinzu kommt, dass der Verdienst zu gering ist. Das durchschnittliche Einkommen beträgt knapp 600 Euro im Monat. Fast ein Drittel der Befragten liegt bei einem Einkommen unter 365 Euro. Wenn wir die Tagespflege attraktiver gestalten wollen, muss das Einkommen ver- bessert werden. Hinzu kommt, dass die Tagespflege- person eine sichere Anstellung braucht. Dies wäre im Rahmen der Jugendhilfe möglich. Außerdem müssen wir für eine berufsbegleitende Weiterbildung an staatlich anerkannten Fachschulen oder Berufsfachschulen für Er- zieherinnen sorgen. Die Ausbildung dieser Tagespflege- personen muss Vorrang haben. Der Antrag der CDU/CSU „Tagespflegepersonen stärken – Qualifikation steigern“ bietet für diese Aus- richtung der Tagespflege einen guten Ansatz. Caren Marks (SPD): Auf der einen Seite bringen die Koalitionsfraktionen ein Betreuungsgeld auf den Weg, das Kinder von frühkindlicher Bildung fernhalten soll, auf der anderen Seite betonen sie die Steigerung der Qualität in Kitas und in der Kindertagespflege, wie der heute zu debattierende Antrag „Tagespflegepersonen stärken – Qualifikation steigern“ zeigt. Auf der einen Seite will die Koalition gezielt Eltern, die ihre Kinder nicht in einer staatlich geförderten Einrichtung betreuen und erziehen lassen, mit einer neuen Leistung honorie- ren, auf der anderen Seite will sie uns heute mit diesem Antrag weismachen, dass sie für eine weitere Professio- nalisierung der Kindertagespflege eintritt. Was denn nun, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP? Haben Sie eigentlich einmal über- legt, welche fatalen Signale eine derart widersprüchliche Familienpolitik aussendet? Alle bisher unternommenen Anstrengungen, die frühkindliche Bildung auszubauen und die Qualität zu verbessern, werden mit dem Betreu- ungsgeld konterkariert. Ihre Politik verunsichert nicht nur zahlreiche Familien, sondern ebnet auch den Weg für eine der größten Fehlinvestitionen der letzten Jahre. Da- bei ermahnt uns die OECD in regelmäßigen Abständen, dass Deutschland mehr und schneller in die frühkindli- che Bildung investieren muss. Die Kampagne „Nein zum Betreuungsgeld“, die tag- täglich neue Unterstützerinnen und Unterstützer ge- winnt, spricht für sich. Sozialverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Fachorganisationen, der Frauen- rat, der Deutsche Landfrauenverband und die evangeli- sche Kirche erteilen dem Betreuungsgeld ebenfalls eine klare Absage und fordern, stattdessen mehr in den Kita- ausbau zu investieren. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22189 (A) (C) (D)(B) Ich möchte exemplarisch einen Absatz aus der aktuel- len Stellungnahme des Landeselternbeirats Nordrhein- Westfalen zitieren. Solche Stellungnahmen und Briefe erreichen uns derzeit übrigens waschkörbeweise. „Bevor all diese Mängel [damit ist das Fehlen der noch dringend benötigten Kitaplätze gemeint] nicht be- seitigt sind und wir Eltern keine echte Wahlfreiheit ha- ben, um zwischen Kita und Betreuung zu Hause zu wäh- len, lehnen wir dieses Betreuungsgeld ab. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Betreuungsgeld abzuleh- nen und dafür in den qualitativ hochwertigen Ausbau von Kindertageseinrichtungen mit dem entsprechenden Personal zu investieren.“ Auch der neu vorgelegte Dritte Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes zeigt deutlich, wo die Reise hingehen muss: Bund, Länder und Kom- munen müssen sich in den nächsten Jahren darauf konzentrieren, Kitaplätze weiter auszubauen, mehr Er- zieherinnen und Erzieher zu gewinnen und die Kinderta- gespflege, wie die Regierungskoalition es ja in ihrem ei- genen Antrag fordert, weiter zu qualifizieren. Ich sage Ihnen aber: Ein Betreuungsgeld wirkt hier völlig kontra- produktiv. Es geht um echte Wahlfreiheit und um die Verbesse- rung der Zukunftschancen unserer Kinder. Denn Eltern haben derzeit keine echte Wahlfreiheit, für Kinder steht kein bedarfsdeckendes Angebot an Krippenplätzen be- reit. In gut 14 Monaten tritt der Rechtsanspruch für Kinder ab dem ersten Geburtstag auf einen Krippenplatz in Kraft. Deshalb müsste es Ihnen, meinen Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP, Sorge bereiten, dass die neue Zwischenevaluation des Bundesfamilienminis- teriums auf bestehende Ausbauhürden hinweist. Beispielsweise fehlt es an qualifizierten Fachkräften. Hier sage ich klar: Soziale Berufe müssen aufgewertet werden. Erzieherinnen und Erzieher müssen besser ver- dienen und brauchen bessere Aufstiegschancen, damit dieses Berufsbild für Nachwuchs attraktiver wird. Wenn wir wollen, dass die Tagespflege weiter qualifiziert und aufgewertet wird, brauchen wir auch in diesem Bereich eine bessere Bezahlung. In dem Antrag von CDU/CSU und FDP ist hierzu übrigens keine einzige Forderung enthalten. Immerhin setzen Sie sich für eine Bund-Län- der-Arbeitsgruppe ein, die bis Ende des Jahres Vor- schläge zur Verbesserung der Situation von Tagespflege- personen erarbeiten soll. Aber warum Sie erst jetzt auf eine solche Idee kommen, ist rätselhaft. Die Zwischenevaluation geht auch vertiefend auf die Herausforderungen im Bereich der Qualität von Einrich- tungen der frühkindlichen Bildung ein. Wir haben hier in den vergangenen Jahren Enormes geschafft: Der Perso- nalschlüssel hat sich weiter verbessert, die Gruppen- größe ist kleiner geworden, die frühkindliche Sprachför- derung hat an Bedeutung gewonnen, die Ausstattung von Kitas ist überwiegend gut. Aber es bleibt noch viel zu tun, zumal es von Stadt zu Stadt und von Landkreis zu Landkreis oftmals große Unterschiede gibt. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert schon seit Jah- ren, dass sich die Bundesregierung endlich mit Ländern und Kommunen an einen Tisch setzt, eine neue Be- darfsanalyse erstellt und konkrete Schritte zur Forcie- rung des Krippenausbaus verabredet. Das SPD-geführte Bundesland Nordrhein-Westfalen beispielsweise hat mit der Einberufung des Krippengipfels vorgemacht, wie man hier vorgehen muss. Die zuständige Landesministe- rin Ute Schäfer hat unmittelbar nach dem Krippengipfel eine Task Force U-3-Ausbau eingerichtet. Aktuell hat die SPD einen Aktionsplan zum Kitaaus- bau und zur Sicherung des Rechtsanspruchs vorgelegt. Der Verzicht auf die Einführung eines Betreuungsgelds ist dabei ein wichtiger Baustein. Wir werden nicht müde, deutlich zu machen: Gute Angebote der frühkindlichen Bildung, Erziehung und Betreuung sind das Fundament für eine bestmögliche Förderung von Kindern und ihre Inklusion in die Gesell- schaft. Der Staat muss mehr dafür tun, um den Ausbau dieser Angebote voranzubringen. Versäumnisse im Be- reich der frühkindlichen Bildung können nicht zu einem späteren Zeitpunkt aufgeholt werden. Daher reicht Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, nicht aus, so gut gemeint auch die eine oder andere Forderung ist. Ihre Ministerin ist aufgefordert, ihren Worten endlich Taten folgen zu lassen und vor allem für den Verzicht auf das Betreu- ungsgeld einzutreten. Miriam Gruß (FDP): Auf diesen Tag haben wir lange hingearbeitet. Denn mit dem Antrag „Tagespflege- personen stärken – Qualifikation steigern“ schließen wir eine zentrale Lücke auf dem Weg zum Rechtsanspruch U 3, der im nächsten August in Kraft tritt: Tagesmütter und Tagesväter müssen dringend bessere Rahmenbedin- gungen und mehr Anerkennung bekommen. Nur dann werden sich mehr Männer und Frauen dazu entschlie- ßen, diesen Beruf mittel- und langfristig auszuüben. Uns liegt heute der dritte Zwischenbericht zur Eva- luation des Kinderförderungsgesetzes vor. Auch er un- terstreicht, wie wichtig die Kindertagespflege in Deutschland mittlerweile ist – aber auch, wie viel hier noch passieren muss. Der Bedarf ist enorm. Wer die Wahlfreiheit in der Kinderbetreuung hat, der entscheidet sich immer häufi- ger für eine Tagesmutter – oder einen Tagesvater. Jedes sechste Kind unter drei Jahren wird mittlerweile so be- treut, Tendenz steigend. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Eltern suchen sich gezielt eine Tagesmutter oder einen Tagesvater. Denn diese sind flexibel und können auch einmal spon- tan zu „Randzeiten“ zur Verfügung stehen; eine junge Anwältin oder eine Krankenschwester kann ihr Kind schließlich nicht täglich um 16 Uhr aus der Kita abholen. Keine andere Betreuungsform lässt sich so flexibel an den Bedarf anpassen – und der ist nach wie vor in Ost und West unterschiedlich, wie der KiföG-Bericht zeigt. Im Westen wird diese Betreuungsform häufig drei Tage 22190 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) in der Woche in Anspruch genommen, im Osten dagegen meist vier bis fünf Tage. Ein weiterer Vorteil dieser Betreuungsform: Das Ver- hältnis zwischen Eltern und Tagespflegeperson ist häufig besonders eng, die Absprachen funktionieren gut – und das ist gut für das Kind. Das ist ein entscheidender Punkt, denn für uns Fami- lienpolitiker steht das Kindeswohl im Mittelpunkt. Ge- rade der Kinder wegen setze ich mich für die Kinderta- gespflege als eine Alternative zur Kita ein. Denn nicht jedes Kind wird in der Kita glücklich. Schüchterne oder sehr anhängliche Kinder fühlen sich bei einer Tagesmut- ter häufig geborgener als in der Kita. Die Forschung be- legt, dass die Bindungsqualität bei einer Tagesmutter häufig höher ist als in der Kita. Sicherheitsbedürftige Kinder finden hier die Stabilität, die sie brauchen. Wir brauchen deshalb mehr und gut qualifizierte Kin- dertagespflegepersonen. Solange diese allerdings keine guten Rahmenbedingungen haben, ist die Motivation ge- ring und die Fluktuation hoch. Wir wissen aus einem Fachgespräch, das wir als FDP- Bundestagsfraktion organisiert haben, wie sehr die Kindertagespflege unter dem kommunalen Flickentep- pich leidet: Überall herrschen andere Bedingungen. Das fängt bei der Bezahlung an. Zwischen 1,97 Euro und 7,50 Euro variiert der Stundenlohn. Zwar glauben viele Eltern, sie könnten sich eine Tagesmutter nicht leisten; aber der Lohn ist teilweise geradezu lächerlich. Neben dem geringen Lohn leidet diese Berufsgruppe auch an anderen Stellen: Die Urlaubszeiten sind häufig über- haupt nicht geregelt. Die Fachberatungen sind überlastet. Und seit Anfang des Jahres sorgt auch noch eine neue EU-Hygiene-Verordnung für Aufregung. All das war Anlass für uns, dringend Verbesserungen einzufordern. Wir fordern in unserem Antrag, dass die Länder die Investitionsmittel des Bundes mehr als bis- lang geschehen für die Tagesmütter ausgeben. Denn in den letzten Jahren wurde diese Betreuungsform häufig stiefmütterlich behandelt. Die Förderung lief vor allem zugunsten der Kindergärten und Kindertagesstätten. Damit muss nun Schluss sein. Wir fordern eine Initiative „Tagesmütter und Tages- väter fair bezahlen“. Und wir fordern, die EU-Lebens- mittelhygiene-Verordnung unbürokratisch umzusetzen. Außerdem ist mir wichtig, dass wir die Tagesväter mehr in den Fokus stellen. Bislang sind lediglich 2,5 Prozent aller Kindertagespflegepersonen männlich. Aber wenn wir bis August 2013 den Rechtsanspruch er- füllen wollen, dann wird das nicht ohne diese „stille Re- serve“ funktionieren. Wir brauchen mehr Männer in der Kinderbetreuung. Das ist ein Gebot der Gleichberechti- gung und der Wahlfreiheit. In den Kitas haben wir mit einem vergleichbaren Förderprogramm bereits viel er- reicht. Daher fordere ich jetzt auch: „Mehr Männer für Tagespflege“. Jetzt ist die Zeit, um den Tagesmüttern und -vätern in diesem Land bessere Bedingungen zu geben. Die Fami- lienministerin hat in der Zwischenzeit viele unserer For- derungen aufgegriffen und die Tagesmütter an die Spitze Ihres Zehn-Punkte-Plans gestellt. Das kann ich nur aus- drücklich begrüßen. Denn machen wir uns nichts vor: Es war von Anfang an klar, dass wir den Rechtsanspruch 2013 nur erfolgreich umsetzen können, wenn wir die Kindertagespflege stärken. Viele Tagespflegepersonen sehen ihre Arbeit als Berufung. Aber gerade weil sie eine so wichtige Funktion einnehmen, müssen wir sie auch als Berufsgruppe stärken. Das ist gut für die Kin- der, gut für die Eltern und gut für die Infrastruktur in die- sem Land. Diana Golze (DIE LINKE): Es ist schon sehr be- zeichnend, dass der Deutsche Bundestag über die Frage der Sicherung und Gewährleistung eines von ihm selbst geschaffenen Rechtsanspruchs – dem auf Kindertages- betreuung für jedes Kind unter drei Jahren – zu nacht- schlafender Zeit „debattieren soll“, während die Einbrin- gung des Betreuungsgeldes einen etwas prominenteren Platz in der Tagesordnung gefunden hat. Es ist auch exemplarisch, dass der vorliegende Antrag einmal mehr nur ein Schlaglicht auf eines der großen Probleme im Ausbau der Kindertagesbetreuungsangebote wirft. Und es ist exemplarisch für die Debatten in den letzten Mona- ten, dass in diesem Antrag der Koalitionsfraktionen vor allem Aufgaben an die Länder und Kommunen verteilt werden, während der Bund vor allem Prüfaufträge und die Verteilung von Mitteln aus dem Europäischen So- zialfonds oder der Bundesagentur für Arbeit überneh- men will. All das ist ein Spiegelbild dessen, was an poli- tischem Versagen in den letzten Jahren zu dem geführt hat, was wir heute als Kitaplatzmangel, fehlendem quali- fizierten Personal und mangelnden Qualitätsstandards konstatieren müssen. Statt dass die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen endlich so viel Verantwortung übernehmen, wie man es mit der machtvollen Ankündigung durch die Kanzlerin in Sachen Kitaausbau hätte annehmen müssen und dürfen, feiern sie jeden noch so kleinen Erfolg auf dem verlorenen Feld. Offen gestanden hatte ich ein wenig erwartet, dass Ihr Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Ko- alitionsfraktionen, sich mit dem 10-Punkte-Programm der Ministerin zur Beschleunigung des Kitaausbaus be- fasst und dieser dadurch etwas an Konkretisierung er- fährt. Doch auch Sie bleiben sich treu, wenn es um das Schönreden von Entwicklungen und um das Drumhe- rumreden bei Problemen geht. Statt sich mit den vielen Fragen auseinanderzusetzen, die der Ausbau der öffentli- chen Kindertagesbetreuung noch immer aufwirft, haben Sie sich auf das Feld zurückgezogen, wo Sie die Verant- wortung völlig abwälzen können, ohne dabei den Kom- munen zu sehr auf die geschundenen Füße zu treten – die Kindertagespflege. Seit Jahren leisten in diesem Bereich Männer, vor al- lem aber Frauen schwere Arbeit und dies zu denkbar schlechten Bedingungen. Unzureichende Unterstützung, selbstausbeuterische Arbeitsverhältnisse und eine schlechte Entlohnung gehören zu den Alltagsproblemen dieser Frauen und Männer genauso wie mangelnde fachliche Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22191 (A) (C) (D)(B) Begleitung und existenzielle Sorgen. Seit Jahren warnen Fachverbände, Experten, Gewerkschaften und auch meine Fraktion davor, den Tagespflegepersonen die Last des schleppenden Ausbaus und damit auch die Folgen der Unfähigkeit der politisch Agierenden aufzubürden. Nach dem letzten Bericht zum Kinderförderungsgesetz ist nun klar: Auch in diesem Bereich wird der Zuwachs nicht reichen, um als Notnagel für fehlende Kitaplätze zu fungieren. Doch statt sich nun endlich auf Notwendi- ges zu besinnen, liest sich Ihr Antrag wie der einer völlig unbeteiligten Gruppe. Ihr Forderungsteil enthält Aufforderungen, die Bun- desländer zu den verschiedensten Aktivitäten anzuhal- ten – ein Prozedere, das wir zur Genüge kennen und von dem jeder weiß, dass es ohne eine stärkere finanzielle Verantwortung nichts als eine Worthülse ist. Er enthält Umschichtungen innerhalb des Familien- haushaltes, bei denen ich mir nur verwundert die Augen reiben kann. War denn die Offensive „Frühe Chancen“ nicht erst in der vergangenen Haushaltsdebatte das Aus- hängeprojekt der Familienministerin zur Rettung des Großvorhabens Kitaausbau? Und nun sind dort noch Mittel übrig? Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Politik der kleine Projekte ist gescheitert! Es braucht mehr als nur Anschubfinanzierungen, um eine zukunftsträchtige und qualitativ hochwertige Kin- derbetreuung zu gewährleisten – egal ob sie in einer Kita oder in der Tagespflege stattfindet. ESF-Mittel und um- geschichtete Projektmittel aber sprechen alles andere als eine Sprache der kontinuierlichen Absicherung und Ge- staltung. Die Linke fordert darum die Bundesregierung auf, endlich selbst tätig zu werden. Es reicht nicht, Ar- beitsaufträge an die Länder und Kommunen abzugeben, Tagespflegepersonen für einen begrenzten Zeitraum über ESF-Mittel zu finanzieren und deren Qualifizierung und Beratung weiterhin unter Prüfungsvorbehalt zu stel- len. Die Gelder, die dafür nötig sind, wären vorhanden, wenn endlich von einem unsinnigen Vorhaben wie dem Betreuungsgeld Abschied genommen würde. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der aktuelle, dritte KiföG-Zwischenbericht macht es erneut deutlich: Die Zeit wird knapp. Im August 2013 tritt der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige in Kraft. Eltern, deren Kinder jetzt geboren werden, werden sich bereits auf diesen Anspruch beru- fen können. Aber noch immer fehlen zur Erfüllung des Rechtsanspruchs fast eine Viertelmillion Plätze. Den- noch gewinnt der Ausbau nicht an Fahrt. Bereits das dritte Jahr in Folge müssen wir im Zwischenbericht le- sen, dass die Ausbauziele nur erreicht werden können, wenn die Geschwindigkeit im Ausbau deutlich zunimmt. Immer wieder dieselbe Platte – aber es passiert nichts. Statt jetzt alle Anstrengungen auf den zielgerichteten U-3-Ausbau zu fokussieren, wirft die Bundesfamilien- ministerin Nebelkerzen und täuscht Aktivismus vor. Eine dieser Nebelkerzen trägt den hochtrabenden Namen Zehnpunkteprogramm. Wenn man beide Augen zu- drückt, könnte man wohlwollend von einem Einpunkt- programm sprechen: denn außer dem Bundesprogramm zur Festanstellung von Tagespflegepersonen enthält die- ses mickrige Progrämmchen nichts substanziell Neues. Zudem hat der Bund für die Umsetzung der Vorschläge gar keine Zuständigkeit. Machen wir uns nichts vor: Noch schleppender als der Kitaausbau verläuft der Ausbau der Kindertages- pflege. So ist der Anteil von Tagespflegeplätzen der öf- fentlich geförderten Kindertagesbetreuung in den ver- gangenen Jahren nur geringfügig gestiegen. Er liegt aktuell bei lediglich 15 Prozent. Hier liegt noch unge- nutztes Potenzial. Von daher sind auch alle Bemühungen der Regierungsfraktionen zu begrüßen, dieses Potenzial auszuschöpfen. Es ist allerdings mehr als durchsichtig, dass Ihnen dieser wichtige und richtige Ausbau der Kin- dertagespflege nichts wert ist. Alle in Ihrem Antrag for- mulierten Vorschläge soll die Bundesregierung nur „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“ umsetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, haben Sie immer noch nicht verstanden, dass es beim U-3-Ausbau fünf vor zwölf ist? Sie sind bereit, 1,2 Milliarden Euro jährlich für das unsinnige Betreu- ungsgeld aus dem Fenster zu werfen, haben aber kein Geld für den Ausbau von Kitas und Tagespflege übrig? Das ist unverantwortlich. Ein riesiges Problem ist der Mangel an Tagespflege- personen. Wir stehen vor der Mammutaufgabe, inner- halb eines Jahres rund 30 000 Tagespflegepersonen zu gewinnen, wohl gemerkt: gut ausgebildete Tagesmütter und Tagesväter. Auch wenn der Anteil der Tagespflege- personen, die über gar keine oder nur eine rudimentäre Qualifizierung verfügen, in den vergangenen Jahren ge- sunken ist, ist dieser Anteil mit 21 Prozent immer noch erschreckend hoch. Wir Grüne sind der Ansicht, dass Ta- gespflegepersonen mindestens einen zertifizierten Quali- fizierungskurs nach dem DJI-Curriculum mit 160 Unter- richtsstunden abgeschlossen haben bzw. solch einen Kurs berufsbegleitend besuchen sollten. Wenn die Kindertagespflege ihrem gesetzlichen Auf- trag gerecht werden soll, müssen wir bei der Qualität dringend nachlegen: denn nur eine qualitativ hochwer- tige Kindertagespflege kann einen echten Beitrag bei der Realisierung des Rechtsanspruchs leisten. Daher fordere ich Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition auf, es nicht nur bei wohlmeinen- den Absichtsbekundungen zu belassen. Machen Sie end- lich Nägel mit Köpfen, und investieren Sie das Geld in den U-3-Ausbau statt in das unsinnige Betreuungsgeld! Anlage 16 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Beschlussempfehlung zu den Anträgen: – Kinder- und Jugendtourismus unterstüt- zen und weiter fördern – Reisen für Kinder und Jugendliche er- möglichen – Förderung sicherstellen und „Aktionsplan Kinder- und Jugendtouris- mus in Deutschland“ weiterentwickeln 22192 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 (A) (C) (D)(B) – Beschlussempfehlung zu dem Antrag: – Mitgliedschaft in der International Orga- nisation of Social Tourism (Tagesordnungspunkt 28 a und b) Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der im Jahr 2002 vom Deutschen Bundestag beschlossene rot-grüne Aktionsplan zum Kinder- und Jugendtouris- mus in Deutschland hat die Grundlage für die heutige politische Ausrichtung geschaffen. Es wurden jedoch nur unzureichende Veränderungen auf den Weg ge- bracht. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema lässt schnell erkennen, dass der Kinder- und Ju- gendtourismus erst am Anfang einer notwendigen (Wei- ter-)Entwicklung steht. Die verbesserte Datenlage besagt, dass im Jahr 2008 mehr als 30 Millionen Reisen mit einer Dauer von min- destens zwei Tagen von deutschen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen im Alter bis einschließlich 26 Jahre unternommen wurden. Hierbei wurden 12 Milliarden Euro von Deutschen für Kinder- und Jugendreisen aus- gegeben. Jugendliche und junge Erwachsene unterneh- men circa 20 Prozent der Urlaubsreisen in Deutschland. Nicht nur innerhalb des Landes spielt das Tourismus- segment eine bedeutende Rolle. Mehr als 11 Millionen junge Europäer zwischen 15 und 35 Jahren besuchen mittlerweile Deutschland während ihrer Freizeit. Die Welttourismusorganisation UNWTO geht davon aus, dass der Marktanteil von Kindern und Jugendlichen im Tourismus in Zukunft bei rund 25 Prozent liegen wird. Wir reden heute über zwei Anträge. Auf der einen Seite haben wir einen Antrag von der Koalition. Der Feststellungsteil ist wie schon beim Thema „Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen“ gut und lässt hoffen. Leider sind viele wichtige und auch kritische Punkte nicht aufgegriffen, die nicht unerwähnt bleiben sollten. Es fehlt an Ansätzen zur sozialen Teilhabe. Der Präven- tionsgedanke kommt nicht vor. Auch eine Unterschei- dung von kommerziellen und nichtkommerziellen An- bietern kommt nicht vor. Was allerdings in den Forderungen kommt, ist größtenteils äußerst dürftig. Denn es folgen fast ausschließlich Prüfaufträge. Erstaun- lich ist auch, dass im Feststellungsteil noch völlig richti- gerweise auf die Bedeutung von energetischer Sanierung hingewiesen wird, eine Forderung dazu findet sich aber nicht. Wir Grüne haben daher in verschiedenen Gesprä- chen versucht, mit einigen Forderungen etwas Fleisch an den Knochen zu bekommen. Das ist leider nicht möglich gewesen. Der Antrag besitzt auch einige handwerkliche Schwächen, die man ebenfalls hätte ausräumen können – wenn es denn gewollt gewesen wäre. Wir wären hier gerne zu einem interfraktionellen Ergebnis gekommen, um den Kinder- und Jugendtourismus, wo wir im Ziel alle übereinstimmen, voranzutreiben. Mit diesem Antrag wird das sicher nicht passieren. Deshalb ist er so leider nicht zustimmungsfähig. Es ist bedauerlich, dass es nicht möglich gewesen ist, auf der Basis des SPD-Antrags interfraktionelle Ver- handlungen zu führen. Denn der Antrag der SPD wäre eine solide Basis in seinen Forderungen gewesen, hätte den Koalitionsantrag damit sinnvoll ergänzt. Der Antrag geht mit seinen Forderungen sehr viel weiter und ist da- mit schon sehr viel zielführender. Doch Kinder- und Ju- gendunterkünfte sind nicht nur Jugendherbergen. Diese machen lediglich 10 Prozent aus. Zudem fehlt es auch hier an einigen Punkten, wie beispielsweise einer konsis- tenten Datenlage, einer gezielten Ausrichtung auf Nach- haltigkeit und konzertierten Aktionen zur Verbesserung der Qualifizierung und Qualität. Wir Grüne wollen die im Aktionsplan aus dem Jahre 2002 aufgestellten acht Ziele, die innerhalb der Branche weiterhin begrüßt werden, mit neuen Kriterien und Zwi- schenzielen versehen. Der novellierte Aktionsplan sollte in Zusammenarbeit von Bund und Ländern erarbeitet und fortgeführt werden sowie gemeinsame Ziele festlegen. Die Qualität und Teilhabe bei Kinder- und Jugendrei- sen muss weiter entwickelt werden, indem unter ande- rem Sanierungen von Unterkünften mit dem Ziel der Energieeffizienz, der Umstellung auf erneuerbare Ener- gien sowie der Inklusion unterstützt werden. Für die ver- schiedenen Gütesiegel im Kinder- und Jugendtourismus wäre ein Dachlabel hilfreich, und weitere Zertifizierun- gen über QMJ sollten auch für Kleinst- und Kleinbe- triebe ermöglicht oder erleichtert werden. Das zielgerichtete Aus- und Fortbilden von Personal vor dem Hintergrund der nachhaltigen Bildung, Gesund- heit, Sicherheit, Inklusion oder Ähnlichem in Kinder- und Jugendreiseunterkünften muss unterstützt werden, wie es beispielsweise bei Jugendherbergen über die ei- gene Akademie gewährleistet wird. Leider ist das nur für DJH-Werke möglich. Bei den Ländern sollte auch darauf hingewirkt wer- den, dass Kinder- und Jugendmobilität sowie nachhal- tige Mobilität in die Lehrerausbildung aufgenommen werden. Neben Klassenfahrten sollten auch außerschuli- sche Urlaubsangebote, die dem pädagogischen Ziel der nachhaltigen Bildung dienen, im SGB III verankert wer- den, und auch die Vielfalt außerschulischer Lernorte und die Vielfalt der Anbieter muss anerkannt werden. Wir Grüne wollen insbesondere Projekte zum sozia- len Lernen und zur Gesundheitsprävention, wie bei- spielsweise gesunde Ernährung, Bewegung und Stressre- gulation für Kinder und Jugendliche, unterstützen. Die Jugendaktion GUT DRAUF der Bundeszentrale für ge- sundheitliche Aufklärung ist hier als ein sehr schönes Beispiel zu nennen. Wir Grüne wollen zudem die Datenlage im Kinder- und Jugendreisesegment dauerhaft erfassen, sichern und gezielt verbessern, um entsprechend der demografischen Entwicklung notwendige Planungsschritte beachten zu können, indem erstens mit einer konzertierten Aktion alle bekannten Kinder- und Jugendunterkünfte zur Mel- dung unter einer einheitlichen Kategorie „Jugendher- berge oder ähnliche Einrichtung, Hütte“ aufgefordert werden. Zweitens sollten alle fünf Jahre regelmäßige Kennzahlen und Daten in verschiedenen Altersgruppen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Juni 2012 22193 (A) (C) (D)(B) zum Kinder- und Jugendtourismus, wie beispielsweise Reisehäufigkeit und -intensität, ehrenamtliche und nichtehrenamtliche Betreuer sowie Betreuerschlüssel, Größe der Reisegruppe, familiärer Hintergrund, Kennt- nisstand über nachhaltige Mobilität beziehungsweise nachhaltigen Tourismus, erhoben werden. Die Daten- erhebung sollte weiterhin über die Jugendhilfestatistik ermöglicht werden. Nur wenn es uns gelingt, die Datenlage sauber zu erfassen, werden wir auch zukünf- tig über dieses wichtige Segment debattieren und an- schließend politische Forderungen ableiten können. Des- halb ist hier Sorgfalt gefragt. Diese fehlt leider bei beiden Anträgen. Anlage 17 Erklärung der Abgeordneten Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung zu dem Antrag: Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit Ressort- forschungsaufgaben stärken (Tagesordnungs- punkt 24) Ich erkläre im Namen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, dass unser Votum „Nein“ lautet. 184. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3 Regierungserklärung zum G20-Gipfel in Mexiko TOP 4 Entgeltgleichheitsgesetz TOP 52, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 53, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache TOP 6 Wahl eines Mitglieds in das PKGr TOP 7 Wahl der Mitglieder des StabMechG-Gremiums ZP 4 Aktuelle Stunde zum Netzentwicklungsplan TOP 9 Abstandsgebot im Recht der Sicherungsverwahrung TOP 8 Risiken der Riester-Rente TOP 5 Nachtragshaushaltsgesetz TOP 10 Diskriminierungsschutz für Hinweisgeber TOP 11 Bundeswehrreform TOP 12 Ausbeuterische Kinderarbeit TOP 13 Kloster Mor Gabriel TOP 14 UN-Nachhaltigkeitskonferenz in Rio TOP 15 Tokio-Konferenz zur Entwicklungspolitik TOP 16 Maßnahmen gegen unseriöses Inkasso TOP 17 Bundeswehreinsatz (UNIFIL) TOP 18 Auskunftspflichten der Europäischen Zentralbank TOP 19 Pauschal-Entgelte in der Gesundheitsversorgung TOP 20 Übersetzungserfordernis von EU-Dokumenten TOP 21 Wasser- und Schifffahrtsverwaltung TOP 22 Kindertagesbetreuung TOP 23 Barrierefreier Tourismus TOP 24 Bundeseinrichtungenmit Ressortforschungsaufgaben TOP 25 Schutz für Flüchtlinge TOP 26 Exzellenzinitiative in der Lehrerausbildung TOP 27 Schienenverkehr zwischen Deutschland und Polen TOP 28 Kinder- und Jugendtourismus TOP 31 Menschenrechte in Zentralasien TOP 30 Regionale Wirtschaftsstruktur TOP 36 Europäische Förderung der Atomenergie TOP 32 Vereinfachung des Elterngeldvollzugs TOP 33 Drogenpolitik TOP 34 Strafrechtsänderungsgesetz (Kronzeugenregelung) TOP 35 Wohnungsrechtliche Vorschriften TOP 38 Freiwilligendienst TOP 37 Wertpapierhandel TOP 40 UN-Waffenhandelsvertrag TOP 39 EU-Klimaziel TOP 41 Sicherheitskonzepte für Offshore-Windparkanlagen TOP 43 Bundesanstalt für Immobilienaufgaben TOP 42 Situation der Roma in der EU TOP 44 Europäische Grundwerte in Ungarn TOP 45 Arbeitslosenversicherung Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718400000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Ich möchte Sie zu Beginn unserer Plenarsitzung da-
rauf aufmerksam machen, dass unser Kollege Hans-
Ulrich Klose heute seinen 75. Geburtstag feiert.


(Beifall)


Lieber Kollege Klose, mit diesem Beifall des ganzen
Hauses kommen nicht nur die guten Wünsche für die
nächsten Jahre zum Ausdruck, sondern zweifellos auch
die große Sympathie und die große Wertschätzung, derer
Sie sich im ganzen Hause erfreuen. Ich weiß, dass heute
Abend auch aus diesem Anlass die Deutsche Parlamen-
tarische Gesellschaft zu einer besonderen Veranstaltung
zusammentritt, die sicherlich Gelegenheit bieten wird,
dieses besondere Ereignis auch in einer besonderen
Weise zu würdigen. Noch einmal alle guten Wünsche!


(Beifall)


Am 22. Mai hat der Kollege Bernhard Brinkmann,
den wir heute nach längerer Krankheit wieder unter uns
begrüßen können, seinen 60. Geburtstag gefeiert. Auch
ihm möchte ich auf diesem Wege herzlich gratulieren.


(Beifall)


Wir freuen uns, dass Sie wieder dabei sind, und wün-
schen Ihnen für das neue Lebensjahr alles Gute und eine
stabile Gesundheit.

Wir haben in den zurückliegenden Tagen immer mal
wieder weitere Geburtstage von Kollegen gefeiert. Ich
darf nur die etwas auffälligeren erwähnen: Der Kollege
Hans-Christian Ströbele hat seinen 73., die Kollegin
Helga Daub ihren 70. und der Kollege Wolfgang
Bosbach seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ihnen allen gel-
ten unsere guten Wünsche.


(Beifall)


Bedauerlicherweise hat die Kollegin Nicolette Kressl
mit Wirkung vom 1. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist die Kollegin

Annette Sawade nachgerückt. Im Namen des Hauses
darf ich sie herzlich begrüßen.


(Beifall)


Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.

Schließlich müssen wir vor Eintritt in die Tagesord-
nung noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die
SPD-Fraktion schlägt vor, für die Kollegin Aydan
Özoğuz die gerade begrüßte Kollegin Annette Sawade
als Schriftführerin zu wählen. Das ist eine der schnells-
ten parlamentarischen Karrieren, an die ich mich erin-
nern kann. Wir wollen einmal sehen, ob das auch die
notwendige Mehrheit findet. Ist jemand gegen diesen
Vorschlag? – Möchte sich jemand der Stimme enthalten? –
Dann sind Sie gleich am ersten Tag Ihrer Mitgliedschaft
in diesem Hause in dieses wichtige Amt gewählt. Ich
darf die allgemeine Freude auf die Zusammenarbeit um
die besondere Freude auf die Zusammenarbeit hier oben
ergänzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er-
weitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Umstrittene Nutzung des Auslandsnachrich-
tendienstes für den Transport eines von BM
Niebel privat gekauften Teppichs

(siehe 183. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 52

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Lieferung von U-Booten an Israel stoppen

– Drucksache 17/9738 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss

ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 53

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“

– Drucksache 17/9939 –

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der
Energiewende

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Tobias Lindner, Nicole Maisch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im
Wettbewerbsrecht verankern

– Drucksache 17/9956 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit
Behinderung fairen Zugang zum Arbeits-
markt ermöglichen

– Drucksache 17/9931 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 29 und
53 e abgesetzt. Darüber hinaus kommt es in der Zusatz-
punktliste zu Änderungen im Ablauf, die dargestellt
sind.

Darf ich von Ihrem Einvernehmen ausgehen? – Das
ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum G-20-Gipfel am 18./19. Juni 2012 in Los
Cabos (Mexiko)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist auch das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1718400100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Nächste Woche wird in Los
Cabos in Mexiko der diesjährige G-20-Gipfel stattfin-
den. Seit Beginn der Finanzkrise 2008/2009 hat sich die
G 20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs als
zentrales Forum für die internationale wirtschaftliche
Zusammenarbeit etabliert. Geboren ist dieses Forum aus
der Erfahrung der wechselseitigen Abhängigkeit, in der
wir auf der Welt zusammenleben, insbesondere nach
dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Seither ist
die Agenda der G 20 von der allein akuten Krisenbewäl-
tigung hin zu einer wirklich breiten globalen Zusammen-
arbeit erweitert worden. Internationale wirtschaftliche
Zusammenarbeit ist deshalb heute umfassend zu verste-
hen. Alle Themen, die auf der Tagesordnung stehen, ord-
nen sich dieser gemeinsamen internationalen Zusam-
menarbeit unter.

Erstens wird es um das sogenannte Green Growth ge-
hen. Es steht auf der G-20-Agenda der diesjährigen me-
xikanischen Präsidentschaft ganz oben. Ich begrüße,
dass Mexiko hier einen Schwerpunkt setzt, auch mit
Blick auf den danach stattfindenden Gipfel Rio+20 in
Brasilien. Grünes Wachstum ist ein Thema für alle G-20-
Staaten, egal ob sie Schwellen- oder Industrieländer
sind; denn nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit gilt
das Prinzip der gemeinsamen, wenn auch im Einzelfall
unterschiedlichen Verantwortung. Es müssen Wege ge-
funden werden, mit denen Wirtschaftswachstum, Klima-
und Umweltschutz weltweit in Einklang gebracht wer-
den können. Das kann nur geschehen, wenn wir die
Wachstumsdynamik so gestalten, dass sie von Innovatio-
nen und grünen Technologien, Verfahren und Produkten
getragen wird. Es geht also darum, ökonomische, ökolo-
gische und soziale Aspekte gleichermaßen zu berück-
sichtigen. Das Ganze wird dann Inclusive Green Growth
genannt. Das Ergebnis, wenn dieser Grundsatz beherzigt
wird, ist das, was unter dem Stichwort Nachhaltigkeit
diskutiert wird.

Es geht hier allerdings um sehr konkrete Dinge. Wir
dürfen nicht vergessen, dass von den 7 Milliarden Men-
schen, die auf der Welt leben, 1 Milliarde akut von Hun-
ger bedroht ist. Das heißt, es geht darum, Hunger zu
bekämpfen, die Biodiversität zu erhalten, dem Klima-
wandel zu begegnen. Wir wissen, dass Fortschritte,





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


wenn es um verbindliche internationale Abkommen
geht, in diesem Bereich eher im Schneckentempo erzielt
werden. Es ist ein gutes Signal, dass es in Durban gelun-
gen ist, wenigstens die Absicht zu verfestigen, dass wir
ein weltweit bindendes Klimaabkommen brauchen.
Aber der Weg ist mühsam. Doch genau das liegt im Inte-
resse des gesamten Deutschen Bundestages bzw. der
Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wird sich die
deutsche Delegation, geführt von Umweltministerium
und Entwicklungsministerium, bei Rio+20 genau dafür
einsetzen.

In Los Cabos werden wir darüber beraten, welchen
Beitrag die grüne Ökonomie für eine nachhaltige Ent-
wicklung leisten kann, auch und gerade im Zusammen-
hang mit der Armutsbekämpfung und der Sicherung der
Ernährung. Es geht um nachhaltige Produktion und Pro-
duktivität im Agrarsektor. Es geht darum, die Situation
der Kleinbauern zu verbessern. Wir werden insbe-
sondere über spezielle Finanzierungsmechanismen für
Kleinbauern beraten. Es ist deshalb sehr wichtig, dass es
vor kurzem gelungen ist, eine Einigung über die freiwil-
ligen Leitlinien zu den Landnutzungsrechten zu erzielen.
Das mag uns aus unserer Perspektive hier heute Morgen
sehr fern vorkommen. Für Millionen von Menschen
kann es aber eine Zukunft bedeuten. Wir haben über die
entsprechende Agenda schon beim G-8-Gipfel in Camp
David diskutiert und dort eine neue Allianz zur Ernäh-
rungssicherung geschaffen. Dies soll im Rahmen der
G 20 fortgesetzt werden. Ziel ist es, in den nächsten zehn
Jahren 50 Millionen Afrikanern aus der Armut zu helfen –
ich glaube, ein zutiefst menschliches Anliegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet
die G 20 auch bei einem zweiten Thema, nämlich der
Beschäftigung. Gerade dieses Ziel wird im Rahmen der
G 20 von der Gruppe der Gewerkschaftsvertreter und
der Internationalen Arbeitsorganisation sehr intensiv
verfolgt. Es geht hier vor allen Dingen um den Kampf
gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Das ist nicht nur ein
Problem in Europa, sondern ein weltweites Problem. Es
wird deshalb auch in Los Cabos diskutiert. Es gibt eine
Vielzahl von Vorschlägen zur Förderung der Jugendbe-
schäftigung. Da geht es um den reibungslosen Übergang
von der Schule in den Beruf, praxisorientierte Ausbil-
dung, die Förderung von beruflicher Ausbildung. Ich
glaube, Deutschland kann und wird hier seinen Erfah-
rungsschatz aus dem dualen Berufsausbildungssystem
sehr gut einbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Erfahrung zeigt, dass, wenn wir das schaffen wollen,
wir es nur gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerk-
schaften schaffen werden. Wir in Deutschland haben ge-
rade in der Krise 2008/2009 gute Erfahrungen mit der
sozialen Marktwirtschaft gemacht. Dieses Beispiel kann,
glaube ich, weltweit Schule machen.

Drittens gehört zu dem Thema der internationalen
wirtschaftlichen Zusammenarbeit der freie Handel. Hier
ist ein deutliches Wort notwendig, und ich werde dort
auch entsprechend auftreten. Das Bekenntnis zum freien

Handel ist zu oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Monito-
ringberichte der internationalen Organisationen zeigen,
dass die G 20 ihre Selbstverpflichtung in Sachen Protek-
tionismus bislang nicht immer ernst genug genommen
hat. WTO, OECD und UNCTAD haben zuletzt Ende
Mai mit Sorge darauf hingewiesen, dass mittlerweile fast
4 Prozent des Handels der G-20-Staaten von solchen
handelsbeschränkenden Maßnahmen betroffen sind. Es
führt deshalb kein Weg daran vorbei, wirksame Instru-
mente zu schaffen, um dieser Entwicklung entschieden
zu begegnen. Protektionismus verhindert Wachstum.
Wir brauchen nicht tagelang über Wachstum zu spre-
chen, wenn wir anschließend nicht bereit sind, im Sinne
von freiem Handel alles zu tun, um Wachstum zu för-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Thema wird in Los Cabos sehr konkret werden;
denn wir haben bei der G 20 ein sogenanntes Stillhalte-
abkommen zur Begrenzung des Protektionismus, das
Ende 2013 ausläuft. Wir müssen es in Los Cabos verlän-
gern, und zwar möglichst weit in die Zukunft hinein,
weil internationaler Handel Impulse für Innovation,
Wachstum und Beschäftigung schafft. Wir wissen, dass
die Doha-Runde stockt. Deshalb müssen wir vor allen
Dingen regionale und bilaterale Ansätze voranbringen.
Die Europäische Union führt hierzu strategische Gesprä-
che mit wichtigen Partnern in Asien und Lateinamerika.
Deutschland ist bei diesen Verhandlungen immer ein
konstruktiver Partner.

Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit ver-
langt viertens und nicht zuletzt die Stärkung der Institu-
tionen. Wir haben seit 2009 eine erstaunliche, auch sehr
schnelle Entwicklung gehabt, bei der internationale Or-
ganisationen gestärkt wurden. Das gilt insbesondere für
den Internationalen Währungsfonds. Der Internationale
Währungsfonds muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage
sein, seine überaus wichtige Aufgabe zugunsten aller
Mitgliedsländer wahrzunehmen. Deshalb war es wichtig,
dass es auf der Frühjahrstagung des IWF gelungen ist,
die Ressourcen aufzustocken. Wir erinnern uns: Zusätz-
liche finanzielle Mittel in Höhe von 430 Milliarden US-
Dollar, davon allein rund 150 Milliarden Dollar aus der
Euro-Zone, sprechen hier eine eigene Sprache.

Jetzt geht es aber auch um die Umsetzung der 2010
beschlossenen IWF-Quotenreform. Hier geht es um die
neue Machtbalance, die letztlich widerspiegelt, wie sich
die ökonomischen Verhältnisse weltweit verändert ha-
ben. Das heißt, die Schwellenländer werden einen größe-
ren Einfluss im IWF bekommen. Deutschland hat diese
Quotenreform national fristgerecht umgesetzt, aber das
haben noch nicht alle gemacht. Ich meine, es ist eine
Frage der Glaubwürdigkeit auch für die internationale
Zusammenarbeit, dass alle Mitgliedstaaten dieser Quo-
tenreform gerecht werden, damit der IWF auch arbeiten
kann.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)


Der IWF hat nicht nur die Rolle, finanzielle Mittel in
Notfällen bereitzustellen, sondern er entwickelt sich





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


auch immer mehr zu einem Überwachungs- und Bera-
tungsgremium. Er hat ja bei der Bekämpfung der euro-
päischen Schuldenkrise eine ganz wichtige Aufgabe im
Rahmen der Troika. Ich will an dieser Stelle noch einmal
daran erinnern, meine Damen und Herren, dass es die
Troika war – der IWF an vorderster Stelle mit dabei –,
die die Programme für Griechenland, für Portugal und
für Irland ebenso wie Programme für andere europäische
Länder, die wie zum Beispiel Lettland nicht im Euro-
Raum sind, entwickelt hat, und dass deshalb diese Pro-
gramme auf internationalem Fundament ruhen und aus
diesem Grunde auch umgesetzt werden müssen.

Die Themen grünes Wachstum, Bekämpfung der Ju-
gendarbeitslosigkeit, freier Handel, Stärkung der Institu-
tionen sind von größter Bedeutung. Aber machen wir
uns nichts vor: So wichtig all diese Themen sind, so sehr
werden sie in Los Cabos alle im Schatten eines Themas
stehen, das seit gut zwei Jahren auch uns, Deutschland,
Europa und die Welt nahezu unablässig beschäftigt,
nämlich die Staatsschuldenkrise in Europa. Sie wird zen-
trales Thema in Los Cabos sein. Sie wird die Beratungen
– so sehe ich voraus – auch dominieren.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine schöne Veranstaltung für die Bundeskanzlerin!)


Damit – daran gibt es nicht den geringsten Zweifel –
wird gerade auch unser Land, wird Deutschland einmal
mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber einer positiven Aufmerksamkeit! – Zuruf von der SPD: Das sehen wir auch so!)


Es ist so: Alle Augen richten sich auf Deutschland, weil
wir die größte Volkswirtschaft im europäischen Raum
und weil wir eine große Exportnation sind. Deshalb
möchte ich noch einmal daran erinnern: Es ist zwar viel
passiert seit dem letzten Gipfel in Cannes – Aufstockung
des Rettungsschirms, strukturelle Reformen in vielen
Ländern, Verhandlungen um den Fiskalvertrag; wir sind
auf dem Weg, uns in Europa intensiver als jemals zuvor
abzustimmen und die Union weiter zu vertiefen –, aber
das wird nichts daran ändern, dass die aktuelle Situation
dort auf der Tagesordnung steht.

Wir beachten immer, dass die Stärkung des Wachs-
tums und die Haushaltskonsolidierung Hand in Hand ge-
hen müssen. Im Übrigen sind alle Programme, die von
der Troika verabschiedet wurden, genau diesem Ziel ge-
schuldet. Diese beiden Säulen gehören in der Krise in
Europa zusammen. Beide Säulen sind unverzichtbar.
Beiden Säulen liegt die Überzeugung zugrunde, dass wir
die Krise nur nachhaltig überwinden können, wenn wir
an ihren Wurzeln ansetzen: an der massiven Verschul-
dung und vor allem an der mangelnden Wettbewerbsfä-
higkeit einzelner Mitgliedstaaten wie auch an der man-
gelnden Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit Europas,
die entsteht, wenn es seine eigenen Regeln nicht einhält.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur eine schonungs-
lose Analyse unserer eigenen Erfahrungen in Europa
weist uns den Weg aus der Krise.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann legen Sie mal los!)


Immer wieder haben wir in Europa unsere Ziele nicht
eingehalten. Im Jahre 2000 wurde von den Staats- und
Regierungschefs beschlossen, dass man 2010 der dyna-
mischste Kontinent der Welt sein wolle. Wir haben dies
erkennbar nicht erreicht.

Ich sage auch: Angefangen hat diese Entwicklung bei
der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion vor
20 Jahren. Eigentlich sollte sie auf dem Fundament einer
politischen Union aufgebaut werden.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Eben!)


Es gab damals zwei große Konvente bzw. Gruppen, die
zwei Aufgaben hatten: Die eine hatte die Aufgabe, die
Währungsunion zu schaffen, die andere die Aufgabe, die
politische Union zu schaffen. Anschließend hat man die
Währungsunion beschlossen, die politische Union aber
nie realisiert.

Deshalb ist es unsere Aufgabe, heute das nachzuho-
len, was damals versäumt wurde, und den Teufelskreis
von immer neuen Schulden, von nicht eingehaltenen Re-
geln zu durchbrechen. Ich weiß, dass das mühsam ist,
dass das schmerzhaft ist, dass das langwierig ist. Es ist
eine Herkulesaufgabe, aber sie ist unvermeidlich. Alles
andere wäre Augenwischerei und würde uns in noch
schwierigere Probleme führen – vielleicht nicht morgen,
aber mit aller Sicherheit in ziemlich kurzer Zeit, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal die
Frage stellen, die uns beschäftigen muss, mit der man
sich ja auch weltweit beschäftigt: Wie konnte eigentlich
die internationale Finanzkrise 2008/2009 entstehen?


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interessante Frage!)


Sie konnte entstehen und fatale Wirkungen entfachen,
weil immer wieder Fakten ignoriert wurden, Wechsel auf
die Zukunft gezogen wurden, Kräfte überschätzt wurden
und riskante Instrumente finanzieller Art angewandt
wurden. So ist die Immobilienkrise entstanden, so wurde
zu viel Liquidität bereitgestellt, so konnten neue Finanz-
produkte entwickelt werden – ein Teufelskreis, den wir
für die Zukunft durchbrechen müssen.

Wir müssen verstehen: Erfolgreich werden wir nur
sein, wenn alle – ich betone: wirklich alle –, die Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union, die europäischen
und internationalen Institutionen genauso wie die Ge-
sellschaften unserer Länder, bereit und in der Lage sind,
die Fakten anzuerkennen und die Kräfte jeweils realis-
tisch einzuschätzen und sie zum Wohle des Ganzen auch
wirklich einzusetzen. All denen, die in diesen Tagen in
Los Cabos wieder auf Deutschland schauen, die von
Deutschland den Paukenschlag und die Lösung erwar-
ten, die Deutschland von Euro-Bonds, Stabilitätsfonds,





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


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europäischen Einlagensicherungsfonds, noch mehr Mil-
liarden und vielem mehr überzeugen wollen, sage ich
deshalb: Ja, Deutschland ist stark, Deutschland ist Wirt-
schaftsmotor, und Deutschland ist Stabilitätsanker in Eu-
ropa. Und ich sage: Deutschland setzt diese Stärke und
diese Kraft auch ein, und zwar zum Wohle der Menschen –
nicht nur in Deutschland, sondern auch im Dienste der
europäischen Einigung und auch im Dienste der Welt-
wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Warum tun wir das? Weil wir überzeugt sind: Europa
ist unser Schicksal und unsere Zukunft. Und weil wir
überzeugt sind: Scheitert der Euro, dann scheitert Eu-
ropa. Aber wir wissen ebenfalls: Auch Deutschlands
Stärke ist nicht unendlich; auch Deutschlands Kräfte
sind nicht unbegrenzt. Deshalb besteht unsere besondere
Verantwortung als größte Volkswirtschaft in Europa da-
rin, unsere Kräfte glaubwürdig einzuschätzen, damit wir
sie für Deutschland und Europa mit voller Wirkung ein-
setzen können. Das gelingt nur, wenn wir unsere Kräfte
nicht überschätzen, sondern wenn wir glaubwürdig
Schritt für Schritt unseren Weg zu einer politischen
Union gehen.

Alle Mittel, alle Maßnahmen, alle Pakete wären am
Ende Schall und Rauch, wenn sich herausstellen sollte,
dass sie über Deutschlands Kräfte gehen, dass sie
Deutschland überfordern. In dem Moment würden alle
Maßnahmen, die jetzt gefordert werden, ihre Wirkung
sofort verlieren, und wir würden von den Märkten wie-
der abgestraft. Deshalb sage ich: Wir sind verpflichtet,
zum Wohle unseres Landes, aber auch zum Wohle Euro-
pas zu arbeiten. Das heißt, wir dürfen uns nicht nach
dem Mittelmaß richten, nach der schnellen Lösung su-
chen, sondern wir müssen das Beste für unser Handeln
versuchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese scheinbar einfachen Vergemeinschaftungsüber-
legungen, ganz abgesehen davon, dass sie verfassungs-
rechtlich gar nicht machbar sind, sind somit völlig kon-
traproduktiv. Sie würden das Mittelmaß für Europa zum
Maßstab erklären. Wir würden damit unseren Anspruch
aufgeben, unseren Wohlstand im weltweiten Wettbewerb
zu halten. Wir würden die Fehler der Anfangszeit des
Euro, als die Märkte uns mit fast einheitlichem Zins be-
urteilt haben, jetzt politisch wiederholen. Damit würden
wir eben nicht an der Wurzel unseres Problems ansetzen,
sondern die Probleme allenfalls kurzfristig verschleiern.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie haben es immer noch nicht kapiert!)


Manchen Marktteilnehmern mag das recht sein – das
kann ich verstehen –; aber wir machen Politik doch nicht
im Auftrag der Märkte, sondern wir machen sie für die
Zukunft der Menschen in unserem Lande.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Natürlich machen Sie das! Genau das machen Sie! Sie machen Politik für die Deutsche Bank und die Allianz! – Thomas Oppermann [SPD]: Das hörte sich schon einmal anders an!)


Wir haben unverändert das Ziel, dass Europa stärker
aus dieser Krise hervorgeht, als es in sie hineingegangen
ist. Deshalb müssen wir umfassend unsere Strukturen re-
formieren. Es gibt ganz einfache Ausarbeitungen, zum
Beispiel der Weltbank, wo beschrieben steht, wie Europa
seinen Glanz wiederherstellen kann: „Restoring the
lustre of the European economic model“. Allein schon in
diesem Titel drückt sich aus, dass bei uns etwas nicht
richtig gelaufen ist.

Wir müssen mehr Innovationen haben. Wir brauchen
mehr neue Technologien. Wir müssen den Binnenmarkt
vervollständigen. Wir müssen einen Arbeitsmarkt in Eu-
ropa schaffen, auf dem mehr Mobilität herrscht. Wir
müssen unsere Mittel, die Strukturfondsmittel, die Kohä-
sionsfondsmittel, besser einsetzen. Wir müssen Bürokra-
tie abbauen. Über alles das sprechen wir jetzt auch im
Zusammenhang der Vorbereitung des Rates mit den Ver-
tretern der Oppositionsfraktionen. Ich glaube, das sind
gute Gespräche. Dass wir all das nicht ausreichend getan
haben, dass wir die Regeln immer wieder nicht eingehal-
ten haben, hat Europa Vertrauen gekostet – Vertrauen auf
den Märkten und bei den Investoren. Dieses Vertrauen
muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden.

Meine Damen und Herren, nehmen wir Spanien. Spa-
nien macht – nach langer Zeit – die richtigen Reformen.
Der spanische Ministerpräsident tut dies mit großem
Mut und großem Engagement.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber Spanien sitzt auf den Folgen einer Immobilien-
blase, die durch unverantwortliches Handeln in den letz-
ten zehn Jahren entstanden ist. Deshalb war es auch rich-
tig, dass Spanien sich anschickt, einen Antrag zu stellen,
um die Solidarität Europas in Anspruch zu nehmen, da-
mit die Folgen dieser Vergangenheit bewältigt werden
können. Denn wir wissen: Banken müssen vernünftig
kapitalisiert sein, um den Wirtschaftskreislauf am Lau-
fen zu halten. Das ist die Lehre von 2008/2009.

Natürlich wird dies auch eine Konditionalität für die
Zukunft des spanischen Bankensektors beinhalten. In
diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass wir in
Deutschland ebenfalls relativ leidvolle Erfahrungen mit
der Umstrukturierung einiger Banken sammeln mussten.
Je schneller der Antrag von Spanien gestellt werden
kann, umso besser ist es.

Am Fall Spanien können wir aber auch noch ein Wei-
teres sehen. Vor einem halben Jahr hat die neu geschaf-
fene europäische Bankenaufsicht einen Stresstest für alle
Banken in Europa durchgeführt. Bei diesem Stresstest
damals haben die nationalen Bankenaufseher sehr viel
mitgesprochen. Meine Damen und Herren, das Ergebnis
können wir heute besichtigen: Die spanischen Banken
befinden sich in einer anderen Lage, als es der Stresstest
erscheinen ließ.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die europäische Bankenaufsicht blockiert? Sie doch!)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


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Deshalb geht es – das kann man an diesem Beispiel ex-
emplarisch sehen – in Europa um unabhängige Aufsicht,
zum Beispiel im Bankensektor. Ich hätte nichts dagegen,
wenn die Europäische Zentralbank hier künftig eine stär-
kere Rolle einnimmt, damit sie auch Aufsichtsbefug-
nisse bekommt, die uns davor schützen, dass nationale
Einflüsse uns Probleme verschleppen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir brauchen eine glaubwürdige Bankenaufsicht. Wir
brauchen auf der Ebene der EU eine klarere Beurteilung,
wie wir Strukturfondsmittel besser in Maßnahmen und
Investitionen lenken, um Wachstum, Wettbewerbsfähig-
keit und Beschäftigung zu stärken. Die Tatsache – das ist
bereits ein Schritt dessen, was wir im sogenannten Six-
Pack miteinander beschlossen haben –, dass die Europäi-
sche Kommission heute Länderberichte für jedes Land
vorlegt


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch für Deutschland! Zum Beispiel gegen das Ehegattensplitting!)


und darin die Wettbewerbsschwächen schonungslos ana-
lysiert, ermöglicht es uns natürlich auch, die Struktur-
fondsmittel in Zukunft sehr viel zielgerichteter einzuset-
zen.

Es ist vollkommen richtig: Auch Deutschland werden
Hausaufgaben aufgegeben. Herr Trittin, wenn wir dann
über die bessere Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie
sprechen, werden wir sicher ganz schnell zusammen-
kommen; denn gerade im Dienstleistungsbereich wird
Deutschland immer mangelnde Wettbewerbsfähigkeit
vorgeworfen.


(Zuruf von der LINKEN: Noch mehr Lohndumping!)


Ich weiß, dass das uns allen schwerfällt. Ich sage aber
auch: Wenn wir ein glaubwürdiger Partner in Europa
sein wollen, müssen auch wir unsere Hausaufgaben ma-
chen und können nicht immer sagen, dass uns das gerade
nicht passt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, der Fiskalpakt ist auch
deshalb von so großer Bedeutung, weil er ein erster
Schritt ist, mehr Gemeinsamkeit mit mehr Kontrolle auf
europäischer Ebene zu verbinden. Es wird ganz wichtig
sein, zu berücksichtigen, dass nationale Kompetenzen
nur dann abgegeben werden können, wenn klar ist, dass
Vergemeinschaftung auch immer mit unabhängiger Kon-
trolle der europäischen Institutionen verbunden ist. Haf-
tungen und Kontrollen gehören zusammen. Alle anderen
Diskussionen führen nur zu einer Scheinlösung unserer
Probleme.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Europa hat sich aufgemacht, die Wirtschafts- und
Währungsunion zu vollenden. Wir sind hier mit Sicher-
heit in einem Wettlauf mit den Märkten. Das spüren wir
jeden Tag. Ich kann uns aber nur dringend raten – und
ich werde in Los Cabos dafür eintreten –, dass wir diesen
Weg Schritt für Schritt weitergehen, damit das Funda-

ment, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen, ein ehrli-
ches und ein vernünftiges Fundament ist. Es ist unsere
gemeinsame politische Verantwortung vor den Bürgerin-
nen und Bürgern Europas und vor der Geschichte unse-
res Kontinents, diesen Weg erfolgreich zu gehen. Das
Ergebnis wird darüber befinden, wie die zukünftigen
Generationen leben können, ob weiter in Wohlstand oder
ob Europa als Ganzes zurückfällt. Deshalb ist dies eine
wahrhaft historische Aufgabe, meine Damen und Her-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Aufgabe können wir nicht mit weniger Europa
lösen – darum geht es in diesem Parlament bei den aller-
meisten glücklicherweise auch nicht –, sondern nur mit
mehr Europa, aber mit Europa auf einem guten Funda-
ment.

Wenn die G 20 als G 20 überzeugend agieren wollen,
dann muss in Los Cabos auch klar werden, dass nicht die
Euro-Zone allein die Voraussetzung für ein starkes und
nachhaltiges Wachstum weltweit schaffen kann. Die
G 20 insgesamt haben eine Verantwortung. Dann muss
klar werden, dass alle Partner in der G 20 alle Anstren-
gungen unternehmen müssen, um zu einem stabileren,
stärkeren und nachhaltigeren Wachstum zu kommen.

Alle müssen wir der Versuchung widerstehen, Wachs-
tum erneut mit mehr Schulden zu finanzieren. Wenn wir
in Los Cabos einen Aktionsplan verabschieden, der auf-
bauend auf den Ergebnissen der G-20-Gipfel in Seoul
und Cannes kurz- und mittelfristige Maßnahmen einzel-
ner Länder zur Stärkung und Stabilisierung auflisten
wird, muss genau das unser Credo sein. Es ist unver-
zichtbar, dass die Konsolidierung der öffentlichen Haus-
halte wesentliches Element dieses Los-Cabos-Action-
Plans sein wird. Ich werde das sehr deutlich machen.
Deutschland hat sich eindeutig zum Schuldenabbau und
zu einer nachhaltigen Wirtschaft bekannt. Deutschland
geht mit Blick auf die Einhaltung der sogenannten
Toronto-Ziele – auch ein G-20-Beschluss, nämlich die
Halbierung des Defizits bis 2013 zu erreichen – mit
gutem Beispiel voran.

Wenn der Los-Cabos-Aktionsplan dazu beitragen
soll, dass wir als G 20 das Vertrauen in eine stabile welt-
wirtschaftliche Entwicklung tatsächlich stärken, dann
müssen alle Staaten daran mitwirken. Alle müssen bereit
sein, ihre spezifischen Schwachpunkte zu überwinden:
die Europäische Union – ich habe darüber gesprochen –
durch die Überwindung der Konstruktionsmängel der
Wirtschafts- und Währungsunion; die USA, indem sie
ihr Haushaltsdefizit reduzieren; China und die anderen
Schwellenländer müssen ihre Verantwortung wahrneh-
men, indem sie eine höhere Wechselkursflexibilität zu-
lassen.

Die Ursachen der schwächelnden Weltwirtschaft lie-
gen wahrlich nicht nur in der Euro-Zone. Ausgangs-
punkt der Krise waren die weltweiten Turbulenzen an
den Finanzmärkten vor gut vier Jahren, die deutliche
Regulierungslücken offenbarten. Das Vertrauen der
Menschen in das weltweite Finanzsystem ist dadurch
erheblich erschüttert worden.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


Seitdem haben wir in der G 20 eine Reihe von wichti-
gen Maßnahmen beschlossen und auch umgesetzt: stärkere
Kapitalausstattung für Banken, Regulierung der Derivate-
märkte, Regeln für Ratingagenturen, eine Beaufsichtigung
aller Fondsmanager und die Neuordnung und Stärkung
der Finanzmarktaufsicht. Dass es nicht gelungen ist, glo-
bal den Schwung zu nutzen und zu sagen: „Wir müssen
auch die Akteure der Finanzmärkte einheitlich und glo-
bal besteuern“ als Lehre aus der Finanzmarktkrise,
gehört zu dem, was ich als negativ sehe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb werde ich auch weiter darauf drängen, dass
die Agenda zur Regulierung der Finanzmärkte nicht aus
den Augen verloren wird. Wir haben noch wichtige Auf-
gaben, zum Beispiel bei der Beaufsichtigung und Regu-
lierung der Schattenbanken, zu erledigen. Wir müssen
sicherstellen, dass überall auch die Hedgefonds erfasst
werden. In Europa haben wir sie einer Aufsicht unter-
worfen, aber nicht weltweit. Auch die konsequente Um-
setzung der Konkretisierung der G-20-Beschlüsse zur
Regulierung der systemisch wichtigen Finanzinstitute,
der sogenannten SIFIs, ist unerlässlich.

Meine Damen und Herren, es ist gut und es ist wich-
tig, dass wir uns in der G 20 zu allen Fragen austau-
schen, die unsere Welt bewegen. Wir haben in diesem
Gremium entschieden, gemeinsam Verantwortung zu
übernehmen. Nur mit einem solchen kooperativen An-
satz wird es gelingen, Lösungen für die vielen Heraus-
forderungen unserer Zeit zu finden: von der Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit und dem Schuldenabbau über die
Strategien zum Schutz der Umwelt und des Klimas bis
hin zur Bekämpfung des Hungers und der Armut.

Wir sind eine Welt. Los Cabos wird das in diesen
Tagen einmal mehr unter Beweis stellen. Ich füge hinzu:
Los Cabos wird es unter Beweis stellen müssen, wenn
wir den Menschen weltweit dienen wollen. Deutschland
nimmt seinen Teil dieser gemeinsamen Verantwortung
wahr.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718400200

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem

Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1718400300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

zwei Sitzungswochen haben wir eine Regierungserklä-
rung zum G-8-Gipfel gehört. Heute gibt es eine zum
G-20-Gipfel. Beide Regierungserklärungen wurden mit-
ten in der tiefsten europäischen Krise gehalten: Rezes-
sion in weiten Teilen Europas, Einbrüche im globalen
Wachstum. Vielleicht hat vor zwei Wochen der eine oder
andere im Hause gedacht: Das alles hat mit uns nichts zu
tun. – Das war ein großer Irrtum. Wenn ich das sage, ist

es kein Schlechtreden der gegenwärtigen Lage, aber wir
müssen auf die eigenen Wachstumszahlen dieses Jahres
und insbesondere des vierten Quartals im letzten Jahr
schauen.

Meine Damen und Herren, die Krise kommt bei uns
an. Sie bedroht uns. Die Menschen haben Angst, sogar
Wut, weil zum x-ten Mal Milliarden in die Hand genom-
men werden, um Banken zu retten. Sie haben Zweifel,
ob die höchsten Erwartungen, die sie an die Politik
haben, erfüllt werden. Ich frage Sie, Frau Merkel: Wel-
che Bedrohungen und welche Ängste der Menschen
spiegeln sich in Ihrer Regierungserklärung wider? Ich
werfe Ihnen nicht vor, dass Sie nicht von vornherein mit
allen G-20-Partnern einer Meinung sind. Aber wo sind
die deutschen Vorschläge, wo sind die deutschen Initiati-
ven, wo ist die deutsche Vorreiterrolle bei der Regulie-
rung von Finanzmärkten?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Wer soll die Verantwortung für mutige
Wege nach vorn übernehmen, wenn nicht ein Land mit
über 80 Millionen Einwohnern und der stärksten Volks-
wirtschaft in Europa? Sie legen sich in die Furche und
warten ab. Das ist nicht genug. Genau das werfen wir
Ihnen vor, Frau Merkel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Sie machen Lustreisen nach Paris!)


Ginge es allein um Wachstumsraten und Arbeits-
plätze, wäre das in der Tat dramatisch genug. Aber die
Menschen – das sage ich Ihnen – verzweifeln an der
schieren Ungerechtigkeit. Machtlos haben sie mit anse-
hen müssen, wie Verantwortungslosigkeit und grenzen-
lose Bereicherung eine Finanzwelt zum Einsturz ge-
bracht haben. Millionen von Träumen, zum Beispiel
vom eigenen Haus und von der Altersversorgung, sind
dabei untergegangen. Die Menschen haben mit Empö-
rung gesehen, dass für die Milliardenkatastrophen, die
angerichtet worden sind, nicht die dafür Verantwort-
lichen, sondern die Steuerzahler in Anspruch genommen
worden sind. Ein Jahr nachdem Staaten mit Milliarden-
hilfen die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt
haben, gibt es plötzlich keinen Schuldigen mehr. Jetzt
sollen wir alle über unsere Verhältnisse gelebt haben.
Die Krise ist plötzlich eine Staatsschuldenkrise, obwohl
alle wissen könnten, dass gerade die Staatsschulden
unmittelbar vor der Pleite von Lehman Brothers in fast
allen europäischen Staaten historisch niedrig waren. Wer
heute unterschiedslos von Staatsschuldenkrise redet, der
verhilft den Akteuren auf den Finanzenmärkten zur
Flucht aus der Verantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Noch schlimmer für unser Land und die Situation in
Europa ist: Wer angesichts einer so unzureichenden und
deshalb notwendigerweise falschen Diagnose handelt,
kann nur zu einer falschen Therapie kommen. Deshalb,
Frau Merkel, greifen Ihre Erklärungen hier im Deut-
schen Bundestag zu kurz.





Dr. Frank-Walter Steinmeier


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(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Was die Menschen jenseits von Empörung schlicht und
einfach zur Verzweiflung treibt, ist, dass das Desaster in
der Finanzwelt alles verändert hat: zum Beispiel die
Hoffnung, dass die Reformrendite bei uns ankommt und
sie endlich dazu führt, dass nach Jahren des Verzichts
wieder etwas zu verteilen ist, und anderswo – vielleicht
nicht in Deutschland – die Hoffnung auf Arbeit und Aus-
bildung.

Für alle in Europa steht in dieser Krise wieder fast
alles auf dem Spiel, nur auf den Finanzmärkten geht es
weiter wie gehabt. Da wird nicht nur wieder kräftig ver-
dient, sondern so, als sei nichts geschehen, spielen dieje-
nigen, die über Jahre hinweg Geldschöpfung mit immer
windigeren Produkten und völlig verantwortungslosen
Bewertungen betrieben haben, jetzt Schicksal für die
Volkswirtschaften, und zwar ausgerechnet mit denen, die
das Schlimmste zu verhindern versuchen.

Wenn wir das alles so weiterlaufen lassen, dann reden
wir sehr bald nicht mehr über verloren gegangenes Ver-
trauen der Märkte, sondern dann werden wir über das
verloren gegangene Vertrauen der Menschen in die
Demokratie reden müssen. Die Zweifel sind doch schon
jetzt übergroß, ob die Politik gegen die globalen Finanz-
märkte etwas ausrichten kann. Wie soll das erst werden,
wenn wir den Menschen vermitteln, dass wir nicht ein-
mal mehr den Ehrgeiz, den Anspruch dazu haben?

Frau Merkel, ich unterstelle nichts. Ich zitiere nur
einen Satz aus dem aktuellen Pressebriefing der Bundes-
regierung zum G-20-Gipfel. Dort heißt es ganz lapidar:
Bei der Finanzmarktregulierung sind keine neuen Initia-
tiven zu erwarten. – Frau Bundeskanzlerin, vor knapp
drei Jahren beim Gipfel in Pittsburgh, als alle noch unter
dem Schock der Lehman-Brothers-Pleite standen, haben
sich die G-20-Staaten ein sehr ambitioniertes Verspre-
chen gegeben. Das haben Sie alle hier in guter Erinne-
rung: kein Markt, kein Akteur, kein Produkt auf den
internationalen Finanzmärkten ohne Regulierung und
ohne Aufsicht. Verkehrsregeln sollten dort geschaffen
werden, wo sie nicht bestehen oder wo sie in der Vergan-
genheit beiseitegeräumt worden sind. Das war damals in
Pittsburgh nicht nur ein hoher Anspruch, sondern das
war das, was die Menschen von der Politik erwartet hat-
ten und was Sie den Menschen in Deutschland – als
Lehre aus der Krise – versprochen haben.

Und jetzt, meine Damen und Herren, heißt es: Es sind
keine neuen Initiativen zu erwarten. – Ich hoffe instän-
dig, dass das nicht wahr ist. Deutschland war einmal
Taktgeber auf der Ebene der G 20. Wir können und wir
dürfen diesen Teil der Krisenaufarbeitung nicht einfach
links liegen lassen. Es gibt dort noch riesige Baustellen.
Wir brauchen mehr Transparenz und Stabilität auf den
Finanzmärkten. Wir haben noch weitgehend unregulierte
Bereiche wie den Schattenbankensektor. Wir haben die
Gefahr nicht gebannt, dass die Pleite einzelner Institute
zur Krise der gesamten Weltwirtschaft führt. Noch
immer gibt es jede Menge hochspekulativer Finanz-
instrumente, die keinen vernünftigen Zweck erfüllen und

allenfalls als Brandbeschleuniger in der jetzigen Krise
wirken.

Frau Merkel, es mag sein, dass in Ihrem Pressebrie-
fing durchaus zu Recht formuliert ist, dass Initiativen
von anderen nicht zu erwarten sind. Aber genau das
muss doch hier im Deutschen Bundestag unser Thema
sein. Weil solche Initiativen von anderen nicht zu erwar-
ten sind, müssen wir da ran. Nicht andere, sondern wir in
Deutschland sind in der Verantwortung. Genau das
erwarten wir von Ihnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nicht nur wir haben etwas anderes erwartet, zum Bei-
spiel von dieser Regierungserklärung, sondern auch die-
jenigen, die uns beim Kampf gegen die Zügellosigkeit
auf den Märkten unterstützen und die wir an unserer
Seite wissen, haben etwas anderes erwartet von einer
Kanzlerin, die noch vor zwei Jahren nichts dagegen
hatte, sich überall in der Welt als Klimakanzlerin zu prä-
sentieren. Aber die medialen Meriten in diesem Bereich
sind zurzeit – das wissen wir alle – eher rückläufig. Wir
haben verstanden: Nach Rio fahren Sie nicht.

Aber das ist nicht das Einzige, was auffällt: Das Klima
spielt auch beim G-20-Gipfel eine Rolle; Green Growth
ist das Stichwort dort, Sie haben es eben selbst erwähnt.
Wir waren auch deshalb auf diese Regierungserklärung
gespannt, weil wir wissen wollten, wie die deutschen
Vorschläge zu diesem Thema aussehen. Wir haben
gehört: Sie „begrüßen“ die Überlegungen der G-20-Part-
ner. Aber was heißt das? Auch hier: Passivität statt Ehr-
geiz. Wir Deutsche hätten zu diesem Thema doch wirk-
lich etwas zu sagen gehabt. Wo können Investitionen zu
mehr Energieeffizienz führen, wenn Energie in den kom-
menden Jahren stetig teurer und knapper wird? Von wem
erwarten wir denn solche Vorschläge dazu? Etwa von
den Amerikanern, die sich gerade mit billigem Shell-Gas
von dieser Debatte abkoppeln? Oder von Brasilien,
Russland oder Mexiko – den Förderländern, die ein Inte-
resse an der Knappheit und an den hohen Preisen haben?
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundes-
kanzler, hier sind wir gefragt und niemand anders; hier
müssen unsere Vorschläge kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich vermute, am Ende mangelt es gar nicht an Vor-
schlägen aus Ihren Fachministerien. Ich glaube, Sie
selbst hadern mit solchen Überlegungen zur Wachstums-
politik. Sie haben sich in einer Vorstellung von der Ge-
sundschrumpfung der Wirtschaft so eingegraben, dass
Ihnen die Umkehr im Augenblick besonders schwer
fällt. Ich weiß, Sie bestreiten das, und Sie sagen, dass
wir seit zwei Jahren in Europa, auch auf den europäi-
schen Räten, über Wachstum reden. Es wundert mich
nicht, dass dort darüber geredet wird. Aber genau in die-
sen zwei Jahren sind wir hier im Deutschen Bundestag
nicht vorangekommen. Ich darf doch daran erinnern,
dass die Versuche von Opposition und Regierung, ge-
meinsame Entschließungsanträge zu formulieren, genau
an diesen Unterschieden gescheitert sind.





Dr. Frank-Walter Steinmeier


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(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Vergangenheit habe ich versucht, das zu verste-
hen: Es hat Ihnen sogar in den Kram gepasst, die Oppo-
sition als diejenigen darzustellen, die als Verletze eines
rigorosen Sparkurses in der Öffentlichkeit zu brandmar-
ken sind. Aber das, Frau Merkel, ist Ihnen weder gelun-
gen, noch hatten Sie recht. Dass die Merkel-Sarkozy-
Arznei nicht wirkt, sagen Ihnen inzwischen auch die
Experten, die Sie lange auf Ihrer Seite hatten.

Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn eine
Lehre aus der Krise ist, dass wir uns langfristig unabhän-
giger von den Finanzmärkten machen müssen, dass wir
die Neuverschuldung zurückfahren müssen, dann ist
Konsolidierung in der Tat Pflicht. Ich habe es hier beim
letzten Mal gesagt: Wir streiten nicht über die Notwen-
digkeit von Konsolidierung; aber wir streiten sehr wohl
und sehr grundsätzlich darüber, wie Konsolidierung zu
erreichen ist. Da bleibt mein Credo, was ich seit zwei
Jahren von dieser Stelle aus vertrete: Haushaltsdisziplin
und Ausgabenkontrolle sind unverzichtbar. Aber ge-
nauso wahr ist: Wenn das die ganze Antwort auf die
europäische Krise ist, wenn 27 europäische Staaten
gleichzeitig nichts anderes tun, als ihre Haushalte zu-
sammenzustreichen, dann ist das eben kein Weg aus der
Krise, sondern der direkte Weg in die Rezession; das ist
der falsche Weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sparen, Haushaltsdisziplin: Das ist eine ganz wichtige
Säule eines richtigen Ansatzes, um aus der Krise zu
kommen; aber es ist eben nur eine Säule. Strukturrefor-
men gehören dazu, aber eben auch Maßnahmen und
Instrumente zum Erhalt von Wachstum. Das ist kein
Teufelswerk. Vielmehr können wir – das empfehle ich –
Anleihe bei unseren eigenen Erfahrungen nehmen:
Zweimal im vergangenen Jahrzehnt haben wir eine tiefe
Krise durchschreiten müssen; wir haben das erfolgreich
getan, weil wir einen klugen Mix aus Einsparen, Struk-
turreformen, aber auch Maßnahmen zum Erhalt des
Wachstums gefunden haben. Das haben wir nicht zufäl-
lig getan, sondern deshalb, weil wir die Erfahrung
hatten, dass das, was in der Krise an Arbeitsplätzen und
industriellen Kapazitäten wegbricht, nach der Krise eben
nicht automatisch wiederkommt. Die zweite Erfahrung
ist: Wir haben über Jahre versucht, erfolglos gegen eine
Krise anzusparen. Ohne Wachstum steigen die Schulden,
und ohne Wachstum gelingt der Weg aus der Krise nicht.


(Beifall bei der SPD)


Ich unterschreibe alle Alltagssätze, die in solchen Fäl-
len gesagt werden. Dass jeder Staat innerhalb des ge-
meinsamen Währungsraums seine Aufgaben zu erfüllen
hat: ja, natürlich. Ich unterschreibe den Satz, dass Soli-
darität keine Einbahnstraße ist; auch das stimmt. Aber
zur ganzen Erfahrung gehört doch, meine Damen und
Herren: Immer neue Rettungsschirme helfen nicht, wenn
wir das Wachstum in Europa komplett abwürgen. Diese
Politik ist jedenfalls gescheitert; wir stehen gerade vor
deren Ruinen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun sind wir vielleicht auf dem Weg, in den Verhand-
lungen, die wir gerade führen, zu Annäherungen zu
kommen. Wir haben uns gestern auf die Besteuerung der
Finanzmärkte geeinigt. Damit nehmen wir eine Hürde
– ich betone: eine wichtige Hürde –, die einer Ratifizie-
rungsentscheidung jedenfalls für uns im Wege stand.
Wir wissen auch – Frau Merkel, Sie haben das angedeu-
tet –: Noch nicht alle Hürden sind überwunden. Lassen
Sie uns deshalb mit einigem Ehrgeiz und auch mit eini-
gem Anspruch in den nächsten Tagen an dem Thema
Wachstumsinstrumente arbeiten.

Das sage ich deshalb, weil wir wissen und ahnen kön-
nen, dass unsere Gespräche in den nächsten Tagen wie-
der unmittelbar überlagert werden durch Nachrichten
aus Griechenland und vielleicht aus Spanien, die sich auf
die Titelseiten drängen. Gerade dann, wenn andere
Themen unsere Verhandlungen überlagern, könnte ein
kluges Signal aus Deutschland zeigen, dass Konsolidie-
rung und Wachstum nicht getrennt zu sehen sind, dass
wir sie nicht als Gegensatz behandeln dürfen, sondern
dass sie zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.
Das könnte ein gelungener Beitrag zur europäischen
Krisenstrategie sein. Wir sind jedenfalls bereit, daran
mitzuwirken.


(Beifall bei der SPD)


Ein Letztes. Wenn die Krise so dramatisch ist, wie wir
sie in unseren öffentlichen Reden, auch hier im Deut-
schen Bundestag, beschreiben, dann ist meine Bitte:
Hören Sie auf mit der Strategie der roten Linien! Diese
Strategie hat uns nach meiner Überzeugung in den letz-
ten zwei Jahren viel Glaubwürdigkeit geraubt. Es gibt
keine rote Linie, die Sie – das zeigen die Geschehnisse
der zurückliegenden zwei Jahre – nicht innerhalb von
sechs Monaten überschritten und scheinbar eherne
Grundsätze dabei über Bord geworfen hätten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718400400

Herr Kollege.


Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1718400500

Ich bin gleich fertig.

Wir müssen uns nicht heute über das weitere Vor-
gehen einigen, aber klar ist: Die europäische Krisenstra-
tegie wird auf zwei Säulen ruhen müssen, nämlich
kurzfristige Krisenintervention und langfristiger Wieder-
aufbau des Vertrauens. Dazu wird ein Vorschlag gehö-
ren, mit dem wir zeigen, wie wir mit den Altschulden
umgehen müssen. Deshalb ist der europäische Schulden-
tilgungsfonds ein Thema, das wir auf der Tagesordnung
halten müssen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


auch wenn wir kurzfristig nicht zu gemeinsamen Verein-
barungen kommen wollen. Wir werden darüber sprechen
müssen, in Europa, im Europäischen Parlament, auch
hier im Deutschen Bundestag. Auch ich habe vor zwei





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


Jahren nicht geahnt, über was wir alles in diesem Parla-
ment mit Blick auf die europäische Krise nachdenken
und entscheiden müssen. Ich weiß nur: Wir sind noch
lange nicht am Ende, und Sie werden dieses Parlament
in seiner Gesamtheit noch mehr brauchen, als Sie heute
ahnen.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718400600

Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1718400700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der G-20-

Gipfel wird viele Themen auf der Tagesordnung haben.
Die wichtigsten werden die Währungsfragen sein. Wäh-
rungsfragen sind immer auch Machtfragen. China
schließt fast im Monatsrhythmus neue Währungsabkom-
men ab, vor allem mit den anderen BRICS-Staaten und
mit Japan, dem Konkurrenten in Asien. Das Ziel ist klar:
mehr Unabhängigkeit vom Dollar. China stellt den Leit-
währungsstatus der Amerikaner schon seit langem in-
frage. Russland favorisiert eine Kunstwährung über den
IWF.

Europa ist einen anderen Weg gegangen. Wir haben
den Dollarstatus mit unserer Gemeinschaftswährung
infrage gestellt. Europa spürt jetzt den rauen Wind der
internationalen Finanzmärkte.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den rauen Wind der Pfalz!)


– Ach, Herr Trittin. – Wir müssen nun unsere hausge-
machten Probleme lösen; denn sie waren Ursache der
Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden: hohe Staats-
verschuldung und fehlende Strukturreformen in einer
Reihe von Mitgliedstaaten.

Aber es gibt auch interessierte Kräfte von außerhalb,
etwa Ratingagenturen, die manchmal einen sehr patrioti-
schen Knick in ihrer Optik haben. Die Angelsachsen
diesseits und jenseits des Atlantiks raten uns: Macht mehr
Schulden und lockert die Geldpolitik, das rettet eure
Währung! Die angelsächsische Finanzlobby und ihre
Verbündeten bei den Linken in Europa und in Deutsch-
land – das ist eine unheilige Allianz der Inflation.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Banklizenz für Rettungsschirme und Euro-Bonds sind
die Vermögensvernichtungswaffen dieser Inflationsal-
lianz aus Wall Street und europäischen Sozialisten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir machen das anders. Die christlich-liberale Koali-
tion mit Bundeskanzlerin Frau Merkel an der Spitze
steht für Stabilität.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Die christlich-liberale Koalition steht für gutes Geld. Sie
steht für Wachstum und Beschäftigung. Deutschland ist
so gut wie kein anderes Land der westlichen Welt durch
die Krise gekommen. Das hat Gründe.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Die haben nichts mit Ihnen zu tun!)


Wir sind den Stabilitätsweg gegangen. Wären wir den
Ratschlägen der weniger Erfolgreichen gefolgt, würde
die Inflation schon galoppieren.

Seit Samstag ist klar: Spanien wird wegen seiner Ban-
kenkrise unter den Rettungsschirm gehen. Anders als
Griechenland hat Spanien seine sonstigen Strukturpro-
bleme ernsthaft angepackt. Deshalb ist es derzeit sinn-
voll, von einer umfassenden Troika-Mission abzusehen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unserem
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble danken. Er
hat durchgesetzt, dass die spanischen Banken keine
Direktzahlung erhalten, sondern das Land unter den
Schirm muss. Das hat er mit viel Geschick gemacht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Europa wird harte Auflagen machen, was die Restruktu-
rierung der Institute angeht.

Die Euro-Zone ist noch nicht über den Berg. Vom
kleinen Zypern und vom großen Italien kommen in die-
ser Woche sehr gemischte Signale. Deshalb ist es so
wichtig, dass wir zügig den ESM und den Fiskalpakt auf
den Weg bringen. Die Welt wartet auf ein starkes Signal
von Europa. Wir wollen nicht, dass es mit der Unsicher-
heit so weitergeht. Deutschland muss eine Führungsrolle
übernehmen. Die Zeiten des Kalten Krieges und des
Sonderstatus von Deutschland sind vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Russland übernimmt nächstes Jahr die G-20-Präsi-
dentschaft. Es will besonders eng mit Deutschland zu-
sammenarbeiten und eine Strukturreform auf den Weg
bringen. Uns wird die Führungsrolle in Europa zuge-
traut. Wir müssen sie annehmen.

Wir stehen als christlich-liberale Koalition für eine
Politik von Maß und Mitte. Maß und Mitte haben andere
verloren. Ich fand das, was der frühere Außenminister
von den Grünen letzte Woche zur Schuldenkrise erklärt
hat, wirklich unsäglich. Er ruft: Es brennt! Es brennt! –
Das ist an Schäbigkeit und Selbstgefälligkeit nicht zu
überbieten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Man wird ja noch die Wahrheit sagen dürfen!)


Joschka Fischer hat die währungspolitischen Brandsätze
selbst gelegt. Der 5-Millionen-Arbeitslose-Joschka-
Fischer,





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)



(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


der Nullwachstum-Joschka-Fischer, der Stabilitätsver-
tragsbrecher Joschka Fischer erzählt uns großzügig, wie
die Welt funktioniert. Er hat die damalige Aufnahme von
Griechenland in die Euro-Zone zu verantworten, obwohl
Griechenland die Voraussetzungen nicht erfüllt hatte.
Wir löschen jetzt das Feuer, das die Wachstumsfeinde
von den Grünen gelegt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Schlimme ist: Die Kassandra aus dem Grunewald
gibt bei den Grünen immer noch die Richtlinien vor.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Er fordert schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme.
Herr Trittin widerspricht nicht. Herr Trittin kuscht.
Dafür war Herr Kollege Trittin kürzlich auf einer Konfe-
renz der Hochfinanz. Ihren Parteifreunden haben Sie das
verschwiegen. Sie haben offenbar Angst vor der Kritik
aus dem eigenen Verein. Links unten anfangen und
rechts oben ankommen – das ist das Motto von Herrn
Trittin.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist offenbar ein langer Weg vom Kommunistischen
Bund Westdeutschland zur Bilderberg-Konferenz der
Hochfinanz.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch nur neidisch, dass Sie nicht eingeladen waren!)


Ihre neuen Freunde von der Hochfinanz haben mir et-
was ins Ohr geflüstert: Herr Trittin fordert jetzt die Ban-
kenunion für Europa. Die Einlagensicherung soll nach
seinem Willen europäisiert werden. Herr Trittin will,
dass die deutsche Oma mit ihrem Sparbuch für ausländi-
sche Investmentbanker haftet. Das ist Ihre Politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist grüne Politik der sozialen Kälte, nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Das steht in einer Linie mit
Ihrer armutsfördernden Energiepolitik. 5 Mark für einen
Liter Benzin, Dauersubventionen in Milliardenhöhe für
Solardächer, die in China produziert werden, Dosen-
pfand, Handypfand, Plastiktütenverbot – Sie sind die
Partei der Bioschickeria in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Bisher zeigen Sie auch einen wenig verantwortungs-
vollen Umgang mit dem Thema Fiskalpakt. Herr Trittin
will vielleicht noch mitmachen, aber Ihre linksgrüne
Basis sieht das wohl anders. Für die Grünen kommt der
Strom aus der Steckdose und das Geld aus dem Auto-
maten.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und für Sie kommt der Riesling aus dem Glas oder vom Fass!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen
Sie sich von dieser grünlackierten Schickimicki-Partei
nicht in Geiselhaft nehmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Peinlich!)


Wir haben Verantwortung für Deutschland und für
Europa. Ich bin dem Kollegen Müntefering sehr dank-
bar; denn er hat zur rechten Zeit die Augenbrauen mah-
nend hochgezogen. Herr Gabriel hatte etwa ein Jahr lang
für die Euro-Bonds die Trommel gerührt. Ich habe eine
Liste mit vielen Zitaten von Herrn Gabriel dabei, in de-
nen er sich mit Vehemenz für die Einführung von Euro-
Bonds ausspricht. Seit neuestem findet er die Idee skur-
ril, weil es dabei um eine Vergemeinschaftung der
Schulden geht. Herzlichen Glückwunsch zu dieser
Erkenntnis!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


„Erst grübeln, dann dübeln“, hätte ich früher gesagt.
Jetzt sage ich im Gabriel-Format: Erst Münte fragen,
dann twittern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Erst trinken, dann reden, oder wie?)


Der Weg in den Zinssozialismus ist nun also zu. Wir
sollten jetzt auch nicht den Weg in den Schuldensozialis-
mus gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD
den Facharbeitern bei Volkswagen und bei Daimler
erklären will, dass sie mit ihren Steuern die Altschulden
von Italien, Spanien und Griechenland tilgen sollen. Das
wäre nämlich der Weg in den Schuldensozialismus.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist niederer Stammtisch!)


Aber ich habe wahrgenommen, dass die Leidenschaft für
diese Schuldenvergemeinschaftungsstrategie bei den
Sozialdemokraten nicht sehr ausgeprägt ist. Ihnen geht
es jetzt um die Beteiligung der Hochfinanz an den Kri-
senkosten. Das wollen auch wir.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind uns einig: Die Riester-Vorsorge, die Kleinanle-
ger und die Finanzierungsbedingungen für den Mittel-
stand dürfen nicht negativ betroffen sein. Verlagerungs-
wirkungen wollen wir ausschließen.


(Zuruf von der SPD: Aha!)


Sie als Opposition wollen das Wünschbare, wir als
Regierungskoalition bieten Ihnen das Machbare. Machen
Sie mit, und verknoten Sie sich nicht in kleinlicher Par-
teipolitik. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung
für Deutschland und für Europa. Es ist wahr, was Herr
Steinmeier sagt: Wenn wir das nicht in den Griff bekom-
men, leidet auch die Demokratie. – Deshalb: Schluss mit
den Illusionen, wir könnten durch Zinssozialismus und
Schuldensozialismus die Probleme Europas lösen! Hier





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


ist jetzt die Stunde der Wahrheit. Zwei plus zwei bleibt
vier, auch für Sozialisten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bravo! – Zugabe!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718400800

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gregor, da kommst du nicht mit! Auf deren Niveau spielst du nicht!)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718400900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss

Ihnen sagen, Herr Brüderle: Ihr Internationalismus ist
wirklich unter Stammtischniveau. Das, was Sie hier
geboten haben, geht einfach nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen auch: Ich verstehe Ihren Versuch, die
FDP zu retten, aber Sie retten die FDP nicht mit Pöbe-
leien gegen die Grünen. Das ist so nicht zu erreichen.
Machen Sie eine eigenständige Politik!


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Mainz bleibt Mainz rettet er!)


Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Anfang Ihrer
Rede über Armut und über Hunger auf der Erde gespro-
chen. Sie haben auch wichtige ökologische Projekte
genannt, über die auf dem G-20-Gipfel gesprochen wer-
den soll. Das alles sind wichtige Themen. Ich würde
gerne zu all diesen Themen etwas sagen. Aber ich habe
nur elf Minuten Redezeit. Deshalb konzentriere ich mich
auf das, was Sie zur Krise, zur Finanzkrise, zur Euro-
Krise und zum diesbezüglichen Verhalten der Bundes-
regierung gesagt haben.

Sie haben den schönen Satz gesagt – er ist wirklich
einmalig –, Sie machen keine Politik für die Märkte. Ich

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1718401000
Die Finanzmärkte zie-
hen Sie und Ihre gesamte Regierung am Nasenring durch
Europa. Das ist die Wahrheit. Sie machen exakt das, was
die wollen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aus Italien hören wir Horrormeldungen. Es gibt die
Bankenkrise in Spanien. Sie fürchten die Wahlen in
Griechenland. Was kommt denn dabei heraus? Wie auch
immer die Wahlen in Griechenland ausgehen: Die Lin-
ken werden dort gestärkt. Was haben wir in Frankreich
erlebt? Dass Präsident Sarkozy, der Ihre Politik betrieb,
abgewählt und Präsident Hollande gewählt wurde. Mer-
ken Sie denn nicht, was passiert, Frau Bundeskanzlerin?
Ihre Europapolitik wird in Europa abgewählt. Sie neh-
men das aber nicht zur Kenntnis.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerungen, und Sie
korrigieren sich auch nicht, obwohl es dafür höchste Zeit
wäre. Ich sage Ihnen: Diese Art der Ignoranz halte ich
für nicht hinnehmbar.

Kommen wir zur Bankenkrise in Spanien. Der Minis-
terpräsident von Spanien hat zunächst gesagt, er wolle
auf gar keinen Fall Geld vom Rettungsschirm. Warum
hat er das gesagt? Weil er die Troika fürchtet und weiß:
In dem Moment, in dem der Internationale Währungs-
fonds, die Europäische Zentralbank und die EU-Kom-
mission bei ihm das Sagen bekommen, schränkt dies die
Souveränität Spaniens unheimlich ein. Aber er hat dies
nicht durchgehalten und musste sich dann doch an den
Rettungsschirm wenden. Gerade erst hörten wir, dass
auch Herr Monti, der Ministerpräsident von Italien,
sagte, er werde sich nicht an den Rettungsschirm wen-
den. Ich sage Ihnen: Auch er wird umfallen, und wir
werden dasselbe erleben.

Immerhin macht die Bankenkrise in Spanien eines
deutlich: dass der von Ihnen verwendete Begriff „Schul-
denkrise“ falsch ist. „Schuldenkrise“ heißt nämlich, dass
die Staaten zu viel Geld ausgeben. Durch die Verwen-
dung dieses Begriffs wollen Sie erreichen, dass die
Leute in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und
auch in Deutschland sagen: Ja, wahrscheinlich haben wir
zu hohe Löhne. Wahrscheinlich haben wir zu hohe Ren-
ten. Wahrscheinlich haben wir in den verschiedenen
Bereichen zu hohe Ausgaben.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es ja auch!)


– Sie sagen ja sogar, dass es so ist. – Genau das ist aber
falsch. Denn was zeigt die Bankenkrise in Spanien? Die
Banken und Hedgefonds sorgen dafür, dass die Staats-
schulden der Länder immer weiter steigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb muss man diese Krise „Finanzkrise“ nennen
und darf nicht von einer „Schuldenkrise“ sprechen. Alles
andere ist eine Vernebelung.

Diese Krise beweist noch etwas. Sie beweist ganz
klar: Nicht zu hohe Renten, zu hohe Löhne, zu hohe
Sozialleistungen oder zu hohe Investitionen in anderen
Ländern sind die Ursachen der hohen Schulden, sondern
das vollständige Versagen der Banken und Hedgefonds.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt passiert Folgendes: Spanien werden aus dem
Rettungsschirm etwa 100 Milliarden Euro zur Verfü-
gung gestellt. Spanien gibt dieses Geld dann den Ban-
ken, damit sie wieder liquide sind und wirtschaften kön-
nen.

An dieser Stelle möchte ich jedoch auf zwei Aspekte
hinweisen:

Erstens. Wenn diese 100 Milliarden Euro nicht zu-
rückgezahlt werden, dann haften – Herr Schäuble, da
müssen Sie mir zustimmen – auch die deutschen Steuer-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


zahlerinnen und Steuerzahler, und zwar für 27 Prozent
dieses Geldes.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ist es!)


Sie nehmen die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler also in Haftung. – Das ist das eine.

Zweitens. Die spanischen Banken bekommen diese
100 Milliarden Euro, weil sie nicht mehr liquide sind.
Erklären Sie doch einmal dem Inhaber einer kleinen
GmbH in Deutschland, an wen er sich wenden soll,
wenn er nicht mehr liquide ist. Er hat keine Chance. Die
Banken und Hedgefonds hingegen bekommen so viel
Geld, wie sie brauchen. Die Großaktionäre haben es
besonders bequem; denn für Schulden haften sie nicht.
Das übernehmen ja immer die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler. Wenn die Unternehmen aber Gewinn
machen, dann verteilen die Großaktionäre diesen unter
sich. Deshalb sage ich: Wenn 100 Milliarden Euro an die
privaten Banken fließen, dann müssen sie vergesell-
schaftet werden, damit die Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler nicht nur haften, sondern endlich auch am
Gewinn beteiligt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen: Die Linken in Griechenland haben doch
recht. Sie wollen das Spardiktat beenden. Es wird dafür
auch höchste Zeit. Schauen Sie sich doch einmal an, wie
die Situation der Rentnerinnen und Rentner und der
Facharbeiterinnen und Facharbeiter in Griechenland ist.
Das geht so nicht! Ich frage Sie: Was wollen Sie dagegen
unternehmen?

Die Aussage, die Sie in diesem Zusammenhang
immer wieder verbreitet haben, stimmt nicht. Sie sagen,
Tsipras wolle die Schulden nicht zurückzahlen. Das ist
völlig falsch. Er will nur einen anderen Weg gehen. Er
will Steuergerechtigkeit herstellen. Er will die Steuerhin-
terziehung bekämpfen. Dafür ist es wirklich höchste
Zeit, übrigens nicht nur in Griechenland – dort allerdings
in besonderem Maße –, sondern auch in Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)


Er will investieren. Wenn er investiert, dann hat er
höhere Steuereinnahmen, und wenn er höhere Steuerein-
nahmen hat, dann kann er auch die Schulden zurückzah-
len. So wie Sie es den Griechen vorgeben, indem Sie sa-
gen: „Löhne runter, Renten runter, Sozialleistungen
runter, immer weniger investieren“, geht es nicht. Wo
sollen denn dann die Steuern herkommen? Sie ruinieren
das Land. Das ist der völlig falsche Weg, wenn wir den
Euro retten wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Interessant ist auch, dass Sie sagen, mit den Linken
dort wollen Sie gar nicht verhandeln. Zum Glück hat die
EU-Kommission gesagt, sie wolle doch mit denen ver-
handeln. Sie ist einen Schritt weiter als unsere Bundes-
kanzlerin.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir verhandeln doch auch mit jedem!)


– Na ja, mit mir schon.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach, Sie sind kein Linker mehr, Herr Gysi?)


Das liegt aber nur daran, dass Sie dazu gezwungen sind.
Sonst würden Sie das ja nicht machen, Herr Kauder. Den
anderen, Herrn Tsipras, wollten Sie ja nicht empfangen.

Abgesehen davon könnten wir Griechenland doch
folgenden Vorschlag machen: Die Rüstungsausgaben,
die bei den Griechen über 2 Prozent ihrer Wirtschafts-
leistung und bei uns nur über 1 Prozent der Wirtschafts-
leistung betragen, in einem ersten Schritt halbieren!
Dann müssten allerdings auch die Kieler Werke auf ihre
Einnahmen aus dem Verkauf von U-Booten, die sie nach
Griechenland liefern wollen, verzichten. Das ist auch
vertretbar, meine ich.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt noch etwas, was mich in ganz Europa – in
Griechenland genauso wie in Deutschland – ärgert. Des-
halb schlage ich Ihnen hier einmal US-Recht vor. Das ist
doch auch selten! Dieses US-Recht galt sogar unter
Bush, der wirklich vieles, aber kein Linker war.

Welche Situation haben wir? Die Reichen in Europa
entziehen sich all ihrer Steuerpflichten. In Griechenland
gibt es zum Beispiel 2 000 reiche Familien, denen
80 Prozent des Vermögens gehören. Aber sie bezahlen
natürlich keine Steuern, weil sie das Vermögen nach
außen verlagert, ihren Wohnsitz woanders haben usw.
Wir kennen das aus Deutschland. Die reichen Deutschen
haben ihren Wohnsitz in Österreich, in der Schweiz, in
Liechtenstein, in Monaco oder auf den Seychellen etc.,
nur um hier keine Steuern zu bezahlen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Manche haben ihr Haus auch im Allgäu!)


Ich sage Ihnen: Hier müssen wir US-Recht einführen.
Wir müssen die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft
binden. Das brauchen wir in ganz Europa.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt Folgendes: Sie können hinziehen, wohin sie
wollen. Aber sie müssen ihren Einkommensteuerbe-
scheid und, wenn es die Vermögensteuer endlich wieder
gibt, ihren Vermögensteuerbescheid an ein einziges in
Deutschland zuständiges Finanzamt schicken. Die grie-
chischen Familien müssen dies an ein einziges in Grie-
chenland zuständiges Finanzamt schicken. Dort rechnet
man aus, ob sie in dem jeweiligen Land mehr bezahlen
müssten. Hinsichtlich der Differenz erhalten sie dann
einen Steuerbescheid. So machen das die USA. Dadurch
haben sie beachtliche Einnahmen. Wer diese Bescheide
nicht einreicht, der begeht eine Straftat. Das müssen wir
endlich in ganz Europa und auch hier in Deutschland
durchsetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor kurzem hat Joschka Fischer – das ist von Herrn
Brüderle ja aufgegriffen worden – die gesamte Politik
kritisiert. Er hat zu Recht gesagt: Mit der drastischen
Sparpolitik wird die Euro-Zone gegen die Wand gefah-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


ren. Die Brände werden nicht mit Wasser, sondern mit
Kerosin gelöscht. – Er kritisiert damit die Bundesregie-
rung, aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch
SPD und Grüne. Sie haben bisher jedem Schritt der Bun-
desregierung zugestimmt. Sie halten hier immer kriti-
sche Reden und machen dann bei allem mit. Das ist doch
das Problem, das auch von Joschka Fischer kritisiert
wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen noch etwas: Der Fiskalpakt ist nicht
nur – ich habe das hier schon einmal begründet – grund-
gesetzwidrig, sondern er zementiert auch Sozialkürzun-
gen, einen Wettbewerb nach unten und Hartz IV für
Europa und zerstört den europäischen Sozialstaat.

Meine Damen und Herren von der SPD, Sie fahren
heute ja zu Hollande.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die waren schon dort! – Zuruf von der SPD: Sie sind schon wieder da! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du bist hinter der Zeit!)


– Sie sind schon wieder zurück. Umso besser! – Ich sage
Ihnen nur Folgendes: Die französische Sozialdemokratie
will nachverhandeln. Wenn Sie der Ratifizierung des
Vertrages zustimmen, dann zerstören Sie den Plan des
französischen Präsidenten, nachzuverhandeln.


(Joachim Poß [SPD]: Wir zerstören überhaupt nichts! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Keine Ahnung! Unsinn!)


Sie haben anfangs von einem Wachstumspakt gere-
det. Dann ging es nur noch um ein Wachstumspaket,
jetzt geht es nur noch um Wachstumsimpulse. Mein
Gott, lassen Sie sich doch nicht so durch Europa ziehen,
sondern machen Sie diesbezüglich endlich einmal eine
eigenständige Politik!


(Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß [SPD]: Zum Zerstören sind Sie viel besser geeignet!)


Ich komme jetzt noch einmal zu Hollande, weil Sie
mir nicht glauben. Er hat gesagt: Die französischen
Truppen müssen bis Ende 2012 aus Afghanistan abgezo-
gen werden. – So einen Satz habe ich von der deutschen
Sozialdemokratie noch nie gehört.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was hat das denn jetzt damit zu tun? Alles in einen Topf werfen!)


Er hat gesagt, er nehme den späteren Renteneintritt zu-
rück, man solle in Frankreich wieder Rente ab 60 Jahre
beziehen.


(Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie geht es denn Oskar? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha, ha, ha! Guck dir doch mal die Kürzungen an!)


Ich darf Ihnen dazu sagen: Die Durchschnittsrente bei
voller Erwerbstätigkeit beträgt in Deutschland 1 100
Euro und in Frankreich 1 700 Euro. Sie haben dafür

gesorgt, dass wir eine so niedrige Rente haben und dass
wir die Rente erst ab 67 beziehen können. Mein Gott, wä-
ren Sie doch wenigstens so wie die französische Sozial-
demokratie! Dann hätten wir in Deutschland endlich wie-
der eine Sozialdemokratie.


(Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß [SPD]: Herr Gysi, Sie müssen wohl sehr viel Druck in Ihrer Fraktion haben!)


Was müssen wir in Europa wirklich machen?

Erstens. Wir brauchen ein Ende der Spardiktate. Die
Spardiktate sind falsch, ungerecht und gescheitert.

Zweitens. Wir brauchen stattdessen ein Programm für
Investitionen und Wachstum; denn nur mit Wachstum
lassen sich die Haushaltsdefizite abbauen. Wir sorgen
auf diese Art und Weise auch für mehr Beschäftigung.
Dadurch haben wir dann mehr Steuereinnahmen. Da-
durch können auch die Schulden getilgt werden. Das gilt
für alle Länder, auch für Deutschland.

Der Teufelskreis aus Banken- und Staatsschulden-
krise muss beendet werden. Warum kann denn nicht eine
staatliche europäische Bank bei der EZB Geld aufneh-
men und zum gleichen niedrigen Zinssatz direkt an Spa-
nien oder andere Länder weitergeben? Dann hätten wir
endlich ein Ende der Spekulation um den Euro. Warum
müssen wir zwischendurch immer wieder private Ban-
ken reichmachen, wie Sie das ständig betreiben?

Ich sage ganz klar: 1 Billion Euro hat die Europäische
Zentralbank den großen privaten Banken in Europa zur
Verfügung gestellt: 1 Billion Euro für drei Jahre für
1 Prozent Zinsen! Was machen die Banken mit dem
Geld? Sie geben es Italien, Spanien und anderen Län-
dern für 5 Prozent Zinsen. Zwischendurch machen sie
die Großaktionäre reich. Erklären Sie doch einmal dem
Facharbeiter oder dem Bäckermeister in Deutschland,
wieso er letztlich für dieses Geld haftet.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Wir brauchen außerdem Steuerge-
rechtigkeit; das wird höchste Zeit. Wir brauchen eine
Millionärssteuer. Die Zahl der Millionäre nimmt zu.
Diese könnten sich eine solche Steuer leisten. Mit wel-
cher Begründung bleiben die eigentlich verschont? Was
haben denn die Hartz-IV-Empfängerin, der Facharbeiter
oder der Bäckermeister falsch gemacht, sodass es zu die-
ser Krise gekommen ist? Nichts!


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718401100

Herr Kollege.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718401200

Die Großaktionäre haben etwas falsch gemacht. Sie

haben die falschen Geschäfte gemacht und verdienen
daran. Sie werden nicht zur Kasse gebeten. Das müssen
Sie endlich beenden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich weiß, Herr Präsident. Ich komme zum letzten
Satz.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718401300

Sie wissen, dass ich Ihnen fast immer länger zuhören

könnte, als Ihre Fraktion überhaupt Redezeit hat. Aber in
einem gewissen Umfang bin ich an die Einhaltung unse-
rer Geschäftsordnung gebunden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Der will gegen seinen eigenen Beschluss stimmen! Deswegen hat er zusätzliche Redezeit!)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718401400

Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Das zeigt,

dass die Linke schon deswegen ein besseres Wahlergeb-
nis braucht, damit wir hier längere Redezeiten bekom-
men.


(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber konträr zur realen Entwicklung!)


Aber abgesehen davon, sage ich Ihnen noch eines,

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1718401500
Sie wollen jetzt eine politische
Union in Europa. Das kommt sehr spät. Das war schon
bei der Einführung des Euro dringend erforderlich. Aber
was für eine politische Union wollen Sie? Eine der
Spaltung! Wir kämpfen weiter gegen ein Europa der
Knebelung, der zerstörerischen Sparpolitik,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt aber schnell ein paar Schlagworte zum Schluss!)


gegen ein Europa der Banken und für ein friedliches, de-
mokratisches und soziales Europa. Anders wird es nicht
gehen.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Das nennt sich Phrasenschluss! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wunderbar!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718401600

Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1718401700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Gysi, nur eine Anmerkung zu Ih-
nen: Ich glaube, Sie brauchen nicht mehr Redezeit hier
im Deutschen Bundestag, sondern Sie bräuchten mehr
Redezeit auf den Parteitagen der Linken, um noch ein-
mal deutlich zu machen, worum es bei Ihnen wirklich
geht. Sich hier hinzustellen und zu behaupten, man sei
handlungsfähig, in der eigenen Truppe aber Hass fest-
zustellen, das passt einfach nicht zusammen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber jetzt zur Sache. Dieses G-20-Treffen findet in
einer außergewöhnlich schwierigen Zeit statt, in der
viele Menschen aufgewühlt sind und sich die Frage stel-
len: Wie soll es weitergehen, nicht nur in Europa, son-

dern in der ganzen Welt? Sie hören dann zwei Strategien,
die grundsätzlich richtig sind und die auch von der SPD
und von Frank Steinmeier als richtig dargestellt worden
sind: auf der einen Seite Konsolidierung, weniger Schul-
den, also Solidität, und auf der anderen Seite Wachstum,
Solidarität mit denen, die in Schwierigkeiten sind. Dies
ist zunächst unbestritten. Darum wird es jetzt in Mexiko
gehen.

Aber da die Volkswirtschaft keine mathematische
Formel ist, bei der eins plus eins gleich zwei ist, sondern
zu der auch Einschätzungen gehören, zu der es gehört,
Menschen davon zu überzeugen, dass man einen be-
stimmten Weg gehen muss, versucht eine ganze Reihe
von Politikern wieder einmal, den schweren Teil des We-
ges, nämlich die Solidität, nicht so ernst zu nehmen und
stattdessen etwas Leichteres vorzuschlagen, nämlich
Wachstumsperspektiven zu formulieren.

Wir haben aber in den Krisensituationen 2008 und
2009 gesehen, wie schwer es ist, eine Krise zu bewälti-
gen, Solidität herzustellen und Wachstumsimpulse zu
geben. Natürlich haben wir in der Krise 2008, 2009 und
2010 auch Wachstumsimpulse gegeben. Aber wir haben
dafür auch einen Preis bezahlen müssen.

Der letzte Haushalt in dieser Krisensituation wies bei
der Neuverschuldung einen Ansatz von über 80 Milliar-
den Euro aus. Danach war eine wirklich sparende Poli-
tik notwendig. Wenn wir auf dem Weg weitergemacht
hätten, von dem Sie, Herr Steinmeier, jetzt sprechen
– immer weiter neue Schulden, um das Wachstum zu
fördern –,


(Zuruf von der SPD: Quatsch!)


dann müssten Sie mehr Zinsen zahlen, als Sie Einnah-
men an Steuern haben. Das kann nicht funktionieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Ernstberger [SPD]: Das stimmt doch nicht!)


Das ist an Ihrem Weg grottenfalsch.

Deswegen müssen wir sagen: Ja, zwei Dinge gehören
zusammen. Erstens geht es um die Perspektive: Es muss
konsolidiert werden.

Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, wie die
Weltwirtschaftskrise 2008 entstanden ist. Aus dieser
Weltwirtschaftskrise ist all das gekommen, womit auch
wir uns jetzt auseinanderzusetzen haben. Es war damals
die Entscheidung der amerikanischen Politik, dass jeder,
unabhängig davon, ob er es sich leisten kann oder nicht,
eine Immobilie haben soll. Dafür wurde Geld in den
Markt gegeben. Wachstum – auf Pump – wurde vorge-
täuscht. Das geht eine Zeit lang gut, aber dann kommt
der Tag, an dem zurückgezahlt werden muss. Wenn das
dann nicht geht, dann bricht das Ganze so zusammen,
wie es in Amerika und Spanien der Fall war.

Deswegen kann ich nur vor dem warnen, was jetzt an-
diskutiert wird. Wachstum auf Pump löst kein einziges
Problem und ist ungerecht gegenüber den nachwachsen-
den Generationen. Deswegen kann das so nicht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


Die Botschaft daraus heißt also zweitens: Wir dürfen
bei der Lösung der Probleme kein einziges Signal geben,
das in Richtung Wachstum auf Pump weist. Das Signal,
das Sie immer wieder geben wollen, heißt: Schwamm
drüber, was in der Vergangenheit war, Vergemeinschaf-
tung der Schulden! – Diejenigen, die etwas besser ge-
wirtschaftet haben, zahlen dann die ganze Veranstaltung.

Diese Botschaft ist falsch, weil daraus die Konse-
quenz gezogen wird: Wir brauchen gar nicht wirklich zu
konsolidieren; am Schluss wird immer eine Lösung ge-
funden, bei der diejenigen zahlen, die sich angestrengt
haben, und die anderen, die sich nicht angestrengt haben,
davonkommen. Das ist keine Lösung. Deswegen war der
Weg immer richtig, zu sagen: Wir wollen Konsolidie-
rungsmaßnahmen, und wir unterstützen durch Rettungs-
schirme, aber das alles muss auch Konsequenzen haben.

Jetzt erwarte ich natürlich, dass diese Konsequenzen
dann auch eingehalten werden. Es gibt den einen oder
anderen Hinweis aus Europa, noch einmal mit Griechen-
land zu reden. Ja, von mir aus können wir mit Griechen-
land reden. Aber was einmal als Bedingung dafür, dass
geholfen wird, vereinbart worden ist, muss eingehalten
werden; sonst hält sich niemand mehr daran.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das erwarte ich auch. Deshalb dürfen keine anderen Si-
gnale gegeben werden.

Auf dem Gipfel in Mexiko werden große Themen an-
gesprochen, beispielsweise die Nachhaltigkeit in der
Umweltpolitik. Wir in Deutschland und in Europa haben
gravierende Entscheidungen in der Energiepolitik und
darüber hinaus getroffen, damit der Klimawandel be-
kämpft wird und der CO2-Ausstoß reduziert wird. Aber
einige derjenigen, die uns tagtäglich große Ratschläge
erteilen, was gemacht werden muss, weigern sich, sich
auch an diese Verpflichtungen zu halten. Das geht nicht.
Es kann unmöglich sein, dass große Wachstumszentren
in der Welt den Umweltschutz nicht so ernst nehmen wie
diejenigen, die nicht so groß sind. Dabei hilft es nichts,
zu sagen: Wir haben über viele Jahre hinweg gar nicht so
hohe CO2-Ausstöße gehabt.

Es geht doch um die Beurteilung der jetzigen Situa-
tion. Deswegen kann ich die Vereinigten Staaten von
Amerika nur auffordern, für Nachhaltigkeit nicht nur in
der Finanzpolitik, sondern auch im Umweltschutz zu
sorgen. Da haben die Amerikaner noch einiges zu leis-
ten. Ich bitte die Bundeskanzlerin daher, dies ernsthaft
einzufordern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein Thema, das sich gerade auf dem bevorstehenden
Gipfel in Mexiko anbieten würde, steht nicht auf der
Tagesordnung. Wenn es um Wachstum und Armuts-
bekämpfung geht, dürfen wir nicht vergessen, dass ein
Grund, warum Armut nicht in ausreichendem Maße be-
kämpft werden kann, das internationale Verbrechen ist.
Gerade mit Blick auf Mexiko müssen wir überlegen, wie
wir international agierende Drogen- und Verbrecherban-
den bekämpfen können. Vieles in Afrika ist nicht mög-
lich, weil Bürgerkrieg herrscht. Vieles in Südamerika ist

nicht möglich, weil Banden Kriege führen. Daher bitte
ich herzlich, dass wir uns beim nächsten internationalen
Gipfel damit befassen. Ein Teil der Armutsproblematik
sind Bürgerkriege und Kriege, die von Banden angezet-
telt werden, um sich persönlich zu bereichern. Auch das
gehört auf die Agenda.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, dass wir in Europa auf dem richtigen Weg
sind. Aus Europa muss nun ein starkes Signal kommen.
Herr Steinmeier und Herr Trittin, wir können in Gesprä-
chen durchaus eine gute Lösung finden. Wir sollten Ihre
Vorstellungen und das, was wir verantworten können,
zusammenbringen, um ein gemeinsames Ergebnis im
Zusammenhang mit dem ESM und dem Fiskalpakt hin-
zubekommen.

Ich bitte allerdings darum, sich auf das zu konzentrie-
ren, was jetzt machbar ist. In Europa haben wir nämlich
das Problem: Kaum ist ein Problem richtig gelöst,
kommt schon wieder ein ganzer Wust an neuen Vor-
schlägen. Ich sage Ihnen daher: Ein Altschuldenfonds ist
zurzeit überhaupt kein Thema. Wenn Sie ständig über
neue Themen diskutieren und dann sagen: „Das machen
wir aber nicht“, dann tragen Sie nicht zur Beruhigung
der Märkte bei, sondern sorgen für Irritationen. Deswe-
gen bitte ich Sie: Lassen Sie uns das, was jetzt auf der
Tagesordnung steht, verabschieden und so den Märkten
ein gutes Signal geben. Erst dann sollten wir darüber re-
den, wie wir Europa weiterentwickeln können. Aber den
Märkten ständig etwas hinzuhalten und dann zu sagen:
„Das machen wir aber nicht“, macht den Appetit der
Märkte immer größer und die Handlungsfähigkeit immer
kleiner. Deswegen: Beschränken wir uns jetzt auf die
Entscheidungen zu ESM und Fiskalpakt; denn diese sind
notwendig, um voranzukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe die Bitte, die entsprechenden Entscheidun-
gen rasch zu treffen. Ich weiß, Herr Kollege Trittin, dass
es auch Überlegungen gibt, die Vorlagen zu ESM und
Fiskalpakt erst zu verabschieden, nachdem der europäi-
sche Gipfel zu Ende gegangen ist, also nicht Ende Juni,
sondern erst, wenn die Bundeskanzlerin vom Gipfel zu-
rückgekommen ist.

Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt und sage es
hier noch einmal: Eine solche Position stellt einen
schlimmen Rückfall in die Zeit vor den Regelungen dar,
die wir für die Parlamentsbeteiligung beschlossen haben.
Herr Trittin, Sie fordern doch vor jedem großen Gipfel
eine Regierungserklärung, damit wir hier im Deutschen
Bundestag unsere Wünsche und Vorstellungen formulie-
ren können, die die Bundesregierung bei solchen Gipfeln
vertreten soll. Dazu kann ich nur sagen: Ja, genau rich-
tig. Deswegen wollen wir, bevor die Bundeskanzlerin zu
dem entscheidenden Gipfel nach Brüssel fährt, hier im
Deutschen Bundestag unsere Bedingungen für ESM,
Fiskalpakt und ein Wachstumsprogramm formulieren
und nicht erst, wenn in Europa bereits einstimmig be-
schlossen worden ist. Parlamentsbeteiligung kann nicht
nur bedeuten, dem, was auf europäischer Ebene be-
schlossen wurde, einfach zuzustimmen. Deswegen sage





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


ich: Wer sich den anstehenden Entscheidungen im Juni
verweigert, nimmt die Parlamentsbeteiligung in diesem
Hohen Haus nicht ernst.

Ich bitte Sie daher, dies zu berücksichtigen und ge-
meinsam mit uns ein starkes Signal zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung wün-
schen wir viel Erfolg und eine glückliche Hand bei dem,
was in Mexiko zur Entscheidung ansteht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718401800

Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718401900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

deskanzlerin, jetzt ist doch wohl die Stunde der Wahrheit
und der Verantwortung, auch für diesen Deutschen Bun-
destag, was die weiteren Entscheidungen in Europa be-
trifft. Jetzt ist der Sommer gekommen, in dem es auch
darum geht, Europa und den Euro zu verteidigen. Es ist
die Stunde der Wahrheit. Ich muss an dieser Stelle ein-
mal auf die Karnevalsrede von Herrn Brüderle eingehen.
Sie halten hier eine Veräppelungsrede, während woan-
ders in Europa, in Griechenland zum Beispiel, sich die
Leute fragen, was mit ihrem eigenen Geld geschieht.
Dass Sie diese Stunde für eine Karnevalsrede nutzen,
finde ich ehrlich gesagt nicht angemessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben uns zugerufen, die Stunde der Wahrheit sei
jetzt gekommen. Dazu sage ich: Für die FDP ist die
Stunde der Wahrheit schon 2008 gekommen. Wir haben
angesichts der Bankenkrise eine Finanztransaktionsteuer
gefordert, damit auf dem Finanzmarkt das passiert, was
auch in der realen Wirtschaft üblich ist, nämlich dass bei
Transaktionen Steuern anfallen. Seit dieser Zeit wehren
Sie sich wie die Zicke am Strick. Das ist die Wahrheit.
Wir hätten schon vor vier Jahren weiter sein können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit und der Verant-
wortung für diesen Deutschen Bundestag. Ich sage Ihnen

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1718402000
Das heißt aber nicht,
dass wir einfach irgendeiner Vorlage der schwarz-gelben
Bundesregierung zustimmen; denn zur Wahrheit gehört
die Verantwortung. Dieser Bundestag hat die Verantwor-
tung, mit der Austeritätspolitik, mit dem Kaputtsparen
endlich Schluss zu machen; er muss sich für Investitio-
nen einsetzen und Solidarität in Europa organisieren.
Darin liegt unsere Verantwortung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es geht nicht darum, über irgendetwas abzustimmen,
sondern in dem Paket, das unter der Überschrift „Solida-
rität“ verabschiedet werden soll und bei dem es darum
geht, Europa und den Euro zu retten, muss auch tatsäch-
lich Solidarität und Zukunft drin sein.

Ihre Rede, Frau Merkel, bestand aus vielen warmen
Worten. Sie reden über die neue Agenda der G 20. Man
müsse Wege finden, das Soziale, das Ökologische und
das Ökonomische miteinander zu verbinden. Tun Sie es
doch einfach! Entscheiden Sie doch endlich über Pro-
gramme, die dies inhaltlich umsetzen! Wir wollen mehr
als Worte wie die, dass das Wachstum von Innovation
und grüner Ökonomie getragen werden müsse. Ich bin
davon überzeugt, dass von Innovationen und grünen
Technologien die größten Wachstumsimpulse ausgehen.
Effizienz, Einsparung, neue Energien sind die Stich-
worte, und zwar nicht nur für Europa, sondern auch zum
Beispiel für Afrika.

Frau Merkel hat darüber geredet, dass im Rahmen der
G-20-Programme zur Förderung der Kleinbauern be-
schlossen werden sollen. Es gehe darum, 50 Millionen
Afrikaner aus der Armut zu befreien. Das ist eine große
Zahl. Jeder Einzelne dieser 50 Millionen Afrikaner wird
sagen, dass ihm dies wichtig ist. Ich muss Ihnen aber
ehrlich sagen: Es reicht nicht, nur Investitionen von au-
ßen für 50 Millionen Afrikaner zu tätigen. Das Problem
des Hungers auf der Welt hat sich doch verschärft. Vor
zehn Jahren wollten wir die Zahl von 500 Millionen
hungernden Menschen halbieren. Was ist geschehen?
Nach zehn Jahren hat sich die Zahl verdoppelt. Wir
haben heute 1 Milliarde hungernde Menschen. Jetzt
kommen Sie mit einem Programm zur Förderung von
Kleinbauern.


(Widerspruch des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU])


Ich sage Ihnen: Wer wirklich nicht auf Kosten anderer
leben will, wer wirklich Green Growth will und im
Rahmen der G 20 und auf europäischer Ebene Verant-
wortung trägt, der muss auch einmal an das Eingemachte
gehen. Das haben Sie an keiner Stelle getan, selbst an
dieser nicht. Sie müssten sich in diesem Zusammenhang
einmal zur europäischen Agrarreform und zu den
Exportsubventionen äußern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie können in die G 20 einbringen, dass der Norden
nicht mehr auf Kosten des Südens leben sollte, auch was
die Ernährung und die Landwirtschaft betrifft. Sie haben
keine konkreten Maßnahmen an dieser Stelle genannt.

Sie reden über Protektionismus; ja, den gibt es. Aber
dann reden Sie doch mal über den Protektionismus, den
Europa selbst und Deutschland an der Stelle auf Kosten
anderer auslösen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben gesagt – Frank-Walter Steinmeier hat das
schon angesprochen –, wir bräuchten Initiativen zur
Regulierung der Finanzmärkte, auch für Los Cabos.





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


Aber da ist nichts gekommen. Wo ist denn eigentlich
Ihre Initiative zur Regulierung der Finanzmärkte?

Sie haben mal gesagt, es sollten kein Markt und kein
Instrument unreguliert bleiben. Aber dann muss man das
Thema doch sowohl in der EU als auch international je-
des Mal wieder auf die politische Agenda bzw. auf die
Tagesordnung setzen. Dazu habe ich von Ihnen an dieser
Stelle kein Wort gehört.

Als Sie davon redeten, wir bräuchten jetzt eine scho-
nungslose Analyse, bin ich zunächst zusammengezuckt,
jedoch bezog sich Ihre „schonungslose Analyse“ fast nur
auf die Staatsschuldenkrise. Aber ich sage Ihnen: Es
geht auch um eine Bankenkrise; es geht um das Verhal-
ten der Finanzmärkte. An der Stelle müssen Sie auch
Angebote machen, und zwar auf europäischer und auch
auf internationaler Ebene. Das hat gefehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Frage bzw. unsere Frage an Sie ist: Wann wol-
len Sie eigentlich angesichts der Situation in Spanien, in
Italien und in Griechenland, die man kaum zu beschrei-
ben braucht, sowie angesichts der Jugendarbeitslosigkeit
dort endlich aktiv werden? In bestimmten Jugendalters-
gruppen sind 50 Prozent arbeitslos. Die jungen Leute
kommen gut ausgebildet von den Unis und gehen quasi
über lange Zeit ins Nichts. Diese Jugendlichen sind Eu-
ropas Zukunft. Was bieten wir diesen Jugendlichen an?

Ich meine, dass jetzt die Verantwortung des Bundes-
tages und der Bundesregierung darin liegt, Europa in
dieser Stunde der Wahrheit und Verantwortung zu sagen:
Ja, jetzt strengen wir uns an. Jetzt hören wir endlich auf,
immer nur auf Sicht zu fahren. Jetzt hört Deutschland
endlich auf, die Handtasche und das Portemonnaie darin
geschlossen zu halten sowie hier nur eine Rede über die
begrenzten deutschen Fähigkeiten zu halten.

Für meine Begriffe ist hier eines entscheidend, näm-
lich die Sorge. Ich finde, dass wir und auch Sie, Frau
Merkel, die Aufgabe haben, angesichts der Sorge der
Menschen, wie viel sie noch zahlen können – diese
Sorge verstehen wir –, nicht nur das Portemonnaie zuzu-
halten, sondern in diesem Land wirklich offen zu erklä-
ren: Wir dürfen Europa nicht kaputtsparen. Deutschland
hat ein Interesse an einem prosperierenden Europa und
an der Hilfe für die Krisenländer jetzt, weil es auch um
unsere eigene Zukunft geht, die in Europa liegt. So
müssen wir handeln! – Diese Sätze habe ich von Ihnen
vermisst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Treten wir doch einmal für eine Europäische Union
ein! Frau Merkel, es reicht nicht, nur hin und wieder mal
davon zu sprechen, wenn die Kritik an Ihnen zu scharf
wird. Ich meine, dass man jetzt klar sagen muss: Schluss
mit der einseitigen Fokussierung lediglich auf Konsoli-
dierung! – Das ist nicht die einzige Antwort. Wir wollen
die Konsolidierung nicht aufgeben, aber wir müssen ein
zweites Standbein haben, wenn wir nicht im Laufe die-
ses Sommers den Euro endgültig gefährden wollen.

Ich will zu meinem Kollegen, Herrn Kauder, sagen:
Sie führen an der Stelle aus, es ginge uns nur um Wachs-
tum auf Pump. Das ist – ehrlich gesagt – Quatsch.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie habe ich gar nicht angesprochen!)


Es geht uns nicht darum, die Konsolidierungsbemühun-
gen aufzugeben. Es geht uns auch nicht darum, dass
Haushalte nicht konsolidiert werden, sondern dass wir
wirklich am Kern der Probleme anfangen und dass wir
zum Beispiel die Themen der europäischen Bankenauf-
sicht und der Kontrolle der Eigenkapitalsicherung anpa-
cken.

Es geht uns darum, zu sehen – das weiß auch jeder
Privathaushalt –: Du kannst nicht nur sparen, sondern du
musst dich auch um die Einnahmeseite der Zukunft
kümmern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wer keine Einnahmen hat, muss halt sparen!)


Man muss ermöglichen, dass etwas wächst. Hier nenne
ich nur etwa grüne Technologien, moderne Automobile
sowie die chemische Industrie. Man muss ermöglichen,
dass der Anlagenbau modern wird, meine Damen und
Herren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber Frau Künast, wer keine Einnahmen hat, muss sparen!)


Dann dürfen wir uns nicht getrennt betrachten, son-
dern wir sind Deutschland in Europa. Wenn es Europa
schlechtgeht, geht es Deutschland nicht sofort schlecht,
aber der Tag kommt, an dem es sich tatsächlich auch in
den Auftragsbüchern Deutschlands zeigt. Deshalb haben
wir das Interesse, gemeinsam vorzugehen. Und deshalb
haben wir das Interesse, nicht nur Sparpakete aufzule-
gen, sondern – das sage ich ganz klar – Spanien, Italien
und anderen Ländern den enormen Zinsdruck zu neh-
men. Wir brauchen einen Schuldentilgungsfonds, wie
Ihr Sachverständigenrat ihn vorgeschlagen hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Euro-Bonds light!)


Das hat im Übrigen auch das Europäische Parlament
mit den Stimmen Ihrer Kolleginnen und Kollegen von
der FDP gestern beschlossen. Denn nur bei reduziertem
Zinsdruck gibt es auch in diesen Staaten einige Möglich-
keiten mehr, nach vorne zu gehen, zu investieren und
etwas Neues zu entwickeln.

Wir brauchen als zweites Standbein einen Investi-
tionspakt für Europa. Die Eigenkapitalmittel der EIB
müssen erhöht werden, und darüber hinaus müssen im-
mer mehr Mittel gebunden werden für die Modernisie-
rung der Wirtschaft, für ökologisch sinnvolle Investitio-
nen – in Schiene, Stromnetz, Breitbandausbau –, weil
dort die Jobs der Zukunft – auch für andere Wirtschafts-
zweige – geschaffen werden. Wir brauchen eine Finanz-
transaktionsteuer. Wir müssen weitere Schritte hin zu ei-
ner Bankenunion vollziehen. Das alles gehört dazu, dass





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


wir tatsächlich zu einer politischen Union kommen und
die Defizite aufarbeiten.

Lassen Sie mich einen letzten Satz zu Rio sagen. Ich
finde es schon bedauerlich, Frau Bundeskanzlerin, dass
Sie nicht zur Rio-Folgekonferenz fahren. Wer über
Nachhaltigkeit redet, darf nämlich nicht nur grüne Luft-
blasen produzieren, sondern sollte in Rio zeigen, dass es
mit einer anderen Wirtschaft wirklich ernst gemeint ist.
Herr Kauder redete so schön über Fortschritt und Nach-
haltigkeit.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig! Schön!)


Wissen Sie: Dann muss man auch Taten folgen lassen.
Hollande fährt nach Rio. Auch wenn Sie dahin nur kurz
fahren würden, wäre es ein politisches Zeichen, dass
man auf dieser Ebene ernsthaft weitermachen will.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber keine Symbolpolitik!)


Es wäre im Übrigen längst richtig, wenn auch Ihre
Koalition die Blockaden aufgäbe. Fangen Sie nicht bei
Rio an, sondern fangen Sie damit an, einzusehen, dass es
ein Elend war und die deutsche Wirtschaft zurückwirft –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718402100

Frau Kollegin Künast.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718402200

– mein letzter Satz –, dass Sie zum Beispiel bei der

EU-Effizienzrichtlinie so lange blockieren, wie Sie es
getan haben. Da hätte man für Privathaushalte jede
Menge Energie einsparen können.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Im Bundesrat beispielsweise!)


Lassen Sie uns endlich die Bremsen lösen und losgehen.

Was wir brauchen, sind ein Deutschland in Europa
und ein Europa, das wirklich an sich selber glaubt, das
eine Vision hat, dass wir in Europa zusammenleben wol-
len, das solidarisch Schulden miteinander trägt –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718402300

Frau Kollegin!


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718402400

– und das dafür sorgt, dass es wirklich eine wirt-

schaftliche Entwicklung gibt, aus der Jobs entstehen und
in der nicht nur die alten Industrien gepampert werden.

Sie haben eine lange Rede gehalten, Frau Bundes-
kanzlerin. Aber Sie haben nicht die Zeichen für den Weg
nach vorne gesetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718402500

Frau Künast, Sie haben bereits vor längerer Zeit Ihren

letzten Satz angekündigt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie ist immer die letzte Rednerin und überzieht, sodass man das dann niemandem mehr abziehen kann!)


– Na ja, es kann sich bislang keine Fraktion über man-
gelnde Großzügigkeit in der Bewirtschaftung der Rede-
zeit beklagen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir wollen nur weiter für Großzügigkeit werben!)


Nächster Redner ist der Kollege Volker Wissing für
die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1718402600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Künast, was Sie uns mit dem Bild der
„Zicke am Strick“ sagen wollten, weiß ich nicht.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass Sie es noch einmal wiederholen!)


Was ich aber weiß, ist, welchen Titel eine Ausgabe des
Spiegels im Frühjahr 2010 hatte: „Grüne kämpfen gegen
die Wunderwaffe Wachstum“. Dabei hat er sich auf ein
Papier von Ihnen, Frau Künast, und von Herrn Trittin be-
zogen. Darin haben Sie Folgendes gesagt: „Wir halten
den Abbau des Wachstumszwangs … für erforderlich“.
Das war Ihre Politik. Damit lagen Sie zu 100 Prozent
falsch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das haben Sie damals gesagt, und Sie haben damit den
Eindruck geschaffen, eine schicke Truppe zu sein. Sie
haben der Welt eingeredet, mit Wachstum müsse Schluss
sein und es gebe mittlerweile einen ganz anderen Weg,
wie man den Wohlstand in Europa in Zukunft sichern
könne.

Als der Bundeswirtschaftsminister im Frühjahr dieses
Jahres an alle Vernünftigen in Europa appelliert hat:
„Wir brauchen wieder Wachstum, um aus dieser Krise
herauswachsen und gleichzeitig unseren Sozialstaat
stabilisieren zu können“, da hat Herr Trittin in der ihm
eigenen Art bescheiden gelächelt. Inzwischen haben Sie
erkannt, dass in ganz Europa das Thema Wachstum als
zentraler Bestandteil der Hoffnung erkannt worden ist.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Nur Sie haben es nicht erkannt!)


Sie fahren durch Europa – auch die Sozialdemokraten –
und reden plötzlich von Wachstum, nachdem wir dieses
Thema vorgegeben haben.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Nur: Weil Sie von grüner Seite sich jahrelang den Kopf
darüber zerbrochen haben, wie man Wachstum am bes-
ten abbauen sollte, und nicht darüber, wie man Wachs-
tum schaffen kann,





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)



(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch nicht so einen Quatsch, Herr Wissing!)


fällt Ihnen heute nichts dazu ein, wie man ein Wachs-
tumskonzept für Europa entwickeln kann.

Als Herr Trittin letzte Woche gefragt worden ist, ob
denn ein neues Wachstumskonzept mit neuen Schulden
einhergehen solle, hat er geantwortet, das sei für ihn
keine dogmatische Frage.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns ist das eine
Frage der Vernunft und des gesunden Menschenverstan-
des. Selbstverständlich können Wachstumsprogramme
nicht durch neue Schulden in Europa finanziert werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass ein solcher Unsinn von den Grünen immer noch
in der Öffentlichkeit vertreten wird, zeigt doch, dass sie
sich in Wahrheit nicht dem Kern des Problems in Europa
zugewandt haben.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Unsinn ist das richtige Stichwort für Ihre Rede!)


Auch die Sozialdemokraten müssen in dieser Frage
Ehrlichkeit an den Tag legen. Sich hinzustellen und zu
fordern, Europa dürfe nicht so viel sparen, aber gleich-
zeitig zu sagen, Deutschland spare nicht genug, passt
irgendwie nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen laden wir Sie ein, unseren Kurs des Fiskal-
pakts und der Stabilisierungspolitik in Europa zu unter-
stützen. Diese Politik hat aber immer zur Voraussetzung,
dass Schuldenbremsen so, wie wir sie in der deutschen
Verfassung implementiert haben, für ganz Europa gelten
müssen. Der Ausstieg aus dem Schuldenstaat muss für
ganz Europa eine Selbstverständlichkeit werden


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir können ja ganz aus dem Staat aussteigen!)


und darf nicht von Ihnen durch Hintertüren immer wie-
der infrage gestellt werden, liebe Kolleginnen und Kol-
legen.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Schrumpfen mit der FDP!)


Zur Wachstumsfrage: Wir können mit einer Besteue-
rung der Realwirtschaft, sei es durch eine Finanzmarkt-
besteuerung oder durch höhere Ertragsteuern, keinen
Beitrag für Wachstum in Europa leisten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ach, Sie sind gegen die Finanztransaktionsteuer! Gut, dass Sie es noch einmal sagen!)


Deswegen haben wir gemeinsam gesagt – ich bin auch
sehr froh, dass die Sozialdemokraten sich auf diesen
Kompromiss der Vernunft verständigen konnten –:


(Lachen bei der SPD)


Wer Wachstum schaffen will, darf nicht die Realwirt-
schaft zusätzlich belasten. Bleikugeln am Bein der Wirt-
schaft und des Mittelstandes in Europa schwächen Eu-
ropa und stärken Europa nicht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was für ein Popanz, den Sie da aufbauen!)


Deswegen sagen wir gemeinsam: Wir wollen einen Weg
zu einer solchen Steuer gehen. Wir wollen diesen Weg
aber nicht zulasten von Wachstumschancen in Europa
gehen, weil wir wissen, dass das uns alle schwächen
würde.

Deswegen stehen wir zu diesem Kompromiss.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718402700

Herr Kollege.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1718402800

Ich glaube, es ist ein Kompromiss der Vernunft. Er

wird gemeinsam auszufüllen sein. Wir werden darüber
auch noch im Konkreten zu diskutieren haben. Wir soll-
ten uns aber nicht auseinanderdividieren lassen. Wachs-
tum schafft man nicht durch Belastung der Wirtschaft,
sondern Wachstum schafft man, indem man neue Kräfte
der Freiheit in Europa mobilisiert.


(Joachim Poß [SPD]: Versuchen Sie es jetzt doch einmal mit geistigem Wachstum!)


Dazu laden wir Sie ein; dafür stehen wir zur Verfügung –
und nichts anderes.

Wir sollten dankbar sein, dass die Bundeskanzlerin
mit Härte einen Konsolidierungskurs in Europa einfor-
dert. Das muss der erste Schritt sein. Deswegen appel-
liere ich an Sie: Sagen Sie Ja zum Fiskalpakt. Sagen Sie
Ja zum Europäischen Stabilitätsmechanismus. Wir ha-
ben es in der Hand, die gemeinsame Währung schon im
nächsten Monat mit einem klaren Signal zu stabilisieren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718402900

Herr Kollege, jetzt müssen Sie wirklich zum Ab-

schluss kommen.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1718403000

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Wir sollten

uns nicht auf die Ebene von politischem Klein-Klein be-
geben und damit die Märkte zusätzlich verunsichern.
Die Lösung liegt auf dem Tisch. Greifen wir zu. Ge-
meinsam schaffen wir das.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718403100

Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1718403200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist unbestritten, dass die weltwirtschaftliche Entwick-
lung die Dynamik der vergangenen Jahre noch nicht er-





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


reicht hat. Genauso unbestritten ist, dass die Konsequen-
zen der internationalen Finanzkrise immer noch in der
Konjunktur-, in der Wachstumsentwicklung spürbar
sind. Darum ist es auch richtig, dies alles jetzt beim
G-20-Gipfel gemeinsam zu diskutieren. Schließlich erle-
ben wir als Folge dieser Finanzkrise, dass nicht nur in
den europäischen, sondern auch in vielen anderen Indus-
triestaaten die Staatsverschuldung zu hoch ist. In man-
chen europäischen Ländern haben wir zusätzlich mit den
Gefahren der Rezession zu kämpfen.

Meine Damen und Herren, das alles macht deutlich:
In dieser Zeit ist es nicht angebracht, irgendwelche
Schuldzuweisungen von einem Staat zum anderen Staat
vorzunehmen. Was wir jetzt brauchen, ist vielmehr, dass
jeder Staat seine Hausaufgaben auch selber macht und
sich der Probleme bewusst ist, die im eigenen Land be-
stehen, diese auch angeht und gemeinsam mit anderen
verantwortungsvoll diskutiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Deutschland stehen wir noch vergleichsweise gut
da. Deutlich wird das an den Arbeitslosenzahlen, an der
Erwerbstätigenentwicklung insgesamt. Wir sind wieder
Konjunkturlokomotive in Europa.

Meine Damen und Herren, das kommt nicht von al-
lein. Das ist immer noch zurückzuführen auf die Politik
der letzten Jahre, auf die Politik, die schon in der letzten
Legislaturperiode Markenzeichen unter Bundeskanzlerin
Angela Merkel war, nämlich den Dreiklang „Konsolidie-
ren, Reformieren und Investieren“. Alles drei war glei-
chermaßen wichtig. Keines der drei Ziele darf allein ste-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Daran ist auch deutlich geworden, dass Haushaltskon-
solidierung, solides Wirtschaften, sparsames Wirtschaf-
ten kein Gegensatz zu Wachstumsimpulsen ist. Das ha-
ben wir in Deutschland bewiesen, und das ist auch der
Kurs in Europa. Dieser Kurs muss uns in Europa und da-
rüber hinaus weiter tragen. Deshalb ist auch der Fiskal-
vertrag so bedeutend und wichtig für uns. Damit wird
der Grundstock für eine Stabilitätsunion in Europa ge-
legt mit einer rechtlichen Fixierung, die wesentlich wei-
ter geht als das, was bisher auf europäischer Ebene ver-
einbart wurde. Mit dieser rechtlichen Fixierung eines
soliden Haushaltens in den einzelnen europäischen Staa-
ten kann auch wieder Vertrauen geweckt werden, was
notwendig ist: Vertrauen der Finanzmärkte in die Politik
der einzelnen europäischen Staaten. Deshalb ist es ein
Akt der staatspolitischen Vernunft und nichts anderes,
diesem Fiskalvertrag nicht nur zuzustimmen, sondern
ihn auch schnell zu verabschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich ist es dabei nicht nur legitim, sondern auch
geboten, über notwendige Wachstumsimpulse zu reden.
Das tun wir übrigens nicht erst seit wenigen Tagen und
Wochen, sondern schon seit langem. In dem ganzen Pro-
zess der Entscheidungen über die Stabilisierung der eu-
ropäischen Währung, bei jedem Gipfel war das ein
Thema. Nun sind wir in einer Phase, in der wir diese Ge-

spräche konkretisieren, in einer Phase, in der konkret
nachgedacht wird beispielsweise über höheres Kapital
bei der Europäischen Investitionsbank, über Projektan-
leihen, über Änderungen und Verschiebungen beim EU-
Haushalt, bei den Kohäsionsfonds und bei vielem ande-
ren mehr. Das alles ist nicht nur legitim, sondern auch
notwendig.

Das, was bei der Wachstumsdiskussion aber auf kei-
nen Fall zielführend ist, ist die Diskussion über Pro-
gramme – Wachstumsprogramme oder wie auch immer
sie genannt werden –, die durch zusätzliche Schulden fi-
nanziert werden. Es muss uns immer klar sein: Konsoli-
dierung und Wachstum gehören zusammen. Zu Wachs-
tum kommt es nicht, wenn nicht die erste Stufe, nämlich
die Haushaltskonsolidierung, stattfindet.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber auch Investitionen sind notwendig!)


Zu Wachstum kommt es auch nicht, wenn nicht die not-
wendigen Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und
im sozialpolitischen Bereich getätigt werden.

Wenn jetzt in einigen europäischen Ländern die Dis-
kussion darüber aufkommt, schon vorgenommene Struk-
turreformen im Arbeitsmarktbereich und im sozialpoliti-
schen Bereich wieder zurückzunehmen


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


oder auch notwendige Reformen gar nicht anzugehen,
dann, meine Damen und Herren, versündigt man sich an
dem Ziel der Wachstumsimpulse, an dem Ziel, die Staa-
ten voranzubringen und für eine solide wirtschaftliche
Entwicklung zu sorgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn es so kommt, dann wird man auch die Zeche
dafür bezahlen müssen, nämlich in Form fehlender oder
schlechterer Bonität, höherer Zinsen für die Staaten und
nicht zuletzt sinkenden Vertrauens in die Finanzpolitik
und in die Politik dieser Staaten. Das, meine Damen und
Herren, ist das Allerschlimmste;


(Zustimmung des Abg. Eduard Oswald [CDU/ CSU])


denn Vertrauen in die Politik, Vertrauen in ein solides
Wirtschaften, das ist die Grundlage dafür, dass sich die
Wirtschaft gesund entwickeln kann.

Zur Finanztransaktionsteuer ist schon vieles gesagt
worden; ich brauche das nicht zu vertiefen. Ich darf für
die CSU nur sagen: Bei uns rennen all diejenigen, die
eine Besteuerung der Finanzmärkte auf europäischer
Ebene wollen, offene Türen ein. Wir werden den Bun-
desfinanzminister bei seinen Bemühungen, hier europa-
weit voranzukommen, mit aller Tatkraft unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun hat sich in den Oppositionsparteien mittlerweile
erfreulicherweise eine doch etwas skeptische Haltung
gegenüber Euro-Bonds, die früher immer gleich als Ers-
tes thematisiert wurden, eingestellt. Ich begrüße das





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


sehr. Es zeigt, dass durchaus Lernbereitschaft vorhanden
ist. Der Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds ist letzt-
lich jedoch nichts anderes als die Einführung von Euro-
Bonds durch die Hintertür.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Holger Krestel [FDP])


Wenn man meint, damit die Probleme zu lösen, dann ist
man auf einem völlig falschen Weg. Mit einer Verge-
meinschaftung der Schulden nehmen wir den einzelnen
Ländern jeden Druck, selbst etwas dagegen zu tun. Es ist
volkswirtschaftlich sinnlos. Es ist rechtlich nicht mög-
lich. Es ist ein Verrat an den deutschen Interessen. Des-
halb werden wir dieses nicht zulassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb haben Sie die EZB in den Aufkauf von Staatsanleihen getrieben! Das ist Vergemeinschaftung von Schulden!)


Wir brauchen ein hohes Maß an Verantwortung in un-
serem politischen Handeln: Verantwortung bei den Kri-
senländern, Verantwortung bei allen Industrieländern,
nicht nur bei den europäischen, Verantwortung in beson-
derer Weise auch von Deutschland. Die Erwartungen
Europas in unser Land sind groß. Diese Erwartungen
sind nicht nur von der Regierung und den Koalitions-
fraktionen zufriedenzustellen, sondern sie gehen das
ganze Haus an. Ich stelle mit Zufriedenheit fest – das
möchte ich ausdrücklich anerkennen –, dass wir bei der
Vorbereitung der Entscheidung über ESM und Fiskalver-
trag in guten Gesprächen sind.

Bei dieser Gelegenheit betone ich vor allem: Das, was
die Bundeskanzlerin in den vergangenen Monaten und
Jahren an Verantwortung unter Beweis gestellt hat, war
und ist eine großartige Leistung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sehen wir anders!)


Sie hat mit Durchsetzungskraft und Hartnäckigkeit nicht
nur deutsche Interessen immer vertreten, sondern sie hat
auch dazu beigetragen, dass wir auf einem guten Weg zu
einer nachhaltigen und dauerhaften Stabilitätsunion in
Europa sind. Deshalb werden wir sie auf diesem Weg
weiterhin unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1718403300

Der Kollege Poß erhält nun das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1718403400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegin Hasselfeldt, ich gebe gerne zu, dass die Frau
Bundeskanzlerin in einem Fach eine Meisterin ist: Sie ist
eine Meisterin in der Feindbildpflege. Das hat sie heute
Morgen wieder bewiesen, indem Sie einen Popanz über
die schuldenhungrigen Sozis und Grünen an die Wand

gemalt und nichts Sachliches zu dem Thema berichtet
hat.


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU und der FDP)


Damit wird ein Thema tabuisiert, das uns alle – auch
Sie – einholen wird. Im Bericht der sogenannten Vierer-
bande zum Europäischen Rat Ende des Monats wird die-
ses Thema auftauchen.

Und Sie sollten sich ganz grundsätzlich wegen der
Schulden hier nicht so aufblasen, egal ob Herr Kauder
oder Herr Brüderle – Sie und alle anderen Fraktionsvor-
sitzenden treffen sich jetzt mit der Kanzlerin; das ist in
Ordnung –; denn dazu haben Sie doch keinen Anlass.
Schließlich beschließen Sie heute Nachmittag eine Neu-
verschuldung, die fast doppelt so hoch ist wie in diesem
Jahr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was reden Sie da von Verschuldung? Reden und Han-
deln fallen auch hier wieder total auseinander. Das ist so-
zusagen Ihr Markenzeichen. Daran ändert sich nichts.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung, und wir set-
zen sie auch durch. Offenkundig hat sich die Bundes-
kanzlerin dazu entschlossen, den gelben Koalitionspart-
ner – Herr Wissing, ein besonders berüchtigter
Protagonist, will die Steuer verhindern – zu domestizie-
ren, um das Vernünftige durchzusetzen.


(Zuruf des Abg. Holger Krestel [FDP])


Frau Merkel hat zweieinhalb Jahre gebraucht, um ein
Stück Vernunft in der Koalition durchzusetzen. Es ist
doch kein Grund, auf diese überfällige Leistung stolz zu
sein.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung durchsetzen,
alleine schon deshalb, um nicht mehr Schulden machen
zu müssen. Wir brauchen sie für die Konsolidierung wie
auch für Wachstumsinitiativen; auch das ist der Sinn die-
ser Finanzmarktbesteuerung.

Also: Sie haben keinen Anlass zu irgendeinem Stolz.
Das, was Frank-Walter Steinmeier hier festgestellt hat,
nämlich dass von Ihnen null Initiative im Hinblick auf
den nächsten G-20-Gipfel kommt – es wären viele Initia-
tiven zu ergreifen; diese wurden thematisiert –, ist voll-
kommen richtig.

Ihnen ist die Initiative abhandengekommen. Und wa-
rum? Weil Sie in Ihrer eigenen Koalition in wichtigen
zentralen Fragen wie der Finanzmarktbesteuerung eben
nicht einer Meinung waren. Welche Position sollte die
Bundeskanzlerin denn dann auf internationalen Gipfeln
nachhaltig vertreten? Ein nachhaltiges Auftreten war ja
gar nicht möglich.

Es ist schon beschämend, dass in diesem Parlament
von der Koalition bei der Frage der Finanzmarktbesteue-
rung bis in den heutigen Morgen hinein taktiert, verwei-





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)


gert und blockiert worden ist. Es ist beschämend, dass es
Frau Merkel zweieinhalb Jahre lang nicht gelungen ist,
in dieser Frage eine klare Linie in ihrer Koalition durch-
zusetzen, und dass sie sich vom kleinen Koalitionspart-
ner FDP hat auf der Nase herumtanzen lassen. Damit ist
jetzt Schluss!


(Lachen bei der FDP)


Auf unseren Druck und weil es anders einfach nicht
geht,


(Holger Krestel [FDP]: Es ist wirklich schade um die fünf Minuten, Herr Poß!)


musste die FDP jetzt klein beigeben. Das ist Fakt. Die
FDP musste klein beigeben und nichts anderes. Das
hätte man viel eher haben können.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen ist die aktuelle Entwicklung gut. Sie ist
auch noch aus einem anderen Grunde gut: Für die Men-
schen in unserem Lande ist mit den krisenhaften Ent-
wicklungen der letzten Jahre einiges gehörig in Schief-
lage geraten. Die Menschen empfinden es als zutiefst
ungerecht, wie die Lasten der Krise verteilt worden sind
und dass die Krisenverursacher in der Finanzbranche
viel zu gut davongekommen sind. Das muss korrigiert
werden.


(Beifall bei der SPD)


Das meinen im Übrigen nicht nur die Anhänger der Op-
positionsparteien, das meinen auch Ihre eigenen Anhän-
ger. Das erfährt man, wenn man einmal mit ihnen
spricht. Diejenigen, die normalerweise FDP oder CDU
bzw. CSU wählen, sagen: So kann das nicht weiterge-
hen.

In diesen Tagen erleben wir, dass die Lobbyisten wie-
der mobil machen, auch in den Medien. Davon darf man
sich nicht beeindrucken lassen. Die Finanztransaktion-
steuer kann so konstruiert werden, dass schlimme Ef-
fekte auf Altersversorgung usw. eingedämmt und in
Grenzen gehalten werden können. Es ist das alte Spiel:
Die vermeintlichen Interessen der Kleinen werden vor-
geschoben, damit diejenigen, die bisher kassiert haben,
auch weiterhin gehörig kassieren können. Dieses Spiel
läuft hier ab, meine Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718403500

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1718403600

Wir machen dieses Spiel nicht mit. Wir hoffen, dass

wir gemeinsam – auch wenn Sie dabei Bauch- oder
andere Schmerzen haben – zu einer vernünftigen Lösung
in der Bundesrepublik Deutschland,


(Holger Krestel [FDP]: Wetten, dass Sie zustimmen?)


in Europa, möglichst in der Euro-Zone kommen werden
und zusammen mit anderen Partnern zu einer verstärkten
Zusammenarbeit finden werden.


(Holger Krestel [FDP]: Sie werden am Ende zustimmen!)


Mal sehen, wie Sie sich weiter verhalten werden.


(Beifall bei der SPD – Holger Krestel [FDP]: Jetzt ist die Luft raus!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718403700

Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1718403800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe, wie
auch Sie, zwei Stunden lang dieser abwechslungsreichen
Debatte gelauscht. Am Ende einer Debatte frage ich
mich immer: Was sind denn die Erkenntnisse für die hof-
fentlich zahlreichen Zuschauer an den Fernsehgeräten
und für die Damen und Herren, die unsere Debatte hier
mit hoffentlich großem Interesse unmittelbar verfolgen?

Nach meiner Einschätzung gibt es drei wesentliche
Erkenntnisse.

Erstens spüren die Menschen, dass auch wir Politiker
nicht auf alle Fragen, nicht auf alle Herausforderungen
der weltweiten Zukunft perfekte, allumfassende Antwor-
ten haben. Sie merken, dass auch die Politik um den
richtigen Weg ringt. Ich hoffe aber, die Menschen spüren
auch, dass es einen wesentlichen Fortschritt in unserer
politischen Generation gibt.

Ich will einmal 25 Jahre zurückblicken: Vor 25 Jahren
herrschten der Kalte Krieg, Sprachlosigkeit und Feind-
schaft. Auf dieser Welt standen sich Blöcke gegenüber.
Heute sprechen wir über den G-20-Gipfel, auf dem die
führenden 20 Nationen dieser Erde vertreten sind – sie
generieren 90 Prozent des globalen Bruttoinlandspro-
dukts –: Australien, natürlich die Vereinigten Staaten
von Amerika, Russland, China, Indien, Brasilien, Argen-
tinien, die Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika. Ich will das
bewusst auch einmal den jungen Zuhörern sagen. Man
könnte sagen, dass die ganze Welt miteinander spricht.

Die Nationen sprechen miteinander über drei Ziele
– ich habe das einmal herausgesucht; auch das sollten
wir deutlich machen –: Sie sprechen über das Ziel, öko-
nomische Stabilität und nachhaltiges Wachstum für un-
seren Planeten zu organisieren. Sie sprechen gemeinsam
über das Ziel, Risiken zu reduzieren und zukünftige
finanzielle Krisen zu vermeiden. Sie sprechen gemein-
sam über das Ziel, eine neue internationale Finanzarchi-
tektur zu errichten. Meine Damen und Herren, da hat
sich auf diesem Planeten doch Gott sei Dank etwas geän-
dert.

John F. Kennedy hat gesagt:

Unsere Probleme sind von Menschen gemacht.
Deshalb können sie von Menschen gelöst werden.

Wenn er mit diesen Sätzen recht hatte, dann sollte eine
wesentliche Erkenntnis des heutigen Tages sein: Es wäre
doch gelacht, wenn die 20 bedeutendsten Staats- und





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)


Regierungschefs, die 20 unterschiedlichen, aber größten
Nationen dieser Erde es nicht gemeinsam schaffen, die
Probleme dieses Planeten auch in der Zukunft für kom-
mende Generationen gemeinsam zu lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Holger Krestel [FDP])


Ich glaube, die Menschen spüren ein Zweites: Ja,
Sparen und Konsolidieren sind unpopulär und schwierig.
Es fordert Opfer, und wir reden über Verteilung: Wen
belastet das mehr? Wen belastet das weniger? Was ist
gerecht? – Aber, meine Damen und Herren, die Men-
schen spüren auch, dass Wachstum nur wenige Voraus-
setzungen haben kann:

Eine Voraussetzung ist relativ einfach – einige Länder
dieser Erde verzeichnen es –: Bevölkerungszuwachs.
Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen: In Europa, ins-
besondere in Deutschland, ist das nicht der Fall.

Eine zweite Möglichkeit, für nationales Wachstum zu
sorgen, ist Verschuldung, also Wachstum auf Pump. Wir
stellen wahrscheinlich gemeinsam fest: Das ist ein Teil
– wahrscheinlich die wesentliche Ursache – der Pro-
bleme, über die wir heute reden.

Dann bleibt nur ein dritter Weg für Wachstum übrig.
Ich will ihn in dieser Debatte deutlich herausarbeiten,
weil er eine Stärke der Bundesrepublik Deutschland ist:
Es bleibt der Weg übrig, Wachstum durch Innovation,
Ideen, Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu
erreichen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns da einmal
zufrieden und stolz sein: Was der deutsche Mittelstand
und deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
den letzten Jahren bewiesen haben, sind Innovations-
fähigkeit, Ideenreichtum, Wettbewerbsfähigkeit und
Leistungsbereitschaft. Das ist weltweit ein Statussymbol
dieser Bundesrepublik Deutschland. Also lassen Sie uns
bei anderen stolz und zufrieden für unseren Weg werben.

Im Übrigen will ich an dieser Stelle eines ausdrück-
lich sagen: Auch die Qualifikation und die Einsatzbereit-
schaft unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind Standortvorteil dieser Bundesrepublik Deutschland,
auf den wir stolz sein sollten. Denn das ist die Grundlage
unseres Wachstums; momentan sind wir Stabilitätsanker
in Europa.

Wer glaubt, fehlende Wettbewerbsfähigkeit mit der
Reduzierung des Renteneintrittsalters bekämpfen zu
können, der ist noch nicht wirklich in diesem Jahrhun-
dert mit seinen demokratischen, medizinischen und an-
deren Entwicklungen angekommen. Wer glaubt, durch
die Vergemeinschaftung von Schulden die richtigen An-
reize für einen verantwortungsvollen Umgang mit Geld
zu setzen, der schätzt die Motive der Menschen wieder
einmal falsch ein. Darüber ist übrigens Ihr Sozialismus,
lieber Herr Gysi, schon einmal gestolpert: Er hat schlicht
und ergreifend die Motive von Menschen falsch einge-
schätzt. Wenn wir ehrlich über die Motive von Men-
schen reden, dann müssen wir feststellen, dass es natür-
lich Anreize zum Sparen, zum verantwortungsvollen
Umgang mit Ressourcen geben muss. Insofern ist die

Vergemeinschaftung von Schulden genau der falsche
Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Holger Krestel [FDP])


Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ges-
tern die Troika der SPD im Élysée-Palast Vorwahlkampf
veranstaltet hat.


(Elke Ferner [SPD]: Lügen Sie doch nicht!)


– Ja, das habt ihr gut organisiert. – Ich hätte mir nur
eines gewünscht: Zur Ehrlichkeit hätte es auch gehört,
dem neuen französischen Präsidenten zu sagen, dass
seine Rücknahme der Anhebung des Renteneintrittsal-
ters genau das falsche Signal der zweitwichtigsten
Volkswirtschaft der Euro-Zone an die Märkte ist. Auch
hier müsste die SPD sich ehrlich machen und nicht par-
teitaktisch argumentieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die dritte Erkenntnis ist, dass gerade in krisenhaften
Zeiten die Menschen ihrer politischen Führung vertrauen
möchten – auch wenn sie wissen, dass es nicht auf alles
eine perfekte Antwort gibt – und dass sie Ehrlichkeit und
Verlässlichkeit erwarten. Es wundert mich deshalb nicht,
dass alle Umfragen unter der Bevölkerung ergeben, dass
die Bundeskanzlerin gerade in Bezug auf diese Werte
hohes Ansehen genießt. Man spürt, dass Angela Merkel
mit Sachkunde, Ehrlichkeit und Berechenbarkeit auf in-
ternationaler Ebene versucht, für Deutschland und für
Europa den richtigen Weg auch in das kommende Jahr-
zehnt zu organisieren.

Ich wünsche mir für die Zukunft, dass auch die Oppo-
sition bereit ist, den Fiskalpakt und die notwendigen
Schritte in Europa zu unterstützen; denn wenn es um his-
torische Fragen geht, dann sollte es in Deutschland kei-
nen Unterschied zwischen Opposition und Regierung
geben. Ich wünsche mir nicht nur, dass die Bundesregie-
rung uns auf dem G-20-Gipfel gut vertritt, sondern ich
wünsche mir auch, dass insbesondere die Sozialdemo-
kraten der europäischen Rettung, dem Fiskalpakt zu-
stimmen und von Deutschland das klare Signal an die in-
ternationale Staatengemeinschaft ausgeht: Wir stehen zu
unserer Verantwortung, wir wollen konsolidieren und
trotzdem wachsen, und wir denken dabei insbesondere
an die Menschen, die jeden Tag fleißig für unseren ge-
meinsamen Wohlstand arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718403900

Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-

Fraktion.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1718404000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland ist solidarisch. Deutschland ist solidarisch,
wenn es darum geht, den freien Handel weltweit zu för-
dern, weil er allen hilft. Deutschland ist solidarisch bei
der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenar-





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


beit. Deutschland ist auch beim Klimaschutz solidarisch;
denn hier gehen wir voran.

Deutschland ist auch in Europa solidarisch. Deutsch-
land kann aber nur so lange solidarisch sein, solange es
selbst stark ist, und wir sind stark, weil wir unsere Haus-
aufgaben gemacht haben.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn „wir“?)


– Wir in Deutschland. Auch die rot-grüne Bundesregie-
rung hat mit der Agenda 2010 unsere Bemühungen auf
dem Arbeitsmarkt unterstützt, indem sie Rahmenbedin-
gungen geschaffen hat, die dazu beigetragen haben, dass
unser Arbeitsmarkt so stark ist wie nie zuvor. Während
andere Staaten in Europa mit der höchsten Arbeitslosig-
keit aller Zeiten zu kämpfen haben, verzeichnet
Deutschland die höchste Beschäftigungsquote der Nach-
kriegszeit. Das ist das Ergebnis einer Politik, die auf
Konsolidierung und Wachstum setzt. Wir haben uns
nicht nur auf einen der beiden Aspekte konzentriert, son-
dern wir haben sie in Übereinstimmung gebracht,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


und zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch
auf den Gütermärkten.

Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen,
deutscher Produkte und deutscher Dienstleistungen ist so
gut wie nie. Wir sind gut aufgestellt. Wir haben auch in
den Bereichen Finanzmarkt und Haushaltskonsolidie-
rung gehandelt. Wir haben sowohl für die Häuslebauer
als auch für die deutsche Wirtschaft, vor allem für den
Mittelstand, Kredite bereitgestellt, damit er seine Inves-
titionen weiter vorantreiben kann.

In Europa sieht es anders aus. In Europa brennt es
zum Teil offen, zumindest schwelt es. Deutschland ist
bereit zur Solidarität. Deutschland ist bereit, sich an dem
Feuerwehreinsatz zu beteiligen und zu löschen. Aber
auch beim Löschen gilt es, den alten Feuerwehrgrund-
satz des Selbstschutzes zu beachten. Wachstum darf
nicht auf Pump finanziert werden. Um für Wachstum zu
sorgen, braucht man die richtigen Instrumente. Ich gebe
Herrn Steinmeier zwar recht, wenn er sagt, dass
Deutschland mutig vorangehen soll. Aber wir dürfen
nicht kopflos handeln; denn das wäre der direkte Weg in
den Abgrund. In diesem Zusammenhang möchte ich auf
die Euro-Bonds verweisen. Sie sind – wie es der Kollege
Brüderle sehr treffend ausdrückt – Zinssozialismus, sie
sind süßes Gift. Durch sie wird kein einziges Problem
gelöst; vielmehr werden notwendige Maßnahmen zur
Restrukturierung verzögert. Sie verhindern, dass not-
wendige Strukturreformen auf den Weg gebracht wer-
den. Das haben mittlerweile offensichtlich selbst die So-
zialdemokraten erfreulicherweise eingesehen.

Euro-Bonds sind nicht das, wofür sie manche halten.
Der EU-Kommissionspräsident sagt immer, dass wir
Euro-Bonds brauchen, weil die Anleger sich dann am
Stärksten orientieren würden. Genau das ist aber nicht
der Fall. Das wissen wir spätestens, seitdem der Chef des
chinesischen Investitionsfonds CIC in der letzten Woche

gesagt hat, dass China nicht in Euro-Bonds investieren
würde, weil man sich dann nicht am stärksten, sondern
am schwächsten Glied der Kette orientieren würde.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Das sollten wir uns einmal vergegenwärtigen: Euro-
Bonds hätten nicht nur zur Folge, dass Strukturreformen
nicht durchgeführt würden, sie würden uns auch nicht
hinsichtlich der Finanzierung während der Krise helfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ernst Hinsken und ich waren in der letzten Woche mit
dem Wirtschaftsminister in Saudi-Arabien. Auch der
saudi-arabische Finanzminister hat uns in aller Deutlich-
keit gesagt, dass man in deutsche Anleihen investiert,
weil man Vertrauen in Deutschland hat. Man würde
nicht in Euro-Bonds investieren, weil man im Moment
nicht sehe, dass die Probleme in Europa in der Form ge-
löst werden, wie das notwendig ist. Das sollte ein Alarm-
signal für uns sein. Wir sollten das Thema Euro-Bonds
nicht weiterverfolgen, weil Euro-Bonds das Problem
nicht lösen. Sie sind das Gegenteil: Sie sind Brandbe-
schleuniger und nicht zum Löschen der Krise in Europa
geeignet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das Gleiche gilt für den Altschuldentilgungsfonds. Die
Kollegin Hasselfeldt hat das Thema vorhin angespro-
chen. Das wäre die Einführung von Euro-Bonds durch
die Hintertür.

Ich glaube, jeder sollte seine Hausaufgaben machen.
Auch wir haben noch genug Hausaufgaben zu machen.
Wir haben 2 Billionen Euro Schulden, 2 000 Milliar-
den Euro Schulden, die wir selber abzutragen haben.
Das entspricht nach wie vor 80 Prozent unseres Brutto-
inlandsprodukts. Wir sind auf dem richtigen Weg, weil
die Wirtschaft bei uns schneller wächst, als die Verschul-
dung ansteigt. Deshalb konnten wir die Verschuldungs-
quote im letzten Jahr um 1 bis 2 Prozentpunkte nach un-
ten fahren. Das wird erfreulicherweise auch in diesem
Jahr der Fall sein. Insofern stimmt die Richtung.

Wir können und wollen auch keine Bankenunion ein-
führen, die im Augenblick von manchen vorgeschlagen
wird. Wir wollen eine europäische Bankenaufsicht. Inso-
fern wollen wir eine Bankenunion, und diesbezüglich
gibt es in der Tat noch einiges zu tun. Es kann nicht sein,
dass die nationale Bankenaufsicht nur für national tätige
Banken zuständig ist und die europäische Bankenauf-
sicht nur für grenzüberschreitende Tätigkeiten. Hinsicht-
lich der Finanzmarktregulierung gibt es da noch das eine
oder andere zu verbessern.

Genauso wenig sinnvoll wie die Vergemeinschaftung
von Schulden ist es, durch eine europäische Einlagen-
sicherung das europäische Vermögen zu vergemein-
schaften. Weder eine Vergemeinschaftung von Schulden
noch eine Vergemeinschaftung von Vermögen ist die Lö-
sung. Im Moment versucht man an allen Ecken und Kan-
ten in Europa, uns in die Transferunion zu locken oder
zu zwingen. Dass dieser nicht erfolgversprechende Weg





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


nicht eingeschlagen wird, das garantieren die CDU/
CSU- und die FDP-Fraktion in diesem Haus sowie die
Bundesregierung, die die notwendigen Schritte bisher
immer durchgesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir freuen uns über jede Unterstützung. Die Grünen
fordern aber leider zum Großteil das Gegenteil und sa-
gen, dass sie Euro-Bonds wollen. Ich bin mir noch nicht
so richtig sicher, was die SPD will. Ich weiß nicht, was
am Ende herauskommt, wenn das Trio Infernale öfter
nach Paris fährt. Ich bin mir nicht sicher, ob man dann
am Ende nicht doch wieder umfällt und Euro-Bonds for-
dert, in welcher Form auch immer.

Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit
auch: Wir wollen, dass der ESM und der Fiskalpakt
zusammen verabschiedet werden, weil sie zusammen-
gehören.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!)


Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen
Seite steht ein dauerhaftes Rettungsinstrumentarium für
schwierige Situationen, und auf der anderen Seite stehen
klare Regeln, was Haushalt, Wachstum und Konsolidie-
rung in Europa anbelangt. Beides gehört untrennbar zu-
sammen. Wir werden nie und nimmer das eine ohne das
andere verabschieden. Beide Dinge gehören untrennbar
zusammen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Bei aller Freude über die deutsche Situation: Wer
nicht immer besser wird, hört auf, gut zu sein. Wir soll-
ten aufhören,


(Elke Ferner [SPD]: Ja, Sie sollten aufhören!)


die Agenda 2010 schlechtzureden. Die SPD und andere
ihrer Kameradinnen distanzieren sich davon oder wollen
sie rückgängig machen. Die Agenda 2010 war notwen-
dig. Wir brauchen jetzt aber keine Agenda 2010, sondern
eine Agenda 2020 oder eine Agenda 2030, die Wachs-
tumsfesseln löst, die Technologieoffenheit, Technologie-
begeisterung schafft, die den Arbeitsmarktmotor in Fahrt
hält,


(Elke Ferner [SPD]: Wir brauchen eine andere Regierung, Herr Kollege!)


die die Rahmenbedingungen für Gründungen verbessert,
die bei Innovationstätigkeit, bei steuerlicher Förderung
von Forschungsfinanzierung und anderem entsprechend
positiv wirkt. Nur dann haben wir die Chance, dass
Deutschland weiterhin so stark bleibt, wie es ist, und
seine Solidarität in Europa und weltweit leisten kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718404100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Josip Juratovic,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes für
Frauen und Männer (Entgeltgleichheitsgesetz)


– Drucksache 17/9781 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Andrea Nahles
für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1718404200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich möchte mit einem Blick in die Zukunft be-
ginnen. Anlässlich des Equal Pay Day am 10. März 2015
gibt das Statistische Bundesamt eine Pressemitteilung
heraus. Die Überschrift lautet: Verdienstunterschiede
von Frauen und Männern gehen erstmals zurück. Weiter
heißt es in der Pressemitteilung: Wiesbaden – Der durch-
schnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen war in
Deutschland im Jahr 2014 um 15 Prozent niedriger als
der von Männern. Damit hat sich der unbereinigte Gen-
der Pay Gap erstmals seit Jahren verringert. Dies ist das
messbare Ergebnis des Entgeltgleichheitsgesetzes, das
am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist. – Das ist doch
einmal eine schöne Nachricht.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben es hier heute in der Hand. Sie können dafür
sorgen, dass diese schöne Nachricht tatsächlich den Weg
in die deutschen Zeitungen findet, indem Sie heute dem
Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zustimmen.
Wir müssen in Deutschland endlich mit dem Skandal
aufräumen, dass es einen Lohnunterschied zwischen
Männern und Frauen gibt. Diesen Lohnunterschied gibt
es aus einem einzigen Grund: weil die Frauen Frauen
sind. Das ist Entgeltdiskriminierung. Das muss man so
benennen, und das muss man beseitigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir erleben in dieser Frage vonseiten der Bundesre-
gierung vor allem Appelle. Im Hintergrund wird dieses
Thema auch noch wie eine heiße Kartoffel von einem
Ministerium zum anderen geschoben.


(Christel Humme [SPD]: Wo sind die Ministerinnen überhaupt?)






Andrea Nahles


(A) (C)



(D)(B)


Es im Grunde genommen egal, ob sich Frau von der
Leyen der Sache mal wieder wildernd im Ressort ihrer
Kollegin annimmt oder ob Frau Schröder es selbst
macht, unter dem Strich bleibt leider folgende Botschaft
für die Frauen in Deutschland: Eine schlechtere Interes-
senvertretung für Frauen in dieser Frage hat es in
Deutschland noch nicht gegeben. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage Ihnen: Frau von der Leyen ist wirklich sehr
gut darin – ich muss das loben –, alle zentralen Probleme
des Arbeitsmarktes anzusprechen. Konkrete Lösungen
werden aber nicht angeboten, geschweige denn umge-
setzt.


(Christel Humme [SPD]: Genau!)


Einer der zentralen Gründe für schlechte Löhne von
Frauen in Deutschland ist schlicht und ergreifend – das
ist ganz simpel –, dass es zu viele Frauen gibt, die in pre-
kären Teilzeitbeschäftigungen festhängen und keinen
Weg finden, dort herauszukommen. Das ist eines der
Probleme.

Das zweite Problem ist, dass einige Tätigkeiten
– meist sind es Dienstleistungen – insgesamt schlechter
bewertet bzw. entlohnt werden. Dies geschieht nicht zu-
fällig; denn zu 70 oder 80 Prozent werden diese Tätig-
keiten von Frauen ausgeführt. Viele Tätigkeiten von
Frauen werden also schlichtweg weniger hoch bewertet.
Das sind zentrale Gründe für die Entgeltungleichheit.

Wir legen hier und heute einen Gesetzentwurf vor, der
einen gesetzlichen Rahmen schafft. Dieser gesetzliche
Rahmen verpflichtet die Tarifpartner und die Verant-
wortlichen in den Betrieben, sich um dieses Problem zu
kümmern. Wir, die Politik, können dieses Problem in
den Betrieben vor Ort nicht selbst lösen. Aber wir kön-
nen wenigstens einen gesetzlichen Rahmen schaffen, der
sie dazu verpflichtet, dieses Thema regelmäßig auf die
Tagesordnung zu setzen, damit die vorhandenen Pro-
bleme gelöst werden können. Das ist mehr als die war-
men Worte und die Appelle seitens dieser Bundesregie-
rung. Das ist der große Vorteil unseres Gesetzentwurfs.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Frau Schröder hat Lohnmessmethoden ausprobieren
lassen. Ich sage Ihnen klipp und klar: Darüber freuen wir
uns. Es handelt sich dabei allerdings um Lohnmessme-
thoden, die immer wieder zu einer „überraschenden“
Erkenntnis führen. Viele Firmen, die diese Lohnmess-
methoden anwenden, stellen doch tatsächlich fest: Ups,
bei uns gibt es eine Lohndiskriminierung.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist dann aber eine Messmethode, die nicht viel taugt!)


Jetzt kommt der spannende Punkt: Danach passiert
nichts mehr. Genau das ist das Problem, das wir mit un-
serem Gesetzentwurf anpacken. Dass nichts getan wird,
haben wir nämlich lange genug erlebt.

Jetzt komme ich zu einem Punkt, an dem diese Regie-
rung etwas tun will; das ist wirklich wunderbar und

großartig. Einer der Hauptgründe für die schlechtere
Entlohnung von Frauen sind bekanntlich familienbe-
dingte Erwerbsunterbrechungen. Was macht diese Bun-
desregierung?


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Betreuungsgeld!)


Sie legt ein Programm zur Förderung familienbedingter
Erwerbsunterbrechungen vor.


(Elke Ferner [SPD]: Ja, genau!)


Es nennt sich Betreuungsgeld.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Das ist großer Mist! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ach, Frau Nahles, was soll denn das? Sie können es doch besser!)


Da, wo diese Bundesregierung endlich einmal konkret
wird und etwas tut, geht es voll in die Hose.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Das Betreuungsgeld wird nämlich weitere Lohndiskri-
minierung und -ungleichheit in Deutschland zur Folge
haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Es gab seit Jahrzehnten
keine Regierung in Deutschland, die die Interessen der
Frauen schlechter vertreten hat als die jetzige. Auch dass
diese Regierung von einer Frau angeführt wird, bringt
den Frauen in Deutschland unter dem Strich nichts.


(Beifall bei der SPD)


Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu! Die ungleiche Bezahlung von Män-
nern und Frauen ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein
echtes Problem. Sie ist nicht nur ein Problem der Gleich-
stellung, sondern betrifft auch die Ordnung auf dem Ar-
beitsmarkt, die dadurch empfindlich gestört wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie, liebe Bundes-
regierung, herzlich darum bitten, endlich Butter bei die
Fische zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718404300

Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht:
Wenn ich von einer Lohndifferenz zwischen Frauen und
Männern in Deutschland in Höhe von 23 Prozent spre-
che und zu diesem Thema Pressemitteilungen verfasse,
dann stoße ich bei vielen Menschen auf Unverständnis.
Viele sagen: 23 Prozent? Das kann doch gar nicht sein.
Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Mann 23 Pro-
zent mehr verdient als die Frau, die zum Beispiel neben





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


ihm am Fließband steht. – Tatsächlich: Diesen Fall wird
man selten antreffen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? So ein Unsinn! – Elke Ferner [SPD]: Ach so! Ist das deshalb also gar nicht so schlimm, oder wie?)


Denn bei der Lohnlücke von 23 Prozent handelt es sich
nicht um einen individuellen Lohnunterschied, sondern
um den Unterschied zwischen dem durchschnittlichen
Bruttostundenverdienst aller Männer und dem durch-
schnittlichen Bruttostundenverdienst aller Frauen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Ist das also gerecht?)


Der Unterschied ist deshalb so groß, weil Männer viel
öfter als Frauen Vollzeit arbeiten und weniger oft famili-
enbedingt auf Berufstätigkeit verzichten, weil also mehr
Männer als Frauen erwerbstätig sind.


(Caren Marks [SPD]: Mit dem Betreuungsgeld wird bestimmt alles besser!)


Man kann sich fragen: Ist die Lohndifferenz die Kon-
sequenz individueller Entscheidungen? Ist sie also un-
problematisch? Müssen wir uns mit diesem Thema also
nicht beschäftigen? Nein, wer so argumentiert, der
macht es sich zu einfach.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen es sich zu einfach!)


Es gibt tatsächlich bestimmte Diskriminierungstatbe-
stände. Ein Beispiel ist der Fall einer Berufseinsteigerin,
die trotz des gleichen Studienabschlusses schlechter be-
zahlt wird als ihr männlicher Kollege. Man kann ver-
muten, dass eine mögliche Schwangerschaft und eine
potenzielle Familienzeit schon eingepreist werden. Hier
hat die junge Frau ganz individuell ein Problem.

Besonders problematisch wird diese Lohnlücke von
23 Prozent im Alter. Dann nämlich entwickelt sich die
Lohndifferenz zu einer Rentendifferenz von über 59 Pro-
zent. Das ist logisch, weil Frauen, die weniger verdient
haben, später geringere Rentenansprüche haben. Genau
das, die fehlenden eigenen Rentenansprüche, sind der
Grund für die drohende Altersarmut von Frauen. Vor
diesem Hintergrund sind das Fehlen von Entgeltgleich-
heit und vor allem die Ungleichheit der Renten große
Probleme, sowohl auf individueller Ebene als auch des-
halb, weil wir alle davon betroffen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann machen Sie doch mal etwas dagegen! – Caren Marks [SPD]: Und was tun Sie dagegen?)


Über die Ursachen haben wir in diesem Haus oft dis-
kutiert.


(Elke Ferner [SPD]: Was tun Sie dagegen?)


Für den größten Teil der Lohnlücke gibt es objektive
Gründe, nämlich die horizontale und die vertikale Segre-

gation des Arbeitsmarktes. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der SPD, Sie müssen nicht so überrascht tun.
Ich denke, diese Fakten sind Ihnen bekannt: Frauen sind
in den besser bezahlten Berufen und auf den höheren
Stufen der Karriereleiter schlechter vertreten.


(Elke Ferner [SPD]: Alle selber schuld, oder wie?)


Das führt zu schlechterer Bezahlung. Hinzu kommt, dass
Frauen mehr und längere Erwerbsunterbrechungen ha-
ben. Sie arbeiten meist Teilzeit mit wenigen Stunden. Das
erklärt 15 Prozent der Entgeltlücke. Die anderen 8 Pro-
zent ergeben sich tatsächlich durch Diskriminierung und
eine ungerechte Bewertung von Frauenarbeit.

Ansatzpunkte dafür, wie man diese Lohnlücke schlie-
ßen kann, gibt es zahlreiche.


(Elke Ferner [SPD]: Nämlich?)


Bei vielen ist auch die Politik gefragt,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Und was tun Sie, wenn die Politik gefragt ist?)


und vieles wird auch bereits getan. Das fängt bei dem
Bemühen an, Mädchen und Frauen auch für die besser
bezahlten technischen Berufe zu gewinnen, und geht bis
zu den Initiativen gegen die langen Erwerbsunterbre-
chungen und die hohe Teilzeitquote,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb Betreuungsgeld!)


etwa durch den Ausbau der Krippenplätze, durch den
Ausbau von Ganztagsschulen und durch den Ausbau der
nachschulischen Betreuung. Das ermöglicht nämlich
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und
führt dazu, dass es weniger Erwerbsunterbrechungen
und weniger Teilzeitarbeit, also auch bessere Einkom-
men gibt.

Hier ist jetzt das Stichwort Betreuungsgeld gefallen.


(Elke Ferner [SPD]: Da sind wir jetzt sehr gespannt, wie Sie nächste Woche abstimmen werden, Frau Schön!)


Liebe Kollegin Frau Nahles, Sie haben das gesagt. Ich
bin, wie Sie wissen, nicht der größte Verfechter des
Betreuungsgeldes,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


aber wie Sie sich in den letzten Wochen über junge
Familien geäußert haben,


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)


die im ersten und zweiten Lebensjahr ihres Kindes gerne
mehr Zeit mit ihm verbringen und nicht nach wenigen
Wochen wieder Vollzeit ins Berufsleben einsteigen wol-
len,


(Elke Ferner [SPD]: Wir wären die Letzten, die was dagegen hätten!)






Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


ist wirklich empörend und schlimm. Das kritisiere ich
hier wirklich deutlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es muss doch, wenn man ein einjähriges Kind hat,
möglich sein, die Arbeitszeit etwas zu reduzieren, um
mehr Zeit mit dem Kind verbringen zu können. Für Sie
ist jede Person, die nicht gleich wieder Vollzeit einsteigt,
eine schlechte Mutter bzw. ein schlechter Vater.


(Elke Ferner [SPD]: Erzählen Sie hier doch keinen Schwachsinn! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch unter Ihrem Niveau!)


Ich bin die Letzte, die sagt, dass Kitabetreuung schlecht
für ein Kind ist, aber das, was Sie fordern, nämlich
Frauen und Männer direkt wieder in den Arbeitsmarkt,
ist nicht das, was sich die meisten jungen Familien wün-
schen.


(Andrea Nahles [SPD]: Das ist überhaupt nicht unsere Position! Erzählen Sie doch keine Märchen!)


Es muss doch möglich sein, auch einmal stunden-
weise auf die Berufstätigkeit zu verzichten, und zwar für
Männer und für Frauen. Wenn wir das den Männern und
Frauen ermöglichen,


(Elke Ferner [SPD]: Ja! Die Männer reißen sich darum!)


dann haben wir an diesem Punkt auch kein Problem
mehr mit Entgeltungleichheit. Das wünschen sich junge
Familien. Hier tun wir wirklich aktiv etwas gegen Ent-
geltungleichheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Sie stimmen also dem Betreuungsgeld zu! Schon umgefallen!)


Das beste Erfolgsmodell ist das Elterngeld. Mit dem
Elterngeld und den Partnermonaten ermöglichen wir
jungen Familien nämlich genau das.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718404400

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ja, gerne.


Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1718404500

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegin,

würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es sachlich falsch
ist, wenn Sie – wie wiederholt getan – der SPD-Fraktion
unterstellen, dass sie Familien unterschiedlich behandeln
will und dass sie vorschreibt, wo ein Kind besser betreut
wird, und dass dies eine bösartige Unterstellung in Be-
zug auf unsere Position ist?

Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ich stelle fest, dass es eine bösartige Unterstellung in

Bezug auf unsere Position ist, zu behaupten, die CDU/

CSU-Fraktion wolle junge Familien vom Arbeitsmarkt
fernhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Genau das machen Sie aber! – Thomas Oppermann [SPD]: Deshalb sind doch so viele Leute bei euch dagegen!)


Diese bösartige Unterstellung wiederholen Sie regel-
mäßig. Sie vermitteln den Eindruck, dass nur die Person
eine gute Mutter oder ein guter Vater ist, die Betreuungs-
einrichtungen in Anspruch nimmt.


(Elke Ferner [SPD]: Sind Sie nun dagegen oder nicht, Frau Schön?)


Wer das nicht tut, ist ein Heimchen am Herd und nimmt
die „Fernhalteprämie“ in Anspruch. Das ist nicht das,
was junge Familien heute wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Die bekommt doch gar nicht jeder!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718404600

Gestatten Sie noch eine weitere Nachfrage, liebe Kol-

legin?

Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ich würde gerne zum Thema Entgeltgleichheit zu-

rückkommen, weil ich glaube, dass wir über das andere
Thema in den nächsten Wochen noch ausgiebig diskutie-
ren werden. Wir reden heute über Entgeltgleichheit, und
ich glaube, auch an diesem Punkt gibt es vieles zu tun.
Ein maßgeblicher Punkt ist die Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf, über die wir gerade diskutieren.


(Elke Ferner [SPD]: Schwache Rede, Frau Schön!)


Auch hier gibt es viele Initiativen der Bundesregierung,
etwa die Initiative familienbewusste Arbeitszeiten, das
„audit berufundfamilie“, die Familienpflegezeit.


(Elke Ferner [SPD]: Das hat doch nichts mit Entgeltungleichheit zu tun!)


All das führt dazu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie möglich ist.

Jetzt sind aber die Politiker nicht die Einzigen, die
Verantwortung tragen.


(Elke Ferner [SPD]: Aha! – Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt die Tarifautonomie!)


Wie es in Ihrem Gesetzentwurf richtig anklingt, haben
auch die Tarifparteien und die Unternehmen eine Verant-
wortung; denn die Lohnlücke von 23 Prozent setzt sich
eben aus vielen kleinen Lohnlücken zusammen, aus ein
bisschen Entgeltungleichheit in vielen Betrieben. Des-
halb gilt es, Unternehmen für das Thema Entgeltun-
gleichheit zu sensibilisieren. Das Bundesfamilienminis-
terium hat das aus der Schweiz kommende Tool Logib-D
weiterentwickelt und bietet es den Unternehmen an.
Hiermit kann man erkennen, wo im Betrieb Entgelt-





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


unterschiede bestehen, und diese Probleme gemeinsam
angehen.

Die SPD greift dieses Thema in ihrem Gesetzentwurf
auf – was ich grundsätzlich begrüße –, dass sich viele
Unternehmen mit diesem Thema beschäftigen. Was Sie
aber vorschreiben wollen, ist, dass jedes einzelne Unter-
nehmen mit mehr als 15 Mitarbeitern ein Lohnfeststel-
lungsverfahren durchführt.


(Elke Ferner [SPD]: Wie wollen Sie es denn sonst feststellen?)


Das sind über 300 000 Unternehmen in Deutschland. All
diese 300 000 Unternehmen sollen ein Lohnfeststel-
lungsverfahren durchführen und dann das Ergebnis der
Antidiskriminierungsstelle melden. 300 000 Berichte an
die Antidiskriminierungsstelle – ich frage mich, ehrlich
gesagt, was das bringen soll.


(Elke Ferner [SPD]: Was bringt denn Ihre Regierung bisher? Gar nichts! – Andrea Nahles [SPD]: Haben Sie schon mal was von Software gehört?)


Mit 300 000 Datensätzen wird die Antidiskriminierungs-
stelle schlecht arbeiten können. Deshalb bin ich sehr
skeptisch, ob dies der geeignete Weg ist.

Ich erkenne an, dass Sie von dem Willen getragen
sind, dafür zu sorgen, dass sich mehr Unternehmen mit
diesem Thema beschäftigen. Ich erkenne auch an, dass
Sie die Tarifpartner in die Pflicht nehmen wollen.


(Elke Ferner [SPD]: Da sind wir aber froh, dass Sie was anerkennen!)


Ich finde allerdings, man muss früher ansetzen. Die
Tarifpartner haben nämlich schon bei den Verhandlun-
gen über Gehälter bzw. über Tarifverträge die Verant-
wortung, sich zu fragen: Was ist eine angemessene
Bezahlung für eine gewisse Qualifikation? Wie bewer-
ten wir frauenspezifische Tätigkeiten? Legen wir hier
überhaupt gute und vergleichbare Kriterien an? Diese
Verantwortung haben die Tarifparteien schon bei den
Verhandlungen über Tarifverträge und Löhne.


(Elke Ferner [SPD]: Sie machen es sich aber wirklich einfach! Nur selber keine Verantwortung übernehmen!)


An diesem Punkt haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer
wirklich eine Verantwortung, der sie gerecht werden
müssen.

Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss;
denn ich finde, das Thema Entgeltgleichheit in Deutsch-
land ist für unser Land ein wirklich wichtiges Thema.


(Elke Ferner [SPD]: Solange ihr nichts tun müsst!)


Ich erkenne in diesem Gesetzentwurf Ihren guten Willen
an. Aber zustimmungsfähig ist er aus den genannten
Gründen nicht. Sie sind etwas über das Ziel hinaus-
geschossen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam zu konstruk-
tiven, besseren Lösungen kommen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Mit Ihnen kann man nicht konstruktiv arbeiten!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718404700

Das Wort hat nun Cornelia Möhring für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Cornelia Möhring (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718404800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch aus Sicht der Linken ist es natürlich unbedingt er-
forderlich, dass wir endlich gesetzliche Regelungen tref-
fen, um die ungleiche Bezahlung von Frauen und Män-
nern zu beseitigen. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD, mit Ihrem Gesetzentwurf machen Sie
zwar durchaus einen Schritt in die richtige Richtung,
aber er ist, wie ich finde, nicht ausreichend.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie können mit Ihrem Vorschlag zwar Ungleichheiten in
den Betrieben aufzeigen, aber konsequent beseitigen
können Sie damit die Ungleichheit nicht.

Problematisch finde ich, dass Sie damit die Forderung
nach einem Verbandsklagerecht, zum Beispiel für die
Antidiskriminierungsstelle, faktisch aufgeben. Betrof-
fene müssen auch nach Ihrem Vorschlag weiterhin in
mühseligen Einzelklagen gegen Diskriminierungen die-
ser Art vorgehen. Das dauert viele Jahre, verschlingt viel
Geld der Betroffenen und ist kein wirksamer Ersatz für
die Möglichkeit, als Verband im Rahmen eines Bußgeld-
verfahrens – was Sie vorhaben – zu klagen. Es wäre aber
bitter nötig, hier wirkliche Schritte konsequent zu gehen.

Wir haben hier schon gehört: Frauen erhalten auch im
Jahre 2012 durchschnittlich immer noch ein Viertel
weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie
exakt das Gleiche tun, die gleiche Ausbildung und den
gleichen Verantwortungsbereich haben. Das ist ungeheu-
erlich und gehört genau wie die ungleiche Bezahlung
gleichwertiger Tätigkeiten endlich auf den Müllhaufen
der Geschichte.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen
an dieser Stelle Lilly Ledbetter vorstellen bzw. diejeni-
gen, die sie kennen, an sie erinnern. Auf ihre Geschichte
geht der Equal Pay Day zurück, mit dem seit 2008 auf
die ungleiche Bezahlung aufmerksam gemacht wird. Wir
wissen, dass auch in diesem Jahr Frauen 84 Tage länger
arbeiten müssen, bis sie auf den gleichen Lohn wie die
Männer kommen.

Lilly Ledbetter war Angestellte einer Reifenfirma in
den USA und stellte kurz vor ihrer Pensionierung fest,
dass sie während der 19 Arbeitsjahre für dieselbe Arbeit
rund 200 000 Dollar weniger Gehalt bekommen hat. Sie
zog mit ihrer Klage bis zum obersten Gericht. Präsident
Obama unterzeichnete wenige Tage nach seinem Amts-
antritt ein Gesetz, den Lilly Ledbetter Fair Pay Act, mit
dem Entgeltdiskriminierung aufgrund von Geschlecht,





Cornelia Möhring


(A) (C)



(D)(B)


Herkunft und Hautfarbe unterbunden werden soll. Das
brauchen wir auch,


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und zwar ohne Schlupflöcher und zusätzlich mit dem
Recht auf einen Diskriminierungsausgleich versehen.
Denn auf ähnliche Differenzen kommen wir auch hier-
zulande.

Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen, wie viel
weniger eine Frau über 35 bis 40 Berufsjahre mit glei-
cher Ausbildung und bei gleicher Arbeit bekommt als
ein Mann. Eine Großhandelskauffrau erhält circa
564 Euro weniger Monatsgehalt. In 40 Jahren kommen
wir auf eine Summe von knapp 271 000 Euro. Bei einer
Köchin beträgt die monatliche Differenz 210 Euro. Das
sind nach 40 Jahren immerhin stattliche 100 000 Euro.
Einer Ärztin entgehen in 35 Jahren 441 000 Euro, nur
weil sie eine Frau ist. Wenn wir gleichwertige Arbeiten
vergleichen, nämlich die einer Erzieherin und die eines
Maschinenschlossers, muss die Kollegin, die sich um
unser aller Nachwuchs kümmert, für 231 000 Euro we-
niger Gehalt arbeiten als der Mann.

100 000, 231 000, 270 000, 440 000 Euro: Ich meine,
das sind schon stattliche Summen. Dabei sind die ent-
gangene Altersvorsorge und die geringere Lebensquali-
tät noch nicht einmal mit eingerechnet.

Das ist schlicht Lohnraub.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frauen im ganzen Land, wenn wir überlegen, was
uns durch diesen Lohnraub entgangen ist und noch ent-
geht, muss ich sagen: Es ist viel zu viel, um nett „Bitte,
bitte macht das nicht wieder!“ zu sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Für Raub müssen Räuber eigentlich lange in den
Knast, für Diebstahl und Betrug übrigens auch. Wir
könnten doch in diesem Falle von so einer schweren
Strafe absehen und den vorenthaltenen Lohn in ein zins-
loses Darlehen verwandeln. Wenn Frauen in Rente
gehen, gibt es die Rückzahlung cash oder auf die schwä-
bische Art: als Häuschen.

Bis wir das erkämpft haben, streiten wir auch weiter-
hin für ein Gesetz, das Entgeltungleichheit gar nicht erst
entstehen lässt. Damit es eine echte Durchsetzungs-
chance gibt und nicht die Einzelnen den mühseligen Kla-
geweg beschreiten müssen, brauchen wir zusätzlich das
Recht der Verbände, zu klagen. Dem Antrag der Linken
dazu dürfen Sie dann im Oktober gerne zustimmen,
wenn Sie es ernst meinen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718404900

Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1718405000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Grundgesetz bestimmt in Art. 3 Abs. 2 und 3, dass nie-
mand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden
darf. Trotzdem wissen Sie und ich, dass Frauen in
Deutschland außerhalb des öffentlichen Dienstes im
Durchschnitt 23 Prozent weniger verdienen als ihre Kol-
legen. Das wollen wir nicht nur ändern; das müssen wir
ändern.


(Christel Humme [SPD]: Wie denn?)


– Wartet mal ab!

Dass die SPD-Fraktion zu ihrer Allzweckwaffe greift
und sagt: „Ein Gesetz muss her“, ist nichts Neues.


(Andrea Nahles [SPD]: Wir sind das Parlament! Wir machen Gesetze!)


Zudem ist der Gesetzentwurf widersprüchlich. In der
Begründung heißt es, der Staat als Handelnder solle sich
so weit wie möglich zurückhalten. So weit, so gut: Die-
sen Satz können wir Liberalen mittragen. Dagegen heißt
es aber schon im nächsten Absatz der Begründung wört-
lich:

Die Verpflichtung zur Untersuchung betrieblicher
Entgeltsysteme kann allerdings nicht ohne staat-
liche Einwirkung durchgesetzt werden.

Denn die SPD-Fraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert
in unserem Lande nichts. Das ist der elementare Unter-
schied zwischen uns und Ihnen.


(Elke Ferner [SPD]: Ohne Gesetz hat es bisher zumindest nicht funktioniert!)


Gerade die Tarifautonomie ist ein wichtiger Bestand-
teil der sozialen Marktwirtschaft und ein Grund, warum
unser Land wirtschaftlich erfolgreich ist. Ein Gesetz, das
die Tarifhoheit der Tarifpartner untergräbt, kommt für
die FDP-Fraktion nicht infrage.


(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])


Außerdem käme auf die Unternehmen ein neues
Bürokratiemonster zu. Das steht im krassen Gegensatz
zu den Bemühungen der christlich-liberalen Koalition
um den Bürokratieabbau. Anstatt die Tarifautonomie
auszuhebeln, sollte die SPD-Fraktion mit den Gewerk-
schaften reden.


(Christel Humme [SPD]: Was ist denn das für ein Quatsch!)


Typische Frauenberufe werden trotz individueller Lohn-
verhandlungen ja bekanntlich häufig schlechter bewertet
und vergütet als klassische Männerberufe. Hier können
die Gewerkschaften gegensteuern.

Wir haben schon in den vorausgegangenen Debatten
festgestellt: Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen
wir die Ursachen für die Unterschiede aufdecken und
entsprechend handeln. Wir sind dabei, dies zu ändern;





Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)


das wissen Sie. Stichwort Logib-D: Hinter diesem sper-
rigen Begriff steckt ein sehr wichtiges Instrument. Es
geht um Transparenz. Offenlegung der Gehälter ist der
beste Weg zu fairen Gehaltsstrukturen.


(Elke Ferner [SPD]: Aha! Wie geht denn das?)


Ich bin sicher: Wenn klar ist, in welchen Bereichen und
auf welcher Ebene Differenzen bei den Gehältern beste-
hen, schafft dies nicht nur für das Unternehmen Klarheit.


(Elke Ferner [SPD]: Was sagt denn da Ihre Justizministerin zum Datenschutz?)


Unter Bewerbern wird sich schnell herumsprechen, wel-
ches Unternehmen Männer besser bezahlt als Frauen.

Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir drei
Ursachen im Blick behalten. Erstens. Frauen sind in
Berufszweigen, in denen es nur wenige Aufstiegsmög-
lichkeiten gibt, überrepräsentiert.

Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufe
im unteren Einkommensniveau. Eine Diplompädagogin
verdient heute durchschnittlich 2 500 Euro, während ein
Absolvent eines Studiengangs für Umwelttechnik schon
beim Einstiegsgehalt mit 1 000 Euro darüber liegt. Die
Berufswahl ist noch immer eines der entscheidenden
Kriterien für die Gehaltsentwicklung.

Die dritte Ursache ist hinlänglich bekannt. Je länger
die Familienphase, in der die Frau aus dem Beruf aus-
steigt, desto schwieriger wird auch der Wiedereinstieg.
Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarma-
chen; darauf müssen wir hinwirken. Die Lohnlücke, die
während der Familienphase entsteht, wird häufig nicht
mehr geschlossen; darauf wurde schon mehrmals hinge-
wiesen. Abgesehen davon bedeutet weniger Gehalt auto-
matisch weniger Rente. Nach Berechnungen des DIW
klafft die Einkommensschere in höheren Positionen am
meisten auseinander. Das ist ein Skandal. Hier sind die
Unternehmen und auch die Frauen in der Pflicht.

Am Dienstag veröffentlichte das Forsa-Institut das
Ergebnis einer Umfrage, das die Situation widerspiegelt.
„Der Frauenanteil bei Weiterbildungen ist hoch“, ist das
Ergebnis. Schön! Aber die Männer ziehen aus ihrem
Weiterbildungsengagement einen größeren Nutzen.
Während über die Hälfte von ihnen aufgrund ihrer Fort-
bildung mehr Verantwortung oder eine Beförderung er-
halten hat, sind es bei den Frauen deutlich weniger. Der
Auftraggeber der Studie, die Fernschule ILS, kommt zu
dem Schluss – ich zitiere –:

Daher sollten insbesondere Frauen Initiative zeigen
und ihr persönliches Engagement stärker in den
Vordergrund stellen …

Dass Frauen selbstbewusster ihre Rechte einfordern
und ihre Karriere verfolgen, ist nicht das einzige Ziel,
das wir gemeinsam verfolgen müssen, wohl aber ein
wichtiges. Die Politik der Liberalen folgt dem Grund-
satz: Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe.
Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbst-
verständlich sein. Politik, Unternehmen und Frauen
müssen gemeinsam an einem Strang ziehen.


(Elke Ferner [SPD]: Das überlassen Sie dann den Unternehmen!)


Ein weiteres Gesetz ist aus Sicht der FDP-Fraktion nicht
der richtige Weg; da sind wir wieder einmal anderer
Meinung als Sie. Deshalb werden wir dem Gesetzent-
wurf der SPD nicht zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Deshalb werden Sie auch abgewählt nächstes Jahr!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718405100

Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen

hat nun das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die Zahlen und Fakten sind bekannt.
Wir müssen nicht mehr beweisen, dass Frauen weniger
verdienen als Männer. Auch die Ursachenforschung liegt
bereits hinter uns. Wir wissen: Es geht hier um Entgelt-
diskriminierung. Das ist auch kein neues Phänomen. Seit
Jahren diskutieren wir über die Ungerechtigkeit der mit-
telbaren und unmittelbaren Diskriminierung von Frauen
auf dem Arbeitsmarkt. Wir Grüne haben Lösungen und
Konzepte entwickelt sowie einen entsprechenden Antrag
eingebracht. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf der SPD vor,
den wir sehr begrüßen. Trotzdem müssen wir in den
Debatten hier im Bundestag immer und immer wieder
bei Adam und Eva beginnen. Die Beharrlichkeit, das
Thema auszusitzen, nervt einfach und wird diesem
Thema wahrlich nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


An die Regierungsfraktionen gerichtet kann ich nur
sagen: Wenn Sie weiterhin meinen, dass der Verweis auf
mehr Kinderbetreuung und auf die Tarifautonomie aus-
reicht, Frau Schön, oder wenn Ministerin Schröder vor-
schlägt, Frauen sollten einfach mehr technische Berufe
erlernen, damit sie mehr verdienen, haben Sie das Pro-
blem in seiner Reichweite einfach nicht verstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es geht nicht allein darum, dass Arbeit gleich bezahlt
wird, sondern auch darum, gleichen Lohn für gleichwer-
tige Arbeit durchzusetzen. Es geht darum, die Kriterien,
nach denen Arbeit bewertet wird, geschlechtsneutral
auszugestalten. Anders ausgedrückt: Es geht um den ge-
sellschaftlichen Wert von Arbeit von Frauen, also auch
um Wertschätzung.

Realität in Deutschland ist aber: Die schlecht bezahl-
ten Berufe sind noch immer Frauensache. So werden
beispielsweise in den typischen Frauenberufen im sozia-
len Bereich die dort unentbehrlichen Fähigkeiten wie
soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Einfüh-
lungsvermögen und Teamgeist ganz selbstverständlich





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


erwartet. Die Anforderungen sind hoch, und die Frauen
tragen viel Verantwortung für Menschen. Dennoch wird
ihre Arbeit nicht ausreichend wertgeschätzt. Das ist
nicht fair und schon gar nicht gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber die Entgeltdiskriminierung ist nicht allein ein
Nischenproblem der klassischen Frauenberufe; sie zieht
sich vielmehr quer durch alle Beschäftigungsfelder. Wie-
der an die Adresse der Ministerin Schröder: Natürlich
verdient eine studierte Bauingenieurin mehr als eine
Altenpflegerin, aber – und hier liegt das Problem – sie
verdient dennoch weniger als ihr männlicher Kollege.
Das soll die Ministerin erst einmal den vielen gut aus-
gebildeten und motivierten jungen Frauen erklären. „Au-
gen zu und durch“ ist einfach zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Um den Dornröschenschlaf, in dem Sie sich offenbar
befinden, noch ein wenig mehr zu stören, hier ein paar
Zahlen: In Baukonstruktionsberufen verdienen Frauen
rund 30 Prozent weniger als Männer, Physikerinnen
erhalten 24 Prozent weniger und Grafikerinnen in der
Regel 33 Prozent. Die Lohnlücke in der Gebäudereini-
gung liegt bei 26 Prozent und selbst für Callcenter ist
eine weibliche Beratung 22 Prozent günstiger. Zudem
bekommen Frauen weniger Urlaubsgeld, Weihnachts-
geld und Gewinnbeteiligung, und sie werden seltener be-
fördert als Männer. Diese traurige Realität gilt es endlich
zu ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Wem diese Aufzählung immer noch nicht reicht, für
den habe ich noch folgende Zahlen: Frauen mit Hoch-
schuldiplom verdienen durchschnittlich 3 534 Euro,
Männer hingegen 4 590 Euro. Das ist eine unvorstell-
bare Differenz von satten 1 056 Euro. Je älter die Akade-
mikerin ist, desto größer ist der Gehaltsunterschied. Soll-
ten diese Zahlen den Regierungsfraktionen bislang nicht
geläufig sein, so kann ich diese zur Horizonterweiterung
gerne zur Verfügung stellen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wahrscheinlich immer noch nötig!)


Mittlerweile müsste also klar sein, dass freiwillige
Regelungen zu nichts geführt haben. Die Strategie ist ge-
scheitert;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


denn die alten Strukturen sind beharrlich. Notwendig ist
eine faire Bewertung von Arbeitsanforderungen und Tä-
tigkeiten, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei
um typische Frauen- oder Männerberufe handelt. Wir
brauchen endlich gesetzliche Regelungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Ein Gesetzentwurf und ein Antrag liegen jetzt vor. Ich
freue mich auf die weiteren Beratungen in den Aus-
schüssen und auf die Anhörung. Natürlich werde ich
auch einige Fragen an die SPD haben: Wie soll bei-
spielsweise die kursorische Prüfung aussehen? Können
damit wirklich ausreichend Verdachtsmomente auf-
gedeckt werden? Warum sollen die Prüfungen der Tarif-
verträge nicht mehr im Mittelpunkt stehen? Sind die so-
genannten sachverständigen Personen wirklich überall
notwendig? Kurzum: Wir werden eine interessante
Diskussion haben. Ganz wichtig: Wir werden endlich in-
haltlich über Konzepte diskutieren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit Blick auf die Regierungsfraktionen möchte ich
diese Diskussion heute mit einem Satz Goethes beschlie-
ßen. Ich zitiere:

Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch an-
wenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss
auch tun.

Liefern Sie also nicht nur Lippenbekenntnisse! Be-
schäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit der Entgeltdis-
kriminierung und vor allem mit Lösungen! Vorschläge,
wie das gehen kann, liegen ja auf dem Tisch. Damit die
Arbeit von Frauen nicht länger zum Schnäppchenpreis
zu haben ist. Es muss Schluss sein mit dem Dauerrabatt
von 23 Prozent.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718405200

Nun ist Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion

an der Reihe.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1718405300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kolle-

gin Müller-Gemmeke hat Goethe zitiert. Dem will ich
nicht nachstehen.


(Heiterkeit – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stehen Sie auch mit den Lösungen nicht nach!)


Es gibt ein sehr schönes Zitat von Goethe, das für Ihre
Rede genauso zutrifft wie vermutlich für den Gesetzent-
wurf. Es lautet:

Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.


(Christel Humme [SPD]: Dann wollen Sie wohl ins andere Jahrhundert gehen!)


Meine Damen und Herren, ich bin kein Jurist.


(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist aber schlecht!)


Aber wenn ich so einen Gesetzentwurf zu beurteilen
habe, schaue ich mir zunächst das Recht, die Gesetze,





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


an, um eine gewisse Grundorientierung zu bekommen.
Dann stößt man natürlich – die Kollegin Bracht-Bendt
hat das schon erwähnt – auf Art. 3 des Grundgesetzes.


(Elke Ferner [SPD]: Das hat uns auch weitergeholfen in den letzten hundert Jahren!)


Weiterhin stößt man auf das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz, in dem es ganz deutlich heißt: Benachteili-
gungen sind unzulässig, auch mit Bezug auf das Arbeits-
entgelt.


(Elke Ferner [SPD]: Dann ist ja alles gelöst, Herr Kollege! – Zuruf der Abg. Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Hinzu kommen eine Reihe von europäischen Regelun-
gen, die deutlich sagen: Bei gleicher Arbeit ist gleiches
Entgelt für Männer und Frauen eine Selbstverständlich-
keit.


(Elke Ferner [SPD]: Das heißt, das Problem gibt es gar nicht, oder was wollen Sie jetzt sagen?)


Die Rechtslage ist zunächst einmal eindeutig. Ver-
ehrte Frau Ferner, das hat die rot-grüne Bundesregierung
im Jahre 2002 offensichtlich auch so gesehen. Sie zitie-
ren den Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation
aus dem Jahr 2002. Sie malen die tarifliche Entgeltdis-
kriminierung dort in relativ drastischen Farben.

Ich habe mir diesen Bericht angeschaut und mich
gefragt: Was hat denn die rot-grüne Bundesregierung da-
mals gemacht?


(Elke Ferner [SPD]: Sie hat sich leider auf Freiwilligkeit verlassen! Leider! – Andrea Nahles [SPD]: Zehn Jahre Freiwilligkeit, die nichts bringt!)


Hat sie mutig Initiativen ergriffen? Hat sie Gesetzge-
bungsverfahren eingeleitet? Nein, das hat sie nicht ge-
macht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben wenigstens dazugelernt!)


Die rot-grüne Bundesregierung hat gesagt: Wir machen
mal eine Konferenz darüber und schauen dann weiter.


(Elke Ferner [SPD]: Immerhin mehr als Sie! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die CDU so lernfähig wäre, ist ja alles gut!)


Dann habe ich mich gefragt: Woher kommt denn das?
Das kommt nicht zuletzt daher, Frau Ferner, dass im Be-
richt steht – ich zitiere jetzt –:

Nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen Rechtslage
sind unmittelbare Lohndiskriminierungen heute so
gut wie nicht mehr festzustellen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Schau an!)


Meine Damen und Herren, natürlich gibt es ein ge-
schlechtsspezifisches Lohngefälle; das ist doch ganz
klar. Frauen sind in besser bezahlten Positionen unterre-
präsentiert und überrepräsentiert in Berufen, in denen
weniger bezahlt wird. Sie unterbrechen aufgrund fami-
liärer Verpflichtungen ihre Berufstätigkeit häufiger und
arbeiten öfters in geringfügiger Teilzeit mit langfristig
negativen Folgen für die Einkommensentwicklung.


(Elke Ferner [SPD]: Selbst Frauen ohne Familienunterbrechung kriegen weniger Geld!)


Rund zwei Drittel der geschlechtsspezifischen Lohnun-
terschiede, also der Großteil, gehen auf diese strukturell
unterschiedlichen arbeitsplatzrelevanten Merkmale von
Männern und Frauen zurück.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um eine Lohnlücke im Stundenlohn!)


Ein Drittel der Lohnlücke lässt sich nicht auf diese
sozialstrukturellen Ursachen zurückführen. Hier ist von
geschlechtsspezifischer Entgeltdiskriminierung auszuge-
hen. Auf dieses Drittel fokussiert im Grunde genommen
der Gesetzentwurf der SPD.

Was wollen Sie? Vereinfacht: mehr Staat.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da ist die Rede von Antidiskriminierungsverbänden und
von der Antidiskriminierungsstelle, die sowohl Antidis-
kriminierungsverfahren als auch sachverständige Perso-
nen nach etwas unklaren und wenig eindeutigen Katego-
rien zertifizieren soll. An dieser Stelle fühle ich förmlich
schon bei den Arbeitgebern eine gewisse Unruhe, was
die Folgekosten und bürokratischen Auflagen angeht.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


Aber auch die Gewerkschaften bekommen etwas ab:
Tarifverträge sollen einer Überprüfung unterzogen wer-
den können – beinahe mit einem Generalverdacht gegen
die Sozialpartner.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Vor Abschluss!)


Dabei sind die Tarifvertragsparteien zu diskriminie-
rungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsver-
fahren verpflichtet. – Glauben Sie ernsthaft, dass es in
Deutschland eine einzige Gewerkschaft gibt, die eine
Diskriminierung beim Entgelt in ihren Tarifverträgen zu-
lässt? Ich glaube das nicht. Als überzeugter Gewerk-
schafter kann ich nur sagen: Wir brauchen keinen Staats-
kommissar für Tarifverträge.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Das wissen die Frauen in den Gewerkschaften aber besser!)


Das alles soll dann auch kaum Folgekosten verursa-
chen. Für die Betriebe ab 15 Personen könnten – das
schreiben Sie verschämt in Ihrem Gesetzentwurf – Kos-
ten nicht beziffert werden. Die Bürokratiekosten setzen
Sie mit 2 Millionen Euro an, was grotesk niedrig ist. Die





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


Kosten für die Sachverständigen werden komplett unter-
schlagen.

Dann wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die be-
trieblichen Interessenvertretungen gesetzlich verpflich-
ten, sich um die Herstellung von Entgeltgleichheit zu
kümmern. Ein Blick ins Gesetz hilft ja bisweilen bei der
Klärung der Rechtslage; denn genau diese Verpflichtung
ist bereits im Betriebsverfassungsgesetz festgeschrieben:
Der Betriebsrat hat die Einhaltung des Diskriminie-
rungsverbotes zu überwachen und sich aktiv für eine
tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern
einzusetzen.

An dieser Stelle bringt es also nichts, wenn Sie mit Ih-
rem Gesetzentwurf alten Wein in neue Schläuche fließen
lassen. Es wird vielmehr ein ganz anderes Problem deut-
lich: Immer weniger Beschäftigte in unserem Land wer-
den von einem Betriebsrat vertreten. In der Privatwirt-
schaft waren dies im Jahr 2009 nur noch 44 Prozent der
Beschäftigten. Dabei wurde in mehreren Studien nach-
gewiesen, dass in Betrieben mit Betriebsrat die Einkom-
mensunterschiede zwischen Frauen und Männern über
das gesamte Einkommensspektrum hinweg geringer sind
als in Betrieben ohne Betriebsrat. Daher mein Petitum:
Lassen Sie uns die betriebliche Mitbestimmung weiter
befördern!


(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch schon mal gut! Darüber können wir reden! – Elke Ferner [SPD]: Haben Sie das denn mit der FDP geklärt? – Andrea Nahles [SPD]: Da nehmen wir Sie beim Wort!)


Lassen Sie uns vor allem dort aufklären, wo Belegschaf-
ten aus Angst vor Repressalien keinen Betriebsrat grün-
den!

Ihr Gesetzentwurf dagegen führt für die Betriebe und
für die öffentliche Hand zu mehr Verwaltung und Kosten
und gefährdet Arbeitsplätze. Das ist angesichts der Be-
deutung des Themas bedauerlich. Der Gesetzentwurf
enthält auch eine Überlegung, die ich sinnvoll finde,
nämlich die Stärkung der Individualrechte.


(Christel Humme [SPD]: Die gibt es schon!)


Wichtig ist gerade ein Recht auf Auskunft darüber, wel-
che Kriterien für die Bemessung des Entgelts bzw. die
Entgeltfindung herangezogen worden sind. Eine solche
Transparenz erhöht den Druck zur Schaffung von mehr
Gerechtigkeit beim Arbeitsentgelt für Männer und
Frauen beinahe natürlich. Ich denke aber auch, dass dies
in Betriebsvereinbarungen durchaus festgeschrieben
werden kann. Dazu bedarf es keiner gesetzlichen Rege-
lung.

Meine Damen und Herren, die gesetzlichen Regelun-
gen sind weitgehend vorhanden. In der Bildung dient die
Wiederholung der Stofffestigung, in der Gesetzgebung
nicht. Wir brauchen kein neues Gesetz, das mehr Büro-
kratie hervorbringt. Wir müssen die bestehenden Rege-
lungen besser umsetzen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche bestehenden Regelungen denn?)


Deswegen brauchen wir auch diesen Gesetzentwurf der
SPD nicht, der zwar die Denkungsart der SPD trefflich
illustriert, zur Problemlösung aber kein wirklich kon-
struktiver Beitrag ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718405400

Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1718405500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist schon seltsam: Immer wenn es darum geht, die grund-
gesetzlich verankerten Rechte von Frauen Realität wer-
den zu lassen, ist das Geschrei auf der rechten Seite des
Hauses wirklich groß. Eingriff in die unternehmerische
Freiheit, zu viel Bürokratie – das hören wir immer an
dieser Stelle. Aber was ist das denn für ein Freiheitsver-
ständnis, insbesondere liebe Kollegen von der FDP? Un-
ternehmerische Freiheit bedeutet doch nicht, dass es dem
Unternehmer überlassen ist, Frauen schlechter zu bezah-
len als Männer, wenn sie dieselbe oder eine gleichwer-
tige Arbeit machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir leben hier in einem Rechtsstaat und nicht in einer
Bananenrepublik. Weil wir in einem Rechtsstaat leben,
haben wir als Gesetzgeber die Pflicht, das Gleichheitsge-
bot und das Diskriminierungsverbot, beide verankert in
Art. 3 Grundgesetz, durchzusetzen. Es reicht eben nicht
aus, liebe Frau Schön, am Equal Pay Day zu beklagen,
dass der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen
bei uns 23 Prozent beträgt. Wir müssen am Tag danach
auch etwas dagegen tun, zuallererst Frau Schröder und
Frau von der Leyen. Aber auch da kommt leider im Mo-
ment überhaupt nichts.

Frau Schröder macht das Angebot, das völlig untaug-
liche Logib-D-Verfahren gerade einmal 200 Unterneh-
men kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das reicht bei
weitem nicht aus. Wie ich höre, rennen die Unternehmen
Frau Schröder auch nicht gerade die Tür ein, um in den
Genuss dieses Verfahrens zu kommen. Es lohnt sich
nämlich für die Unternehmen, Frauen schlechter zu be-
zahlen als Männer. Solange Unternehmen mit Lohndis-
kriminierung Geld verdienen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, werden sie auch nicht von selber damit aufhö-
ren.


(Beifall bei der SPD)


Eine der ersten Forderungen der Frauenbewegung
Ende des vorletzten Jahrhunderts war „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Es ist ein Armutszeugnis, dass wir weit über 100 Jahre
später immer noch so gewaltige Lohnunterschiede zwi-
schen Frauen und Männern haben. Nach Estland und der
Slowakei liegen wir in der EU an drittletzter Stelle.


(Annette Sawade [SPD]: Unglaublich!)






Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)


Ich finde, dass man die Frauen in unserem Land mit
dieser Ungerechtigkeit nicht alleinlassen darf. Wir wol-
len ihnen helfen, zu ihrem Recht zu kommen. Wer eine
gesetzliche Regelung wie die, die wir hier vorschlagen,
ablehnt, muss auch sagen, wie er oder sie die Entgelt-
gleichheit auf anderem Weg durchsetzen will.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das habe ich von Ihnen bisher aber nicht gehört – weder
von einem Mitglied der Regierungsfraktionen noch von
der Arbeitsministerin noch von der sogenannten Frauen-
ministerin. Frau Merkel empfiehlt den Frauen schon ein-
mal, einfach besser zu verhandeln, wenn es um ihr Geld
geht. Ich kann dazu nur sagen: Was für ein Zynismus!

Solange Frauen ihr gutes Recht vor Gericht gegen-
über ihrem Arbeitgeber einklagen müssen, wird sich
nichts ändern. Eine Frau, die ihren Job behalten will,
wird auch wohl kaum gegen ihren Arbeitgeber vor Ge-
richt ziehen. Deshalb ist das Erste, was geleistet werden
muss, Transparenz in die Lohn- und Gehaltsstrukturen in
den Betrieben zu bringen. In Österreich gibt es dazu be-
reits ein Gesetz. Das EU-Parlament hat am 24. Mai in ei-
ner Entgeltinitiative mehr Transparenz und vor allen
Dingen auch die Möglichkeit von Sammelklagen gefor-
dert. Nur die Bundesregierung und CDU/CSU und FDP
weigern sich bisher, die Lohndiskriminierung von
Frauen zu beseitigen. Sie werden nächstes Jahr mit Si-
cherheit bitter zu spüren bekommen, dass das so nicht
geht.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Warum haben Sie denn nichts gemacht 2002?)


Die Lohndiskriminierung – das haben wir eben gehört –
steigt mit dem Lebensalter. Trotz des Diskriminierungs-
verbots werden viele Teilzeitbeschäftigte und insbeson-
dere Minijobberinnen schlechter bezahlt als Vollzeit-
kräfte. Die Lohndiskriminierung findet auch bei
akademischen Berufen statt, genauso wie bei Fachkräf-
ten oder bei ungelernten Kräften. Manchmal ist sie auch
in Tarifverträgen angelegt, wie man aus dem Tarifver-
tragsregister ersehen kann.

Eines ist klar: Das regelt sich nicht von alleine. Wir
legen diesen Gesetzentwurf heute vor, damit wir mehr
Transparenz bekommen. Vor allen Dingen legen wir die-
sen Gesetzentwurf vor, damit sich etwas ändert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sagen ganz klar: Es muss geprüft werden. Wie soll
man Entgeltdiskriminierung denn anders feststellen, als
dass man einmal schaut, wie die Gehaltsstrukturen sind?
Wir geben Regelungen vor, die zunächst einmal auf in-
nerbetriebliche Maßnahmen setzen. Wir vertrauen da
auch sehr auf die Betriebsräte und die Gewerkschaften.
Natürlich bleibt dabei am Ende auch das Individualrecht
erhalten, Frau Kollegin.

Frauen können es sich nicht mehr leisten, während ih-
res Erwerbslebens mehrere Hunderttausend Euro – das
wurde angesprochen – liegen zu lassen. Wir können es
uns nicht mehr leisten, so viel Geld liegen zu lassen und

im Alter eine schlechtere Rente zu haben, im Fall der
Arbeitslosigkeit weniger Lohnersatzleistungen zu be-
kommen oder eine Grundsicherung beziehen zu müssen,
obwohl wir unser Leben lang genauso hart gearbeitet ha-
ben wie die männlichen Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, neh-
men Sie sich dieses Themas endlich an. Hören Sie end-
lich auf, auf Analysen zu verweisen, die wir alle kennen,
und nichts zu tun. Wir müssen das Problem angehen.
Weit über 100 Jahre nach der erstmaligen Erhebung die-
ser Forderung ist jetzt die Zeit gekommen, etwas zu ver-
ändern, damit Frauen endlich denselben Lohn für die-
selbe Arbeit bekommen wie Männer.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718405600

Das Wort hat nun Jörg von Polheim für die FDP-Frak-

tion.


Jörg von Polheim (FDP):
Rede ID: ID1718405700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, wie so oft bei Ihnen gilt auch hier: Gut gemeint ist
das Gegenteil von gut gemacht.


(Elke Ferner [SPD]: Machen Sie es doch besser!)


Sie wollen – das ist bekanntlich eine Ihrer besten
Übungen – mit Ihrem sogenannten Entgeltgleichheitsge-
setz wieder eine neue Bürokratieebene einziehen. Damit,
glauben Sie, ist das Problem gelöst.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können nicht immer die gleiche Rede halten, Herr Polheim! – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind eigentlich die FDP-Frauen, Herr Kollege?)


Als Familienunternehmer kann ich Ihnen aus der Praxis
berichten, dass der Mittelstand als Rückgrat unserer Ge-
sellschaft in seiner Wettbewerbsfähigkeit gestärkt wer-
den muss.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer dasselbe!)


Ihre komplizierten und überflüssigen Regeln erreichen
das Gegenteil. Die unternehmerische Handlungsfreiheit
muss erhalten bleiben.


(Beifall bei der FDP)


Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD zur Durch-
setzung des Entgeltgleichheitsgebots widerspricht dem
Gedanken der unternehmerischen Freiheit grundlegend
und ist auch ordnungspolitisch völlig verfehlt.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Weiter-so auf Kosten der Frauen!)






Jörg von Polheim


(A) (C)



(D)(B)


Vertragsfreiheit und Tarifautonomie sind unabdingbare
Grundlagen einer funktionierenden Marktwirtschaft.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Eigentlich müssten alle Frauen bei Ihnen zu Hause bleiben!)


Typisch für Sie ist der Reflex, die Antidiskriminierungs-
stelle des Bundes in die Pflicht zu nehmen. Sie sprechen
von sogenannten sachverständigen Personen, denen eine
wesentliche Rolle bei der Behebung von Informations-
defiziten zukäme. Aber Sachverständige sollten in erster
Linie von den Tarifparteien kommen, auch von den Un-
ternehmen. Damit sind wir wieder beim alten Hut der
SPD: Sie fordern eine staatliche Bevormundung der Ta-
rifparteien.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwerer Vorwurf! – Elke Ferner [SPD]: Art. 3 Grundgesetz ist doch keine Bevormundung! Das ist ein Grundrecht!)


Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen auf die
Haushalte machen Sie sich einen schlanken Fuß. Außer-
dem bemühen Sie sich noch nicht einmal, eine seriöse
Gegenfinanzierung vorzulegen. Der Etat der Antidiskri-
minierungsstelle soll einfach belastet werden.


(Elke Ferner [SPD]: Einen Bruchteil Ihrer Mövenpick-Geschenke kostet das! – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Wenn Ihnen sonst nichts mehr einfällt, dann fällt Ihnen
noch Mövenpick ein. Das ist typisch.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihnen zuerst eingefallen! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist sehr häufig der Fall!)


An dieser Stelle will ich noch einmal bekräftigen,
dass wir Liberale die Koalitionsfreiheit und die Tarifau-
tonomie als absolut schützenswert erachten. Wir sind be-
wusst gegen einen gesetzlichen Eingriff. Wir treten für
Chancengleichheit und transparente Gehaltsstrukturen
von Männern und Frauen ein,


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie denn? – Elke Ferner [SPD]: Wie denn?)


für welche vor allem die Qualifikation entscheidend ist.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Oh, die Frauen sind nicht gut genug!)


Es mangelt auch nicht an einer Rechtsgrundlage zur
Entgeltgleichheit.


(Elke Ferner [SPD]: Das Thema scheint ja bei Ihrer Fraktion sehr von Interesse zu sein!)


– Wer brüllt, hat nicht unbedingt recht; das wissen Sie. –
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz legt bereits
umfassend und eindeutig fest, dass für gleiche Arbeit
gleicher Lohn zu zahlen ist. Woran es mangelt, ist die
Umsetzung dieser gesetzlichen Regelung. Die wollen
wir allerdings ohne staatlichen Zwang erreichen.

Recht gibt uns auch die gestern in den Medien ver-
öffentlichte Erhebung der Wirtschaftsberatungsgesell-

schaft PricewaterhouseCoopers. Darin wird festgestellt,
dass der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der Dax-30-
Unternehmen seit Anfang 2011 um mehr als ein Drittel
gestiegen ist –


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Ja, klar! Von 13 auf 14 Prozent! Ha, ha! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: SchwarzGelb wirkt!)


und das alles ohne staatlich verordnete Frauenquote, nur
durch freiwillige Vereinbarung. Sie sehen, meine Damen
und Herren: Nicht alles muss Vater Staat regeln.


(Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: Vater Staat! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Aber vielleicht sollte Mutter Staat mal was regeln! – Elke Ferner [SPD]: Ihre Rede ist so peinlich, dass Ihre Kolleginnen das Weite gesucht haben!)


Der erste Gleichstellungsbericht hat das auch gezeigt.
Darin wird insbesondere auf die strukturellen Unter-
schiede im Lebensverlauf von Frauen und Männern hin-
gewiesen. Zentraler Punkt, der Frauen im Wettbewerb
mit Männern in der Karriereplanung noch immer be-
nachteiligt, ist die nicht ausreichende Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Frauen nehmen noch immer den
weitaus größeren Teil der Elternzeit.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um Stundenlöhne!)


Wer über Jahre nicht im Betrieb ist, verpasst Karriere-
chancen, die später im Lebensverlauf nicht wiederkom-
men und schließlich zu Entgeltungleichheit führen.

Unsere Antwort darauf ist nicht die Zwangsquote,
sondern der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den Frauen ohne Kinder? Die kriegen auch nicht mehr Geld!)


und die Einrichtung familienfreundlicher Unternehmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


So hat die Bundesregierung unter anderem dafür ge-
sorgt, dass 4 Milliarden Euro in die U-3-Betreuung flie-
ßen. Modellprojekte wie die „Kommunale Familienzeit-
politik“ führen zu einer besseren Verzahnung der
regionalen Kinderbetreuungsangebote und damit letzt-
lich zu einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kinder haben auch Väter!)


Ich wiederhole: Entgeltgleichheit ist kein rechtliches
Problem, sondern eines der Umsetzung der vorhandenen
Möglichkeiten. Der Staat kann nicht die Aufgaben der
Wirtschaft und der Gesellschaft übernehmen. Sie sorgen
mit Ihrer Vorlage nur dafür, dass der deutsche Amts-
schimmel immer besser im Futter steht und immer lauter
wiehert. Wir Liberalen jedenfalls werden dazu nicht die
Hand reichen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.





Jörg von Polheim


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Dazu haben Sie nicht mehr lange Gelegenheit!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718405800

Das Wort hat nun Yvonne Ploetz für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Yvonne Ploetz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718405900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Warum verdient eigentlich eine Grafikdesignerin rund
ein Drittel weniger als ein Grafikdesigner? Warum ver-
dient eigentlich eine Buchhalterin rund ein Viertel weni-
ger als ein Buchhalter? Das sind nicht die Ausnahmen;
das ist die Regel. Arbeitnehmerinnen wird in Deutsch-
land rund ein Viertel ihres Lohns vorenthalten, und das
ist einfach völlig inakzeptabel. Jeder und jede hat das
Recht auf eine faire Bezahlung.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nirgendwo in Europa geht die Lohnschere derart weit
auseinander wie in Deutschland: nicht in Frankreich,
nicht in Griechenland, nicht in Bulgarien. Sie wird sich
auch nicht schließen lassen, wenn wir nicht endlich Un-
ternehmen gesetzlich dazu verpflichten, gleiche Löhne
für gleiche Arbeit zu zahlen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die gesetzliche Verpflichtung gibt es!)


Das kann mit einem Entgeltgleichheitsgesetz passieren,
wie es von der SPD im Entwurf vorgelegt wurde. Unsere
Diskussionspunkte hat meine Kollegin schon genannt.

Ich möchte etwas weiter gehen, weil die Lohnun-
gleichheit zwischen Mann und Frau nur die Spitze des
Eisbergs ist. Im Laufe eines Arbeitslebens kommen bei
Frauen sehr viele Diskriminierungen am Arbeitsmarkt
zusammen. Bekäme man nach dem gesamten Erwerbsle-
ben, also für die Zeit vom Schulabschluss bis zur Rente,
einen Lohnzettel, dann stünde bei den Frauen unter dem
Strich im Vergleich zu den Männern nicht ein Minus von
23 Prozent, sondern ein Minus von 50 Prozent. Das liegt
an der unfairen Bezahlung. Das liegt daran, dass meist
immer noch Frauen die Erziehung von Kindern und die
Pflege der Eltern übernehmen. Das liegt daran, dass
Frauen viel zu oft in Minijobs ohne soziale Absicherung
arbeiten. Das liegt daran, dass Frauen mit Dumpinglöh-
nen abgespeist werden.

Vor zwei Tagen wurde bekannt, dass in Kitas immer
mehr Erzieherinnen als Leiharbeitnehmerinnen zu
1 000 Euro brutto beschäftigt werden.


(Zuruf von der LINKEN: Skandal!)


Diese Frauen bringen eine unglaublich hohe Qualifika-
tion mit. Sie tragen eine große Verantwortung bei der
Erziehung unserer Kinder. Sie müssen Vertrauen auf-
bauen. Diese Frauen kann man nicht beliebig ausleihen

und mit Hungerlöhnen unterhalb des Existenzminimums
abspeisen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Mindeste, was ich von Ihnen als Regierende er-
warte, ist ein Verbot der Leiharbeit in diesem sensiblen
Bereich.

Für die Frauen steigt übrigens auch das Risiko, im
Alter arm zu werden. Arbeitet eine Frau ein Leben lang
in einem 400-Euro-Job – das sind in Deutschland derzeit
5 Millionen Frauen –, dann hat sie einen Rentenanspruch
von 139,95 Euro monatlich. Es kann nicht Ihr Ernst sein,
dass Sie die 5 Millionen Frauen, die heute nicht wissen,
wie sie über die Runden kommen sollen, morgen sehen-
den Auges in die Altersarmut schicken wollen.


(Beifall bei der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: Das ist ihr Ernst!)


Mit welchem politischen Konzept wollen Sie diese
Frauen auffangen? Ich kann keines erkennen. Wir haben
eines: Wir wollen eine Mindestrente von 1 050 Euro und
gute Arbeit für jeden und jede.


(Beifall bei der LINKEN)


Streiten Sie doch endlich mit uns gegen Hungerlöhne!
Jede Frau und jeder Mann muss für eine Stunde Er-
werbstätigkeit mindestens 10 Euro erhalten. Diese Ver-
rohung und diese Entsicherung am Arbeitsmarkt müssen
endlich ein Ende haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun kommt die Sommerzeit. Dies ist eigentlich die
Urlaubszeit. Haben Sie sich einmal auf der Straße umge-
hört, wie viele Menschen sich noch einen Urlaub leisten
können? Welche Familie mit Kindern, welche Frau, die
weniger Urlaubsgeld erhält als ein Mann, oder welche
Alleinerziehende mit zwei Kindern kann sich einen
Urlaub leisten? Es ist doch so: Die, die einen Urlaub am
dringendsten nötig haben, um endlich eine Woche der
Existenznot und der Armut zu entfliehen, können von
einem Urlaub nur träumen. Das ist wirklich eine
Schande.


(Beifall bei der LINKEN)


Stellen Sie sich endlich auf die Seite von Alleinerzie-
henden! In Deutschland gibt es eine unglaubliche Armut
bei Kindern und Jugendlichen. Das hängt in vielen Fäl-
len mit der Existenznot der Mütter zusammen. Um Kin-
dern und Jugendlichen eine Perspektive für ihr Leben zu
bieten, müssen Sie die finanzielle Existenz ihrer Mütter
sichern. Sie müssen dafür sorgen, dass aus Überlebens-
strategien, die wir häufig beobachten, endlich wieder
Strategien des Lebens werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei ist das Thema „Vereinbarkeit von Familie und
Beruf“ immer aktuell. Nur wenn die Kinderbetreuung
wirklich stimmt, müssen die Frauen keine prekäre
Beschäftigung annehmen, um Familie und Beruf unter
einen Hut zu bekommen. In Deutschland werden aber





Yvonne Ploetz


(A) (C)



(D)(B)


nur 20 Prozent der Kinder unter drei Jahren ganztags
betreut. In Dänemark sind es 64 Prozent. Dort geht die
Gleichung „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ auf.
Trotz dieser ernüchternden Zahlen veranstalten Sie ein
selbstherrliches Theater um das Betreuungsgeld. Ich
sage Ihnen: Unser Widerstand ist Ihnen sicher, wenn Sie
Milliarden verschwenden, statt Kitaplätze auszubauen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen Sie, was ich
denke? Wenn wir die Diätenerhöhung aller Abgeordne-
ten im Bundestag einmal an die Erhöhung der Löhne von
Frauen in der Gesellschaft koppeln würden, dann hätten
wir bald die Entgeltgleichheit. Darauf wette ich.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718406000

Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718406100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir uns Deutschland im europäischen Vergleich
anschauen, werden wir feststellen, dass wir in bestimm-
ten Punkten weit zurückliegen: Wir liegen zurück bei der
Kinderbetreuung. Wir liegen zurück bei der Voll-
erwerbstätigkeit von Frauen. Wir liegen zurück bei
Frauen in Führungspositionen. – Nur in einem Punkt
sind wir Europameister: bei der Entgeltungleichheit von
Frauen und Männern.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Auch im Fußball werden wir Europameister!)


Dass eine Frau im Schnitt ein Vierteljahr länger arbeiten
muss, um dasselbe Jahresgehalt wie ein Mann zu erhal-
ten, ist ein politischer Skandal in diesem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Zahlen sind genannt worden. Ich will sie nicht wie-
derholen.

Die Position der Familienministerin ist ein weiterer
Skandal.


(Elke Ferner [SPD]: Die Familienministerin ist ein Skandal!)


Sie sagt: Die Frauen sind selber schuld. Entweder ver-
handeln sie nicht richtig oder arbeiten Teilzeit. Demzu-
folge sind sie die Urheber der Lohnungleichheit. – Das
ist die Antwort der Familienministerin. Sie kämpft jetzt
dafür, dass sie die Federführung bei diesem Thema be-
kommt; aber sie hält es ja noch nicht einmal für notwen-
dig, an der Debatte teilzunehmen. Das ist die Wertschät-
zung, die sie diesem Thema zukommen lässt: Sie bezieht
noch nicht einmal Position dazu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Schlimmer noch: Sie macht die Lohnungleichheit zu
einem Privatproblem der Frauen; demnach sind die
Frauen anscheinend selber schuld daran. Sie privatisiert
ein gesellschaftliches, ein politisches Problem. Des-
wegen wollen wir nicht, dass sie hier die Federführung
erhält; dann wäre wirklich Hopfen und Malz verloren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kollege, ja, wir wollen die Aufwertung der typi-
schen Frauenberufe. Wir wollen nicht, dass Frauen mas-
senweise Männerberufe ergreifen, um auf ein gleiches
Entgelt zu kommen, sondern wir wollen die Aufwertung
der Frauenberufe, weil unsere Gesellschaft diese Berufe
braucht. Wir brauchen auch mehr Männer in diesen
Berufen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: den Erziehe-
rinnenmangel. In Deutschland fehlt es uns nicht nur an
Betreuungsplätzen, sondern auch an Personal, auch an
männlichem Personal. Wenn wir es nicht schaffen, den
Beruf der Erzieherin qualitativ aufzuwerten und besser
zu entlohnen, dann werden Sie keinen einzigen Mann für
diesen Beruf gewinnen, und schon jetzt ist die Suche
nach qualifizierten Frauen extrem schwierig. Vermutlich
wird in Zukunft überhaupt keine Frau mehr diese Aus-
bildung machen. Wozu drei und mehr Jahre lernen, wenn
man dafür den schlechtesten Lohn erhält? Das ist der
Grund, warum wir Entgeltgleichheit in diesem Land
wollen. Wir benötigen diese Berufe, und dort wird über-
aus anspruchsvolle Arbeit geleistet. Darum müssen wir
sie aufwerten und besser anerkennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht – das hat meine Kollegin Beate Müller-
Gemmeke bereits gesagt – um die Wertschätzung der
Arbeit, die die Frauen gerade in diesen Dienstleistungs-
berufen erbringen.

Wenn wir über Lohnungleichheit reden, dann be-
schränkt sich das nicht auf das aktuell bezogene Gehalt,
sondern es geht auch um die Konsequenzen. So führt die
Lohnlücke zu einer durchschnittlichen Rentenlücke von
59 Prozent. Das können Sie doch nicht ignorieren! Sie
ignorieren den Gleichstellungsbericht der Bundesregie-
rung. Sie wollen noch nicht einmal darüber reden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wir reden doch gerade darüber!)


Warum? Weil Ihnen die Ergebnisse nicht passen. Heu-
tige Lohnungleichheit führt zu späterer Altersarmut.
Auch diesem Problem müssen wir uns stellen, und zwar
heute und nicht erst in der Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was wollen wir Grüne? Wir wollen gleichen Lohn für
gleiche und gleichwertige Arbeit. Wir wollen die Quote
und ein Gleichstellungsgesetz; denn flexibel waren wir
in diesem Land schon lange genug. Jetzt wollen wir kon-





Ekin Deligöz


(A) (C)



(D)(B)


krete Taten und verbindliche Regelungen sehen. Dafür
stehen die Grünen ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will noch ein letztes Argument bringen. Wir reden
über Wertschätzung, über Anerkennung der Arbeit, über
die Anerkennung der Erziehungsleistungen von Eltern,
die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte bringen.
Wer in diesem Land redet aber über die Anerkennung
und Wertschätzung der Arbeit von Müttern, die arbeiten,
um ihre Existenz zu sichern, und gleichzeitig Kinder
erziehen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer redet über die Anerkennung der Arbeitnehmerin-
nen, die das Ganze deshalb auf sich nehmen, weil sie
nicht von Hartz IV leben wollen? Wer redet über diese
Doppelbelastung von Frauen? Sie definitiv nicht. Diese
Belastung ist jedoch ein Problem in unserer Gesell-
schaft. Darum müssen wir uns kümmern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718406200

Das Wort hat nun Katharina Landgraf für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1718406300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Frauen werden in Deutschland durchschnittlich
schlechter bezahlt und seltener befördert als Männer. Das
ist eine Tatsache, die leider nicht zu leugnen ist. Frauen
erhalten auch seltener Sonderzahlungen wie Urlaubs-
und Weihnachtsgeld oder Gewinnbeteiligungen. Das
zeigt die neueste Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung.
Bei den Frauen spielt auch der Freizeitausgleich für
Überstunden eine deutlich größere Rolle, sicher familien-
bedingt; denn eine Barauszahlung erhalten eher die Män-
ner. Die Summe der Ergebnisse dieser Umfrage lässt
vermuten, dass weibliche Beschäftigte auch in naher Zu-
kunft den Lohnabstand kaum aufholen werden. 31 Pro-
zent der Männer, aber nur 21 Prozent der Frauen gaben
an, dass sie in ihrem gegenwärtigen Betrieb schon einmal
befördert worden sind.

Lassen Sie mich kurz die Gründe für dieses Dilemma
erläutern. Meiner Ansicht nach gibt es drei wesentliche
Ursachen für die Entgeltungleichheit zwischen Frauen
und Männern: Erstens. Frauen fehlen in bestimmten
Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Kar-
riereleiter. Zweitens. Frauen haben häufigere und längere
familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und -reduzie-
rungen als Männer. Drittens. Typische Frauentätigkeiten
werden trotz individueller und kollektiver Lohnverhand-
lungen immer noch schlechter bewertet und bezahlt.

In einigen Fällen werden Frauen aber auch schlechter
bezahlt, weil sie einfach Frauen sind. Ein Teil des Lohn-

unterschieds lässt sich nicht mit den eben genannten Ur-
sachen erklären; das ist eben einfach Diskriminierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Da scheint es unterschiedliche Auffassungen zu geben!)


Beispielsweise werden Frauen im Hinblick auf eine
potenzielle Schwangerschaft oft schon zu geringeren
Einstiegsgehältern angestellt. Das ist ein unhaltbarer Zu-
stand, nicht nur, weil es ungerecht ist, sondern auch aus
wirtschaftspolitischer Sicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da klatscht keiner von den eigenen Leuten! – Andrea Nahles [SPD]: Ja, genau! Was machen Sie denn dagegen? Das ist doch die Frage! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Beschweren Sie sich doch nicht, wenn Sie mit mir
einig sind.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Ich wollte Sie nur unterstützen gegenüber Ihrer ignoranten Fraktion!)


Wir versuchen zusammen mit Akteuren aus der Wirt-
schaft, die Ursachen der Entgeltungleichheit mit konkre-
ten Maßnahmen zu bekämpfen. Durch bessere Rahmen-
bedingungen wollen wir die Karrierechancen von Frauen
und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern.


(Elke Ferner [SPD]: Welche denn?)


Hier einige Beispiele: die Initiative „Familienbewusste
Arbeitszeiten“, das Programm „Perspektive Wiederein-
stieg“,


(Christel Humme [SPD]: Da ist das Kind doch schon in den Brunnen gefallen!)


der Girls’ Day, die MINT-Initiativen, der stetige Ausbau
der Kinderbetreuung und die Partnermonate beim
Elterngeld. Wir müssen über die Konsequenzen des
Berufswahlverhaltens der Mädchen informieren und hel-
fen, Erwerbsunterbrechungen zu vermindern.

Weil Frauen besonders häufig für Dumpinglöhne
arbeiten müssen, ist die Forderung nach einem Mindest-
lohn als Lohnuntergrenze in diesem Zusammenhang ein
wichtiges Thema.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Daub [FDP] – Elke Ferner [SPD]: Aha! Welche denn?)


Da sind wir seit unserer letzten Debatte im März zum
Equal Pay Day ein gutes Stück vorangekommen: Ende
April hat die Unionsfraktion ein Konzept für die Einfüh-
rung einer Lohnuntergrenze vorgestellt. Das Eckpunkte-
papier sieht vor, eine tarifoffene, allgemeine Lohnunter-
grenze einzuführen. Über deren Höhe entscheidet nicht
der Staat, sondern entscheiden die Tarifpartner. Somit
bleibt die Tarifautonomie gewahrt.





Katharina Landgraf


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Kanzlerin wird das Thema in den Koalitionsaus-
schuss einbringen, und ich bin zuversichtlich, dass wir
uns noch in dieser Legislaturperiode einigen werden.


(Elke Ferner [SPD]: Die FDP ist begeistert! – Dagmar Ziegler [SPD]: Toi, toi, toi! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dieser FDP? Ich drücke Ihnen die Daumen!)


Das wird ein guter Schritt auf dem Weg zu einer gerech-
teren Entlohnung für Frauen sein.

Ein weiteres Problem ist der schon erwähnte geringe
Anteil von Frauen auf höheren Leitungsebenen. Frauen
liegen derzeit bei der Besetzung von gut dotierten Füh-
rungspositionen in der Wirtschaft weit zurück; das ist
schon gesagt worden. Es ist zwar zu begrüßen, dass die
30 Dax-Unternehmen den Frauenanteil in Spitzenposi-
tionen erhöhen wollen; doch die Wirklichkeit sieht an-
ders aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Elke Ferner [SPD]: Aha!)


Um tatsächliche Erfolge verzeichnen zu können, ist ein
Gesetz


(Elke Ferner [SPD]: Schon wieder ein Gesetz? Das ist doch des Teufels!)


– dieses Mal wirklich ein Gesetz – mit verbindlichen und
messbaren Vorgaben nötig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die entsprechenden Diskussionen und Beratungen lau-
fen derzeit. – Die Diskussionen laufen doch!


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, ja! – Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Beim Abbau der Lohnunterschiede sind alle gefor-
dert, nicht nur wir in der Politik. Vor allem Arbeitgeber
müssen dazu beitragen, und zwar rasch, damit nicht wie-
der etliche Jahre ins Land ziehen, in denen nichts pas-
siert. Ein wichtiger Helfer für die Unternehmen ist dabei
das Analyseprogramm Logib-D. Damit kann die Höhe
des durchschnittlichen Unterschieds der Monatsgehälter
von Frauen und Männern in Unternehmen ermittelt wer-
den,


(Elke Ferner [SPD]: Das Verfahren ist doch schon Schrott!)


außerdem auch die Ursache des Unterschiedes. Die Teil-
nahme ist freiwillig und kostenlos.


(Elke Ferner [SPD]: Deshalb rennen sie Ihrer Ministerin auch die Bude ein!)


Deshalb appelliere ich heute an dieser Stelle wieder an
die Unternehmen, sich möglichst alle an der Selbstkon-
trolle zu beteiligen.


(Beifall der Abg. Nadine Schön [St. Wendel] [CDU/CSU] – Elke Ferner [SPD]: Die kommen jetzt alle? Wovon träumen Sie eigentlich nachts?)


Im Rahmen der Gesamtstrategie müssen wir die
Frauen stark und selbstbewusst machen, damit sie die
Lohnverhandlungen für sich nutzen können. Es wird
zwar von Ihnen immer wieder abgestritten, aber das ist
ein ganz persönlicher Fakt. Starke und selbstbewusste
Frauen werden angesichts des Fachkräftemangels gerade
jetzt ihre Qualifikationen nutzen.


(Elke Ferner [SPD]: Das heißt, die Frauen sind selber schuld an ihrem Unglück, oder wie?)


– Von Schuld rede ich hier gar nicht, Frau Ferner. Die
Frauen sollen ihre Qualifikationen nutzen. – Dazu gibt
es Hilfestellungen und Programme aus dem Familienmi-
nisterium. Denn Männer haben weniger Probleme damit,
sich gut zu präsentieren und für eine angemessene Ver-
gütung zu streiten.


(Christel Humme [SPD]: Das sehe ich aber anders!)


Besonders vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels und, wie erwähnt, des Fachkräftemangels kön-
nen und dürfen wir auf qualifizierte und hochmotivierte
Frauen nicht verzichten.


(Beifall der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/ CSU] und Helga Daub [FDP])


Weil diese entsprechend entlohnt werden müssen, brau-
chen wir gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist nicht nur im Sinne der Gleichberechtigung, son-
dern auch im Interesse der Wirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich teile also das Anliegen der SPD, aber nicht den
Lösungsansatz. Der Einsatz von sachverständigen Per-
sonen, die aufklären und das bestehende Entgeltsysteme
in den Betrieben prüfen sollen, führt zu einem bürokra-
tischen Monster. Im Streitfall müssen dann trotzdem
wieder die Gerichte entscheiden. Damit haben wir nichts
gewonnen und nur eine weitere Instanz dazwischenge-
schaltet.

Der bessere Weg ist die kreative Einsicht, prinzipiell
alle leistungsbezogen zu bezahlen. Das ist der beste Weg
für die gewünschte Entgeltgleichheit.


(Christel Humme [SPD]: Und wie kriegen wir das hin?)


Daher rate ich von einem solchen Gesetz, wie es die
SPD-Fraktion hier vorgelegt hat, ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718406400

Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1718406500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Willy

Brandt hat einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, wie
es um Gleichberechtigung in unserem Land steht: Eman-
zipation komme voran wie eine Schnecke auf Glatteis.
Recht hat er, vor allem, wenn ich mir diese schlappe Re-
gierung und die Regierungsfraktionen anschaue.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden dieser Schnecke mit unserem Gesetzentwurf
Flügel verleihen, damit sich endlich was bewegt. Wir ha-
ben es nämlich satt, weitere Jahrzehnte auf die Durchset-
zung von gleichen Löhnen für gleiche und gleichwertige
Arbeit zu warten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, schauen Sie mich an!
Frauen meiner Generation erhalten fast 60 Prozent weni-
ger Lebenserwerbseinkommen als Männer. Sie verdie-
nen weniger, sie haben im Alter deshalb nur halb so viel
Rente.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber das betrifft Sie doch nicht!)


Lohndiskriminierung zieht sich durch das ganze Leben.
Diese Ungerechtigkeit dürfen wir nicht länger zulassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht bei Ihnen! Sie werden nicht diskriminiert!)


Mit unserem Gesetzentwurf können wir Entgeltdiskrimi-
nierung aufdecken und diesen Rechtsbruch wirksam be-
kämpfen. Worauf warten wir also noch? Wir wollen Ta-
ten sehen!


(Beifall bei der SPD)


Frauen haben in Bezug auf ihre Bildungsabschlüsse
die jungen Männer längst überholt. Beruflicher Erfolg ist
ihnen wichtig. Trotzdem werden sie auch heute noch auf
alte Rollenbilder zurückgeworfen. Sie, meine Damen
und Herren von CDU/CSU und FDP, machen genau das:
mit Ihrem Betreuungsgeld,


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


mit der Flexiquote und mit den unwirksamen Selbstver-
pflichtungen der Wirtschaft. Sie bekämpfen die Lohn-
lücke nicht und nageln Frauen so in überholten Mustern
fest.


(Beifall bei der SPD – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Nein, das stimmt doch gar nicht! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Natürlich!)


– Natürlich stimmt das! – Frauen sind aber schon lange
keine Zuverdienerinnen mehr. Sie sind auf eigene exis-
tenzsichernde Löhne angewiesen, und sie haben ein
Recht darauf.


(Beifall bei der SPD)


Traurige Tatsache ist: Frauen haben in Deutschland nach
wie vor ein Viertel weniger Lohn als Männer, und sie ha-
ben auch immer noch deutlich schlechtere Karrierechan-
cen. In Führungspositionen muss man Frauen mit der
Lupe suchen.

Klar ist doch: Die Freiwilligkeitsvereinbarungen mit
der Wirtschaft sind gescheitert. Wir haben daraus ge-
lernt. Schon in der Großen Koalition haben wir Ihnen
gemeinsam mit unserem damaligen SPD-Arbeitsminis-
ter Olaf Scholz ein Entgeltgleichheitsgesetz vorgelegt.
Sie haben das blockiert und bis heute keinen wirksamen
Weg zur Lösung des Problems aufgezeigt.


(Elke Ferner [SPD]: Genau! Leider wahr!)


Wir machen jetzt wieder Nägel mit Köpfen. Erstens.
Wir schaffen mit unserem Gesetz Transparenz. Solange
Frauen nicht wissen, was ihre Kollegen verdienen, wie
sollen sie da erkennen, dass sie benachteiligt werden?
Das ändern wir.

Zweitens. Wir lassen Frauen nicht länger im Regen
stehen. Natürlich können Frauen schon heute gegen
Lohndiskriminierung klagen. Aber wer macht denn das,
immer mit dem Risiko im Nacken, zu verlieren und
möglicherweise nie wieder einen guten Arbeitsplatz zu
finden? Wir lösen dieses Problem.


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Drittens. Wir stärken Unternehmensverantwortung.
Wir schaffen den gesetzlichen Rahmen und überlassen
es den Unternehmen und Tarifparteien, Entgeltdiskrimi-
nierung aufzudecken und zu beheben. Besser geht es
doch nicht.

Viertens. Wir legen das Bürokratiemonster an die
Kette. Wir brauchen keine neuen staatlichen Stellen, um
Lohngerechtigkeit durchzusetzen. Unser Gesetzentwurf
sieht ein Minimum an Bürokratie vor. Unternehmen, die
gerechte Löhne zahlen, müssen dies nur offenlegen, und
fertig sind sie.


(Beifall bei der SPD)


Verstoßen Unternehmen allerdings gegen das Lohn-
gleichheitsgebot, hat das Konsequenzen. Wir haben in
unserem Gesetzentwurf Bußgelder bis zu 500 000 Euro
festgeschrieben. Das ist richtig so; denn ansonsten wäre
das Gesetz ein zahnloser Tiger.


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Und wie sieht es mit der finanziellen Belastung der
Unternehmen aus?


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die beziffern Sie doch gar nicht!)


Keine Frage, durch unser Gesetz werden Kosten anfallen
für die Berichte und möglicherweise für Sachverständige
und natürlich auch durch die Zahlung gerechter Löhne,
wenn vorher diskriminiert wurde. Das Tolle an unserem
Vorschlag ist aber, dass nur die tief in die Tasche greifen
müssen, denen unsere Grundrechte egal sind, und das ist
auch richtig so.


(Beifall bei der SPD)






Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, mit unse-
rem Gesetzentwurf ist uns ein guter Wurf gelungen. Wir
schaffen Gerechtigkeit, und wir machen Schluss mit der
beschämenden 23-Prozent-Lücke zwischen Männer- und
Frauenlöhnen. Unterstützen Sie deshalb unseren Gesetz-
entwurf!


(Beifall bei der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nie und nimmer!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718406600

Das Wort hat Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1718406700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin

Hiller-Ohm, Sie werden nicht überrascht sein: Wir tun
uns schwer, Ihren Gesetzentwurf zu unterstützen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist noch untertrieben!)


Ich will Ihnen auch sagen, warum: Es ist Tatsache, dass
Frauen in ganz Europa weniger verdienen als Männer
– da brauchen wir gar nicht um den heißen Brei herum-
zureden –,


(Elke Ferner [SPD]: Aber es stört Sie nicht weiter! Sie stört es nicht weiter!)


und in Deutschland ist die Quote höher als im europäi-
schen Durchschnitt. Dass Frauen im Schnitt 23 Prozent
weniger verdienen als Männer – bereinigt sind es 8 Pro-
zent –, wurde von den Kollegen bereits angesprochen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: So weit, so schlecht!)


Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Eben!)


Wir haben gemeinsam das Ziel, die Entgeltungleichheit
abzuschaffen.


(Elke Ferner [SPD]: Ich glaube noch nicht einmal, dass Sie das Ziel haben!)


– Doch, Frau Kollegin. – Aber der Weg dahin unter-
scheidet uns ganz gewaltig. Statt ein bürokratisches
Monster zu schaffen, das allenfalls geeignet ist, dem von
den Grünen vorgelegten Entwurf eines Whistleblower-
Schutzgesetzes, über den wir heute Nachmittag diskutie-
ren werden, eine Grundlage zu geben, halten wir es für
sinnvoller, uns erst einmal die Ursachen anzuschauen:
Woran liegt die Entgeltungleichheit,


(Elke Ferner [SPD]: Oh Mann! Die kennen wir doch alle! Wo haben Sie denn in den letzten 20 Jahren gelebt?)


und wie schaffen wir es, diese abzubauen?

Die Ursachen sind vielfältig. Es ist nicht damit getan,
festzustellen, dass der böse Arbeitgeber sagt: Das ist
eine Frau; die bekommt deshalb weniger Geld. – Ursa-

che ist, dass die Qualifikation und das Berufsverhalten
bei vielen jungen Frauen anders ausgeprägt sind.


(Elke Ferner [SPD]: Selber schuld, oder wie?)


In diesen Tagen fand die 50-Jahr-Feier der Bundes der
technischen Beamten statt. Dort wurde ausgeführt: Wir
tun uns schwer, Frauen für sogenannte MINT-Berufe –
Mathematik, IT, Naturwissenschaften, Technik – zu be-
geistern. Wenn sie ein entsprechendes Studium oder eine
entsprechende Lehre absolviert haben, sind die weibli-
chen Bewerber aber vielfach besser, wenn sie sich um ei-
nen Arbeitsplatz bewerben. Das heißt, die Frauen kön-
nen das.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Elke Ferner [SPD]: Und trotzdem werden sie schlechter bezahlt!)


Warum stellen Arbeitgeber sie trotzdem nicht ein
bzw. zahlen ihnen etwas weniger?


(Elke Ferner [SPD]: Warum?)


Das liegt schlichtweg daran – die Kollegin hat das be-
reits ausgeführt –, dass die Möglichkeit der Familienpla-
nung eingepreist wird. Da wird gesagt: Ja, es kann sein,
dass sie ausfällt.


(Elke Ferner [SPD]: Das hat aber nichts damit zu tun, dass es Frauen sind!)


– Frau Kollegin Ferner, Sie brauchen sich gar nicht so
aufzublasen.


(Elke Ferner [SPD]: Mich regt das auf, im Gegensatz zu Ihnen!)


Wir haben vor vier Jahren in der Großen Koalition mit
dem Ausbau der Kinderkrippenangebote und mit dem
Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der im nächsten
Jahr in Kraft tritt, Möglichkeiten zur Verbesserung der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf den Weg ge-
bracht. All das ist Ihnen doch bekannt.

Die Qualität bzw. der Wert der weiblichen Arbeit
– die mangelnde Wertschätzung haben Sie, Frau Kolle-
gin Müller-Gemmeke, zu Recht moniert – wird dadurch
gewaltig erhöht werden, dass die Frauen sagen können:
Wenn ich schwanger werde, muss ich nicht drei Jahre zu
Hause bleiben, sondern ich kann, wenn ich will, bereits
nach einem Jahr wieder meinem Beruf nachgehen. – All
dies haben wir gemeinsam mit Ihnen von der SPD auf
den Weg gebracht.


(Elke Ferner [SPD]: Sie?)


Das sollten Sie doch noch wissen.

Um den Unterschieden wirksam begegnen zu können,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Führen Sie jetzt das Betreuungsgeld ein!)


müssen wir uns die Ursachen genau anschauen. Wir ha-
ben derzeit – auch das wird zur Herstellung von Entgelt-
gleichheit beitragen – etwa 1 Million Arbeitsplätze in
Deutschland, die nicht besetzt werden können. Das hat
Kollege Brauksiepe erst gestern im Ausschuss ausge-
führt. Das heißt, wir werden die qualitativ hochwertige





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Arbeit der Frauen in Zukunft noch viel stärker brauchen
als vor fünf oder zehn Jahren.


(Elke Ferner [SPD]: Da sind wir aber dankbar, Herr Lehrieder!)


Auf dem Markt hat sich einiges getan, Frau Ferner; da
sind wir ganz gut dabei. Wir müssen auch in Deutsch-
land aufpassen, dass wir die Frauenerwerbsquote erhö-
hen, dass wir die Möglichkeiten für Frauen, berufstätig
zu sein, verbessern. Das werden wir tun.


(Elke Ferner [SPD]: Aha!)


Die Arbeitgeber werden merken, dass wir hier qualifi-
zierte, gut ausgebildete Frauen haben, und sie werden
sich bemühen, diese verstärkt einzustellen. Darum soll-
ten wir uns kümmern, bevor wir über Zuwanderung und
andere Maßnahmen nachdenken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Wenn die das merken, ist es ja kein Problem mehr!)


Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachen-
orientierter Lösungsansätze. Es gilt – ich habe bereits
darauf hingewiesen –, das Berufswahlverhalten zu be-
einflussen, aber natürlich auch die Erwerbsunterbre-
chungen zu vermindern.


(Elke Ferner [SPD]: Deshalb das Betreuungsgeld!)


– Nein, das Betreuungsgeld ist – das wissen Sie so gut
wie ich, Frau Kollegin – keine Fernhalteprämie, wie Sie
es stigmatisieren.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Doch! – Mechthild Rawert [SPD]: Das hat die OECD bewiesen!)


Natürlich kann das Betreuungsgeld auch dann gezahlt
werden, wenn eine junge Frau berufstätig ist. Sie sollten
der Bevölkerung keine Unwahrheiten erzählen; denn so
kommen wir nicht weiter.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Sie sollten die Studie einmal lesen! Das hilft!)


Individuelle und kollektive Lohnverhandlungen ha-
ben die traditionell schlechtere Bewertung der typischen
Frauenberufe bislang noch nicht nachhaltig überwinden
können. Schließlich unterbrechen und reduzieren Frauen
ihre Erwerbstätigkeit familienbedingt häufiger und län-
ger als Männer. Nach längeren familienbedingten Er-
werbsunterbrechungen und damit verbundenen Einbußen
beim Gehalt können Frauen den Einkommensvorsprung
ihrer männlichen Kollegen oft nicht mehr aufholen; da-
rauf wurde bereits hingewiesen.


(Elke Ferner [SPD]: Was sagt uns das jetzt?)


Ob die Garantie auf ein Familienhäuschen am Ende des
Berufslebens der richtige Weg ist, Frau Kollegin Ploetz,
wage ich zu bezweifeln. Das wird die Einstellungsquote
von Frauen wohl nicht merklich erhöhen. Ich halte das
eher für problematisch. Lange Familienphasen und eine
hohe Teilzeitquote sind daher typisch für Frauener-
werbsverläufe.


(Elke Ferner [SPD]: Im Westen!)


Die Entgeltungleichheit ist ein Kernindikator der
Gleichstellung. Ihre Überwindung ist unser zentrales
gleichstellungspolitisches Anliegen. Wie bereits darge-
legt, sind die Ursachen komplex und vielfältig und eng
miteinander verbunden.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb machen Sie nichts?)


– Wir haben schon etwas gemacht. – Daher liegen die
Möglichkeiten der Überwindung der verschiedenen Ur-
sachen bei unterschiedlichen Akteuren. Um hier etwas
zu erreichen, reicht es nicht aus, diesem Problem mit der
gesetzgeberischen Keule, noch dazu – dies hat Frau Kol-
legin Landgraf völlig zu Recht ausgeführt – mit einem
bürokratischen Monster in Form von Überwachung und
Entgeltberichten zu begegnen. Wichtiger ist vielmehr,
die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen, angefan-
gen bei der Ausbildung bis hin zur Vermittlung, entspre-
chend zu verbessern. Das ist das geeignetere Mittel.

Ich habe mir Ihren Antrag angeschaut, liebe Frau Kol-
legin Nahles.


(Elke Ferner [SPD]: Gesetzentwurf!)


– Gesetzentwurf, Entschuldigung. – Dort steht unter
„B. Lösung“:

Der Staat als Handelnder soll sich hier hingegen so
weit als möglich zurückhalten. Das Handeln derje-
nigen, die für die Entgeltsysteme zuständig sind,
soll durch behördliches Eingreifen nicht ersetzt
werden.

Das klingt gut. Wenige Seiten weiter, in § 12 Ihres Ge-
setzentwurfes, lese ich:

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unter-
zieht auf Veranlassung Tarifverträge, die Entgelte
betreffen, einer kursorischen Prüfung …


(Elke Ferner [SPD]: Auf Veranlassung!)


– Ja, dazu komme ich gerade. –

Veranlassung besteht insbesondere

a) bei Abschluss eines neuen Tarifvertrages, der
Entgelte betrifft. …

Die meisten Tarifverträge betreffen Entgelte.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch richtig so!)


b) auf Verlangen von Beschäftigten aus einem Be-
trieb ohne Betriebs- oder Personalrat, deren Entgelt
durch die Anwendung dieses Tarifvertrages be-
stimmt wird;


(Elke Ferner [SPD]: Was ist daran schlimm?)


Die meisten Entgelte werden durch die Anwendung ei-
nes Tarifvertrages bestimmt.

c) auf Verlangen einer zuständigen Tarifvertrags-
partei oder eines Antidiskriminierungsverbandes.


(Elke Ferner [SPD]: Was haben Sie dagegen?)






Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Ich kann Sie nur bitten, sich einmal das Grundgesetz
aus der Schublade vor Ihnen zu holen. In Art. 9 Abs. 3
Satz 2 steht zur Koalitionsfreiheit:

Abreden, die dieses Recht einschränken …, sind
nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechts-
widrig.


(Elke Ferner [SPD]: Schauen Sie einmal in Art. 3! Gleichberechtigung!)


Ich glaube, es ist allemal richtiger und wichtiger, dass
sich die Tarifvertragsparteien tatsächlich um die Aus-
handlung von gleichen Lohnbedingungen kümmern.
Dies sollte nicht durch ein Gesetz geschehen, das durch
die Überprüfung ein bürokratisches und sicher nicht mit
2 Millionen Euro bezahlbares Monster aufbauen würde.

Im Übrigen – auch dazu bedarf es eines ausdrück-
lichen Hinweises – sind die Tarifvertragsparteien bereits
heute


(Elke Ferner [SPD]: Reden Sie bitte etwas langsamer! Man versteht Sie wirklich nicht!)


– Frau Ferner, hören Sie zu, dann können Sie noch et-
was lernen –


(Elke Ferner [SPD]: Wenn Sie langsamer reden, könnten wir Sie verstehen!)


zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohn-
findungsverfahren verpflichtet. Die Bundesregierung,
das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend bietet umfangreiche Arbeitshilfen für Tarif- und
Betriebspartner zur Überprüfung bestehender Regelun-
gen an. Soweit Betriebsräte und Tarifvertragsparteien in
den Gesetzentwurf einbezogen werden, werden nach
meiner Auffassung die verfassungsrechtlichen Grenzen
der kollektiv- und individualvertraglichen Regelungs-
ebenen nicht beachtet. Insofern halte ich verfassungs-
rechtliche Bedenken an Ihrem Gesetzentwurf durchaus
für gegeben.


(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])


Lassen Sie einmal Ihre Juristinnen – Kollegen Kramme
ist leider nicht mehr anwesend – einen Blick darauf wer-
fen; diese können Ihnen sagen, ob der Gesetzentwurf
verfassungsrechtlich korrekt ist.

Meine Damen und Herren, Ihr Lösungsansatz ist
falsch. Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursa-
chenorientierter Lösungsansätze. Es gilt, wie ich bereits
ausgeführt habe, das Berufswahlverfahren zu beeinflus-
sen und die Attraktivität der MINT-Berufe mit entspre-
chender Bezahlung zu steigern. Dass wir in der christ-
lich-liberalen Koalition erst vor eineinhalb Jahren im
Bereich der Pflege einen Mindestlohn eingeführt haben
– in der Pflege arbeiten ja sehr viele Frauen –, gehört im
Übrigen auch zur politischen Korrektheit und zur Ehr-
lichkeit.


(Andrea Nahles [SPD]: Jetzt geben Sie aber wenigstens zu, dass wir da mitgemacht haben, Herr Lehrieder! – Elke Ferner [SPD]: Das haben wir doch angeleiert!)


Die Vorschläge Ihres Gesetzentwurfs – die Verpflich-
tung zur Prüfung der Entgeltsysteme, die Erstellung von
Entgeltberichten, der massive Stellenausbau bei der An-
tidiskriminierungsstelle und die Einführung und Qualifi-
zierung sogenannter sachverständiger Personen – tragen
nach meiner Auffassung dazu bei, eine überbordende
Bürokratie aufzubauen. Außerdem weisen Sie der Anti-
diskriminierungsstelle mit Ihren Vorschlägen zu weitrei-
chende Befugnisse zu.

Darüber hinaus – das hatte ich bereits ausgeführt –
halte ich einen Verstoß gegen die Tarifvertragsfreiheit
für gegeben. Ich glaube, Sie geben den Frauen in puncto
Entgeltgleichheit mit diesem Gesetzentwurf Steine statt
Brot. Wir sollten daran arbeiten, die Qualifizierung, die
Vermittlung und natürlich auch den Wert der Arbeit der
Frauen für die Arbeitgeber – da bin ich bei Ihnen, Frau
Müller-Gemmeke – gerade angesichts des in Zukunft
drohenden Fachkräftemangels stärker herauszustellen.
Dadurch werden wir mehr erreichen, als wenn wir mit
einem bürokratischen Monster versuchen, die unter-
schiedliche Entlohnung von Männern und Frauen ge-
setzlich zu unterbinden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718406800

Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kol-

legin Christel Humme für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1718406900

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Wer diese Debatte bis jetzt verfolgt hat, stellt eines fest:
Wir sind uns im Parlament alle einig, dass bei der Ent-
lohnung von Männern und Frauen schreiende Ungerech-
tigkeit herrscht. Aber es gibt hier eine Fraktion und eine
Regierung, die kein Konzept haben, daran etwas zu än-
dern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Insofern bin ich sehr stolz, Ihnen mit unserem heute vor-
liegenden Gesetzentwurf eine Lösung anbieten zu dür-
fen. Ich glaube, wir können die bestehende Ungerechtig-
keit nur durch gesetzliche Regelungen beseitigen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die gibt es doch bereits!)


Die Vertreter der Regierungsfraktionen sagen: Die
unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen
hat viele Ursachen. Zum Beispiel fehlen Frauen in tech-
nischen Berufen. – Ich sage Ihnen: Auch die Frauen, die
so mutig sind, Maschinenbauingenieurinnen zu werden,
verdienen im Monat 750 Euro weniger als ihre männli-
chen Kollegen. Das ist eine Ungerechtigkeit. Wenn Sie
sagen: „Je älter die Frauen sind, desto größer ist ihr
Karriereknick“ – ich glaube, Herr Lehrieder hat das ge-
sagt –, dann muss ich Ihnen entgegnen: Das ist falsch.





Christel Humme


(A) (C)



(D)(B)


Sehen wir uns doch einmal die Zahlen zu den Berufsan-
fängern und Berufsanfängerinnen an: Der Gehaltsunter-
schied zwischen Männern und Frauen, die drei Jahre Be-
rufserfahrung haben, beträgt 19 Prozent. Das heißt, in
Deutschland besteht für Frauen immer noch das Risiko,
schlechter bezahlt zu werden als Männer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist die traurige Realität, die wir zur Kenntnis neh-
men müssen.

Herr Zimmer – Sie dürfen mir ruhig zuhören –, Sie
haben gesagt, es gebe genug Gesetze. Ja, ich gebe Ihnen
recht. Das Grundgesetz gibt es seit über 60 Jahren. Seit
1994 ist der Staat verpflichtet, die Gleichstellung durch-
zusetzen und für gleiche Entlohnung zu sorgen. Trotz-
dem tut sich nichts. Die Entgeltgleichheit ist bei uns in
Deutschland ein Prinzip ohne Praxis.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie hätten doch etwas tun können! Sie waren 2002 doch schon im Bundestag! Sie haben aber nichts gemacht!)


Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich habe mich ge-
freut, als das Europäische Parlament vor drei Wochen,
am 24. Mai dieses Jahres, beschlossen hat, dass Unter-
nehmen mit mehr als 30 Mitarbeitern in Zukunft ihre
Gehaltsstrukturen offenlegen sollen. Wir sind gespannt,
was daraus wird. In unserem Gesetzentwurf haben auch
wir den Ansatz gewählt, zuerst einmal Transparenz her-
zustellen.

Wie sieht die Arbeitswirklichkeit denn aus? Frauen
können nicht für bessere Löhne streiten, weil sie nicht
wissen, wie viel ihre männlichen Kollegen verdienen.
Viele Männer nennen die Höhe ihres Gehaltes nicht. Sie
verstecken sich hinter der Aussage: Das darf ich nicht. –
Wir brauchen, wie in unserem Gesetzentwurf vorgese-
hen, Transparenz. Darum verpflichten wir private und öf-
fentliche Unternehmen, Entgeltberichte zu erstellen und
ihre Entgeltstrukturen offenzulegen.

Mir haben viele Frauen, die einem Betriebsrat ange-
hören, beispielsweise bei Thyssen, aber auch in anderen
Unternehmen, gesagt: Bitte macht ein Gesetz, das Trans-
parenz herstellt. Wenn Transparenz herrscht, sind wir
nämlich in der Lage, vieles im Interesse der Frauen
schon früher zu verbessern. – Unser Gesetzentwurf sieht
nicht nur vor, Transparenz herzustellen. Vielmehr wollen
wir auch für den Fall, dass es zu Ungerechtigkeiten
kommt, ein Verfahren vorsehen, mit dem eine Lösung
gefunden werden kann.

Die Ministerin Schröder sagt: Ich stelle die Logib-
D-Software im Internet zur Verfügung. Die Unterneh-
men können sie freiwillig herunterladen. 200 Unterneh-
men erhalten eine kostenlose Beratung.


(Andrea Nahles [SPD]: Die wollen sie ja noch nicht einmal!)


Glauben Sie denn wirklich, dass das zu einer Verände-
rung führen wird? Ich glaube das nicht. Darum ist es

richtig, die Unternehmen mit unserem Gesetzentwurf zu
verpflichten, ein Lohnmessverfahren anzuwenden, damit
sich gleicher Lohn einstellt.


(Beifall bei der SPD)


Last, not least müssen wir natürlich für die Durchset-
zung sorgen. Hier gibt es die Möglichkeit eines Bußgelds.
Wir brauchen durch diesen Gesetzentwurf einen kleinen,
sanften Druck; das ist ganz wichtig. Wir haben aber ge-
sagt – das ist vollkommen richtig, Herr Lehrieder –: Der
Staat soll sich so weit wie möglich heraushalten. So we-
nig Staat wie möglich, aber so viel Staat wie unvermeid-
lich! Darum sehen wir auch ein Bußgeld vor.

Herr Lehrieder, Sie sagen, das sei zu bürokratisch. Ich
sage Ihnen: Das Tabu, über Löhne zu sprechen, nützt in
erster Linie dem Arbeitgeber. Er kann, wenn es keine
Transparenz gibt, mit einzelnen Personen Löhne aushan-
deln, die unter dem durchschnittlichen Lohnniveau lie-
gen. Ich frage mich: Warum nennen Sie es Bürokratie,
wenn wir die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer und die selbstverständlichen Grundrechte stär-
ken wollen? Ich sehe das nicht als Bürokratie, sondern
als Selbstverständlichkeit an.


(Beifall bei der SPD)


Genauso ist es keine Bürokratie, wenn wir Unternehmen
auffordern, endlich das zu tun, was schon in den Geset-
zen steht. Im Gegenteil: Die Unternehmen müssten ei-
gentlich schon heute Entgeltberichte erstellen, damit sie
keine Ungerechtigkeit bei der Entlohnung zulassen kön-
nen. Dies müsste selbstverständlich sein. Sie tun es aber
nicht. Darum, glaube ich, müssen wir sie per Gesetz
dazu verpflichten.

Frau Schön, Sie haben natürlich recht: Dieses Gesetz
alleine wird die Welt nicht verändern. Weil es bei uns in
Deutschland so viele strukturelle Diskriminierungen
gibt, brauchen wir zusätzliche, flankierende Maßnah-
men. Dazu gehören natürlich die Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf, die partnerschaftliche Aufteilung von
Elternzeit, der Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit und
der gesetzliche Mindestlohn. Ich sage Ihnen aber: Auf
keinen Fall gehört das Betreuungsgeld dazu.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718407000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9781 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Fraktion
der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ar-
beit und Soziales.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für die-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Familienausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-
men.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte nun um ein
wenig Geduld und Aufmerksamkeit.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 52 a bis g sowie
Zusatzpunkt 2 auf:

52 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 8. April 1959
zur Errichtung der Interamerikanischen Ent-
wicklungsbank

– Drucksache 17/9697 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Finanzausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 18. Oktober
1969 zur Errichtung der Karibischen Ent-
wicklungsbank

– Drucksache 17/9698 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Finanzausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Übereinkommens vom 19. November
1984 zur Errichtung der Interamerikanischen
Investitionsgesellschaft

– Drucksache 17/9699 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Finanzausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs-
und -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013

(BBVAnpG 2012/2013)


– Drucksache 17/9875 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten

– Drucksache 17/9932 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck (Bremen), Memet Kilic, Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Visapolitik liberalisieren

– Drucksache 17/9951 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Ulrich Schneider, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Zweckgebundene und steuerfreie Übungslei-
terpauschalen und Aufwandsentschädigungen
für bürgerschaftliches Engagement nicht auf
Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch anrechnen

– Drucksache 17/9950 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Lieferung von U-Booten an Israel stoppen

– Drucksache 17/9738 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a bis d und 53 f
bis m sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 53 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Okto-
ber 2010 zur Änderung des Übereinkommens
vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von
Gebühren für die Benutzung bestimmter Stra-
ßen mit schweren Nutzfahrzeugen

– Drucksache 17/9343 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/9843 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9843, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/9343 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Markenrechtsvertrag von Singapur
vom 27. März 2006

– Drucksache 17/9691 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/9991 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9991, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9691 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 c:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften

– Drucksache 17/9692 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/9953 –

Berichterstattung:
Abg. Martin Burkert

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/9995 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Johannes Kahrs
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Sven-Christian Kindler

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt auf Drucksache 17/9953, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9692 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP
und Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 d:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 4. Oktober 2003
zur Gründung des Globalen Treuhandfonds
für Nutzpflanzenvielfalt

– Drucksache 17/9696 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/9955 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Harald Ebner





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt auf Drucksache 17/9955,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/9696 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 f bis m: Beschlussempfeh-
lungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 53 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 437 zu Petitionen

– Drucksache 17/9760 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 437 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 53 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 438 zu Petitionen
– Drucksache 17/9761 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 438 ist bei Enthaltung
der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 439 zu Petitionen
– Drucksache 17/9762 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 439 ist bei Enthaltung der
Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 440 zu Petitionen

– Drucksache 17/9763 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 440 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 53 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 441 zu Petitionen

– Drucksache 17/9764 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 441 ist bei Enthaltung
der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 442 zu Petitionen

– Drucksache 17/9765 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 442 ist bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 443 zu Petitionen

– Drucksache 17/9766 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 443 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 53 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 444 zu Petitionen

– Drucksache 17/9767 –

Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Zusatzpunkt 3:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“

– Drucksache 17/9939 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig an-
genommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes

– Drucksache 17/9918 –

1) Anlage 4





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Bei dieser Gelegenheit können wir hier vorne wech-
seln. Viel Glück bei der Abstimmung, liebe Kolleginnen
und Kollegen!


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718407100

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesord-

nungspunkt 6 ist eben gerade vom Präsidentenkollegen
Thierse aufgerufen worden.

Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Druck-
sache 17/9918 den Kollegen Michael Grosse-Brömer
vor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


– So viel Zeit muss sein, die Ovation zu geben.

Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Auf-
merksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren:
Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt,
wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bun-
destages auf sich vereint.

Die Wahl erfolgt mit rosa Stimmkarte und rosa Wahl-
ausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweit noch
nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby
entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der
Wahlausweis auch wirklich Ihren eigenen Namen trägt.

Die Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch
keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglich-
keit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Gültig
sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „ja“, „nein“
oder „enthalte mich“. Ungültig sind demzufolge Stimm-
karten, die kein Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere
Namen oder Zusätze enthalten.

Diese Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimm-
karte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben
Sie bitte den Schriftführern an den Wahlurnen Ihren rosa
Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl
kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht
werden.

Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze
an den Urnen besetzt?


(Zurufe: Nein!)


– Nein, noch nicht. Ein Schriftführer der Koalition fehlt
hier vorne, oben rechts fehlt ein Schriftführer der Oppo-
sition. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, ihr Ehrenamt einzunehmen.

Ich weise noch einmal darauf hin, dass das Amt des
Schriftführers ein Ehrenamt ist, das alle immer sehr
gerne wahrnehmen. Insofern bitte ich nun, die Pflicht zu
erfüllen.

Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das
scheint der Fall zu sein. Ich eröffne somit die Wahl.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein
Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht

abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe so-
mit die Wahl.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Eintritt in
den nächsten Tagesordnungspunkt müssen wir die
Sitzung kurz unterbrechen, bis die Vorbereitungen zu der
gleich stattfindenden Wahl abgeschlossen sind. Die
Sitzung ist unterbrochen.


(Unterbrechung von 13.10 bis 13.17 Uhr)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718407200

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihrer Planung

darf ich Ihnen mitteilen, dass die Sitzungsunterbrechung
noch etwas länger dauern wird. Ich bitte um Ihr Ver-
ständnis. Die Sitzung wird noch für etwa 15 weitere
Minuten unterbrochen. Dann geht es mit der Wahl der
Mitglieder des Sondergremiums weiter.


(Unterbrechung von 13.18 bis 13.29 Uhr)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718407300

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen die

unterbrochene Sitzung wieder auf.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf:

Wahl der Mitglieder des Sondergremiums ge-
mäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes

– Drucksache 17/9919 –

Hierzu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 17/9919 vor.

Dieses Gremium ersetzt das am 26. Oktober 2011
nach früherem Recht gewählte Gremium gleichen
Namens, das sich jedoch nie konstituiert hatte.

Ich darf Sie erneut um Ihre Aufmerksamkeit für ei-
nige erforderliche Hinweise zum Wahlverfahren bitten,
das von dem der soeben durchgeführten Wahl abweicht.

Wir wählen jetzt gleich neun ordentliche Mitglieder
sowie neun Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stimmen
der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.

Für diese Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlaus-
weis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, den Stimm-
kartenfächern in der Lobby entnehmen können. Weiterhin
benötigen Sie zwei Stimmkarten sowie einen Wahlum-
schlag. Diese Unterlagen erhalten Sie von den Schrift-
führerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen
vor den Wahlkabinen. Zeigen Sie dort bitte Ihren Wahl-
ausweis vor.

Die blaue Stimmkarte ist für die Wahl der neun or-
dentlichen Mitglieder; die gelbe Stimmkarte ist für die
Wahl der neun stellvertretenden Mitglieder. Auf jeder
der beiden Stimmkarten können Sie jeweils neun Kreuze
machen. Für jeden Kandidaten, also in jeder Zeile, dür-

1) Ergebnis Seite 21936 D





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


fen Sie nur ein Kreuz bei „ja“, „nein“ oder „Enthaltung“
anbringen. Eine Stimmabgabe ist ungültig, wenn neben
dem Kandidatennamen mehr als ein Kreuz oder kein
Kreuz markiert wurde oder der Name durchgestrichen
wurde. Ungültig sind Stimmkarten, die Zusätze enthal-
ten.

Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihre bei-
den Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und
müssen beide Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahl-
kabine in den Umschlag legen. Anderenfalls wäre die
Stimmabgabe ungültig. Die Wahl kann in diesem Fall
vorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer werden darauf achten.

Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen,
müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihren
Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahlauswei-
ses dient als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl.
Kontrollieren Sie daher bitte, ob der Wahlausweis Ihren
Namen trägt.

Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Ist das gesche-
hen? – Nein, das ist noch nicht geschehen. Es fehlen
noch Schriftführerinnen und Schriftführer. Ich darf noch
einmal darum bitten, dass alle Schriftführerinnen und
Schriftführer ihr Amt wahrnehmen.


(Zurufe)


– Am Ausgabetisch fehlt noch ein Schriftführer aus der
Koalition. Ich darf die Parlamentarischen Geschäftsfüh-
rer um Hilfestellung bitten. – Kollege Paul Lehrieder
übernimmt das. Ich bedanke mich sehr herzlich.

Jetzt sind alle Plätze besetzt. Ich eröffne nun die
Wahl.

Haben alle Mitglieder des Hauses – jetzt frage ich
vorsichtshalber auch die von mir heute schon humorvoll
erwähnten Schriftführerinnen und Schriftführer – ihre
Stimmkarten abgegeben? – Das ist der Fall.

Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die
Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später bekannt ge-
geben1).

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Bera-
tungen fort.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP

Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der
Energiewende

Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt für die Frak-
tion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. –
Bitte schön, Kollege Dr. Joachim Pfeiffer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1718407400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umbau der
Energieversorgung, den wir uns vorgenommen und
wozu wir im letzten Jahr große politische Pakete be-
schlossen haben, ist bekanntlich kein Sprint, sondern ein
Marathonlauf.


(Ulrich Kelber [SPD]: Aber loslaufen müsstet ihr mal – und in die richtige Richtung!)


Mancher hat vielleicht gedacht, mit dem Verabschieden
der Gesetze sei schon alles getan. Das Gegenteil ist aber
der Fall. Es geht jetzt erst richtig los, und die Mühen der
Ebene kommen jetzt auf uns zu.

Aus meiner Sicht gibt es bei diesem Thema drei große
Herausforderungen:

Die erste ist, die notwendigen Erzeugungskapazitäten
zur Verfügung zu stellen, und zwar sowohl Kapazitäten
aus erneuerbaren Energieträgern als auch Back-up-Ka-
pazitäten aus klassischen, konventionellen Kraftwerken.
Das soll heute nicht unser Thema sein.

Die zweite Herausforderung ist die Speicherung, da
die erneuerbaren Energien ja bekanntlich fluktuierend
sind, weil die Sonne auch bei fortschreitendem Klima-
wandel nachts nicht scheinen wird und der Wind auch
nicht immer bläst.

Die dritte ganz zentrale Herausforderung sind die
Netze. Die Netze bilden das Nervensystem des Umbaus
der Energieversorgung. Diese Netze sind intelligent zu
gestalten, das heißt, die Fluktuation muss zukünftig im
Rahmen der Netze berücksichtigt werden können. Vor
allem müssen wir die Netze nachfrageorientiert steuern
können, damit die Energieverbraucher intelligent mit
dem erzeugten Strom beliefert werden können. Das klas-
sische Thema ist selbstverständlich der Transport, der
dort ansteht. Last, but not least leisten die Netze auch ei-
nen entscheidenden Beitrag zur Vollendung des Binnen-
marktes im Energiebereich; denn solange wir, ökono-
misch ausgedrückt, die Elastizität der Nachfragekurve
nicht erhöhen, wir die Nachfrage also nicht flexibler ma-
chen und Wettbewerb nur auf der Angebotsseite besteht,
wird der Wettbewerb nicht so funktionieren, wie wir alle
uns das gemeinsam wünschen.

Der Netzentwicklungsplan, der jetzt vorgestellt wird,
ist quasi die Generalanleitung für den Umbau der Netze,
so wie wir ihn uns vorstellen.

Es ist nicht so, dass bisher nichts passiert ist. Mit
Stand von heute wurden immerhin 214 Kilometer der
wichtigsten Vorhaben umgesetzt. Das bedeutet erfreuli-
cherweise eine gewisse Beschleunigung gegenüber dem,
was wir noch im letzten Jahr zum Teil befürchtet haben.
Die Lage ist aber komplex. Es gibt nämlich verschiedene
Planungsebenen.

Die klassische Planung obliegt den Ländern. Wir ha-
ben schon vor Jahren die Herausforderungen gesehen. In 1) Ergebnis Seite 21936 D





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem Ener-
gieleitungsausbaugesetz festgelegt, dass die Verfahren
im Hinblick auf 24 prioritäre Maßnahmen beschleunigt
werden. Im letzten Jahr haben wir mit dem NABEG die
Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung der jetzt
neuen Projekte geschaffen.

Der Netzentwicklungsplan ist also nicht nur die An-
leitung, sondern er soll vor allem auch Transparenz bei
dem schaffen, was dort vorgesehen ist, sodass die Bürger
das auch nachvollziehen können. Es soll Transparenz ge-
schaffen werden, um dann hoffentlich auch bezüglich
der Planungen Akzeptanz zu erreichen, die zwingend
notwendig ist, weil wir bekanntlich Schwierigkeiten ha-
ben, diese Planungen so schnell umzusetzen, wie es nö-
tig ist.

Wir brauchen Transparenz aber auch bezüglich der
Kosten, weil das, was wir dort unternehmen, keine bil-
lige Veranstaltung werden wird. Ich möchte die Heraus-
forderungen nur einmal von der Größenordnung her
skizzieren, um zu verdeutlichen, worüber wir reden und
was wir vor uns haben:

Nach dem Netzentwicklungsplan brauchen wir allein
für das Übertragungsnetz einen Neubau in einer Größen-
ordnung von rund 3 800 Kilometern. 4 000 Kilometer
müssen modernisiert werden. Das verursacht Kosten von
20 Milliarden Euro.

Das Verteilnetz, das den Strom in der Fläche verteilen
soll, muss um 195 000 Kilometer erweitert werden. Das
verursacht Kosten in einer Größenordnung von 27 Milliar-
den Euro.

Die Einführung sogenannter Smart Meterings, womit
die Netze intelligent gemacht werden sollen, verursacht
5 Milliarden Euro.

Ein anderes Projekt ist die bis 2020 geplante Off-
shoreanbindung. Wenn wir hier eine Leistung von 13 Gi-
gawatt realisieren wollen, brauchen wir dafür mindes-
tens noch einmal 13 Milliarden Euro. Zur Erzeugung
einer Leistung von 1 Gigawatt benötigen wir etwa 1 Mil-
liarde Euro.

Zum Bau der Interkonnektoren nach Norwegen fällt
demnächst die Entscheidung. Wir hoffen, dass wir den
Zuschlag für den Bau des ersten Interkonnektors bekom-
men, also nicht die Briten, sondern wir Deutsche.

Insgesamt reden wir also über eine Größenordnung
von mindestens 70 Milliarden Euro, die bis 2020 allein
in den Netzausbau zu investieren sind. Das ist eine gi-
gantische Herausforderung. Dafür brauchen wir alle.
Dafür brauchen wir auch die Länder, die sich zwar bis-
her verbal vor Begeisterung überschlagen haben. Aber
sie müssen parteiübergreifend auch in dem Sinne Gas
geben, dass sie bei der Planung vor Ort Ressourcen, und
zwar Personal und Geld, zur Verfügung stellen. Sie müs-
sen vor allem auch mithelfen, dass das NABEG so aus-
gefüllt wird, dass es tatsächlich zu einer Planungsbe-
schleunigung kommt, sodass die Projekte, die ich gerade
genannt habe, auch umgesetzt werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718407500

Kollege Pfeiffer, Sie wissen, was das rote Licht vor

Ihnen bedeutet?


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1718407600

Diese Aufgabe ist noch ambitionierter als all die Auf-

gaben, die ich versucht habe in fünf Minuten darzustel-
len.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718407700

Es waren fast sechs Minuten.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1718407800

Das war fast nicht möglich. Aber es wird morgen bei

einer ähnlichen Debatte die Gelegenheit zur Fortsetzung
bestehen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es sind schon mehr als sechs Minuten!)


Vielen Dank, Herr Präsident.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718407900

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Pfeiffer. – Nächster

Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte
schön, Herr Kollege Garrelt Duin.


(Beifall bei der SPD)



Garrelt Duin (SPD):
Rede ID: ID1718408000

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Als wir von dem Titel dieser Aktuellen
Stunde erfahren haben,


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Waren Sie erstaunt!)


waren wir schon ein bisschen erstaunt – das ist wohl
wahr –,


(Patrick Döring [FDP]: Damit wollten wir Sie begeistern!)


besonders aber nach der ersten Rede in dieser Aktuellen
Stunde, die von Ihnen beantragt worden ist.

Den ersten Schritt zur Netzentwicklung haben wir ge-
meinsam getan. Die hier anwesenden Minister werden
gleich an der Ministerpräsidentenkonferenz teilnehmen,
die zwar ein ganz wichtiger Termin – heute ist diesbe-
züglich ein ganz wichtiger Tag – für unser Vorhaben ist.
Aber das Wort „Meilenstein der Energiewende“


(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das ist es!)


ist einfach eine Nummer zu groß für das, was Sie in den
letzten 13 Monaten für Deutschland getan haben. Das
passt überhaupt nicht zusammen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jens Koeppen [CDU/CSU]: Das trifft es!)






Garrelt Duin


(A) (C)



(D)(B)


Lieber Herr Minister Rösler, ich habe heute Ihr Inter-
view in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen.
Ich zitiere daraus drei kurze Sätze: Erster Satz: Wir brau-
chen „Markt, Wettbewerb und Transparenz“. Zweiter
Satz:

Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingun-
gen … festzulegen …

Dritter Satz:

Das ist ein Ausgangspunkt mehrerer Optionen. Wir
stehen erst am Anfang unserer Überlegungen.

Das ist vollkommen nichtssagend. Wir befinden uns
seit einem Jahr in diesen Diskussionen. Wir könnten
schon viel weiter sein, wenn Sie nicht diese doppelte
Ausstiegsnummer hingelegt hätten. Das, was Sie heute,
im Juni 2012, zu diesem Thema zu sagen haben, ist ver-
dammt dünn und zu wenig, um der Herausforderung in
diesem Bereich gerecht zu werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte ganz kurz ein paar Punkte nennen, von de-
nen ich überzeugt bin, dass wir sie gemeinsam mit den
Ländern über eine möglichst breite Mehrheit hier im
Hause hinbekommen müssen.

Das Erste ist in der Tat die Verabschiedung eines
Bundesbedarfsplangesetzes im Jahre 2012 auf der
Grundlage der vorliegenden Szenarien.

Das Zweite, das wir miteinander klären müssen, ist,
dass wir ein ganz intensives Monitoring des Netzausbaus
brauchen, aber nicht nur bezogen auf die Übertragungs-
netze, sondern auch unter Einbeziehung der Verteilnetze.
Hierüber wird oft sehr einfach diskutiert. Wir müssen
eine Anpassung der Anreizregulierungsverordnung vor-
nehmen, um gerade auch im Bereich der Verteilnetze
– Stichwort „Smart Grids“ – voranzukommen.


(Patrick Döring [FDP]: Sind die Sozialdemokraten jetzt doch für eine Anreizregulierung? Bisher waren Sie doch immer dagegen!)


Wenn das in Ihren Überlegungen nicht enthalten ist,
springen Sie zu kurz.

Das Dritte ist die Deckung des Kapitalbedarfs zur
Finanzierung des Netzausbaus. Das ist ein ganz ent-
scheidender Punkt. In einer Fragestunde habe ich den
Parlamentarischen Staatssekretär Otto gefragt, wie er
denn zum Thema „deutsche Netz AG“ stehe. Darauf hat
er, wie ich finde, sehr vernünftig geantwortet, auch das
könne man nicht ausschließen.

Es geht in dieser Zeit aber nicht mehr darum, was
man nicht ausschließen kann, sondern es geht darum,
dass man klare Bekenntnisse abgibt. Die aktuellen Pro-
bleme sind doch offensichtlich. Deswegen brauchen wir
parteiübergreifend das klare Bekenntnis und auch das Si-
gnal an die Marktteilnehmer: Wir wollen eine deutsche
Netz AG. Wir beteiligen uns daran. Wir gehen mit in
diese Verantwortung. Aber wir wollen nicht nur Geld ge-

ben, sondern wir wollen auch etwas zu sagen haben. –
Das ist der entscheidende Punkt, über den wir uns noch
verständigen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ein reiner Renditewettlauf nach dem Motto „Wer
kann das meiste Geld mit welchem Netz verdienen?“
wird nicht zum Ziel führen. Der Markt allein, wie Sie es
heute noch einmal zum Ausdruck gebracht haben, wird
es nicht bringen.


(Patrick Döring [FDP]: Die staatliche Gesellschaft soll also nicht kostendeckend arbeiten, oder wie?)


Im Übrigen brauchen wir zwingend eine Intensivie-
rung der Aktivitäten zur Erforschung und Entwicklung
innovativer Netztechnologien. Denn es geht auch im
Sinne der Akzeptanz, um die wir gemeinsam in ganz
Deutschland an den verschiedenen Orten ringen, darum,
nicht einfach nur zu übernehmen, was dort an Vorschlä-
gen vorliegt, sondern durch kluge Politik dafür zu sor-
gen, eine Überdimensionierung des Ausbaus zu vermei-
den. Es muss nicht jeder Kilometer, der bisher zur
Diskussion steht, am Ende gebaut werden, wenn man bei
der Speichertechnologie und bei intelligenten Netzstruk-
turen vorankommt und sehr viel stärker auf Dezentralität
setzt, als es in vielen Überlegungen zurzeit der Fall ist.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich – weil Sie gleich zur Ministerpräsi-
dentenkonferenz fahren – abschließend sagen: Wir alle
im Bundestag sind mit unseren Parteien mehr oder weni-
ger stark in den Landesregierungen vertreten. Wir haben
dort alle miteinander Verantwortung. Aber aus diesem
Hause muss als Rückendeckung an Sie das Signal ausge-
hen, dass wir uns auch in dem Sinne dessen, was unser
Kommissar in Brüssel, Herr Oettinger, sagt, nicht
16 völlig verschiedene Pläne für den Ausbau der Netze
leisten können. Das muss gebündelt werden.

Die Skepsis in den Ländern ist dadurch verursacht,
dass die beiden Häuser, deren Vertreter hier sitzen
– Herrn Altmaier will ich dafür noch nicht in Verantwor-
tung nehmen –, diese Bündelungsfunktion und das strin-
gente Vorgehen bisher nicht dargestellt haben. Es ist viel
Zeit ins Land gegangen, ohne die notwendigen Erfolge
zu erzielen.

Nehmen Sie deswegen auch aus dieser Aktuellen
Stunde die Botschaft mit: Wir brauchen ein einheitliches
Vorgehen über die Grenzen hinweg, vor allen Dingen
über die 16 Ländergrenzen hinweg. Sonst werden wir
uns hier wiedertreffen, ohne die Ziele beim Netzausbau
erreicht zu haben, die für den Industriestandort, aber
auch für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
dringend notwendig sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718408100

Vielen Dank, Kollege Garrelt Duin. – Nächster Red-

ner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister
Philipp Rösler. Bitte schön, Herr Bundesminister Rösler.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Vor einem Jahr haben
wir hier gemeinsam die Gesetze zur Umsetzung der
Energiewende in Deutschland verabschiedet. Wir wollen
den Ausstieg aus der Kernenergie. Wir wollen als Ersatz
einen starken Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber
wir unterscheiden uns,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Gott sei Dank! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre sonst schlecht!)


die Opposition auf der einen Seite und die Regierungs-
koalition auf der anderen Seite.

Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien,
koste es, was es wolle. Ihnen ist es vollkommen egal,
wer am Ende die Zeche zu zahlen hat.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben das aber toll analysiert!)


Sie denken nicht eine Sekunde an die 80 Millionen Men-
schen, die 40 Millionen Haushalte und die 4 Millionen
kleine und mittelständische Unternehmen, die all das be-
zahlen müssen. Wir denken auch an die Bezahlbarkeit
von Energie in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie mal über Netze, wo Sie nichts tun! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Es geht nicht nur um die umweltfreundliche Produk-
tion durch erneuerbare Energien, sondern auch um Ver-
sorgungssicherheit. Es geht um das Thema Netzstabili-
tät. Deswegen brauchen wir große, neue Netzstrukturen
in unserem Land.

Wir haben das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das
Energiewirtschaftsgesetz und auch die Anreizregulie-
rungsverordnung auf den Weg gebracht. Wir haben für
Investitionssicherheit gesorgt, die wirtschaftliche Effi-
zienz auch beim Ausbau der Netze weiter gesteigert und
Planungen beschleunigt.

Entgegen Ihrer Unterstellung ist der Bund in Bezug
auf den Netzausbau in Deutschland absolut im Zeitplan.
Ende Mai haben wir den Netzentwicklungsplan vorge-
legt bekommen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zum Endlager, wo Sie Verantwortung tragen!)


Alle beteiligten Akteure – der Bund, die Übertragungs-
netzbetreiber, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und
die Bundesländer – haben innerhalb von zwölf Monaten
aus dem Nichts heraus einen völlig neuen Plan auf den
Weg gebracht: 3 700 Kilometer Fernübertragungstrassen
in Deutschland.


(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus dem Nichts? – Weitere Zurufe von der SPD)


Jetzt kennen wir den Bedarf, um den Strom aus dem
Norden in den Süden zu transportieren. Jetzt haben die
Menschen einen sichtbaren und greifbaren Erfolg in den
Händen, der beweist: Wir sind beim Umsetzen der Ener-
giewende in Deutschland absolut im Zeitplan.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie glauben doch selber nicht mehr an Ihre Reden!)


– Die Menschen brauchen auch Ehrlichkeit, Frau Höhn.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Eben!)


Denn angesichts einer Gesamtstrecke von 3 700 Kilome-
tern müssen wir mit den Menschen vor Ort intensiv spre-
chen, wenn es darum geht, die Trassen durch die Regio-
nen zu führen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen streichen Sie als Erstes ihre Rechte! Damit fängt man an: Bürgerrechte streichen!)


Wir brauchen daher Ehrlichkeit. Die legen Sie schon
längst nicht mehr an den Tag. Sie verleugnen die Not-
wendigkeit neuer Netze. Überall da, wo es konkret wird,
stellen Sie sich auf die Seite der Demonstranten, die ge-
gen neue Netze protestieren. Das ist doch die Wahrheit.
Das ist unehrlich und unseriös.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Im Vergleich zu Ihnen sind ja die Energielobbyisten seriös!)


Wir brauchen nicht nur Ehrlichkeit, sondern auch die
Zwillingsschwester der Ehrlichkeit, die Transparenz, ge-
rade wenn es um die Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger geht. Schon sehr frühzeitig, im ersten Entwick-
lungsstadium, sind die Menschen eingeladen, wenn es
darum geht, gemeinsam über die konkreten Trassenfüh-
rungen zu diskutieren. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn
die Trassen feststehen, wenn die Entscheidungen gefal-
len sind, dann müssen wir auch alles dafür tun, dass die
Entscheidungen umgesetzt werden können. Wir können
uns nicht mehr leisten, dass Klagewelle auf Klagewelle
gegen Netzentscheidungen läuft.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen Sie das Ihren Leuten mal!)


Deswegen fordere ich hier genauso wie bei anderen
Infrastrukturgroßprojekten: Es reicht eine gerichtliche
Instanz aus, um neue Netze in Deutschland auf den Weg
zu bringen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, beim
Netzausbau künftig nur noch das Bundesverwaltungs-
gericht als Entscheidungsinstanz gelten zu lassen.





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick Döring [FDP]: So haben wir auch die Autobahnen im Osten realisiert!)


Dass das funktionieren kann, haben die Großprojekte
im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung gezeigt.
Das zeigt auch das Energieleitungsausbaugesetz; Sie
haben es eben selber angesprochen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, es geht nicht voran!)


– Es stimmt, es geht nicht voran. 1 800 Kilometer neue
Leitungen sind geplant gewesen. Nur 200 Kilometer
Leitungen sind bislang gebaut worden. Aber vergessen
wir einmal nicht die Verantwortlichkeit!


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie!)


– Fachlich liegen Sie total daneben, Herr Kollege. – Die
Zuständigkeit für das EnLAG liegt ausschließlich und
alleine bei den Bundesländern.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Immer wegschieben!)


Überall da, wo Trassen über Ländergrenzen hinweg ge-
führt werden sollen, geraten diese Projekte ins Stocken.
Ich sage Ihnen: Wir müssen mit der Kleinstaaterei
Schluss machen. Keine 16 eigenständigen Energiekon-
zepte!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir können es nur gemeinsam schaffen – Bund, Länder
und Kommunen –, und zwar nur unter Einbeziehung der
europäischen Ebene. Wir brauchen Grenzkuppelstellen
an der Grenze zu Frankreich genauso wie an der Grenze
zu Polen. Deswegen muss man die Energiewende auch
europäisch denken, übrigens nicht nur, wenn es um den
konkreten Netzausbau, sondern auch, wenn es um die
Regulierung geht.


(Garrelt Duin [SPD]: Ist Herr Oettinger mit Ihnen so zufrieden, oder was? Hören Sie dem mal zu!)


– Herr Duin, ich verstehe Ihren Einwurf so, dass Sie fest
an unserer Seite stehen, wenn es darum geht, erneut über
Umweltschutzvorgaben nachzudenken.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wir sind der Meinung, Herr Oettinger hat recht, wenn er über Sie redet!)


Wir müssen darüber reden, wie wir Planung und Bau
beschleunigen können, genauso wie damals bei der Re-
alisierung von Autobahnen im Zuge der deutschen Ein-
heit. Viele Maßnahmen konnten wir damals umsetzen,
weil Regeln zeitweilig außer Kraft gesetzt wurden. Dies
brauchen wir heute wieder. Die Zuständigkeit liegt nicht
mehr alleine auf Bundesebene, sondern auch auf euro-
päischer Ebene. Deswegen ist es richtig, dass wir mit der
Europäischen Kommission darüber reden, wie es ermög-
licht werden kann, Umweltstandards für einen bestimm-
ten Zeitraum außer Kraft zu setzen, damit Netzplanung
und Netzausbau schneller vorangetrieben werden kön-

nen. Wir brauchen nämlich beides: Naturschutz und
neue Netze, sowohl in Deutschland als auch in Europa.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal etwas Konkretes!)


– Ganz konkret können Sie sich künftig den Netzent-
wicklungsplan ansehen, Herr Kollege.

Entsprechend den Vorgaben des Netzausbaubeschleu-
nigungsgesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet ha-
ben, werden wir weiter vorangehen. Jetzt liegt der Plan
vor. Wir werden gemeinsam auf seiner Grundlage ein
Bundesbedarfsplangesetz und eine Verordnung entwi-
ckeln, um künftig erstmalig bundesweit Netze planen
und bauen lassen zu können. Wir werden mit den Men-
schen vor Ort sprechen. Wir werden auch mit unseren
europäischen Partnern reden, um Planungserleichterun-
gen auf europäischer Ebene um- und durchzusetzen. An-
ders wird die Energiewende nicht zu machen sein.

Aber der Netzentwicklungsplan, den Sie jetzt in
Händen halten, ist in der Tat – ob es Ihnen nun gefällt
oder nicht – ein Meilenstein, wenn es darum geht, die
Energiewende gleichermaßen für die Menschen und die
Unternehmen in Deutschland umzusetzen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Doppelt so lange geredet und nichts gesagt!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718408200

Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächste Redne-

rin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die
Linke unsere Kollegin Johanna Voß. Bitte schön, Frau
Kollegin Johanna Voß.


(Beifall bei der LINKEN)



Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718408300

Danke schön. – Sehr geehrte Damen und Herren!

Nach dieser Rede fange ich erst einmal damit an, zu sa-
gen, was diesem Netzentwicklungsplan ganz entschei-
dend fehlt: Er steht unter ganz falschen Vorgaben. Das,
sehr geehrter Herr Rösler, ist sehr transparent.

Bei der zugrunde liegenden Marktsimulation gab es
ein Ziel, nämlich die Minimierung der Erzeugungskos-
ten. Der Fokus dieses Plans liegt also auf dem rein be-
triebswirtschaftlichen Aspekt. Man will folglich nicht
das bestmögliche Netz bauen, sondern das kostengüns-
tigste. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Selbst die Netz-
betreiber sagen: Dieser Plan bildet nicht das einzig mög-
liche Netz ab; er bildet vielmehr das Netz ab, das unter
diesen gesetzten Prämissen nötig ist. – Natürlich müssen
die Kosten betrachtet werden; sie dürfen jedoch nicht
das einzige Kriterium für alle Planungen sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem steht nirgends im Netzentwicklungsplan, was
denn nun „kostengünstig“ ist. Das Wirtschaftlichkeitskri-
terium wird im ganzen Netzentwicklungsplan nirgends





Johanna Voß


(A) (C)



(D)(B)


definiert, obwohl es Grundlage aller Berechnungen ist.
Damit sind die Berechnungen nicht nachvollziehbar. Wir
stellen fest: Unter dieser Prämisse bleibt die Sinnhaftig-
keit auf der Strecke.


(Beifall bei der LINKEN)


Reden wir über ein weiteres Problem: Es fehlt eine
Koordination von Stromerzeugung und Stromverbrauch.
Die Strombörse versagt hier. Die Koordination ist aber
ein zentraler Faktor für den Stromnetzausbau. Dieses
Problem kann der Netzentwicklungsplan allein auch
nicht lösen. So treibt dann die Planlosigkeit den Strom-
netzausbaubedarf in schwindelerregende Höhen. Weiterer
Treiber des Ausbaubedarfs im Plan ist, dass das Anfah-
ren und Abregeln von Kraftwerken durch die Netzbetrei-
ber, der sogenannte Redispatch, und das Einspeise- und
Lastmanagement nicht einbezogen werden. Diese Maß-
nahmen können aber einen ganz entscheidenden Einfluss
auf das Einsparen von Stromtrassen haben. Dieses Ein-
sparpotenzial gilt es zu nutzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir damit zum Kernpunkt. Der Netzausbau-
bedarf hängt davon ab, wo welche erneuerbaren Ener-
gien geplant werden und welche Strategie der Erzeugung
und des Verbrauchs von Energie überhaupt gefördert
werden soll. Ein sinnvoller Bundesfachplan „Strom-
netze“ muss daher konsequent vom Endpunkt her, von
100 Prozent Versorgung mit erneuerbaren Energien, ge-
dacht und geplant werden. Der Auf- und Ausbau zukünf-
tiger Stromspeicher muss berücksichtigt und einbezogen
werden. Das alles leistet dieser Netzentwicklungsplan
nicht.

Ein weiterer Punkt: Die Großverbraucher – Alu-,
Stahl-, Auto- und Chemieindustrie – müssen ihren Bei-
trag zur Netzstabilität leisten. Dazu braucht es gezielt
Anreize für mehr Energieeffizienz.


(Beifall bei der LINKEN)


Die wichtigste Forderung bleibt aber: Stromnetze zu-
rück in die öffentliche Hand. Nur so überlässt man den
Bau der großen Stromautobahnen und der kommunalen
Verteilnetze nicht der Willkür und den alleinigen Interes-
sen privater Unternehmen. Das hätte schon längst er-
kannt werden müssen. Eine öffentliche Netzgesellschaft,
wie auch Garrelt Duin sie gefordert hat, kann leisten,
was die vier Netzbetreiber auch bei noch höheren Rendi-
ten nicht leisten können. Strom gehört zu unserer Grund-
versorgung, und der Zugang dazu muss demokratisch or-
ganisiert sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine öffentliche Netzgesellschaft mit Vertreterinnen
und Vertretern von Umweltverbänden, Gewerkschaften
und weiteren relevanten Gruppen kann das leisten. Nur
wenn die Netze wirklich wieder in öffentlicher Hand und
demokratisch organisiert sind, muss nicht mehr lange
über die Offenlegung von Daten gestritten werden. Dann
werden die Netze wirklich nur dort gebaut, wo sie volks-
wirtschaftlich und ökologisch nötig sind. Dann wird eine
sinnvolle Gesamtplanung zur Integration der erneuerba-
ren Energien möglich. Die fehlende Koordination des

Ausbaus erneuerbarer Energien führt sonst unwiderruf-
lich zu unwirtschaftlichen Netzstrukturen. Selbst die
Netzbetreiber bemängeln immer wieder, dass ein Mas-
terplan für den Ausbau der erneuerbaren Energien fehlt.
Das sind also noch nicht einmal linke Spinnereien.

Es geht hier also um eine wichtige politische Weichen-
stellung. Die Frage ist: Für welche Art der Stromerzeu-
gung sollen die Netze geplant werden? Der Aufschwung
dezentraler, erneuerbarer Stromerzeugung muss fortge-
setzt werden. Orientiert sich die Politik aber weiter an den
alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren Interessen
privater Konzerne, fördert sie vor allem zentrale Off-
shoreparks und andere fossile Großprojekte, so wird die
Energiewende verhindert. Eine Versorgung mit Strom aus
zu 100 Prozent erneuerbaren Energien rückt dann in
weite Ferne. Genau diese Entscheidungen stehen an.

Der Netzentwicklungsplan krankt an falschen und
fehlenden Voraussetzungen. Solange kein Masterplan
vorliegt, solange Wirtschaftlichkeit oberstes, vages
Kriterium bleibt, solange Redispatch, Last- und Einspei-
semanagement nicht berücksichtigt werden, so lange
werden wir Netze bekommen und bezahlen, die wir ei-
gentlich nicht brauchen. Umweltverbände und Bürger-
initiativen haben allen Grund, weiter zu kämpfen. Die
Linke wird dabei an ihrer Seite stehen.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718408400

Vielen Dank, Frau Kollegin Voß. – Nächster Redner

in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen unser Kollege Oliver Krischer. Bitte
schön, Kollege Oliver Krischer.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718408500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Wirtschaftsminister Rösler, ich habe von Ihnen jetzt
neun Minuten lang Phrasen und Plattitüden zum Thema
Energiepolitik gehört. Sie sind sich nicht zu billig, hier
noch die Plattitüde zu verbreiten, die Opposition würde
im Land herumlaufen und den Netzausbau verhindern.


(Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Nein!)


Wenn ich vor Ort in Sachen Konfliktfälle unterwegs
bin, stoße ich auf schwarze Bürgermeister und Ihre gel-
ben Parteikollegen, die sich in Populismus ergehen und
Netzausbau verhindern.


(Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Nordrhein-Westfalen!)


Das ist die Realität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will hier mit einem Gerücht aufräumen. Es ent-
steht immer der Eindruck, als ob Bürgerinitiativen und
Bürgerengagement den Netzausbau in Deutschland ver-
hindern würden. – Ja, es gibt Diskussionen, es gibt Kri-
tik, es gibt auch Auseinandersetzungen. Doch die wah-
ren Probleme beim Netzausbau liegen darin, dass es
Intransparenz und fehlende Steuerung gibt. Weiterhin ist





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


das alles bisher als „Geheime Kommandosache“ der
Übertragungsnetzbetreiber gelaufen. Dagegen hätten Sie
schon lange etwas tun können. Da waren Sie in der Ver-
antwortung. Beim EnLAG hätten Sie etwas tun können.
Da ist von Ihnen nichts gekommen.

Sie haben es eben selbst gesagt: Sie haben diesen
Netzentwicklungsplan aus dem Nichts gemacht. Das
zeigt doch, dass Sie drei Jahre lang hier überhaupt nichts
zustande gebracht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE] – Patrick Döring [FDP]: Was hat eigentlich Rot-Grün gemacht?)


Dann sage ich Ihnen: Sie verbreiten Horrorzahlen im
Zusammenhang mit dem Netzausbau und argumentieren
dann, deshalb sei die Energiewende nicht finanzierbar.
Das ist Ihre Botschaft, die Sie als Minister streuen.


(Patrick Döring [FDP]: Jetzt kommen wir der Sache näher! Sie wollen die Netze also gar nicht!)


Dazu sage ich Ihnen: Netzausbau müsste in Deutsch-
land auch ohne Energiewende stattfinden. Bis in die
70er-Jahre hinein sind große Investitionen getätigt wor-
den. Aber danach ist in Übertragungsnetze im Wesentli-
chen nicht mehr investiert worden. In Deutschland ste-
hen Masten, die noch aus Kaisers Zeiten stammen und
die irgendwann einmal erneuert werden müssen, Ener-
giewende hin oder her. Ich glaube, so manche Horror-
zahl, die verbreitet worden ist, würde sich relativieren,
wenn man betrachten würde, was auch ohne Energie-
wende investiert werden müsste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE])


Aber es ist völlig richtig: Wir brauchen den Ausbau
und die Optimierung der Netze im Rahmen der Energie-
wende. Denn wir müssen natürlich von der zentralen zur
dezentralen Erzeugung kommen. Dabei ist das Verteil-
netz ein ganz entscheidender Punkt. Herr Rösler, auch
dazu habe ich von Ihnen keine einzige Silbe gehört. Das
einzige, was Sie im Kopf haben, sind große Übertra-
gungsnetze, die zwar ein wichtiger Teil, aber eben nur
ein Teil sind. Die Verteilnetze haben Sie überhaupt nicht
auf dem Schirm.


(Beifall der Abg. Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dann haben Sie uns jetzt einen Plan vorgelegt, den
Sie „Meilenstein“ nennen. Das ist aber bestenfalls ein
erster Schritt, den Sie ein Jahr, nachdem Sie das Gesetz
verabschiedet haben, gehen. Ich finde: schnell ist anders.
Auch finde ich es hochinteressant, welche verschiedenen
Szenarien mit den entsprechenden Berechnungen und
welchen Erzeugungsmix Sie beim Ausbau der erneuer-
baren Energien zugrunde gelegt haben. Aber interessan-
terweise berücksichtigen Sie zum Beispiel Ihre eigenen
Effizienzziele und Einsparungen nicht. Das kommt in
Ihrem Plan nicht vor.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will er ja so gar nicht!)


Auch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fehlt,
den Sie immer propagieren und über den Sie in der letz-
ten Sitzungswoche erzählt haben, dass Sie dazu jetzt ein
ganz tolles Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz gemacht
haben.


(Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Das haben Sie gemacht! – Patrick Döring [FDP]: Das hat das Parlament gemacht! Gesetze machen wir!)


Es fehlen die Aspekte Speichertechnologie und Last-
management. All das taucht in diesem Netzentwick-
lungsplan überhaupt nicht auf. Das kann in der Konse-
quenz doch nur bedeuten: Entweder glaubt Ihre eigene
Bundesnetzagentur nicht daran, dass Sie die Ziele um-
setzen, oder Sie verfolgen sie überhaupt nicht. Das ist
doch eine Bankrotterklärung sondergleichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dann zum Thema Öffentlichkeitsbeteiligung: Wir alle
wissen und es ist völlig klar, dass man den Netzausbau in
Deutschland auf allen Verteilungsebenen nur mit den
Menschen machen kann, indem man mit ihnen redet. Sie
haben nun den Plan vorgelegt. Danach sagen Sie per Pres-
sekonferenz aus Bonn: Liebe Bürgerinnen und Bürger, ihr
habt jetzt sechs Wochen Zeit, eine Stellungnahme zu ei-
nem Konvolut von 300 Seiten abzugeben. – Das ist keine
Bürgerbeteiligung, das ist ein Witz. Das sage ich Ihnen
ganz klar.


(Otto Fricke [FDP]: Was wäre denn richtig? Wie lange?)


– An dieser Stelle, Herr Kollege, wäre es richtig, vor
Ort, also dezentral, Veranstaltungen durchzuführen und
zu kommunizieren, was Sie zu tun gedenken, und nicht
von oben herab zu verkünden, was jetzt stattfinden soll.
Aber das finde ich in Ihren Planungen nicht.

Es wird am Ende so sein, dass Sie das Ganze hier
schnell durchpeitschen. Aber dann haben Sie tatsächlich
an vielen Stellen Menschen gegen sich, dann wird es
schwierig mit der Umsetzung, und dann jammern Sie
wieder über die Bürgerinitiativen und wahrscheinlich
über die Opposition, die das Ganze angeblich weltver-
schwörungsmäßig zu verhindern versucht. Das ist Ihre
Politik, und die wird am Ende, glaube ich, scheitern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto Fricke [FDP]: Und wie lange wäre richtig? Zwei Monate, vier, fünf, halbes Jahr?)


Zum Schluss will ich nur eines sagen: Dieser Netzent-
wicklungsplan beinhaltet etwas Positives, etwas, was vor
zwei Jahren noch unvorstellbar war. Da haben wir HGÜ-
Trassen durch Deutschland gefordert, um den Strom
schnell transportieren zu können. Damals haben uns die
Netzbetreiber und die Regierung gesagt: Das geht gar
nicht. Jetzt auf einmal ist das machbar. Das ist ein Er-
folg, und das ist vor allen Dingen ein Tiefschlag für die





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Verantwortlichen der dena-Netzstudie II, mit der Sie uns
hier im Zusammenhang mit dem Netzausbau immer wie-
der traktiert haben. Dies zeigt, dass das, worauf Sie sich
bisher berufen haben, nicht das Papier wert ist, auf dem
es steht. Wenn wir den Netzausbau voranbringen wollen,
dann werden wir hier klare Prioritäten setzen und uns
vor allen Dingen für HGÜ-Trassen entscheiden müssen.
Sie haben diese Trassen bisher immer bekämpft, wäh-
rend wir sie mit vorangebracht haben. Mit der Politik,
die Sie hier begonnen haben, wird es, fürchte ich, im
Endeffekt nichts werden.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718408600

Vielen Dank, Kollege Krischer. – Nächster Redner in

unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Georg Nüßlein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1718408700

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Man

muss sich schon einmal die Frage stellen, wem es hier
eigentlich um die Sache und wem es um die Frage der
parteipolitischen Profilierung geht.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist richtig! Die haben wir uns, seit Herr Rösler gesprochen hat, auch gestellt! – Rolf Hempelmann [SPD]: Die stellen wir uns ständig! – Ulrich Kelber [SPD]: Diesen Seitenhieb auf den Wirtschaftsminister hätten Sie unterlassen können! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich wusste nicht, dass Sie Herrn Rösler angreifen!)


Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, ein so wichtiges
Thema wie dieses, bei dem es wirklich um den Flaschen-
hals unserer Energiewende geht – bisher habe ich ge-
meint, wir alle miteinander wollen sie –, einen derart
scheinheiligen Parteienstreit vom Zaun zu brechen und
so zu tun, als ob man dem politischen Gegner Zeitverzug
und Ähnliches vorhalten könnte, und das auch noch,
Kollege Krischer, in einer so offenkundig platten Art.

Ich kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Sie
sind zu spät; das geht zu langsam“, und mich auf der an-
deren Seite hinstellen und sagen: „Ja, wir wissen schon;
Sie wollen es am Ende durchpeitschen.“ – Was wollen
wir denn jetzt? Es wäre schön, wenn Sie einmal sagen
würden, was Sie sich an dieser Stelle vorstellen. Ich
glaube, wir sind an dieser Stelle auf einem sehr guten,
sehr soliden Weg. Wir haben einen Netzentwicklungs-
plan. Dem ging keine staatliche Planwirtschaft voraus,
kein Oktroi von oben; vielmehr wurde miteinander et-
was entwickelt. Es wurden drei Szenarien aufgezeigt;
man hat verschiedene Ausbaualternativen skizziert. Auf
dieser Basis ist man im Rahmen einer Konsultation mit
der Bundesnetzagentur zu dem Punkt gekommen, dass
man gesagt hat: So wollen wir das Ganze ausbauen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe nicht vernommen, dass uns das im Raum ste-
hende Maximum an Investitionskosten, 27 Milliarden
Euro, irgendwie verleiten könnte, zu sagen „Das wird zu
teuer“ oder: „Das geht nicht.“ Es handelt sich um eine
Planung; da sind Schlussfolgerungen unangemessen.
Das, was der Kollege Krischer vorhin abgeleitet hat, ist
ganz seltsam. Er sagte, der Bundeswirtschaftsminister
sei aufgrund der Kosten dagegen, die Energiewende fort-
zuführen. Das ist eine unglaubliche Unterstellung, und er
wird der Sache so nicht gerecht.

Man wird in diesem Rahmen deutlich die Notwendig-
keiten ausloten und feststellen müssen, wie viel Geld
man braucht. Ja, in der Tat gibt es Maßnahmen, um die
Strecken, die jetzt in Planung sind, zu reduzieren, um da-
für Sorge zu tragen, dass das Ganze kostengünstiger
wird. Warum denn auch nicht? Herr Kollege Duin, wir
werden die Frage klären: Wer wird das am Schluss ma-
chen? Ich als Ökonom sage Ihnen ganz offen: Ich halte
sehr viel davon, die deutschen Übertragungsnetze in ei-
ner unabhängigen Netzgesellschaft zusammenzuführen.
So steht es übrigens auch in unserem Koalitionsvertrag.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, dann machen Sie mal was dafür! Das steht seit 2009 im Koalitionsvertrag! – Ulrich Kelber [SPD]: Seit 30 Monaten steht das da drin!)


Ich halte sehr viel davon, zumindest die neuen Netze,
mit denen wir in der Tat Probleme bekommen könnten,
im Rahmen einer solchen Gesellschaft aufzubauen. Es
spricht gar nichts dagegen, in diesem Rahmen beispiels-
weise die HGÜ auszubauen und die Frage zu klären, wer
was macht.

Nun sind da aber mehr Akteure als nur die Netzbetrei-
ber betroffen. Ich habe die Bundesnetzagentur schon an-
gesprochen und möchte betonen, dass wir auch da, Herr
Wirtschaftsminister, noch einmal über die Frage der in-
vestitionsorientierten Regulierung diskutieren müssen.
Die Bundesnetzagentur braucht natürlich noch eine kla-
rere Definition von unserer Seite, was wir damit meinen.
Das heißt, dass wir andere Voraussetzungen insbeson-
dere für den Ausbau der Verteilnetze schaffen müssen,
sodass dieser letztendlich auch geschieht.

Ich möchte abschließend noch einmal ganz klar an die
Politik appellieren. Der Appell an die Bundesländer, den
ich hier gehört habe, war richtig. Man kann hier aber
nicht einseitig nach Farben aufteilen, sondern


(Garrelt Duin [SPD]: Nein! Alle!)


– da gebe ich Ihnen recht – da sitzen alle in einem Boot.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sagen Sie das mal Ihrem Wirtschaftsminister!)


Alle müssen sich überlegen, wie sie mit dieser Frage
umgehen und wie sie die Energiewende beschleunigen
können.


(Garrelt Duin [SPD]: Da ist aber Bayernautokratie auch nicht der richtige Weg!)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Da gehören natürlich die rot-grün regierten Länder ge-
nauso dazu.

Ich bitte Sie noch einmal ganz deutlich: Hören Sie
auf, Zeithorizonte auszumalen, von denen Sie genau
wissen, dass sie nicht realistisch sind. Man kann hier
doch nicht auf der einen Seite sagen, alles müsse noch
schneller gehen, es gehe nicht schnell genug, und auf der
anderen Seite noch mehr Bürgerbeteiligung und weiß
Gott noch was fordern.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürgerbeteiligung ist Beschleunigung!)


Sie müssten vielmehr über Ihren Schatten springen
und sagen, was Sie tun wollen, um die Verfahren zu be-
schleunigen. Ich glaube nicht, dass das mit mehr Instan-
zen und noch mehr Bürgerbeteiligung, als in Deutsch-
land ohnehin schon institutionalisiert ist, geht, sondern
ich bin der Überzeugung, dass dieselben Maßstäbe gel-
ten müssen, die damals bei dem Infrastrukturausbau im
Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu Recht gal-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum diese nicht
auch die Maßstäbe bei diesem für diese Republik wirt-
schaftspolitisch so wichtigen Projekt sein sollten. Ich
bitte da um ein bisschen Unterstützung und Großmut
vonseiten der Opposition.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718408800

Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. – Nächster Redner

ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Rolf Hempelmann. Bitte schön, Kollege Rolf Hempelmann.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1718408900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! „Der Netzentwicklungsplan als Meilen-
stein der Energiewende“ – das klingt so, als müsste je-
mand sich selbst loben, weil er von niemand anderem
mehr gelobt wird. Dafür, muss ich ganz ehrlich sagen,
habe ich eine Menge Verständnis.

Wir hatten in dieser Woche den EU-Kommissar
Oettinger – übrigens immer noch eingeschriebenes Mit-
glied der CDU – im Wirtschaftsausschuss zu Gast. Sein
Zeugnis über das, was Sie Energiewende nennen, klang
doch ein bisschen anders als das, was aus dem Titel die-
ser heutigen Veranstaltung herausklingt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Hört!)


Er sprach sehr deutlich von einer komplett fehlenden
Koordination der Energiepolitik sowohl innerhalb der
Bundesregierung als auch zwischen Bund und Ländern.
Er beklagte ganz ausdrücklich das energiepolitische
Chaos von 16 Bundesländern, das eben nicht bundes-

politisch koordiniert wird. Er beklagte den deutschen Al-
leingang in Europa und die Verstimmung, die Sie bei den
europäischen Nachbarn ausgelöst haben. Er beklagte das
ambitionslose Vorgehen der Koalition und dieser Bun-
desregierung beim Thema Energieeffizienz und Energie-
einsparung; das sind mit Sicherheit gerade im Rahmen
einer Energiewende zentrale Herausforderungen. Außer-
dem beklagte er die fehlende Abstimmung Ihrer Einzel-
maßnahmen, das fehlende Gesamtkonzept.

Wenn Sie heute einen Netzentwicklungsplan vorstel-
len, dann ist das im Grundsatz ein richtiger Schritt. Aber
wir – und nicht nur wir, sondern offenbar auch der Ener-
giekommissar in Brüssel – erkennen nicht, dass dieser
Netzentwicklungsplan in ein Gesamtkonzept eingebettet
ist. Sie haben ja auch keines. Wie sollte er dann darin
eingebettet sein?

In einem Gesamtkonzept würde sehr deutlich werden,
wie viel Netzausbau wir brauchen, wie viel wir auf der
Verteilnetzebene und auf der Übertragungsnetzebene
machen können, was wir mit dem intelligenten Ausbau
der Netze erreichen können und was wir erreichen kön-
nen, indem wir bei dem Speicherausbau oder auch bei
dem Lastmanagement vorankommen, also bei dem Ab-
rufen von Flexibilitäten auf der Nachfrageseite, sowohl
privat als auch in der Industrie.

In einem solchen abgestimmten Gesamtkonzept hat
dann ein Netzentwicklungsplan einen Platz. Sie liefern
einen isolierten, von diesen Fragen völlig losgelösten
Plan, der wahrscheinlich schon deswegen zukünftig im-
mer wieder einer Überarbeitung bedarf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die beiden Herren haben offenbar privaten Diskurs-
bedarf.


(Patrick Döring [FDP]: Für die Ministerpräsidentenkonferenz! – Otto Fricke [FDP]: Die reden mit den Ministerpräsidenten!)


Das muss ja nicht schlecht sein; das kann uns vielleicht
auch weiterhelfen.

Sie haben gesagt, dass Sie das alles so wunderbar mit
den Ländern abgestimmt haben. Dazu muss man heute
nur einmal in die Zeitungen schauen. Da stellt man fest,
dass Herr Rösler beispielsweise Vorgaben für den Natur-
und Vogelschutz außer Kraft setzen will, an die Flora-
Fauna-Habitat-Richtlinie heranwill. Gleichzeitig äußert
sich der energiepolitische Sprecher der CDU im Landtag
Thüringen wie folgt:

Schutzgüter wie Fauna und Flora und das Land-
schaftsbild dürfen bei der Abwägung nicht perma-
nent ins Hintertreffen geraten.

So viel zu Ihrer Abstimmung zwischen Bund und Län-
dern, so viel auch zur Einigkeit in der Koalition.

Sie werfen anderen vor, Projekte zu behindern. In
Wirklichkeit ist es so, wie Kollege Krischer gerade
schon gesagt hat, dass Sie nicht in der Lage sind, bei Ih-
rem Projekt Ihre eigenen Leute mitzunehmen.


(Beifall bei der SPD)






Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


Das, was wir vor uns haben, meine Damen und Her-
ren, ist hochkomplex. Wir haben zehn Jahre verloren,


(Thomas Bareiß [CDU/CSU]: Wer hat denn da regiert?)


weil Sie der Fantasie einer Laufzeitverlängerung nach-
gehangen haben. Wir müssen jetzt alles gleichzeitig und
in sehr viel kürzerer Zeit schaffen. Denken Sie daran:
Der NEP, der Netzentwicklungsplan, ist ein Plan. Den-
ken Sie daran: Es gibt im Energieleitungsausbaugesetz
Trassen, die einer Vollendung bedürfen. Wenn wir uns
die Realität und nicht nur Ihren Plan anschauen, dann
stellen wir fest: Von den 900 Kilometern sind 200 Kilo-
meter realisiert. Wir brauchen aber die Pilotprojekte,
weil wir von denen lernen wollen, weil wir für die weite-
ren Trassen die Erfahrungen brauchen, zum Beispiel
dazu, wie es sich mit den unterirdischen Kabellösungen
auf längeren Strecken verhält und welche technolo-
gischen Vorkehrungen wir dort zu treffen haben.

Es ist einiges zu den Herausforderungen im Bereich
der Regulierung und der Finanzierung der Netze gesagt
worden; ich will das nicht wiederholen, sondern nur
deutlich machen: Viele Fragen haben Sie heute unbeant-
wortet gelassen, so wie wir das von Ihnen gewöhnt sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718409000

Vielen Dank, Kollege Rolf Hempelmann. – Nächster

Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der FDP unser Kollege Klaus Breil. Bitte schön, Kollege
Klaus Breil.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1718409100

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Seit Ende Mai ist der Netzentwicklungsplan unter
www.netzentwicklungsplan.de veröffentlicht.


(Garrelt Duin [SPD]: Aha! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass Sie das sagen!)


Dieser Netzentwicklungsplan ist ein bedeutender Schritt
für die Energiewende.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Schon kein Meilenstein mehr!)


Herr Kollege Hempelmann, ich weiß nicht, ob Sie auch
mit der Industrie reden; ich jedenfalls tue das sehr inten-
siv


(Garrelt Duin [SPD]: Die reden inzwischen mehr mit uns als mit Ihnen! Von Ihnen wollen sie nichts mehr wissen!)


und erfahre da sehr viel Zustimmung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Die kommen sich bei uns über Sie ausheulen!)


Ich möchte Sie alle noch einmal daran erinnern, dass
es sich hier um eine gigantische Aufgabe handelt. Bis
2022 werden wir alle Kernkraftwerke in Deutschland ab-
geschaltet haben.


(Ulrich Kelber [SPD]: Dafür waren Sie ja schon immer, Herr Breil?)


Bis dahin werden wir 35 Prozent unseres Stroms aus er-
neuerbaren Energien produzieren. 2050 soll dieser An-
teil bei 80 Prozent sein.

Alle diese neuen Anlagen entstehen keineswegs nur
an ehemaligen Kraftwerksstandorten. Viele neue Ein-
speisepunkte verändern die Anforderungen an unsere
Energieinfrastruktur. Das Stromnetz war ursprünglich
für wenige große Stromerzeugungsanlagen konzipiert.
Jetzt muss ein flexibles und leistungsfähigeres Strom-
netz her, und zwar mit Hochdruck. Ich glaube und hoffe,
dass Sie erkennen, dass es sich hier um eine gigantische
Aufgabe handelt.

Im letzten Jahr haben wir den Übertragungsnetz-
betreibern deshalb mit der Novelle des Energiewirt-
schaftsgesetzes einen Auftrag erteilt. Bereits jetzt haben
die Übertragungsnetzbetreiber geliefert. Das Ergebnis
kann sich sehen lassen. Mit dem Entwurf des Netzent-
wicklungsplans legen sie den für die nächsten zehn Jahre
benötigten Netzausbaubedarf dar.

Vier Szenarien geben uns einen Überblick über das,
was auf uns zukommt, wohin wir wollen, und wofür wir
uns einsetzen. Ein funktionierendes Stromnetz ist Garant
für Versorgungssicherheit und Netzstabilität sowie für
das Funktionieren des Industriestandorts Deutschland.

Wie beim Kraftwerksbau oder den Kosten für Energie
ist auch beim Netzausbau eines besonders wichtig: Wir
dürfen die Akzeptanz nicht aus den Augen verlieren. Da-
her gilt bei der Arbeit am Netzentwicklungsplan: Opti-
mierung und Verstärkung des Netzes geht vor Neubau
von Leitungen. Das spart Geld und verringert die Rei-
bungsverluste vor Ort durch Widerstände von Bürgerin-
nen und Bürgern. Auch damit müssen wir bei dieser
Mammutaufgabe rechnen. Deshalb müssen wir die Bür-
ger mitnehmen und sie einladen, mitzumachen.

Auf der genannten Internetseite können sich Bürge-
rinnen und Bürger, Kommunen und Verbände unter dem
Titel „Neue Netze für neue Energien“ bis zum 10. Juli zu
den veröffentlichten Eckpunkten der Stromnetzausbau-
planung äußern. Bis gestern sind 120 Stellungnahmen
eingegangen. Das ist für den Anfang ein respektabler
Zwischenstand.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von 80 Millionen Menschen!)


– Kollege Krischer, welchen Vorschlag hätten Sie zu ma-
chen? Sie bemängeln Dinge, aber Sie machen keinen
Vorschlag. Sie nennen keine Zahlen. Wir haben Sie
mehrfach gefragt. Sie kritisieren nur, machen aber keine
konkreten Vorschläge.





Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)



(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehen Sie raus aufs Land und reden Sie mit den Leuten! Stellen Sie das regional vor!)


Wir ermuntern die Bürgerinnen und Bürger, diese
Chance noch mehr zu nutzen. Auch an dieser Stelle
möchte ich das betonen.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, diese
Idee der christlich-liberalen Regierung ist bisher einma-
lig in der Energiepolitik. Der Netzentwicklungsplan ist
ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen und
nachhaltigen Energieinfrastruktur.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Energiepolitik ist in der Tat einmalig! Die gibt es nirgendwo sonst!)


In ähnlicher Form kennen wir das aus der Verkehrspoli-
tik: Der erste Bundesverkehrswegeplan stammt bereits
aus dem Jahr 1973.


(Ulrich Kelber [SPD]: SPD-Verkehrsminister!)


In der Energiewirtschaft hat sich bisher noch niemand
da herangetraut. Doch jetzt endlich, im Jahr 2012, zieht
Schwarz-Gelb beim Stromnetzausbau nach.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Bareiß [CDU/CSU])


Ende Oktober erhalten wir nach Überprüfung durch
Wissenschaft und Bundesnetzagentur eine Empfehlung
für einen Bundesbedarfsplan. Das heißt: Noch in diesem
Jahr werden wir uns in diesem Haus sehr konkret mit
dem Verlauf der Stromtrassen beschäftigen. Im Winter
werden wir den notwendigen Netzausbau in einem Ge-
setz festlegen. Damit werden konkrete Trassen justizia-
bel, also auch gerichtlich durchsetzbar. Umso wichtiger
ist es daher, sich jetzt einzubringen, Herr Krischer. Die
Übertragungsnetzbetreiber laden jetzt dazu ein; die Bun-
desnetzagentur in ein paar Wochen. Dafür werden wir
dann beschlossene Leitungsneubauprojekte besser und
schneller umsetzen. Das ist vorbildliche Bürgerbeteili-
gung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1718409200

Vielen Dank, Kollege Klaus Breil. – Nächster Redner

in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Thomas Bareiß. Bitte schön,
Kollege Thomas Bareiß.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1718409300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine

Herren! Lieber Kollege Duin, Sie haben Ihre Rede mit
der Verwunderung über die jetzige Debatte, unsere Ak-
tuelle Stunde, eingeleitet. Mich erstaunt es nicht, dass

Sie verwundert sind. Sie haben in den letzten Monaten
eine Debatte über das Ausstiegsszenario geführt.


(Garrelt Duin [SPD]: Was?)


Wir aber sprechen nicht über den Ausstieg, sondern über
den Einstieg.


(Garrelt Duin [SPD]: Aha! Das ist wohl ein Witz!)


Wir müssen über den Einstieg sprechen, damit wir eine
Energiewende vollziehen können. Deshalb ist diese De-
batte auch so wichtig.


(Garrelt Duin [SPD]: Meilenstein! – Weitere Zurufe von der SPD)


Ich bin dankbar dafür, dass wir diese Debatte führen und
zeigen können, welche Konzepte Schwarz-Gelb hat.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Wir haben in den letzten Monaten die Energiewende
Schritt für Schritt vorangetrieben. Wir haben die Pro-
jekte, die notwendig sind, vorangebracht. Wir haben
schon vor drei Jahren mit dem EnLAG gezeigt, dass wir
das Thema Leitungsausbau für wichtig erachten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war 2007! Das sind fünf Jahre!)


Wir haben 24 konkrete Projekte genannt und gehen mit
diesen Projekten Schritt für Schritt voran. Wir haben vor
einem Jahr das Energiewirtschaftsgesetz mit einer gro-
ßen Novelle vorangebracht. Wir haben dafür gesorgt,
dass wir trotz schnellen Zubaus von erneuerbaren Ener-
gien eine gewisse Netzstabilität erhalten und garantieren
können. Wir haben vor einem Jahr das Netzausbaube-
schleunigungsgesetz, das NABEG, auf den Weg
gebracht; der Minister hat es vorhin ausgeführt. Jetzt wie-
derum bringen wir auf seiner Basis den Netzentwick-
lungsplan voran und setzen damit einen weiteren Mei-
lenstein im Rahmen unserer Energiewende. Wir schaffen
es damit auch, einen Fehler von Rot-Grün beim damali-
gen Kernenergieausstieg auszubügeln.

Mit dem jetzigen Gesetz versuchen wir, ein Stück
weit den Zubau von erneuerbaren Energien mit der Infra-
struktur und mit dem Netzausbau zu synchronisieren.
Das gilt in einem nächsten Schritt auch für den Speicher-
ausbau, der ebenfalls dazugehört. Das ist nur eine von
zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen beides im Auge
behalten, und mit dem jetzigen Netzentwicklungsplan
wird uns das gelingen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Damit können wir in den nächsten Jahren verhindern,
dass wir Windstrom, den wir teilweise schon jetzt abre-
geln müssen, nicht nutzen können, weil es nicht genü-
gend Infrastruktur gibt und weil die Netze nicht vorhan-
den sind. Wir benötigen Stromautobahnen, um den
Strom abfließen zu lassen; nur so schaffen wir es, die
Windströme aufzufangen und im Netz zu integrieren.





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass der Strom in
Deutschland nach wie vor bezahlbar bleibt. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Die Energiewende wird nur dann
gelingen, wenn wir den Menschen zeigen, dass wir das
Ganze richtig angehen und dass Strom bezahlbar bleibt.
Auch deshalb ist der Ansatz, den wir heute diskutieren,
so wichtig. Daran müssen wir weiter festhalten.

Wir müssen es schaffen, dort in erneuerbare Energien
zu investieren, wo sie am sinnvollsten und am wirt-
schaftlichsten sind. Herr Krischer, Sie sagen, die Ener-
gieversorgung der Zukunft werde komplett dezentral
sein. Sie irren sich. Die Energieversorgung wird teil-
weise dezentral sein, aber in vielen Bereichen wird sie
auch sehr zentral sein. Denn in der Zukunft müssen wir
die Windräder dort aufbauen, wo am meisten Wind vor-
handen ist und wo der Windstrom am kostengünstigsten
produziert werden kann.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist fast überall Wind vorhanden! In Bayern ist viel Wind! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch in Baden-Württemberg!)


Deshalb wird die Gewinnung des Windstroms in den
nächsten Jahren im Norden unseres Landes dramatisch
aufgebaut werden, und deshalb brauchen wir die Strom-
autobahnen vom Norden in den Süden. Sie irren in Ihrer
Annahme; denn wir brauchen diese Leitungen dringend.
In den nächsten Jahren werden wir erleben, dass der Ab-
stand zwischen Produzent und Verbraucher im Bereich
der Infrastruktur in vielen Bereichen nicht abnehmen,
sondern eher zunehmen wird.

Daher ist es dringend notwendig, diese Stromauto-
bahnen zu bauen. In den nächsten zehn Jahren benötigen
wir 3 800 Kilometer Leitungen. Darüber hinaus haben
wir noch EnLAG-Projekte fertigzustellen; das betrifft
900 Kilometer Leitungen. Das heißt: In den nächsten
zehn Jahren benötigen wir 4 700 Kilometer Stromauto-
bahn; wir müssten also jeden Werktag 2 Kilometer Lei-
tungen bauen. Wenn man sich die bisherige Geschwin-
digkeit – inklusive der Altlasten von Rot-Grün – von bis
zu 14 Tagen Bauzeit für 2 Kilometer Leitungen verge-
genwärtigt, dann erkennt man: Wir haben noch ein or-
dentliches Stück Wegstrecke vor uns, um unser Ziel tat-
sächlich zu erreichen.

Mein letzter Punkt. Wir können viel über Rahmenbe-
dingungen oder technische Stellschrauben diskutieren.
Ob die Leitungen dann tatsächlich gebaut werden kön-
nen, hängt damit zusammen, ob wir vor Ort die notwen-
dige Akzeptanz erhalten. Für unsere politische Führung
bedeutet es eine Mammutaufgabe, vor Ort dafür zu sor-
gen, dass die Kommunen in dieser Frage mitziehen. Die
zu bauenden 4 700 Kilometer Leitungen müssen vor Ort
entsprechende Akzeptanz finden. In dem Zusammen-
hang habe ich, wie meine Vorredner, oft die Erfahrung
gemacht, dass diejenigen, die hier die großen Sprüche
bezüglich des Ausbaus der Erneuerbaren klopfen, vor
Ort wiederum die Durchsetzung der Projekte verhindern.


(Ulrich Kelber [SPD]: In meiner Region sind das alles schwarze Bürgermeister, die gegen die Netze und die Erneuerbaren sind, alle, ohne Ausnahme! – Garrelt Duin [SPD]: Die Mutter von Ecki von Klaeden!)


Deshalb kann ich Sie nur immer wieder auffordern:
Machen Sie von Rot-Grün mit bei unserer Energie-
wende. Sorgen Sie mit dafür, dass in Deutschland die
entsprechende Infrastruktur gebaut und so in unsere Zu-
kunft investiert wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718409400

Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Ulrich

Kelber für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1718409500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Praktisch alle Vorrednerinnen und Vorredner haben
zu Recht auf den hohen Zeitdruck bei der Netzmoderni-
sierung hingewiesen. In diesem Zusammenhang ist es
interessant, zu überlegen, wodurch der Zeitdruck ent-
standen ist.

Es ist ziemlich genau sechs Jahre her, da haben in ei-
nem Raum gut 50 Meter von hier, auf der gleichen
Ebene des Reichstagsgebäudes, die Koalitionäre von
CDU/CSU und SPD zusammengesessen. Herr Pfeiffer,
ich weiß nicht, ob Sie damals ebenfalls in diesem Raum
waren. Bundesumweltminister Gabriel schlug vor, dass
wir in Deutschland Leitungen zur Hochspannungs-
Gleichstrom-Übertragung, gerade von den meisten mit
HGÜ abgekürzt, also Stromautobahnen bauen sollten.
Daraufhin lachte der Koalitionspartner der CDU/CSU:
Ihm sei von den Energiekonzernen gesagt worden, so et-
was bräuchte man in Deutschland nicht;


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


man wolle das nicht in die Arbeit der Koalition aufneh-
men. Was, glauben Sie, habe ich gedacht, als ich den
neuen Netzentwicklungsplan bekommen habe, dessen
Kern der Bau von vier Stromautobahnen ist?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man sollte auch darüber sprechen, was da passiert ist.

Ich habe zu diesem Netzentwicklungsplan auch Fra-
gen. Erstens: Wir brauchen Kostentransparenz. Wir ha-
ben jetzt gelesen, dass über einen Zeitraum von zehn
Jahren Kosten in Höhe von 20 Milliarden Euro anfallen.
Ich frage auch die Übertragungsnetzbetreiber: Wie viele
dieser Investitionen sind denn ohnehin notwendige Er-
satzinvestitionen bei einem 35 Jahre alten Netz? Ich bin
nicht bereit, zu akzeptieren, dass man jede Ersatzinvesti-
tion, die man in den 90er-Jahren und den frühen Jahren
des vergangenen Jahrzehnts unterlassen hat, jetzt den er-
neuerbaren Energien zuschiebt, nachdem man damals
die großen Gewinne gemacht hat.





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch dazu gehört Ehrlichkeit. Wer gestern beim Früh-
stück der Übertragungsnetzbetreiber dabei war, hat mit-
bekommen, dass auf meine Nachfrage hin zugestanden
wurde, dass man nicht zwischen solchen notwendigen
Ersatzinvestitionen und dem Zubau, den die Erneuerba-
ren notwendig machen, differenziert hat. Es bleibt dabei:
Nach 1999, nach der Liberalisierung, sind die Netzinves-
titionen halbiert worden. Was wir jetzt benötigen, ist in
etwa die Investition, wie sie die Volkswirtschaft der
Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren bereits
einmal gestemmt hat, für eine sichere Energieversor-
gung.

Nehmen wir die Ersatzinvestitionen heraus und ver-
wenden wir die Zahlen, die laut Netzentwicklungsplan
ohne das sogenannte Startnetz entstehen, unterhalten wir
uns in Deutschland über eine jährliche Abschreibungs-
rate – es sind ja immerhin Investitionen, die für 40 Jahre
getätigt werden – von 250 bis 375 Millionen Euro.
50 Hertz, einer der vier Übertragungsnetzbetreiber, hat
gesagt: Durch diese Investition werden allein in Thürin-
gen Kosten für den Netzbetrieb in Höhe von 130 Millio-
nen Euro im Jahr eingespart. Es gibt weitere Regionen in
Deutschland, in denen damit Kosten eingespart werden.
Auch diese Nettorechnung sollten wir aufmachen.

Ich erwarte eine differenzierte Betrachtung auch der
Bundesnetzagentur dazu, ob wir mit einem dezentraleren
Ausbau an bestimmten Stellen auch noch Kosten einsparen
können. Es geht am Ende darum, die Systemkosten zu
optimieren, und es wäre Aufgabe der Ministerien, nicht
immer nur Einzelbetrachtungen vorzunehmen, nicht nur
zu sagen: Jetzt versuchen wir, bei den Netzkosten herun-
terzukommen; jetzt versuchen wir es mit dieser Förder-
geschichte; jetzt geben wir hier einen Zuschuss. – Am
Ende müssen die Systemkosten auf dem Weg zu
100 Prozent erneuerbaren Energien optimal sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe in den letzten Wochen die geschätzten Kolle-
gen von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion – Breil,
Pfeiffer, Bareiß – genauso wie den Minister Rösler ge-
hört, die gesagt haben: Man muss den Ausbau der Er-
neuerbaren an die Netzentwicklung anpassen. Was ich
vermisst habe, ist die Frage: Muss man nicht die gesamte
Energieversorgung und die Netzentwicklung einander
anpassen? Da hat keiner davon gesprochen, dass man
den Neubau von fossilen Kraftwerken an der Küste, der
dort stattfindet, weil die Gasanlandung und die Kohlean-
landung etwas preisgünstiger als im Südwesten der Re-
publik sind, verbieten sollte. Die Kraftwerke nutzen aber
die gleichen Netze, Herr Kollege Breil. Sie wollen also
die Netze mit fossiler Energie verstopfen und dann sa-
gen: Für die Erneuerbaren brauchen wir jetzt noch mehr,
und das ist viel zu teuer.


(Klaus Breil [FDP]: Eine unsinnige Unterstellung!)


Das sind die Fragen zum Netzentwicklungsplan, die
man auch stellen kann. Aber wer die Äußerungen der
Übertragungsnetzbetreiber verfolgt hat, wer weiß, dass
es um 250 bis 375 Millionen Euro pro Jahr geht, der
weiß eines: Dieser Netzentwicklungsplan liefert kein Ar-
gument gegen 100 Prozent erneuerbare Energien. Wir
wissen, dass es auch mit fossilen Energien immer teurer
würde: Ersatzinvestitionen in Kraftwerke, Ersatzinvesti-
tionen in Netze müssten auch dann stattfinden, weil alles
veraltet ist. Dieser Netzentwicklungsplan zeigt: 100 Pro-
zent Erneuerbare dezentral sind machbar, bezahlbar und
ökonomisch sinnvoll.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718409600

Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD], an den Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU] gewandt: Kollege Pfeiffer, Sie erinnern sich noch genau an die Besprechung mit der HGÜ! – Gegenruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ach, schwätzt doch keinen Scheiß aus! Wirklich! – Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber (SPD]: Lügen, weil’s unangenehm wird, ist nicht erwünscht! – Weiterer Gegenruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wenn Sie hier schon rumlügen, sollten Sie es zumindest nicht wiederholen! Jetzt reicht’s aber!)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1718409700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kelber, wenn Sie sich einmal kurz zu mir richten
könnten: Das Problem ist doch vielmehr, dass wir insge-
samt ein Problem mit den verschiedenen Ländern haben.
Das ist das Entscheidende. Das sage ich auch Herrn
Krischer und all den anderen, die jetzt erklären: Ihr habt
doch mit eurer schwarz-gelben Bundesregierung – – Das
spielt keine Rolle. Die verschiedenen Landesregierun-
gen haben immer etwas andere Interessen, als wir sie auf
Bundesebene haben. Deswegen sollten wir doch ge-
meinsam so ehrlich sein, festzustellen, dass eine gemein-
same Entwicklung der Netze und eine gemeinsame
Energiepolitik unser gemeinsames Ziel sein sollten und
wir deswegen in der Opposition genauso wie in der Ko-
alition dafür sorgen müssen, dass wir unsere Länder
dazu bewegen, es gemeinsam hinzubekommen. Da hilft
es nicht, zu erklären: Ihr habt die gleichen Probleme. Ich
würde gerne darauf verzichten, dass wir uns in Bezug
auf die Vergangenheit gegenseitig den Schwarzen Peter
zuschieben. Vielmehr sollten wir uns endlich um die Zu-
kunft kümmern und darum, dass es vorangeht.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, der, der ihn hat, der möchte immer gerne darauf verzichten! Das ist schon wahr!)






Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


– Herr Kelber, schauen wir uns doch einmal an, was Sie
gemacht haben. Solange Sie an der Regierung waren, ist
doch gar nichts passiert.


(Ulrich Kelber [SPD]: Über Ihre Regierungszeit habe ich gerade berichtet!)


Sich zu beschweren, dass es so langsam geht, und her-
umzumeckern, ist wirklich lächerlich. Bleiben wir doch
bei den Fakten, das gilt auch für Sie. Sie haben kein
Netzausbaubeschleunigungsgesetz vorgelegt. Auch in an-
deren Bereichen waren Sie untätig.


(Ulrich Kelber [SPD]: Darüber habe ich doch gerade gesprochen!)


Ich bin der Meinung, dass es jetzt vorwärtsgehen muss.
Wir müssen das gemeinsam schaffen. Ich glaube auch,
dass es gelingen kann.

Die Hochspannungsleitungen, also die 380-kV-Lei-
tungen, werden wir auf jeden Fall brauchen. Es nützt
nichts, darüber nachzudenken, ob wir dezentral produ-
zieren sollten, weil klar ist, dass gerade der Offshore-
und der Onshorewindbereich im Nordosten in den
nächsten Jahren zunehmen wird. Das ist doch unser ge-
meinsames politisches Ziel. Gleichzeitig wissen wir,
dass wir im Süden und im Südwesten an der Rhein-
schiene den meisten Strom brauchen. Darum müssen wir
uns kümmern.

Die Maßnahmen hätten von Anbeginn parallel laufen
müssen. Es ging von vornherein nicht um die Frage, ob
man erneuerbare Energie fördern soll, sondern darum, zu
klären, ob man die gesamte Stromversorgung statt auf
zentralen auf dezentralen Kraftwerken aufbauen will;
denn wenn ich eine dezentrale Versorgung will, dann
muss ich dafür sorgen, dass die Infrastruktur rechtzeitig
zur Verfügung steht. In der Vergangenheit wurde für
manche Netze bis zu 20 Jahre gebraucht. Eine Photo-
voltaikanlage kann innerhalb weniger Stunden auf dem
Dach installiert werden, falls die nächste Kürzung ins
Haus stehen sollte. All das zeigt, dass man frühzeitig mit
dem Ausbau der Netze beginnen muss;


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jens Koeppen [CDU/CSU])


hier hinken wir hinterher. Leider wurde das von allen
Vorgängerregierungen versäumt. Inzwischen sind wir
uns alle einig, dass es jetzt schneller gehen muss.

Wir müssen den Netzausbau beschleunigen. Natürlich
wissen wir, dass die Menschen vor Ort Probleme haben,
wenn hinter ihrem Grundstück eine Großleitung verlegt
werden soll, die den Wert des Grundstücks reduzieren
wird. Ihnen ist dann auch egal, wer welches Parteibuch
hat. Die Probleme sind grundsätzlicher Art. Deswegen
wird es wichtig sein, dass wir die Menschen frühzeitig
einbeziehen. Stuttgart 21 beispielsweise hat bewiesen,
dass es nicht unbedingt ein Vorteil ist, wenn man lange
über ein Thema debattiert, sondern dass es sogar kontra-
produktiv sein kann. Wenn ich 10 oder 15 Jahre über die
gleiche Infrastrukturmaßnahme debattiere, dann hat das
zur Folge, dass irgendwann einmal die Akzeptanz in der
Bevölkerung sinkt. Darum bin ich der Meinung, dass wir
die Menschen sehr viel früher als in der Vergangenheit

einbeziehen müssen, wir müssen allerdings auch schnel-
ler Entscheidungen treffen. Das wird dazu führen, dass
wir schneller handeln können als in der Vergangenheit.
Das bedeutet natürlich auch, dass man den Instanzenweg
nicht ausweitet, sondern verkürzt. Das ist die andere
Seite der Medaille. Wenn man das will, dann muss man
offen damit umgehen und die Probleme benennen. Will
man das nicht, dann muss man eine Alternative aufzei-
gen, wie man den Netzausbau sonst noch beschleunigen
kann. Dazu habe ich von Ihnen leider noch keine Ant-
wort gehört. Ich würde mich freuen, etwas darüber zu
hören.

Wir müssen uns nicht nur über die Hochspannungs-
netze Gedanken machen, sondern auch über Niederspan-
nungs- und Verteilnetze vor Ort. In diesem Zusammen-
hang gehört es zur Wahrheit dazu, zuzugeben, dass wir
grundsätzlich die Debatte über die Einspeisung von er-
neuerbaren, volatilen Energien anders führen müssen.
Das heißt für mich nicht, dass wir das EEG abschaffen
müssen, sondern das heißt, dass wir das EEG schneller
beenden als in der Vergangenheit vorgesehen, und zwar
ohne dass wir das System durch ein anderes ersetzen,
sondern indem man sagt: Die Menschen müssen weniger
einspeisen – übrigens nicht weniger produzieren – und
gleichzeitig mehr selber verbrauchen. Wenn uns das ge-
lingt, dann sparen wir zumindest im Verteilungsbereich
an den Netzausbaukosten, und zwar riesige Summen.

Wenn man bedenkt, was wir in den letzten Jahren für
die erneuerbaren Energien ausgegeben haben, dann sieht
man, dass wir so nicht weitermachen können. Hier im
Bundestag sollte es Common Sense sein, dass wir die
Summe von 150 Milliarden Euro – wir haben uns 2011
verpflichtet, im Bereich erneuerbare Energien so viel zu
investieren – nicht einfach so fortlaufend erhöhen kön-
nen.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch eine üble Zahl, die gar nicht stimmt! Das ist Polemik!)


– Oder sogar bis 185 Milliarden Euro, Hans-Josef Fell.
Das hängt davon ab, wie es weitergeht. Mittlerweile sind
wir vielleicht auch schon bei 200 Milliarden Euro. Es
spielt keine Rolle.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, das spielt eine Rolle!)


Wir müssen dafür sorgen, dass diese Summe in Zukunft
deutlich weniger wird. Das wird uns gelingen, wenn die
Menschen weniger Einspeisevergütung erhalten, als sie
selber für Strom bezahlen; denn dann lohnt es sich natür-
lich, den Strom selbst zu verbrauchen. Da müssen wir
hinkommen. Hier brauchen wir Unterstützung.

Für die Menschen soll der Anreiz geschaffen werden,
den Anteil am Eigenverbrauch zu erhöhen, nicht 0 bis
20 Prozent, sondern vielleicht auf bis zu 50 Prozent.
Wenn sie einen höheren Eigenverbrauch haben, erhalten
sie einen höheren Einspeisesatz. Wenn sie mehr als
50 Prozent einspeisen wollen, könnten wir die Vergü-
tung senken. All das schafft Anreize, das Netz zu entlas-
ten und den Strom dezentral zu verbrauchen. Es müssen
Anreize dafür geschaffen werden, dass die Leute, die





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


Strom produzieren, ihn endlich auch verbrauchen und
ihn nicht nur zur Verfügung stellen.


(Zurufe der Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Ulrich Kelber [SPD])


– Hören Sie doch einmal zu. Dann kommen wir viel-
leicht endlich mal vorwärts. Dieser ständige Protest
– nein, nein, nein! – und die Forderung, die Förderung
nicht so stark zu kürzen, wird uns keinen Zentimeter
weiterbringen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen sinkt doch die Akzeptanz in der Bevölkerung.
Der Grund, warum wir Geld zum Fenster hinausschmei-
ßen, ist doch, dass keiner von Ihnen bereit ist, nach links
und rechts zu schauen, solange die Lobbyisten aus der
Photovoltaikindustrie Nein sagen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)


Das ist genau das Problem. Ihr müsst innovativer wer-
den. Ihr müsst euch zum Beispiel überlegen, wie man es
schafft, dass diejenigen, die volatilen Strom produzieren,
sich jemanden für das Back-up suchen, zum Beispiel
einen Biogaskraftwerks-, einen Wasserkraftwerks- oder
einen Gaskraftwerksbetreiber. Nichts dergleichen kommt
von Ihrer Seite. Wenn es die richtigen Innovationen gibt,
dann geht es, glaube ich, voran.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718409800

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1718409900

Herr Präsident, liebe Kollegen, herzlichen Dank für

die Aufmerksamkeit. Ich merke, es gibt auch hier noch
Investitionsbedarf. Sie sollten ein bisschen Herzblut und
Hirnschmalz investieren.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie geben mehr Geld für die gleiche Kilowattstunde aus!)


Wenn wir das gemeinsam aufbringen, dann können wir,
glaube ich, das Problem lösen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718410000

Letzter Redner in der Debatte ist Jens Koeppen für

die CDU/CSU-Fraktion.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1718410100

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Es ist heutzutage kein Problem mehr,
Strom aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Die
Herausforderung besteht darin, ihn an die richtige Stelle
zu bekommen bzw. ihn dort zu produzieren, wo man ihn

braucht. Deswegen ist eine gute Netzinfrastruktur selbst-
verständlich notwendig.

Ich erinnere an die Ethik-Kommission, die wir vor
rund einem Jahr gemeinsam gelobt haben. In dem
Schlussbericht heißt es, dass die Stromnetze und ihr
Ausbau der wichtigste Prüfstein für das Gemeinschafts-
werk sind. Dort steht auch, dass entscheidend ist, dass
der erzielte Konsens auf Dauer angelegt ist. Das will ich
unterstreichen. Ich muss sagen, dass Ihre heutigen Atta-
cken gegen den Netzausbau nicht zu dem Lob von
damals passen. Diese Debatte erinnert mich eher an das
Verhalten der brandenburgischen Landesregierung, die
den Konsens hinsichtlich des Atomausstiegs bereits we-
nig später infrage gestellt hat, weil einige brandenburgi-
sche Kommunen aufgrund des Atomausstiegs geringere
Steuereinnahmen von Vattenfall bekommen. Kann man
mit einem solchen Politikverständnis in der Energiepoli-
tik vorankommen? Ich bin da skeptisch.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stehen in Brandenburg Atomkraftwerke? – Ulrich Kelber [SPD]: Die Gewerbesteuer von Vattenfall vor Ort ist von den Kohlekraftwerken!)


– Herr Kelber, Fakt ist doch, dass wir mehr Netze brau-
chen. Wir müssen erkennen, dass die Netze Lebensadern
der Energiewende sind. Für den Netzausbau ist nicht die
Anzahl der Kilometer entscheidend. Herr Krischer, dies-
bezüglich können wir einen Konsens herstellen. Wir
brauchen uns gar nicht darüber zu streiten, ob das 4 600,
3 800 oder 2 500 Kilometer sind. Das ist aus meiner
Sicht nicht relevant. Relevant ist die Qualität des Aus-
baus: Wie schaffen wir es, technologieoffen und innova-
tionsfreudig Kapazitätserweiterungen zu organisieren,
die sich zum Beispiel aus der Verwendung von Hoch-
temperaturseilen, einer dezentralen Stromeinspeisung
oder Speichermöglichkeiten für die fluktuierenden Ener-
gien ergeben?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kommt im Plan alles nicht vor!)


Erkenntnisse hinsichtlich der Machbarkeit laufen kom-
plett unter dem Radar. Wir müssen feststellen, dass ei-
nige, statt Netze zu errichten, Energiekapazitäten nur am
Ort erzeugen wollen. Das wird nicht funktionieren. Das
ist eine Vision, die wir haben sollten und haben; für die
zügige Umsetzung der Energiewende brauchen wir aber
gute Netze.

Stellen Sie sich einmal vor, Berlin wäre gekrönt mit
Windrädern. Ich denke, das ist eine städtebaulich relativ
abscheuliche Vorstellung. Solche Experimente können
wir uns wahrlich nicht leisten. Die Idee, sich autark zu
versorgen, ist schön. Kollege Meierhofer hat das bereits
gesagt. Ich selbst habe eine Photovoltaikanlage auf
meinem Dach. Laut installierter Leistung könnte ich
mich selbst versorgen. Das ist gar keine Frage. Wenn es
aber um Leistung mal Zeit geht, also um die elektrische
Arbeit, dann sieht das schon anders aus.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wie viel verbrauchen Sie zu Hause?)






Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)


Selbst wenn ich mich zu 80 oder sogar 90 Prozent selbst
versorgen könnte, brauchte ich für die restlichen 20 oder
10 Prozent ein Netz, das sicherstellt, dass die Energie zu
jeder Zeit zu mir kommt. Das gilt nicht nur für mich,
sondern für die ganze Wirtschaft. Wir brauchen eine gute
Netzinfrastruktur, und zwar auch dann, wenn man sich
vor Ort bzw. in einem Bundesland durch die installierte
Leistung selbst versorgen könnte.

Der Netzausbau ist nicht zum Nulltarif zu haben. Des-
wegen müssen wir den Leuten sagen, dass Eingriffe in
die Natur und das Landschaftsbild stattfinden werden.
Aber im Gegenzug werden wir auch etwas bekommen:
Wir bekommen den von einem Großteil der Bevölke-
rung geforderten Umbau der Energieversorgung, also
den Atomausstieg. Wir bekommen dafür, dass ein Groß-
teil der Energie aus regenerativen Energiequellen stammt.
Wir bekommen dafür, dass wir die gefährliche Energie-
abhängigkeit von unsicheren Drittstaaten reduzieren
können. Wir bekommen dafür auch, dass unsere Ener-
gieversorgung wesentlich klimafreundlicher und um-
weltverträglicher wird. Das sollte uns die Investitionen
in die Netzinfrastruktur wert sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deshalb ist für mich der Netzentwicklungsplan ein
Meilenstein. Ich unterstütze die Aussage von Umwelt-
minister Altmaier, der gesagt hat: Nicht der einzelne
Kilometer ist für den Erfolg der Energiewende relevant,
sondern dass das System funktioniert. In diesem Sinne
müssen die am Erfolg interessierten Bundesländer mit
uns gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar in die
richtige Richtung. Das pure Festhalten an und das Pfle-
gen von Landesegoismen wie zum Beispiel bei CCS, bei
der PV-Vergütung und der Gebäudesanierung helfen uns
nicht weiter.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir
aufgrund der Detailprobleme beim Netzausbau, die es
natürlich gibt, nicht den gesamten Netzausbau infrage
stellen sollten. Von Deutschland geht eine Signalwir-
kung aus. Ein solches Megaprojekt gab es noch nicht in
einem Industrieland mit solch einem hohen Energiebe-
darf. Wir können die Energiewende in Deutschland nur
mit der notwendigen Infrastruktur meistern. Wir sehen
den Netzentwicklungsplan daher wirklich als Meilen-
stein der Energiewende an. Viele in Europa und in der
Welt warten ab und schauen auf uns. Ich bin ganz sicher:
Deutschland wird es packen. Wenn es einer packen
kann, dann Deutschland. Wenn wir es dann geschafft ha-
ben, werden viele unserem Beispiel folgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718410200

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 9 a und b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bundes-

rechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes
im Recht der Sicherungsverwahrung

– Drucksache 17/9874 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der ju-
gendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten

– Drucksache 17/9389 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/9990 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Jens Petermann
Jerzy Montag

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Max Stadler.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1718410300


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Es war eine der bleibenden Leistungen des großen
Liberalen Thomas Dehler in seiner Amtszeit als erster
Bundesminister der Justiz, dass er 1953 das Jugend-
gerichtsgesetz in der Tradition des großen Gustav
Radbruch gestaltet hat. Der damals formulierte Vorrang
des Erziehungsgedankens hat das deutsche Jugendstraf-
recht zu einem der modernsten der Welt gemacht. Dieses
Jugendstrafrecht hat sich über die Jahrzehnte hinweg
sehr gut bewährt. Bei der Grundkonzeption bleibt es
selbstverständlich, auch wenn wir heute die jugendrich-
terlichen Handlungsmöglichkeiten punktuell erweitern.

Seit langem wird darüber diskutiert, ob das Höchst-
maß der Jugendstrafe von zehn Jahren bei Mord ausrei-
chend definiert ist. Ich bin überzeugt: Es gibt Einzelfälle,
bei denen dieses Höchstmaß nicht angemessen ist. Ich
nenne ein Beispiel: Zwei Täter im Alter von 20 und
22 Jahren begehen gemeinschaftlich einen Mord. Wenn
nun der 20-jährige Haupttäter, auf den noch Jugendstraf-
recht anwendbar ist, zu einer Jugendstrafe von maximal
zehn Jahren verurteilt werden kann, für den 22-jährigen
Mittäter hingegen zwingend lebenslange Freiheitsstrafe
vorgeschrieben ist, dann besteht offenkundig eine
Diskrepanz.


(Zuruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])






Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb ist die Anhebung des Höchstmaßes der Jugend-
strafe für Heranwachsende bei Mord auf 15 Jahre rich-
tig, wobei wir als einschränkende Voraussetzung vorse-
hen, dass dies nur bei besonderer Schwere der Schuld
gilt. Diese Änderung betrifft nicht die jugendlichen Tä-
ter, also die Altersgruppe der 14- bis 17-jährigen Täter,
sondern ausdrücklich nur die Heranwachsenden, also die
Gruppe der 18- bis 20-jährigen Täter, falls auf diese
noch Jugendstrafrecht angewendet wird.

Strittiger war in den Ausschussberatungen ein weite-
res Dauerthema aus der jugendrechtlichen Diskussion
der letzten 20 Jahre: die Ermöglichung des Jugendarres-
tes neben einer auf Bewährung ausgesetzten Jugend-
strafe. Entgegen bekannten Bedenken im Schrifttum
halten viele Praktiker diese zusätzliche Reaktionsmög-
lichkeit für erforderlich, um zu vermeiden, dass ein zu
einer Bewährungsstrafe verurteilter Täter den falschen
Eindruck aus der Gerichtsverhandlung mitnimmt, seine
Straftat sei quasi sanktionslos geblieben. Ich sage noch
einmal, Herr Kollege Montag: Das ist ein falscher Ein-
druck. Aber viele Praktiker meinen aufgrund ihrer Er-
fahrung, dass das bei den Verurteilten manchmal so an-
kommt. Wir entsprechen heute diesem Wunsch aus der
Praxis, in der Erwartung, dass von der neuen Sanktions-
möglichkeit zielgenau, in den richtigen Fällen und damit
wirksam Gebrauch gemacht wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine eigene persönliche Erfahrung als Jugendrichter
hat mich gelehrt, dass der erstrebte pädagogische Erfolg
eines kurzzeitigen Freiheitsentzugs sehr stark von der
praktischen Durchführung abhängt. Insbesondere muss
der Jugendliche die Verbindung zwischen der Ahndung
und seiner Tat erkennen können. Dies setzt einen ra-
schen Vollzug des Arrestes und dessen sinnvolle Aus-
gestaltung voraus. Davon wird der Erfolg dieses neuen
Instruments abhängen. Hierfür tragen die Länder die
Verantwortung.

Auch unser zweites heutiges Thema berührt sehr stark
die Bundesländer, die für den Vollzug der Sicherungs-
verwahrung zuständig sind. Bei der grundlegenden Re-
form dieses schwierigen Bereichs zum 1. Januar 2011
haben wir diese Kompetenzzuweisung beachtet. Wir
haben damals als Bundesgesetzgeber bewusst keine Vor-
gaben gemacht, wie sich der Vollzug der Sicherungsver-
wahrung von der Strafhaft unterscheiden muss.

In seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 hat das Bun-
desverfassungsgericht jedoch gerade die Verletzung des
sogenannten Abstandsgebotes zwischen dem Vollzug
von Sicherungsverwahrung und Strafhaft gerügt. Vor al-
lem aus diesem Grund beschäftigt uns diese Thematik
heute erneut, während die Grundgedanken der von die-
sem Hohen Hause im Dezember 2010 mit breiter Mehr-
heit gebilligten Reform in Karlsruhe unangetastet geblie-
ben sind. Vor allem das Ultima-Ratio-Prinzip, dem wir
mit der damaligen Reform zu einer stärkeren Geltung
verholfen haben, wurde von den Karlsruher Richtern
ausdrücklich hervorgehoben.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Bund in dieser
Entscheidung beauftragt, bundesrechtlich die wesentli-

chen Leitlinien zum Abstandsgebot zu formulieren, die
dann konkret in Vollzugsgesetzen der Länder münden
und durch die Vollzugspraxis ausgefüllt werden müssen.
Die Bundesregierung hat nach intensiven Beratungen
mit den Ländern einen Gesetzentwurf hierzu vorgelegt,
der vom Bundesrat schon im ersten Durchgang behan-
delt worden ist. Die Länderkammer ist offenbar der Auf-
fassung, dass der Regierungsentwurf seine Aufgabe sehr
gut erfüllt. Nennenswerte Änderungswünsche im Hin-
blick auf die Regelungen zum Abstandsgebot gibt es
vom Bundesrat nämlich praktisch nicht.

Allerdings möchte der Bundesrat die Neubezeich-
nung „Sicherungsunterbringung“ einführen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein guter Vorschlag!)


Das ist meiner Meinung nach nicht notwendig. Entschei-
dend ist nicht ein neues Etikett, sondern entscheidend ist,
dass der Vollzug der Sicherungsverwahrung verfas-
sungs- und menschenrechtskonform ausgestaltet wird.
Genau dies leistet unser Gesetzentwurf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, bedeutsamer ist ein inhalt-
licher Änderungswunsch des Bundesrates. Wir haben
– mit den Stimmen der SPD und mit Unterstützung der
Grünen – zum 1. Januar 2011 ein neues Konzept der
Sicherungsverwahrung beschlossen. Es sah vor, die im
Urteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung auszubauen,
und zwar zulasten der aus verschiedenen Gründen nicht
die Anforderungen erfüllenden sogenannten nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung. In Abweichung von die-
sem unserem Konzept hat der Bundesrat nun erneut eine
nachträgliche Unterbringungsmöglichkeit vorgeschla-
gen, die sogenannte nachträgliche Therapieunterbrin-
gung. Ich sage ganz deutlich: Im Regierungsentwurf
bleiben wir bei der Konzeption von 2011, die die Koali-
tion von CDU/CSU und FDP mit den Stimmen der SPD
und mit Unterstützung der Grünen beschlossen hat,


(Burkhard Lischka [SPD]: Nehmen Sie uns jetzt mal nicht in Mithaft!)


und zwar aus wohlerwogenen fachlichen Gründen.

Unser Konzept – ich betone das noch einmal – ist
vom Bundesverfassungsgericht in seiner wirklich weg-
weisenden Entscheidung vom 4. Mai 2011 gerade nicht
beanstandet worden. Gegen die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung bestehen dagegen offenkundig so-
wohl beim Bundesverfassungsgericht als auch beim Eu-
ropäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhebliche
Bedenken.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Richtig!)


Der Regierungsentwurf sieht daher pro futuro keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nach-
trägliche Unterbringung vor.

In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bun-
desrates hat die Bundesregierung lediglich ausgeführt,
diesen Vorschlag des Bundesrates im weiteren Gesetzge-
bungsverfahren zu prüfen. Man braucht kein Prophet zu





Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)


sein, um zu vermuten, dass dieser Komplex in den Aus-
schussberatungen ein Schwerpunkt der Diskussionen
sein wird.

Für heute möchte ich mit der Feststellung schließen:
Bei einem so komplexen und derart grundrechtssensiblen
Thema wie dem weiteren Freiheitsentzug, obwohl die
verhängte Freiheitsstrafe schon vollstreckt ist, führt der
Entwurf der Bundesregierung das Sicherheitsbedürfnis
der Allgemeinheit auf der einen Seite und die verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben zur Anordnung von Siche-
rungsverwahrung und zu einer rechtsstaatlichen Ausge-
staltung in überzeugender Weise zusammen. Daher bitte
ich Sie um breite Unterstützung für unseren Entwurf, wie
Sie sie auch im Dezember 2010 gezeigt haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718410400

Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1718410500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Endlich liegt zu diesem rechtspolitisch wichtigen Thema
ein Entwurf der Bundesregierung vor. Wir mussten lange
darauf warten und freuen uns darauf, jetzt endlich da-
rüber diskutieren zu können. Das müssen wir zügig, aber
auch mit der gebotenen Intensität tun; denn die Siche-
rungsverwahrung – Sie haben es gerade am Ende noch
einmal beschrieben, Herr Stadler – muss wegen des tie-
fen Eingriffs in das Leben eines Verurteilten, der seine
Strafe ja bereits verbüßt hat, streng rechtsstaatlich ausge-
staltet sein und das letzte Mittel der Kriminalpolitik, also
die Ultima Ratio, bleiben. Auch das nehmen wir sehr
ernst.

Aber das berechtigte Anliegen der Bevölkerung, vor
höchstgefährlichen Straftätern geschützt zu werden, neh-
men wir genauso ernst. In diesem Zusammenhang gilt
es, streng rechtsstaatliche Regelungen zu treffen.

Sie haben es angesprochen: Die SPD hat in diesem
Zusammenhang immer eine konstruktive Zusammenar-
beit angeboten. Das galt beim Therapieunterbringungs-
gesetz, und das gilt auch beim vorliegenden Entwurf.
Aber zu einer konstruktiven Zusammenarbeit gehört
eben auch, dass wir den einen oder anderen Punkt be-
nennen, den wir in dem vorliegenden Entwurf für kri-
tisch halten.

Dazu gehört zum Beispiel der Katalog der Anlassta-
ten; denn wir waren uns einig, dass wir die Verhängung
einer Sicherungsverwahrung aufgrund der Tiefe des Ein-
griffs auf Taten gegen Leib und Leben, gegen körperli-
che Unversehrtheit und gegen die sexuelle Selbstbestim-
mung beschränken wollen. Es geht also wirklich um
schwerste Straftaten, vor denen die Bevölkerung zu
Recht geschützt werden muss, Straftaten, die begangen
werden könnten, wenn solche Täter rückfällig würden.
Deswegen kann ich es nicht nachvollziehen, dass in Ih-

rem vorliegenden Entwurf, der § 66 Abs. 1 StGB noch
immer unangetastet lässt, darauf nicht Rücksicht genom-
men wurde.

Wenn man das jetzt einmal zu Ende spinnt, dann sieht
man: Die Sicherungsverwahrung ist weiterhin bei einem
schweren Fall von Landfriedensbruch, unter bestimmten
Umständen beim gefährlichen Eingriff in den Straßen-
verkehr und bei Vollrausch möglich. Das kann doch
nicht Ihr Ernst sein, und Sie können doch auch nicht
glauben, dass das einer Überprüfung beim Bundesver-
fassungsgericht standhalten würde.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen haben wir schon vor einigen Monaten ei-
nen entsprechenden Antrag eingebracht, der fordert, dass
der Anlasskatalog für die Sicherungsverwahrung tat-
sächlich auf die von mir genannten schwersten Delikte
beschränkt wird. Der Antrag liegt vor, und ich gehe da-
von aus, dass wir in den anstehenden Beratungen da-
rüber auch noch zu sprechen haben.

In diesem Antrag haben wir auch gefordert, eine Lü-
cke zu schließen, die, wie wir finden, ein großes Gefah-
renpotenzial in sich birgt, in dem Entwurf aber – Sie ha-
ben es ausgeführt – keine Rolle spielt: Es geht um die
nachträgliche Therapieunterbringung.

Der Herr Kollege Heveling – er ist ja anwesend – hat
hierzu in der Debatte zu unserem Antrag im März ehr-
lich bejaht, dass es in diesem Bereich eine Schutzlücke
gibt. Da frage ich mich, warum Sie diese Lücke mit Ih-
rem Entwurf nicht schließen.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ich bin nicht Mitglied der Bundesregierung!)


– Aber Sie sind doch in den Beratungen dabei. Ich habe
Herrn Stadler so verstanden, dass es hier wenig Ände-
rungsmöglichkeiten gibt. Wir sind gespannt, ob Sie be-
reit sind, etwas gegen diese Schutzlücke, deren Vorhan-
densein Sie bejaht haben, zu tun.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ich arbeite daran!)


Sie können doch nicht sehenden Auges das Risiko
eingehen wollen, dass dann, wenn sich die psychische
Störung eines Gewalttäters erst im Strafvollzug ergibt,
dieser trotzdem nach Ablauf der Strafhaft entlassen wer-
den muss, obwohl von ihm die Gefahr ausgeht, dass er
erneut schwerste Straftaten begehen wird. Dieses Risiko
akzeptieren Sie sehenden Auges, wir als SPD-Fraktion
nicht.


(Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Deswegen fordern wir mit unserem Antrag die nachträg-
liche Therapieunterbringung.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zum zweiten
Thema sagen, das heute ja auch in dieser Debatte behan-
delt wird, nämlich der Erweiterung der jugendgericht-
lichen Handlungsmöglichkeiten, hier insbesondere zum
sogenannten Warnschussarrest für jugendliche Straftäter.
Diese Erweiterungen werden immer damit begründet,





Christine Lambrecht


(A) (C)



(D)(B)


dass Jugendkriminalität angeblich immer brutaler wird
und zunimmt. Das mag vom Bauchgefühl her so sein,
aber die Zahlen der Kriminalitätsstatistik sprechen eine
völlig andere Sprache. Nach der Polizeilichen Krimi-
nalstatistik 2011 ist bei Jugendlichen ein Rückgang der
Gewaltdelikte um 10,7 Prozent, bei gefährlicher und
schwerer Körperverletzung sogar ein Rückgang um
11,4 Prozent zu verzeichnen. Lassen Sie sich also bei
solchen rechtspolitischen Vorhaben besser von Zahlen
und Fakten, aber nicht von Gefühlen leiten.

Dass ein solcher Warnschussarrest sogar schädlich ist,
schreiben Ihnen wirklich fast alle Fachleute ins Stamm-
buch. Sie haben zwar gesagt, dass die meisten Fachleute
dieses Instrument begrüßen. Wenn ich die Ergebnisse
aus der Anhörung zusammentrage, habe ich aber einen
anderen Eindruck.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Es mag ein paar wenige Befürworter geben, die Sie her-
vorgeholt haben, aber ich hatte von den meisten Stel-
lungnahmen her einen anderen Eindruck. Gerade Ju-
gendliche, die eigentlich für eine Bewährung geeignet
wären – das ist ja das Kriterium –, lernen durch die Ver-
hängung eines Warnschussarrests im Gefängnis erst das,
was man alles für eine kriminelle Karriere braucht. Herr
Professor Dr. Pfeiffer hat Ihnen das noch einmal mehr
als deutlich bestätigt, als er von einer „Fortbildung in der
Anwendung krimineller Methoden“ sprach.

Es verwundert schon sehr, dass ausgerechnet aus dem
Hause der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
ein solcher Entwurf vorgelegt wird.


(Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär: Es ist ein Fraktionsentwurf!)


Diese Ideen sind ja nicht neu, sondern werden ständig
wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt, das letzte Mal
2008 vom damaligen Ministerpräsidenten Koch, der
meinte, im Wahlkampf ganz schnell etwas auf den Tisch
legen zu müssen. Damals hat Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, allerdings noch in der Opposition, die
Vorschläge, über die wir heute abstimmen, wie folgt be-
wertet: Der „erzieherische Nutzen“ des Warnschussar-
rests sei zu bezweifeln. Ich zitiere:

Sie hält auch eine angestrebte Verlängerung der ma-
ximalen Haftdauer von 10 auf 15 Jahre für überflüs-
sig, weil schon heute der Strafrahmen so gut wie nie
voll ausgeschöpft werde. 2006 wurden gerade ein-
mal 17 Jugendliche und Heranwachsende zu 10 Jah-
ren Jugendstrafe verurteilt. Das entspricht einem
Anteil von 0,1 Prozent der Verurteilten. Leutheusser-
Schnarrenberger: „Es besteht kein Bedarf, das Ju-
gendstrafrecht zu ändern.“


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Recht hatte sie damals, und recht hat sie immer noch!)


Ich weiß nicht, in welch wesentlicher Weise sich die
Situation von damals zu heute geändert hat. Aber viel-
leicht bestimmt einfach das Sein das Bewusstsein; das

kann in diesem Fall sein. Es wird einem aber angesichts
der Pirouetten, die die Ministerin in dieser Frage gedreht
hat, schwindlig. Wir werden sie nicht drehen. Wir blei-
ben bei unserer ursprünglichen Position und werden die-
sen Möglichkeiten nicht zustimmen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718410600

Das Wort hat nun Andrea Voßhoff für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andrea Astrid Voßhoff (CDU):
Rede ID: ID1718410700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Lambrecht, das, was Sie gesagt haben
– ich glaube, in einer Debatte hat Ihr Kollege Lischka
die Ministerin in dieser Frage zitiert –, macht doch kei-
nen Sinn.


(Burkhard Lischka [SPD]: Da gibt es ganz viele Zitate, Frau Voßhoff! Damit könnten wir Stunden verbringen!)


Auch Sie sind doch koalitionserfahren und wissen, dass
Koalitionspartner durchaus unterschiedliche Positionen
haben dürfen, sich aber im Ergebnis zu einem Beschluss
durchringen können.


(Christine Lambrecht [SPD]: Aber eine 180Grad-Kehrtwende ist schon etwas Besonderes!)


Das ist so. Daran wird sich auch nichts ändern.

Es ist schon von den Vorrednern gesagt worden, dass
wir heute nicht nur den Entwurf eines Gesetzes zur Um-
setzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungs-
verwahrung in erster Lesung debattieren, sondern auch
abschließend den Gesetzentwurf zur Erweiterung der ju-
gendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Das sind
zwei sicherlich sehr unterschiedlich zu gewichtende und
auch in Teilen kontroverse kriminalpolitische Vorhaben.
Beide haben eine lange Vorgeschichte.

Ich will zur Sicherungsverwahrung nur einige An-
merkungen machen. Sie hat uns – viele, die schon länger
im Bundestag sind, wissen das – in diesem Hohen Hause
schon in nahezu konstanter Regelmäßigkeit beschäftigt.
Immer wieder sahen wir uns gezwungen, mit der Siche-
rungsverwahrung den Schutz der Allgemeinheit vor ge-
fährlichen Tätern, die ihre schuldangemessene Strafe
bereits verbüßt hatten, gegen das Freiheitsrecht der Be-
t
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1718410800
Zuletzt im Dezember 2011 haben wir mit einer
durchaus überzeugenden Mehrheit in diesem Hause die
Sicherungsverwahrung neu ausgerichtet und, wie ich
finde, im Grundsatz eine gute Reform der Sicherungs-
verwahrung auf den Weg gebracht.

Warum steht das Thema heute auf der Tagesordnung?
Wir reagieren mit dem Gesetzentwurf, wie Sie wissen,
auf das bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts,





Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)


in dem sämtliche Vorschriften der Sicherungsverwah-
rung für verfassungswidrig erklärt wurden, aber nicht in
ihrem materiellen Inhalt, sondern weil das Abstandsge-
bot, das heißt der Abstand zwischen dem Vollzug der
Strafe und der anschließenden Sicherungsverwahrung,
nach Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht einge-
halten worden ist. Es war also allein die Verletzung des
sogenannten Abstandsgebots, weshalb die Normen für
verfassungswidrig erklärt wurden.

Um diesem Anspruch des Bundesverfassungsge-
richts und der Pflicht zur Umsetzung gerecht zu werden,
hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur ersten
Beratung vorgelegt. Wir werden ihn intensivst beraten.

E
Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1718410900
Im Rahmen
der anstehenden Beratungen müssen wir tatsächlich über
die Frage der Notwendigkeit einer nachträglichen Thera-
pieunterbringung reden und sie intensivst prüfen.

Ich begrüße es, dass der Bundesrat in seiner Stellung-
nahme einen entsprechenden Formulierungsvorschlag
dazu vorgelegt hat. Der Bundesrat initiiert damit, dass
psychisch gestörte Täter, deren hochgradige Gefährlich-
keit erst nach dem Strafurteil erkennbar wird, zum Schutz
der Allgemeinheit unterzubringen sind. Ich weiß, das ist
eine sehr kritische Frage. Aber ich finde sie notwendig
und geboten, auch im Lichte des Urteils des Bundesver-
fassungsgerichts, das nach unserer Auffassung für eine
solche Regelung eine Tür offengelassen hat, und dies si-
cherlich aus guten Gründen. Wir wissen alle: Es wird
ganz, ganz wenige Fälle geben. Aber die Anzahl der Fälle
spricht nicht dafür, zu sagen: Das ist nicht notwendig. –
Vielmehr ist jeder Einzelfall umso gravierender. Wir wis-
sen von einigen Beispielen aus Bayern, um welche Fälle
es sich handelt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist umstritten und fraglich, in welcher Weise wir
das umsetzen können und wollen. Die Bundesregierung
hat Prüfungen vor dem Hintergrund des Entwurfs des
Bundesrates zugesagt. Diese Prüfungen werden wir in
den anschließenden Beratungen auch vornehmen, Frau
Kollegin Lambrecht. Es wird auch eine kritische und
kontroverse Prüfung geben, völlig klar. Dieser Entwurf
ist aber ein Entwurf der Bundesregierung. Das Parla-
ment hat jetzt das Wort und wird dazu beraten, und na-
türlich – das haben Sie gemerkt – gibt es auch in der Ko-
alition unterschiedliche Positionen dazu. Wir werden
sehen, welches Ergebnis die Beratungen ergeben wer-
den.

Lassen Sie mich noch auf den zweiten Punkt einge-
hen, den wir heute beschließen wollen und der bereits
diskutiert worden ist, nämlich den Warnschussarrest. Ja,
es ist richtig – das hat auch die Anhörung gezeigt –, dass
vonseiten der Wissenschaft und von Verbänden der
Warnschussarrest abgelehnt wird. Die Anhörung hat
aber auch gezeigt, dass viele Praktiker


(Burkhard Lischka [SPD]: Zwei!)


– nein, es waren vier – diese Regelung begrüßen.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Es waren vier da! – Zuruf von der FDP: Es waren vier da, und vier haben es gesagt! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Vier Praktiker waren es! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Sorgfalt ausgesucht!)


– Vier von acht. – Dann müssen Sie das auch zur Kennt-
nis nehmen. Ich respektiere das und weiß auch um die Be-
deutung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Analysen.
Das ist völlig unstreitig. Ich habe aber ebenso auch gro-
ßes Vertrauen in die Auffassung der Praktiker und Ju-
gendrichter. Ich kann nicht einsehen, warum deren Hal-
tung nicht auch gefolgt werden sollte, und wir tun dies ja
auch.

Mit dem Gesetzentwurf zur Erweiterung der jugend-
gerichtlichen Handlungsmöglichkeiten wollen wir die
Möglichkeit eröffnen, neben der Jugendstrafe, die zur
Bewährung ausgesetzt ist, einen Warnschussarrest von
maximal vier Wochen Dauer verhängen zu können. Wir
meinen, das Jugendkriminalrecht wird damit flexibler.
Der Kollege van Essen – er ist heute leider nicht anwe-
send – hat das, finde ich, sehr prägnant beschrieben: Mit
dem Instrument des Warnschussarrests fügen wir sozu-
sagen der Klaviatur des Jugendrichters eine weitere
Taste hinzu.


(Christine Lambrecht [SPD]: Die nur Misstöne produzieren wird!)


Das halten wir auch vom Ergebnis der Anhörung her für
durchaus vertretbar. Die Praktiker haben uns Fälle ge-
schildert, in denen es durchaus sinnvoll und geboten ist,
d
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1718411000
Wichtig ist, dass der Warnschussar-
rest zeitnah erfolgt. – Wir hoffen und wünschen, dass die
Länder dazu den notwendigen Beitrag leisten.

Da hier immer die Statistiken bemüht werden: Ja, es
ist richtig, dass die Jugendkriminalität zurückgeht. Aber
ausweislich der bundesweiten Polizeilichen Kriminalsta-
tistik 2010 bewegt sich die Jugendkriminalität nach wie
vor auf hohem Niveau. Über alle kurz- und langfristigen
Veränderungen hinweg bleiben zwei Faktoren konstant
mit erhöhter Kriminalitätsbelastung verbunden: das Ge-
schlecht und das jugendliche Alter. Das heißt, der Anteil
junger männlicher Straftäter ist im Verhältnis zu ihrem
Anteil an der Bevölkerung dauerhaft überproportional
hoch.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden Sie auch nie ändern!)


Das Jugendstrafrecht weiterzuentwickeln und den ak-
tuellen Lebenswirklichkeiten anzupassen, bleibt daher
eine Daueraufgabe. Der Erziehungsgedanke und Präven-
tion müssen dabei natürlich an erster Stelle stehen. Der
Ausbau von Erziehungsangeboten kann in seiner Bedeu-
tung gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die Er-
folge, die damit erzielt werden, sprechen natürlich für
sich. Das stellt hier keiner in Abrede.

Wir können aber die Augen nicht davor verschließen,
dass es junge Straftäter gibt, die mit ambulanten Maß-
nahmen nicht oder jedenfalls nicht mehr zu erreichen





Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)


sind, und dass es Taten gibt, die nun einmal einer nach-
drücklichen und repressiven Reaktion bedürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür gibt es den Jugendarrest!)


Hier wollen wir den Warnschussarrest als zusätzliches
Instrument unterhalb einer zu vollstreckenden Jugend-
strafe in das Jugendgerichtsgesetz einbauen, dem Ju-
gendrichter ein weiteres Instrument an die Hand geben.
Nach den Gesprächen, die ich dazu geführt habe, kann
ich nur sagen: Die Jugendrichter werden damit sehr ver-
antwortungsvoll umgehen. Es bleibt zu hoffen und zu
wünschen, dass die Länder weiterhin dem Anspruch an
den Jugendarrest gerecht werden. Der Jugendarrest als
soziales Training muss – ich glaube, Herr Professor
Kreuzer hat das in der Anhörung erwähnt – weiter aus-
gebaut werden, um mit dem Warnschussarrest den ge-
wünschten Effekt zu erzielen.

Über die Vorbewährung will ich nicht reden; das wer-
den sicherlich meine Kollegen noch tun. Mich erfreut es
auf jeden Fall, dass Sie mitmachen. Ich stimme dem
Staatssekretär zu, der die Anhebung des Höchstmaßes
der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Heranwachsenden als
ein gutes Beispiel genannt hat. Es ist vertretbar, die
Höchststrafe in diesem Bereich anzuheben.

Ich würde mich freuen, wenn Sie unserem Gesetzent-
wurf zum Warnschussarrest zustimmen könnten. An-
sonsten gehe ich davon aus, dass wir im Rechtsaus-
schuss intensive Debatten im Zusammenhang mit der
Sicherungsverwahrung führen und über die Problemfel-
der gemeinsam diskutieren werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718411100

Das Wort hat nun Halina Wawzyniak für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718411200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wir diskutieren in der Debatte über diesen Tages-
ordnungspunkt über die Umsetzung des Abstandsgebo-
tes im Recht der Sicherungsverwahrung auf der einen
Seite und abschließend über die Erweiterung der jugend-
gerichtlichen Handlungsmöglichkeiten auf der anderen
Seite. Da fragt man sich: Was hat das eine mit dem ande-
ren zu tun, dass beides im Rahmen eines Tagesordnungs-
punkts behandelt werden muss?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist ganz einfach: Beide Gesetze sind ein Beleg für
eine repressive, populistische und an den Stammtischen
orientierte Rechtspolitik. Das kann man dann auch im
Rahmen eines Tagesordnungspunkts behandeln.

Ich will mit der Erweiterung jugendgerichtlicher
Handlungsmöglichkeiten mit dem Schwerpunkt Warn-

schussarrest beginnen. Mein Kollege Wunderlich hat
dazu bereits alles Richtige gesagt. Natürlich muss man
dem Kollegen Wunderlich nicht folgen. Aber was man
machen könnte, ist, Schlussfolgerungen aus der Anhö-
rung zu ziehen. In der Anhörung gab es – darauf wurde
schon hingewiesen – nicht ein einziges wissenschaftlich
fundiertes Argument für die Einführung eines Warn-
schussarrests. Es gab lediglich Praktiker, die gesagt ha-
ben: Aus unserer Praxis heraus wünschen wir uns, dass
es einmal einen Warnschussarrest gibt, Punkt. Den hät-
ten wir jetzt gerne mal.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einmal im Jahr!)


Das war es schon. Aber es gab kein wissenschaftliches
Argument. In der Anhörung haben sich alle Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler gegen eine Anhe-
bung der Höchststrafe und gegen die Einführung eines
Warnschussarrests ausgesprochen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Burkhard Lischka [SPD] – Burkhard Lischka [SPD]: Das waren alle! Das stimmt!)


Das Gesetz zeigt: Sie ignorieren die Ergebnisse der
Anhörung und die Aussagen von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern. Wenn Ihnen das nicht genügt, ver-
weise ich an diese Stelle auf Christian Pfeiffer – eine
Koryphäe in diesem Bereich –, der von einer Rückfall-
wahrscheinlichkeit von bis zu 70 Prozent beim Warn-
schussarrest spricht. 70 Prozent derjenigen, die Sie in
den Warnschussarrest stecken wollen, werden also wie-
der zu Straftätern. Das heißt, Sie produzieren weiter
Straftäterinnen und Straftäter, anstatt etwas gegen Straf-
taten zu tun.

Kommen wir zum Gesetz zur Umsetzung des Ab-
standsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung. Viel-
leicht muss man noch einmal sagen, worum es bei der
Sicherungsverwahrung eigentlich geht. Bei der Siche-
rungsverwahrung geht es darum, dass Straftäterinnen
und Straftäter, die für ihre Tat bereits eine Freiheitsstrafe
verbüßt und damit auch für die Tat gebüßt haben, auf-
grund einer Gefährlichkeitsprognose präventiv weiter im
Knast einsitzen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Nicht im Knast!)


– Ich sage bewusst „im Knast“, weil Sicherungsverwah-
rung letztendlich Freiheitsentzug ist. Demjenigen, der
einsitzt, ist es egal, ob das eine Therapieunterbringungs-
anstalt oder ein Knast ist.


(Beifall bei der LINKEN – Christine Lambrecht [SPD]: Kommt darauf an, wie es ausgestattet ist! – Burkhard Lischka [SPD]: Dann könnten Sie Psychiatrie auch als Knast bezeichnen!)


Deswegen wiederhole ich: Die Linke lehnt das Institut
der Sicherungsverwahrung ab.


(Beifall bei der LINKEN – Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Sind Sie sich da sicher? Gysi hat etwas anderes gesagt!)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


Deswegen haben wir die Einsetzung einer Experten-
kommission aus Praktikerinnen und Praktikern, aus
Gesellschaftswissenschaftlern, aus Straf-, Polizei- und
Verfassungsrechtlern, aus Kriminologen, Psychiatern,
Psychologen und natürlich auch Vertretern von Opfer-
verbänden vorgeschlagen, die sachlich und im Rahmen
dieses Expertenstatus darüber diskutieren sollen, ob wir
das Institut der Sicherungsverwahrung überhaupt brau-
chen. Dass eine Versachlichung der Debatte zum Thema
Sicherungsverwahrung notwendig ist, zeigen doch ak-
tuelle Vorgänge. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der
gesamte Landtag von Sachsen-Anhalt – das ist sehr zu
begrüßen – letztes Wochenende nach Insel gefahren ist.
Insel ist ein Ort in Sachsen-Anhalt, wo entlassene Siche-
rungsverwahrte versuchen, ein neues Leben anzufangen.
Es gibt massive Ängste in der Bevölkerung und Versu-
che, die Entlassenen wieder zu vertreiben. Man muss die
Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, man darf sie aber
nicht übernehmen. Man muss sich vielmehr mit ihnen
auseinandersetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will im Rahmen der Debatte über die Sicherungs-
verwahrung auf zwei Dinge sehr deutlich hinweisen.
Erstens. Sie alle wissen – Herr Heveling hat es in der
letzten Debatte gesagt –, dass es in einer offenen Gesell-
schaft keine absolute Sicherheit gibt. Wir wissen: Jede
Straftat ist eine zu viel, und jedes Opfer ist eines zu viel.
Aber wir dürfen nicht suggerieren, es gäbe ein Mittel,
das verhindert, dass Straftaten überhaupt begangen wer-
den. Das ist eine Grundtatsache, und das müssen wir im-
mer wieder betonen. Zweitens. Die Ursachen für die
Entstehung von Kriminalität sind so vielfältig und um-
fassend, dass eine sichere Prognose – auf das Wort „si-
cher“ kommt es in diesem Zusammenhang an – darüber,
ob weitere Straftaten begangen werden, einfach nicht
möglich ist. Deswegen bleibt es dabei, dass die Siche-
rungsverwahrung eine präventive Sicherungshaft ist, die
nichts mehr mit der Schuld des Täters zu tun hat.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird – das will
ich zugestehen – ein Spagat zwischen der Versachli-
chung der Debatte und der Beibehaltung des Populismus
versucht. Es ist richtig und zu begrüßen, dass der An-
spruch besteht, dass die Unterbringung einer individuel-
len und intensiven Betreuung bedarf. Es ist richtig und
unterstützenswert, dass ein Rechtsanspruch auf Therapie
zumindest angedeutet wird. Und es ist richtig, dass eine
Entlassung durch die Gerichte dann ansteht, wenn keine
angemessene Betreuung stattfindet. Das ist zu begrüßen.

Aus unserer Sicht aber völlig absurd ist, dass die Si-
cherungsverwahrung auf das Jugendstrafrecht ausge-
dehnt wird. Man muss sich einmal fragen, ob es überhaupt
noch ein Verständnis dafür gibt, was der Erziehungsge-
danke im Jugendstrafrecht bedeutet und dass dem Ent-
wicklungsstand entsprechende Reaktionen erfolgen sol-
len. Zudem ist es völlig absurd, den ganzen Katalog der
Anlassstraftaten beizubehalten. Die Kollegin Lambrecht
hat darauf hingewiesen, was in diesem Zusammenhang
alles möglich ist. Es ist ausdrücklich zu unterstützen, was
sie gesagt hat. Ich will aber eine kleine Fußnote nicht un-
erwähnt lassen: dass nämlich auch die SPD dem Gesetz-

entwurf mit dem riesigen Katalog von Anlassstraftaten
damals zugestimmt hat.


(Christine Lambrecht [SPD]: Sie kennen aber auch unsere Änderungsanträge dazu! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Änderungsanträgen!)


Kurz und gut: Das Gesetz bleibt trotz weniger guter
Ansätze schlecht. Es kann auch nur schlecht sein, weil es
sich um die Umsetzung eines noch schlechteren Geset-
zes kümmert. Was wir statt solcher Gesetze brauchen, ist
eine Offensive für eine rationale Kriminalpolitik, die
sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht an
Stammtischparolen orientiert. Dazu leistet der Gesetz-
entwurf alles in allem keinen Beitrag.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718411300

Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718411400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Stadler, Ihren Ausfüh-
rungen zu den Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes
habe ich bei jedem Wort Ihr Unbehagen entnommen, das
Sie bei der Formulierung dieses Teils Ihrer Rede hatten.
Ich kann das ehrlich gesagt auch nachvollziehen.

Einige Zahlen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
wir in der Sachverständigenanhörung erfahren haben:
Wir haben in Deutschland seit 1995 den niedrigsten
Stand der Jugendkriminalität – und zwar nicht deswe-
gen, weil die Anzahl der Jugendlichen abnimmt, sondern
gemessen pro 100 000 Jugendliche. Dieser Rückgang
beträgt 20 Prozent. Auf dem besonderen Feld der Ju-
gendgewalt beträgt der Rückgang zwischen 2007 und
2011 sogar 22 Prozent. Bei von Jugendlichen begange-
nen Tötungsdelikten haben wir von 1993 bis 2011 einen
Rückgang von 31 Prozent.

Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen, die besonders
valide ist, weil sie praktisch kein Dunkelfeld hat, weil
fast alle Fälle von der Versicherung erfasst werden: Bei
Körperverletzungen unter Jugendlichen auf dem Schul-
hof haben wir zwischen 1997 und 2012 einen Rückgang
der Kriminalität um über 50 Prozent.

Was ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich
der Grund für diesen, über einen langen Zeitraum nicht
nur marginalen, sondern ganz erheblichen Rückgang der
Jugendkriminalität? Man könnte denken, ein scharfes
und hartes Jugendstrafrecht hätte dazu beigetragen. Das
Gegenteil ist aber richtig. Wir haben in den letzten zehn
Jahren, zwischen 2000 und 2010, 25 Prozent weniger
verhängte Jugendhaftstrafen pro 100 000 Jugendliche.
Wir haben zwischen 2003 und 2010 bei Freiheitsstrafen
gegen Jugendliche von über fünf Jahren, also bei höchs-
ter Jugendkriminalität, einen Rückgang von rund 50 Pro-
zent von 102 auf 53 Fälle. Der Einsatz des Jugendarres-
tes ist signifikant rückläufig. Das alles sind Erfahrungen
aus unserem Fachgespräch; ich fand das phänomenal
gut, was wir da gemacht haben.





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)


Aus einem europäischen Forschungsprojekt über die
Entstehung von Jugendgewalt, das im Übrigen vom da-
maligen Bundesinnenminister Schäuble bezahlt wurde,
wissen wir, dass ein Jugendlicher mit fünf und mehr kri-
minellen Kontakten ein 20- bis 30-faches Risiko hat,
selbst Gewalttäter zu werden.

Es gibt also bei Jugendlichen eine kriminologische
„Ansteckungsgefahr“ in Cliquen, in Gangs, aber eben
auch im Straf- und im Arrestvollzug – trotz bester So-
zialprogramme. Die Rückfallquoten sind umso höher, je
intensiver die Inhaftierung ist. Schon beim Arrest ist
diese Quote hoch; beim Jugendstrafvollzug ist sie noch
höher. Deshalb, meine Damen und Herren: Präventions-
politik, Jugendhilfe und ein mildes Jugendstrafrecht sen-
ken die Kriminalität. Diese wissenschaftliche Erfahrung
konnten wir aus der Anhörung gewinnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wie sollen wir vor diesem Hintergrund den Gesetz-
entwurf einschätzen, der uns jetzt vorliegt? Was sagen
eigentlich die in Ihren Reihen noch vorhandenen ver-
nünftigen Jugend- und Rechtspolitiker dazu, dass Sie
völlig populistisch gegen wissenschaftliche Vernunft das
Gegenteil dessen vorschlagen, was richtig wäre?


(Zuruf des Abg. Ansgar Heveling [CDU/ CSU])


Der Vorsitzende des Rechtsausschuss, Siegfried
Kauder, CDU, hat uns während der Sachverständigenan-
hörung Folgendes gesagt – im Protokoll nachlesbar –:

Seien Sie froh über dieses Gesetz. Es hätte noch
viel schlimmer kommen können mit einer Herauf-
setzung der Mindeststrafen und mit Erwachsenen-
strafrecht für alle 18-Jährigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lassen uns aber
nicht erschrecken. Wir bleiben bei unserem Nein zu Ih-
rem Gesetzentwurf zur Verschärfung des Jugendstraf-
rechts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nun noch einige Worte zu dem Gesetzentwurf zur Si-
cherungsverwahrung. Der heute vorliegende Entwurf
wahrt den Dreiklang der Reform – mit der Kritik, die Sie
völlig zu Recht angebracht haben und die wir auch tei-
len –: Beschränkung auf schwerste Kriminalität im Ge-
walt- und Sexualbereich, Ausbau des Vorbehalts und
Wegfall der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Wir
haben im Grundsatz der Reform von 2010 zugestimmt.
Wir sagen auch heute Ja zu diesem Reformansatz. Sie,
Kollegen von der SPD, haben der damaligen Reform
ebenfalls zugestimmt und somit auch der ersatzlosen
Streichung der nachträglichen Sicherungsverwahrung,


(Christine Lambrecht [SPD]: Ja, sicher!)


ohne den Bedarf nach alternativen Formen nachträgli-
chen Wegsperrens angemeldet zu haben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Wir haben das damals erst entwickelt!)


Zu Ihren heutigen Ausführungen sage ich Ihnen: Sie
haben von Schutzlücken gesprochen, Frau Kollegin
Lambrecht. Das ist in hohem Maße gefährlich, und Sie
wissen das auch.


(Christine Lambrecht [SPD]: Alle Länder sehen das so wie wir! – Burkhard Lischka [SPD]: Das sieht sogar Baden-Württemberg so!)


Wer von Schutzlücken spricht, der insinuiert, dass man
alle Lücken schließen könnte.


(Christine Lambrecht [SPD]: Die sichtbaren wollen wir schließen!)


In Wirklichkeit behaupten Sie damit, Sie wollten abso-
lute Sicherheit.


(Burkhard Lischka [SPD]: Nein!)


Wenn Sie unsere Auffassung teilen – das haben Sie jah-
relang gemacht –, dass es eine absolute Sicherheit nicht
gibt, dann müssen Sie Schutzlücken in Kauf nehmen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Aber doch nicht, wenn sie auf der Hand liegen!)


Die Fragestellung ist nicht, ob man Schutzlücken zulässt
oder nicht, sondern ob es mit rechtsstaatlichen Mitteln
möglich ist, Schutzlücken zu schließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Lambrecht, Sie haben beim Thema Arrest die
Fachwelt bemüht. Sie haben gesagt: Alle Fachleute sind
dagegen. – Auch das ist ein gefährliches Argument. Die
Fachwelt, die Psychiatrieverbände, alle erfahrenen Psy-
chologen und Psychiater warnen uns eindringlich vor der
Einführung des Begriffs der psychischen Störung ins
Strafrecht.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist sehr gewagt!)


Das wissen Sie ganz genau.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718411500

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718411600

Ja. – Wir werden über diese Frage sehr kontrovers

und sehr ernsthaft in der Anhörung und auch weiterhin
zu diskutieren haben. Auch wir sichern Ihnen von der
Koalition eine konstruktive Debatte über den Gesetzent-
wurf zu, weil wir die Reform des Vollzugs begrüßen.
Wir werden uns mit diesem ganz schwierigen Punkt, der
durch den Bundesrat nachträglich in den Gesetzentwurf
eingebracht werden soll, kritisch auseinandersetzen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718411700

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD-

Fraktion. – Entschuldigung, wir sollten die Reihenfolge





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


einhalten. Zunächst spricht Ansgar Heveling für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1718411800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

glaube, Herr Kollege Lischka, in einem Punkt werden
wir durchaus etwas Ähnliches zu sagen haben, und zwar
im Kontext der Sicherungsverwahrung.

Die heutige Debatte ist zugleich Auftakt und Schluss-
punkt zweier kriminalpolitischer Gesetzgebungsvorha-
ben. Der Gesetzentwurf zum sogenannten Warnschuss-
arrest wird heute in zweiter und dritter Lesung beraten
und beschlossen. Für die Neuregelung des Rechts der Si-
cherungsverwahrung nehmen wir heute die parlamenta-
rischen Beratungen auf.

Ohne Frage ist die Regelung des Rechts der Siche-
rungsverwahrung das rechtspolitisch bedeutsamere Vor-
haben, weshalb ich mir erlaube, darauf zuerst einzuge-
hen.

Mit seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 und dem
damit verbundenen Verdikt, alle Bestimmungen zur Si-
cherungsverwahrung seien verfassungswidrig, hat das
Bundesverfassungsgericht seinerzeit zunächst einmal für
einen Paukenschlag gesorgt. Mit der Verpflichtung, bis
Mai 2013 für eine Neuregelung zu sorgen, hat es den
Gesetzgeber unter möglicherweise heilsamen Zugzwang
gesetzt. Gleichzeitig hat Karlsruhe durch die weitrei-
chende Entscheidung aber auch die Möglichkeit eröff-
net, die Materie tatsächlich grundlegend neu zu regeln.
Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich das
Recht der Sicherungsverwahrung durch die zahlreichen
Änderungen in den Jahren 1998, 2002, 2003, 2004, 2007
und 2008 zu einem nur noch schwer zu durchschauenden
Konglomerat von Regelungen entwickelt hatte.

Ich will nicht verhehlen, dass es eine Reihe von As-
pekten gibt, die man sowohl in den Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch
in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kri-
tisch betrachten kann. So findet die verfassungsrechtlich
gebotene Verpflichtung des Staates zum Schutz seiner
Bürgerinnen und Bürger in der Karlsruher Entscheidung
mit keinem Wort Erwähnung. Der Europäische Gerichts-
hof für Menschenrechte führt demgegenüber diesen auch
im Regime der Menschenrechtscharta zu berücksichti-
genden Aspekt zwar an, wägt ihn aber nicht erkennbar
ab.

Gleichzeitig aber muss man anerkennen, dass es dem
Bundesverfassungsgericht gelungen ist, einerseits eine
dogmatisch stimmige Integration der Vorgaben des
EGMR in das deutsche Rechtssystem vorzunehmen,
ohne andererseits grundlegende Prinzipien der deutschen
Strafrechtssystematik im Hinblick auf die Sicherungs-
verwahrung gänzlich aufzugeben. Das beginnt damit,
dass das Bundesverfassungsgericht – wie im Übrigen der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch – das
Instrument der Sicherungsverwahrung nicht grundsätz-
lich infrage stellt. Des Weiteren – und hier hat sich
Karlsruhe eindeutig anders positioniert als der Europäi-

sche Gerichtshof für Menschenrechte – sieht das Bun-
desverfassungsgericht die Sicherungsverwahrung nach
wie vor nicht als Strafe an. Es hält damit an der Zwei-
spurigkeit unseres deutschen Strafrechtssystems fest.

Summa summarum haben EGMR und Bundesverfas-
sungsgericht aber die Spielräume des Gesetzgebers sehr
eingegrenzt. Zu Beginn der Beratung des Gesetzentwurfs
der Bundesregierung lässt sich allerdings bereits festhal-
ten, dass im vorliegenden Entwurf viele dieser Spiel-
räume tatsächlich genutzt und alle wesentlichen durch
das Bundesverfassungsgericht aufgegebenen Handlungs-
aufträge abgedeckt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da ist vonseiten der Bundesregierung, vonseiten des
Bundesjustizministeriums zunächst einmal in einem
politisch wie justiziell nicht einfach zu beackernden Feld
gute, strukturierte und stimmige Arbeit geleistet worden.

Auch wenn der Zeitplan im Hinblick auf die Rege-
lungsfrist bis Mai 2013 straff ist, lässt die jetzige Bera-
tung auch den Ländern noch ausreichend Zeit, ihren Teil
der Umsetzung eines freiheitsorientierten und therapie-
gerechten Gesamtkonzepts zu regeln.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund und den
Ländern die Regelung gemeinschaftlich aufgegeben.
Das mag verfassungsrechtliche Bedenken herausfordern;
diese sind aber praktisch zunächst einmal unbeachtlich.
Damit ist zwingend ein kooperatives Vorgehen von
Bund und Ländern erforderlich.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in den
nächsten Wochen erwartet uns sicher viel Arbeit mit und
an dem Gesetzentwurf. Die Sachverständigenanhörung
ist schon für die nächste Woche terminiert. Trotz des am-
bitionierten Zeitplans möchte auch ich bereits an dieser
Stelle ausdrücklich anbieten: Wir sind zur Diskussion
und zum Austausch über die Fraktionsgrenzen hinaus
bereit,


(Manuel Höferlin [FDP]: Wie immer! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das denke ich mir! Ja!)


und wir sollten das, was beispielgebend bereits beim
Therapie- und Unterbringungsgesetz praktiziert wurde,
auch hier fortführen. Wir haben seinerzeit ja auch schon
sehr intensiv über die Frage der Anlasstaten beraten.
Frau Kollegin Lambrecht, Sie haben das eben angespro-
chen. Ihre Sorge im Hinblick auf das Bundesverfas-
sungsgericht teilen wir an dieser Stelle allerdings nicht,
weil es sich in seinen bisherigen Entscheidungen nicht
weiter zu den Anlasstaten geäußert hat.


(Burkhard Lischka [SPD]: Die reden immer über Gewaltund Sexualdelikte!)


Dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg zu Ge-
sprächen bereit sind, hat sicherlich auch damit zu tun,
dass die Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwah-
rung für die gesamte Gesellschaft so wichtig und bedeut-
sam ist. Auch wenn der Gesetzentwurf bereits viele As-
pekte abdeckt, gibt es noch einige Punkte, über die wir





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


uns sehr ernsthaft und intensiv austauschen, die wir be-
raten und klären müssen.

Oberstes Ziel muss es natürlich sein, eine verfas-
sungsfeste Neuregelung zu beschließen; denn – ohne
Frage – auch das zu beschließende Gesetz wird sicher-
lich den Weg zum Bundesverfassungsgericht nach
Karlsruhe finden. Unser Ziel ist daher, ein sauberes und
ordentliches Fundament für die Sicherungsverwahrung
zu finden. Dies ist aufgrund des gebotenen Abstands
zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung nicht ein-
fach. Die Kriterien der europäischen Menschenrechts-
charta sind dabei der taugliche Anknüpfungspunkt. Die
Berührung juristischer und medizinischer Begrifflichkei-
ten, wie es bei der „psychischen Störung“ zum Ausdruck
kommt, ist dabei ganz besonders in den Blick zu neh-
men.

Schließlich gibt es aber auch noch einen aus unserer
Sicht gänzlich offenen Punkt: die nachträgliche Siche-
rungsanordnung. Hierzu werden in dem von der Bundes-
regierung vorgelegten Gesetzentwurf überhaupt keine
Aussagen getroffen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die nachträgliche
Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich infrage ge-
stellt, skizziert aber, dass es hierfür strengerer Anforde-
rungen als bisher bedarf. Das macht eine gesetzliche Re-
gelung zwar nicht einfacher, schließt sie aber eben auch
nicht aus. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Rege-
lung der nachträglichen Sicherungsanordnung im weite-
ren Verfahren zu prüfen.

Zahlreiche Bundesländer sprechen sich ebenfalls da-
für aus,


(Burkhard Lischka [SPD]: Ja, fast alle!)


auch in Zukunft die Möglichkeit der nachträglichen Si-
cherungsverwahrung vorzusehen. Dementsprechend hat
sich der Bundesrat bereits für eine nachträgliche Thera-
pieunterbringung ausgesprochen. Auch wir als CDU/
CSU sind nach wie vor der Auffassung – das wiederhole
ich gern, Frau Kollegin Lambrecht –, dass wir auf dieses
Instrument nicht verzichten sollten. Wir müssen uns da-
her mit dieser Frage in der weiteren Beratung sehr ernst-
haft und intensiv auseinandersetzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverfas-
sungsgericht hat in seiner Entscheidung von Mai 2011
ganz besonders die Rechte der in der Sicherungsverwah-
rung befindlichen Personen in den Blick genommen und
vor diesem Hintergrund ein freiheitsorientiertes und
therapiegerechtes Gesamtkonzept eingefordert. Dieser
Therapieoptimismus wird zwar auch in der Fachwelt
durchaus kritisch gesehen, aber er wird aufgrund der
Verfassungsgerichtsentscheidung ohne Frage die Neure-
gelung prägen.

Aber bei alledem dürfen wir als Gesetzgeber einen
zweiten Auftrag nicht vernachlässigen: Wir stehen in der
Pflicht, für Regelungen zu sorgen, die helfen, die Men-
schen, die Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern zu
schützen. Diesen Schutzanspruch haben wir im Blick,
und wir werden ihn mit in die weiteren Beratungen tra-
gen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für das zweite Vor-
haben, den sogenannten Warnschussarrest, bleibt mir
nun nicht mehr viel Zeit, eigentlich überhaupt keine. Wir
haben darüber aber auch schon sehr ausführlich und kon-
trovers debattiert. Gerade aus den Reihen der Praktiker
wurde die Einführung des Warnschussarrests durchaus
positiv bewertet; das hat aus unserer Sicht die Sachver-
ständigenanhörung ergeben. Ohne Frage: Das Instru-
ment ist weder Allheilmittel noch für alle jugendlichen
Straftäter geeignet. Das hat aber auch von unserer Seite
niemand behauptet. Wir sehen den Warnschussarrest als
Ergänzung zu den bereits bestehenden vielfältigen und
differenzierten Sanktionsmöglichkeiten des Jugendstraf-
rechts, mit denen verantwortungsvolle Jugendrichter
schon jetzt im Einzelfall die individuell richtigen Maß-
nahmen anordnen können.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718411900

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kom-

men.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1718412000

Bislang war es den Jugendgerichten dabei versperrt,

neben der Bewährungsstrafe weitere Weisungen zu ertei-
len. Das wird in Zukunft möglich sein. Dafür öffnen wir,
wenn wir das Gesetz gleich beschließen, die Tür.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718412100

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1718412200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, zunächst
einmal das Positive vorweg: Sie von Schwarz-Gelb ha-
ben zur Abwechslung zwei Gesetzentwürfe zur Rechts-
politik auf einmal auf den Weg gebracht. Das ist nicht
ganz selbstverständlich. Ansonsten herrscht ja gerade in
der Rechts- und Innenpolitik zwischen Ihnen viel Streit.


(Christine Lambrecht [SPD]: Auch in der Frage!)


Sie glänzen durch Nichtstun, siehe Vorratsdatenspeiche-
rung. Den Hinweis will ich mir jetzt doch nicht verknei-
fen: Das kostet den deutschen Steuerzahler demnächst
eine Menge Geld,


(Manuel Höferlin [FDP]: Das wissen Sie schon? Das weiß noch kein Mensch, was das kostet!)


voraussichtlich 315 000 Euro pro Tag, 120 Millionen
Euro im Jahr.


(Manuel Höferlin [FDP]: Sie wissen das schon?)


Sie verpulvern durch Nichtstun und Streit das Geld der
Steuerzahler. Das hat in der Größenordnung noch keine





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


Bundesregierung hinbekommen; das will ich Ihnen ein-
mal deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD – Manuel Höferlin [FDP]: Das kostet nichts!)


In der Politik – den Vorteil haben Sie – gibt es für ein
solches Versagen keinen Warnschuss; aber auf die rich-
tige Bahn müssen Sie eigentlich auch einmal gebracht
werden.


(Manuel Höferlin [FDP]: Das war ein Schuss in den Ofen!)


Das gilt übrigens auch für die beiden Gesetzentwürfe,
die wir heute hier debattieren. Die sind auch noch nicht
auf der richtigen Bahn. Frau Voßhoff hat das angedeutet;
Herr Heveling hat das im Bereich der Sicherungsver-
wahrung angedeutet.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Sie müssen sehen, die Kurve zu kriegen!)


Herr Krings von der Unionsfraktion hat vor ein paar Wo-
chen sehr deutliche Worte gefunden. Er hat am 7. März
2012 eine Presseerklärung herausgegeben, aus der ich
zitieren darf:

Das Bundesjustizministerium hat es leider ver-
säumt, den geringen Spielraum

– des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
und des Bundesverfassungsgerichtes –

komplett auszuschöpfen. Daher bleibt eine Schutz-
lücke bestehen. Derjenige, dessen besondere Ge-
fährlichkeit sich erst während der Haft zeigt, kann
nach dem Entwurf nicht untergebracht werden.

Jetzt kommt es:

Die Union wird die Länder bei der Durchsetzung
einer nachträglichen Unterbringungsmöglichkeit
für hochgradig gefährliche und psychisch gestörte
Straftäter unterstützen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
kann nur sagen: Nur zu, machen Sie das! In diesem Ge-
setzentwurf befindet sich bisher überhaupt nichts, was
eine nachträgliche Therapieunterbringung ermöglichen
würde. Im Klartext bedeutet das: Wird dieser Gesetzent-
wurf so verabschiedet, müssten in Zukunft höchstgefähr-
liche Gewalt- und Sexualstraftäter mit extremem Rück-
fallrisiko in die Freiheit entlassen werden, wenn sich die
Gefährlichkeit erst nach der Verurteilung zeigt. Das ist
unverantwortlich und inakzeptabel. Das werden wir als
SPD auch nicht mitmachen; denn für uns hat der Schutz
unserer Bevölkerung oberste Priorität.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen sage ich an die Adresse der Union: Wenn Sie
es wirklich ernst damit meinen, diese eklatante Schutz-
lücke schließen zu wollen, dann lassen Sie uns den Ge-
setzentwurf der Länder verabschieden. Der liegt doch
vor. An den Stimmen der SPD wird es jedenfalls nicht
scheitern; denn die Sicherheit unserer Bürgerinnen und
Bürger, so finden wir, eignet sich nicht für parteitak-

tische Spielchen. Lassen Sie Ihren Worten endlich auch
einmal Taten folgen!

Die Vorschläge, die Sie uns mit dem zweiten Gesetz-
entwurf präsentieren – Warnschussarrest und Herauf-
setzung der Höchststrafe für Heranwachsende –, sind
Vorschläge aus der strafrechtlichen Mottenkiste. Richter-
bund, Strafrichter, Strafverteidiger, Jugendrichter, Jugend-
anstaltsleiter, Bewährungshelfer, Polizeigewerkschaft –
sie alle schütteln bei diesen Vorschlägen nur noch mit
dem Kopf. Es hört sich ganz toll an, einen Jugendlichen
mit einem Warnschuss auf die richtige Bahn bringen zu
wollen. Aber ein Jugendlicher, der zu einer Freiheits-
strafe auf Bewährung verurteilt worden ist – und um die
geht es doch hier –, hat Kriminalitätserfahrung. Er hatte
auch schon mehrere Warnschüsse; er hat sie nur über-
hört. Es ist geradezu naiv, zu glauben: Dem gebe ich ein
paar Tage oder zwei, drei Wochen Stubenarrest, und al-
les wird gut. Den stecke ich mit einem Haufen anderer
krimineller Jugendlicher zusammen, und sie denken
dann gemeinsam darüber nach, was in ihrem Leben
schiefgelaufen ist, und kommen als geläuterte Menschen
aus dem Knast und begehen fortan keine Straftaten
mehr. – Das ist doch die reinste Voodookriminalpolitik,
die Sie hier betreiben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle wissen, dass bei diesen Jugendlichen meis-
tens nur eines hilft: eine schnelle Verfolgung und eine
schnelle Verurteilung. Zudem brauchen sie häufig eine
Schadenswiedergutmachung – gemeinnützige Arbeit, In-
terventionsmaßnahmen –, zur Not auch einen Bewäh-
rungshelfer, der ihnen auf die Füße tritt. Das senkt die
Rückfallquote. Das zeigen alle Erfahrungen und Statistiken.
Jugendliche in einen Arrest zu stecken, der eine Kon-
taktbörse für Kriminelle ist, von denen fast 70 Prozent
wieder rückfällig werden, das hat mit einer erfolgreichen
Bekämpfung der Jugendkriminalität überhaupt nichts zu
tun

Genauso unsinnig ist die von Ihnen geplante Herauf-
setzung der Höchststrafe für Heranwachsende von 10 auf
15 Jahre. Wäre die Bundesjustizministerin hier, würde
sie sich schütteln, dass sie diesen Unsinn mitmachen
muss. Ganze sechs bis sieben Jugendliche und Heran-
wachsende erhalten in Deutschland jedes Jahr die
Höchststrafe von 10 Jahren. Für diese Handvoll Straftä-
ter machen Sie ein Gesetz, und das verkaufen Sie als er-
folgreiche Rechtspolitik; das ist doch lächerlich. Wen
Sie nach 10 Jahren im Knast nicht zur Besinnung ge-
bracht haben, den werden Sie auch nach 15 Jahren nicht
auf die vernünftige Bahn bekommen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie werden diesen Gesetzentwurf gleich verabschie-
den, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP. Aber auch die FDP weiß: Mit einer vernünftigen
und guten Rechtspolitik hat das überhaupt nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD – Manuel Höferlin [FDP]: Sie finden einfach keine guten Argumente!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718412300

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1718412400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!

Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute zwei Ge-
setzentwürfe, die eines gemeinsam haben: In beiden Fäl-
len geht es um die Frage der Angemessenheit und der
Ausgestaltung von staatlichen Sanktionen für strafbares
Verhalten.

Zur Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes. Gerade
in diesem Bereich ist es aus meiner Sicht ganz wichtig,
dass der Staat deutlich und bestimmt reagiert, wenn
junge Leute gegen die Rechtsordnung und gegen die
Wertegemeinschaft verstoßen. Mit der Implementierung
des Warnschussarrests in das Jugendgerichtsgesetz wird
eine langjährige Forderung, insbesondere der CSU, um-
gesetzt.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Das macht die Sache nicht besser!)


Ich kann nicht verstehen, meine sehr verehrten Kollegin-
nen und Kollegen von der Opposition, dass Sie das als
„Instrumente aus der strafrechtlichen Mottenkiste“ titu-
lieren.

Worum geht es denn ganz konkret? Es geht darum,
dass jugendliche Straftäter, die eine Freiheitsstrafe erhal-
ten haben, welche zur Bewährung ausgesetzt wird, das in
der Praxis leider Gottes häufig als „Freispruch zweiter
Klasse“ empfinden und vielleicht sogar sich dessen rüh-
mend den Gerichtssaal verlassen. Ich nehme es sehr
wohl ernst, wenn uns Praktiker sagen, sie sähen das kon-
krete Bedürfnis, derartigen Straftätern neben der zur Be-
währung ausgesetzten Strafe einen temporären Warn-
schussarrest aufzubrummen, damit verhindert wird, dass
sie rückfällig werden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht die CDU, sonst niemand!)


Ich bin der festen Überzeugung, dass das Instrument des
Warnschussarrests in bestimmten Fällen geeignet ist, den
Beginn einer strafrechtlichen Karriere von vornherein zu
verhindern.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man sie mit Kriminellen zusammensperrt! Sehr sinnvoll!)


Deswegen halte ich es für richtig, dass dieser Warn-
schussarrest eingeführt und das bisher geltende Koppe-
lungsverbot, normiert in § 8 Abs. 2 Satz 1 JGG, aufgeho-
ben wird.

Mit der Implementierung des Warnschussarrests in das
Jugendgerichtsgesetz verknüpfe ich auch die Hoffnung,
dass die Länder dafür sorgen, dass die Verfahren gegen
jugendliche und heranwachsende Straftäter schneller
durchgeführt werden als bisher. Auch hier gilt der
Grundsatz: Schnelles Recht ist gutes Recht. Gerade für

junge Menschen, die in manchen Bereichen vielleicht
noch nicht über die notwendige geistige Reife verfügen,
ist es wichtig, ihnen sehr schnell und unmittelbar vor
Augen zu führen, welche Folgen es hat, wenn sie sich
strafrechtlich signifikant verhalten und gegen unser
Strafrecht verstoßen. Des Weiteren habe ich die Hoff-
nung, dass die Jugendrichter sehr maßvoll, in Einzelfäl-
len aber durchaus dezidiert von der Möglichkeit des
Warnschussarrests Gebrauch machen. Dieser Arrest ist
eine flexible und zeitgemäße Ausweitung des Instrumen-
tenkastens im Jugendgerichtsgesetz.

Gleiches gilt für die Erhöhung des Strafrahmens von
10 auf 15 Jahre, zumindest in einigen Ausnahmefällen.
Solche Fälle gibt es leider auch bei jugendlichen oder
heranwachsenden Straftätern. Manche von ihnen lassen
sich derart gravierende, hochkriminelle Straftaten zu-
schulden kommen, dass die Möglichkeit der Verhängung
einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren erforderlich wird, um
ein gerechtes Unwerturteil bezüglich dieser Strafe zu fäl-
len.

Ich möchte auch einige durchaus positive Beispiele
aus der Praxis erwähnen, zum Beispiel das Neuköllner
Modell hier in Berlin oder das Bamberger Modell in
Bayern. Bei diesen Modellen werden den jugendlichen
Straftätern die Folgen ihres strafbaren Verhaltens sehr
schnell und konsequent vor Augen geführt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz ohne Warnschuss!)


Ich komme zum zweiten Gesetzentwurf, der heute in
erster Lesung beraten wird, nämlich zur Umsetzung des
Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung.
Wir setzen konsequent und meines Erachtens sehr
schnell, Frau Kollegin Lambrecht – wir hätten sogar
noch ein Jahr mehr vom Bundesverfassungsgericht ein-
geräumt bekommen –, das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 4. Mai letzten Jahres um.

Ich persönlich bin der Meinung, dass die Forderung
und der Wunsch des Bundesrates, das Instrument der
nachträglichen Therapieunterbringung noch in das Ge-
setz aufzunehmen, ernsthaft und ausführlich geprüft
werden sollte. Mit der vorbehaltenen Sicherungsverwah-
rung wird man sicherlich nicht allen Fällen gerecht. Es
gibt durchaus Fälle, in denen es erforderlich ist, daneben
auch die nachträgliche Therapieunterbringung verhän-
gen zu können. Im Freistaat Bayern ist die nachträgliche
Sicherungsverwahrung in den Jahren 2005 bis 2010 in
genau vier Fällen verhängt worden. Man sieht: Von die-
ser Möglichkeit wird sehr maßvoll und sehr dezidiert
Gebrauch gemacht. Wenn man sich das Ganze an einem
konkreten Fall verdeutlicht, wird jeder sehr schnell Ver-
ständnis dafür haben, dass es dieses zusätzlichen Instru-
ments im Strafgesetzbuch auch weiterhin bedarf.

Ich möchte Ihnen einen Fall nennen: Ein männlicher
Straftäter hat verschiedene weibliche Familienangehö-
rige in vielen Fällen – insgesamt über 1 000; das ist
wirklich unvorstellbar – sexuell belangt; er hat sich des
sexuellen Übergriffs strafbar gemacht, teilweise auch der
Vergewaltigung. Er ist zu Recht zu 15 Jahren Freiheits-
strafe verurteilt worden. Im Laufe des Strafvollzugs und





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


der dabei unternommenen Therapieversuche ist dann er-
kannt worden, dass er eine Schizophrenie aufweist, dass
also durchaus die Gefahr besteht, dass er nach Beendi-
gung seines Strafvollzugs neben Familienangehörigen
auch Dritte belangen wird. In dem Fall ist – meines Er-
achtens richtigerweise – die nachträgliche Sicherungs-
verwahrung angeordnet worden.

Es gibt immer wieder einmal Fälle, in denen im Rah-
men des Strafvollzugs und entsprechender Therapieun-
terbringungen Fälle von Schizophrenie, aber auch multi-
pler sexueller Übergriffe auftreten, weshalb aus meiner
Sicht die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunter-
bringung aufrechterhalten werden muss und ins Gesetz
aufgenommen werden sollte. Wir haben am 27. Juni eine
Sachverständigenanhörung. Ich hoffe, dass dieser Punkt
im Rahmen der Sachverständigenanhörung vonseiten
der Experten intensiv beleuchtet wird.

Ich möchte einen weiteren wichtigen Punkt anspre-
chen, den der Bundesrat ebenfalls in seine Stellung-
nahme aufgenommen hat. Hier geht es um die Neufas-
sung des § 67 a Abs. 2 Satz 2 StGB. Wenn der Satz so
bliebe, wie er jetzt im Entwurf steht, bestünde die kon-
krete Gefahr, dass es zu einer Erhöhung der nicht unerheb-
lichen Zahl an Überweisungen von höchstgefährlichen,
nicht therapiefähigen und teilweise nicht therapiewilli-
gen Straftätern in den psychiatrischen Maßregelvollzug
kommt. Das bedeutet ganz konkret, dass zum Beispiel in
Bezirkskrankenhäusern einerseits Menschen, die nicht
oder nur teilweise schuldfähig sind, therapiert werden,
andererseits ein paar Türen weiter voll schuldfähige
Straftäter, die überhaupt nicht therapiewillig und auch
gar nicht therapiefähig sind. Dies ist aus meiner Sicht
schon aus Sicherheitserwägungen nicht hinnehmbar. Ich
sage aber ganz offen: Ich glaube, dass mit dieser Rege-
lung der Intention des Urteils des Bundesverfassungsge-
richts nicht entsprochen wird. Es kann nicht sein, dass
Personen, die gar keine psychische Erkrankung aufwei-
sen, in psychiatrisch-forensischen Kliniken unterge-
bracht werden. Ich glaube, dass dringender Änderungs-
bedarf gegeben ist, was § 67 a Abs. 2 Satz 2 im Entwurf
anbelangt.

Insoweit steht uns insbesondere im Rahmen der jetzt
anstehenden Sachverständigenanhörung durchaus noch
einiges an Arbeit bevor. Zum einen hoffe ich, dass unser
Gesetzentwurf zur Aufnahme des Warnschussarrests und
zur Erhöhung der Höchststrafe für Jugendliche von
10 auf 15 Jahre in diesem Haus eine möglichst große
Mehrheit findet. Zum anderen freue ich mich auf inten-
sive und konstruktive Verhandlungen und Gespräche zu
unserem zweiten Gesetzentwurf, was die Novellierung
der Sicherungsverwahrung anbelangt.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718412500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9874 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es

dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgericht-
lichen Handlungsmöglichkeiten. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/9990, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9389 in der
Ausschussfassung anzunehmen.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
über Art. 1 Nr. 9 einerseits und über den Gesetzentwurf
im Übrigen andererseits getrennt abzustimmen.

Ich rufe also zunächst Art. 1 Nr. 9 in der Ausschuss-
fassung auf. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Art. 1 Nr. 9 ist einstimmig angenom-
men.

Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Alle Teile des Gesetzentwurfs
sind damit in zweiter Beratung mit der Mehrheit der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-
nommen.

Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kom-
men, möchte ich Ihnen die von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen,
die wir vorhin vorgenommen haben, übermitteln. Zu-
nächst zur Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Art. 45 d des Grundgesetzes:
abgegebene Stimmen 576, ungültige Stimmen 3, gültige
Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 516, mit Nein ha-
ben gestimmt 19, Enthaltungen 38. Der Abgeordnete
Michael Grosse-Brömer hat 516 Stimmen erhalten. Die
erforderliche Mehrheit wurde erreicht. Er ist damit ge-
wählt.

Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der ordentlichen
Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des
Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimm-
karten 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1. Nun
kommen wir zu den einzelnen Personen. Von den gülti-
gen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abgeordneten
Norbert Barthle: Ja 492, Nein 38, Enthaltungen 33,
Bartholomäus Kalb: Ja 500, Nein 33, Enthaltungen 36,
Eckhardt Rehberg: Ja 489, Nein 42, Enthaltungen 36,
Michael Stübgen: Ja 479, Nein 45, Enthaltungen 43,
Lothar Binding: Ja 514, Nein 27, Enthaltungen 23, Petra
Merkel: Ja 510, Nein 33, Enthaltungen 19, Florian
Toncar: Ja 483, Nein 49, Enthaltungen 30, Dietmar
Bartsch: Ja 434, Nein 70, Enthaltungen 35, Priska Hinz:





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ja 488, Nein 35, Enthaltungen 30. Diese neun Abgeord-
neten haben also die erforderliche Mehrheit erreicht. Sie
sind damit als ordentliche Mitglieder des Sondergremi-
ums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismus-
gesetzes gewählt.

Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der stellvertre-
tenden Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3
des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene
Stimmen 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1.
Die gültigen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abge-
ordneten Norbert Brackmann: Ja 506, Nein 25, Enthal-
tungen 36, Klaus-Peter Flosbach: Ja 498, Nein 30, Ent-
haltungen 39, Alois Karl: Ja 493, Nein 30, Enthaltungen
43, Bernhard Schulte-Drüggelte: Ja 496, Nein 27, Ent-
haltungen 42, Michael Roth: Ja 496, Nein 35, Enthaltun-
gen 25, Rolf Schwanitz: Ja 478, Nein 49, Enthaltungen
24, Joachim Spatz: Ja 486, Nein 43, Enthaltungen 37,
Roland Claus: Ja 403, Nein 86, Enthaltungen 39, Manuel
Sarrazin: Ja 471, Nein 42, Enthaltungen 40. Diese neun
Abgeordnete haben also auch die erforderliche Mehrheit
erreicht, und sie sind damit als stellvertretende Mitglie-
der des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabili-
sierungsmechanismusgesetzes gewählt.

Das war noch nachzutragen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Risiken der Riester-Rente offenlegen – Alters-
vorsorge von Finanzmärkten entkoppeln

– Drucksache 17/9194 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Matthias W.
Birkwald für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718412600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Vor mehr als elf Jahren haben SPD
und Grüne eine einschneidende Rentenreform auf den
Weg gebracht. Am 16. November 2000 sagte der dama-
lige Bundessozialminister Walter Riester hier im Plenum
– ich zitiere –:

Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveau im Al-
ter insgesamt zu erhöhen.

Und er behauptete – Zitat –:

Wir ergänzen die gesetzliche Rente mit einer zu-
sätzlichen kapitalgedeckten Rente und werden da-
mit das Rentenniveau insgesamt dauerhaft anheben.

Heute ist klar: Dieses Versprechen war heiße Luft. Es hat
nichts mit der Wirklichkeit zu tun, heute nicht, morgen
nicht und übermorgen auch nicht. Das ist die traurige
Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Um die Beiträge im Interesse der Arbeitgeber niedrig
und stabil zu halten, wurden das Rentenniveau gesenkt
und die Riester-Rente eingeführt. Das bedeutet eine dra-
matische Kürzung der gesetzlichen Renten. Wer im Jahr
2001 eine Rente von 1 000 Euro hatte, wird sich im Jahr
2030 mit 765 Euro bescheiden müssen. Um den einmal
erreichten Lebensstandard auch im Alter halten zu kön-
nen, sollten die Menschen fortan privat vorsorgen, be-
schloss Rot-Grün. Heute wissen wir, wer die Gewinnerin
ist. Es ist die Versicherungswirtschaft. Sie kann sich über
Mehreinnahmen in Milliardenhöhe freuen. Ebenfalls
freuen können sich die Arbeitgeber und Arbeitgeberin-
nen. Sie müssen nämlich weniger in die Rentenkasse
zahlen, weil sie sich nicht an der privaten Riester-Vor-
sorge beteiligen müssen. Wir wissen aber auch, wer die
Verliererinnen und Verlierer sind. Es sind die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer. Sie sollen einen Teil der
Altersvorsorge ganz allein tragen. Das ist sozial höchst
ungerecht und durch nichts zu rechtfertigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber es kommt noch schlimmer. Derzeit spricht näm-
lich alles dagegen, dass mit der privaten Vorsorge die
politisch willkürlich gerissene Altersvorsorgelücke tat-
sächlich geschlossen werden könnte. Das heißt, die Ver-
siche-rungswirtschaft und die Arbeitgeberinnen und Ar-
beitgeber profitieren garantiert, Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer werden bestenfalls mit ungedeckten Ver-
sprechen entlassen. Hier liegt der sozialpolitische Skan-
dal. Da müssen wir heran. Da will die Linke heran, als
einzige bisher.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Riester-Rente steht seit langem völlig zu Recht in
der Kritik. Sie ist intransparent; denn die hohen Kosten
und die schmalen Renditen sind durch die Sparerinnen
und Sparer kaum zu erkennen. Sie ist unwirtschaftlich;
denn die Verwaltungskosten sind viel zu hoch. Das ist
ein Grund dafür, dass das Deutsche Institut für Wirt-
schaftsforschung klar und deutlich sagt – ich zitiere –:

Riestern ist oft nicht besser, als das Geld in den
Sparstrumpf zu stecken.

Nicht zuletzt versagt die Riester-Rente in sozialpoliti-
scher Hinsicht auf ganzer Linie; denn die Riester-Refor-
men sorgen weder für eine Lebensstandardsicherung und
schon gar nicht für ein Leben im Alter frei von Armut.
Das heißt: Die Riester-Rente löst die Probleme nicht. Sie
ist ein Irrweg.


(Beifall bei der LINKEN)


Die staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe flie-
ßen ganz zuverlässig in die Taschen der Versicherungs-
unternehmen. Aber was kommt davon bei den Sparerin-
nen und Sparern an? Was trägt die Riester-Rente dazu
bei, den Lebensstandard zu sichern? Was trägt die





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


Riester-Rente dazu bei, im Alter ein Leben frei von Ar-
mut führen zu können? Auf diese wichtigen Fragen gibt
es von der Bundesregierung bisher kaum brauchbare
Antworten. Das muss sich ändern. Darum fordern wir
Linken die Bundesregierung auf, einmal im Jahr einen
umfangreichen Riester-Bericht vorzulegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach Auskunft der Bundesregierung sind seit 2001
15,5 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen worden.
Doch das ist keine Erfolgsstory. Diese absolute Zahl hat
nur dann Aussagekraft, wenn die Gesamtzahl der poten-
ziellen Riester-Sparerinnen und -Sparer bekannt ist.
Aber diese Zahl kann die Bundesregierung nicht nennen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt
die Zahl der Riester-Berechtigten auf ungefähr 37,5 bis
42 Millionen. Das heißt, dass nur etwa 37 bis 41 Prozent
von denen, die eigentlich riestern dürften, dies überhaupt
tun. Aber Vorsicht! Die Anzahl der Verträge sagt nichts
aus über die tatsächliche Zahl der Menschen, die ries-
tern, da einzelne Personen mehrere Verträge haben, und
es ist zu bedenken, dass nur diejenigen eine theoretische
Chance haben, ihre Versorgungslücke zu schließen, die
eine volle Zulagenförderung erhalten. Die bekamen
2010 aber gerade einmal 5,4 Millionen oder 13 bis
14 Prozent der möglichen Riester-Sparerinnen und -Spa-
rer. Noch nicht einmal diese kleine Gruppe hat von den
staatlichen Zulagen etwas; denn laut Zeitschrift Öko-Test
fressen die Vertragskosten fast die gesamten Zulagen
auf. So sieht es aus! Hinschauen statt Schönreden ist hier
gefragt. Deshalb müssen solche Daten regelmäßig auf
den Tisch gelegt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das, was wir aus dem Rentenversicherungsbericht
2011 über die Riester-Rente erfahren können, reicht für
eine Bewertung nicht aus. Nicht von ungefähr kritisiert
das DIW, dass die ganze Riesterei eine „Politik ohne
Marktbeobachtung“ sei, dass es sich bei den Jubelmel-
dungen der Bundesregierung um „Erfolgsmeldungen
ohne Fundament“ handele. Nur aus der unabhängigen
Forschung gibt es immer wieder Studien, die nachwei-
sen: „Die Riester-Reform ist ein Flop“, und das gilt ins-
besondere für Menschen mit wenig Geld.

Das Mindeste, das alle Bürgerinnen und Bürger von
der Regierung erwarten können, ist, dass sie regelmäßig
die Folgen ihrer Rentenpolitik überprüft und transparent
macht. In Sachen Riester gehört aus unserer Sicht zum
Beispiel Folgendes dazu: Wie wirken sich die Renten-
kürzungen und die Riesterei auf Menschen mit geringem
Einkommen aus? Warum glaubt die Versicherungswirt-
schaft, dass die Menschen so viel länger leben, als es das
Statistische Bundesamt annimmt? Wie entwickelt sich
das Rentenniveau nach Steuern und Abgaben aus der ge-
setzlichen Rente und aus der Riester-Rente? Die Linke
will, dass in Sachen Riester endlich Klarheit und Wahr-
heit herrschen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das, was bisher bekannt ist, kann nur zu einer Forde-
rung führen: Die Riester-Subventionen für die Versiche-
rungswirtschaft müssen endlich in die Kassen der ge-

setzlichen Rentenversicherung gezahlt werden. Dorthin
gehören sie. Dort helfen sie, den Lebensstandard zu si-
chern. Dort tragen sie dazu bei, im Alter frei von Armut
leben zu können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718412700

Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1718412800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Lieber Kollege Birkwald, das Bild, das Sie hier
eben gezeichnet haben, war aus unserer Sicht – ich
glaube, da spreche ich für einen Großteil dieses Hauses –
ein Zerrbild. Wir haben Defizite bei Riester; darüber darf
man nicht hinwegreden. Diese Defizite betreffen die Ef-
fizienz, die Rendite dieser Verträge. Auch wir sehen,
dass der Verwaltungskostenanteil, die Vermittlergebüh-
ren und andere Posten zu hoch sind. Wir sehen auch,
dass wir da zu deutlich mehr Transparenz kommen müs-
sen. Wir brauchen auch mehr Transparenz für die Ver-
braucher, um Verträge vergleichbarer zu machen, um
mehr Wettbewerb in diesem Markt zu erzeugen und um
es für die Verbraucher einfacher zu machen.

Aber wir ziehen daraus eine andere Schlussfolgerung
als Sie. Wir sagen deshalb nicht, die private Zusatzvor-
sorge, Riester oder Rürup, ist Mist und muss weg,


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das sagt ja niemand!)


sondern wir sagen: Das ist ein wichtiges zusätzliches
Standbein der Altersvorsorge. Uns kommt es darauf an,
diesen grundlegenden Schritt weiterzugehen, nämlich
das Bewusstsein dafür zu wecken, für die eigene Alters-
versorgung zusätzlich privat vorzusorgen und auch zu-
sätzlich private Mittel zu mobilisieren. Es wäre nicht da-
mit getan, wenn wir die Zulagen, wie Sie es fordern,
einfach in die normale Rentenkasse geben würden. Wir
hätten dann eine noch wesentlich größere Rentenlücke;
denn all die zusätzliche private Sparleistung, all das, was
wir zusätzlich mobilisiert haben, würde dann von heute
auf morgen wegfallen. Das würde die Probleme mitnich-
ten lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es kommt also darauf an, das System effizienter zu
gestalten. Ich will alle drei Säulen ansprechen; denn man
muss die Altersvorsorge insgesamt betrachten. Zum Sys-
tem insgesamt hat ein bekannter und erfahrener Politiker
in diesem Haus gesagt: „Wenn man sich die Rentenver-
sicherungssystematik insgesamt anschaut, weiß man:
Das Wichtigste, das man tun kann, ist, für Bildung, Qua-
lifizierung und Arbeit zu sorgen.“ Die spätere Entwick-
lung hänge davon ab, wie sich Arbeitslosigkeit in diesem





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)


Lande entwickele. Das sagte Franz Müntefering 2006.
Ich finde, er hatte recht.

Damals, im März 2006, als Franz Müntefering das
sagte, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Heute haben
wir – das ist Ergebnis der Politik dieser Bundesregie-
rung, aber durchaus auch Ergebnis der Politik der Gro-
ßen Koalition – nur noch 2,7 Millionen Arbeitslose. Wir
haben die gesetzliche Rentenversicherung deutlich stabi-
lisiert, weil wir deutlich mehr Beitragszahler und we-
sentlich weniger Arbeitslose haben.

Auch die Lohnsumme insgesamt und die durch Bei-
träge zur Verfügung stehende Summe sind erheblich ge-
stiegen. 2006 hatten wir 26 Millionen sozialversiche-
rungspflichtig Beschäftigte. Im März 2012 hatten wir
29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
und damit mehr Einzahler in das gesetzliche System.
Damit haben wir einen entscheidenden Beitrag für eine
stabilere Altersvorsorge geleistet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist mir wichtig, dieses Grundlegende vorweg festzu-
stellen.

Ich möchte die zweite Säule, die betriebliche Alters-
vorsorge, ansprechen. Auch da, glaube ich, haben wir –
das sage ich für die Große Koalition – einen Schritt zur
Stabilisierung getan; denn wir haben die steuerliche Be-
günstigung, die wir dort ursprünglich befristet eingerich-
tet hatten, 2008 entfristet und verlängert, sodass die be-
triebliche Altersvorsorge jetzt auf wesentlich stabileren
und verlässlicheren Füßen steht als vorher.

Die dritte Säule ist die private Zusatzvorsorge, also
Riester und Rürup. Insofern begrüße ich den Antrag, den
Sie gestellt haben, weil er uns die Gelegenheit gibt, über
das System der privaten Zusatzversicherungen zu spre-
chen. Man sollte allerdings sachlich und vernünftig da-
rüber diskutieren, was man an diesen Systemen optimie-
ren kann.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das war doch ganz sachlich!)


Aus unserer Sicht sollten die Fördergrenzen angepasst
werden, und man sollte sie mit der wirtschaftlichen Ent-
wicklung mitlaufen lassen. Außerdem sollte man ein
einheitliches Produktinformationsblatt zur Verfügung
stellen, um endlich – davon haben auch Sie gesprochen –
Transparenz und Klarheit herzustellen; in diesem Punkt
sind wir uns sehr einig. Wir brauchen Vergleichbarkeit;
die jeweiligen Produkte müssen für den Normalverbrau-
cher also leicht vergleichbar sein. Forderungen wie
„Weg mit Riester!“ oder „Weg mit Rürup!“ helfen uns
nicht. Was wir brauchen, sind Klarheit und Transparenz
beim Vergleich der jeweiligen Produkte.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sind wir uns auch einig!)


Erforderlich ist außerdem eine Deckelung der Wech-
selkosten, also der Kosten, die bei einem Anbieterwech-
sel anfallen. Ich halte es für sinnvoll, dass wir darüber
hinaus eine Produktkontrolle durch die BaFin einrichten.

Notwendig sind ferner Verbesserungen beim Erwerbs-
minderungsschutz; diesen Aspekt haben Sie gerade zwar
nicht angesprochen, aber in Ihrem Antrag ist er erwähnt.
Auch dieses Thema muss bei Rürup und Riester eine
größere Rolle spielen.

Uns, den Koalitionsfraktionen, schwebt außerdem
vor, den altersgerechten Umbau in die Riester-Förderung
einzubeziehen und damit den Wohn-Riester zu ertüchti-
gen. Ich glaube, wenn wir bei diesem Thema konstruktiv
zusammenarbeiten – das sollten wir –, dann können wir
Riester deutlich effizienter gestalten. Zugegeben – um
das klar festzustellen –: Die Renditen bei Riester sind
aus unserer Sicht nicht zufriedenstellend. Hier muss es
zu Verbesserungen kommen. Das heißt aber nicht, dass
man, wie es das DIW andeutet, das ganze System zu-
rückschrauben und umbauen sollte.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt das DIW nicht!)


Vielmehr geht es darum, Riester und Rürup effizienter
zu gestalten.

Ich glaube auch nicht, dass wir einen gesonderten Be-
richt über die private Altersvorsorge brauchen. Ich
meine, dass wir dieses Thema in den Altersvorsorge-
bericht, den die Bundesregierung ohnehin abgibt, inte-
grieren können. Auch über die zusätzlichen Daten, die
im Bereich der privaten Altersvorsorge von Bedeutung
sind, kann dort berichtet werden. Das erspart uns, denke
ich, zusätzliche Bürokratie.

Ich komme zum Schluss und weise auf das hin, was
die OECD in der letzten Woche festgestellt hat. Sie hat
die Rentenpolitik dieser Regierung und die Festlegun-
gen, die die Große Koalition getroffen hat, durchaus ge-
lobt. Die OECD hat zwei zentrale Feststellungen getrof-
fen. Erstens hat sie festgestellt, die Anhebung des
Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sei ein sinnvoller
Schritt gewesen, um das Rentensystem tragfähiger zu
machen. Die OECD geht sogar noch einen Schritt weiter
und fordert die Schaffung eines Automatismus – in
Dänemark beispielsweise gibt es einen solchen Automa-
tismus schon –, und zwar dahin gehend, dass das
Renteneintrittsalter im Zuge der steigenden Lebenser-
wartung automatisch steigt. Hier gab es für unsere politi-
sche Richtung also durchaus Lob. Zweitens macht die
OECD deutlich, dass man die private Altersvorsorge
nicht verdammen soll. Vielmehr sollte die private Alters-
vorsorge noch stärker und zielgerichteter gefördert
werden.

Ich stelle an dieser Stelle fest: Es gibt Verbesserungs-
bedarf. Aber der Kurs ist richtig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718412900

Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1718413000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Über den vorliegenden Antrag freue ich mich
sehr. Im Rahmen meiner Vorbereitungen auf die heutige
Debatte bin ich das gesamte Gesetz zur Einführung der
Riester-Rente aus dem Jahre 2002 durchgegangen. Ich
habe jeden Antrag – auch jeden Antrag der Linken – und
jede Kleine Anfrage zu diesem Thema gelesen. Außer-
dem habe ich mir Gutachten und zusätzliche Informatio-
nen beschafft, zum Beispiel von Finanztest, von Ökotest
und vielen anderen, die sich mit diesem Thema befassen.
Insbesondere Finanztest hat im Jahr 2005, im Jahr 2008
und im Jahr 2012 bescheinigt, dass sich das Riestern und
eine entsprechende Zusatzversicherung lohnen; im letz-
ten Heft vom Mai 2012 kam dies erneut sehr deutlich
zum Ausdruck.

Ich muss dazusagen – das ist dann die andere Seite
der Medaille –, dass es, wie die Kollegen hier gerade
auch beschrieben haben, einen Nachbesserungsbedarf
gibt. Das Gesetz wurde vor über zehn Jahren verabschie-
det. Es wurde immer wieder nachgefragt, und es wurden
Erfahrungswerte festgestellt. Ich möchte den hier im
Plenum erleben, der nicht sagt, dass es noch einen Nach-
besserungsbedarf gibt. Das stelle ich hier und heute an-
hand des Antrages auch fest. Insofern freue ich mich
sehr, dass sich die Finanzer nach der Überweisung an
den Finanzausschuss mit diesem Thema beschäftigen
sollen. Überall da, wo Probleme auftauchen oder wo es
einen Verbesserungsbedarf gibt, müssen wir entspre-
chend vorgehen.

Ich gehe einmal gedanklich in die Zeit um das Jahr
2000 zurück. Damals haben wir zum ersten Mal erlebt,
dass 15 Millionen Menschen darüber geredet und sich
Gedanken darüber gemacht haben, wie ihr Leben nach
dem Erwerbsleben aussehen wird. Wer hätte damit ge-
rechnet, dass sich junge Erwachsene, die sich gerade in
einer Ausbildung befinden oder nach dem Studium ihren
ersten Job erhalten haben, damit beschäftigen, wie es
nach dem Erwerbsleben sein wird, wo sie dann stehen
werden und wie sie ihren Standard halten können? Dazu
kam es damals zum ersten Mal, und zwar auch durch die
Diskussion über Riester und Rürup, und diese Diskus-
sion ist auch richtig.

Ich möchte ein Beispiel nennen. Vielleicht hinkt das
Beispiel, wie das mit Beispielen nun einmal so ist, aber
vielleicht trifft es doch zu: Jede Patentante und jeder
Patenonkel schließt zur Taufe des Patenkindes einen
Bausparvertrag ab oder eröffnet ein klassisches Spar-
buch. Das ist selbstverständlich und normal. Niemand
redet darüber und stellt das infrage. Warum wird es dem-
gegenüber als fraglich angesehen, wenn wir darüber
nachdenken, wie wir das Zeitfenster nach unserem
Erwerbsleben gestalten? Warum ist das ein Problem?
Warum stellen Sie die drei Säulen infrage? Warum sagen
Sie, dass die drei Säulen nicht richtig sind?

Der Antrag Ihrer Fraktion wird heute überwiesen. Ich
sage es vorweg: Würde heute darüber abgestimmt, dann
würden wir uns sehr gerne enthalten, weil zwar einige
kritische Elemente darin richtig sind, wir den Grund-
tenor, die drei Säulen abzulehnen, allerdings nicht teilen.

Diesen Grundtenor Ihres Antrags bedauere ich. Wir
möchten gerne mit Ihnen gemeinsam konstruktiv und
nach vorne gerichtet für die Menschen an Verbesse-
rungsvorschlägen arbeiten. Insofern wäre der Diskus-
sionsprozess in den Fachausschüssen sehr wichtig. Ich
würde mich sehr freuen, wenn Sie es tatsächlich ernst
meinen würden, wenn Sie vom Zuhören, Mitgestalten
und Gestalten sprechen, und wenn Sie dies auch tatsäch-
lich tun würden.

Wenn wir von Standards reden, dann müssen wir
natürlich sagen, dass gerade die staatlich geförderte
Altersvorsorge höheren Standards und strengeren Krite-
rien entsprechen muss. Deswegen müssen gerade diese
Anlagen konservativ sein und stärker kontrolliert wer-
den. Ich möchte nicht, dass sie spekulativ sind, was
möglicherweise zu einer höheren Ausschüttung führen
kann, sondern sie sollen lieber konservativ gehalten wer-
den; denn es ist ja gerade der Sinn und der Reiz von
Riester, dass man zumindest das herausbekommt, was
man tatsächlich einbezahlt hat.


(Beifall bei der SPD)


Dies ist auch eine ganz eindeutige Feststellung von
Finanztest. Die gesetzliche Garantie sorgt dafür, dass am
Ende zumindest das Eingezahlte gesichert ist.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt
nicht die weiteren Vorzüge ansprechen. Ich glaube, wer
sich intensiv damit beschäftigt, der weiß, wie notwendig
es war, dass wir 2002 in dieser Form vorangegangen
sind.

Ich möchte jetzt gerne auch über die Nachbarländer
sprechen, die ebenfalls Erfahrungen damit haben, und
darüber, wie sie damit umgehen. Schauen Sie sich die
Niederlande, Schweden oder die anderen Nachbarländer
an, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Diese Län-
der haben genau das getan, was Sie vorhin angesprochen
haben: Sie haben die Höhe der Gebühren gedeckelt und
für ein konservatives Portfolio gesorgt. Durch die Auf-
sichtsgremien wird immer wieder kontrolliert, sodass
dort keine Spekulation stattfinden kann. Es gibt dort eine
große Transparenz, und sie haben ein einfaches Informa-
tionsblatt erstellt, das für jeden nachvollziehbar und
transparent sein muss. Eine Altersvorsorge bedeutet
nämlich nicht, dass man das Geld, das man nicht konsu-
mieren, sondern anlegen möchte, spekulativ anlegt; denn
diese Anlage dient der Altersvorsorge.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das, was unsere Nachbarländer gemacht haben, sollten
wir im Rahmen der weiteren Beratungen auf jeden Fall
aufgreifen.

Ich begrüße die Überweisung an den zuständigen
Ausschuss. Ich hoffe, der Antrag wird an den Finanzaus-
schuss überwiesen, weil die Überschrift „Risiken der
Riester-Rente offenlegen – Altersvorsorge von Finanz-
märkten entkoppeln“ eindeutig für eine Überweisung an
den Finanzausschuss spricht. Wir müssen stärker dafür
werben, dass nicht nur junge Menschen, sondern alle





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)


Menschen für ihr Leben im Alter entsprechend Vorsorge
treffen.

Zum Schluss: Ja, es ist nicht alles richtig, aber es ist
auch nicht alles verkehrt. Wir sollten zukünftig im Rah-
men der Beratungen über mehr Transparenz und über
niedrigere und gedeckelte Gebühren sprechen; denn es
kann in der Tat nicht sein, dass beim Abschluss einer
Riester-Rente zum Teil über 16 Prozent Gebühren


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 20 Prozent!)


– ich beziehe mich auf Finanztest – anfallen. Es ist egal,
ob es nun 16 oder 20 Prozent sind: Diese Gebühren sind
auf jeden Fall zu hoch und dürfen nicht sein. Es sollte
beim Abschluss einer Versicherung generell nicht der
Fall sein, dass man erst eine gewisse Zeitspanne ein-
zahlt, bevor man eigentlich anspart. Darüber können wir
uns gern unterhalten.

Regelungen zu niedrigeren Gebühren und besseren,
einfacheren und einheitlichen Informationen sollten sich
in jedem Fall in diesem Gesetz wiederfinden und es wei-
terentwickeln. Wenn wir gemeinsam an diesen Zielen ar-
beiten, dann kommen wir zusammen. Ich wünsche mir
das. Meine Fraktion hat in diesem Fall schon eine Ent-
haltung in der Abstimmung signalisiert. In diesem Sinne
wünsche ich uns eine gute Beratung.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und, wie wir
im Ruhrgebiet sagen, ein herzliches Glückauf!


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718413100

Das Wort hat nun Frank Schäffler für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1718413200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Hier geht es eigentlich nicht so sehr um diesen
Antrag, sondern hier geht es um eine grundsätzlich un-
terschiedliche Auffassung zur Rolle des Staates und zur
Rolle von privaten Sparern. Sie sind der Auffassung,
dass die Altersvorsorge über eine gesetzliche Umlage-
versicherung unter Berücksichtigung des demografi-
schen Wandels geregelt und weiter vorangebracht wer-
den muss, die aber am Ende vor die Wand fährt. Das ist
nicht unsere Auffassung. Wir wollen die Sparkultur in
Deutschland fördern.

Ich will den rot-grünen Entwurf der Riester-Rente
durchaus loben. Das war ein großer Schritt zur Stei-
gerung der Sparkultur in diesem Land. Am Ende hat die
Riester-Rente dazu geführt, dass es beim Sparen nicht
nur gerecht zugeht, sondern auch sozial gerecht. Sie ist
deshalb gerecht, weil derjenige, der spart, zumindest
wenn er in Riester-Verträge spart, steuerlich genauso be-
handelt wird wie jemand, der heute konsumiert. Letzt-
endlich ist der Riester-Vertrag nur eine Verlagerung der
Steuerlast in die Rentenphase, zumindest für diejenigen,
die normal Einkommensteuer zahlen. Gleichzeitig ist sie

sozial gerecht, weil man ebenfalls diejenigen fördert, die
keine Steuern zahlen. Das geschieht über die Zulagen.
Das heißt, es handelt sich um ein sozial gerechtes Vor-
sorgesparen.

Deshalb ist es schlecht, wenn man das jetzt schlecht-
redet. Das machen Sie.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie schüren Unsicherheit beim Sparer. Das sorgt am
Ende dafür, dass weniger Menschen vorsorgen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber viele können sich die Beiträge doch gar nicht leisten!)


Aber die Vorsorge ist genau das, was wir wollen. Wir
wollen, dass die Menschen im Alter unabhängig vom
Staat sind. Wir wollen, dass sie selbst vorsorgen und ihr
Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ermöglicht
eben ein Riester-Vertrag.

Angesichts der aktuellen Finanzkrise ist das Positive
in Deutschland, dass wir eine hohe Sparquote haben,
dass die Menschen vorsorgen. Die Sparquote im ersten
Quartal beträgt 14,4 Prozent. Das ist im internationalen
Vergleich eine sehr hohe Sparquote. Die Voraussetzung
dafür, dass es wirtschaftliches Wachstum gibt, ist, dass
gespart wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass in-
vestiert wird. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür,
dass Wachstum entstehen kann. Das ist die Vorausset-
zung, dass Arbeitsplätze in diesem Land entstehen. Das
ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass der Staat
Einnahmen über Steuern und über Sozialversicherungs-
beiträge generieren kann. Diesen Zusammenhang setzen
Sie außer Kraft, indem Sie quasi diese Produkte und die-
sen Weg diskreditieren und schlechtreden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wollen am Ende – da müssen Sie ganz ehrlich
sein – das alte sozialistische Motto durchsetzen: Allen
soll es gleich schlechtgehen. Das ist nicht unsere Vor-
stellung von Politik.


(Beifall bei der FDP)


Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie beleidigen die deutsche Rentenversicherung!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718413300

Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde den Antrag der Linken auch nicht wahnsinnig toll,
aber ich glaube, die Kritik von Herrn Schäffler geht ein
bisschen an der Sache vorbei.





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)



(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wie so vieles bei der FDP!)


Mit Argumenten aus der Mottenkiste braucht man,
glaube ich, nicht zu kommen.

Ich fand den Antrag der Linken in seiner Gesamtheit
eher lustig. Am Anfang wird auf die Riester-Rente
draufgehauen, teilweise mit richtigen Argumenten, teil-
weise überzogen und teilweise mit aus unserer Sicht fal-
schen Argumenten. Dann folgt die Schlussfolgerung; ich
dachte, jetzt kommt: Weg mit Riester! Hau weg den
Mist! – Was aber kam? Sie fordern einen Bericht. Das ist
großartig. Wenn das so weitergeht, kann ich nur sagen:
Die Linken sind mittlerweile ziemlich harmlos.


(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eine einsame Klatscherin! Zur Klarstellung fürs Protokoll!)


Zum Inhaltlichen: Es ist völlig richtig, dass man die
Alterssicherung im Ganzen sehen muss. Ich habe dabei
ein etwas anderes Bild vor Augen. Ich finde, die Alters-
sicherung ähnelt der Akropolis. Sie ist inzwischen alt,
war aber einst ein schönes Modell. Es wäre falsch, sie
abzureißen; man muss sie vielmehr stabilisieren bzw.
neu aufbauen. Sie ist durch die Umweltbedingungen ein
bisschen angegriffen und muss entsprechend angepasst
werden.

Wichtig ist bei der Akropolis wie bei der Alterssiche-
rung, dass es ein stabiles Fundament gibt. Als Funda-
ment ist die Riester-Rente nicht geeignet, weil sie zu un-
sicher ist. Das Fundament muss stabil sein und aus der
umlagefinanzierten Rente finanziert werden; gegebenen-
falls muss steuerfinanziert etwas zur Absicherung vor
Armut getan werden. Wir sagen: Die umlagefinanzierte
Rente muss der Kern unseres Rentensystems bleiben,
und das Fundament muss solidarisch finanziert werden.
Nur dann wirken nämlich die Säulen, die darauf auf-
gebaut werden und den Lebensstandard sichern: die ge-
setzliche Säule, die private Säule und die betriebliche
Säule.

Die private Säule ist – das ist eben schon richtig ge-
sagt worden – noch nicht so stabil und stark, wie wir uns
das eigentlich damals erhofft haben. Es gibt offensichtli-
che Mängel, die wir angehen müssen.

Einer dieser Mängel ist, dass wir nicht genau wissen,
was es alles an Mängeln gibt. Einer der Fehler, den wir
damals gemacht haben, ist, dass wir nicht wie bei den
Hartz-Gesetzen gleich eine Evaluation mitbeschlossen
haben. Wir wissen relativ wenig über die Wirkung der
Riester-Rente. Ich glaube, dass an dieser Stelle unbe-
dingt nachgebessert werden muss. Vor diesem Hinter-
grund, finde ich, ist die Forderung nach einem Bericht
durchaus berechtigt. Darüber kann man diskutieren. In-
sofern korrigiere ich das „harmlos“ bezogen auf die Lin-
ken zu „überwiegend harmlos“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Im nächsten Schritt wird es dann „gut“!)


Folgende Baustellen gibt es aus unserer Sicht:

Erstens. Die Riester-Rente sollte die durch das abge-
senkte Rentenniveau entstandene Lücke schließen, und
zwar bei allen Einkommensgruppen. Das ist leider bis-
her nicht erreicht. Die entsprechende Zahl ist schon ge-
nannt worden: Nach aktuellem Stand gibt es insgesamt
15,5 Millionen Verträge. Da eine kleine Anzahl von Per-
sonen mehrere Verträge haben, haben wahrscheinlich
13 Millionen bis 15 Millionen Menschen einen Riester-
Vertrag. Die genaue Zahl kennen wir in der Tat nicht.
Aber es ist weniger als die Hälfte der Berechtigten. Da
muss also nachgebessert werden. Hinzu kommt: Insbe-
sondere im unteren Einkommensbereich gibt es noch
sehr viel weniger Menschen, die einen Riester-Vertrag
haben. Wir wollen aber, dass auch in diesem Bereich die
Menschen durch die gesetzliche Rente plus Riester-
Rente ihren Lebensstandard sichern können. Auch da
müssen wir definitiv nachbessern.

Die zweite Baustelle ist ein verbesserter Verbrauche-
rinnen- und Verbraucherschutz. Wer hat wirklich einen
Überblick über die mittlerweile 5 000 Produkte? Ich je-
denfalls nicht. Auch für einen funktionierenden Wettbe-
werb ist es wichtig, eine übersichtliche Zahl von Produk-
ten zu haben. 5 000 sind eigentlich zu viel.

Dann ist es so, dass die Produkte nicht wirklich ver-
gleichbar sind. So etwas wie ein Produktinformations-
blatt ist sicherlich wichtig, wobei zu fragen ist, was ge-
nau darin enthalten sein soll. Es muss klar sein, wann
sich eine Riester-Rente tatsächlich lohnt. Da gehen die
Meinungen ja sehr auseinander. Die Berechnungen des
DIW bzw. des Bundes der Versicherten zeigen, dass
nicht eindeutig klar ist, dass sie sich für alle lohnt. Wir
haben den Anspruch, dass sich die Riester-Rente auch
ohne Zuschüsse und Zulagen lohnt. Auch das muss aus
einem Produktinformationsblatt hervorgehen.

Darüber hinaus brauchen wir eine Gesamtübersicht
über die gesetzliche, private und betriebliche Alterssi-
cherung. Auch hier herrscht nicht genügend Transpa-
renz. Wir brauchen eine verbesserte und unabhängige
Beratung des Einzelnen. Es gibt gute Projekte wie das
PROSA-Projekt der Rentenversicherung in Baden-Würt-
temberg, bei dem die Betreffenden in einem 90-Minu-
ten-Gespräch über Sicherungslücken und Nachbesse-
rungsbedarf aufgeklärt werden. Auch das wäre für uns
ein wichtiger Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dritte Baustelle ist, zu klären, was denn mit dem Geld
eigentlich gemacht wird. Durch die Finanzmarktkrise ist
uns ja bewusst geworden, dass es im Hinblick auf alle
Finanzmarktprodukte eine wichtige Frage ist, in welcher
Form die Gelder auf den Finanzmärkten angelegt wer-
den. Fragen Sie einmal bei Ihrer Bank nach, was mit Ih-
rem Geld gemacht wird. Bei meiner Bank würde ich eine
Antwort bekommen. Manche Banken werden darauf
eine Antwort geben, die meisten aber nicht. Aber auch
im Rahmen der Riester-Rente wäre es wichtig, Transpa-
renz darüber zu schaffen, was mit dem Geld tatsächlich
passiert: Ist es sicher angelegt? Ist es nach ethischen, so-
zialen und ökologischen Kriterien angelegt? – Wir sind





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


der Meinung: Wenn der Staat viel Geld für die Förde-
rung ausgibt, sollte er auch steuernd tätig werden. Das
heißt, ethische, ökologische und soziale Kriterien sollten
eine größere Rolle spielen, als es bisher der Fall ist. Aber
auch das Kriterium Sicherheit muss berücksichtigt wer-
den. Zudem sollte die BaFin das Ganze kontrollieren.
Darin bin ich mir mit Herrn Middelberg einig.

Zusammenfassend kann ich drei zentrale Baustellen
feststellen: Wir brauchen eine stärkere und gezieltere
Regulierung, um zu wissen, was mit dem Geld gemacht
wird. Wir brauchen einen besseren Verbraucherschutz.
Die Menschen dürfen nicht abgezockt werden und müs-
sen gut informiert werden. Wir müssen die Riester-Rente
so weiterentwickeln, dass sie auch Menschen mit gerin-
gem Einkommen den Lebensstandard sichert. Das sind
die Baustellen, die wir anpacken müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Einen Bericht vorzulegen, reicht nicht aus. Wir müssen
wirklich etwas verändern.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718413400

Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1718413500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Als ich den Antrag der Linken gelesen habe


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Guter Antrag!)


– ich zitiere einmal den Anfang: „Die Altersvorsorge
muss von den Finanzrisiken an den Geld- und Kapital-
märkten entkoppelt werden“ – dachte ich: Schön, jetzt
erfahre ich endlich, wie die Altersvorsorge sicherer ge-
staltet werden kann.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Durch das Umlageverfahren!)


Aber weit gefehlt! Gar nichts war dazu in dem Antrag zu
lesen. Erkennbar war nur: Sie verkennen die Finanzie-
rungsfunktion des Geld- und Kapitalmarkts. Und an der
Finanzmarktregulierung haben Sie offensichtlich nichts
auszusetzen. Das zeigt: Die Bundesregierung ist bei die-
sen Themen auf dem richtigen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eines zeigt der Antrag aber ganz deutlich: Sie wollen
das bewährte Dreisäulenmodell der Rentenversicherung
infrage stellen. Warum ist das Dreisäulenmodell so
wichtig? Wir brauchen das Dreisäulenmodell, um die
Zukunft zu sichern. Ein Haus mit drei tragenden Säulen
ist einfach sicherer, als wenn man nur auf eine tragende
Säule baut. Die drei Säulen sind die gesetzliche Renten-
versicherung, die betriebliche Altersvorsorge


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die haben ja nur ganz wenige!)


und die private Altersvorsorge.

Ein paar Worte zur gesetzlichen Rentenversicherung.
Entscheidend ist, dass die Rente – das gilt im Grunde für
jedwede Rentenversicherung – erwirtschaftet wird. Das
hängt von der Zahl der Arbeitnehmer ab. Das macht
deutlich, wie wichtig die Rente mit 67 ist. Das Demogra-
fieproblem muss angepackt werden. Das Dreisäulen-
modell ist notwendig. Es muss Ausgewogenheit zwi-
schen Beitragssatzstabilität, angemessener Rentenhöhe
und Eigenverantwortung vorhanden sein.

Zur betrieblichen Altersvorsorge: Warum ist diese so
wichtig, und warum stellt diese eine Chance für Unter-
nehmen dar? In Zeiten des Fachkräftemangels ist die Al-
tersvorsorge ein gutes Instrument, Fachkräfte langfristig
an das Unternehmen zu binden. Im Hinblick auf die
Finanzmarktregulierung ist wichtig, dass keine kontra-
produktiven Regelungen wie zum Beispiel Solvency II
eingeführt werden, die eventuell die betriebliche Alters-
vorsorge einschränken könnten.

Die dritte Säule ist die private Altersvorsorge. Diese
muss wirksam sein, und die Menschen müssen sie sich
leisten können.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Eben das ist es!)


Es kann unter Umständen gerade für Menschen mit ei-
nem mittleren oder niedrigen Einkommen ein Problem
sein, privat vorzusorgen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist es!)


Das war doch der Grund, warum der Staat 2002 die
Riester-Rente eingeführt hat. Der Staat gibt einen An-
reiz, damit die Bürger privat für die Rente vorsorgen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum senkt er dann das Rentenniveau?)


Die Vermögensbildung in der Bevölkerung ist gewollt.
Übrigens: Der Schutz des Eigentums und die Möglich-
keit der Vermögensbildung sind Eckpfeiler der sozialen
Marktwirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der im Antrag der Linken erhobene Vorwurf, man
könne sich die Riester-Rente nicht leisten, ist einfach
nicht zutreffend. Die Riester-Rente ist gerade für mitt-
lere und kleinere Einkommen da.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was kommt hinterher heraus? Das schließt nicht die Lücke!)


Sicherlich, Geld ist für den Bürger immer knapp. Aber
der Staat lässt sich die Riester-Rente auch einiges kos-
ten. Rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr gibt der Staat den
Bürgern für den Aufbau der Riester-Rente hinzu. Für ei-
nen Haushalt mit zwei Kindern und mittlerem Einkom-





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)


men können dies bei einem Eigenanteil von 50 Euro im-
merhin 800 Euro im Jahr sein. Das ist eine ganze Menge.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Riester-Rente steht jedem offen, der förderbe-
rechtigt ist. Über 70 Prozent der Zulagenempfänger ver-
fügen über ein beitragspflichtiges Einkommen von weni-
ger als 30 000 Euro. Die Riester-Rente ist für Menschen
mit niedrigem Einkommen lohnend, da hier das Verhält-
nis zwischen staatlicher Zulage und Eigenleistung be-
sonders günstig ist. Und: Die Anlageformen der Riester-
Rente – die Vorredner haben es zum Teil erwähnt – un-
terliegen besonderen Bestimmungen, damit das Geld
auch sicher ist.

Die Stärken des Dreisäulenmodells sind also: Beteili-
gung der Solidargemeinschaft, Beteiligung der Unter-
nehmen, Selbstverantwortung für eigene Vorsorge und
Risikostreuung wegen mehrerer Säulen. Die Bundesre-
gierung sorgt übrigens auch für Menschen vor, die gar
kein Einkommen haben und im Alter ein Problem mit
der Rente hätten. Der Bund hat dieses Jahr die Grund-
sicherung übernommen. Das bedeutet, dass ab dem
Jahr 2014 allein der Bund die deutschen Kommunen um
mehr als 10 Milliarden Euro entlastet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bei der rot-grünen Bundesregierung waren es gerade
einmal 409 Millionen Euro.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Da haben wir es gerade erst eingeführt!)


Noch ein paar Worte zu einigen Punkten in dem An-
trag der Linken:

Sie haben das EuGH-Urteil zu den sogenannten Uni-
sextarifen angesprochen, das heißt, dass keine Unter-
scheidung zwischen Mann und Frau gemacht werden
darf und man auch nicht mehr auf die unterschiedlichen
Verhaltensweisen, beispielsweise das Fahrverhalten der
Männer, eingehen darf. Ich erwarte von der Versiche-
rungswirtschaft, dass man einigermaßen ausgewogene
neue Verträge anbietet, die, wenn notwendig, Erhöhun-
gen, aber natürlich auch Beitragssenkungen vorsehen.

Die Linke schlägt vor, die Beitragshöhe zur Renten-
versicherung zu steigern. Was ist denn das für eine So-
zialpolitik? Das trifft doch gerade die Menschen mit ge-
ringem Einkommen besonders stark.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eben nicht, weil sie dann kein Riester mehr machen müssen!)


Eine Verschiebung innerhalb der drei Säulen in Richtung
der betrieblichen Altersvorsorge oder der gesetzlichen
Rentenversicherung bedeutet Belastungen für die Wirt-
schaft und für die öffentlichen Haushalte.


(Zuruf der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Nicht vergessen werden darf, dass der Bundeszuschuss
an die Rentenversicherung in Höhe von 80 Milliarden
Euro der größte Posten im Bundeshaushalt ist.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Stimmt doch nicht! – Zurufe der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD] und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Daher ist die private Altersvorsorge – sprich: Riester-
Rente – eine wichtige Säule.

Der Antrag der Linken


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr guter Antrag!)


dient nicht den Menschen. Er ist wirtschaftlich nicht
zielführend –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718413600

Frau Kollegin.


Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1718413700

– und daher abzulehnen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718413800

Die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1718413900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Zu-
hörer! Wir haben gehört: Es gab eine Vorgeschichte der
Riester-Rente, die man immer vor Augen haben muss.
Man kann die Riester-Rente nicht nur danach beurteilen,
wie sie heute ist, sondern man muss auch überlegen, wa-
rum sie überhaupt eingeführt wurde.

Wir haben in den Jahren 2001/2002 nicht nur eine
zweite, sondern auch eine dritte Säule für notwendig ge-
halten. Neben der gesetzlichen Rentenversicherung und
der betrieblichen Altersvorsorge – für viele, aber längst
nicht für alle – wollten wir eine dritte Säule aufbauen.
Man muss das im zeitlichen Zusammenhang sehen. Die
meisten von uns haben damals auch daran geglaubt, dass
es sinnvoll ist, eine kapitalgedeckte dritte Säule aufzu-
bauen, weil die Anlagevoraussetzungen eigentlich posi-
tiv erschienen.


(Zuruf von der FDP: Wer war denn damals Minister?)


Wir haben die Situation, dass wir die Riester-Rente
leider – ich bedaure das – nicht verpflichtend für alle ge-
macht haben, die sie gebraucht hätten oder noch brau-
chen werden. Wir alle hatten ein bisschen Angst vor
Zwangs-Riester oder Riester-Pflicht und haben gedacht:
Diejenigen, die sie brauchen, werden sie schon anneh-
men, weil sie attraktiv ist. – Das ist, wie wir gehört
haben, leider noch nicht einmal bei der Hälfte der Be-
rechtigten passiert. Das ist bedauerlich. Man sollte ernst-
haft darüber nachdenken, ob man hier etwas ändert.





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In den letzten Jahren wurde die Riester-Rente schon
ein wenig attraktiver gestaltet. Die Kinderzulage wurde
angehoben. Es gab einen Berufseinsteigerbonus. Der
förderfähige Personenkreis wurde auf Erwerbsgemin-
derte und Geringverdiener erweitert. Trotzdem ist das
alles nicht ausreichend. Das will ich gern zugeben.


(Beifall der Abg. Petra Hinz [Essen] [SPD])


Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man die Riester-
Rente ad hoc verbessern könnte. Ich komme gleich noch
auf zusätzliche Dinge zu sprechen.

Erstens. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die
Zulagen dynamisieren. Das heißt, der Inflationsaus-
gleich sollte bei der Zulagenhöhe berücksichtigt werden.

Wir brauchen zweitens natürlich eine Regelung für
Menschen, die am Ende ihres Lebens in der Grundsiche-
rung sind. Ich denke, wir alle finden es nicht gerecht,
dass Menschen, die privat Geld zurückgelegt und eine
Riester-Rente angespart haben, dann, wenn sie keine
auskömmliche Rente haben und in der Grundsicherung
sind, überhaupt nichts von diesen zusätzlich angesparten
Mitteln bekommen.

Es gibt natürlich einen Bruch mit einigen systemi-
schen Voraussetzungen, die wir als Grundlage unserer
Ordnungspolitik heranziehen, aber wir haben diese Brü-
che auch in anderen Bereichen akzeptiert. Ich erinnere
daran, dass wir auch Hartz-IV-Empfängern eine Kinder-
gelderhöhung haben zukommen lassen. Da haben wir
gesagt, Kindergeld ist nicht nur ein Ausgleich für irgend-
welche sachlichen Dinge, sondern es beinhaltet auch
Betreuungsleistungen, die Hartz-IV-Empfänger auch er-
bringen. Hier müsste es genauso sein: Meiner Meinung
nach müssten Personen, die privat vorgesorgt haben,
mehr als die Grundsicherung erhalten.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718414000

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn

Strengmann-Kuhn zulassen?


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1718414100

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718414200

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Kollegin, ich finde es richtig, zu sagen: Wer ge-
riestert hat, der soll vom Ersparten auch etwas behalten
können und nicht unbedingt gleich in die Grundsiche-
rung fallen. Aber müsste das nicht gleichzeitig auch für
die gesetzliche Rentenversicherung gelten? Auch hierbei
handelt es sich ja um eine Eigenvorsorge: Man zahlt sel-
ber Beiträge ein. Müsste es nicht eine Gleichbehandlung
von Riester-Rente und gesetzlicher Rente geben? Ich

denke an den von der Bundesministerin vorgelegten Ent-
wurf einer Zuschussrente. Danach wird die gesetzliche
Rente voll angerechnet, und die Riester-Rente soll hin-
zukommen. Ist das nicht eine ungerechtfertigte Behand-
lung der eigentlich notwendigen Umlageversicherung?


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1718414300

Wir haben das Problem, dass wir bei der Rentenversi-

cherung mit zunehmenden Kosten rechnen müssen. Die
demografische Entwicklung geht nämlich dahin, dass
wir immer weniger Beitragszahler und immer mehr
Rentenbezieher haben werden. Wir müssen natürlich
schauen, dass das Gesamtsystem finanzierbar bleibt. Das
heißt, dass wir die aktuellen Steuerzahler nicht über das
Maß belasten. Wir haben nämlich zu wenig Beitragszah-
ler, die uns solche Zugaben zur Grundsicherung finan-
zieren können. Wir müssen also genau abwägen, was wir
machen und was wir nicht machen.

Der Punkt hier ist: Es gibt Menschen, die zusätzlich
zu ihren Rentenbeiträgen – sie werden von den Arbeit-
nehmern ja nicht infrage gestellt – Geld ansparen und
davon im Alter überhaupt nichts haben. Inzwischen
empfehlen Verbände: Wer Teilzeit arbeitet, sollte nicht
riestern. Auch das ist aber eine falsche Empfehlung, weil
man nicht weiß, ob man sein Leben lang Teilzeit arbei-
tet. Man weiß nicht, in welche Lebenssituationen man
kommt. Man fällt aber die Entscheidung, für eine Zu-
satzrente zu sparen, relativ früh; jedenfalls wäre das
wünschenswert. Man sollte eigentlich schon als Aus-
zubildender anfangen, zu riestern. Man hat also keine
Ahnung, in welche Lebenssituation man kommt. Das
heißt, wenn man in die Situation kommt, dass man ver-
mindert arbeitet, weswegen man später Rente in einer
Höhe bekommt, die unter der Grundsicherung liegt,
dann sollte einem das, was zusätzlich angelegt worden
ist, in irgendeiner Form als Bonus zugutekommen. Das
hat nichts damit zu tun, dass ein Arbeitnehmer vorher
seine normalen Rentenzahlungen geleistet hat.


(Beifall bei der SPD)


Jetzt möchte ich zum Antrag der Linken kommen.
Dieser Antrag hat den Titel „Risiken der Riester-Rente
offenlegen – Altersvorsorge von Finanzmärkten entkop-
peln“. Durch diesen Antrag sind wir Finanzer darauf ge-
kommen, dass wir hier reden sollten. Wenn Sie sagen,
Sie hätten das Ganze lieber bei Arbeit und Soziales an-
gesiedelt, dann hätten Sie, denke ich, einen anderen Titel
für Ihren Antrag wählen müssen. Aber dieser Titel hat
mich schon angesprochen. Ich glaube, es ist richtig, dass
hier Finanzer reden.

Zum Antrag selber: Ich will mit dem Positiven begin-
nen. Positiv an diesem Antrag ist, dass Sie mehr Be-
richte wollen. Das möchten wir, glaube ich, alle. Es gibt
Berichte; aber die meisten von uns halten sie für unzurei-
chend. Ob man in den bestehenden Berichten auch die
gewünschte zusätzliche Information unterbringen kann,
weiß ich nicht; das müsste man sich genauer anschauen.
Ich denke, ein Zusatzbericht ist nicht falsch, um das
Ganze plakativer zu machen und so noch mehr zu ver-
deutlichen.





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)


Ihr Antrag benennt einige Probleme, die wir haben:
Die Grundsicherung – ich habe schon darauf hingewie-
sen – ist eines dieser Probleme. Ein weiteres Problem
sind Mitnahmeeffekte. Mitnahmeeffekte haben wir bei
vielen Gesetzen. Sie auszuschließen, halte ich für
schwierig. Ich hätte gerne von Ihnen konkretere Aus-
künfte darüber, wie man solche Effekte verhindern kann.
Hohe Verwaltungskosten sind ein Ärgernis; das ist abso-
lut richtig. Ich glaube nicht, dass das so bleiben muss.
Man kann das Ziel sicher auch anders erreichen. Dass
die Sparer ein hohes Alter erreichen müssen, um in den
Genuss zu kommen, all das zurückzubekommen, was sie
eingezahlt haben, ist ein Problem, das sich, wie ich
glaube, von selbst erledigt, denn der gesundheitliche
Fortschritt wird uns helfen; es gibt ja immer mehr
Ältere.

Negativ an Ihrem Antrag sind ein paar grundsätzliche
Aussagen. Sie sagen: Die Finanzkrise hat dazu geführt,
dass diese Anlageform nicht mehr richtig trägt. – Das ist
richtig. Aber die Riester-Anlagen – 750 Milliarden Euro –
haben sicher nicht die Finanzkrise ausgelöst. Ich glaube,
dass diese Anlageform nicht dazu beigetragen hat, dass
irgendwelche Banken in Schwierigkeiten geraten sind.
Ansonsten ist es ja so, dass vor allem meine Partei im
Moment versucht, durch Finanzmarktregulierungsvor-
schläge in das System etwas mehr Verlässlichkeit hinein-
zubekommen. Aber ich denke, dass das kein grundsätzli-
ches Problem der Riester-Rente ist.

Die Rückkehr zum alten Rentenversicherungssystem
halte ich für problematisch; denn wir haben – ich habe es
schon gesagt – insbesondere ein demografisches Pro-
blem. Es gibt zu wenige Nachkommen, um die vielen
Rentner zu finanzieren. Das heißt, wir brauchen weitere
Finanzierungsformen; ansonsten hätten wir eine hohe
Belastung entweder der Beitragszahler oder der Arbeit-
geber, oder, wenn wir keine höheren Beiträge wollten,
müssten wir die Renten kürzen. Wenn wir mehr Steuer-
finanzierung wollen, müssen wir das auch in irgendeiner
Form auf die Menschen umlegen. Ich denke, wir sind im
Moment aber schon an der Grenze der Belastbarkeit der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Bereich
angekommen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718414400

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Birkwald

zulassen?


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1718414500

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718414600

Bitte schön.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718414700

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischen-

frage zulassen. Sie haben gerade gesagt, die Riester-
Rente sei aus demografischen Gründen notwendig. Sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es Modellrech-
nungen der Deutschen Rentenversicherung gibt, wonach
wir beispielsweise auf die Rente erst mit 67 komplett

verzichten könnten, wenn der Beitragssatz um einen hal-
ben Prozentpunkt angehoben wird? Das würde bedeuten,
dass Beschäftigte in heutigen Werten durchschnittlich
6,76 Euro im Monat mehr zahlen müssten.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das wird nicht dadurch besser, dass Sie das jetzt schon zum dritten Mal wiederholen! Das ist doch Quatsch!)


Sind Sie außerdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass mit Riester die Belastungen für die Altersvorsorge
ausschließlich bei den Beschäftigten abgeladen werden?
Denn die Beschäftigten sollen ja die Hälfte der gedeckel-
ten Beiträge von 20 Prozent, später von 22 Prozent zah-
len, sollen dann 4 Prozent ihres Einkommens für eine
Riester-Vorsorge und dann im Idealfall auch noch 3 Pro-
zent für eine betriebliche Altersvorsorge ausgeben, die
im Osten bisher übrigens nur in 35 Prozent der Betriebe
existiert. Es wird also davon ausgegangen, dass die Be-
schäftigen bis zu 17 Prozent an Beiträgen zahlen.

Das entspräche im Umlageverfahren einem Beitrags-
satz von 34 Prozent, aber es wird gesagt: Die Arbeitge-
ber dürfen nicht mehr bezahlen. Das ist also der eigent-
liche Grund, warum Riester eingeführt wurde. Es geht
darum, den hälftigen Anteil der Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber an jedem Beitragssatzpunkt – das sind je-
weils 11 Milliarden Euro – zu sparen. Was sagen Sie
denn dazu?


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1718414800

Grundsätzlich ist es so, dass die kompletten Beiträge

von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden. Es wird
immer so getan, als erwirtschafte der Arbeitnehmer den
Arbeitnehmerbeitrag und der Arbeitgeber den Arbeitge-
berbeitrag. Das ist aber Quatsch. Der Arbeitnehmer er-
bringt eine Arbeitsleistung und erwirtschaftet im Prinzip
beide Anteile.


(Beifall der Abg. Bettina Kudla [CDU/CSU] und Frank Schäffler [FDP])


Eigentlich wäre es gerecht, wenn man dem Arbeitneh-
mer alles, was er erwirtschaftet, einfach auf dem Lohn-
zettel ausweisen würde. Dann bräuchten wir auch nicht
diese Teilung.

Sie sagen nun, der Arbeitgeberbeitrag solle erhöht
werden. Der fällt aber nicht vom Himmel, sondern muss
erwirtschaftet werden.


(Frank Schäffler [FDP]: Erwirtschaften geht vor Verteilen!)


Da können Sie natürlich sagen – vielleicht passt das in
Ihre Ideologie –: Der Arbeitgeberbeitrag schmälert den
Gewinn des Arbeitgebers.


(Zuruf der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE])


Vielleicht ist das so. Aber vielleicht – das kann ich ent-
gegnen – bringt das dann die Wettbewerbsfähigkeit zum
Erliegen. Das wäre auch ein Argument. Wir können je-
doch nicht ausprobieren, welches Argument stimmt. Wir
können nicht einfach ausprobieren, wie die Betriebe,





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)


wenn wir den Arbeitgeberbeitrag erhöhen, im Wett-
bewerb dastehen.

Wir hatten den Eindruck, dass die Arbeitgeber ausrei-
chend belastet sind. Die Arbeitnehmer auch. Aber die-
jenigen, die noch etwas erübrigen können und sollten,
werden mit großzügiger Förderung, vor allen Dingen
wenn sie einen niedrigen Lohn beziehen und Familie
haben, steuerlich gefördert.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sind genau die, die es nicht können!)


Das war der Ansatz von Riester.

Und zu der anderen Rechnung: Es hört sich immer
ganz toll an, wenn man sagt, wir müssten den Beitrags-
satz nur um 0,5 Prozentpunkte erhöhen und bräuchten
dann die Rente mit 67 nicht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, ist so!)


Aber das Problem verschärft sich doch. Das Problem,
dass wir weniger Beitragszahler haben, verschärft sich
mit jedem weiteren Jahr. Wenn die geburtenstarken Jahr-
gänge, zu denen ich gehöre, ins Rentenalter kommen,
dann ist oben im Rentenbezieherbereich eine große
Blase entstanden, während unten so gut wie nichts mehr
nachkommt. Wenn wir dieses Problem langfristig lösen
wollen, kommen wir nicht umhin, das Renteneintrittsal-
ter zu erhöhen und auf 67 Jahre zu gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Riester-Rente ist – ich habe es eben schon gesagt –
verteilungspolitisch korrekt, weil gerade die niedrigen
Einkommen maximal gefördert werden. Außerdem gibt
es eine hohe Förderung pro Kind. Man muss den Leuten
immer wieder sagen, dass es sinnvoll ist, mit einer
Riester-Rente vorzusorgen. Die Auszahlungen aus
Riester-Verträgen sind sozialabgabenfrei – es fallen
keine Krankenversicherungs- und keine Pflegeversiche-
rungsbeiträge an – und bei Hartz IV anrechnungsfrei.
Auch das, finde ich, ist sehr wichtig.

Wir haben eine zusätzliche Sicherheit durch die
Riester-Säule. Wir alle wissen nicht, ob wir uns die
Grundsicherung in 20 Jahren noch leisten können. Wir
gehen immer davon aus: Alle Rentner sind in Zukunft
erst einmal grundsicherungsmäßig versorgt. – Aber wer
weiß, wie in 20 Jahren die Finanzkraft des Staates aus-
sieht? Keiner weiß das!


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir wissen es! Wenn wir weiter regieren, wird sie gut aussehen! Wenn wir nicht weiter regieren, wird sie nicht gut aussehen!)


Die kapitalgedeckte Anlageform gibt uns eine zusätzli-
che Sicherheit, wenn vernünftig angelegt wird.

Noch ein Wort zur Rendite. Natürlich ist die Riester-
Rente nicht renditestark oder renditemächtig. Aber kei-
ner von uns will doch, dass man in irgendwelchen kriti-
schen Anlageprodukten riestert. Deswegen, denke ich,
ist das so sinnvoll.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718414900

Frau Kollegin.


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1718415000

Ein Satz noch. – Ich finde es auch sinnvoll, wenn wir

das im Finanzausschuss weiter debattieren. Ich bin si-
cher: Wir haben eine gute Basis. Wir könnten zu einer
Einigung kommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718415100

Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1718415200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Bei Ihrem Antrag versuchen Sie sich in
Schwarz-Weiß-Malerei.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!)


Sie haben sich ein Gut-Böse-Schema zurechtgelegt, in
das Sie dann verfallen sind.

Gut sind laut Antrag ein staatliches Rentensystem,
eine staatliche Fürsorge und eine Umlagefinanzierung;
schlecht ist alles, was irgendwie mit dem Kapitalmarkt
zu tun haben könnte.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sehen das genau umgekehrt?)


Aber – ich denke, das hat die Debatte jetzt ergeben – das
Leben ist eben nicht ganz so einfach.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es ist grau; es ist nicht digital und lässt sich nicht in ent-
sprechende Schemata pressen. Wer, sehr geehrter An-
tragsteller, soll denn beispielsweise die Staaten und
Kommunen finanzieren? Sie sägen im Prinzip den Ast
ab, auf dem Sie mit Ihrer Politik sitzen, wenn Sie das,
was im Antrag steht, konsequent zu Ende denken. Wenn
man sich das genau überlegt, ist das möglicherweise gar
keine schlechte Alternative. Aber, ich glaube, es wäre
insgesamt nicht gut für unser Land.

Wer, meine sehr geehrten Damen und Herren, soll
denn in Unternehmen investieren und am Ende Arbeits-
plätze schaffen und sichern? Da ist es doch gut, dass wir
die Kapitalsammelstellen auch und gerade der privaten
Altersvorsorge haben.

Man muss sich natürlich auch die Frage stellen: Wie
legt denn die gesetzliche Rentenversicherung ihre Mittel
an? Die hat keinen Geldspeicher irgendwo in Entenhau-
sen, sondern die geht logischerweise auch an den Kapi-
talmarkt. Die Mittel sind demzufolge ebenfalls gewissen
Risiken ausgesetzt, wenngleich dort natürlich besonders
sicher angelegt wird.





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


Am Ende des Tages hat natürlich jedes umlagefinan-
zierte System – auch das klang schon an – das Risiko der
Demografie und natürlich auch das Risiko der konjunk-
turellen Entwicklung.

Man muss das Risiko für einen Anlagezeitraum von
30 Jahren betrachten. Schauen Sie sich einmal an, wie
sich die Finanzmärkte da entwickelt haben! Denken Sie
einmal 30 Jahre weiter! Dann werden Sie bei einer
Rückschau – ich bin bereit, heute darauf zu wetten – die
Finanzkrise der Jahre 2008 ff. in einer insgesamt nach
oben weisenden Kurve als kleine Delle sehen.

Sie sagen: Die Riester-Rente lohnt sich nicht. – Das
kann sein, kann aber auch nicht sein. Das kommt eben
darauf an, und zwar auf die individuelle Situation desje-
nigen, der sich mit dem Gedanken trägt, eine Riester-
Versicherung abzuschließen. Menschen sind eben unter-
schiedlich. Die Bedürfnisse der Menschen sind unter-
schiedlich. Allglückseligmachende Lösungen gibt es nur
für den sozialistischen Einheitsmenschen, und auch der,
meine sehr geehrten Damen und Herren, hat sich gegen
Sie aufgelehnt.

Die Sparbeiträge und Zulagen sind garantiert. Garan-
tien kosten immer, und demzufolge ist die Rendite bei
einem Riester-Vertrag nicht ganz so hoch. Aber am Ende
der Laufzeit bleibt auf jeden Fall nominell mehr übrig,
als eingezahlt worden ist; denn mindestens die Beiträge
und die Zulagen müssen ausgezahlt werden. Wenn wir
uns darüber unterhalten, wie unter dem Aspekt der De-
mografie möglicherweise eine Rendite in einem umlage-
finanzierten System aussieht, dann müssen wir uns fra-
gen, ob sie am Ende so gut ist.

Klar ist: Wir müssen uns über die Probleme der
Riester-Versicherung unterhalten. Kollege Middelberg
hat das angesprochen. Die Koalition wird das tun. Wir
brauchen keine Berichte, die in der Vergangenheit
schwelgen. Sie hingegen wollen Zahlen von heute ver-
gleichen mit einem Rentenversicherungssystem aus der
Zeit vor dem Jahr 2000. Eines sage ich Ihnen: Die Welt
der Jahre vor 2000 werden Sie nicht zurückbekommen,
genauso wenig wie Sie die Welt vor dem Jahr 1989 zu-
rückbekommen werden, auch wenn Sie sich das mögli-
cherweise erhoffen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das tun wir ganz bestimmt nicht!)


Demzufolge ist dieser Antrag nichts anderes als Kla-
mauk.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ihre Rede war unsachlich!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718415300

Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1718415400

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Auf den ersten Blick geht es bei diesem Antrag
um Riester. Wenn man den Duktus des Antrags zugrunde
legt, Herr Birkwald, dann geht es nicht um Riester, son-
dern gegen die private Altersvorsorge, und zwar deswe-
gen, weil die private Altersvorsorge nicht in Ihr Weltbild
passt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, weil sie den Menschen nicht nutzt!)


Aus gutem Grund haben wir die Altersvorsorge für
Arbeitnehmer auf drei Säulen aufgebaut. Die erste Säule
ist das umlagefinanzierte gesetzliche Rentensystem. Die
zweite Säule ist die betriebliche Altersvorsorge, und die
dritte Säule ist die private Altersvorsorge.

Sie machen mit Ihrem Antrag Folgendes: Erstens. Sie
jubeln die gesetzliche Rentenversicherung in Höhen, die
sie nicht verdient hat, und ignorieren sämtliche Risiken.
Zweitens. Sie ignorieren die betriebliche Altersvorsorge.
Drittens. Sie versuchen, die private Vorsorge systema-
tisch zu diskreditieren.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Reden Sie mal mit Blüm!)


Lassen wir einmal die Fakten zur umlagefinanzierten
gesetzlichen Rentenversicherung sprechen. Wie sieht die
Situation heute aus? Die gesetzliche Rentenversicherung
ist gar nicht umlagefinanziert. Jedes Jahr geben wir dem
Rentenversicherungssystem 80 Milliarden Euro Zu-
schuss aus unserem Bundeshaushalt. Das sind mehr als
25 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes. Sie reden
aber davon, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Ren-
tenversicherung funktioniert. Das ist reiner Blödsinn,
Herr Birkwald.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich sende Ihre Rede an die Rentenversicherung!)


Heute ist die gesetzliche Rentenversicherung in ei-
nem Stadium, dass sie nur noch durch Steuerzuschüsse
funktioniert. Sehen Sie sich die heutige demografische
Situation an. Wir haben heute 20 Millionen Rentner und
30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
Alle, die in diesem Hause sitzen, wissen, wie die Situa-
tion in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Dann wird das
System erst recht nicht mehr funktionieren. Dann wer-
den aus den 80 Milliarden Euro Zuschuss – das ist ein
Dreisatz, den jeder durchführen kann – noch wesentlich
höhere Summen werden. Das haben wir hier und heute
zu verantworten.

Lassen Sie mich noch eines sagen: Die gesetzliche
Rentenversicherung ist – finanziert aus Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerbeiträgen und aus Steuereinnahmen –
höchst konjunkturanfällig.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Riester ist doch auch konjunkturanfällig!)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


Haben wir mehr Arbeitslose, so haben wir weniger Ein-
nahmen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Haben
wir eine konjunkturelle Delle, so sind wir in der Situa-
tion, dass wir Schwierigkeiten haben, den steuerlichen
Zuschuss aufzubringen. Auch das ist eine Schwäche der
gesetzlichen Rentenversicherung, die im Übrigen in dem
Mix aus den drei von mir genannten Säulen durchaus gut
ist.

Kommen wir zur zweiten Säule, zur betrieblichen Al-
tersvorsorge. Sie unterschlagen sie in Ihrem Antrag.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)


Wir hingegen setzen uns auf Brüsseler Ebene massiv da-
für ein, dass genau diese Säule gestärkt wird. Wir wür-
den uns über Ihre Unterstützung freuen.

Kommen wir zur dritten Säule, zur privaten Vorsorge.
Als Erstes kritisieren Sie, dass diese Art der Vorsorge
von Versicherungen, also von gewerblichen Unterneh-
men, abgewickelt wird, die damit Geld verdienen wol-
len. Es ist natürlich ganz schrecklich, Herr Birkwald,
wenn man mit irgendetwas Geld verdienen will. Ich
frage mich nur: Warum essen Sie eigentlich Brötchen
von jemandem, der damit Geld verdienen will? Warum
lassen Sie Ihr Auto von jemandem reparieren, der damit
Geld verdienen will? Warum steigen Sie in Flugzeuge
von Fluggesellschaften, die damit Geld verdienen wol-
len? Das, was Sie hier vortragen, ist in höchstem Maße
inkonsequent und verbohrt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 2 Prozent gegenüber 20 Prozent Verwaltungskosten, Herr Kollege!)


Ein weiterer Punkt. Sie weisen zu Recht darauf hin,
dass eine kapitalgedeckte Vorsorge mit Risiken des Ka-
pitalmarktes verbunden ist. Ich ergänze dies noch: mit
Risiken des Anbieters. Sie können nämlich an einen
schlechten Anbieter geraten. Falsch ist, dass Sie sagen:
Dieses System ist risikobehaftet, und die gesetzliche um-
lagefinanzierte Rentenversicherung ist total sicher.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sagt keiner! Aber deutlich weniger risikobehaftet!)


Das ist zu kurz gegriffen. Richtig wäre es, die Menschen
über die Risiken der kapitalgedeckten Altersvorsorge,
aber auch über die Risiken der gesetzlichen Rentenversi-
cherung zu informieren. Das machen Sie in Ihrem An-
trag nicht.

Im Übrigen weisen Sie in Ihrem Antrag auch nicht
darauf hin, was diese Koalition und diese Bundesregie-
rung in den letzten Monaten und Jahren dafür getan hat,
um die private kapitalgedeckte Altersvorsorge sicherer
und besser zu machen. Ich nenne hier nur das Anleger-
schutzgesetz aus dem Bereich des Verbraucherschutzes.
All die Maßnahmen, die die Solvenz und die Eigenkapi-
talquote von Finanzinstitutionen, die genau diese Vor-
sorge anbieten, erhöhen, unterschlagen Sie in Ihrem An-
trag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zusammenfassend kritisiere ich an Ihrem Antrag
nicht das Kommunistengeschwätz, dass es schlecht ist,
Gewinne zu machen. Das sind Sie Ihren Wählern schul-
dig,


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sie müssen doch nicht so aggressiv sein!)


und das sind Sie vielleicht auch Ihrem Selbstverständnis
schuldig. Ich kritisiere an Ihrem Antrag auch nicht, dass
Sie auf die Risiken einer kapitalgedeckten Altersvor-
sorge hinweisen. Das ist in Ordnung. Ebenso wenig kri-
tisiere ich – das ist auch von meinen Vorrednern schon
gesagt worden –, dass Sie auf die Risiken von Riester
hinweisen. Ich kritisiere jedoch, dass Sie die umlagefi-
nanzierte gesetzliche Rentenversicherung gegenüber der
privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge als das allein
selig machende Instrument hinstellen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht seligmachend, aber deutlich besser als Riester!)


Ich habe mir lange überlegt, was denn dahintersteckt.
Ist es Dummheit? Nein, das wird es nicht sein.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Überlegen Sie doch mal!)


Ist es blanker Populismus, um auf Wählerstimmenfang
zu gehen? Nein, das wird es wahrscheinlich auch nicht
sein. Vielmehr ist es Ihre Ideologie. Die Ideologie der
Linken besagt, dass alles Private schlecht ist und dass
nur der Staat in der Lage ist, zu entscheiden, wie man
Altersvorsorge betreibt und was gut und schlecht für den
Bürger ist. Das ist Ihr Menschenbild. Das unterscheidet
uns von Ihnen. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher
Seite Sie stehen möchten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mein allerletzter Punkt in dieser Rede: Für Ihren An-
trag bin ich Ihnen eigentlich sogar dankbar. Ich bin Ih-
nen deswegen dankbar, weil ich glaube, dass wir nicht
nur über die kapitalgedeckte Altersvorsorge reden soll-
ten, sondern ganz dringend auch über unsere gesetzli-
chen Sozialversicherungssysteme, und zwar sowohl über
die Rentenversicherung als auch über die Krankenversi-
cherung und die Pflegeversicherung. Wenn man seriösen
Berechnungen trauen kann, dann ist die Deckungslücke
in diesen Systemen mindestens ebenso hoch wie unsere
explizite Staatsverschuldung. Das heißt, wir schieben
Billionenbeträge vor uns her, über die kein Mensch re-
det. Das sollte für uns Anlass genug sein, die Reform in
diesem System weiter voranzutreiben.

Diese Bundesregierung und die Vorgängerregierung
haben eine Menge getan, aber leider noch nicht genug,
um die Rentenversicherung zu reformieren. Bei der
Krankenversicherung fahren wir momentan mit Anlauf
gegen die Wand. Die Pflegeversicherung ist wahrschein-
lich schon an die Wand gefahren. Deswegen kann ich Sie
alle nur bitten und auffordern, sich dieses Themas ernst-
haft anzunehmen. Insofern war Ihr heutiger Antrag viel-
leicht gar nicht so sinnlos.

Danke schön.





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Immerhin der letzte Satz war gut!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718415500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9194 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Die Feder-
führung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU
und FDP möchten Federführung beim Finanzausschuss.
Die Fraktion Die Linke wiederum wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer ist dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Überweisungsvorschlag mit dieser Federführung abge-
lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und Bündnis 90/Die Grünen. Die anderen Fraktionen ha-
ben dagegen gestimmt.

Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Feder-
führung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Federfüh-
rung beim Finanzausschuss ist angenommen bei Zustim-
mung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Bündnis 90/Die
Grünen und Linke waren dagegen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum
Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr
2012 (Nachtragshaushaltsgesetz 2012)


– Drucksachen 17/9040, 17/9649 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksachen 17/9650, 17/9651 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Sven-Christian
Kindler, Priska Hinz (Herborn), Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Energiewende und Klimaschutz solide finan-
zieren – Nachtragshaushalt nutzen

– Drucksachen 17/8919, 17/9911 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Sven-Christian Kindler

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, über
den wir später namentlich abstimmen werden, liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je ein
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, eine
Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1718415600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute haben wir wie-
der einmal einen Tag, an dem die europäische Staats-
schuldenkrise absolut im Mittelpunkt unserer Debatte
und unserer politischen Arbeit steht.

Heute Morgen haben wir uns in der Debatte zur Re-
gierungserklärung unserer Bundeskanzlerin zur Vorbe-
reitung des G-20-Gipfels mit den Diskussionspunkten
auseinandergesetzt, die sie am Montag und Dienstag in
Mexiko erwarten werden. Da geht es um Jugendarbeits-
losigkeit, um die Liberalisierung des Handels. Im Mittel-
punkt werden auch dort wieder die Staatsschuldenkrise
in Europa und das Vertrauen stehen, das die G 20 und
die ganze Welt in die Bundesrepublik Deutschland als
Anker für Stabilität und als Wachstumsmotor in der Eu-
ropäischen Union mit ganz starker weltweiter Bedeutung
setzen.

Wir haben uns heute Morgen intensiv mit den unter-
schiedlichen Positionierungen auseinandergesetzt. Wir
haben Herrn Steinmeier gehört, der immer wieder davon
gesprochen hat, dass die Bundesregierung an diesem
oder jenem Rand rote Linien überschreite. Ich kann be-
zogen auf die zwei Jahre, in denen wir hier über die eu-
ropäische Staatsschuldenkrise reden, nur feststellen, dass
die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz klar
einen roten Faden haben, den sie vom Anfang bis zum
Ende, Schritt für Schritt, Stück für Stück verfolgen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


In ihrer Regierungserklärung Anfang des Jahres 2010,
als wir uns das erste Mal intensiv mit den Herausforde-
rungen aufgrund der griechischen Krise und der Staats-
schuldenkrise in Europa beschäftigt haben, hat unsere
Bundeskanzlerin deutlich gemacht, dass wir vorüberge-
hende Rettungsmechanismen brauchen – vorüberge-
hende Schritte, um schnell handeln zu können –, dass wir
aber auch einen auf Dauer angelegten Rettungsmechanis-
mus oder Schutzmechanismus zum Eingreifen innerhalb





Stefanie Vogelsang


(A) (C)



(D)(B)


der Europäischen Union brauchen. An diesem dauerhaf-
ten Rettungsmechanismus ist jetzt zwei Jahre lange gear-
beitet worden. Am 2. Februar dieses Jahres haben die
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die
Errichtung des Rettungsschirms beschlossen. Anfang
März haben sie dann deutlich gemacht, dass sie diesen
Rettungsschirm sogar ein Jahr eher dauerhaft in Kraft tre-
ten lassen wollen.

Heute haben wir den Nachtragshaushalt auf der Ta-
gesordnung. Dieser Nachtragshaushalt dient einzig und
allein dem Ziel, die haushaltsmäßigen Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass Deutschland auch in der Frage
der Finanzierung des Europäischen Stabilitätsmechanis-
mus das Vertrauen, das unserem Land entgegengebracht
wird, rechtfertigen kann. Damit zeigen wir ganz klar:
Das, was wir zusagen, halten wir ein; das, was wir zusa-
gen, machen wir auch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben die haushaltsmäßigen Voraussetzungen da-
für geschaffen, dass wir den Europäischen Stabilitätsme-
chanismus, den wir in Europa brauchen, in fünf jährli-
chen Tranchen mit liquiden Mitteln bedienen können;
von den 80 Milliarden Euro an liquiden Mitteln entfallen
21,7 Milliarden Euro auf die Bundesrepublik Deutsch-
land. Dafür stellen wir jetzt im Nachtragshaushalt
8,7 Milliarden Euro bereit, damit wir die Bedienung des
ESM sofort über unseren Haushalt leisten können, wenn
die Regelungen zum ESM und zum Fiskalpakt in der
nächsten Plenarwoche, so hoffe ich, von uns hier im Par-
lament ratifiziert worden sind. Ich finde, mit diesem
Nachtragshaushalt im Rücken hat die Bundeskanzlerin
am Montag und Dienstag in Mexiko eine noch stärkere,
eine noch bessere Position, und das ist gut so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, gegenüber dem Regie-
rungsentwurf, den wir im Haushaltsausschuss in Ihrer al-
ler Namen intensiv beraten haben, haben wir die Netto-
neuverschuldung, die wegen der Zurverfügungstellung
dieser Mittel notwendig wird, noch einmal gesenkt. Wir
haben aktuelle Steuermehreinnahmen und Steuerminder-
einnahmen sowie Mehrausgaben und Minderausgaben
miteinander verrechnet. Das führt zu einer Reduzierung
der Nettokreditaufnahme, wie sie im Regierungsentwurf
vorgesehen ist. Damit hat der Haushaltsausschuss einen
positiven Beitrag dazu geleistet, dass wir die Schuldensi-
tuation unseres Landes verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben die Ausgaben im Bundeshaushalt erhöht
und liegen jetzt bei Ausgaben in Höhe von 312 Milliar-
den Euro. Das ist ein riesiger Batzen. Aber wir werden
aller Voraussicht nach nicht erst 2016, sondern schon im
Jahre 2014 die zwingenden Bedingungen der Schulden-
regel, die wir in die Verfassung geschrieben haben, ein-
halten können. Wir setzen mit dem Nachtragshaushalt
das richtige Signal in Richtung der Staats- und Regie-
rungschefs der Europäischen Union. Das ist ein gewisses
Maß an Stärke, die die Bundesregierung zum G-20-Tref-
fen nach Mexiko mitnehmen kann.

Im Zuge der Verhandlungen zum Nachtragshaushalt
haben wir uns mit den Argumenten der Opposition aus-
einandersetzen müssen. Vom Anfang bis zum Ende hieß
es, wir hätten nicht genug gespart, die Sparanstrengun-
gen seien nicht rigide genug, wir müssten mehr Kürzun-
gen vornehmen, in diesem oder jenem Bereich müssten
wir Ausgaben reduzieren. Nun haben wir heute Morgen
hier sozusagen auf offener Bühne von Herrn Steinmeier
gehört, dass wir uns nicht nur mit Sparen, sondern auch
mit Wachstumsdynamiken beschäftigen müssen.

Hier komme ich wieder auf die rote Linie unserer
Bundeskanzlerin zurück. Schon bei der ersten Regie-
rungserklärung zur Griechenlandproblematik im Jahr
2010 ist deutlich geworden, dass wir alle Anstrengungen
unternehmen müssen, um in den strukturschwachen
Ländern der Europäischen Union alle potenziellen
Wachstumskräfte freizusetzen, damit Wohlstand für alle
Menschen in Europa Wirklichkeit werden kann. Zum da-
maligen Zeitpunkt kam von der Seite der Opposition der
Vorwurf: Ihr könnt euch doch nicht immer nur mit dem
Bruttoinlandsprodukt und mit Wachstum beschäftigen.
Glücklich sein, das ist doch mehr als nur Wachstum. Wir
brauchen eine moderne Politik, in der wir viele andere
zusätzliche Aspekte berücksichtigen müssen. – Später
rückte der Begriff Wachstumserfordernis in den Hinter-
grund, und wir wurden geradezu verdeibelt, das Brutto-
inlandsprodukt, das ein wesentlicher Indikator für die
soziale Sicherung in unserem Lande ist, hintanzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heute hingegen wird von der SPD – von Herrn
Steinmeier und allen, die heute Morgen geredet haben –
deutlich anerkannt:


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Herr Schäuble hat das aber anders beschrieben!)


Um soziale Sicherung und gesundheitliche Versorgung
garantieren zu können – wir haben gestern über das ma-
rode griechische Gesundheitssystem debattiert –, brau-
chen wir ein hohes Bruttoinlandsprodukt in den Ländern
der Europäischen Union, und dafür brauchen wir Wachs-
tum.

Sowohl der heute zu verabschiedende Nachtragshaus-
halt als auch der Haushaltsentwurf, den wir ursprünglich
aufgestellt hatten, sind ein klares Zeichen dafür, dass wir
verstanden haben, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland beide Seiten der Medaille im Blick behalten
müssen: Wir müssen auf der einen Seite Wachstumsim-
pulse an unterschiedlichsten Stellen setzen und auf der
anderen Seite die Haushaltskonsolidierung – also nicht
länger Wirtschaften auf Pump – mit Blick auf die Kos-
ten, die die künftigen Generationen zu tragen haben, im
Blick behalten.

Wir haben kleine Sondermaßnahmen vorgesehen. Wir
haben es anders gemacht als die SPD, die früher von An-
fang an geschönte Zahlen vorgelegt hat und dann billi-
gend in Kauf genommen hat, dass man durch einen
Nachtragshaushalt nachjustieren muss. Wir haben kon-
servativ ermittelte Zahlen zugrunde gelegt, wodurch
man die eine oder andere Schwerpunktsetzung noch
vollziehen kann.






(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718415700

Frau Kollegin.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1718415800

Ich möchte noch einen kleinen Gedanken formulie-

ren, der mir sehr wichtig ist. Im Haushalt des Staatsmi-
nisters für Kultur haben wir 25 Millionen Euro Mehraus-
gaben angesetzt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Jawohl!)


Wir haben 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, da-
mit in unserer schönen Hauptstadt ein Museum für klas-
sische Moderne entstehen kann.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718415900

Frau Kollegin.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1718416000

Ein Sammlerpaar hat der Stadt Berlin und der Stiftung

Preußischer Kulturbesitz eine ganz tolle Ausstellung, ein
wahres Juwel, geschenkt. Wir als Bund leisten unseren
Beitrag und werden unserer Verantwortung für die
Hauptstadt gerecht, indem wir diesen kulturpolitischen
Schwerpunkt setzen. Das ist etwas, was mich neben der
Staatsschuldenkrise stark bewegt hat und worüber ich
mich sehr gefreut habe.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718416100

Carsten Schneider hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1718416200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Frau Kollegin Vogelsang, Ihrer letzten Äu-
ßerung zum kulturellen Erbe Berlins schließe ich mich
an. Diesbezüglich haben wir auch zugestimmt. Abgese-
hen davon ist aber vieles von dem, was Sie gesagt haben,
nicht durch das gedeckt, was Sie hier beschließen wer-
den.


(Otto Fricke [FDP]: Mach einmal einen Ausgabenkürzungsvorschlag!)


Ihre Aussagen zu einer angeblichen Neujustierung
der Finanzpolitik bzw. zu einem Schuldenabbau – dieses
Wort haben Sie hier tatsächlich benutzt; man kann das
im Protokoll noch einmal nachlesen – sind durch die
Realität überhaupt nicht gedeckt; denn mit dem Nach-
tragshaushalt, den Sie hier zur Abstimmung vorlegen,
wird die Neuverschuldung gegenüber dem Jahr 2011
verdoppelt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht! – Otto Fricke [FDP]: Verdoppelt? Nicht ganz!)


Die Neuverschuldung steigt von 17 Milliarden Euro im
Jahr 2011 auf 32 Milliarden Euro.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So gut können Sozialdemokraten rechnen! 17 plus 17 gleich 32! Das erzähl mal den Kindern!)


Das ist Fakt.

Ich gestehe gerne zu: 8 Milliarden Euro davon sind
Mehrausgaben aufgrund des Europäischen Stabilitätsme-
chanismus. Trotzdem – das wird auch Ihnen auffalle –
sind das immer noch 6 Milliarden Euro mehr, und das,
obwohl Sie für 2012 ein stärkeres Wirtschaftswachstum
als 2011 prognostizieren.

Sie haben mehr Steuereinnahmen. Wir hatten wieder
Rekordsteuereinnahmen. Die FDP hat in solchen Fällen
früher immer gefordert, dass die Steuern gesenkt wer-
den; das sagt sie jetzt nicht mehr so laut.


(Otto Fricke [FDP]: Welche Ausgaben wollen Sie kürzen?)


Außerdem sind die Kosten für die sozialen Sicherungs-
systeme gesunken, weil sich die Situation auf dem Ar-
beitsmarkt verbessert hat. Das sind die zwei Hauptblö-
cke.

Dann kommt noch ein dritter Block hinzu: Auch die
Zinsausgaben sind gesunken. Deutschland ist der Profi-
teur der Euro-Krise.


(Zuruf von der SPD: So ist es! – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch Quatsch!)


So billig, wie wir uns derzeit verschulden können, kann
sich kein anderes Land verschulden. Dadurch sparen Sie
noch einmal 2 Milliarden Euro. Trotzdem steigt die Neu-
verschuldung gegenüber dem letzten Jahr um 6 Milliar-
den Euro. Das ist ein Offenbarungseid.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Finanzpolitik sind Sie kläglich gescheitert.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718416300

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Barthle zulassen?


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1718416400

Ja, natürlich. Ich glaube, er möchte meinem letzten

Satz zustimmen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718416500

Bitte schön.


Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1718416600

Herr Kollege Schneider, wenn Sie von einem „Offen-

barungseid“ sprechen und sagen, dass die Neuverschul-
dung steige, dann vergleichen Sie die Sollzahlen des
Jahres 2012 mit den Istzahlen des Jahres 2011. Da Sie
diesen Vergleich anstellen, möchte ich Sie fragen, ob Sie
auch behaupten würden, dass die Verschuldung im Jahr
2011 im Vergleich zur Verschuldung im Jahr 2010 eben-
falls gestiegen ist. Denn wenn man Soll und Ist ver-





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


gleicht, kann man zu dem Schluss kommen, dass das so
ist.

Tatsächlich ist es aber so, dass wir für das Jahr 2010
eine Neuverschuldung von 80 Milliarden Euro als Soll
geplant hatten. Im Ist lagen wir dann bei 44 Milliar-
den Euro. Im Jahr 2011 sind wir mit einem Soll von
48 Milliarden Euro gestartet. Gelandet sind wir bei ei-
nem Ist von 17 Milliarden Euro. Dieses Jahr starten wir
mit einem Soll von 32 Milliarden Euro. Wo wir am Jah-
resende landen werden, wissen weder Sie noch ich. Des-
halb halte ich diesen Vergleich für nicht redlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1718416700

Herr Kollege Barthle, eines ist klar: Sie machen jetzt

einen Haushaltsvoranschlag, eine Ermächtigung für die
Regierung.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Bleib bei der Wahrheit, Carsten!)


Sie wissen aber, dass die Bundeshaushaltsordnung Ihnen
vorschreibt – daran sollten Sie sich halten; ich glaube,
das tun Sie auch –, dass Sie exakt die Mittel einstellen,
die nach Ihrer Ansicht gebraucht werden.


(Otto Fricke [FDP]: Maximal!)


Dabei geht es um Haushaltswahrheit und -klarheit. Der
entscheidende Punkt ist, dass wir uns schon in der Mitte
des Jahres befinden. Das heißt, wir wissen schon sehr
exakt, wo der Hase langläuft und wo wir in etwa landen
werden.

Die entscheidenden großen Posten habe ich Ihnen ge-
nannt: Steuereinnahmen und Sozialausgaben sind die
beiden größten Posten. Die entsprechenden Zahlen ste-
hen fest. In beiden Bereichen gibt es eine Entlastung. Sie
haben nämlich mehr Steuereinnahmen und geringere So-
zialausgaben.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: 8,7 Milliarden nach Europa!)


Trotzdem steigt die Neuverschuldung um 6 Milliar-
den Euro. Das geht einfach nicht. Das zeigt, dass Sie das
Geld verschludern und sich nicht wirklich darum bemü-
hen, sauber und solide zu arbeiten.


(Beifall bei der SPD – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Kennen Sie den Unterschied zwischen Soll und Ist? – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Bleib bei der Wahrheit!)


Wenn Sie es nicht einmal in einer Hochphase der
Konjunktur schaffen, den Haushalt auszugleichen, was
soll denn dann passieren, wenn wir wieder einen Ein-
bruch erleben?


(Otto Fricke [FDP]: Was sagt uns das für NRW?)


Niemand weiß, wie dieses Jahr laufen wird. Wir haben
hohe Unsicherheiten bezüglich der ökonomischen Lage
in der Euro-Zone, in den USA, in China etc. Keiner
weiß, wie es sich entwickeln wird. Umso wichtiger wäre

es, heute damit zu beginnen, die Schulden des letzten
Konjunkturprogramms zu tilgen, um, wenn es wieder
schlechter läuft, Luft zum Investieren zu haben. Diese
Luft nehmen Sie uns, weil Sie ein Geschäftsmodell fah-
ren, wie es die Hypo Real Estate in ihren schlechtesten
Zeiten getan hat.


(Beifall bei der SPD – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Herr Kollege Schneider, ist das nicht ein bisschen vergriffen?)


– Woran ist die Hypo Real Estate gescheitert? Sie hat
sich kurzfristig refinanziert und hatte langfristig hohe
Lasten. Was tun Sie? Anstatt die langfristige günstige
Refinanzierung zu nutzen, sich zum Beispiel für
30 Jahre zu verschulden und dafür 3 Prozent zu zahlen,


(Otto Fricke [FDP]: Aha!)


nutzen Sie jede Möglichkeit, sich kurzfristig, für nur ein
oder zwei Jahre, bei ganz niedrigen Zinsen – diese liegen
fast bei null – zu verschulden, um mithilfe dieser Zins-
ersparnis Ihre Klientel zu beglücken.


(Otto Fricke [FDP]: Die Laufzeiten haben sich verlängert! Das weißt du auch!)


Das führt aber dazu, dass die Abhängigkeit des Bundes-
haushalts und die Volatilität noch viel größer werden.
Bei einem Wirtschaftseinbruch wären wir auch noch mit
verschlechterten Zinsniveaus konfrontiert.

Daran sehen Sie, dass Sie vollkommen unsolide und
unverantwortlich haushalten und dass Sie der nächsten
Bundesregierung, dem nächsten Bundestag kein ge-
machtes Nest hinterlassen. Vielmehr türmen sich schon
heute die Probleme vor den Türen.

Deswegen sage ich: Dieser Haushalt ist eine Bank-
rotterklärung des Bundesfinanzministers. In der Haus-
haltspolitik hat er seine Ziele bei weitem nicht erreicht.
In der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben, ha-
ben Ihre Sachverständigen klar gesagt, dass Sie das
Sparpaket, das Sie vorgelegt haben, gerade einmal zur
Hälfte umgesetzt haben. Der Rest der Konsolidierung,
der Rückgang der geplanten Neuverschuldung, geht ein-
zig und allein auf konjunkturelle Sondereffekte zurück.

Die Konjunktur ist mal gut und mal schlecht.


(Zuruf des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/ CSU])


Zurzeit ist die Konjunktur gut, aber sie kann auch wieder
schlecht werden. Dann steigt das strukturelle Defizit.
Dann stehen wir vor der Situation, dass die Schulden, die
Sie heute machen, zu Steuererhöhungen oder Minder-
ausgaben bzw. Kürzungen führen werden. Das ist unso-
lide.


(Beifall bei der SPD – Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Der Finanzminister heißt heute nicht mehr Eichel oder Steinbrück, Herr Schneider! Da war das so!)


Das ist überhaupt kein Vorbild für die anderen Länder in
Europa, denen Sie gerne vorhalten, sie würden nicht
richtig sparen. Im Gegenteil: Das tun sie zum großen
Teil. Deutschland hingegen ist das Land, das am meisten





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)


prasst. Deswegen taugen Sie und die Finanzpolitik
Deutschlands hier nicht als Vorbild.


(Otto Fricke [FDP]: Wir prassen?)


– Ich kann Ihnen das klar sagen, Herr Kollege Fricke:
Sie prassen. Sie machen miese Geschäfte.


(Otto Fricke [FDP]: Oi!)


Nehmen Sie den letzten Koalitionsgipfel im Kanzler-
amt als Beispiel. Was ist da vereinbart worden?


(Otto Fricke [FDP]: Nichts zum Nachtragshaushalt! Gar nichts zum Nachtragshaushalt! Null zum Nachtragshaushalt!)


Da ist – entgegen dem geballten Sachverstand und dem
gesunden Menschenverstand – vereinbart worden, dass
in Deutschland ein Betreuungsgeld eingeführt werden
soll. Dies bedeutet 1,2 Milliarden Euro Mehrausgaben.


(Otto Fricke [FDP]: Im Nachtragshaushalt?)


Gegenfinanzierung? Null. Was hat die FDP als Gegen-
leistung dafür bekommen? Dass eine private Pflegever-
sicherung über Steuervergünstigungen bezuschusst wird.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Regierungsentwurf lesen! Das stimmt nicht!)


Sie können sich ja nur noch einigen, wenn es darum
geht, das Geld fremder Leute auszugeben oder Kredite
aufzunehmen.


(Otto Fricke [FDP]: Bleib beim Thema!)


Dazu sind Sie noch in der Lage. Dies ist aber keine ange-
messene Antwort auf die Situation, in der wir uns befin-
den. Es ist mehr oder weniger ein Dahinsiechen. Sie
können quasi nur noch existieren, weil die Konjunktur in
Deutschland brummt. Müssten Sie wirklich harte Ent-
scheidungen treffen, wären Sie bereits am Ende. Sie
können nur noch über das Verteilen reden.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben dem ein klares und ehrliches Programm
entgegengesetzt. Wir wollen die Risiken, die sich aus
den Krediten, die wir Griechenland aufgrund Ihrer Be-
schlusslage gegeben haben – diese betragen insgesamt
15 Milliarden Euro –, absichern. In unserem Programm
sehen wir die Tilgung des Konjunkturfonds vor. Dabei
geht es um mehr als 2,3 Milliarden Euro. In guten Zeiten
muss man die Schulden der Vergangenheit zurückzahlen.
Bei Ihnen findet sich dazu gar nichts. Das haben Sie ein-
fach so hingenommen. Darauf zahlen wir Zinsen, und
nichts wird getilgt.

Wir wollen all dies auf zwei Wegen finanzieren, und
zwar über einen konsequenten Subventionsabbau und
eine Verbreiterung der Steuereinnahmebasis. Wir wollen
zum einen ökologisch bedenkliche Subventionen ab-
bauen und zum anderen das von Ihnen, und zwar von der
FDP, eingeführte Hotelsteuerprivileg im Mehrwertsteu-
erbereich abschaffen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Mövenpick-Steuer!)


Sie haben sich zwar davon distanziert, aber immer noch
gilt der verminderte Mehrwertsteuersatz für das Über-
nachtungsgewerbe.

Meine Damen und Herren, in der Finanzpolitik haben
Sie nichts wirklich Substanzielles geleistet. Die Steuer-
politik des Bundesfinanzministers beschränkt sich auf
Nichtstun. Die Hände werden in den Schoß gelegt. Wenn
ich mir vor Augen führe, wie Sie früher getönt haben
– ich erinnere nur an Ihr Sparbuch –,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Oh ja! Das gelbe Sparbuch!)


muss ich feststellen: Nichts davon haben Sie tatsächlich
umgesetzt. Von daher ist dies ein verlorenes Jahr für
Deutschland, ein Jahr, das uns später noch teuer zu ste-
hen kommen wird.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE] und SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718416800

Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1718416900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nichts von dem, was Carsten Schneider eben vorgetra-
gen hat, entspricht der Realität.


(Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ CSU] – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Aber es entspricht der Wahrheit!)


Ich will das an einem Punkt deutlich machen. Es ist
schon starker Tobak, zu behaupten, dieser Nachtrags-
haushalt sei die Bankrotterklärung des Bundesfinanz-
ministers. Ich halte Ihnen Folgendes vor: Vor einem Mo-
nat wurde Wolfgang Schäuble der Karlspreis der Stadt
Aachen verliehen. Das ist eine sehr große Auszeichnung,
zu der wir als FDP-Fraktion dem Bundesfinanzminister
recht herzlich gratulieren.


(Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Ich werde das gerne weiterleiten!)


Er ist damit für sein Engagement zur Stabilisierung der
Währungsunion ausgezeichnet worden. Der Vorsitzende
der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, bezeichnete
Schäuble in seiner Laudatio


(Zuruf von der SPD: Was hat denn das mit dem Nachtragshaushalt zu tun?)


– das werden Sie sich ja wohl anhören können – als
deutschen und europäischen Patrioten. Er sagte: „Er
schindet sich, er bemüht sich, er kämpft.“ Das ist eine
große Anerkennung, und das gilt für die gesamte Regie-
rung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Aussage be-
legt noch etwas anderes – hier sind Sie nämlich auf dem
falschen Dampfer –: Man muss nicht deutsche Interessen
aufgeben, um ein leidenschaftlicher Europäer zu sein.

Heute steht der Nachtragshaushalt 2012 zur Abstim-
mung. Erneut sieht man den Unterschied zwischen die-
ser Koalition und Rot-Grün. Wie war die Situation denn
unter Rot-Grün? Sie haben mehrfach Nachtragshaus-
halte vorgelegt. Sie haben sich jedes Mal bis zum Jahres-
ende durchgewurstelt, um Ihren Nachtragshaushalt dann
irgendwann im November oder Dezember, wenn es nicht
mehr anders ging, vorzulegen. Das war Ihre Politik. Wir
hingegen beachten die Prinzipien der Haushaltswahrheit
und der Haushaltsklarheit. Die Zahlen in den von Ihnen
zu verantwortenden Bundeshaushalten waren immer ge-
schönt. Deswegen mussten Sie immer wieder Nachtrags-
haushalte vorlegen. Bei uns wird nichts geschönt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Jeder Bürger kann erkennen, dass die Grundsätze der
Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit eingehal-
ten werden. Selbstverständlich hat auch unser Nach-
tragshaushalt unangenehme Inhalte. Die Begeisterung ist
natürlich nicht allzu groß. In diesem Nachtragshaushalt
sind zum Beispiel 8,7 Milliarden Euro für die Ausstat-
tung des ESM enthalten. Das ist notwendig, und das ma-
chen wir.

Außerdem – auch das hat mit der Krise in einigen eu-
ropäischen Staaten zu tun – fällt der Bundesbankgewinn
leider nicht so hoch aus wie erwartet. Auch dies ist im
Nachtragshaushalt berücksichtigt worden. Positiv ist,
dass die Zinslast im Hinblick auf die Bundesanleihen um
über 1 Milliarde Euro reduziert werden kann. Das be-
deutet aber nicht, dass wir von der Euro-Krise profitie-
ren.


(Bernd Scheelen [SPD]: Ach nein? Warum denn nicht?)


Das, was der Kollege Schneider hier erzählt hat, ist wirk-
lich dummes Zeug. Das kann er doch selbst nicht glau-
ben.

Ich frage die Opposition: Warum können Sie diesem
Nachtragshaushalt nicht zustimmen? Warum wollen Sie
ihn ablehnen? Ich sage Ihnen, warum: weil Sie einen
ganz anderen Kurs einschlagen wollen. Sie wollen, dass
sich der Bund wieder stärker verschuldet, wie es Ihr Par-
teivorsitzender angedeutet hat.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Was? Wer sagt denn so etwas?)


– Ihr Parteivorsitzender hat doch von uns gefordert, über
12 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, um die
Kommunen zu entlasten. Wo würden Sie diesen Betrag
im Bundeshaushalt unterbringen? Oder wollen Sie etwa
Steuererhöhungen?


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Was ist los? Steuererhöhungen?)


Sie wollen, dass sich Europa weiter verschulden darf
und Deutschland dafür zahlt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Das ist Ihre Politik. Dabei machen wir aber nicht mit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie wollen Steuermehreinnahmen durch Steuererhö-
hungen generieren. Auch wir wollen Steuermehreinnah-
men erzielen; das ist klar. Wer will das nicht? Aber wir
wollen das durch gute Wirtschaftspolitik


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal anfangen mit der guten Politik!)


und durch gute Rahmenbedingungen vor allem für den
Mittelstand erreichen. Das bringt Geld in die Kasse, aber
nicht Steuererhöhungen, wie Sie sie teilweise fordern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die SPD hat einen recht witzigen Entschließungsan-
trag eingebracht. Darin fordern Sie uns auf, die Schul-
denbremse auch im Geiste und Sinn des Gesetzes einzu-
halten.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Warum ist das denn witzig?)


Wissen Sie was? Diesen Antrag sollten Sie mal nach
Nordrhein-Westfalen und nach Schleswig-Holstein schi-
cken.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Nordrhein-Westfalen muss für die WestLB in diesen Ta-
gen zusätzlich 1 Milliarde Euro in die Hand nehmen.
Woher nehmen sie dieses Geld? Sie werden den Steuer-
zahler damit belasten, niemand anderen. In der Kasse
des Landes ist dieses Geld jedenfalls nicht vorhanden.

Ein anderes Beispiel: Schleswig-Holstein. Sie bekla-
gen, dass die Situation der Kommunen teilweise schlecht
ist. Kollegin Hagedorn – in Schleswig-Holstein gibt es ja
jetzt eine Dänen-Ampel –, ich habe Ihnen ein Zitat mit-
gebracht. In der Zeitung war zu lesen: „Entsetzen in Lü-
beck: Albig streicht … 250 Millionen Euro.“ Da geht es
um kommunale Finanzen.

Hier machen Sie den Biedermann, und draußen ma-
chen Sie den Brandstifter und rufen nach der Feuerwehr.
Das ist Ihre Politik. Das machen wir nicht mit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr angetan
von diesem Nachtragshaushalt, weil er eines dokumen-
tiert


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie schlecht Ihre Politik ist!)


– das sollten Sie nicht vergessen; kein positives Wort ha-
ben Sie darüber verloren –: Die Konjunktur in Deutsch-
land läuft gut.


(Bernd Scheelen [SPD]: Und deswegen macht ihr mehr Schulden, oder?)






Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben weniger Arbeitslose, und die Jugendarbeitslo-
sigkeit ist auf einem niedrigen Niveau. Darüber sollten
wir uns alle einmal freuen, statt nur zu mäkeln, wie Sie
es tun. Diesem Nachtragshaushalt können Sie gerne zu-
stimmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718417000

Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat jetzt das Wort

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718417100

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Mit diesem Nachtragshaushalt soll
der deutsche Beitrag für den Europäischen Stabilitätsme-
chanismus, ESM, bereitgestellt werden. So wurde es ja
schon vorgetragen. Es geht aber um viel mehr. Es geht
um die Frage, ob der Euro dieses Jahr überleben wird.

Die Bundesregierung wird von Regierungen und
Währungsexperten aus der ganzen Welt aufgefordert,
endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden, mutig
zu handeln und den Euro zu retten. Doch alle Hilferufe
und Ermahnungen prallen an dieser Regierung ab. Sie
handelt engstirnig und verantwortungslos. Das muss
endlich ein Ende haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Nicht nur wir als Linke halten den ESM und den Fis-
kalpakt für völlig ungeeignet, die Euro-Krise zu lösen;
Fiskalpakt und ESM sind nun einmal zwei Seiten einer
Medaille. Nein, ganz im Gegenteil: Der Fiskalpakt führt
Europa noch tiefer in die Krise. Wir sehen doch in Grie-
chenland, welche verheerenden Auswirkungen die Kür-
zungspolitik hat, wie die Menschen dort unter ihr leiden
müssen.

Das Kürzungsdiktat führt in Griechenland gerade
dazu, dass die medizinische Versorgung zusammen-
bricht. Trotzdem – so wollen Sie es – sollen die Griechen
in diesem Jahr noch 1,1 Milliarden Euro bei den Ausga-
ben für Medikamente kürzen. Diese unglaubliche Bruta-
lität gegen Griechenland hat doch nur eine Funktion: Sie
soll nicht den Griechen aus der Krise helfen, sondern es
soll eine Drohkulisse für alle anderen Krisenländer auf-
gebaut werden, und das ist verantwortungslos.


(Beifall bei der LINKEN)


Durch die Bankenkrise in Spanien wird doch nur zu
deutlich, dass der ESM nicht funktionieren wird. Marode
spanische Banken wollen nun 100 Milliarden Euro ha-
ben. Hat uns die Bundesregierung nicht immer erklärt,
dass wir keine Bankenkrise, sondern eine Staatsschul-
denkrise haben?


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist in Spanien so!)


Mit dieser Begründung wurden drastische Kürzungs-
maßnahmen in Spanien beschlossen. Seit 2011 wurden
die Renten eingefroren, Löhne und Investitionen ge-
kürzt.

Ich frage Sie: Haben der Sozialabbau in Spanien und
die Kürzung der öffentlichen Investitionen irgendetwas
zur Gesundung der Banken dort beigetragen? Nein, na-
türlich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wirtschafts-
krise in Spanien verschärft sich täglich. Die Jugendar-
beitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Die Menschen haben
dort keine Zukunft. Hier können wir doch nicht länger
zusehen.


(Beifall bei der LINKEN)


In diesen Tagen verhandeln die Bundesregierung und
die Opposition über den Fiskalpakt. SPD und Grüne wol-
len dem Fiskalpakt – so haben wir es gelesen – zustim-
men, wenn die Bundesregierung einen Beschluss über die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer fasst. Wir glau-
ben den vagen Absichtserklärungen der Bundesregierung
nicht. Wir wollen Klarheit und Verbindlichkeit. Darum
hat unsere Fraktion den Antrag eingebracht, die Finanz-
transaktionsteuer im Nachtragshaushalt aufzunehmen.
Wenn Sie es mit der Umsatzsteuer auf Finanzprodukte
also ernst meinen, meine Damen und Herren von Union
und FDP, dann dürfte die Zustimmung zu unserem Antrag
doch kein Problem sein.


(Beifall bei der LINKEN)


SPD und Grüne haben unseren Antrag im Haushalts-
ausschuss unterstützt. Die Regierungskoalition hat ihn
abgelehnt. Was soll man davon halten? Ist es Ihnen ernst
mit der Finanztransaktionsteuer oder nicht?

Meine Damen und Herren, wir als Linke fordern diese
Steuer schon sehr lange. Wir wissen aber auch, dass der
Fiskalpakt dadurch kein bisschen besser wird. Wir sagen
Ja zur Finanztransaktionsteuer, wir sagen Ja zur Regulie-
rung der Finanzmärkte, aber wir sagen ganz deutlich
Nein zum Fiskalpakt.


(Beifall bei der LINKEN)


Und Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, kann ich vor windigen Geschäften mit der
Bundesregierung nur warnen. Lassen Sie sich nicht auf
krumme Geschäfte mit dieser Teppichhändlerkoalition
ein. Lehnen Sie nicht nur den Nachtragshaushalt, son-
dern auch den Fiskalpakt ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach Auskunft der EU-Kommission von Dienstag
kann übrigens die Finanztransaktionsteuer noch im Jahr
2012 eingeführt werden, wenn im Juli mindestens neun
Länder einen entsprechenden Antrag einbringen. Da so-
wohl die Bundeskanzlerin als auch Herr Schäuble so oft
davon gesprochen haben, dass sie persönlich doch für
diese Steuer seien, fordere ich Sie auf: Bringen Sie noch
heute den Antrag zur Einführung der Finanztransaktion-
steuer bei der EU ein. Dann wissen wir, dass Sie es ernst
meinen.


(Beifall bei der LINKEN)


8,7 Milliarden Euro, die heute für den Rettungsschirm
beschlossen werden sollen, sind nicht nur viel Geld für
ein falsches Projekt, sondern sie bedeuten auch ein We-
niger an Demokratie. Glaubt hier wirklich jemand im
Ernst, dass der Bundestag oder irgendein anderes Parla-





Dr. Gesine Lötzsch


(A) (C)



(D)(B)


ment in der Lage sein wird, den ESM so zu überwachen,
wie es nötig wäre? Ich glaube es nicht. Wenn Sie diesen
Beschluss fassen, werden wir alle am Ende eines Besse-
ren belehrt werden.

In Anbetracht der dramatischen Situation, in der sich
die Europäische Union befindet, brauchen wir sehr mutige
Entscheidungen des Deutschen Bundestages. Wir müs-
sen endlich damit aufhören, marode Banken zu retten.
Wir müssen gesunde Unternehmen und damit Millionen
von Arbeitsplätzen retten. Dafür brauchen wir ein star-
kes europäisches Investitionsprogramm. Das wäre der
richtige Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Erinnern wir uns gemeinsam an das Jahr 2008. Da-
mals wurde, übrigens auch auf Drängen der Fraktion Die
Linke, ein Konjunkturprogramm, ein Investitionspro-
gramm, aufgelegt. Die Banken hatten damals total ver-
sagt. Eine Kreditklemme drohte gesunde Unternehmen
zu zerstören. Direkte staatliche Hilfe hat damals unzäh-
lige Unternehmen und Arbeitsplätze in Deutschland ge-
rettet. Ein solches Programm brauchen wir für ganz Eu-
ropa und keine Kürzungspolitik!


(Beifall bei der LINKEN)


Deutschland kann einen Beitrag zu einem solchen Pro-
gramm leisten.

Wir haben es schon gehört – diese Aussage ist völlig
richtig –: Deutschland profitiert im Augenblick von der
Euro-Krise. Die Financial Times Deutschland schätzt,
dass wir in den nächsten fünf Jahren wegen der günsti-
gen Zinssituation für Deutschland 100 Milliarden Euro
weniger ausgeben müssen.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Du solltest doch lieber Neues Deutschland lesen!)


Damit zieht die Bundesrepublik Deutschland, gewollt
oder ungewollt, aus der Notlage der anderen Länder ei-
nen Gewinn.

Aber ich sage Ihnen: Es ist nicht nur die moralische
Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, dieses Geld zu
nutzen, um den Krisenländern zu helfen, sondern es
wäre auch eine Tat zu eigenem Nutzen; denn wenn wir
den Krisenländern jetzt nicht helfen, dann werden wir ei-
nes Tages selbst ein Krisenland sein. Das will die Linke
verhindern. Wir lehnen den Nachtragshaushalt ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718417200

Sven-Christian Kindler hat das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Vogelsang von der Union hat vorhin da-
von gesprochen, Angela Merkel verfolge in der Europa-
politik eine rote Linie. Ich kann mich erinnern, wie es

die letzten drei Jahre hier im Bundestag war: Das, was
diese Koalition gemacht hat, war immer zu spät und im-
mer zu wenig. Das war ein Zickzackkurs. Dies und die
Austeritätspolitik haben die Krise in Europa verschärft.
Das war keine rote Linie, das war ein schwarz-gelber Irr-
weg in der Europapolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist doch lächerlich, was Sie erzählen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Der Irrweg kam doch von Ihnen vor zehn Jahren!)


Das zeigt auch dieser Nachtragshaushalt. Bestehende
Chancen wurden mit diesem Nachtragshaushalt nicht ge-
nutzt.

Ich stelle für die Grünen fest: Wir sind dafür, dass das
Inkrafttreten des ESM vorgezogen wird. Das haben wir
auch beantragt. Denn wir halten einen dauerhaften Ret-
tungsmechanismus für sinnvoll; dies kann ein erster
Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Währungs-
fonds sein. Deswegen unterstützen wir, dass die Gelder
eingezahlt werden.

Das Problem ist jetzt aber, dass die Bereitstellung die-
ser Mittel vollständig über eine Neuverschuldung finan-
ziert wird, obwohl die Konjunkturlage extrem gut ist und
die Zinsen historisch niedrig sind. Dieser Nachtrags-
haushalt zeigt eben auch: Es gibt keine Verbesserung bei
den Ausgaben. Es gibt keine strukturellen Einsparungen.
Es gibt keine Konsolidierung. Es gibt keine Mehreinnah-
men. Auch dieser Nachtragshaushalt ist ein Irrweg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt kommen doch bestimmt noch die Sparvorschläge!)


– Ich komme gleich zu den Sparvorschlägen, Schorsch.

Die Konsequenz muss sein: Wir müssen jetzt die
Schulden begrenzen und sie abbauen. Die fiskalische
Verschuldung müssen wir angehen. Wir müssen zum
Beispiel Subventionen abbauen. Es gibt eine Reihe von
klimaschädlichen Subventionen, die wir abbauen kön-
nen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal dem grünen Ministerpräsidenten, Herrn Kretschmann!)


Wir müssen strukturelle Einsparungen im Haushalt
vornehmen und zum Beispiel die konjunkturellen Ef-
fekte nutzen. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass
die durch diese Krise verursachten Schulden gerecht ab-
gebaut werden. Wir haben als Grüne dafür ein Konzept
vorgelegt. Wir wollen eine Vermögensabgabe. Für die
nächsten zehn Jahre wollen wir von den Millionären in
diesem Land 100 Milliarden Euro einnehmen, um die
durch die Bankenkrise verursachten Schulden finanzie-
ren zu können. Wir wollen, dass es in diesem Land ge-
recht zugeht. Deswegen müssen die Millionäre ihren
Beitrag leisten.





Sven-Christian Kindler


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben gemeinsam mit der SPD eine Anhörung
zum Nachtragshaushalt beantragt. Kollege Schneider hat
es schon gesagt: Die Bundesbank und der Bundesrech-
nungshof haben Vorschläge gemacht. In den Stellung-
nahmen gab es vernichtende Kritik an der Koalition.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)


– Gucken wir uns das Sparpaket doch einmal an, Kol-
lege Koppelin. Was ist aus dem Sparpaket geworden? Es
gab die unsozialen Einschnitte beim Elterngeld für
ALG-II-Empfängerinnen. Die Eingliederungshilfe für
arbeitslose Menschen wurde rasiert. Was gab es noch?
Es wurde fast nichts umgesetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was war denn? Einnahmen aus der Finanztransaktion-
steuer sind bisher nicht geflossen. Dazu mussten wir Sie
im Bundestag immer treiben. Einnahmen aus der Brenn-
elementesteuer sind nicht so geflossen wie geplant.

Was ist denn mit den Einsparungen im Rahmen der
Bundeswehrreform? Da haben Sie nichts gemacht und
haushaltspolitisch versagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wie könnt ihr dabei klatschen?)


Beim Nachtragshaushalt kann man auch noch einmal
feststellen, wie Sie Haushaltspolitik machen. Es gab im
Berichterstattergespräch eine Einigung, für das Arbeits-
losengeld II 200 Millionen Euro weniger anzusetzen,
weil man davon ausgeht, dass sich der Arbeitsmarkt bes-
ser entwickeln wird. Dann haben Sie sich in der Koali-
tion noch einmal beraten. Sie haben dann im Haushalts-
ausschuss einen Antrag eingebracht, in dem Sie von
230 Millionen Euro ausgehen. Es ging also noch einmal
um 30 Millionen Euro. Das ist aber nicht seriös. Die Ar-
beitsmarktdaten geben das nicht her. Sie wissen gar
nicht, ob sich der Arbeitsmarkt tatsächlich besser entwi-
ckelt. Auch das zeigt, wie unseriös Ihre Finanzpolitik ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Des Weiteren haben wir den Energie- und Klimafonds
im Verfahren zum Nachtragshaushalt beraten. Wir haben
Ihnen schon damals vorgerechnet, was sich ergeben
wird. Der Bundesrechnungshof hat es bestätigt. Sie ha-
ben beim Klimafonds einen Schattenhaushalt eingerich-
tet. Sie haben bei der Finanzierung der Energiewende
den Grundsatz der Haushaltsklarheit und Haushalts-
wahrheit nicht beachtet. Sie haben damals den Preis für
die CO2-Zertifikate mit 17 Euro kalkuliert. Der Fonds ist
von den Einnahmen abhängig. Jetzt sind es noch
7,50 Euro. Das heißt, hier musste im Bereich der Ener-
giewende massiv gekürzt werden. Wichtige Programme
der Energiepolitik und für den Klimaschutz fallen weg.

Sie haben den Nachtragshaushalt nicht genutzt, um das
zu korrigieren.

Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, wo wir bei
klimaschädlichen Subventionen, zum Beispiel bei
schweren Dienstwagen, im Flugverkehr und bei Ausnah-
men im Zusammenhang mit der Ökosteuer, Geld einspa-
ren und damit die Energiewende, den Klimaschutz, zum
Beispiel durch Gebäudesanierung, oder auch die For-
schung zu erneuerbaren Energien finanzieren können.
Das haben Sie nicht umgesetzt. Auch hier zeigt sich das
klimapolitische, aber auch das haushaltspolitische Versa-
gen dieser Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718417300

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Vogelsang?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, gerne.


Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1718417400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Erinnern Sie sich ei-

gentlich daran, dass Sie in Ihrer Rede zum Haushalt
2011 die gleichen Behauptungen aufgestellt haben wie
jetzt und dass rein gar nichts von dem, was Sie gesagt
haben, eingetroffen ist?


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist der gleiche Redezettel!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich verstehe die Frage nicht ganz,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kann man auch nicht verstehen!)


weil kein konkreter Inhalt darin enthalten war. Aber ich
will gerne darauf eingehen. Ich habe schon in der Haus-
haltsrede 2011 klar gesagt: Der Energie- und Klimafonds
ist schlecht konstruiert;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


es wird nicht zu dem Preis von 17 Euro kommen. Es ist
nicht dazu gekommen; es waren 7,50 Euro. Jetzt muss-
ten Sie die Mittel für den Energie- und Klimafonds fast
um die Hälfte kürzen. Das ist schlecht für die Energie-
wende und für den Haushalt, und es zeigt, wie unseriös
Ihre Politik ist. Das ist alles eingetreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das meinte ich nicht! Aber das wissen Sie auch!)






Sven-Christian Kindler


(A) (C)



(D)(B)


Auch bei der Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist
diese Koalition auf dem Holzweg. Wir haben klarge-
macht: Man hätte schon mit dem Nachtragshaushalt Vor-
bereitungen treffen können. Wir brauchen für Europa ein
Investitionsprogramm. Wir brauchen soziale und ökolo-
gische Investitionen, damit auch die Krisenländer eine
Chance haben. Auch eine Kapitalerhöhung bei der Euro-
päischen Investitionsbank hätte man in den Nachtrags-
haushalt aufnehmen können. Wir brauchen an dieser
Stelle mehr Investitionen, damit Europa aus der Krise
herauskommt. Die verheerende Austeritätspolitik muss
beendet werden, damit es auch für die Krisenländer eine
Chance gibt. Eine gerechte und ökologische Krisenpoli-
tik wäre für Europa angebracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Natürlich wollen wir das auch finanzieren. Hierbei
geht es um die Gerechtigkeitsfrage. Das heißt, die Fi-
nanztransaktionsteuer muss kommen, weil sie die Fi-
nanzmärkte reguliert und dafür sorgt, dass wir mehr Ein-
nahmen haben. Wir brauchen auch höhere Steuern, zum
Beispiel bei der Einkommensteuer und für Vermögende,
weil es gerecht ist, dass sie ihren Anteil an der Krise tra-
gen. So können wir auch in Deutschland und in Europa
gerecht investieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das haben Sie alles abgelehnt. Sie bleiben auf Ihrem
Holzweg. Das ist ein schwarz-gelber Schuldennachtrags-
haushalt. Sie haben hier nicht konsolidiert und nicht
strukturell eingespart. Sie haben diesen Haushalt im
Sinne der Gerechtigkeit nicht verbessert. Deswegen lehnen
wir ihn ab und werden weiter dafür streiten, dass es eine
gerechte und solidarische Krisenlösung für Deutschland
und Europa gibt.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718417500

Der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter

hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Jetzt kommen endlich wieder Fakten!)


S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1718417600


Danke schön, Frau Präsidentin. – Eine der Grund-
regeln der Opposition lautet, wie diese Debatte zeigt:
Wenn du keine guten Argumente hast, dann musst du
sprachlich aufrüsten.


(Otto Fricke [FDP]: Sozial gerecht, gerecht sozial!)


Die sprachliche Maßlosigkeit, mit der die Redner der
Opposition heute hier vorgetragen haben, steht in einem

scharfen Kontrast zu dem sachlichen Gehalt und der
Qualität ihrer Aussagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Da wird in allen Superlativen Kritik geäußert. Ich will
mir hier einmal den Kollegen Schneider als den Sprecher
der größten Oppositionsfraktion vornehmen, dessen
Kernaussage lautet, wir machen zu viele Schulden. Herr
Kollege Schneider, Sie als Sprecher der SPD stehen da-
mit vor der Gefahr eines Ausschlussverfahrens aus der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, glaube ich;
denn wenn ich die Medien richtig verfolge,


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Anscheinend nicht!)


sind diejenigen, die wir als Troikaner kennen, gestern in
Paris gewesen, um gemeinsam mit den französischen
Sozialdemokraten für Frankreich, aber wohl auch für die
deutsche Sozialdemokratie die Botschaft nach Europa zu
senden, Deutschland solle mehr Schulden machen.


(Otto Fricke [FDP]: Aha!)


Ich bekomme nicht zusammen, wo denn da die Richt-
linienkompetenz in der SPD in Deutschland liegt: Bei
den Troikanern, die gemeinsam mit Frankreich nach
mehr Schulden rufen, oder beim haushaltspolitischen
Sprecher, der uns unter Verwendung schärfster sprachli-
cher Formulierungen hier geißeln will, weil wir angeb-
lich zu viele Schulden machen? Das geht nicht. SPD in
Paris und SPD in Deutschland müssen schon das Gleiche
sagen. Sonst sind Sie unglaubwürdig, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Schneider, ich will Sie außerdem darauf
hinweisen, dass wir auch noch sozialdemokratische Mi-
nisterpräsidenten haben,


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das werden ja immer mehr!)


die im Zusammenhang mit der Frage des Fiskalpakts
Briefe schreiben. – Zu diesem Thema komme ich noch.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Heißt der auch Seehofer?)


– Es gibt auch CDU-Ministerpräsidenten, die Briefe
schreiben. Sie sind sich da ähnlich.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist von der CSU!)


Jetzt sind wir aber bei Ihrem Vorwurf, wir machten zu
viele Schulden. Diese Ministerpräsidenten fordern, der
Bund solle Lasten in zweistelliger Milliardenhöhe von
den Ländern übernehmen. Jetzt frage ich Sie, Herr
Schneider: Sollen wir, um noch weniger Schulden zu
machen, Ausgaben kürzen? Wenn ja, wo soll das nach
Vorstellung der Sozialdemokratischen Partei Deutsch-
lands bitte geschehen? Und welche Steuern sollen in ei-
ner Größenordnung von 10, 20 oder 30 Milliarden Euro
erhoben werden? Das müssen Sie dann aber bitte hier
auch konkret sagen. Oder Sie lassen Ihre Klage fallen,





Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)


bei dieser Haushaltspolitik würden zu viele Schulden ge-
macht.

Das Gegenteil ist nämlich richtig. Das ist eine Haus-
haltspolitik von Maß und Mitte. Sie ist nicht nur national
klug, sondern auch international gut aufgestellt. Wir ma-
chen keine Vollbremsung, sondern stehen zu unserer
Verantwortung und machen das, was national wie euro-
päisch notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist eine wachstumsfreundliche Konsolidierung. Ich
kenne kein Land in Europa, das nicht unsere Probleme
und unsere Haushaltssituation gerne übernehmen würde.

Wir werden mit diesem Nachtragshaushalt einen
wichtigen Beitrag zur Stabilität Europas leisten, indem
wir gleichzeitig deutlich machen, dass wir das Kapital
für den Europäischen Stabilitätsmechanismus einzahlen.
Das steht in überhaupt keinem Widerspruch zu unserer
generellen Linie, im Jahre 2016 einen fast ausgegliche-
nen Haushalt auch für den Bund vorzulegen. Ich fordere
nicht nur die SPD-Bundestagsfraktion auf, uns bei dem
Anliegen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren, zu un-
terstützen, sondern ich appelliere auch an alle Länder-
parlamente und Länderfinanzminister, nicht Ausflüchte
zu suchen, sondern bei der Konsolidierungsaufgabe mit-
zumachen, weil ein ausgeglichener Haushalt für die
nachfolgenden Generationen der beste Beitrag für Zu-
kunftsinvestitionen und Wachstumssicherung ist. Das
gilt nicht nur für Berlin, sondern auch für alle 16 Länder-
haushalte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Obwohl wir Mehrausgaben haben und obwohl wir ei-
nen niedrigen Bundesbankgewinn verkraften müssen,
senken wir die Nettokreditaufnahme; denn die wirt-
schaftliche Situation ist in Deutschland so, dass erfreuli-
cherweise mehr Steuern fließen, als wir gemeinsam noch
vor wenigen Wochen hier in diesem Hohen Hause ange-
nommen haben. Deutschland kann sich diese Anstren-
gung nur leisten, weil wir in den vergangenen Jahren
– das waren im Übrigen nicht nur unionsgeführte Bun-
desregierungen – ein umfassendes Reformprogramm für
mehr Wachstum und Beschäftigung durchgeführt haben.
Es würde mich freuen, wenn die deutsche Sozialdemo-
kratie, anstatt die Austeritätspolitik zu kritisieren, dazu
stehen würde, dass Regierung und Opposition gemein-
sam in diesem Hohen Hause in den letzten 10 bis 15 Jah-
ren viel dazu beigetragen haben, dass die wirtschaftliche
Entwicklung so positiv in Deutschland ist. Die Jugendar-
beitslosigkeit ist die niedrigste in Europa, wir verzeich-
nen Nachkriegsrekorde bei der Beschäftigung, und wir
sind ein Stabilitätsanker für ganz Europa. Darauf sollten
wir gemeinsam, Regierung und Opposition, stolz sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber ich will auch warnen: nicht vor dem Kollegen
Schneider – der war heute auf der Seite der Konsolidie-
rer –, sondern vor anderen Teilen der politischen Linken
in diesem Land, die fordern, dass Deutschland mehr ma-
chen soll. Die Erwartung geht dahin, dass Deutschland

alles machen soll. Die Politik von Maß und Mitte weiß,
dass wir in Deutschland nicht überfordert werden dür-
fen. Wir können nicht jedes Problem Europas mit deut-
scher Initiative lösen. Das ist eine Gemeinschaftsauf-
gabe. Deswegen ist es auch wichtig, deutlich zu machen,
dass nationale Verantwortung die Grundlage für europäi-
sche Solidarität ist. Die Vergemeinschaftung von Schul-
den, die manche in diesem Haus als Ausweg aus der
Krise empfehlen, ist kein Ausweg, sondern ein Irrweg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Haushalt zeigt: Löse deine nationalen Aufga-
ben in der Budgetpolitik! Er ist eine Aufforderung zu
Reformen auch da, wo eine angebotsorientierte Wirt-
schaftspolitik notwendig ist. Er zeigt, dass Fiskalpolitik,
also Haushaltsausgleich, kein Widerspruch zu Wirt-
schaftswachstum ist. Er macht aber ebenso deutlich, dass
im Europa der 27 auch die übrigen 26 Länder sowohl in
der Fiskalpolitik als auch in der Reformpolitik ihre Auf-
gaben lösen müssen. Nur so wird Europa stark. Wir müs-
sen gemeinsam unsere jeweilige nationale Verantwor-
tung wahrnehmen und so einen Beitrag zu einem starken
Europa leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will zum Abschluss eines feststellen: Dieser
Haushalt wird ein weiterer Schritt sein


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: In den Abgrund!)


im Hinblick auf ausgeglichene und stabile Bund-Länder-
Finanzbeziehungen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aha!)


Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten über-
all den Markstein sehen: Sind wir bereit, auch unseren
Bürgerinnen und Bürgern zu erzählen, was politisch
nicht mehr geht oder welche politischen Schwerpunkte
wir setzen wollen, damit wir mit dem Geld, das wir ha-
ben, auch tatsächlich auskommen?


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sprechen wir über das gleiche Papier?)


Deutschland kann von anderen nur Opfer einfordern,
wenn es selbst in der Fiskalpolitik, in der Reformpolitik
und in der Solidarität vorbildlich ist. Dieser Haushalt
zeigt, dass Deutschland seiner Verantwortung vorbild-
lich gerecht werden wird. Wir werden weiter daran ar-
beiten, noch besser zu werden. Ich lade uns alle, die Re-
gierung und die Opposition, dazu ein, daran mitzu-
wirken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718417700

Der Kollege Lothar Binding hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1718417800

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige Worte zum
Kollegen Kampeter, der gesagt hat, die Troika in Paris
habe vorgeschlagen, mehr Schulden zu machen. Diese
hatte richtig gute Ideen, was man tun muss, um Europa
zu helfen: Sie hat etwas von Wachstum gesagt und Vor-
schläge zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ge-
macht. Sie hat von Strukturhilfen und Investitionsmaß-
nahmen gesprochen. Sie hat aber auch gesagt: Wir
brauchen eine Finanztransaktionsteuer.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen in Deutschland die Steuersparmodelle, die
Sie erneut aktiviert haben, abschaffen.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Welche Steuersparmodelle haben Sie denn eingeführt?)


Wir brauchen natürlich die EIB, die Europäische In-
vestitionsbank, die wir mit etwas Eigenkapital motivie-
ren können, enorme Investitionsleistungen zu tätigen.
Wir haben Strukturfonds mit unverbrauchten Mitteln.
Uns stehen also viele Möglichkeiten zur Verfügung,
diese guten Ideen zu finanzieren; man müsste nur die
Ideen aufgreifen und umsetzen.


(Beifall bei der SPD)


Die Zeit hat heute den Redebeitrag von Carsten
Schneider sehr schön zusammengefasst: „Deutschland
fordert Haushaltsdisziplin in Europa, verletzt sie aber
selbst.“ Ich will dazu ein Gleichnis nennen.


(Otto Fricke [FDP]: Das war aber Herr Steinbrück!)


– Ja, das stimmt. Es war ein guter Mann, der die Über-
schrift formuliert hat. Schönen Dank für den Zwischen-
ruf.


(Otto Fricke [FDP]: Es war nicht Die Zeit, es war Herr Steinbrück!)


– Sie hat das aber zitiert. Das war ein kluges Zitat dort.


(Otto Fricke [FDP]: Taschenspielertrick! – Weitere Zurufe von der FDP)


– Man merkt aber schon, dass es eine gewisse Aufre-
gung bei der FDP gibt. Denn das wäre ungefähr so, als
würde Herr Niebel in der Welt Good Governance verlan-
gen, um dann jenen die Mittel zu streichen, bei denen es
Korruption und Günstlingswirtschaft gibt.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Es war ein Namensartikel! Da kann man doch nicht sagen: „Die Zeit“!)


– Ich weiß das schon. – Aber das ist nun mal so, als
wenn Herr Niebel in der Welt etwas verlangt, was er zu
Hause nicht zu leisten bereit ist. Mit dieser Logik lässt
sich keine gute Politik machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Stefanie Vogelsang – das wollte ich ursprünglich als
Erstes sagen, denn sie war die erste Rednerin – hat ganz

nett etwa formuliert: Als wir uns vor zwei Jahren erst-
mals mit der Notlage in Griechenland befasst haben,
dachten wir an einen dauerhaften Stabilitätsmechanis-
mus. – Ich will erinnern: kein Cent für die Griechen –
das war Ihr Reflex auf die Notlage in Griechenland.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja!)


Viele haben dazu beigetragen, dass dieser Stabilitäts-
mechanismus entwickelt werden konnte. Anders wären
wir noch längst nicht da angekommen, wo wir heute
sind. Aber wir sind mit den Ideen noch nicht am Ende.

Jürgen Koppelin hat etwas ganz Interessantes ge-
macht. Er hat etwa in 90 Prozent seiner Redezeit von der
SPD, von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein
gesprochen. Ich vermute als Laienpsychologe: Dahinter
steckt die heimliche Sehnsucht nach Opposition. Dass
man sich damit so intensiv auseinandersetzt, kann nur
damit zusammenhängen, dass er über den Nachtrags-
haushalt nicht reden wollte, sondern über etwas ganz an-
deres.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Quatsch!)


Wenn man sich im Zahlenraum von 1 bis 50 relativ
frei bewegen kann, kann man doch sagen: Das ist ein gu-
ter Haushalt und auch ein guter Nachtragshaushalt.
Wenn man sich aber klarmacht, dass zum Beispiel 32
eine größere Zahl als 17 ist, kann man diesen Schluss
nicht ziehen. Dann ist es nämlich ein schlechter Nach-
tragshaushalt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Warum ist das so? Das hat Carsten Schneider sehr gut
erklärt: Wenn man Wachstum hat, kommt man nicht auf
die Idee, die Schulden zu erhöhen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja!)


Wenn man bei der sozialen Sicherung – gegen unseren
Willen – streicht, kommt man doch nicht auf die Idee,
die Kreditaufnahme zu vergrößern.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ist doch komisch!)


Wenn man das aber tut, muss man sich überlegen, wohin
das Geld eigentlich geflossen ist.

Es gibt zwei Antworten. Norbert Barthle hat eben in
einem Zwischenruf gesagt, finanzielle Transaktionen
seien die Antwort. Er müsste das ein bisschen erklären;
denn die Bürger können nicht verstehen, was die finan-
zielle Transaktion im Hintergrund bedeutet, wenn das
Wachstum steigt, die soziale Sicherung sinkt und die
Schulden steigen.


(Zuruf des Abg. Florian Toncar [FDP])


Du hast aber noch etwas Schönes erklärt: Bei euch
existiert eine gewisse Systematik in der Haushaltsauf-
stellung.





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)



(Zuruf des Abg. Norbert Barthle [CDU/CSU] – Heiterkeit des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])


Danach gab es 2010 im Soll 80 – man hat 80 veran-
schlagt –, es waren tatsächlich aber nur 40. 2011 waren
es im Soll, also veranschlagt, 48, aber es waren tatsäch-
lich nur 17.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Richtig!)


Aber mit dieser Erfahrung könnte man im Jahre 2012
einen vernünftigen Haushalt aufstellen, nachdem man
weiß, wie das funktioniert.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wir nähen unsere Haushalte nicht auf Kante!)


Wer in der Kommunalpolitik war, kennt die Tricks
der Kämmerer. Diese stellen einen Haushalt auf, ein di-
ckes Werk. Darin sucht der kluge Kommunalpolitiker
die Luftbuchungen, mit denen sich die Verwaltung über-
all gewisse Mittel verschafft, die sie im Bedarfsfall be-
nutzt. Die Entscheidungskompetenz dafür nimmt sie
dem Parlament weg und holt sie in die Exekutive. Man
könnte sagen: Das systematische Verfahren, immer mehr
Schulden zu veranschlagen, als man tatsächlich machen
will, ist sozusagen der Freibrief für die Exekutive, am
Parlament vorbei zu handeln. Wenn das ein transparenter
und demokratischer Haushalt ist, dann sind wir im
Grunde wieder bei Niebel.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Haushalt ist immer ein Gradmesser für das, was
man in der Vergangenheit gemacht hat. Daran kann man
erkennen, ob die Politik gut oder schlecht war. Man
muss immer ein bisschen schauen, wie die Entwicklung
war. Gehen wir einmal auf den Koalitionsvertrag zurück.
Erinnern wir uns daran, was Sie mit dem Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz gemacht haben: Zumindest aus die-
sem Gesetz ist kein Wachstum generiert worden, son-
dern es ist nur Klientelpolitik betrieben worden.

Schauen wir uns einmal die Ergebnisse Ihrer Kom-
mission zur Reform der Gewerbesteuer an. Kann uns da
jemand ein Ergebnis nennen? Die Antwort ist schnell ge-
geben: leere Menge; Fehlanzeige. Es gibt eine Kommis-
sion zur Reform der Mehrwertsteuer. Wir haben über
200 Ausnahmen vom Regeltarif. Da anzusetzen, das
wäre eine Aufgabe, Herr Kampeter, um Steuermittel zu
generieren. Aber Sie haben keine der 200 Ausnahmen
abgeschafft, sondern Sie haben sogar noch eine zusätzli-
che geschaffen.

Verlustverrechnung, Gruppenbesteuerung, die EAV-
Fallbeilprobleme bei der Organschaft – Fehlanzeige! Sie
merken, die Vorbereitung dieses Nachtragshaushalts und
auch des nächsten ist – das kann ich Ihnen jetzt schon
versprechen – so miserabel, dass sich genau daraus die
deutliche Zunahme der Neuverschuldung, der exorbitan-
ten Kreditaufnahme, die die Rahmendaten überhaupt
nicht rechtfertigen, erklärt. Darum sagen wir: Dies ist

weder ein sozialer noch ein ökologischer noch ein ver-
nünftiger Nachtragshaushalt. Deshalb werden wir ihm
natürlich nicht zustimmen, sondern wir werden ihn ab-
lehnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718417900

Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1718418000

Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Damen

und Herren! Wir behandeln mit der heutigen Debatte et-
was, bei dem ganz Europa auf uns schaut. Ich glaube,
ganz Europa wird in dieser Woche, in der nächsten Wo-
che – auch wenn wir da nicht im Plenum tagen – und in
der übernächsten Woche auf dieses Parlament schauen.
Wenn ich die Reden der Opposition höre, habe ich das
Gefühl, dass sie sich gar nicht bewusst darüber ist,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Reden Sie doch mal über den Haushalt und nicht über die Opposition!)


was für eine Verantwortung dieses Parlament für Europa
in den nächsten Wochen hat und welche Verantwortung
es bereits heute mit diesem Nachtragshaushalt wahr-
nimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Da liegt Ihre Verantwortung, und da sollten Sie genau
aufpassen.

Meine Damen und Herren, kein Redner der Opposi-
tion hat in seiner Rede gesagt, warum wir diesen Nach-
tragshaushalt verabschieden. Wir verabschieden diesen
Nachtragshaushalt, weil wir Europa gesagt haben: Wir
sind bereit, Europa zu stabilisieren und aus unserem
Haushalt Gelder zu geben, wenn Europa auf der anderen
Seite bereit ist, ebenfalls etwas zu tun. Deswegen verab-
schieden wir den Nachtragshaushalt, und deswegen wäre
es Ihre Verpflichtung, sich diesen Punkt viel genauer an-
zuschauen.

Herr Binding, Sie haben einen Artikel aus der Zeit zi-
tiert – das empfand ich wirklich als einen ganz billigen
Taschenspielertrick –, der die SPD beschreibt. Dieser
Artikel ist von Peer Steinbrück und hat die Überschrift
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Dann sagten Sie, Herr
Schneider sei zitiert worden. Billig, wirklich billig! Das
war, Herr Binding, ganz schlecht.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Ich will Ihnen einmal sagen, was die eigentliche Täu-
schung ist.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Warum reden Sie über uns statt über den Haushalt?)






Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


Es ist heute wieder so gewesen: Die Opposition hat kriti-
siert, die Grünen, die SPD und die Linken; sie tun das
sowieso immer. Hat der Zuhörer, hat der Zuschauer
heute von Ihnen einen einzigen Ausgabenkürzungsvor-
schlag gehört?


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])


Hat er ein einziges Mal gehört, dass Sie bereit sind, den
Bürgern zu sagen, wo wir sparen müssen?


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe eine Finanzierung vorgetragen, du nicht!)


Nein! Das können Sie nämlich nicht. Das ist weiterhin
kennzeichnend für den Unterschied zwischen der Oppo-
sition und der Koalition:


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir machen beides. Wir sanieren die Haushalte; aber wir
sind auch bereit, dem Bürger zu sagen: Ja, es gibt Ein-
schnitte. – Das ist der Unterschied zu Ihnen, die Sie hier
eben nicht der Dr. Jekyll sind, sondern Sie sind Mr.
Hyde.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hotelsteuer! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe nicht promoviert, darauf bestehe ich!)


Was haben wir auch heute wieder erlebt? Schauen Sie
sich doch einmal die Tagesordnung an: Es gab heute kei-
nen einzigen Tagesordnungspunkt in diesem Plenum, wo
seitens der Opposition nicht kam: Hier müssen wir mehr
ausgeben; da müssen wir dem Bürger mehr Geld aus der
Tasche nehmen; dort ist zu wenig Geld vorhanden. Dann
diese Aussage von der SPD: Die Koalition spart nicht
genug.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wer sagt das?)


Gleichzeitig rennen Sie aber herum und sagen: Die Ko-
alition spart zu viel. Jetzt können wir darüber streiten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, ich will Ihnen einmal eines sagen: Ich kenne kein
Land in Europa, außer vielleicht Liechtenstein,
Luxemburg und die Schweiz, das nicht gern unsere
Haushaltszahlen hätte. Ich kenne die Bestätigung durch
die OECD, dass wir die richtigen Sparmaßnahmen
durchführen. Dann hier zu sagen, wir machten es nicht
richtig, ist lächerlich, wenn man auf der anderen Seite
Ihre weiteren Ausgabenwünsche sieht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Bundesbank!)


Ich kann Ihnen nur eines sagen: Schauen Sie sich das
schöne rot-grüne Papier „Europa stärken – Weichen für
nachhaltiges Wachstum stellen“ noch einmal an. Steht
darin etwas von „Ausgaben kürzen“? Nein! Da steht:
Ausgaben erhöhen. Da ist von der Einrichtung eines Alt-
schuldentilgungsfonds die Rede, also von etwas, was zu
nichts anderem als zu einer Zinserhöhung führen würde.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da stehen auch Einnahmenerhöhungen!)


Sie, ganz besonders die Grünen, sagen immer, man
müsste den schwachen Ländern Europas doch einmal ein
bisschen helfen und ihre Zinsen senken.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


– Ja. Gut. Das hat aber zur Folge, liebe Grüne – weil ihr
das immer noch nicht ganz kapiert –, dass woanders die
Zinsen steigen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich würde mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen!)


Sagen wir einmal, die Zinsen sinken in den schwachen
Ländern um 2 Prozent und steigen bei uns um 2 Prozent.
Habt ihr, liebe Grüne, eigentlich einmal ausgerechnet,
was ein Anstieg der Zinsen um 2 Prozentpunkte für den
Bundeshaushalt bedeuten würde? – 25 Milliarden Euro
Mehrausgaben. Das ist der Wunsch von Grünen und
SPD, wenn sie einen Altschuldentilgungsfonds fordern,
der hier die Zinsen und damit die Steuerlast erhöhen
würde.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Berechnungen gibt es denn dazu? Das ist doch totaler Quatsch!)


Es geht bei diesem Nachtragshaushalt um eine Sache:
Es geht darum, die haushalterischen Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass wir in den nächsten Tagen, in den
nächsten zwei Wochen Europa stabilisieren können. Es
geht nicht darum, unterschiedliche Meinungen zu
Europa zu haben. Es geht darum, das zu haben, was wir
von Ihnen noch erwarten, was wir aber haben: eine Hal-
tung zu Europa.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718418100

Bartholomäus Kalb spricht jetzt für die CDU/CSU-

Fraktion.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1718418200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich darf gleich da anknüpfen, wo Kollege
Otto Fricke aufgehört hat. Ich hatte manchmal den Ein-
druck, von der Opposition redet hier niemand über den
Nachtragshaushalt und schon gar nicht über den Anlass
des Nachtragshaushaltes.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Herr Kindler hat nur zum Nachtragshaushalt geredet!)


Otto Fricke hat gerade deutlich gemacht, dass der
eigentliche Anlass ist, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland unserer Verantwortung in und für Europa





Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)


nachkommen wollen, und zwar in einem parlamenta-
risch sauberen Verfahren. Der ESM, der dauerhafte
Europäische Stabilitätsmechanismus, soll nach den Ver-
tragsentwürfen mit einem Grundkapital von 80 Milliar-
den Euro ausgestattet werden. Davon haben wir rund
22 Milliarden Euro zu erbringen. Weil wir wollen, dass
der ESM möglichst schnell aktiv werden kann – und
niemand kann bezweifeln, dass dies dringend notwen-
dig ist –, sind wir bereit, bereits jetzt zwei Tranchen von
insgesamt fünf Tranchen einzuzahlen.

Deswegen haben wir diesen Nachtragshaushalt vorge-
legt, haben ihn parlamentarisch beraten und wollen ihn
heute beschließen – nicht mehr und nicht weniger.


(Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ CSU])


Wenn wir entgegen den ursprünglichen Planungen
bereits jetzt 8,7 Milliarden Euro einzahlen, dann ist die
logische Konsequenz, dass dies in einem Nachtragshaus-
halt nachvollzogen werden muss. Dass die Neuverschul-
dung trotzdem nicht um jene 8,7 Milliarden Euro steigt,
ist der guten Entwicklung und der wirtschaftlichen und
sparsamen Haushaltsführung des Bundesfinanzminis-
ters zuzuschreiben.

Herr Kollege Carsten Schneider, es ist unredlich,
wenn Sie sagen, es würde hier wie seinerzeit bei der Re-
finanzierung der HRE vorgegangen werden. Sie als Vor-
sitzender des Finanzierungsgremiums kennen die Struk-
tur der Bundesverschuldung und der Strategie der
verschiedenen Laufzeiten sehr genau.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Eben!)


Das brauche ich Ihnen hier nicht zu erläutern.

Wir sollten vermeiden, das Vertrauen zu beschädigen,
das die Finanzanleger in die Bundesrepublik Deutsch-
land haben.


(Beifall der Abg. Stefanie Vogelsang [CDU/ CSU] – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ich sage nur: Allianz!)


Wir profitieren davon in hervorragender Weise. Das ist
gut für uns, das muss aber – das sage ich auch ganz of-
fen – keineswegs so bleiben. Wir haben allen Grund, da-
rauf zu achten, dass das Vertrauen in Deutschland wei-
terhin aufrechterhalten bleibt. Das ist zu unserem
Vorteil, das ist aber auch zum Vorteil ganz Europas, der
gesamten Euro-Zone.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe schon gesagt, dass die Neuverschuldung
nicht in dem Maße, in dem wir jetzt in den ESM einzah-
len, erhöht werden musste, weil wir eine günstige Situa-
tion haben. Wir konnten deswegen im Rahmen des
Nachtragshaushaltsverfahrens die Neuverschuldung
weiter reduzieren. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass
wir sparsam und wirtschaftlich mit den Steuergeldern
des Bürgers umgehen.

In Europa wird es darauf ankommen, dass wir ande-
ren Solidarität zuteil werden lassen. Die Bundesrepublik

Deutschland braucht ihr Licht diesbezüglich nicht unter
den Scheffel zu stellen. Aber auch andere müssen ihre
Aufgaben und Verpflichtungen erfüllen.

Deswegen gehören für uns der Europäische Stabili-
tätsmechanismus einerseits und der Fiskalpakt anderer-
seits eng zusammen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Stabilisierung Europas kann nur gelingen, wenn bei-
des gemeinsam gemacht wird, wenn auch andere ihre
Aufgaben erfüllen, wenn nicht Wohltaten verteilt wer-
den, wenn nicht mehr konsumtive Ausgaben getätigt
werden, sondern wenn strukturelle Reformen durchge-
führt und Zukunftsinvestitionen vorgenommen werden.


(Beifall des Abg. Norbert Barthle [CDU/ CSU])


Wir sind diese Politik auch unserer nachkommenden
Generation schuldig. In allen westlichen Industrielän-
dern haben wir ein riesiges demografisches Problem, das
wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.

Dann will ich noch ein Wort zu dem Katastrophensze-
nario sagen, das Kollege Schneider mit dem Begriff
„Bankrotterklärung“ beschrieben hat.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718418300

Herr Kollege, Sie denken aber an die Redezeit?


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1718418400

Ich bin sofort am Ende. – Viele Staaten in Europa

wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten, wenn sie
unsere Haushaltszahlen hätten, wenn sie unsere Wirt-
schaftsdaten hätten, wenn sie unsere Arbeitslosenquote
hätten, wenn sie unsere Beschäftigungsquote hätten,
wenn sie unsere Einnahmesituation hätten und wenn sie
auch die Stabilität unserer Sozialsysteme hätten. Deswe-
gen kann ich es nicht mehr ertragen, wenn man sich
nicht einmal mehr über gute Entwicklungen in Deutsch-
land freuen darf. Es gilt, dies gemeinsam für die Zukunft
zu sichern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718418500

Herr Kollege.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1718418600

Auch wir sind nicht davor gefeit, dass sich durch kon-

junkturelle Entwicklungen Situationen ergeben, die uns
noch mehr Kopfzerbrechen machen. Schauen wir, dass
wir die Dinge zusammenhalten – im Interesse unserer
Währung, im Interesse unserer Stabilität.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718418700

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der

Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus-
halt für das Jahr 2012. Dazu liegen uns persönliche Er-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


klärungen nach § 31 der Geschäftsordnung der Kollegen
Schäffler, Willsch und Manfred Kolbe vor1).

Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf den Drucksachen 17/9650 und
17/9651, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
den Drucksachen 17/9040 und 17/9649 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
über den Änderungsantrag auf Drucksache 17/9960
positiv ab? – Wer stimmt dagegen?


(Zuruf der Abg. Petra Ernstberger [SPD])


– Anscheinend ist es hier ein bisschen laut. Ich weiß
auch nicht, wie das kommt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Oder die SPD passt nicht auf!)


Wir machen das noch einmal. Auf Drucksache 17/9960
finden wir einen Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die
Enthaltungen! – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Die
Oppositionsfraktionen haben zugestimmt, die Koali-
tionsfraktionen haben dagegen gestimmt.

Jetzt bitte ich diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Die Enthaltungen! –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP angenommen;
SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen
gestimmt.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim-
men wir in dritter Beratung jetzt namentlich ab. Die
Schriftführerinnen und Schriftführer haben schon begon-
nen, ihre Plätze einzunehmen. Sind denn alle Urnen
besetzt? – Das ist noch nicht der Fall. – Sind jetzt alle
Urnen besetzt? – Das scheint der Fall zu sein. Dann
eröffne ich die Abstimmung.

Ist noch jemand anwesend, der, aus welchen Gründen
auch immer, seine Stimmkarte nicht losgeworden ist? –
Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt
gegeben2).

Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu
den Entschließungsanträgen. – Bitte nehmen Sie Ihre
Plätze ein. Wir beginnen mit dem Entschließungsantrag
der SPD auf Drucksache 17/9961. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Die
Enthaltungen! – Was macht die Linke? Hat die Linke
den Saal verlassen? – Dieser Antrag ist insgesamt abge-

lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion.
Abgelehnt haben den Antrag die Koalitionsfraktionen
und die Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-
halten.

Jetzt kommen wir zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9962. Wer stimmt
dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Enthaltungen! –
Der Antrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion. Alle anderen Fraktio-
nen waren dagegen.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9963. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Die Enthaltungen! – Damit ist
dieser Entschließungsantrag ebenfalls abgelehnt bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Dagegen
haben die Koalitionsfraktionen und die Linke gestimmt.
Die SPD hat sich enthalten.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haus-
haltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Energiewende und
Klimaschutz solide finanzieren – Nachtragshaushalt nut-
zen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9911, den Antrag auf Druck-
sache 17/8919 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. SPD
und Linke haben sich enthalten.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Hans-Christian Ströbele, Dr. Konstantin
von Notz, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von
Transparenz und zum Diskriminierungsschutz
von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern

(Whistleblower-Schutzgesetz)


– Drucksache 17/9782 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig

Vorgesehen ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Ingrid Hönlinger hat jetzt
das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

1) Anlagen 5 und 6
2) Ergebnis Seite 21967 C






(A) (C)



(D)(B)



Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718418800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Moment findet in Polen und in der Ukraine die Fuß-
ball-EM statt. Bei jedem Spiel steht ein Mann mit einer
Pfeife auf dem Platz. Wenn ein Spieler die Regeln ver-
letzt, also ein Foul begeht, dann hat dieser Mann die
Aufgabe, zu pfeifen, das Spiel zu unterbrechen und auf
die Regelverletzung hinzuweisen.

Von dieser Aufgabenstellung, Regelverletzungen hör-
bar zu machen, leitet sich der Begriff Whistleblowing
ab. Regelverletzungen gibt es nicht nur auf dem Fußball-
feld; Regelverletzungen und Missstände gibt es in vielen
gesellschaftlichen Bereichen. Die Öffentlichkeit hat von
Missständen in Pflegeheimen, vom Verkauf von Gam-
melfleisch oder von Sicherheitsproblemen in Atomkraft-
werken oft erst erfahren, nachdem mutige Menschen
– teilweise anonym – darauf hingewiesen haben.

Eines muss klargestellt sein: Diese Menschen sind
keine Verräter – im Gegenteil; diese Menschen zeigen
Mut und Zivilcourage. Sie übernehmen Verantwortung
für das Gemeinwohl und damit für unsere Demokratie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Menschen müssen wir vor innerbetrieblichen Re-
pressionen schützen.

Wenn Sie Verantwortliche in Betrieben oder Einrich-
tungen fragen, ob es dort interne Möglichkeiten für kriti-
sche Äußerungen von Mitarbeitern gibt – Compliance-
Abteilungen –, so sagen die meisten selbstverständlich
Ja. Bei genauerer Nachfrage wird jedoch klar, dass es
diese Möglichkeit oft nur auf dem Papier gibt. Häufig
werden diese kritischen Menschen drangsaliert oder so-
gar entlassen. Dem müssen wir vorbeugen.

Wir Grünen legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf
vor, der die Anliegen aller Beteiligten optimal miteinan-
der verbindet und der sich gut in die bestehende Geset-
zeslage im Arbeits- und Beamtenrecht einpasst. Kern-
stück unseres Gesetzentwurfs ist ein Anzeigerecht.
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber können sich zu-
erst an den Arbeitgeber bzw. an den Dienstherrn oder an
eine vertrauliche interne Stelle wenden – das kann der
Betriebsrat oder der Personalrat sein –, wenn diese Ar-
beitnehmer oder Beamte konkrete Anhaltspunkte für die
Verletzung von rechtlichen Pflichten haben.

Ausnahmsweise können Hinweisgeber sich auch an
eine externe Stelle wenden, zum Beispiel an eine Straf-
verfolgungs- oder Ordnungsbehörde, wenn keine Ab-
hilfe erfolgt. Das Gleiche gilt, wenn ein internes Abhil-
feverlangen unzumutbar ist, weil Straftaten begangen
werden oder weil ein wichtiges Rechtsgut gefährdet ist;
also beispielsweise Leben, Körper, Gesundheit, Persön-
lichkeitsrecht, Freiheit der Person, Stabilität des Finanz-
systems oder Umwelt.

In ganz besonders extremen Fällen sollen Whistle-
blower auch direkt an die Öffentlichkeit gehen können.
Hier muss jedoch das öffentliche Interesse am Bekannt-
werden der Information das betriebliche Interesse an der
Geheimhaltung erheblich überwiegen. Um es zu ver-

deutlichen: Wenn Menschen durch Gammelfleisch oder
verdorbene Babynahrung gefährdet werden, so ist es ei-
gentlich nicht nur ein Recht, sondern nachgerade eine
Pflicht, darauf hinzuweisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Schutz von Menschen hat Vorrang.

Mit diesem fein abgestuften Verfahren können wir ei-
nerseits Missstände zum Schutz der Beschäftigten und
der Öffentlichkeit aufdecken, andererseits aber auch die
Interessen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite an-
gemessen berücksichtigen. Nun werden Sie auf der Re-
gierungsseite vielleicht sagen: Das brauchen wir nicht;
das ist unnötig. – Wenn Sie aber genau hinschauen, dann
werden Sie feststellen, dass es Regelungen nur verein-
zelt im Beamtenrecht gibt; der Rest sind Gerichtsurteile.
Das bietet keine ausreichende Rechtssicherheit. Dies
zeigt der Fall der Berliner Altenpflegerin Brigitte
Heinisch ganz plastisch: Ihr wurde gekündigt, weil sie
Missstände in einem Pflegeheim veröffentlicht hatte. Sie
musste bis zum Europäischen Gerichtshof für Men-
schenrechte klagen, bis festgestellt wurde, dass die Kün-
digung unrechtmäßig war.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


Das war eine juristische Ohrfeige für die deutsche Justiz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kerstin Tack [SPD] und Karin Binder [DIE LINKE])


Wir Grünen wollen, dass sich die rechtliche Situation
bessert, und zwar schnell.

Jetzt wird es pikant. Diese Bundesregierung hat sich
international mit dem Antikorruptionsaktionsplan der
G-20-Staaten vom November 2010 zum Schutz von
Hinweisgebern bekannt und angekündigt, sie werde bis
Ende 2012 Regeln zum Whistleblowerschutz erlassen
und umsetzen.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nichts gemacht!)


Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, es
passt einfach nicht zusammen, international den verba-
len Vorreiter zu geben und national zu mauern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Typisch!)


Da müssen Sie sich schon entscheiden, entweder für eine
nationale Regelung zum Schutz von Hinweisgebern oder
für eine Erklärung auf internationaler Ebene, dass Sie
das in Wirklichkeit gar nicht wollen. Wir Grünen ma-
chen dieses doppelte Spiel nicht mit. Wir wollen Taten
sehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir brauchen auch zu un-
serer eigenen Sicherheit Menschen mit Zivilcourage und





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


Verantwortungsgefühl, mit dem Mut, Konflikte anzu-
sprechen und auszuhalten. Diesen Menschen müssen wir
staatlichen Schutz und Rückendeckung geben. Zivilcou-
rage ist ein Qualitätsmerkmal einer lebendigen und ge-
lebten Demokratie.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718418900

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe

ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung zum Nachtragshaushaltsgesetz 2012 bekannt: ab-
gegebene Stimmen 555. Mit Ja haben gestimmt 300, mit
Nein haben gestimmt 254, Enthaltungen 1. Der Gesetz-
entwurf ist angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 555;
davon

ja: 300
nein: 254
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser

Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden

Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold

Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Christine Aschenberg-
Dugnus

Daniel Bahr (Münster)

Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)


Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

CDU/CSU

Dr. Peter Gauweiler
Manfred Kolbe
Klaus-Peter Willsch

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone

Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)


Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz

Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke

Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

CDU/CSU

Wolfgang Bosbach

Als nächster Redner hat nun der Kollege Ulrich
Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1718419000

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Obergerichtliche Entscheidungen sowohl des Bundes-
verfassungsgerichts als auch europäischer Gerichte, die
besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen, führen bei
uns hier in diesem Hause nahezu immer zu reflexartigen
gesetzgeberischen Initiativen. Genau so kann man auch
diesen Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ei-
nes Whistleblower-Schutzgesetzes werten.

Vor knapp einem Jahr sorgte eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für me-
diale Aufmerksamkeit, unter dem Motto: Kündigung
nach Whistleblowing verstößt gegen Grundrecht auf
Meinungsfreiheit. Sofort folgte die übliche politische
Reflexhandlung auf eine Einzelfallentscheidung: Sie
wird quasi zu einer Gesetzeslücke hochstilisiert und
politisch instrumentalisiert.

Worum ging es in diesem Fall konkret? Die Kollegin
hat es schon kurz zusammengefasst: Die Klägerin, in ei-
nem Altenheim beschäftigt, hat vermeintliche Miss-
stände festgestellt


(Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die waren nicht nur vermeintlich! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso „vermeintliche“?)


und anwaltlich in einem internen Beschwerdeschreiben
darauf hingewiesen. Der Medizinische Dienst der Kran-
kenversicherung wurde eingeschaltet. Der Arbeitgeber
hat diese Beschwerden zurückgewiesen. Es kam dann
erst – ich sage jetzt einmal: warum auch immer – zu ei-
ner krankheitsbedingten Kündigung und später wegen
eines Flugblatts zu einer fristlosen Kündigung. So stellt
sich der Sachverhalt differenziert und im Detail dar.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
stellte in seiner Entscheidung fest, dass er keine Zweifel
an den guten Absichten der Klägerin habe, weshalb ihre
Strafanzeige in den Geltungsbereich des Art. 10 der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention falle, also von
der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Die Vorinstanzen, ins-
besondere das LAG Berlin, subsummierten – ich betone:
subsummierten – diesen Sachverhalt anders. Betrachtet
man die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
differenzierter, so zeigt sich nämlich eines: Die recht-
lichen Kontrollmaßstäbe, die sowohl das LAG als auch
das Bundesverfassungsgericht in dem Fall unter die
Lupe nahmen, waren die gleichen. Die Kontrollmaß-
stäbe hat der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte also bestätigt. Er hat damit zum einen festgestellt,
dass kein absoluter Schutz von Whistleblowing jeder Art
besteht.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den wollen wir auch gar nicht!)


Zum anderen hat er festgestellt, dass in seiner Abwä-
gung das öffentliche Interesse und die gute Absicht der
Arbeitnehmerin und der nicht vorhandene Vorsatz einer





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


falschen Tatsachenbehauptung höher oder anders zu
werten sind, als dies das LAG Berlin gemacht hat.

Wir sprechen lediglich über eine Subsumtion, nicht
über eine Gesetzeslücke.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch menschenrechtliche Kriterien, Herr Kollege!)


Wir sprechen darüber, wie sich die verfassungsrecht-
lichen Vorschriften, die wir haben – Art. 12 GG, Gewer-
bebetrieb und Unternehmerfreiheit, Art. 5 GG, Mei-
nungsfreiheit –, gegenüberstehen. Allen beteiligten
Gerichten war in ihrer Abwägung oder Subsumtion im-
mer klar, dass es ein Zusammenspiel zwischen Anzeige-
recht auf der einen Seite und Rücksichtnahmepflicht auf
der anderen Seite gibt. Wir bewegen uns also, wie ich
eben aufgezeigt habe, im Rahmen einer Grundrechts-
konkordanz. Es stellt sich die Frage: Rechtfertigt dieser
Einzelfall tatsächlich gesetzgeberisches Vorgehen? Wir
sagen deutlich: Nein, das glauben wir nicht,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


weil wir ausreichende Normen in unserem Arbeitsrecht
haben. Ich verweise zum einen auf § 612 a BGB – Sie
wollen einen § 612 b anfügen, in dem Sie die Kontroll-
maßstäbe, die die Gerichte bei uns angewendet haben, in
einen normativen Text fassen, zumindest zum Teil –,


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Arbeit des Gesetzgebers! So macht man das!)


und wir haben zum anderen § 17 Abs. 2 Arbeitsschutz-
gesetz. Auch hier sehen wir, dass es bereits die Möglich-
keit der außerbetrieblichen Anzeige und Beschwerde
gibt. Nichtsdestotrotz haben wir zunächst den Vorrang
des innerbetrieblichen Abhilfeversuchs.

Es bedarf auch keiner gesetzlichen Neuregelung, weil
nur entscheidend ist, dass die Arbeitnehmerin, der Ar-
beitnehmer zum Zeitpunkt der Anzeige von der Richtig-
keit der eigenen Tatsachenbehauptung ausgehen durfte.
Ähnliche Regeln müssen – Sie sprechen die Fälle an,
über die verstärkt in den Medien berichtet wurde – auch
für die Fälle gelten, die in den Medien besonders groß
aufgezogen werden. Hier gilt ein strengerer Maßstab;
denn ein mediales, öffentliches Interesse des Arbeitneh-
mers wird wohl schwer anzunehmen sein.

Anstatt neue gesetzliche Regelungen zu suchen, hal-
ten wir interne Hinweisgebersysteme, die in den Betrie-
ben selber geschaffen werden sollen, für sinnvoller;
denn eines hat der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte klar festgestellt: Die interne Klärung hat
grundsätzlich Vorrang vor der externen. Dies dient nicht
nur der zeitnahen Aufdeckung,


(Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sieht so ein System denn aus?)


sondern es dient auch dazu, Rufschädigungen und Straf-
anzeigen vorzubeugen.

Ein positives Beispiel hatten wir in der Anhörung.
Die Firma Siemens hat ein eigenes, sehr ausgefeiltes

Regelwerk geschaffen. Frau Kollegin, Sie haben das
Thema Korruption angesprochen. In diesem Zusammen-
hang wird die internationale Komplexität der Angele-
genheit besonders deutlich. Der Fall der Altenpflegerin
im Seniorenheim hat nichts mit dem Thema Korruption
zu tun. Wir müssen also genau differenzieren. Korrup-
tionsstraftaten, gerade in internationalen Konzernen, las-
sen sich mit nationaler Gesetzgebung – ich glaube, da-
rüber sollten wir uns in diesem Hause einig sein –
sicherlich nicht lösen.


(Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umgekehrt auch nicht!)


Meine Fraktion – das gilt auch für mich persönlich –
hat weiterhin großes Vertrauen in unsere Arbeitsgerichte
und in die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung. Fehler-
hafte oder unterschiedliche Abwägungsprozesse oder
Entscheidungen auf der Subsumtionsebene allein recht-
fertigen ein neues Gesetz sicherlich nicht. Sie rechtferti-
gen auch nicht den Reflex, in diesem Hause etwas Neues
zu fordern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht um eine Einzelfallentscheidung.


(Kerstin Tack [SPD]: Quatsch!)


Die Stärke unseres Rechtssystems besteht aber darin,
Lebenssachverhalte, von denen wir wirklich ausreichend
haben, unter bestehende Normen zu subsumieren, und
zwar mit einer gefestigten Rechtsprechung. Dies kann
man im Rahmen des deutschen Arbeitsrechts bieten.
Deswegen sind wir sicher, dass wir Hinweisgebern den
Schutz bieten können, den sie dringend benötigen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718419100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1718419200

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man muss
sehr weit von der Realität entfernt sein, wenn man meint,
wir würden hier über Einzelfälle reden wollen. Es ist
doch ganz klar – das hat die Anhörung sehr deutlich be-
wiesen –: Wir reden hier über ein Phänomen. Es gibt
viele Entlassungen bzw. Jobverluste, weil dieser Rege-
lungsbedarf von der Bundesregierung konsequent igno-
riert wird.

Nicht ohne Grund hat sich die Bundesregierung im
Rahmen des G-20-Treffens in Seoul vor zwei Jahren ver-
pflichtet – darauf hat meine Kollegin schon hingewie-
sen –, bis zum Ende dieses Jahres eine Regelung vorzu-
legen. Ich weiß gar nicht, warum Sie meinen, wir hätten
hier überhaupt keinen Regelungsbedarf. Schließlich hat
die Bundeskanzlerin entsprechende Zusagen formuliert.





Kerstin Tack


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darüber müssen Sie in Ihren Reihen vielleicht noch ein-
mal diskutieren und erläutern, wie man damit umgehen
möchte, dass man international eine Verpflichtung ein-
gegangen ist, die man auf nationaler Ebene aber nicht se-
hen will.

Es ist gut, dass wir heute erneut über dieses Thema re-
den; denn viele Kolleginnen und Kollegen in den Betrie-
ben warten darauf, dass es Rechtssicherheit gibt und die
Unsicherheit, die im Moment diesbezüglich auf dem Ar-
beitsmarkt herrscht, beseitigt wird. Wir müssen schnellst-
möglich dafür sorgen, dass man, wenn man Missstände
im eigenen Betrieb offenlegt, nicht den eigenen Arbeits-
platz gefährdet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


In der Anhörung, die wir dazu im März dieses Jahres
durchgeführt haben, hat kein Sachverständiger das ernst-
haft bestritten, ganz im Gegenteil. Als wir im September
des letzten Jahres über den Gesetzentwurf der SPD zu
diesem Thema gesprochen haben, haben wir uns alle na-
türlich auch auf den Fall der Altenpflegerin bezogen.
Aber es gibt auch andere bedeutende Fälle.

Ich will dazu einmal Folgendes sagen: Herr Seehofer
hat im Jahr 2007 den Fahrer des Lkw, der den größten
Gammelfleischskandal in der Geschichte Deutschlands
aufgedeckt hat, mit einer Medaille des Landwirtschafts-
ministeriums geehrt und als Konsequenz einen Gesetz-
entwurf zur Regelung des Informantenschutzes initiiert.
Diese Initiative kam bei den eigenen Leuten aber nicht
durch. Im Gegenteil, es wurde sogar gesagt, dass da-
durch dem Denunziantentum Vorschub geleistet würde.
Angesichts dessen muss ich sagen: Das ist beschämend.


(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Ulrich Lange [CDU/CSU])


– Das ist nicht heute von Ihnen gesagt worden, aber da-
mals ist das gesagt worden. Sie haben das nicht gesagt.
Das ist sogar im September noch gesagt worden. Ich
finde das wirklich skandalös.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ihr Innenminister Friedrich hat im Oktober des letzten
Jahres den XY-Preis des ZDF an genau diesen Lkw-Fah-
rer verliehen, der nach Ihrem Verständnis ein Denun-
ziant ist. Der Innenminister hat ihn als Mensch, der ganz
besonders couragiert handelt, ausgezeichnet. Er sagt:
Genau solche Leute braucht die Zivilbevölkerung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber dieser Fahrer hat seinen Job verloren. Das zeigt
doch ganz deutlich, dass hier Regelungsbedarf besteht
und dass es eben nicht darum geht, Betriebsgeheimnisse
nach außen zu posaunen, sondern darum, vor Gesund-
heitsschäden, vor Gefahren für Leib und Leben und auch
vor Gefahren für die Umwelt zu schützen. Wir brauchen
diese Hinweisgeber. Wir sind doch froh um jeden, der

mit offenen Augen durch den Betrieb geht und bemerkt,
dass es eine Situation gibt, die man nach innen gar nicht
kommunizieren kann, weil das viel zu gefährlich ist.
Deshalb brauchen wir Stellen, an die man sich wenden
kann und bei denen man Gehör findet. Dies dient dem
Schutz der Allgemeinheit, aber auch dem Schutz des ei-
genen Arbeitsplatzes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da sind wir bisher nicht richtig aufgestellt.

Unser Vorschlag unterscheidet sich von dem Vor-
schlag der Grünen in einigen Punkten ganz erheblich.
Wir halten es nicht für ausreichend, ausschließlich im
BGB Regelungen vorzunehmen, die erst einmal darauf
fußen, dass man nach innen in den Betrieb kommunizie-
ren muss, bevor man sich an externe Stellen, an Auf-
sichtsbehörden, an die Polizei, die Staatsanwaltschaft
oder wen auch immer wenden darf. Ich glaube, dass
nicht jeder zum Zeitpunkt des Erkennens eines Missstan-
des schon abschätzen kann, wie groß dessen Tragweite
ist. Deswegen muss es möglich sein – in diesem Punkt
unterscheiden wir uns sehr –, sich auch bei einem Ver-
dacht an externe Stellen zu wenden, ohne eine betriebli-
che Erstuntersuchung vorzuschalten.

Wir unterscheiden uns auch sehr deutlich in der Beur-
teilung der Frage, ob es nicht nur Kündigungsschutz,
sondern auch Leistungsverweigerungsrechte und Scha-
densersatzansprüche geben sollte. All diese Fragen müs-
sen geregelt werden, gerade weil wir nicht in jedem Fall
sicherstellen können, dass Beschäftigte nicht aufgrund
anderer Umstände später im Betrieb Schwierigkeiten be-
kommen. Deshalb muss der Schutz sehr weitreichend
sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich das noch
sagen darf: Es ist ein bisschen zynisch, dass vonseiten
der Regierungskoalition gesagt wird, dass hier überhaupt
kein Handlungsbedarf besteht, dass wir in Deutschland
in dieser Hinsicht eigentlich ganz prima aufgestellt sind
und dass es bestimmt gute Gründe gibt, wenn Hinweis-
geber später ihren Job verlieren. Denn das Bundeskar-
tellamt – immerhin eine Bundesbehörde; das kann man
nicht ganz ignorieren – hat zum 1. Juni dieses Jahres
eine Internetseite für anonyme Hinweisgeber freige-
schaltet. Ich finde das interessant. Sie sehen ja keinen
Handlungsbedarf, wieso hat das Bundeskartellamt dann
vor zwei Wochen diese Seite freigeschaltet? Weil man
der Meinung war, dass es hilfreich sein kann, dass das
Bundeskartellamt anonyme Hinweise bekommt.

Vielleicht ist das für Sie als Regierungskoalition eine
Gelegenheit, noch einmal miteinander ins Gericht zu ge-
hen und zu überlegen, ob es nicht doch sinnvoll wäre,
entsprechende Regelungen vorzunehmen. Verdammt
viele Leute in den Betrieben warten darauf. Es ist unsere
Aufgabe, sie vernünftig zu schützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718419300

Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Golombeck von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heinz Golombeck (FDP):
Rede ID: ID1718419400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrte Damen und Herren! Anlass unserer heutigen
Diskussion ist ein Gesetzentwurf der Grünen zum
Schutz von Whistleblowern. Dieser Gesetzentwurf soll
Transparenz fördern und Hinweisgeberinnen und Hin-
weisgeber vor Diskriminierung schützen. Es ist nicht das
erste Mal, dass wir zu diesem Thema debattieren. Nach-
dem bereits im September letzten Jahres ein Antrag der
Fraktion Die Linke zum Thema Whistleblowing auf der
Tagesordnung stand, wagte auch die SPD mit einem Ge-
setzentwurf zum Schutz von Hinweisgebern einen neuen
Vorstoß. Schon damals wurden die gesellschaftliche An-
erkennung des Whistleblowings und damit verbunden
ein Schutz von Whistleblowern, also Hinweisgeberinnen
und Hinweisgebern, gefordert. Es ist auch ein großes
Anliegen dieser Regierungskoalition, den sogenannten
Whistleblowern ausreichenden Schutz und eine beson-
dere Wertschätzung einzuräumen.

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es in Deutsch-
land zunehmend gelungen ist, die große Bedeutung von
Whistleblowern in der Öffentlichkeit und in Unterneh-
men zu verankern – ein Thema, über das in regelmäßi-
gen Abständen neu diskutiert wird.


(Kerstin Tack [SPD]: Weil es nicht zur Umsetzung kommt! Sonst bräuchten wir ja nicht ständig darüber zu reden!)


Dabei geht es keineswegs um Lappalien. Das unter-
streicht auch das große mediale Echo, wenn Korrup-
tions- oder Gammelfleischskandale aufgedeckt werden.

Positiv gesehen steht der Begriff Whistleblowing für
Verantwortungsbewusstsein und Zivilcourage. Genau
hier möchte ich ansetzen: Das Ziel verantwortungsvoller
Whistleblower besteht darin, Transparenz und Publizität
herzustellen, um bestehende Risiken oder Missstände zu
problematisieren und sie damit letztlich zu beheben. Die
Zivilcourage dieser Menschen steht im Vordergrund; sie
muss ganz klar gewürdigt werden. Als Gegenzug zu ih-
rem Streben nach Recht und Gerechtigkeit müssen
Whistleblower teilweise soziale Isolation, Anfeindungen
und arbeitsrechtliche Maßnahmen bis hin zur fristlosen
Kündigung hinnehmen. Dies kann zu einer erheblichen
Verunsicherung potenzieller Hinweisgeber führen. Da-
gegen muss natürlich etwas getan werden.

Wegweisend für eine positive Entwicklung des
Whistleblowings ist das Urteil des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte vom 21. Juli 2011, das
wir sehr begrüßen. Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat hier eine Abwägung zwischen den
Interessen des Arbeitgebers und der Notwendigkeit, den
Ruf des Arbeitgebers zu schützen, dem Recht des Ar-
beitnehmers auf Freiheit der Meinungsäußerung und
dem öffentlichen Interesse an der Information vorge-

nommen. Ebendieser Fall brachte in Deutschland eine
gewisse Wende. Die Kritik an einer fehlenden gesetzli-
chen Regelung zum Whistleblowing setzt genau hier an
und verdeutlicht, dass unsere Gesetzeslage zum Schutz
von Whistleblowern ausreichend ist.


(Kerstin Tack [SPD]: Diese Ableitung habe ich jetzt aber nicht verstanden!)


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
in seiner Entscheidung die bisherige Rechtsprechung
und die geltende Rechtslage in Deutschland grundsätz-
lich gebilligt. Er hat ebenso den Grundsatz des Vorrangs
eines innerbetrieblichen Klärungsversuchs bekräftigt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gerade aus Respekt vor den Mitarbeitern und aus Grün-
den der Achtung der Mitarbeiter untereinander sollte
grundsätzlich eine innerbetriebliche Klärung gesucht
werden. Nur bei Straftaten mit schweren Folgen für Ein-
zelne oder die Allgemeinheit kann auf eine innerbetrieb-
liche Klärung verzichtet werden. So soll es auch bleiben.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen will die-
sen Grundsatz ausweiten. So sollen zum Beispiel Straf-
anzeigen auch ohne vorherige interne Meldung möglich
sein, wenn der Arbeitnehmer aufgrund konkreter An-
haltspunkte gutgläubig vom Vorliegen einer Straftat aus-
geht, wobei er seine Gutgläubigkeit insoweit nicht mehr
selbst beweisen muss. Eine Beweislastverteilung zu-
gunsten des Arbeitnehmers zielt hier zwar auf einen
möglichen Whistleblower-Schutz ab.


(Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Beweislastumkehr!)


Fraglich ist jedoch, ob damit auch die gegenseitigen In-
teressen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber geschützt
bleiben. In ihrem Gesetzentwurf sprechen die Grünen
außerdem von dringendem Handlungsbedarf nach dem
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte vom letzten Sommer. Diesen Handlungsbedarf se-
hen wir gerade nicht.

Es gibt bereits eine Vielzahl von Vorschriften, die den
Arbeitnehmer zur Anzeige der Verletzung gesetzlicher
Pflichten durch den Arbeitgeber ermächtigen. Neben be-
reits existierenden Anzeigerechten und verfassungsrecht-
lichen Vorschriften – sie wurden schon erwähnt – gilt
§ 612 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs als allgemeiner
Schutz für Hinweisgeber. Von der Rechtsprechung wer-
den die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
dabei gleichermaßen berücksichtigt. Sie schützt einer-
seits die Persönlichkeitsrechte und sichert andererseits
die innerbetriebliche vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch und in anderen
Gesetzen, wie hier gefordert, halten wir daher nicht für er-
forderlich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir begrüßen die zunehmend offene Diskussionskul-
tur im Hinblick auf Missstände in Betrieben, die dem
Schutz von Whistleblowern dient. Mittlerweile können





Heinz Golombeck


(A) (C)



(D)(B)


viele Unternehmen Möglichkeiten zur Meldung innerbe-
trieblicher Missstände vorweisen. Ebenso hat sich eine
Vielzahl von Unternehmen für eine betriebliche Rege-
lung zum Whistleblowing entschieden. Man mag diese
Entwicklung begrüßen, immer wieder Lücken finden
oder die Gesetzeslage kritisieren: Entscheidend ist, das
Whistleblowing in Öffentlichkeit und Unternehmen wei-
ter zu thematisieren und es nicht ins Abseits geraten zu
lassen.

Wichtiger als eine gesetzliche Regelung dürfte es
letztlich sein, dafür zu sorgen, dass Whistleblowing als
Teil einer konstruktiven Unternehmenskultur gelebt
wird. Das können Gesetze ohnehin nur bedingt leisten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718419500

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin

Karin Binder das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718419600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! 2004 deckte eine mutige
Frau unwürdige Zustände in einem Pflegeheim auf.
Hilfsbedürftige Menschen wurden wochenlang nicht
geduscht, waren mangelernährt und ohne Aufsicht. Da-
raufhin wurde der Altenpflegerin gekündigt – fristlos.

Ende Mai 2012, also acht Jahre später, erstritt sich
diese mutige Frau eine Abfindung – nach einem jahre-
langen, kräftezehrenden Prozess und letztendlich nach
dem Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Men-
schenrechte. Sie erstritt sich eine Entschädigung für den
Verlust des Arbeitsplatzes, aber ganz bestimmt keine
Wiedergutmachung für die Anfeindungen und dafür, was
diese Frau noch alles durchmachen musste. Aber sie
erreichte doch noch einiges mehr, nämlich die Feststel-
lung, dass Whistleblowing, das Aufdecken von Miss-
ständen in Unternehmen und Behörden, nach Auffas-
sung der EU-Richter ein Grundrecht ist.

Ob die Aufdeckung eines Gammelfleischskandals,
die Veröffentlichung der ersten BSE-Fälle oder die
Bekanntmachung des Versorgungsnotstandes in Kran-
kenhäusern: Trotz der unbestrittenen Verdienste für die
Gesellschaft verloren viele der Hinweisgeberinnen und
Hinweisgeber ihren Arbeitsplatz. Für die Linke ist das
Eintreten dieser mutigen Menschen für die Gesellschaft
Zivilcourage. Die Christliche Union bezeichnet diese
couragierten Leute dagegen als Denunzianten. Da kann
ich nur sagen: Schämt euch!

Wir sagen ausdrücklich: Whistleblowerinnen und
Whistleblower müssen durch das Gesetz geschützt wer-
den. Mit unserem Antrag „Die Bedeutung von Whistle-
blowing in der Gesellschaft anerkennen – Hinweisgebe-
rinnen und Hinweisgeber schützen“ haben wir das schon
im vergangenen Jahr angestoßen. Wir begrüßen aus-

drücklich, dass die Grünen unsere Initiative nun aufge-
griffen haben.

Die deutsche Bundesregierung isoliert sich in dieser
Frage allerdings, und zwar europaweit. International be-
steht längst Einigkeit: Hinweisgeberinnen und Hinweis-
geber brauchen Schutz. Die G-20-Staaten beschlossen
Ende 2011 auf ihrem Gipfel in Cannes, dass alle Mitglie-
der bis Ende 2012 gesetzliche Vorschriften zum Schutz
von Whistleblowern einzuführen haben. Die Linke fragt:
Wo bleibt der Gesetzentwurf der schwarz-gelben Bun-
desregierung?

Bei dem Gesetzentwurf muss es aber um einiges mehr
als um den Schutz vor Herabsetzung, willkürlicher Ver-
folgung und Diffamierung gehen. Unser Ziel muss es
sein, Anerkennung und eine positive Einstellung unserer
Gesellschaft gegenüber Whistleblowerinnen und Whistle-
blowern aktiv zu befördern. Wir brauchen eine neue Kul-
tur: nicht weggucken und wegducken, sondern hinsehen
und sich einmischen in unserer Gesellschaft, in der Ar-
beitswelt, in Unternehmen und in Behörden.

Leider machen die Grünen und auch die SPD hier nur
einen halben Schritt. Statt einen eigenständigen Gesetz-
entwurf vorzulegen, sollen im Wesentlichen das Bürger-
liche Gesetzbuch und die Beamtengesetze angepasst
werden.


(Kerstin Tack [SPD]: Das stimmt nicht! Wir wollen ein eigenes Gesetz! – Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt darauf an, was Sie darunter verstehen!)


Damit bleibt aber die große und stetig wachsende
Gruppe der untypisch Beschäftigten außen vor: alle so-
genannten Selbstständigen – die Scheinselbstständigen
und Zwangsselbstständigen, die zum Beispiel als Nied-
riglöhner mit Werkverträgen bei Paketdienstleistern be-
schäftigt werden –, Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
und Praktikantinnen und Praktikanten. All diese werden
von den Regelungen, die jetzt vorgeschlagen sind, nicht
erfasst. Aber diese Gruppe wächst.

Wir brauchen darüber hinaus für Whistleblowerinnen
und Whistleblower eine unabhängige und vertrauens-
würdige Beratungsstelle. Das ist ein wesentliches Ele-
ment, mit dem wir die Haltung unserer Gesellschaft ver-
ändern und Zivilcourage fördern können. Mit den
Regelungen im Gesetzentwurf der Grünen wird es Hin-
weisgeberinnen und Hinweisgebern jedoch schwerge-
macht, Zivilcourage zu entwickeln, wenn nämlich einfa-
che Beschäftigte erst einmal die Pflicht haben, einen
umfassenden Nachweis zu erbringen und den internen
Beschwerdeweg zu gehen, bevor sie Missstände öffent-
lich machen dürfen.


(Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau lesen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Fall des Gam-
melfleischskandals hätte ein betriebsinterner Beschwer-
deweg nur sichergestellt, dass die Ekelware, pikant ge-
würzt, dann doch verzehrt worden wäre. Eine solche
Pflicht widerspricht auch dem Gedanken des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte im Urteil zum





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)


eingangs erwähnten Fall der Altenpflegerin. Meinungs-
freiheit bedeutet auch Wahlfreiheit. Als Linke wollen
wir, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber Mittel
und Wege der Offenlegung von Missständen frei wählen
können. Sie müssen das Recht haben, sich auch an die
Ombudsstelle oder an die Medien wenden zu können,
wenn Eile geboten ist.

Die zehnjährige Erfahrung Großbritanniens mit einem
Whistleblower-Schutzgesetz hat gezeigt: Die große
Mehrheit der Menschen, die auf Missstände hinweisen,
zeigen diese zuallererst intern an, und das, obwohl es in
Großbritannien sehr einfach wäre, öffentliche Stellen
oder die Presse einzubeziehen. Die allermeisten Whistle-
blower handeln im Interesse ihres Unternehmens, der
Behörden und der Gesellschaft.

Das tat auch die Altenpflegerin Brigitte Heinisch. Ihr
möchte ich für ihren Mut und ihren ganz persönlichen
wichtigen Beitrag für die Allgemeinheit am Schluss mei-
ner Rede ausdrücklich danken.

Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718419700

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort die

Kollegin Gitta Connemann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1718419800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Brigitte

Heinisch, dieser Name ist heute schon häufiger gefallen,
und zwar zu Recht; denn es war ihre Beschwerde, die zu
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte geführt hat. Seit dieser Entscheidung ist
das Thema Hinweisgeber – oder neudeutsch Whistle-
blower – auch in Deutschland in der Diskussion.

Die Opposition, heute übrigens Bündnis 90/Die Grü-
nen, fordert ein Schutzgesetz für Hinweisgeber. Weil wir
uns sehr ernsthaft mit den Anträgen der Opposition aus-
einandersetzen, gerade bei einem so virulenten Thema,
fragen wir uns: Brauchen wir ein solches Schutzgesetz?
Wir sind der Auffassung: Nein, wir brauchen es nicht.


(Kerstin Tack [SPD]: Schlimm genug!)


Ohne Frage: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die durch ihre Hinweise zur Aufklärung von Straftaten
beitragen, verdienen nicht nur unseren Respekt, sondern
auch unseren Schutz; denn was wären wir ohne ihre
Zivilcourage!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerade die Lebensmittelskandale und die Daten-
schutzaffäre der jüngsten Zeit haben gezeigt: Ohne die
Hinweise von mutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern hätten die Rechtsverstöße in den Unternehmen nicht
so oder nicht so schnell aufgeklärt werden können. Des-
halb auch ohne Frage: Wer sich für andere einsetzt, muss
vor Nachteilen geschützt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber jetzt die Frage: Gibt es diesen Schutz in diesem
Land nicht? Da kommen wir zu einer anderen Bewer-
tung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion. Wir glauben, es gibt genau diesen Schutz in unse-
rem Land. Eine Vielzahl von Gesetzen enthalten
Sonderregelungen. Da sind das Arbeitsschutzgesetz, das
Betriebsverfassungsgesetz, das Bundes-Immissions-
schutzgesetz und, und, und zu nennen.

Ich weiß, was Sie jetzt sagen werden: Wer soll bzw.
kann diese ganzen Gesetze kennen? Diesen Einwand
lasse ich durchaus gelten; denn auch ich sehe, dass nicht
jeder Arbeitnehmer Jurist ist, der mit einem Gesetzbuch
unter jedem Arm zur Arbeit geht. Das ist übrigens auch
gut so; das sage selbst ich als Juristin.

Das spricht für eine knappe gesetzliche Regelung an
zentraler Stelle. Ja, absolut richtig. Aber, meine Damen
und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, auch diese gibt
es schon, nämlich dort, wo sich die grundsätzlichen
Regelungen für das Arbeitsverhältnis finden, im Bürger-
lichen Gesetzbuch, genauer gesagt: in § 612 a BGB. Der
Kollege Lange hat bereits dargestellt, was diese Vor-
schrift mit sich bringt. Das hat er umfassend und juris-
tisch perfekt getan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Vorschrift besagt, noch einmal gesagt: Kein Ar-
beitnehmer darf benachteiligt werden, wenn er seine
Rechte ausübt. Dazu gehört auch das Recht auf freie
Meinungsäußerung.

Schon heute ist ein sich daraus ergebendes Anzeige-
recht von der Rechtsprechung anerkannt worden. Die
Arbeitsgerichte haben wiederholt über viele Jahre hin-
weg entschieden: Arbeitnehmer in Deutschland dürfen
einen Arbeitgeber anzeigen, der das Recht bricht. Ihnen
darf nicht gekündigt werden. Allerdings sind vor einer
solchen Anzeige Spielregeln zu beachten. Denn nur so
kann ein Unterschied zwischen tapferem Hinweisgeben
auf der einen Seite, aber auch der Gefahr des Denunzian-
tentums auf der anderen Seite gemacht werden.

Dafür hat die Rechtsprechung in vielen Jahren fol-
gende Kriterien entwickelt: Erstens. Der Hinweisgeber
muss sich vor einer Anzeige ernsthaft um eine innerbe-
triebliche Klärung bemüht haben. Er darf sich eben nicht
sofort an die Presse oder an eine öffentliche Stelle wen-
den. Denn auch eine falsche Anzeige kann einen großen
Schaden nicht nur für einen Betrieb, sondern auch für
einen Menschen hervorrufen. Es gibt Fälle von geschei-
terten Existenzen, die durch falsche Anzeigen in Pro-
bleme gekommen sind.

Zweitens. Die Anzeige darf nicht leichtsinnig erfol-
gen.

Drittens. Die Anzeige darf auch nicht mit dem Ziel
erstattet werden, einem Kollegen oder einer Kollegin zu
schaden. Denn ehrlich gesagt – das müssen wir auch
erkennen – handelt nicht jeder immer aus altruistischen
Motiven. Eine Anzeige betrifft häufig auch Kollegen,
die aus Sicht des Arbeitgebers zunächst einmal genauso
schutzwürdig sind wie der Hinweisgeber. Das ist übri-
gens ein Aspekt, der mir nicht nur in der heutigen De-





Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)


batte, sondern auch in Ihrem Gesetzentwurf zu kurz
kommt. Sie haben eine völlig einseitige Sicht: immer nur
auf den Arbeitnehmer, der den Hinweis gibt, aber nie-
mals auf die Arbeitnehmer, die von diesem Hinweis be-
troffen sind. Das ist eine absolut verkürzte Sichtweise.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich weiß, welches Gegenargument jetzt kommen
wird. Sie werden sagen: Diese Rechtsprechung führt zu
Unsicherheiten. – Ja, auch das stimmt. Aber auch ein
Gesetz, also auch Ihr Gesetzentwurf, würde nichts daran
ändern. Denn alle Entwürfe, auch Ihrer, arbeiten mit
offenen Rechtsbegriffen, zum Beispiel mit dem Rechts-
begriff „unzumutbar“.

Ich frage Sie: Was ist unzumutbar? Was für mich
nicht unzumutbar ist, ist es vielleicht für Sie, liebe Frau
Kollegin Hönlinger, oder umgekehrt. Wer muss das im
Streitfall entscheiden? Das sind doch wieder die Ge-
richte. Damit wären wir dann wieder bei der Rechtspre-
chung. Vor diesem Hintergrund sagen wir: Dann braucht
es auch nicht ein solches Gesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen hat sich das geschriebene Recht in
Deutschland bewährt. Denn es ermöglicht eine unter-
scheidende Betrachtung sich unterscheidender Sachver-
halte. So kann man Interessen des Betriebes, des Hin-
weisgebers und der anderen Arbeitnehmer abwägen.

Zu diesem Ergebnis ist übrigens auch der Europäische
Gerichtshof gekommen. Aber auch das hat der Kollege
Lange so brillant ausgeführt, dass ich das in keiner
Weise übertreffen könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber gerade diese Entscheidung, die Sie zitieren, um
ein Schutzgesetz zu fordern, kümmert Sie dann in der
Begründung überhaupt nicht. Der Europäische Men-
schenrechtsgerichtshof hat gesagt: Dass die Beweislast
in Deutschland bei dem Hinweisgeber liegt, ist nicht zu
beanstanden. Genau das wollen Sie ändern. Zukünftig
soll nach Ihrem Entwurf derjenige, der beschuldigt wird,
den Gegenbeweis antreten. Das heißt, der alte Grundsatz
der Unschuldsvermutung, in dubio pro reo, wird mit
einem Federstrich getilgt.

Damit stellen Sie nicht nur Unternehmen unter einen
Generalverdacht,


(Kerstin Tack [SPD]: Quatsch!)


sondern Sie schaden damit in besonderer Weise dem
Arbeitnehmer, der gegebenenfalls Gegenstand des Hin-
weises ist. Das hat aus meiner Sicht auch nichts mit
betrieblicher Wirklichkeit zu tun. Inzwischen sind in vie-
len Betrieben innerbetriebliche Regelungen getroffen
worden.

Auch das hat die Anhörung sehr eindrucksvoll ge-
zeigt. Auf diese Anhörung sind Sie ja eingegangen, Frau
Kollegin Tack. Dort haben auch Unternehmen die Rege-
lungen dargestellt, die sie getroffen haben – übrigens in
Form von Betriebsvereinbarungen.

Solche Betriebsvereinbarungen soll es nach Ihrem
Willen aber gar nicht mehr geben. Das ist etwas, was
mich vollkommen empört.


(Kerstin Tack [SPD]: Quatsch!)


– Doch. Dann sehen Sie sich den Gesetzentwurf an, liebe
Frau Kollegin Tack. Wenn Sie das tun, werden Sie fest-
stellen, dass dort der Satz steht, dass keine Betriebsver-
einbarungen mit Betriebsräten zulasten der Hinweisge-
ber getroffen werden können.

Das ist für mich wirklich ein Armutszeugnis für Be-
triebsratsmitglieder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Offensichtlich halten Sie die Mitglieder von Betriebsrä-
ten nicht für geeignet, passende betriebliche Regelungen
zu finden.

Da sage ich Ihnen ganz deutlich: Das ist mit uns nicht
zu machen, meine Damen und Herren von den Grünen.
Wenn ich wählen sollte, wo der gesunde Menschenver-
stand beheimatet ist, auf den grünen Fraktionsfluren
oder im Betriebsratsbüro, würde ich mich immer für die
Betriebsratsbüros in Deutschland entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich persönlich glaube, dass der gesunde Menschenver-
stand dort beheimatet ist und dass unsere Betriebsräte
sehr viel besser wissen, was für die Kolleginnen und
Kollegen notwendig und angemessen ist.

Sie wissen zu unterscheiden. Das ist auch erforder-
lich; denn es geht – ich wiederhole das – nicht nur um
den Hinweisgeber selbst, sondern auch um die anderen
Arbeitnehmer. Sie verdienen ebenfalls Schutz.

Deshalb kommen wir zu dem Ergebnis, dass unser
Rechtssystem in ausgewogener Art und Weise genau
diesen Schutz für alle Beteiligten bietet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir brauchen also keine neuen Regelungen. Schon
Montesquieu hat gesagt: „Wenn es nicht notwendig ist,
ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Ge-
setz zu machen.“ So ist es. Deshalb werden wir Ihren
Gesetzentwurf ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718419900

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat nun das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1718420000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegin Connemann, wissen Sie, was mich stutzig
macht? Dass Sie den gesunden Menschenverstand auf
den Fluren Ihrer Fraktion erst gar nicht gesucht haben.





Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)



(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir reden heute über Men-
schen, die gravierende Missstände entdecken und sich
nicht davor scheuen, sie aufzudecken und öffentlich zu
machen. „Wer auspackt, kann einpacken“, titelte eine
Zeitung.

Ja, das ist unsere Sorge; denn das geltende Recht
reicht nicht aus. Deshalb haben alle drei Oppositions-
fraktionen Anträge oder Gesetzentwürfe vorgelegt. Im
Grunde ist es beschämend, dass weder die Bundesregie-
rung noch die sie tragenden Fraktionen in dieser Rich-
tung etwas getan haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Lange, der ob seiner rechtlichen Exkurse so ge-
lobt wurde, macht aus dem Einzelfall die Argumenta-
tion, deshalb müsse der Gesetzgeber nicht tätig werden.
Ja, so kann ich vorgehen. Ich kann jedes Problem zu ei-
nem Einzelfall erklären und sagen: Prima, wir müssen
als Gesetzgeber gar nicht handeln; hilfsweise haben wir
ja unsere Rechtsprechung.

Ich sehe das anders – und mit mir meine Fraktion.
Deshalb freuen wir uns über den Gesetzentwurf der Grü-
nen. Meine Kollegin Tack hat schon erklärt, dass wir mit
ihnen nicht ganz einer Meinung sind. Aber wir stimmen
deutlich darin überein, dass Handlungsbedarf besteht;
denn wir möchten, dass wir in Deutschland zu einer Kul-
tur kommen, in der jemand, der einen Missstand in sei-
nem Betrieb erkennt, nicht erst überlegen muss: Würde
es mir schaden, wenn ich ihn öffentlich mache? – Darum
geht es. Wir wollen, dass diese Personen, die auch im In-
teresse der Allgemeinheit handeln, sicher sein können,
dass sie persönlich keinen Schaden davontragen. Dafür
müssen wir unsere Gesetzeslage ändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich bin mir sicher, dass das notwendig ist – nicht nur
wegen des Falls in der Altenpflege und auch nicht nur
wegen des Gammelfleischskandals, sondern in vielen
Fällen. Wir dürfen die Zivilcourage von Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern nicht nur sonntags beschwören
und nicht nur Orden verleihen, sondern müssen eine
feste Grundlage dafür schaffen, dass jemand, der einen
Missstand entdeckt, auch den Mut haben darf, diesen an-
zuzeigen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch wir als SPD haben dazu einen Gesetzentwurf vor-
gelegt. Wir werden ihn diskutieren und sehen, ob es
möglich sein wird, entsprechende rechtliche Regelungen
zu schaffen.

Worum geht es uns dabei insbesondere? Auch wir,
Frau Connemann, erwarten nicht, dass Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer immer einen 20 Kilogramm

schweren Rucksack bei sich haben, in dem sie nicht nur
unsere Gesetze, sondern möglicherweise auch noch Ge-
richtsurteile mit sich herumtragen, um im entscheiden-
den Moment in eine Lesephase einzutreten und festzu-
stellen:


(Heiterkeit bei der SPD)


Nein, ich kann mir nicht sicher sein, dass mir kein Nach-
teil erwächst. Ich lasse es lieber. – Genau das wollen wir
nicht. Statt der Rucksäcke und Beschwernisse wollen
wir ein ordentliches Gesetz. Und das muss dieses Haus
vorlegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin im Übrigen enttäuscht, weil bei dem Antikor-
ruptionsgipfel die Bundeskanzlerin offenbar Handlungs-
bedarf gesehen hat. Wollen wir hoffen, dass das, was un-
sere Kanzlerin auf den Gipfeln sagt, von der Regierung
bzw. der rechten Seite des Hauses in Taten umgesetzt
wird.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Es gibt keine tatkräftigere Regierung als diese!)


Ich wünsche das in diesem Fall, und wir haben Anlass,
uns das auch in anderen Fällen zu wünschen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich breche eine Lanze für Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer; denn bei Ihnen klingt es so an, als könnten
wir nicht sicher sein, dass die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer das aus ehrenwerten Motiven tun. Bei Ih-
nen klingt an: Na ja, da könnten auch Denunzianten un-
terwegs sein. – Schauen Sie sich den Gesetzentwurf der
Grünen und unseren Gesetzentwurf an! Wir differen-
zieren fein säuberlich. Wir wollen keine Kultur des An-
schwärzens aus niederen Motiven – das wird schnell
unterstellt –; wir wollen vielmehr, dass jemand, der Ver-
antwortung übernimmt, indem er einen Missstand, den
er entdeckt, offenkundig macht, Schutz genießt. Wir
wollen die notwendigen Antworten liefern, die wir auf-
grund der geltenden Gesetzeslage nicht haben.

Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland schon Sorge haben müssen, dass sie wegen
eines Brötchens, das sie mal zu sich genommen haben,
oder wegen eines Pfandbons, der nicht ordentlich abge-
rechnet wurde, entlassen werden, dann verstehe ich je-
den und jede, der bzw. die sagt: Es ist ganz bitter, was
ich hier erlebe, aber ich halte meinen Mund, weil ich im
Augenblick nicht weiß, ob ich persönlich Schaden da-
vontrage.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718420100

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9782 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP wünschen Federführung beim Aus-
schuss für Arbeit und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Rechtsaus-
schuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beim
Rechtsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen aller anderen Fraktionen bei Zustimmung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP – Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales – abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Begleitung der Reform der

(Bundeswehrreform-Begleitgesetz – BwRefBeglG)


– Drucksache 17/9340 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)


– Drucksache 17/9954 –

Berichterstattung:

(Reutlingen)

Fritz Rudolf Körper
Elke Hoff
Harald Koch
Agnes Brugger


(8. Ausschuss)


– Drucksache 17/9994 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Tobias Lindner

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Keul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

10 Jahre Frauen in der Bundeswehr

– Drucksachen 17/7351, 17/8496 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)

Karin Evers-Meyer
Burkhardt Müller-Sönksen
Inge Höger
Katja Keul

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Ernst-Reinhard Beck von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ernst-Reinhard Beck (CDU):
Rede ID: ID1718420200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Bundes-
wehrreform-Begleitgesetz, das wir heute verabschieden,
ist ein wichtiger und notwendiger Mosaikstein für die
Entwicklung der Bundeswehr zur Einsatzarmee. Zusam-
men mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz,
das wir im letzten Jahr verabschiedet haben, bildet es ei-
nen tragenden Pfeiler für die neue Bundeswehr.

Diese Bundeswehr im Umfang von 170 000 Berufs-
und Zeitsoldaten, 15 000 freiwillig länger Dienenden so-
wie 55 000 zivilen Mitarbeitern ist politisch gewollt und
sicherheitspolitisch vertretbar. Wir werden jetzt mit die-
sem Gesetzentwurf die notwendigen personellen Rah-
menbedingungen schaffen.

Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesminister der
Verteidigung ein herzliches Dankeschön aussprechen;
denn das war ja nun kein einfacher Weg. Eine Reihe von
nicht ganz populären Entscheidungen sind auf diesem
schwierigen Weg der Neuausrichtung der Bundeswehr
gefällt worden. Sie wurden sorgfältig abgewogen und
sind in einem beeindruckenden Tempo erfolgt – ein
herzliches Dankeschön an Sie, Herr Minister!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich darf kurz die einzelnen Stationen aufzeigen. Mit
den Verteidigungspolitischen Richtlinien verfügen wir
über einen klaren sicherheitspolitischen Rahmen. Über
das Standortkonzept wurde im Oktober 2011 entschie-
den. Wir haben jetzt die entsprechende Realisierungspla-
nung. Mit der Feinausplanung haben die Kommunen die
Planungssicherheit, aber auch die Soldatinnen und Sol-
daten die für ihre Lebensplanung wichtige Orientierung
erhalten.





Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)



(A) (C)



(D)(B)


Die derzeitige Reform, die im Gegensatz zu den Re-
formen und Strukturreformen der Vergangenheit von
oben nach unten erfolgt und im Ministerium ihren An-
fang genommen hat, geht nunmehr in die Fläche. Damit
sind nach notwendigen politischen Grundentscheidun-
gen die Mühen der Ebene bzw. die Mühen der Umset-
zung erreicht. Sie werden von allen Führungsebenen
noch erhebliche Anstrengungen erfordern. Komplexe
Prozesse des Abbaus, des Umbaus und des Aufbaus am
Personalkörper der Bundeswehr sind die Aufgaben der
nächsten Jahre.

Der vorliegende Gesetzentwurf wendet sich vor-
nehmlich an die Angehörigen der Bundeswehr, die sich
nach Abwägung in anderen Arbeits- und Tätigkeitsberei-
chen außerhalb der Bundeswehr bessere Chancen aus-
rechnen. Für diesen Personenkreis muss der Wechsel in
andere Bereiche unserer Arbeitswelt attraktiv gestaltet
werden.

Wir können nicht erwarten, dass Soldaten und Be-
amte mit Lebenszeitverträgen die Bundeswehr freiwillig
verlassen und auf viel Geld verzichten. Wie wir mit
Menschen umgehen, die ihre Arbeitskraft viele Jahre der
Bundeswehr gewidmet haben, wirkt auch als Zeichen in
die Streitkräfte hinein. Wir sollten dies bei unseren Dis-
kussionen nicht vergessen.

Die Reform darf nicht dazu führen, dass die Bundes-
wehr demotiviertes und desillusioniertes Personal ohne
Perspektive zurücklässt. Daher muss jedem Soldaten
und jedem Beamten ein individuelles Angebot zum Ver-
bleib oder zum Verlassen der Armee unterbreitet wer-
den.

Ich glaube, dass unsere Soldatinnen und Soldaten, die
sich dafür entscheiden, aus der Bundeswehr auszuschei-
den, gute Chancen in der Wirtschaft haben. Der Vor-
standsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat
kürzlich darauf hingewiesen, dass der Fachkräftemangel
für die deutsche Wirtschaft bedrohlicher als die Finanz-
krise ist. Ich finde, das ist ein starkes Wort, das wir
durchaus bei unseren Überlegungen berücksichtigen
sollten. Mit dem Reform-Begleitgesetz werden künftig
gut ausgebildete Fachkräfte für den ersten Arbeitsmarkt
zur Verfügung stehen.

Wir hatten eine sehr instruktive Anhörung. Uns
wurde klar, dass wir, um die Attraktivität dieses Ange-
bots noch zu steigern, den ohnehin schon weitreichenden
Gesetzentwurf der Bundesregierung in einigen Punkten
verbessern müssten.


(Lars Klingbeil [SPD]: Das ist aber nett gesagt!)


Wir haben den Kreis derjenigen Personen, die dieses
Gesetz in Anspruch nehmen können, ausgeweitet. Wir
können jetzt 3 100 Soldatinnen und Soldaten und bis zu
1 500 Beamtinnen und Beamte freisetzen. Des Weiteren
ist die Erhöhung der Einmalprämie für Soldatinnen und
Soldaten, die vor dem 50. Lebensjahr die Bundeswehr
verlassen, auf 10 000 Euro pro Dienstjahr des vorzeiti-
gen Eintritts in den Ruhestand aufgestockt. Obwohl die-
ser Betrag steuerlich geltend gemacht werden muss,

kann nun ein hinreichender Anreiz zum Verlassen der
Bundeswehr gesetzt werden.

Kernstück ist die Verbesserung der Hinzuverdienst-
grenze. Wir haben mit gemeinsamen Anstrengungen er-
reicht, dass diese Grenze sowohl für Soldatinnen und
Soldaten wie für Beamtinnen und Beamte aufgehoben
wird. Diese Aufhebung gilt nur für diese fünf Jahre, nur
für diesen besonderen Personenkreis. Ich bin sehr froh,
dass es uns gemeinsam gelungen ist, Soldatinnen und
Soldaten mit NVA-Vordienstzeiten einzubeziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier zeigt sich wieder einmal die Vorreiterrolle der Bun-
deswehr beim Zusammenwachsen von Ost und West. Ich
darf ein herzliches Dankeschön an alle richten, die dies
möglich gemacht haben.

Die Opposition hat hier von Gesetzgebungschaos ge-
sprochen. Ich weise diesen Vorwurf zurück. Schließlich
geht kein Gesetzentwurf aus dem Gesetzgebungsverfah-
ren so heraus, wie er hineingegangen ist.


(Michael Groschek [SPD]: Wer hat das noch gesagt?)


Manchmal ist es auch segensreich, dass wir in gemeinsa-
mer Anstrengung die Dinge verbessern. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, seien wir doch ehrlich: Keiner von
uns hätte am Anfang des Beratungsprozesses gedacht,
dass es uns gelingen würde, die Hinzuverdienstgrenze
abzuschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, dass das ein ganz wichtiges Signal ist. Seien
wir doch gemeinsam stolz auf das, was wir geleistet
haben.

Zu Recht wurde die Frage der Gerechtigkeit im Sinne
von Ost und West gestellt. Es ist uns auch hier gelungen
– man kann in Verhandlungen rechtzeitig klüger wer-
den –, juristische Bedenken, die hochmögend begründet
gewesen sein mögen, entsprechend zu entkräften. Wir
können froh sein, dass wir diese Reform jetzt auf den
Weg gebracht haben. Das spricht für die Qualität der Ar-
beit und auch der Zusammenarbeit im Verteidigungsaus-
schuss.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können
mit dem, was wir jetzt als Ausgangsposition erreicht ha-
ben, zufrieden sein. Wir dürfen uns aber nicht erschöpft
zurücklehnen und sagen: Die Dinge werden automatisch
laufen. Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz ist eine
Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille muss
ein Attraktivitätsprogramm für diejenigen sein, die in
der Bundeswehr bleiben und die die anspruchsvollen
Aufgaben der Einsatzarmee erfüllen müssen. Da sind die
Stichworte: Attraktivität des Dienstes, Vereinbarkeit von
Dienst und Beruf, Wandel des Berufsbilds. Das ist im
Grunde für die nächste Zeit entscheidend.

Noch eines: Ich glaube, man kann uns nicht vorwer-
fen, dass wir uns nur auf Strukturen und auf abstrakte
Zahlen konzentriert haben. Wir werden unser Augen-
merk auch weiter auf das innere Gefüge der Bundes-
wehr, auf ihre Führungskultur richten. Dazu sind im





Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)



(A) (C)



(D)(B)


Dresdner Erlass klare Feststellungen getroffen worden.
Auch der Generalinspekteur hat in seiner Broschüre
„Soldat heute“ sehr nachdenkenswerte und bedenkens-
werte Dinge dazu geäußert.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718420300

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Ernst-Reinhard Beck (CDU):
Rede ID: ID1718420400

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. Einen Gedanken

noch.

Es geht nicht ohne Veränderungsbereitschaft und ak-
tive Mithilfe der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der
Bundeswehr. Ich schließe daher mit dem Dank meiner
Fraktion an die Betroffenen, die es möglich machen,
dass die Bundeswehrreform nicht nur auf den Weg, son-
dern auch zum Erfolg gebracht werden konnte.

Ich bedanke mich sehr herzlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718420500

Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Lars

Klingbeil das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1718420600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir entscheiden heute über das Herzstück der
Bundeswehrreform. Mit dem Bundeswehrreform-
Begleitgesetz soll der erforderliche Umbau des Perso-
nals gelingen. Es geht aber auch darum, Sicherheit in
Zeiten des Umbruchs zu schaffen. Jenseits aller wichti-
gen Fragen über Standorte, die wir diskutieren, jenseits
aller wichtigen Fragen über die Struktur der Bundes-
wehr, die wir diskutieren, und jenseits aller Fragen über
die Fähigkeiten der Truppe, die wir diskutieren, geht es
heute um diejenigen, die der Bundeswehr in unserer Ge-
sellschaft ein Gesicht geben: Es geht um die Soldatinnen
und Soldaten; es geht um ziviles Personal. Es geht um
diejenigen, die sich bewusst entschieden haben, ihren
Dienst bei der Truppe zu leisten, und es geht um diejeni-
gen, für die wir als Parlamentarier, als Politik eine Ver-
antwortung tragen.

Herr Minister, das Reform-Begleitgesetz ist vielleicht
der wichtigste Baustein, wenn es um den Umbau der
Bundeswehr geht. Aber leider müssen wir feststellen,
dass das, was Sie heute vorgelegt haben, eine verpasste
Chance ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist eine verpasste Chance, den Angehörigen der Bun-
deswehr Gewissheit über ihre Zukunft zu geben. Es ist
eine verpasste Chance, die Strukturentscheidungen in
Einklang mit den Personalplanungen zu bringen, und es
ist eine verpasste Chance, die Attraktivität der Bundes-
wehr endlich in den Mittelpunkt zu stellen.

Vor mehr als zwei Jahren hat diese Bundeswehrre-
form begonnen. Damals neu im Parlament, hätte ich mir
vorgestellt, dass eine Strukturreform so abläuft, dass
man erst einmal über die sicherheitspolitischen Heraus-
forderungen diskutiert, die die Bundeswehr zu bewälti-
gen hat,


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das waren die Verteidigungspolitischen Richtlinien!)


dass man daraus die Fähigkeiten ableitet und aus den Fä-
higkeiten dann Aufgaben, Struktur, Umfang und Finan-
zierung der Bundeswehr entwickelt. Damals war es aber
so, dass Motor dieser Reform der strategische Parameter
der Haushaltskonsolidierung – Zitat zu Guttenberg – und
die Abschaffung der Wehrpflicht waren. Herr Minister,
vor Ihnen ist viel schiefgelaufen. Aber auf Ihnen ruhten
Hoffnungen, dass endlich Ordnung in die Ideen, die Ver-
sprechen und die Ankündigungen Ihres Vorgängers
kommt.

Niemand hier im Parlament stellt die Notwendigkeit
einer weiteren Veränderung der Bundeswehr infrage.
Auch in der Truppe spüre ich eine hohe Bereitschaft,
sich diesen Herausforderungen zu stellen und sie zu ge-
stalten. Auch im politischen Raum gibt es einen breiten
Konsens und den Versuch, das Ganze überparteilich zu
gestalten. Aber wenn wir heute ein Reform-Begleitge-
setz auf den Weg bringen, von dem wir jetzt schon wis-
sen, dass der Personalüberhang nicht so reduziert wer-
den kann, wie er reduziert werden müsste, und wenn wir
wissen, dass mit diesem Gesetz neue Beförderungsstaus,
neue Verwendungsstaus geschaffen werden, dann, Herr
Minister, können wir als Sozialdemokraten diesem Ge-
setz nicht zustimmen und diesen Weg nicht mitgehen.


(Beifall bei der SPD – Jürgen Hardt [CDU/ CSU]: Da das aber nicht so ist, könnt ihr zustimmen!)


Das, was vom Kabinett vorgelegt wurde, hat großen
Unmut in der Truppe hervorgerufen. Es war wieder ein-
mal das Parlament, das für Korrekturen gesorgt hat. Mit
dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz haben wir
damals ebenfalls wichtige Korrekturen vorgenommen.
Wir haben einen Antrag zur Betreuungskommunikation
eingebracht. Jetzt ist es wieder einmal das Parlament,
das ein deutliches Signal in Richtung Truppe setzt.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Aber Sie stimmen doch nicht zu!)


Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Ihre Änderungen bei dem Reform-Begleitgesetz gehen
uns nicht weit genug. Deswegen können wir ihnen heute
hier nicht zustimmen.

Es muss im Kern darum gehen, die Strukturentschei-
dungen mit dem Personalkörper in Einklang zu bringen.
Wenn selbst das Verteidigungsministerium sagt, dass
6 200 Dienstposten bei den Soldatinnen und Soldaten
und 3 000 bei den Beamten abgebaut werden müssten,
wir heute aber einen Gesetzentwurf vorliegen haben, mit
dem nur die Hälfte finanziert wird, dann wissen wir, dass
es zu Beförderungsstaus kommen und die Attraktivität
der Bundeswehr darunter leiden wird.





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)


Wir Sozialdemokraten haben immer gesagt: Wir brau-
chen eine massive Attraktivitätssteigerung. Wir haben
im Ausschuss beantragt, die Planstellenanteile für Unter-
offiziere in der Besoldungsgruppe A 9 und für Offiziere
im Bereich A 13 moderat zu erhöhen, um einen Stau bei
den Beförderungen abzubauen. Das haben Sie abgelehnt.
Auch das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung mehr
Attraktivität gewesen.

Wir Sozialdemokraten haben eingefordert, dass bei
dem Umbau der Bundeswehr hin zu einer Berufsarmee
ein massives Attraktivitätsprogramm auf den Weg ge-
bracht wird. Herr Beck, Sie haben gerade davon gespro-
chen, das sei die zweite Seite der Medaille. Aber wir
müssen feststellen, dass diese Seite der Medaille bisher
sträflich vernachlässigt wurde. Es gab Ankündigungen.
Aber wirklich geschehen ist hinsichtlich der Attraktivität
nichts. Das fängt mit der Erhöhung der Vergütung für
mehrgeleisteten Dienst an. Das hat schon Herr zu
Guttenberg angekündigt. Bis heute aber ist nichts ge-
schehen. Mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst wird öffentlichkeitswirksam von Eltern-
Kind-Zimmern gesprochen. Aber eine wirkliche Verein-
barkeit ist nur möglich, wenn die Kinderbetreuung aus-
gebaut wird und es eine Ausweitung flexibler Arbeits-
formen gibt. Das wären Antworten, die wir vom
Minister erwarten und die heute notwendig wären.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Daran arbeiten wir ja!)


Außerdem brauchen wir endlich verbindliche Planungen
für die Pendlerwohnungen.

Herr Minister, wir werden in den kommenden Wo-
chen hinsichtlich der Attraktivität auch über Betreuungs-
einrichtungen und die Verpflegung reden müssen. Stop-
pen Sie sämtliche Ideen, die mit Schließungen und
Privatisierungen zu tun haben! Wir alle wissen, wie
wichtig Betreuungseinrichtungen für die Truppe sind.
Sie haben eine wichtige soziale Funktion für die Men-
schen in der Truppe. Deshalb ist es sinnvoll, von den
geplanten 55 000 Stellen für zivile Beschäftigte abzurü-
cken und mehr darauf zu achten, was wir bei der Truppe
eigentlich brauchen.


(Beifall bei der SPD)


Rücken Sie ab von willkürlichen Zielzahlen, und stellen
Sie die Aufgaben in den Mittelpunkt Ihrer Entscheidun-
gen! Nur so kann die Bundeswehrreform wirklich gelin-
gen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wäre gern
mit Ihnen den Weg einer gemeinsamen Reform zu Ende
gegangen. Wir hätten heute gern zugestimmt und ein ge-
meinsames Bundeswehrreform-Begleitgesetz für Solda-
tinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte auf den
Weg gebracht.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Das geht jetzt noch! – Henning Otte [CDU/CSU]: Gebt euch doch mal einen Ruck!)


Dafür hätten Sie aber eine realistische und durchfinan-
zierte Planung, ein demografiefestes Konzept, vor allem

ein durchdachtes und gut konzeptioniertes Attraktivitäts-
programm auf den Tisch legen müssen. Das alles haben
Sie nicht getan. Deswegen können wir nicht zustimmen.
Sie haben heute eine Chance vertan.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Oder Sie!)


Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD – Henning Otte [CDU/ CSU]: Sehr schade!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718420700

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Elke

Hoff.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1718420800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der erste Teil Ihrer Rede, Kollege Klingbeil,
war sehr vielversprechend. Sie haben, glaube ich, sehr
gut dargestellt, dass etwas, was wir als Koalitionsfraktio-
nen jetzt hier im Parlament auf den Weg bringen, ver-
nünftig und gut ist. Sie hätten auch den zweiten Schritt
noch machen können. Aber vielleicht schaffen wir die
Gemeinsamkeit ja, wenn dieses Gesetz, das jetzt die not-
wendigen Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer
sehr ehrgeizigen Bundeswehrstrukturreform schafft, im
Jahr 2014 evaluiert wird. Auch als Koalition wissen wir,
dass das, was wir jetzt machen, ein dynamischer Prozess
ist. Wir werden mit aller Ruhe und Gelassenheit die not-
wendigen Punkte abarbeiten, um die Entwicklung unse-
rer Streitkräfte hin zu einer attraktiven Freiwilligen-
armee – nicht zu einer Berufsarmee, Herr Kollege! – auf
den Weg zu bringen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie Sie sich als aufmerksamer Teilnehmer an den Sit-
zungen des Verteidigungsausschusses sicher erinnern
können, hat diese Koalition im Rahmen der Verhandlun-
gen zum Einzelplan 14 und der Verabschiedung bereits
einen gemeinsamen Antrag zur Verbesserung der Attrak-
tivität der Streitkräfte beschlossen. Ich gehe davon aus,
dass dieser jetzt mit allem Nachdruck und mit aller Ve-
hemenz im Bundesministerium der Verteidigung abgear-
beitet wird. Viele Punkte, die Sie zu Recht anmahnen,
finden sich auch schon in diesem Koalitionsantrag.

Wir müssen immer wieder auch daran erinnern, vor
welchem Hintergrund die Streitkräftereform stattfindet.
Wir haben eine Armee im Einsatz. Wir haben die demo-
grafische Entwicklung; das ist heute schon sehr zu Recht
angesprochen worden. Wir als diejenigen, die für die
Streitkräfte verantwortlich sind, müssen uns auch mit
den Anforderungen des Haushalts auseinandersetzen.
Wir können nicht alles, was wünschenswert ist und wor-
über in diesem Haus sicherlich auch Konsens bestehen
würde, sozusagen aus dem Ärmel schütteln und finan-
zieren. Wir können nicht so tun, als ob der Rest der Welt
nicht existieren würde.

Ich glaube, dass wir in der Kürze der Zeit in einem
sehr ordentlichen Verfahren für die Soldatinnen und Sol-





Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)


daten, die ihren Dienst leisten, eine vernünftige Verbes-
serung erreicht haben. Ich fand es gut, dass gerade der
Kollege der SPD die Punkte noch einmal aufgeführt hat,
weil wir sie zum großen Teil gemeinsam auf den Weg
gebracht haben. Wir hätten uns gefreut, wenn Sie uns
heute auf diesem Weg ein Stück weiter begleitet hätten,
um so auch ein gemeinsames Signal in die Truppe zu
senden. Ich glaube, dass viele Soldatinnen und Soldaten,
wenn wir es richtig kommunizieren, verstehen, dass wir
nicht alles das, was wünschenswert ist, sozusagen auf
einen Streich und in einem Tag auf den Weg bringen
können.

Wir haben große Meilensteine erreicht. Wir haben die
Wehrpflicht ausgesetzt; wir haben sie nicht abgeschafft,
Herr Kollege. Wir haben die Einsatzversorgung verbes-
sert. Wir haben die Betreuungskommunikation verbes-
sert. Wir haben die Ausrüstung und Ausstattung der Sol-
datinnen und Soldaten verbessert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben jetzt nachhaltige Rahmenbedingungen ge-
schaffen. Kollege Beck, ich kann Ihnen nur zustimmen:
Es ist wirklich ein Paradigmenwechsel, dass es uns ge-
gen erhebliche Widerstände aus vielen Bereichen gelun-
gen ist, die Hinzuverdienstgrenze für freiwillig aus dem
Dienst ausscheidende Soldaten abzuschaffen. Das sind
Signale an unsere Soldatinnen und Soldaten, dass wir
selbstverständlich an ihrer Seite sind.

Auf der anderen Seite erwarte ich von den Betroffe-
nen – das möchte ich an der Stelle sehr deutlich sagen –,
dass sie die Zwänge anerkennen, unter denen wir als
politische Entscheider stehen. Wir können nicht so tun,
als wenn uns eine Haushalts- und Finanzkrise nicht in
vielen Bereichen Fesseln anlegt. Alle gesellschaftlichen
Gruppen müssen hier ihren Beitrag leisten und müssen
aufeinander zugehen.

Ich vertraue darauf, dass die notwendigen Maßnah-
men im Ministerium jetzt sehr schnell umgesetzt wer-
den. Sollten wir feststellen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, dass es an einigen Stellen holpert, wird im Jahr
2014 im Rahmen einer Evaluation das Gesetz angepasst.
Ich glaube, das Parlament ist mit an erster Stelle dabei,
wenn es darum geht, das, was nicht funktioniert, zu än-
dern.

Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist,
in der Kürze der Zeit einen Rahmen zu setzen, sodass die
Bundeswehr weiß, woran sie ist, und jeder weiß, welche
Möglichkeiten er hat. Erinnern wir uns daran, was die
Vertreter der Bundesagentur für Arbeit in der Anhörung
gesagt haben! Sie haben gesagt, dass sie froh sind, wenn
diese Leute kommen, weil sie sie dringend brauchen.
Wenn diese Kooperation gelingt, bin ich relativ unbe-
sorgt, dass Soldatinnen und Soldaten eine vernünftige
und attraktive Weiterbeschäftigung im zivilen Bereich
finden werden.

Herr Minister, an dieser Stelle Ihnen und Ihrem Haus
ein herzliches Dankeschön für die Arbeit. Sie können
davon ausgehen, dass wir Sie weiterhin konstruktiv be-
gleiten werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718420900

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege

Harald Koch das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718421000

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Das vorliegende Bundeswehrreform-Begleitgesetz
ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie man mit Men-
schen eigentlich nicht umgehen sollte. Ihr Anspruch war
es, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der einen sozialver-
träglichen Personalabbau in der Bundeswehr ermöglicht.
Abgesehen davon, dass die gesamte Reform der Bundes-
wehr völlig falsch ausgerichtet und schlecht durchdacht
ist, kann auch von sozialverträglichem Personalabbau
keine Rede sein.

Es ist beispielsweise nicht sozialverträglich, dass Sie
eine Obergrenze für die Anzahl der Ausscheidewilligen
festlegen, mit der Sie noch nicht einmal Ihren selbst ge-
steckten Rahmen erreichen können. Warum lassen Sie
nicht alle gehen, die gehen wollen?


(Heiterkeit bei der FDP – Burkhardt MüllerSönksen [FDP]: Das hätten Sie mal der Führung in der DDR sagen sollen: Warum lasst ihr sie nicht früher gehen?)


Vor allem ist es nicht sozialverträglich, Soldaten mit
Vordienstzeiten in der NVA auch 22 Jahre nach dem
Kalten Krieg, nach der deutschen Einheit noch immer zu
benachteiligen. Da haben Sie von der CDU, im Besonde-
ren Herr Bergner, das Possenstück aufgeführt, ein schon
verabschiedetes Gesetz noch einmal in den Ausschuss zu
bringen, weil Sie die Ungleichbehandlung von Ostbio-
grafien nicht länger hinnehmen wollten. Das hat so auch
in der Zeitung gestanden.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Aber das Ergebnis stimmt doch!)


Aber das ganze Theater ändert nichts daran, dass Sie
diese Ungleichbehandlung auch mit dem jetzt nachge-
besserten Gesetzentwurf nicht beseitigen.


(Robert Hochbaum [CDU/CSU]: Ihr habt euch überhaupt nicht darum gekümmert! – ErnstReinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU]: Warum nicht, Herr Koch?)


Sie heben zwar die Hinzuverdienstgrenzen auch für ehe-
malige NVA-Soldaten auf, schaffen aber gleichzeitig
neue Ungerechtigkeiten, weil diese Regelung nur für
eine kleine Gruppe von Soldaten gilt, nämlich für dieje-
nigen, die infolge der Maßnahmen des Bundeswehrre-
form-Begleitgesetzes aus dem Dienst ausscheiden.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Genau um die geht es ja auch!)


Alle anderen ehemaligen NVA-Soldaten, die vielleicht
bereits ausgeschieden sind, ohnehin in den vorzeitigen
Ruhestand versetzt worden wären oder erst nach 2017
ausscheiden wollen, sind auch weiterhin benachteiligt.





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)


Das viel größere Problem ist jedoch, dass selbst der
Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen nur Augenwischerei
ist; denn das eigentliche Problem, die unterschiedlichen
Ruhestandsbezüge zwischen Soldaten mit reiner Bun-
deswehrbiografie und Soldaten mit NVA-Vorzeiten, wird
überhaupt nicht angegangen. Dies heißt, dass Soldaten
mit NVA-Zeiten auch weiterhin viel kleinere Renten er-
halten werden als die Soldaten, die nur in der Bundes-
wehr gedient haben. Das ist das Problem. Finden Sie das
sozialverträglich und gerecht? Ich finde das skandalös.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Aus diesem Grund hat die Linke im Verteidigungs-
ausschuss auch einen Antrag vorgelegt,


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Die Bundeswehr abzuschaffen!)


mit welchem sie die Bundesregierung auffordert, noch in
dieser Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf vorzule-
gen, mit welchem sämtliche noch verbliebenen Schlech-
terstellungen von ehemaligen NVA-Soldaten gegenüber
Soldatinnen und Soldaten mit ausschließlicher Dienst-
zeit in der Bundeswehr beseitigt werden. Wir sind ge-
spannt, ob die Aussagen von Herrn Bergner und Co. mal
wieder nur medienwirksame Lippenbekenntnisse waren
oder ob sie zukünftig wirklich eine Gleichbehandlung
anstreben.

Insgesamt zeigt sich wieder einmal das Problem, wel-
ches wir schon so oft kritisiert haben: Wenn es um Aus-
rüstung, Auslandseinsätze oder millionenschwere Be-
schaffungen geht, dann kann alles nicht schnell, effektiv
und schlagkräftig genug sein. Wenn es aber um die Ver-
sorgung der Soldaten geht, fangen Sie jedes Mal sofort
an, zu knausern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718421100

Herr Kollege Koch, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Beck?


Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718421200

Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718421300

Bitte schön.


Ernst-Reinhard Beck (CDU):
Rede ID: ID1718421400

Herr Kollege Koch, darf ich Sie fragen, wie Sie dazu

kommen, in abenteuerlicher Weise neue Ungerechtigkei-
ten zu konstruieren? Ist Ihnen bekannt, dass alle diejeni-
gen, die bisher von Personalstrukturmaßnahmen betrof-
fen waren – das waren zumeist Soldaten, die in der alten
Bundesrepublik ihren Dienst geleistet haben –, wesent-
lich schlechtere Bedingungen hatten als die jetzt Betrof-
fenen? Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass es
nicht opportun ist, hier neue Gräben aufzureißen, wo wir
die alten Gräben im Grunde gerade erst gemeinsam zu-
geschüttet haben? Bitte berücksichtigen Sie, dass dieses
Gesetz lediglich für diejenigen gilt, die von dieser zeit-
lich und personell begrenzten Maßnahme betroffen sind.


Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718421500

Herr Kollege Beck, es sind keine neuen Gräben, die

hier aufgerissen werden; es sind bestehende Gräben. Wir
sind bestrebt, diese Gräben zuzuschütten. Uns geht es
darum, dass die Soldatinnen und Soldaten, die mit frühe-
ren NVA-Dienstzeiten jetzt freiwillig in der Bundeswehr
dienen, die gleiche Anerkennung finden und die gleiche
Absicherung erhalten – insbesondere auf die Rente bezo-
gen – wie die Soldatinnen und Soldaten, die nur in der
Bundeswehr gedient haben. Das wird mit diesem Ge-
setzentwurf aber nicht erreicht; das wird nicht einmal an-
gegangen. Man weigert sich, und zwar aus rein fiskali-
schen Gründen, wie ich vermute.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Können Sie wenigstens dahin gehend zustimmen, – –)


– Nein, kann ich nicht.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Sie wissen doch jetzt gar nicht, wozu Sie zustimmen sollen!)


Ein weiterer äußerst bedenklicher Aspekt des Geset-
zes ist die Absicht der Bundesregierung, die zivile Kom-
ponente aus der Bundesverwaltung herauszudrängen und
zivile Dienstposten nun mit Militärs zu besetzen.
Art. 87 b Grundgesetz regelt eine klare Aufgabentren-
nung zwischen zivilen und militärischen Strukturen, und
das nicht ohne Grund. Diese Trennung ist eine Folge-
rung aus der deutschen Militärgeschichte. Soll diese
wichtige demokratische Errungenschaft nun auf dem Al-
tar der Remilitarisierung geopfert werden? Das ist nicht
akzeptabel, da es nicht nur zu einer weiteren Militarisie-
rung innerhalb der Bundeswehr, sondern auch zu einer
schleichenden Militarisierung der Gesellschaft beiträgt.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber ganz starker Tobak!)


Die Linke lehnt das strikt ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Ebenfalls zu einer schleichenden Militarisierung der
Gesellschaft führt die vermehrte Rekrutierung von
Frauen. Unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung
und einer „menschlicheren“ Bundeswehr wird versucht,
vermehrt Frauen für den Dienst an der Waffe zu gewin-
nen. Dies ist angesichts der Ausrichtung der Bundes-
wehr fatal und hat auch nichts mit Emanzipation zu tun.
Die Bundeswehr ist eben kein Arbeitgeber wie jeder an-
dere, und das in jeder Hinsicht.

Glück auf!


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718421600

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die

Kollegin Agnieszka Brugger.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718421700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind

uns einig: Die Reform der Bundeswehr ist ein notwendi-





Agnes Brugger


(A) (C)



(D)(B)


ger und in weiten Teilen längst überfälliger Schritt. Vom
Erfolg dieser Reform wird abhängen, wer mit welchen
Fähigkeiten und mit welcher Motivation künftig zur
Bundeswehr kommt. Das ist ganz entscheidend. Schließ-
lich wollen wir alle nicht nur zahlenmäßig genug Bewer-
ber und auch Bewerberinnen haben; wir wollen auch,
dass die Bundeswehr ein Spiegel der Gesellschaft bleibt:
pluralistisch und demokratisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Gesetz, das heute zur Abstimmung steht, prägt
diese Reform ganz maßgeblich. Mit diesem Gesetz soll
der umfassende Personalabbau sozialverträglich gestal-
tet werden; mit diesem Gesetz soll die Bundeswehr klei-
ner und attraktiver werden. Das sind wesentliche Vo-
raussetzungen für den Erfolg der Reform, den auch wir
Grüne wollen.

Herr Minister, die entscheidende Frage ist doch:
Haben Sie genug für die Attraktivität der Bundeswehr
getan – mit diesem Gesetz, aber auch darüber hinaus?
Da habe ich meine Zweifel. Nehmen wir ein Beispiel,
das für die Bundeswehrangehörigen ausgesprochen
wichtig ist – gerade für die jungen Menschen – und für
den Dienstherrn daher nicht weniger Priorität haben
sollte: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In die-
sem Bereich besteht erheblicher Nachholbedarf. Die Re-
gierung hat eigentlich versprochen, hier umfassend zu
liefern.

Konkret haben Sie unabhängig von diesem Gesetz die
Einrichtung von 300 Eltern-Kind-Zimmern angewiesen.
120 davon sind bereits eingerichtet. Das hört sich zwar
nett an; aber ohne Verbesserungen der Arbeitsstrukturen,
die erst die Nutzung solcher Räumlichkeiten ermögli-
chen, ist das eine leere Symbolmaßnahme.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben mit dem Gesetz zum Beispiel einen Anspruch
auf Kinderbetreuung während der Teilnahme an Weiter-
bildungsmaßnahmen geschaffen. Auch das ist gut und
längst überfällig. Aber zusammengenommen ist das im-
mer noch so, als würden Sie versuchen, mit einer Pipette
den Garten zu gießen. Die Soldatinnen und Soldaten
brauchen keine Symbolpolitik, sondern grundlegende
und umfassende Verbesserungen. Verlässliche Planun-
gen, längere Stehzeiten an einem Standort, flächende-
ckende Betreuung für Kinder – das sind nur einige Bei-
spiele für die bestehenden Herausforderungen, die Sie
nicht angehen.

Ein weiteres Beispiel ist die Erhöhung des Frauenan-
teils. Da widerspreche ich ausdrücklich dem Kollegen
Koch, für den das eine Remilitarisierung darstellt. Den
Bedarf an Nachwuchs, vor allem auch an hochqualifi-
zierten Fachkräften, werden Sie auf Dauer nur decken
können, wenn auch mehr Frauen bereit sind, zur Bundes-
wehr zu gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Dazu hören wir von Ihnen derzeit außer schönen Worten
nichts. Wir haben Ihnen in einem eigenen Antrag eine
Reihe von Vorschlägen gemacht und laden Sie herzlich
ein, dem nachher zuzustimmen.

Insgesamt untergraben aber nicht nur die fehlenden
Maßnahmen zur Verbesserung der Attraktivität die Er-
folgschancen der Reform; auch die Art und Weise Ihres
Vorgehens ist alles andere als hilfreich. Sie bemühen
sich verzweifelt, das Bild eines wohlgeordneten und
durchdachten Prozesses zu beschreiben. Doch was wir
auf den letzten Metern der Beratungen über diesen Ge-
setzentwurf erleben durften, ist bezeichnend für den ge-
samten bisherigen Ablauf der Reform: Über die Presse-
verteiler wurde da von der Unionsfraktion schon der
erfolgreiche Abschluss der Beratungen verkündet. Aber
noch am gleichen Tag war klar, dass in Ihrer eigenen
Fraktion noch nicht alle Fragen geklärt waren, und das
ganze Gesetz ging zurück an den Ausschuss. Dieses Hin
und Her zieht sich durch den ganzen Reformprozess.

In der Abstimmung zwischen den Ministerien wurde
Ihr ursprünglicher Gesetzentwurf zum Zankapfel und in
jeder Hinsicht zerrupft und zerfleddert. Wie bei vielen
Fragen zeigt sich auch bei dieser Reform die tiefe Unei-
nigkeit der Bundesregierung. Sie verschieben Ihre Kon-
flikte einfach ins Parlament, das dann die gröbsten
Schnitzer ausbügeln soll.

Für die Betroffenen bedeutet diese chaotische Vorge-
hensweise vor allem ein massives Auf und Ab. Eine
grundlegende Verunsicherung wird zum ständigen Be-
gleiter. Die Soldatinnen und Soldaten und auch die zivi-
len Mitarbeiter sind doch kein Spielball der regierungs-
internen Streitereien.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


So kann eine Mitnahme der betroffenen Menschen ein-
fach nicht gelingen, und das, meine Damen und Herren,
ist eine der größten Schwächen des Reformprozesses.

Was das Bundeswehrreform-Begleitgesetz im Kon-
kreten betrifft: Im Verlauf des Beratungsprozesses wur-
den erhebliche Schwächen angesprochen. Sie, meine
Damen und Herren von der Koalition, haben sich da
durchaus bewegt, ein wenig zumindest, aber auch nicht
weit genug.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Dann haben Sie nicht richtig hingeguckt!)


Bei anderen Gesetzen, die die Bundeswehr betreffen, ha-
ben Koalition und Opposition in den vergangenen Jahren
konstruktiv zusammengearbeitet. Hier haben Sie eine
solche Zusammenarbeit nicht wirklich verfolgt. Vor we-
nigen Wochen haben Sie hier im Plenum vollmundig
eine gemeinsame Arbeit an diesem Gesetz angekündigt.
Das waren allerdings leere Versprechungen. Sie haben
unsere Anträge im Ausschuss einfach niedergestimmt.
Das ist angesichts der Rolle der Bundeswehr als Armee
des gesamten Parlaments wirklich bedauerlich. Wir la-
den Sie jetzt noch einmal ein, unserem Entschließungs-
antrag zuzustimmen, mit dem wir eine Reihe von Vor-





Agnes Brugger


(A) (C)



(D)(B)


schlägen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und
der Attraktivität der Bundeswehr machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Elke Hoff [FDP]: Die haben wir ja schon auf den Weg gebracht!)


Das Gesetz ist jedenfalls immer noch keine runde Sa-
che, auch wenn wir das Ziel einer kleineren und attrakti-
veren Bundeswehr teilen. Ich will zum Abschluss noch
einmal die drei wesentlichen Kritikpunkte nennen: Mit
den vorgeschlagenen Instrumenten werden Sie erstens
die Zielstruktur nicht erreichen. Sie werden zweitens die
Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr nicht wirk-
lich verbessern. Das Gesetz ist damit drittens ein weite-
rer Beitrag zur Verschleppung der Probleme statt zu ihrer
Lösung. Darum können wir dem nicht zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718421800

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1718421900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Diese Woche ist eine gute Woche für die Bundeswehrre-
form: Am Dienstag hat der Minister die Feinausplanung
der Stationierung bekannt gegeben, und heute beraten
und beschließen wir das Bundeswehrreform-Begleitge-
setz. Beides sind zentrale Säulen dieser Reform. Seit
Dienstag ist klar, wann die bereits getroffenen Standort-
entscheidungen umgesetzt werden, und ab heute, unter
welchen auch finanziellen Rahmenbedingungen der er-
forderliche Personalumbau stattfindet.

Ich sage bewusst „Umbau“, weil es bei dem Gesetz
eben nicht nur um den Personalabbau geht, sondern auch
darum, jungen Menschen ein attraktives Angebot zu ma-
chen, damit sie zur Bundeswehr kommen. Das geschieht
beispielsweise durch die bessere Vereinbarkeit von Fa-
milie und Dienst, Verpflichtungsprämien oder attrakti-
vere Fortbildungs- und Berufsförderungsmöglichkeiten.

Wir beenden damit in dieser Woche eine Phase der
Unsicherheit, die die Angehörigen der Bundeswehr, ihre
Familien, aber auch die Kommunen, die von Standort-
schließungen betroffen sind, erheblich belastet hat. Ich
verhehle nicht, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn
wir die Phase der Unsicherheit schon früher hätten been-
den können. Ich sage aber auch: Schlimmer, als nichts zu
wissen, ist, etwas zu wissen, auf das man sich einstellt,
das dann aber wieder geändert werden muss, weil
irgendjemand irgendetwas vergessen hat. Deswegen
muss bei Vorhaben wie der Bundeswehrreform der
Grundsatz gelten: Sorgfalt vor Schnelligkeit.

Im Zuge der Beratungen über das Bundeswehr-
reform-Begleitgesetz haben wir im Parlament die Zeit
genutzt, das Gesetz noch einmal substanziell zu verbes-

sern. Kollege Beck hat die Änderungen im Einzelnen
vorgestellt. Mir persönlich war es ein Anliegen, dass die
Hinzuverdienstgrenzen wegfallen; denn die Hinzuver-
dienstgrenzen waren für hochqualifizierte ehemalige
Soldaten im Ruhestand nichts anderes als ein Anreiz, zu
Hause zu bleiben, anstatt in die freie Wirtschaft zu
gehen. Das mag in Zeiten, in denen wir 5 Millionen
Arbeitslosen hatten, gerechtfertigt gewesen sein, aber es
passt nicht in die Zeiten des Fachkräftemangels.

Es war richtig, dass wir die Chance genutzt haben, im
Bereich Hinzuverdienst die Ungleichbehandlung der
Soldaten mit NVA-Vergangenheit zu beenden. Es
stimmt, liebe Frau Brugger, es geschah buchstäblich in
letzter Minute, aber wir haben es geschafft. Es ist an der
Zeit, darauf hinzuweisen, wer den Spieß in letzter Mi-
nute umgedreht hat. Das war unser kompromissbereiter
CSU-Innenminister Friedrich, aber es waren auch unsere
wirklich hartnäckigen Ost-CDU-Abgeordneten,


(Zuruf von der CDU/CSU: Robert Hochbaum!)


die sich über Wochen hinweg für dieses Thema einge-
setzt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nur ihnen haben es die Betroffenen zu verdanken, dass
diese Ungleichbehandlung beendet wird. Einer der gro-
ßen Vorkämpfer dafür sitzt hier: Robert Hochbaum.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Er wird zu diesem Thema noch sprechen.

Verehrte Damen und Herren von der Opposition, ins-
besondere der SPD und Grünen, an einem Punkt ver-
stehe ich Sie nicht. Sie müssten dem, was wir in unserem
Änderungsantrag formuliert haben – Wegfall Hinzuver-
dienst, Ungleichbehandlung von NVA-Soldaten –, in-
haltlich eigentlich zustimmen.


(Zuruf von der FDP: So ist es!)


Ich verstehe nicht, warum Sie gestern im Verteidigungs-
ausschuss unseren Änderungsantrag abgelehnt haben.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir bessere haben!)


Das 08/15-Standardargument der Opposition: „Ja, Ihr
Antrag geht in die richtige Richtung, aber nicht weit ge-
nug“, ist an dieser Stelle nicht angebracht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718422000

Herr Kollege Brandl.


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1718422100

Nein, ich mache fertig, und dann.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718422200

Was heißt das?


(Heiterkeit)


Die Uhr wird angehalten, wenn Sie die Zwischenfrage
zulassen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1718422300

Ich habe jetzt noch fünf Sätze, und die mache ich fer-

tig. Dann können wir eine Kurzintervention machen.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Er macht den Trappatoni!)


Also gut, ich lasse die Zwischenfrage zu.


(Heiterkeit)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1718422400

Frau Keul, bitte schön.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718422500

Vielen Dank, Herr Kollege. Sie haben uns gerade ge-

fragt, warum wir Ihrem Änderungsantrag nicht zuge-
stimmt haben. Als es eben in der Rede der Kollegin
Brugger um den Anteil von Frauen in der Bundeswehr
ging, haben Sie alle applaudiert,


(Zuruf von der FDP: Ja!)


und auch Generalinspekteur Wieker hat sich öffentlich
ähnlich geäußert, wie wir das in unserem Antrag tun.
Deswegen hätte ich an Sie die Frage: Warum stimmen
Sie denn unserem Antrag „10 Jahre Frauen in der Bun-
deswehr“ nicht zu?


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1718422600

Wir haben uns mit Ihrem Antrag mindestens genauso

intensiv beschäftigt wie Sie sich mit unserem Ände-
rungsantrag. Wir sind zu dem Schluss gekommen: Mit
den konkreten Maßnahmen, die wir im Bundeswehr-
reform-Begleitgesetz vorgesehen haben, zum Beispiel
die Erstattung von zusätzlichen Kinderbetreuungskos-
ten, die während dienstlicher Qualifizierungsmaßnah-
men anfallen, sind wir auf dem richtigen Weg, andere
müssen noch folgen. Verehrte Frau Kollegin Keul, Sie
können sich darauf verlassen, da werden weitere kom-
men.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Noch einmal zu unserem Änderungsantrag im Aus-
schuss und zu meinem Unverständnis darüber, dass Sie
ihm nicht zugestimmt haben. Sie wissen doch ganz ge-
nau, dass es für uns nicht so einfach war, all das, was wir
geschafft haben, auch tatsächlich durchzusetzen. In der
Opposition redet es sich leicht. Aber wir in der Regie-
rungskoalition haben Rahmenbedingungen zu beachten,
nämlich Regelungen zu schaffen, die nicht nur für
unsere Soldatinnen und Soldaten und Beamtinnen und
Beamten in der Bundeswehr attraktiv sind, sondern allen
Bundesbediensteten vermittelt werden können. Dazu
gehört auch der Bundesfinanzminister. Die Regelungen
müssen auch der Bevölkerung vermittelt werden kön-
nen.

Aus meiner Sicht ist uns dies mit diesem Gesetzent-
wurf gelungen. Wir unterbreiten den Soldatinnen und
Soldaten, die bleiben, den Soldatinnen und Soldaten, die
gehen, und den Soldatinnen und Soldaten, die kommen

wollen, ein faires Angebot. Ich bin stolz auf unseren
Gesetzentwurf.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718422700

Jetzt hat das Wort die Kollegin Karin Evers-Meyer

von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1718422800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Dr. Brandl, erlauben Sie mir, zunächst zu sagen:
Wir können Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen,
wenn Sie sich nicht mit unseren guten Anträgen beschäf-
tigen und nicht einmal einige Anregungen aufnehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Henning Otte [CDU/CSU]: Zerreden Sie doch nicht die gute Sache!)


Wir hätten das gerne gemeinsam gemacht. Ich glaube
aber, in diesem Fall hat es einmal nicht an SPD und Grü-
nen gelegen.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Wie sonst immer!)


Ich möchte mich ein wenig mit der Attraktivität der
Bundeswehr für Frauen beschäftigen. Wir haben seit
zehn Jahren Frauen in der Bundeswehr. Die Bundeswehr
hat dadurch ein ganz anderes Gesicht bekommen. Ich
finde, Frauen in der Bundeswehr sind heute eine Selbst-
verständlichkeit. Das ist insgesamt sehr erfreulich. Die
Öffnung der Bundeswehr für Frauen hat der Armee gut-
getan: mehr Pluralität, mehr Offenheit, mehr Stabilität
und natürlich auch mehr Transparenz. Ich denke, man
muss wirklich sagen: Hier hat die Bundeswehr einen
ganz tollen Job gemacht. Soldatinnen so zu integrieren,
wie die Bundeswehr das gemacht hat, das ist schon ein
Lob wert.

Ich finde aber auch, dass man nicht auf halbem Wege
stehen bleiben sollte. Es gibt immer noch zu wenige
Frauen in der Bundeswehr. Ihr Anteil beträgt heute
knapp 10 Prozent. In manchen Dienstbereichen, bei-
spielsweise bei den Feldjägern, liegt die Quote noch weit
unter der nach dem Soldatinnen- und Soldatengleichstel-
lungsgesetz angestrebten Quote von 15 Prozent. Da be-
steht ein ganz schöner Unterschied. Da haben wir noch
viel zu tun. Im Sanitätsdienst hingegen haben wir einen
Frauenanteil von 40 Prozent. An dieser Stelle muss ich
deutlich sagen: Die Quote beim Sanitätsdienst ist nicht
die weiße Salbe für die Defizite in den Dienstbereichen,
in denen Frauen immer noch ganz stark unterrepräsen-
tiert sind.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir müssen wirklich darauf achten, dass der Frauen-
anteil in den verschiedenen Dienstbereichen möglichst





Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)


gleichmäßig verteilt anwächst. Blumige Erfolgsberichte
ändern nichts an mangelnden Fortschritten, auch wenn
die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP
das gerne hätten.

Eines steht aber auch fest: Viel zu wenige Frauen ent-
scheiden sich für den Dienst in der Bundeswehr. Die
Frage ist: Warum ist das so? In der Koalition sind Sie
darüber – wie immer – ein wenig zerstritten. Für die
FDP liegt der Grund in der Verbesserung der Vereinba-
keit von Familie und Dienst. Unserer Ansicht nach
stimmt diese Richtung. Für CDU und CSU fehlen die
zeitlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der Quote.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
wenn ich daran erinnern darf: Frauen stehen seit zehn
Jahren alle Dienstbereiche offen und nicht erst seit zehn
Monaten.

Ein kleines Beispiel dazu: Ich bereise im Moment
meinen Wahlkreis. Dabei treffe ich auf Soldatinnen und
Soldaten. Zum Beispiel in der Nähe von Wittmund habe
ich eine verzweifelte Soldatin getroffen, die ihr Kind erst
um 8 Uhr im Kindergarten abgeben kann, aber um 7 Uhr
Dienstbeginn in Wilhelmshaven hat. Der Vater ist im
Einsatz. In meinem Wahlkreis treffe ich häufig auf sol-
che Fälle. Ich denke, dass wir bisher zwar sehr viel da-
rüber geredet haben, aber nur ganz wenig konkret getan
haben. Die Bundeswehr muss viel offensiver damit um-
gehen und darf sich nicht darauf verlassen, dass die
Kommunen und andere Einrichtungen genügend Plätze
zur Verfügung stellen. Auf gar keinen Fall!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es darf auch nicht sein, dass ein sechsmonatiger Aus-
landseinsatz auf dem Rücken fürsorglicher Großeltern
ausgetragen wird. Daran ändern die Gesetze aus diesem
Hause gar nichts. Wenn man sich, so wie hier, nicht einig
ist, dann geht das immer zulasten von Eltern und Kin-
dern, in der Regel zulasten von Frauen.

Es kommt jetzt darauf an, dass die Selbstverständlich-
keit der Gleichstellung an Bedeutung gewinnt. Nur dann
werden Frauen und Männer gleiche Chancen haben, sich
auch in militärischen Führungspositionen zu beweisen.
Über dieses Thema haben wir heute im Laufe des Vor-
mittags schon lang und breit gesprochen.

Wir werden jedenfalls alles genau beobachten und die
Regierung daran erinnern. Wenn Sie es mit der Gleich-
stellung von Frauen in der Bundeswehr tatsächlich ernst
meinen, haben Sie sicherlich vorgesehen, demnächst
eine Evaluierung durchzuführen. Mich würde es sehr
freuen, wenn ich ab und zu lesen könnte, welche Fort-
schritte es gibt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718422900

Jetzt hat das Wort der Kollege Burkhardt Müller-

Sönksen von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Rede ID: ID1718423000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als

vor über zehn Jahren die ersten Soldatinnen ihren Dienst
in der Bundeswehr aufnahmen, markierte ihr Antritt für
manche der altgedienten Militärs den gefühlten Anfang
vom Ende ihrer geliebten Bundeswehr. Doch schon nach
kurzer Zeit wurde deutlich, welche Bereicherung enga-
gierte Frauen für die Bundeswehr sind. Mittlerweile leis-
ten mehr als 17 000 Frauen ihren Dienst, Tendenz stei-
gend, und das ist auch gut so.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber die durchaus positiven Zahlen dürfen nicht den
Blick auf die immer noch in Teilen vorherrschenden Pro-
blemlagen verstellen. Die Integration von Frauen ist
noch längst nicht abgeschlossen. Sie ist ein langfristiger
Prozess, der die Bundeswehr auch in den nächsten Jah-
ren begleiten wird. Diesen Prozess müssen wir als sol-
chen wahrnehmen. Selbstverständlich dürfen wir unge-
duldig sein, aber auch nicht ungerecht gegenüber
denjenigen, die sich bemühen, diesen Prozess zu fördern
und zu beschleunigen.

Die jährlichen Berichte des Wehrbeauftragten machen
deutlich, dass im persönlichen Umgang innerhalb der
Bundeswehr Soldatinnen mitunter nicht die verdiente
Wertschätzung ihrer Arbeit erfahren. Wir nehmen diese
Kritik ernst und sorgen dafür, dass diese Fälle – in der
Vergangenheit wie auch in Zukunft – konsequent ver-
folgt und aufgeklärt werden. Mein Dank gilt den militä-
rischen und zivilen Gleichstellungsbeauftragten, die die-
ses wichtige Thema immer wieder ansprechen und mit
ihren Beratungsleistungen die Soldatinnen bei ihrer täg-
lichen Arbeit begleiten.

Im April bin ich zu einem Besuch in Afghanistan ge-
wesen. In Masar-i-Scharif und in Kunduz habe ich das
Gespräch mit Soldatinnen gesucht. Sie berichteten mir,
dass sie häufig eben nicht eine Sonderstellung aufgrund
ihres Geschlechts einnehmen wollen. Sie verstehen sich
als einen gleichberechtigten Teil ihrer Einheit. Für sie
hat manche gut gemeinte Fördermaßnahme den gegen-
teiligen Effekt, nämlich dass sie sich dem Anschein
einer Bevorzugung ausgesetzt sehen. Das zeigt, dass die
Maßnahmen zur Förderung mit Bedacht gewählt werden
müssen. Gut gemeint kann eben schnell zum Gegenteil
von Gut werden.

Was hilft, ist keine leere Symbolpolitik, sondern kon-
krete Maßnahmen, die die Bundeswehr als Arbeitgeber
für Frauen attraktiver machen. In vielen Studien wird als
aktuell größte Herausforderung die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie genannt. An diesem Punkt setzen wir
ganz konkret an. Familienfreundlichkeit wird in Zukunft
einer der wichtigsten Faktoren bei der Berufswahl junger
Menschen sein. Dabei ist es entscheidend, dass sich die
Unterstützungsangebote an den realen Lebens- und Ar-
beitsbedingungen der Soldatinnen und Soldaten orientie-
ren.





Burkhardt Müller-Sönksen


(A) (C)



(D)(B)


Wir realisieren aktuell – das ist ein ganz konkretes
Beispiel – das Projekt „Zu Hause in der Bundeswehr“,
bei dem neben attraktiven Wohnmöglichkeiten für die
ganze Familie ein umfassendes Familienbetreuungspro-
gramm angeboten wird. Wir ermöglichen die Kosten-
übernahme für die Betreuung der Kinder von Soldatin-
nen und Soldaten, die an Fortbildungsmaßnahmen
teilnehmen. All das sind Maßnahmen, die nicht nur die
Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber für Frauen
steigern, sondern generell allen Soldaten mit Familien-
pflichten helfen. Wir wollen ja ein bestimmtes gesell-
schaftliches Berufsmodell nicht nur auf die Soldatinnen
projizieren.

Ich komme zum Schluss. Wir nutzen den laufenden
Reformprozess als Chance, um das Ziel eines ausgewo-
generen Geschlechterverhältnisses innerhalb der Bun-
deswehr zu erreichen. „Zehn Jahre Frauen in der Bun-
deswehr“ ist ein Erfolgsmodell, ein Erfolg keineswegs
nur für die Frauen selbst, sondern auch ein Erfolg für die
Bundeswehr und für unsere Gesellschaft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718423100

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Robert Hochbaum (CDU):
Rede ID: ID1718423200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Heute – es wurde schon mehrfach angespro-
chen – ist ein guter Tag für die Bundeswehr. Heute ist
aber auch ein guter Tag für die Soldatinnen und Soldaten
sowie für die zivilen Angestellten bei unseren Streitkräf-
ten, die mit der anstehenden Reform konfrontiert wurden
und werden.

Mit der heutigen Beschlussfassung zum Bundeswehr-
reform-Begleitgesetz setzen wir einen weiteren zentralen
Meilenstein für eine leistungsfähige und effiziente Bun-
deswehr der Zukunft. Zusammen mit der von unserem
Minister de Maizière diese Woche vorgestellten Reali-
sierungsplanung geben wir unseren Soldaten und zivilen
Angestellten Entscheidungshilfen, Anreize und feste Da-
ten an die Hand, die sie befähigen, jetzt für sich und ihre
Familien eine zufriedenstellende Zukunftsplanung zu rea-
lisieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht
weniger als unsere Pflicht, für die Menschen, die mit den
Auswirkungen unserer Entscheidungen konfrontiert
werden, Planungssicherheit zu schaffen und klare Per-
spektiven aufzuzeigen.

Der nun final vorliegende Gesetzentwurf gibt Ant-
worten auf die Herausforderungen der Zukunft, die un-
ser Verteidigungsminister bei der Einbringung des Ge-
setzentwurfs treffend formuliert hat – ich zitiere –:

Wir brauchen weniger Personal. … Wir müssen das
richtige Personal am richtigen Platz in der Bundes-
wehr haben. … Wir brauchen neues Personal.

Um diese Ziele zu erreichen, haben auch wir uns im
parlamentarischen Raum eingebracht und einige Ergän-
zungen in den vorliegenden Gesetzentwurf eingearbei-
tet. Wichtig waren für uns immer die Fragen: Reichen
die Anreize aus? Ermutigen sie Soldaten und Beamte,
die Bundeswehr freiwillig zu verlassen, einen sicheren
Arbeitsplatz aufzugeben und neue, vielleicht unsichere
Herausforderungen anzunehmen?

Ein besonderer Punkt war dabei aus meiner Sicht vor
allem die Nachbesserung beim Hinzuverdienst für vor-
zeitig ausscheidende Soldatinnen und Soldaten. Gerade
vor dem Hintergrund der von mir eben aufgeworfenen
Fragen zur Realisierung der Reform war es ein wichtiger
Schritt, die Hinzuverdienstgrenze für Tätigkeiten außer-
halb des öffentlichen Diensts aufzuheben. Denn: Ers-
tens. Für den Bundeshaushalt entsteht nach der Aufhe-
bung der Grenze so gut wie keine Belastung. Zweitens.
Ganz im Gegenteil: Durch die Beschäftigungen, die
dann sozialversicherungspflichtig sind, generiert man
Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Drittens.
Die vorzeitig ausgeschiedenen Soldatinnen und Soldaten
werden trotz ihres Alters, wie bei der entsprechenden
Anhörung – etliche Kolleginnen und Kollegen waren da-
bei – durch die Bundesagentur für Arbeit bestätigt
wurde, gute Chancen auf eine Beschäftigung im ersten
Arbeitsmarkt haben.

Sehr geehrte Damen und Herren, nun komme ich zu
einem Punkt, der mir ganz persönlich – man hat es schon
gehört – am Herzen liegt: der Ost-West-Angleichung.
Ich danke dem Bundespräsidenten, der bei seinem An-
trittsbesuch bei der Bundeswehr an der Führungsakade-
mie in Hamburg folgenden Satz sagte – ich darf zitieren –:

Ich stehe vor der Bundeswehr, zu der ich seit
22 Jahren auch „meine Armee“ sagen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ja, seit 22 Jahren gibt es kein Ost und West mehr. Seit
22 Jahren sitzen Bundeswehrsoldaten mit und ohne
NVA-Vordienstzeit an einem Schreibtisch. Seit 22 Jah-
ren kämpfen sie Seite an Seite im Auslandseinsatz. Sie
kämpfen Seite an Seite für die Sicherheit unseres geein-
ten Deutschlands.

Aus diesem Grund freue ich mich heute ganz beson-
ders, dass es mit unserem Änderungsantrag gelungen ist,
einen weiteren Schritt in Richtung Gerechtigkeit bei der
Ost-West-Angleichung zu gehen, und wir nun Soldaten
mit NVA-Vordienstzeiten in der Bundeswehr bei einem
Ausscheiden die gleichen Chancen des Hinzuverdiensts
ermöglichen wie ihren Kollegen ohne diese Vordienst-
zeiten.


(Beifall des Abg. Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU])


Ich möchte mich darum bei allen bedanken, die dies
ermöglicht haben, besonders natürlich bei unserem Ver-
teidigungsminister Thomas de Maizière, aber auch bei
dem Sprecher der ostdeutschen Abgeordneten der CDU,
Arnold Vaatz, bei unserem Innenminister Dr. Hans-Peter
Friedrich – das ist hier schon angeklungen – und natür-





Robert Hochbaum


(A) (C)



(D)(B)


lich bei all den anderen Kollegen, die daran beteiligt wa-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herzlichen Dank für einen kleinen, aber wichtigen
Schritt zur Ost-West-Gerechtigkeit!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1718423300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Beglei-
tung der Reform der Bundeswehr. Der Verteidigungsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9954, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/9340 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.

Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9986. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der SPD-
Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen ab-
gelehnt.

Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9987. Wer stimmt dafür? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der Grünen und
der SPD abgelehnt.

Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „10 Jahre Frauen in der Bundeswehr“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8496, den Antrag der Fraktion der Grü-
nen auf Drucksache 17/7351 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth (Esslingen), Marlene Rupprecht (Tuchen-
bach), Christoph Strässer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische
Kinderarbeit durchsetzen

– Drucksache 17/9920 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Marlene Rupprecht von der SPD-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1718423400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Ich weiß, dass es spät ist, und es tut mir auch leid, dass
wir jetzt noch reden müssen, aber ich denke, es ist not-
wendig, ab und zu ein Thema anzuschneiden, das im
politischen Geschäft nicht sehr im Vordergrund steht, zu-
mal wir vorgestern, am Dienstag, dem 12. Juni 2012, das
zehnjährige Bestehen des Welttages gegen Kinderarbeit
begangen haben. Diese zehn Jahre sollten wir uns noch
einmal in Erinnerung rufen. Es ist also noch gar nicht so
lange her, dass wir uns weltweit darauf einigen konnten,
dass Kinderarbeit, und zwar ausbeuterische Kinderar-
beit, in keiner Gesellschaft, egal wie sie beschaffen ist,
geduldet werden kann.

Für alle Jugendlichen und jungen Menschen: Es ist
gesetzlich klar geregelt, unter Kinderarbeit wird nicht
das Mithelfen im Haushalt verstanden; das vielleicht zur
Klarstellung. Nicht dass ein Kind morgen ankommt und
sagt: Ich bringe den Müll nicht mehr hinaus, weil das
Kinderarbeit ist. – Nein, das ist damit nicht gemeint.
Hier geht es um ausbeuterische Kinderarbeit, vor allem
in Ländern der Dritten Welt.

200 Millionen Kinder werden in ihrem Leben wirk-
lich massiv von Kinderarbeit beeinträchtigt. Sie werden
ausgenutzt: in Fabriken zum Teppichknüpfen, in Stein-
brüchen zum Steineschlagen, auf dem Feld zum Ernten,
und zwar in einer Art und Weise, dass ihre körperliche
und seelische Entwicklung massiv darunter leidet und
sie von jeglicher Bildung ferngehalten werden. Darum
geht es.





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


Ich will mich nicht hier hinstellen – ich glaube, das
wird keiner von uns tun – und sagen: Wir sind die besse-
ren Menschen, und wir wissen, worum es geht. – Nein,
es geht darum, dass ausbeuterische Kinderarbeit eine
ganz massive Menschenrechtsverletzung ist. Wir wissen
auch, dass Kinder nicht deswegen ausgebeutet werden,
weil ihre Eltern sie misshandeln wollen, sondern Kinder
werden ausgebeutet, weil Armut und Not so groß sind.
Deshalb müssen alle eingesetzten Maßnahmen dazu füh-
ren, dass Eltern ebenfalls aus ihrer Armut herauskom-
men, dass Kinder Bildung wahrnehmen können. Das
heißt, es braucht ein ganzes Maßnahmenbündel, damit
Kinderarbeit in diesen Ländern ein Ende hat.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)


Das ist die Grundvoraussetzung. Es geht hier nicht
um Gutmenschentum und auch nicht darum, unser Ge-
wissen zu beruhigen. Nein, es geht darum, mit diesen
Ländern Verhandlungen zu führen, Projekte mitzufinan-
zieren, um Bildung zu ermöglichen, dass Kinder die
Schule besuchen können. Doppelt ausgebeutet sind
Mädchen, die sehr häufig verkauft werden, um in Haus-
halten als Sklavinnen zu arbeiten.

Was brauchen wir? Nachdem die UN-Kinderrechts-
konvention in Deutschland voll ratifiziert und ohne Aus-
nahme anerkannt ist, ist sie Gesetz. Das heißt, jeder, der
sich nicht daran hält, begeht einen Gesetzesbruch. Es ist
notwendig, dass bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen,
die Kinderrechte und die Kernarbeitsnormen der Interna-
tionalen Arbeitsorganisation eingehalten werden. Auch
das Vergaberecht muss eingehalten werden; denn dort
steht eindeutig, dass all diese Belange zu berücksichti-
gen sind.

Wenn all das gemacht wird, haben wir eine Chance,
dass keine billigen Produkte auf den deutschen bzw. den
europäischen Markt gelangen, die durch ausbeuterische
Kinderarbeit entstanden sind, das heißt, dass Kinder
dazu benutzt werden, damit es uns gut geht.

Welches Problem haben wir als Verbraucher? Wir ha-
ben eine Vielfalt an Zertifikaten. Ich habe heute einmal
im Internet nachgeschaut: Angesichts der vielen Zertifi-
kate und Siegel ist der Verbraucher völlig hilflos und
weiß nicht mehr, welche Zertifizierung dafür steht, dass
dieses Produkt ohne Kinderarbeit gefertigt wurde. Des-
halb brauchen wir einen runden Tisch oder Ähnliches;
Versuche dazu sind schon unternommen worden. Die
Wirtschaft, die Politik, Abgeordnete, Regierung und
NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die vor allem in
den Ländern aktiv gegen Kinderarbeit tätig sind, müssen
sich zusammensetzen und sich dann auf gemeinsame La-
bel oder Zertifikate verständigen, damit das Ganze für
die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich durchschaubar
ist.

Wir müssen die Menschen aufklären, was Kinderar-
beit wirklich bedeutet, statt das Thema beiseitezuschie-
ben. Vor nicht einmal einem Jahrhundert gab es das auch
bei uns in Europa. Denken Sie nur an die Ausbeutung
der Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, die im
Sommer über die Alpen zogen. Auch dem haben wir ei-

nen Riegel vorgeschoben und die Lebenssituation der
Menschen so verändert, dass das nicht mehr stattfindet.

Warum um Himmels willen soll es uns nicht gelingen,
weltweit für Kinder solche Lebensbedingungen zu
schaffen, dass es ihnen besser geht?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dies muss die vornehmste Pflicht von Parlamenten und
Regierungen sein. Es muss ein Kernthema sein statt ir-
gendein Nebenthema.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Dazu müssen wir auch die entsprechenden Organisatio-
nen in den Zielländern unterstützen, die versuchen, mas-
siv dagegen vorzugehen. Wir haben die Mittel zurückge-
fahren, statt sie auszubauen.

Über 200 Millionen Kinder davor zu bewahren, halte
ich für eine richtig große Aufgabe. Deshalb reden wir
heute Abend über dieses Thema. Ich weiß, wie schwer es
Ihnen um diese Uhrzeit fällt,


(Michael Brand [CDU/CSU]: Überhaupt nicht! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gerne hier!)


zumal noch viele Themen auf der Tagesordnung stehen
und wir bis Mitternacht beraten. Ich hoffe, dass wir
heute Abend einen Konsens erzielen – deshalb haben wir
unseren Antrag vorgelegt – und alle Maßnahmen ge-
meinsam ergreifen und umsetzen, damit wir die Kinder-
arbeit künftig nicht mehr zum Thema machen müssen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718423500

Es spricht der Kollege Eckhard Pols für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1718423600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In In-

dien knüpfen Kinder bis zu 16 Stunden am Tag Teppi-
che. In Ägypten verätzen sich Kinder ihre Hände in Ger-
berlauge. In Kambodscha werden Kinder wie Waren als
Prostituierte oder Farmarbeiter nach Thailand verkauft.
All diese Kinderschicksale sind Beispiele für ausbeuteri-
sche Kinderarbeit.

Diese Kinderarbeit hat viele Gesichter: Sie kann in
Familien, in privaten Haushalten, in Form von Zwangs-
arbeit und Schuldknechtschaft oder kommerzieller sexu-
eller Ausbeutung stattfinden, in der Industrie und in der
Landwirtschaft. Kinderarbeit raubt Kindern nicht nur
ihre Kindheit, sondern auch ihre Würde und ihre Ge-
sundheit. Als Mitglied der Kinderkommission stehen für
mich bei jeder gesetzgeberischen Initiative das Wohl-
ergehen und der Schutz von Kindern stets im Vorder-
grund.





Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)


Maßstab unseres Handelns in der Kinderkommission
sind in erster Linie die in der UN-Kinderrechtskonven-
tion garantierten Rechte. Rechtsklarheit in Bezug auf
Kinderarbeit bringt Art. 32 der Kinderrechtskonvention.
Danach hat jedes Kind das Recht, vor wirtschaftlicher
Ausbeutung geschützt zu werden. Insbesondere dürfen
Kinder nicht zu einer Arbeit herangezogen werden, die
Gefahren mit sich bringt oder die Gesundheit des Kindes
oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder
soziale Entwicklung schädigen könnte. Jeder Staat, der
die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, ist des-
halb verpflichtet, Maßnahmen zum Kinderarbeitsschutz
zu ergreifen.

Meine Damen und Herren, unter uns Familien- und
Entwicklungspolitikern herrscht Einigkeit dahin gehend,
dass es ein weltweites Verbot von Kinderarbeit geben
muss. Das ist ein ambitioniertes politisches Ziel vor dem
Hintergrund, dass es für dieses komplexe und viel-
schichtige Problem keine einfache und schnelle Lösung
gibt. Das werden die Entwicklungspolitiker sicherlich
auch zweifelsfrei bestätigen können.

Es gilt vor allem, die Ursachen von Kinderarbeit zu
bekämpfen statt nur die Symptome. Arme Familien schi-
cken Kinder zur Arbeit, um kurzfristiges Überleben zu
sichern. Das heißt, Armut erzeugt Kinderarbeit, welche
wiederum Armut, Ungerechtigkeit und Diskriminierung
hervorruft: ein wahrer Teufelskreis, den es zu durchbre-
chen gilt.

Ich bin Ihnen eigentlich dankbar, Frau Rupprecht,
dass Sie als Opposition die Gelegenheit genutzt haben,
rechtzeitig zum Welttag gegen Kinderarbeit am 12. Juni
Ihren Antrag auf die Tagesordnung zu setzen. Ich ver-
misse aber in Ihrem Antrag etwas inhaltlich Neues oder
auch bisher nicht bekannte Forderungen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Machen Sie einmal einen Vorschlag!)


Wenn man sich nämlich Ihren Antrag anschaut, stellt
man fest, dass er weitgehend inhaltsgleich mit Anträgen
aus vergangenen Jahren ist.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Weil von euch nichts kommt! Es ist nichts passiert!)


Wenn man dieses sehr wichtige Thema ernst nimmt,
dann muss inhaltlich mehr kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit ist be-
reits seit vielen Jahren ein Schwerpunktthema unserer
Entwicklungspolitik. Ich scheue mich nicht davor, Ihr
Erinnerungsvermögen an dieser Stelle etwas aufzufri-
schen und Ihnen aufzuzeigen, dass wir bei der Bekämp-
fung der Kinderarbeit schon auf einem recht guten Weg
sind. In den letzten Jahren hat sich die Bundesregierung
auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene
verstärkt für die Verankerung der UN-Kinderrechtskon-
vention und der ILO-Übereinkommen 182 – Verbot und
unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimms-
ten Formen der Kinderarbeit – und 138 – Mindestalter
für die Zulassung zur Beschäftigung – eingesetzt.

Nicht unerwähnt bleiben sollte, weil Sie das auch in
Ihrem Antrag fordern, dass Deutschland neben den USA
und Japan drittgrößter Geber im Rahmen des IPEC-Pro-
gramms der ILO ist.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Waren wir!)


Bereits seit 1999 fördert die Bundesregierung dieses
Programm zur Beseitigung der Kinderarmut mit insge-
samt 55 Millionen Euro.

Von elementarer Bedeutung im Hinblick auf jegliche
Maßnahmen ist für mich das Recht des Kindes auf Bil-
dung, das in Art. 28 der UN-Kinderrechtskonvention
festgelegt ist. Wir sprechen somit von einem fundamen-
talen Recht von Kindern, das durch ausbeuterische Kin-
derarbeit ausgehebelt wird; denn Kinderarbeit verhindert
Schulbildung. Erst die Bildung von Kindern ermöglicht
ein selbstbestimmtes Leben und ein Ausbrechen aus dem
Teufelskreis der Armut.

Frau Rupprecht, es ist richtig – Sie haben es ange-
sprochen –: Auch vor Ort, auf kommunaler Ebene, kann
gegen ausbeuterische Kinderarbeit aktiv gekämpft wer-
den. Erfreulich ist, dass viele Länder und Kommunen in
den letzten Jahren bereits Maßnahmen ergriffen haben,
um die Beschaffung von Produkten aus ausbeuterischer
Kinderarbeit zu verhindern. Auch das deutsche Vergabe-
recht – Sie haben es angesprochen, Frau Rupprecht – er-
möglicht es, dass öffentliche Auftraggeber zusätzliche
Voraussetzungen für die Ausführung des Auftrags vor-
schreiben.

Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich in Deutschland
mittlerweile über 250 Städte, Gemeinden und Land-
kreise der Kampagne „Aktiv gegen Kinderarbeit“ ange-
schlossen haben und damit eindeutig bekundet haben,
dass sie Kinderarbeit ablehnen.

Auch wir als Bürgerinnen und Bürger können als Ver-
braucher aktiv gegen Kinderarbeit werden. Produkte aus
ausbeuterischer Kinderarbeit werden in Deutschland
verkauft. Wir haben es schon gehört; Beispiele sind auch
angeführt worden. Ich nenne nur Textilien, Natursteine,
Kaffee, Kakao und auch Fußbälle.


(Zuruf von der SPD: Teppiche!)


In allen diesen und weiteren Waren kann Kinderarbeit
stecken.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deutschland
entgegen der in Ihrem Antrag vertretenen Auffassung
sehr aktiv im Kampf gegen Kinderarbeit ist. Bund, Län-
der, Kommunen, Unternehmen und Bürger sind zuneh-
mend sensibilisiert und ergreifen vermehrt Maßnahmen,
um Produkte, die durch Kinderarbeit entstanden sind, zu
ächten.

Kinderarbeit zu tolerieren, ist unvereinbar mit der In-
vestition in Kinder; denn Investitionen in unsere Kinder
sind Investitionen in eine bessere Zukunft eines jeden
Landes.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718423700

Katrin Werner hat für die Fraktion Die Linke das

Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718423800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass ak-
tuell weltweit circa 215 Millionen Kinder arbeiten müs-
sen. Davon werden etwa 115 Millionen unter sklaven-
ähnlichen Bedingungen ausgebeutet.

Die Linke hat vor einem Jahr hierzu einen Antrag in
den Bundestag eingebracht. Nun hat die SPD einen An-
trag vorgelegt. Ich finde es richtig, dass wir mit Blick auf
den vorgestrigen Internationalen Tag gegen Kinderarbeit
erneut dieses Thema aufgreifen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Länder der Dritten Welt sind von ausbeuterischer
Kinderarbeit besonders betroffen. Die wichtigste Ursa-
che ist Massenarmut. Kinder arbeiten überall dort, wo
ihre Eltern bitterarm sind. Die Kinder werden in Stein-
brüchen, in der Sexindustrie, auf Plantagen oder in Pri-
vathaushalten ausgebeutet. Laut UNICEF bekommen
vier von fünf Kindern für ihre Arbeit noch nicht einmal
einen Lohn. Allein in Indien arbeiten circa 150 000 Kin-
der als Arbeitssklaven in häufig lebensgefährlichen
Steinbrüchen. Die schwere körperliche Arbeit führt zu
Hauterkrankungen, Atemproblemen, gebrochenen Ar-
men und Beinen, Taubheit und Blindheit. Zahlreiche
Kinder sterben an den Folgen dieser Arbeit. Ausbeuteri-
sche Kinderarbeit ist für uns moderne Sklaverei und ge-
hört abgeschafft.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die sozialen Ursachen für diese Kinderarbeit müssen
in den betroffenen Ländern bekämpft werden. Hierbei
muss die Bundesregierung die Bekämpfung der Massen-
armut weitaus stärker unterstützen. Stattdessen hat
Deutschland aber seit Jahren die vereinbarte Zusage,
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwick-
lungszusammenarbeit auszugeben, bis heute nicht er-
füllt. Es werden nur 0,4 Prozent bereitgestellt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist wichtig,
dass Deutschland im Jahr 2002 das ILO-Übereinkom-
men über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur
Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit
ratifiziert hat. Allerdings zählt Deutschland auch zu den
Absatzmärkten für Produkte aus dieser Kinderarbeit. Die
Linke unterstützt deshalb den Beschluss des Bundesrates
vom 9. Juli 2010, möglichst auch den Marktzugang von
Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhin-
dern. So stammen zum Beispiel allein zwei Drittel aller
Grabsteine auf deutschen Friedhöfen ursprünglich aus
Indien, wo die Steine von Kindern abgeschlagen werden.

Was ist mit dem von Kindern abgebauten Marmor?
Was ist mit der Goldkette aus Afrika? In Burkina Faso
arbeiten zwischen 60 000 und 200 000 Kinder in Gold-
minen. Rund 70 Prozent von ihnen sind unter 15 Jahren.
Schon Fünfjährige müssen beim stundenlangen Goldwa-
schen im kalten, schlammigen Wasser mithelfen. Daran
verdienen sich internationale Großkonzerne eine gol-
dene Nase. Das müssen wir verhindern.

Wir fordern: Wir brauchen umgehend ein gesetzli-
ches, möglichst EU-weites Verbot für die Einfuhr, den
Handel und die Verwendung von Produkten aus ausbeu-
terischer Kinderarbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durch Bund, Län-
der und Kommunen muss öffentlich gemacht werden, ob
die ILO-Konventionen gegen Kinderarbeit im Her-
kunftsland und in der Lieferkette lückenlos eingehalten
werden. Für die Linke gehört beides zusammen: Markt-
zugangssperren bei uns und Bekämpfung der sozialen
Ursachen der Kinderarbeit in den Entwicklungsländern.


(Beifall bei der LINKEN)


Nur dann haben Kinder und Eltern eine Zukunft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der weltweite
Schutz der Kinderrechte muss Vorrang vor Profitinteres-
sen von Unternehmen haben. Darüber muss über die
Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestehen. Der An-
trag der SPD spricht wichtige Punkte an, über die wir in
den Ausschüssen reden müssen. Kinder sind unsere Zu-
kunft und brauchen unseren besonderen Schutz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718423900

Der Kollege Pascal Kober spricht jetzt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1718424000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation,
ILO, zufolge sind auch heute noch 215 Millionen Kinder
weltweit gezwungen, zu arbeiten. Rund 115 Millionen
dieser Kinder müssen sogar den schlimmsten, weil be-
sonders gefährlichen Formen von Arbeit nachgehen. Sie
schmuggeln Drogen, sie müssen in Steinbrüchen arbei-
ten, und sie werden gezwungen, sich zu prostituieren
oder als Soldaten in den Krieg zu ziehen.

Vergangenen Dienstag fand der Welttag gegen Kin-
derarbeit statt. Angesichts der geschilderten Fakten soll
uns dieser Gedenktag ermahnen, in unseren Bemühun-
gen um eine weltweite Ächtung ausbeuterischer Kinder-
arbeit nicht nachzulassen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jeder Tag sollte uns mahnen!)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


Ausbeuterische Kinderarbeit ist in den meisten Fällen
eine Folge der Armut der Eltern. Viele Familien sind da-
rauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen bei-
tragen; denn die allermeisten Eltern – davon bin ich
überzeugt – würden ihre Kinder niemals zur Arbeit schi-
cken, wenn sie nicht äußerste Not dazu zwingen würde.

Wir haben es hier jedoch mit einem Teufelskreis aus
Armut, ausbeuterischer Kinderarbeit und fehlender
Schulbildung zu tun; denn nicht nur kann ausbeuterische
Kinderarbeit bei diesen Kindern zu Traumatisierung und
Krankheiten führen und birgt erhebliche körperliche Ge-
fahren bis hin zum Tod; nein, darüber hinaus mangelt es
diesen Kindern meist auch an Schulbildung. Denn wäh-
rend sie arbeiten müssen, können sie weder eine Schule
besuchen noch eine Ausbildung erhalten. Dadurch ver-
lieren sie ihre späteren Chancen auf einen höher qualifi-
zierten Arbeitsplatz und bleiben selbst in der Armut wie
ihre Eltern gefangen. In der Folge werden ihre eigenen
Kinder wieder Gefahr laufen, arbeiten zu müssen; denn
wenn die Not der Eltern groß genug ist, ist auch die Not
groß, ihre eigenen Kinder als Arbeitskräfte zur Verfü-
gung zu stellen. So wird dieser Teufelskreis an die nach-
folgende Generation vererbt.

Um dieses Problem anzugehen, müssen wir an vielen
Stellen gleichzeitig ansetzen. Beispielsweise wirken die
Bundesregierung und die Deutsche Botschaft in Taschkent
auf vielen Ebenen auf die Regierung Usbekistans ein, wo
ausbeuterische Kinderarbeit nach wie vor ein drastisches
Problem darstellt. Ich möchte meine Rede auch nutzen,
um auf die kläglichen und unhaltbaren Zustände bei der
dortigen Baumwollernte exemplarisch aufmerksam zu
machen. Zwar hat Usbekistan bereits die ILO-Konventio-
nen zur Abschaffung von Zwangsarbeit und zur Beseiti-
gung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit ratifi-
ziert, dennoch ist bisher kaum erkennbar, dass den
Unterschriften auch entsprechende Maßnahmen zur Um-
setzung folgen. Im Gegenteil: Die usbekische Regierung
weigert sich beharrlich, eine unabhängige ILO-Untersu-
chungskommission einreisen zu lassen.

Die FDP-Bundestagsfraktion verurteilt diese Arbeits-
einsätze unter Zwang und den Einsatz von Kinderarbeit.
Daher möchte ich es begrüßen, dass die Deutsche Bot-
schaft Taschkent die jährliche Baumwollernte nicht nur
genau beobachtet, sondern sich auch bilateral, im Kreise
der Europäischen Union und in internationalen Gremien
mit Nachdruck gegenüber den usbekischen Behörden für
die Beseitigung von Kinderarbeit einsetzt, so im vergan-
genen Jahr bei den deutsch-usbekischen politischen
Konsultationen, beim EU-Usbekistan-Kooperationsrat
und bei der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO.
Dieses Engagement möchte die FDP-Fraktion durch ei-
nen Appell an die usbekische Regierung unterstützen,
noch in diesem Jahr eine ILO-Untersuchungskommis-
sion einreisen zu lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nicht nur das Auswärtige Amt, sondern auch das Ent-
wicklungsministerium mit Dirk Niebel an der Spitze ist
sehr aktiv bei der Bekämpfung von Kinderarbeit.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Insbesondere beim Teppichknüpfen!)


Ein besonders positives Beispiel ist das vom Bundes-
ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung geförderte Programm in Burkina Faso, das
bis 2015 mit voraussichtlich 5,6 Millionen Euro unter-
stützt wird. Dort nutzen Kinderhändler die weitverbrei-
tete Armut in besonderem Maße aus. Mit der Aussicht
auf ein besseres Leben überzeugen sie Eltern davon, ihre
Kinder wegzugeben. Mehr als 160 000 Kinder sind so zu
Opfern von Kinderhandel und den schlimmsten Formen
von Kinderarbeit geworden.

Das Programm gegen Kinderarbeit des Bundesminis-
teriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung geht hiergegen vielschichtig vor. Neben Bera-
tungstätigkeit gehören Theateraufführungen zu den
Themen Kinderhandel und Kinderarbeit ebenso dazu
wie die Förderung des Schulbesuchs von Mädchen. Die
ersten Ergebnisse stimmen hoffnungsvoll. In den Dör-
fern, die in das Programm integriert sind, stieg die An-
zahl der Mädchen, die eine Schule besuchen, deutlich
an. Obwohl sich die Kampagne in erster Linie an Mäd-
chen richtet, nahm zugleich auch der Schulbesuch der
Jungen in beachtlichem Maße zu.

Die Arbeit des Programms wird mittlerweile von der
lokalen Bevölkerung anerkannt und geschätzt. Inzwi-
schen sprechen sich 90 Prozent der Bevölkerung in den
Schwerpunktregionen gegen Kinderhandel und gegen
Kinderarbeit aus. Die Medien in Burkina Faso berichten
regelmäßig über die Aktivitäten, was wesentlich dazu
beiträgt, dass sich das Bewusstsein in der Gesellschaft
nach und nach ändert.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
möchte betonen, dass die FDP Ihr Anliegen teilt, ausbeu-
terische Kinderarbeit weltweit zu ächten. Wie Sie an den
aufgeführten Beispielen jedoch sehen, ist die Bundes-
regierung bei der Bekämpfung ausbeuterischer Kinder-
arbeit bereits äußerst aktiv. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, wir sollten gemeinsam die Bundesregierung auf
Ihrem Weg unterstützen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718424100

Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718424200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Es ist absolut alle Energie wert und
auch nötig, ausbeuterische Kinderarbeit zu bekämpfen.
Wir sprechen hierbei über fast eine Viertelmilliarde Kin-
der und junger Menschen weltweit, davon rund 70 Mil-
lionen Kinder, die noch nicht einmal zehn Jahre alt sind.
Wir reden gerade nicht über Zeitungsaustragen oder ei-
nen Ferienjob, sondern wir reden über ausbeuterische
Verhältnisse, über Arbeitsverhältnisse, die zum Teil fak-
tische Versklavung darstellen oder der Versklavung sehr





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


nahekommen. Das Schlimmste ist eigentlich, dass wir
registrieren müssen, dass die Zahlen wieder ansteigen.

Ich muss auch sagen, dass mir persönlich die autosug-
gestiven Mantras, die wir vonseiten der Regierungsfrak-
tionen nach dem Motto „Wir sind auf einem guten Weg,
und wir machen doch schon alles“ hören, zu wenig sind.
Ich finde, die kleinen Näherinnen, die kleinen Knüpfer,
die elfjährigen Haushaltsgehilfinnen mit 70-Stunden-
Woche, von denen ich in meiner Zeit in Afrika einige
kennengelernt habe, haben mehr Engagement verdient –
auch und gerade von dieser Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich finde es gut, dass der Antrag, den wir heute bera-
ten, deutlich macht, dass man auf unterschiedlichen Ebe-
nen ansetzen muss.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Vor allem keine falschen Einkäufe!)


Ein einheitliches Zertifizierungssystem für die ge-
samte Produktions- und Lieferkette wäre ein sehr wichti-
ger Schritt. Mehr Informationen für die Verbraucherin-
nen und die Verbraucher wären auch ein deutlicher
Fortschritt, weil tatsächlich viele überhaupt nicht wissen,
dass sie es in ihrem Alltag mit Produkten aus ausbeuteri-
scher Kinderarbeit zu tun haben. Selbstverständlich
– das sollte wirklich selbstverständlich sein – muss die
Bundesregierung bei ihrer eigenen Auftragsvergabe und
Beschaffung eine Vorreiterrolle einnehmen.

Wir müssen aber vor allem den Blick auf die Ursa-
chen von Kinderarbeit richten. Denn nur so kann dieses
Übel tatsächlich an der Wurzel gepackt werden. Die
Ursache von ausbeuterischer Kinderarbeit ist Armut
– das wurde heute Abend schon mehrfach gesagt –, also
die wirtschaftliche Situation der Familien und der Eltern,
die häufig keine andere Wahl lässt. Deshalb sind simple
Boykottappelle, wie es sie immer wieder einmal gibt,
oder auch Forderungen nach Einfuhrverboten sicherlich
gut gemeint;


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Zu kurz gesprungen!)


aber ohne flankierende Maßnahmen können sie fatale
Folgen haben, weil sie die Situation der Kinder und ihrer
Familien zum Teil verschärfen.

Es ist von daher ganz wichtig, in der Entwicklungszu-
sammenarbeit den Auf- und Ausbau sozialer Siche-
rungssysteme viel stärker in den politischen Fokus zu
rücken. Wenn die Eltern in die Lage versetzt werden,
ihre Kinder selbst zu versorgen, und wenn es ein kosten-
loses Bildungssystem gibt, das es auch den ärmsten Kin-
dern wirklich erlaubt, die Schule zu besuchen, dann kann
der Teufelskreis aus Armut und fehlender Bildung
durchbrochen werden.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Herausforde-
rung ist groß. Nur eine kluge Kombination aus selek-
tiven Verboten und staatlicher Unterstützung von Fa-
milien inklusive internationaler Sozialpolitik kann
ausbeuterische Kinderarbeit nachhaltig bekämpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber gerade internationale Sozialpolitik kostet Geld. Für
uns Grüne ist klar – das möchte ich hier noch einmal
deutlich sagen –, dass wir zum 0,7-Prozent-Ziel stehen.
Wir sind bereit, die notwendigen Mittel im Bundeshaus-
halt umzuschichten.


(Marina Schuster [FDP]: Wo nehmen Sie es denn her?)


Dass die schwarz-gelbe Bundesregierung hinter den fi-
nanziellen Zusagen, die Deutschland in der Entwick-
lungszusammenarbeit gemacht hat, weit zurückbleibt,
zeigt leider, wie wenig ernst es den Regierungsfraktio-
nen mit ihren warmen Worten in Debatten wie der, die
wir heute Abend führen, ist.

Die Bundesregierung ist nicht zuletzt durch die Rati-
fizierung der ILO-Kernarbeitsnormen verpflichtet, aktiv
gegen ausbeuterische Kinderarbeit vorzugehen. Wenn
Deutschland im Zusammenhang mit der UN-Kinder-
rechtskonvention seine Vorreiterrolle behalten möchte,
dann braucht es deutlich mehr internationales Engage-
ment. Also: weniger schöne Worte und mehr Taten.
250 Millionen Kinder heute und auch alle, die leider zu-
künftig wahrscheinlich von ausbeuterischer Kinderarbeit
betroffen sein werden, haben mehr Engagement ver-
dient, auch und insbesondere von dieser Bundesregie-
rung.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718424300

Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1718424400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Vor zwei Tagen war der Internationale
Tag gegen Kinderarbeit – Frau Kollegin Rupprecht hat
darauf hingewiesen –, der Jahrestag der Verabschiedung
der ILO-Konvention 182, in der weitreichende Maßnah-
men zur Bekämpfung der Kinderarbeit beschlossen wur-
den. Geht es nach der Internationalen Arbeitsorganisa-
tion, ILO, dann sollen bis 2016, also in vier Jahren,
weltweit die schlimmsten Folgen von Kinderarbeit aus-
gerottet sein – ein ambitioniertes, bei weitem noch nicht
erreichtes Ziel.

Wir alle setzen uns für eine Welt ohne Kinderarbeit
ein; hier herrscht in diesem Haus sicherlich Konsens.
Doch dieses ehrgeizige Ziel wird vor allem in der Dritten
Welt schwer zu erreichen sein. Auch hierauf hat Kolle-
gin Marlene Rupprecht bereits hingewiesen. Ausbeuteri-
sche Kinderarbeit ist in den allermeisten Fällen schlicht
eine Folge von Armut. Viele Familien sind schlichtweg





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


darauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen
beitragen.

Anlässlich des Internationalen Tags gegen Kinderar-
beit hat die SPD-Fraktion vorgestern einen Antrag mit
dem Titel „Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische
Kinderarbeit durchsetzen“ vorgelegt. Dazu möchte ich
gern auf die Antwort der Bundesregierung, Druck-
sache 17/6662, auf Ihre Kleine Anfrage, Drucksa-
che 17/6545, zu diesem Thema verweisen. In dieser
Antwort, bereits vom 25. Juli 2011, ist ausführlich dar-
gestellt, welche vielfältigen Maßnahmen Deutschland
beim Kampf gegen Kinderarbeit bislang ergriffen hat.

Die Bundesregierung unterstützt die ILO seit Jahren
im Kampf gegen Kinderarbeit. So setzt sie sich für die
weltweite Ratifizierung der ILO-Konvention 182 zur
Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit
ein. Darüber hinaus setzt sich die Bundesregierung auch
für eine Verankerung dieser Normen in der Arbeit des
Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe
ein.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit fördert
bereits seit Anfang der 1990er-Jahre das Internationale
Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit, IPEC, der
ILO. Es unterstützt die teilnehmenden Länder bei der
Umsetzung von Strategien zur Bekämpfung der Kinder-
arbeit. Seit Gründung der für die Beseitigung der
Kinderarbeit zuständigen ILO-Abteilung, IPEC, war
Deutschland eine der größten Geldgeber; die Kollegen
haben bereits darauf hingewiesen.

Nachdem Frau Kollegin Rupprecht sehr viel Richti-
ges und Richtungsweisendes – ich kann das nicht zu je-
der Rede sagen – zu diesem Thema bereits ausgeführt
hat, beziehe ich mich auf die Worte meiner Vorredner,
der Kollegin Marlene Rupprecht, des Kollegen Pols, und
gönne Ihnen die zwei Minuten und 30 Sekunden, die ich
noch an Redezeit hätte. Ich wünsche Ihnen noch einen
schönen Abend und nachher dem einen oder anderen
viel Spaß bei dem Sommerfest der DPG.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718424500

Der Kollege Rebmann hat seine Rede netterweise zu

Protokoll gegeben,1) sodass wir am Ende der Aussprache
sind.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9920 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag

der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold,
Erika Steinbach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicher-
stellen

– Drucksachen 17/9185, 17/9914 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Angelika Graf (Rosenheim)

Pascal Kober
Katrin Werner
Volker Beck (Köln)


b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Graf (Rosenheim), Klaus Brandner,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Kloster Mor Gabriel weiter schützen

– Drucksache 17/9921 –

Es wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu
geben.2) – Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren
wir so und kommen zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9914, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/9185 anzu-
nehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung
durch die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Linken haben dagegen gestimmt, die SPD hat sich ent-
halten.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9921 mit dem Titel „Kloster Mor
Gabriel weiter schützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abge-
lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und Bündnis 90/Die Grünen. Alle anderen waren dage-
gen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rio 2012 – Nachhaltige Entwicklung jetzt um-
setzen

– Drucksache 17/9922 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,

1) Anlage 7 2) Anlage 8





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Eva Bulling-Schröter, Ulla Lötzer, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rio+20 – Globale Gerechtigkeit statt grüner
Kapitalismus

– Drucksachen 17/9732, 17/9988 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Dr. Bärbel Kofler
Harald Leibrecht
Heike Hänsel
Ute Koczy

Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.

Somit eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort
dem Kollegen Dr. Matthias Miersch für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Josef Göppel [CDU/CSU] und Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1718424600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Präsidentin, Sie haben sich eben bei einem Kolle-
gen bedankt, weil er seine Rede netterweise zu Protokoll
gegeben hat. Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich es
für gerechtfertigt und angezeigt halte, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt nicht zu Protokoll zu geben
und ihm einen Platz in diesem Plenum zu geben.

Warum? In der nächsten Woche trifft sich die Staaten-
gemeinschaft dieser Welt, um in Rio de Janeiro über
Nachhaltigkeit zu diskutieren. 20 Jahre nach dem ersten
Weltgipfel trifft sich die Staatengemeinschaft, um die
großen Probleme dieser Zeit und die großen Probleme
für zukünftige Generationen miteinander zu besprechen
und zu diskutieren.

Ich glaube, es ist ein bisschen symptomatisch, dass
wir diesen Punkt heute erst zu so später Stunde diskutie-
ren. Der Begriff der Nachhaltigkeit findet zwar in mehr
oder weniger jeder Politikerrede seinen Platz. Aber
Nachhaltigkeit ist inzwischen zu einem Begriff verkom-
men, der beliebig verwendet wird.


(René Röspel [SPD]: Leider!)


Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Parlament
und dass die deutsche Bundesregierung diesen Begriff
und diese Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro be-
gann, mit neuem Leben erfüllen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, 20 Jahre nach Rio blicken wir auf
eine Bilanz, angesichts derer wir uns eingestehen müs-
sen, dass wenig von dem erfüllt wurde, was man sich
1992 vorgenommen hat. Wir haben weiter exorbitant
steigende CO2-Emissionen, noch nie lebten so viele un-
ter der Armutsgrenze, und wir haben einen täglichen
Verlust biologischer Vielfalt. All die Dinge, die wir brau-
chen, um auf diesem Planeten zu leben, reißen wir als le-

bende Generation tagtäglich nieder. Das darf so nicht
weitergehen. Da müssen wir etwas verändern.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Josef Göppel [CDU/CSU] und Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist symptomatisch, dass die Bankenrettung, die
Rettung des Finanzsystems ganz oben auf der Tagesord-
nung steht – möglicherweise zu Recht.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Na also!)


Ich sage Ihnen, Herr Kollege Brand: Ich bin fest davon
überzeugt, dass wir miteinander ein Finanzsystem, ein
Bankensystem retten können. Aber bei den Punkten, die
ich eben aufgezählt habe – da geht es um Schöpfung, um
Ressourcen –, haben wir ein Gegenüber, mit dem wir
nicht verhandeln können. Das müssen wir Politiker,
liebe Kolleginnen und Kollegen, endlich begreifen,
wenn wir das Umsteuern ernst meinen.


(Zustimmung der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es kann nicht so sein, dass wir die Ressourcen, von
denen wir heute wissen, dass sie endlich sind – bei-
spielsweise das Öl; da ist der Zenit schon längst über-
schritten –, weiter verantwortungslos ausplündern, ob-
wohl wir wissen, dass die Weltbevölkerung in den
nächsten Jahren massiv zunehmen wird. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, wer diesen Pfad nicht erkennt, der
handelt verantwortungslos gegenüber allen Generatio-
nen, die nach uns kommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist bedauerlich, dass die Kanzlerin zum G-20-Gip-
fel nach Mexiko reist, es aber nicht auf sich nimmt, im
Anschluss ein paar Hundert Kilometer weiterzufliegen.


(Michael Kauch [FDP]: Ein paar Hundert Kilometer? Es sind ein paar Tausend!)


– Zumindest müsste sie nicht mehr über den großen
Teich, Kollege Kauch; sie ist ja dann schon auf diesem
Kontinent. – Die Kanzlerin bringt es nicht zustande, das
zu machen, was Helmut Kohl 1992 beim ersten Weltgip-
fel gemacht hat, was Gerhard Schröder beim Weltgipfel
in Johannesburg zehn Jahre später gemacht hat, nämlich
dort im Sinne der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für
einen anderen Weg zu werben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für diese Bundesre-
gierung, dass die Kanzlerin diese Kraft nicht aufbringt,
liebe Kolleginnen und Kollegen.

Worum ginge es? Es ginge darum, Vertrauen her-
zustellen, Vertrauen bei den Staaten herzustellen, die
augenblicklich noch festhalten am alten Denken, die
festhalten am alten Energiesystem der fossilen Energie-
versorgung oder an einem Energiesystem, von dem
gesagt wird, das sei die neue grüne Technologie, nämlich
an der Atomkraft. Wir könnten in Rio aktiv und offensiv
für den anderen Weg werben, den wir in diesem Haus





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)


inzwischen in großem Konsens vereinbart haben. Wir
könnten für den Umstieg werben.

Auf der internationalen Ebene hat das viel mit Sym-
bolik zu tun. Wenn die Bundesrepublik Deutschland dort
lediglich mit zwei Ministern vertreten ist – ich sage das
nicht abwertend – und nicht mit der Staatschefin, dann
zeigt das, wie ernst die Bundesregierung diese Entwick-
lung letztlich nimmt und wie ernst sie letztlich auch den
Weg ins neue Zeitalter, ins nachhaltige Zeitalter, nimmt,
liebe Kolleginnen und Kollegen – ein fatales Signal.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Ich meine, es geht darum, dass wir den Begriff der
nachhaltigen Entwicklung mit dem versehen, was ihn
ausmacht, nämlich mit Verbindlichkeit. Wir werden
darum kämpfen müssen. Ich bin mir sicher, dass die Par-
lamentariergruppe und die beiden Bundesminister versu-
chen werden, dort in großer Einigkeit zumindest dafür
zu werben. Wir werden versuchen, die Verbindlichkeit
durch klare Zielsetzungen bei den unterschiedlichsten
Themen – Armutsbekämpfung, Klimawandel, Erhalt der
biologischen Vielfalt – zu normieren.

Wir werden dafür kämpfen müssen, dass dort ein kla-
res Zeitraster beschrieben wird, dass es möglicherweise
auch länderspezifische Angebote gibt, die auf Stärken
und Schwächen der jeweiligen Länder Rücksicht neh-
men. Wir werden aber vor allen Dingen darum kämpfen
müssen, einen institutionellen Rahmen zu schaffen. Das
darf nicht darin münden, dass eine UN-Laberbude ent-
steht, in der man sich gegenseitig beteuert, wie wichtig
Nachhaltigkeit ist, die aber kein Gremium mit Zähnen
ist, das tatsächlich auch die nationale Politik beeinflus-
sen kann.

Um diese Fragen werden wir ringen. Wir wissen, dass
die Rahmenbedingungen augenblicklich nicht günstig
sind. Umso wichtiger wäre es, unsere Argumente dort
mit großer Schlagkraft vorzubringen, und umso bedauer-
licher ist die Nichtteilnahme der Bundeskanzlerin an die-
ser Konferenz.

Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegt heute
ein Antrag vor, in dem wir sehr viele Punkte aufge-
schrieben haben, aus denen sich deutlich ergibt, welche
Handlungsfelder vor uns liegen. Diese Handlungsfelder
betreffen die Existenz der Menschheit. Das muss uns
klar sein.

Ich wünsche mir, dass der Stellenwert der nachhalti-
gen Entwicklung in der UN, aber vor allen Dingen auch
in diesem Haus mehr Beachtung erfährt. Ich glaube, wir
sind aufgerufen, dort mit möglichst einer Stimme zu
sprechen. Die Weltgemeinschaft braucht eine starke
Stimme der Nachhaltigkeit. Ich verspreche mir von der
Teilnahme der Parlamentarier, dass sich der Spirit, also
der Geist, wie er auf der Rio-Konferenz im Jahre 1992
geherrscht hat, auf die Parlamente dieser Welt auswirkt.
Es sollte nicht nur eine Regierungskonferenz sein. Es
sollten nach dieser Konferenz Gesetze folgen, denen
man entnehmen kann, dass Nachhaltigkeit auch im Ge-
setz ein Gesicht bekommt.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718424700

Mir liegt sehr daran, deutlich zu machen, dass es nicht

so ist, dass es mich gefreut hat, als Herr Rebmann seine
Rede zu Protokoll gegeben hat. Ich hätte ihn sehr gerne
gehört, und er hätte sehr gerne geredet. Für den Fortgang
der Sitzung war es aber sehr wichtig, dass sich das Präsi-
dium nicht auflöst. Insofern bitte ich, mich nicht falsch
zu verstehen.

Ich rufe jetzt den Kollegen Göppel für die CDU/CSU-
Fraktion auf.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1718424800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich teile die Meinung des Kollegen Matthias Miersch,
dass diese Konferenz auch von uns mehr Beachtung ver-
dient. In einem allerdings, lieber Freund Matthias
Miersch, bin ich beruhigter: Nachhaltigkeit kann man
zwar zu einem beliebigen Wort machen. Als Förster sage
ich aber: Die Gesetze der Natur kann der Mensch durch
Nichtbeachtung nicht außer Kraft setzen. Die Natur wird
sich wieder melden. Es ist nur die Frage, wie viel Leid
bis dahin über Menschen in verschiedenen Erdteilen
gebracht wird. Es liegt jetzt in unserer Verantwortung, zu
handeln.

Es macht sich allerorten Ernüchterung breit. Es wird
viel über Klein-Klein geredet. Es wird gesagt, vor
20 Jahren gab es eine große Aufbruchstimmung. Das
stimmt auch. Diejenigen unter uns, die dies damals in
den Medien oder direkt vor Ort verfolgen konnten, wis-
sen, dass nach der Überwindung der Ost-West-Konfron-
tation eine geradezu euphorische Stimmung herrschte.
Aus diesem Geist heraus war bei der ersten Rio-Konfe-
renz manches möglich. Ich erwähne die Agenda-21-
Gruppen, die bis in die letzte Gemeinde hinein gewirkt
haben und zum Teil heute noch aktiv sind.

Schaut man sich die vergangenen 20 Jahre an, so stellt
man positive Entwicklungen fest: der rasante Aufwuchs
der erneuerbaren Energien oder das Heranwachsen der
Zivilgesellschaft zu einer mächtigen Bewegung, die über
das Internet die Entwicklungen in dieser Welt beeinflus-
sen kann. Diese Dinge können die Grundlage für eine
neue Bewegung sein, die von dieser Konferenz ausgeht.

Ich halte das Ziel der Rio-Konferenz, weltweit glo-
bale Nachhaltigkeitsziele festzulegen – eines von drei
Zielen –, für richtig. Wenn es solche Ziele gibt, dann
können Menschen in verschiedensten Ländern auch da-
rauf Bezug nehmen und sie einfordern. Das ist so ähn-
lich wie bei der Agenda 21.

Nehmen wir die Wissenschaft. Ich nenne hier den
WBGU, den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregie-
rung „Globale Umweltveränderungen“. Er spricht von
der großen Transformation, die notwendig ist. Ins Deut-
sche übersetzt, heißt dies, dass wir unser Leben und





Josef Göppel


(A) (C)



(D)(B)


Wirtschaften in Einklang mit der Natur bringen. Eine
solche Entwicklung hat viele Facetten: eine Energiever-
sorgung, die kleinteiliger ist, die auf erneuerbare Quellen
baut und die auch von den Menschen in den Entwick-
lungsländern gehandhabt werden kann, oder auch eine
Bewegung, die nicht auf das Besitzen von Dingen, son-
dern auf das Nutzen von Dingen abstellt. Dies bringt
eine ganz andere Art des Wirtschaftens und der Nachhal-
tigkeit in Gang: Wenn etwa jemand Dinge vermietet,
dann haben der Hersteller und der Vermieter ein Inte-
resse daran, dass diese Sachen möglichst lange genutzt
werden können. Deswegen sehe ich – ich sage es noch
einmal – auch sehr positive Aspekte.

Entscheidend ist aber immer, was wir in unserem
eigenen Land machen. Hier steht die Energiefrage im
Mittelpunkt. Es geht darum, die Energiewende ent-
schlossen weiterzuführen, und zwar in der Weise, dass
wir unsere Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen
vorantreiben.

Die japanische Regierung und das Parlament in Tokio
haben übrigens erst jüngst das Motto ausgegeben, Japan
solle die energieeffizienteste Volkswirtschaft der Welt
werden. Dieses Motto will man dann auf die Märkte der
Welt übertragen, das heißt Exportieren zum eigenen Nut-
zen.

Minister Altmaier hat im Umweltausschuss betont,
dass bereits im Vorfeld der Konferenz von Rio viele An-
fragen an ihn gerichtet wurden, er möge doch über die
deutsche Energiewende berichten. Dieses Experiment
wird in der Welt aufmerksam beobachtet; viele Men-
schen knüpfen Hoffnungen daran. In der Tat gibt es kein
anderes Land, das einen so entschlossenen Weg geht wie
Deutschland.

In Rio kursiert ein zweites Schlagwort: Green Eco-
nomy. Manche sagen, Green Economy sei ein Wolf im
Schafspelz.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Warum? Weil effizientere Autos bei zugleich immer
schwereren Fahrzeugen oder immer intensiverer Nut-
zung letztlich doch ein Mehr an Umweltbelastungen mit
sich bringen. Wir müssen sicherlich aufpassen, dass es
wirklich zu Entlastungen und nicht zu neuen Belastun-
gen kommt. Trotzdem halte ich den eingeschlagenen
Weg für richtig. Die Richtung stimmt, wenn beispiels-
weise der Bundesverband der Deutschen Industrie ge-
meinsam mit dem Bundesumweltminister ein entspre-
chendes Memorandum unterschreibt.

Ich darf noch einmal auf unsere Verantwortung
zurückkommen. Wir haben den Weg der Energiewende
beschritten. Diejenigen, die auf diesem Weg umkehren
wollen, schaden letztlich unserem Land, weil die fossi-
len Energien keine dauerhafte Zukunftsperspektive für
unseren Planeten bieten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen ist die deutsche Energiewende richtig. Es
liegt in unserer Verantwortung, diesen Weg erfolgreich

zu gehen. Dann tun wir am meisten für den Gedanken
der Nachhaltigkeit in der Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718424900

Heike Hänsel hat das Wort für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718425000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Herr Göppel hat die Aufbruchsstimmung im
Jahr 1992 angesprochen. Ich habe diese Zeit als Studen-
tin miterlebt. Nach der Blockkonfrontation gab es in
ganz Europa oder sogar weltweit die Hoffnung auf die
sogenannte Friedensdividende. Man wollte die Einspa-
rungen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges
durch die Senkung der Rüstungsausgaben ergeben hat-
ten, für nachhaltige Entwicklung einsetzen.

Damals gab es im Zuge dieser Aufbruchsstimmung
die Idee der lokalen Agenden; das bedeutete, die kon-
krete Verantwortung in den Kommunen zu organisieren.
Viele Hunderttausende Menschen und etliche Gruppen
haben sich damals auf den Weg gemacht; auch ich habe
mich engagiert. Heute gibt es diese Aufbruchsstimmung
nicht mehr. Wenn wir nach nunmehr 20 Jahren Bilanz
ziehen und prüfen, wo wir heute stehen, dann stellen wir
fest, dass wir die höchsten Rüstungsausgaben zu ver-
zeichnen haben, die weltweit jemals existierten, nämlich
mehr als 1 Billion Dollar jährlich. Das ist das Zehnfache
dessen, was für den Bereich der Entwicklung ausgege-
ben wird.

Deshalb unterstützen wir zum Beispiel eine Initiative,
die im Vorfeld des Rio-Gipfels von Friedensnobelpreis-
trägern ins Leben gerufen wurde. Sie heißt „Abrüsten für
nachhaltige Entwicklung“.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Initiative sieht vor, bei den Rüstungsausgaben min-
destens 10 Prozent jährlich einzusparen und diese Erspar-
nisse in einem Fonds bei den Vereinten Nationen anzule-
gen, um dadurch Armut und Hunger zu bekämpfen. Das
ist eine sehr gute Initiative. Sie steht natürlich im Gegen-
satz zu dem, was ansonsten auf dem Gipfel diskutiert
wird.

Es wurde schon erwähnt: Es geht nicht mehr um
Nachhaltigkeit; das neue Schlagwort heißt Green Eco-
nomy. Wenn wir uns das genau anschauen, erkennen wir
darin eigentlich nichts anderes als grünen Kapitalismus:
Weitere Bereiche des Lebens soll einer Profitlogik unter-
stellt werden. Mit nachhaltiger Entwicklung war etwas
ganz anderes gemeint. Da ging es auch um die soziale
Dimension der Entwicklung, nicht nur um eine ökologi-
sche Erweiterung und Erschließung neuer Märkte mit
sogenannter grüner Technologie. Deswegen sagen wir:
Wir wollen diese Form des grünen Kapitalismus nicht;
wir wollen eine ernsthafte nachhaltige Entwicklung.


(Beifall bei der LINKEN)






Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)


Das heißt eben auch, dass neue Technologien in soli-
darischer Zusammenarbeit zur Verfügung gestellt wer-
den, dass sie nicht als Exportschlager genutzt werden,
um neue Märkte zu erschließen, sondern dass sie welt-
weit allen Ländern zur Verfügung gestellt werden, damit
sie sich nachhaltig entwickeln können. Das ist ein ande-
rer Ansatz. Da geht es nicht um das Zu-Tode-Konkurrie-
ren mit den neuesten Solarzellen, sondern darum, das
Wissen untereinander zu teilen, um diesen Planeten zu
retten. Da können wir viel von den Ländern des Südens
lernen: In Lateinamerika wird eine solidarische Ökono-
mie, eine Wirtschaft des gegenseitigen Ergänzens er-
probt.


(Michael Kauch [FDP]: Ein neuer Sozialismus!)


Es geht um die Frage: Wo sind Stärken und Schwächen?

In meinen Augen geht es hier um die zentralen Fragen
des 21. Jahrhunderts. Wenn wir die ökologische Heraus-
forderung ernsthaft annehmen wollen, dann können wir
es nicht mit denselben Mitteln tun, mit denen wir über-
haupt erst in die ökologische Krise geraten sind. Die
große Frage wird eben sein: Wie organisieren wir den
Zugang zu Ressourcen, zu Rohstoffen? Da sind wir der
Meinung: Wir brauchen weltweit eine ganz neue Vertei-
lung des Reichtums, von Nord nach Süd und innerhalb
der Länder von oben nach unten. Wir müssen die Res-
sourcen teilen. Wir können nicht mehr so weitermachen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ganz konkret fordern wir deswegen auch einen Kom-
pensationsfonds bei den Vereinten Nationen. Zum Bei-
spiel könnte ein neuer Rat für nachhaltige Entwicklung,
wie er von verschiedenen Beratern von Ban Ki-moon
vorgeschlagen wird, solche neuen Instrumente entwickeln.
Der Rat könnte sich mit den grundsätzlichen Fragen aus-
einandersetzen. Er könnte all die marktbasierten Instru-
mente, die wir bisher haben – Emissionshandel, REDD –,
hinterfragen und überprüfen: Dienen sie wirklich einer
nachhaltigen Entwicklung, oder dienen sie nur der
Durchsetzung einer Profitlogik?

Das sind für uns die Herausforderungen. Darüber
wird in Rio vor allem auf einem Alternativgipfel disku-
tiert. Daran wollen wir uns beteiligen. Wir werden dort
präsent sein, natürlich auch auf dem offiziellen Gipfel,
und hoffen, dass wir mit neuen Antworten zurückkom-
men, die über die jetzigen hinausgehen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718425100

Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1718425200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ste-

hen bei der Nachhaltigkeitspolitik nicht am Anfang; wir

sind nicht in einer Situation von 1992. Deshalb ist die Si-
tuation auch nicht mit der von Helmut Kohl im Jahr
1992 vergleichbar.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Was heißt denn das?)


Die Konferenz von Rio hat einen Geist geschaffen,
der viele Prozesse hervorgebracht hat, die heute fortwir-
ken: die lokalen Agendaprozesse in den Kommunen, der
UN-Klimaprozess, die UN-Konferenz über biologische
Vielfalt und die Konferenz über nachhaltige Entwick-
lung. Das sind die Prozesse, in denen sich unabhängig
von den großen Gipfeln die eigentliche Arbeit in der
Nachhaltigkeitspolitik vollzieht. Denn machen wir uns
doch nichts vor: Eine Konferenz allein wird die Welt
nicht retten. Es geht darum: Was passiert im Alltag des
politischen Geschäfts?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb ist der Gipfel in Rio wichtig, aber er ist nicht
das Einzige, was wir in der Nachhaltigkeitspolitik haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, einer der wesentlichen
Punkte in Rio wird die Organisationsreform der Verein-
ten Nationen sein. Es geht darum, eine UN-Umweltorga-
nisation zu schaffen, die auf Augenhöhe beispielsweise
mit der Welthandelsorganisation bestehen kann. Es geht
auch darum – das sage ich ein wenig ungeschützt –, die
schrecklichste „Laberbude“ der Vereinten Nationen na-
mens Konferenz für nachhaltige Entwicklung in New
York durch ein sinnvolles Gremium zu ersetzen, in dem
nicht nur jedes Jahr für viel Geld gesprochen wird, son-
dern das dafür sorgt, dass dabei am Ende etwas für die
Bereiche Umwelt und nachhaltige Entwicklung heraus-
kommt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das zweite große Thema ist die Green Economy. Wir
haben – das macht die Diskussion auf der Konferenz
schwierig – ein unterschiedliches Verständnis davon,
was Green Economy ist. Mit unserem Hintergrund
– führende deutsche Unternehmen in der Umwelttech-
nik, eine Energiewende, die Deutschland an die Spitze
der Industrieländer, was die Umwelttechnologie angeht,
bringt – denken wir beim Begriff Green Economy zu oft
nur daran, dass wir den Ressourcenverbrauch mindern,
Umwelttechnologien voranbringen und sie vielleicht
auch exportieren wollen. Mit einem solchen Verständnis
alleine werden wir in Rio nicht erfolgreich sein. Viel-
mehr geht es darum, der sozialen und der wirtschaftli-
chen Dimension von Entwicklung genauso ein Gewicht
zu geben wie der Frage der Ressourceneffizienz von
Umwelttechnologien; denn es sind die Entwicklungslän-
der, die am Schluss überzeugt werden müssen, dass das,
was wir an neuen Technologien vorschlagen, gut für ih-
ren Entwicklungsprozess ist. Wir müssen deutlich ma-
chen, dass Armutsbekämpfung und Befriedigung von





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


Grundbedürfnissen in den Entwicklungsländern Teil ei-
ner Strategie für nachhaltige Entwicklung ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Sinne ist das, was im internationalen Kon-
text gerade in den Entwicklungsländern unter Green
Economy verstanden wird, ganz nah an dem, was in dem
Bericht „The Blue Economy“ an den Club of Rome vor-
geschlagen wurde. Wir von der FDP haben das auf unse-
rem Parteitag „blaues Wachstum“ genannt. Ob das
Wachstum nun blau oder grün ist, das ist nicht entschei-
dend.


(Horst Meierhofer [FDP]: Na ja!)


Das Entscheidende ist, dass es um Wachstum und nicht
um Verzicht geht, dass es um Marktwirtschaft und nicht
um Sozialismus geht.


(Beifall bei der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Eben nicht!)


Deshalb sagen wir Ihnen ganz klar: Natürlich geht es um
einen grünen Kapitalismus; denn die marktwirtschaftli-
che Ordnung – das hat die Geschichte gezeigt – geht am
effizientesten und am verantwortungsvollsten mit Res-
sourcen um, jedenfalls im Vergleich zu allen sozialisti-
schen Experimenten der Vergangenheit, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von der Linken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Nachhaltigkeit!)


Bei der Green Economy geht es nicht nur um Verzicht
und nicht nur um Teilen, sondern es geht auch darum,
Neues zu erschaffen, nämlich neues Wissen für bessere
Produkte, die weniger Ressourcen verbrauchen. Das ist
das Wachstum von morgen und in Wahrheit das Wachs-
tum, das wir schon heute in großen Teilen haben. Wer sich
als Vertreter der Industrieländer hinstellt und den Men-
schen in den Entwicklungsländern sagt, dass Wachstum
schlecht ist, weil dadurch die Grenzen unseres Planeten
überstrapaziert werden, der muss sich fragen lassen: Mit
welcher Legitimation halten wir an unserem Wohlstand
fest und wollen ihn anderen verweigern?


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Es geht um Verteilen!)


Es geht nicht um Verzicht und um Teilen, sondern es
geht darum, mit neuen Ideen durch weniger Ressourcen-
einsatz mehr Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Das ist
im Sinne von nachhaltigem Wachstum. Nur dann werden
wir die Entwicklungsländer auf unseren Pfad bringen,
indem sie das Zeitalter der fossilen und nuklearen Ent-
wicklung überspringen und direkt in das Zeitalter bei-
spielsweise der erneuerbaren Energien und der Ressour-
ceneffizienz eintreten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Hermesbürgschaft! – Zuruf der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])


Angesichts der Aufgeregtheit der Linken bei dieser
Diskussion vergisst man, dass in diesem Parlament über
die genannten Fragen große Einigkeit herrscht. Vier
Fraktionen – mit Ausnahme der Linken – haben im
Deutschen Bundestag im Herbst letzten Jahres einen An-
trag verabschiedet, der die Grundlage für die Verhand-
lungsstrategie der Bundesregierung bildet. Ich danke
insbesondere dem Bundesumweltminister – ich sage
ausdrücklich: dem alten Bundesumweltminister und dem
neuen Bundesumweltminister – und dem Bundesent-
wicklungsminister dafür, dass sie die Positionen des Par-
laments sehr aktiv eingebracht haben und die Delegation
des Deutschen Bundestages auf der Konferenz sehr
nachdrücklich unterstützen werden; denn es ist von zen-
traler Bedeutung, dass die Rolle der Parlamente im inter-
nationalen Prozess beim Thema Nachhaltigkeit gestärkt
wird.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718425300

Herr Kollege.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1718425400

Ich komme zum Ende. – Gerade die Parlamente in

den Schwellenländern bringen oft Innovationen ein,
wenn es um die Position ihrer Länder geht. Deshalb ist
es wichtig, dass wir mit unserer Parlamentarierdelega-
tion nach Rio fahren, dort mit anderen Parlamentariern
sprechen und gemeinsam neue Ideen entwickeln.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718425500

Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Valerie

Wilms das Wort.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718425600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte

Kolleginnen und Kollegen! Rio wird 20. 20 Jahre nach
dem Erdgipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio
de Janeiro lädt Brasilien erneut zum Gipfel, zur UN-
Konferenz für nachhaltige Entwicklung.

Jubiläen werden in der Regel gefeiert. Zum Feiern
bietet der Gipfel aber keinerlei Anlass. Die Agenda 21
ist vielen Menschen kaum noch ein Begriff. Die interna-
tionalen Verhandlungen zum Klimaschutz und zur Bio-
diversität stagnieren seit langem. Die Herausforderun-
gen, vor denen wir stehen, sind aber größer geworden:
Auf der Erde wird es deutlich enger, die Bevölkerung
nimmt weiter zu, und die Erderwärmung wird uns wert-
volles Land kosten. Besonders dramatisch ist, dass ge-
rade die ärmsten Länder am meisten darunter leiden
müssen, während die hochentwickelten Staaten die Pro-
bleme verursachen; denn wir haben diese Erde innerhalb
kürzester Zeit an ihre Grenzen gebracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick-
lung, dem ich angehöre, sind wir uns über alle Fraktions-





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


grenzen hinweg einig, dass wir umdenken und vor allen
Dingen umlenken müssen. Auch die besondere Ver-
antwortung der Industrieländer erkennen wir alle. Wir
Grüne sind aber der Überzeugung, dass weit mehr mög-
lich wäre als das, was bisher gemacht wurde. Unter
Green Economy als einem nachhaltigen Wirtschaften
verstehe ich, dass wir unsere Umwelt nicht weiter zer-
stören dürfen, die Erde nicht bis an ihre Grenzen ausbeu-
ten dürfen sowie überall auf dieser Welt humane Ar-
beits- und Lebensbedingungen schaffen müssen. Wer
sonst als wir in der Politik ist in der Lage, einen verbind-
lichen Rahmen für ein nachhaltiges Wirtschaften festzu-
legen? Würden uns freiwillige Verpflichtungen helfen,
die die Kanzlerin ständig verteidigt, wären wir schon
längst weiter. Aber das funktioniert nicht, sondern dient
vor allem der Blockade von Entwicklungen. Die unsäg-
liche Verpflichtung der Autoindustrie zur Reduzierung
des CO2-Ausstoßes hat uns das allzu deutlich gezeigt.

Die Kanzlerin fährt, anders als ihre beiden Vorgänger,
nicht einmal selbst nach Rio. Hat sie der Welt nichts zu
bieten?


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


So ist es anscheinend. 1992 hatte Helmut Kohl eine Re-
duzierung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent im Ge-
päck. Er hatte also etwas anzubieten. 2002, in Johannes-
burg, versprach Gerhard Schröder den Ausbau des
Bereichs der erneuerbaren Energien. Von einer deut-
schen Selbstverpflichtung, die das schlingernde Schiff
Nachhaltigkeit voranbringt, ist mir dieses Mal nichts be-
kannt. Aber Überraschungen gibt es ja immer wieder.
Mit dem Weg zum G-20-Gipfel nach Mexiko in der
nächsten Woche legt die Kanzlerin räumlich schon die
halbe Strecke nach Rio zurück. Vielleicht gibt es da ja
noch Überraschungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist sie schon mal drüben!)


Wir brauchen kommende Woche in Rio einen kon-
kreten Auftrag, dass weltweit verbindliche Nachhaltig-
keitsziele festgelegt werden. Wir müssen endlich ver-
bindliche Ziele für ein umwelt- und sozialverträgliches
Wirtschaften im Jahr 2050 festlegen, und zwar mit Zwi-
schenzielen für die Jahrzehnte davor, also für 2030, 2040
und am besten auch für 2020. Diese Ziele müssen län-
derspezifisch gelten; denn viele Staaten müssen erst ein-
mal aus ihrer Armutsfalle herauskommen und eine wett-
bewerbsfähige Wirtschaft aufbauen.

Als rohstoffarmes Land müssen wir in Deutschland
mit ehrgeizigeren Zielen Vorreiter sein. Dabei müssen
wir uns die gesamte Lieferkette vom Abbau der Roh-
stoffe in den Entwicklungs- und Schwellenländern über
den Transport bis hin zur Produktion und zum Vertrieb
vor Ort anschauen. Dann werden wir deutlich erkennen,
wie wirksam eine weitestgehende Wiederverwertung so-
wie eine Verlängerung des Lebenszyklus von Produkten
sind.

Noch immer wird Elektronikschrott nur zu rund ei-
nem Drittel recycelt. Wir in Deutschland verfügen aber
über ein großes Know-how beim Recycling. Dieses soll-
ten wir endlich nutzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU])


Vor allen Dingen sollten wir die derzeit angewandten
trickreichen Umgehungsmöglichkeiten unterbinden. Ich
möchte nicht mehr alte Computer auf Müllkippen in
Ghana sehen. Wenn wir unseren Unternehmen einen ver-
nünftigen Übergangszeitraum gewähren, um ihre Strate-
gie anzupassen, wird sich das sogar als Wettbewerbsvor-
teil herauskristallisieren.

In Rio unterstützen wir Grüne die Aufwertung des
Umweltprogramms der Vereinten Nationen zur UNEO,
zur Umweltorganisation, und die Einrichtung eines Rats
für nachhaltige Entwicklung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dieser könnte anstelle der UN-Laberbude – so haben es
schon zwei Vorredner ausgedrückt – die Konkretisierung
der weltweiten Nachhaltigkeitsziele voranbringen und
vor allen Dingen ein wirksames Monitoringsystem erar-
beiten. In zehn Jahren möchte ich mich nicht mehr nur
über Ziele unterhalten müssen, sondern stolz auf das Er-
reichte blicken können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie uns, Parlamentarier und Regierung, dafür in
Rio arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718425700

Helmut Heiderich hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1718425800

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Konfe-
renz Rio+20 ist ganz eindeutig ein internationales Top
Event. Je näher dieses rückt, umso mehr und umso häufi-
ger bekommen wir Positionspapiere, Stellungnahmen,
Forderungskataloge usw. auf den Tisch. Ich denke, das
ist kein Wunder; denn von den angekündigten 50 000
Teilnehmern will jeder seine Position darstellen und
seine Argumente vortragen.

Das, was vonseiten der Linken jetzt kurz vor Tores-
schluss vorgelegt worden ist – ich beginne mit diesem
Antrag –, ist aus meiner Sicht weder zutreffend noch
hilfreich. Dort ist eher eine Reihe von Aussagen nach





Helmut Heiderich


(A) (C)



(D)(B)


dem Motto „Wir fallen wieder einmal in die alte Klas-
senkampfrhetorik zurück“ zusammengeschrieben wor-
den. Ich will ein paar Punkte herausgreifen. Dort steht
zum Beispiel, eine Folge von Rio sei „die tiefste Krise
des Kapitalismus“, die Vermögenden hätten ihren Reich-
tum in der Krise abgesichert usw.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ja, genau!)


Das ist ein Rückfall in die linke Kampfrhetorik. Bei Ih-
nen scheint das Motto zu gelten: Nur der sozialistische
Mensch ist ein guter Mensch. Wenn Sie uns hier wirk-
lich Hugo Chávez als Vorbild für die Zukunftspolitik
nach Rio präsentieren wollen, sind Sie, glaube ich, auf
dem Holzweg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Was anderes fällt Ihnen nicht ein?)


Wir haben eben gehört, dass sich der Deutsche Bun-
destag bereits im November vergangenen Jahres in ei-
nem fraktionsübergreifenden Antrag mit dieser Thema-
tik beschäftigt hat. Deswegen bin ich etwas verwundert,
dass die Sozialdemokraten und die Grünen jetzt noch ei-
nen Antrag nachgeschoben haben, in dem sie alles unter-
gebracht haben, was man sich zu diesem Thema vorstel-
len kann.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Wir arbeiten sorgfältig!)


Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal an der Vorbereitung
einer solchen Konferenz beteiligt waren. Ihr Katalog
enthält sozusagen eine Planung der Regierungspolitik in
Deutschland für die nächsten 20 Jahre,


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Danke für das Kompliment! – Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen den Laden ja übernehmen!)


aber nicht das, was man zur Vorbereitung für Rio
braucht. Nichtsdestotrotz haben Sie sehr umfangreich in
dieses Thema eingeführt.

Rio ist nicht nur ein Event, Rio ist ein Prozess. Ich
habe bereits darauf hingewiesen, dass sich die Fraktio-
nen des Deutschen Bundestages schon im November
vergangenen Jahres mit dieser Thematik beschäftigt ha-
ben.

Es geht in diesem Antrag im Wesentlichen um drei
Forderungen:

Erstens – das ist eben schon angesprochen worden –
geht es um das neue Schlagwort der Green Economy; ich
werde gleich noch etwas dazu sagen.

Zweitens geht es um die Verbesserung der Effizienz
bei internationalen Organisationen; auch das ist, glaube
ich, ein wesentliches Thema.

Drittens – das ist etwas Neues – geht es um eine Ini-
tiative zur Armutsbekämpfung und zur Ernährungssiche-
rung. Ich glaube, mit diesem neuen Thema auf der Ta-
gesordnung von Rio haben wir einen entscheidenden
Schritt nach vorne gemacht. Das sollten wir nicht zu ge-
ring schätzen.

Sie haben heute Morgen die Bundeskanzlerin gehört.
Sie hat zur Vorbereitung des G-20-Gipfels erklärt, dass
die globale Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Armut
und Hunger und die Verbesserung der Ernährungssitua-
tion und der ländlichen Entwicklung Topthemen sind,
nicht nur für die G 20, sondern auch für Rio+20.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Oje! Auf wie vielen Gipfeln sollte das schon so sein?)


Somit haben wir einen großen Erfolg erzielt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ein Versprechen nach dem anderen, das nicht gehalten wird!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koali-
tion, aber auch die Bundesregierung hat seit Monaten
daran gearbeitet, dieses Thema nach vorne zu bringen.
Ich will nur daran erinnern, dass wir dazu im Laufe des
letzten Jahres vier umfangreiche Anträge eingebracht
haben, die von Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, ausnahmslos abgelehnt wor-
den sind. Insofern sind Ihre heutigen Einlassungen nicht
gerade gut begründet.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach so!)


Auch der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat vor
wenigen Tagen bestätigt, dass das eben von mir er-
wähnte Ziel, den Ärmsten, den Unterentwickelten und
den Hungernden, wie er es formuliert hat, echte Verbes-
serungen im täglichen Leben zu ermöglichen, eines der
Hauptziele auf der Agenda von Rio+20 ist. Ich glaube,
das ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender
Fortschritt.

Die zweite große Aufgabe, vor der wir stehen – ich
will sie ganz kurz anreißen –, ist die Frage der Green
Economy. Davon ist im Moment von allen Seiten wie
von einer Art Zauberformel die Rede. Wichtig wird sein
– das wird in den Verhandlungen ein entscheidender
Punkt sein –, dass klar und eindeutig definiert wird, was
unter Green Economy zu verstehen ist. Im Moment hat
man nämlich den Eindruck, dass jeder etwas anderes da-
runter versteht, was dazu führt, dass wir am Schluss
nicht zu konkreten Ergebnissen kommen.

Die Bundeskanzlerin hat heute Morgen erklärt, dass
man, wenn man den Klimawandel bewältigen, gleichzei-
tig die Forderung nach nachhaltigem Wachstum erfüllen
und die Aufgabe, 1 Milliarde Menschen vom Hunger zu
befreien, erfüllen will, eine konkrete gegenseitige Ab-
stimmung braucht und dass wir auch die Mithilfe der
Privatwirtschaft benötigen, um das notwendige nachhal-
tige Wachstum zu erzielen. Nur mit staatlichen Vorgaben
werden wir das nämlich nicht schaffen.

Deswegen ist der Ansatz, die Privatwirtschaft zu be-
kämpfen, falsch. Wir brauchen beides: das privatwirt-
schaftliche Engagement – woher sollen Innovationen
sonst kommen? – und die staatliche Unterstützung, Defi-
nition und Begleitung. Dann kann aus Rio+20 ein Erfolg
werden. Daran arbeiten wir gemeinsam mit der Bundes-
kanzlerin. Dieses Bemühen sollten Sie anerkennen und
unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718425900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9922 mit dem Titel „Rio 2012 –
Nachhaltige Entwicklung jetzt umsetzen“. Wer stimmt
für den Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringenden Fraktionen. Die Koalitionsfraktionen
waren dagegen. Die Linke hat sich enthalten.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Rio+20 – Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapi-
talismus“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9988, den Antrag auf
Drucksache 17/9732 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage-
gen waren Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die SPD
hat sich enthalten.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Michael Grosse-
Brömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Tokio-Konferenz zu einem entwicklungspoliti-
schen Erfolg führen

– Drucksache 17/9923 –

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9923. Wer stimmt für den Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die
Linke war dagegen. Bündnis 90/Die Grünen und SPD
haben sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 16:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Unseriöses Inkasso zu Lasten der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher stoppen

– Drucksache 17/9746 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz

FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft
und Technologie

Auch diese Reden wurden mit Ihrem Einverständnis
zu Protokoll gegeben.2)

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann verfahren wir so.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der United Nations Inte-
rim Force in Lebanon (UNIFIL) auf Grund-
lage der Resolution 1701 (2006) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 2004 (2011) vom 30. August 2011 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

– Drucksache 17/9873 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu de-
battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns alle treibt die Sorge über die Entwicklung in Syrien
und darüber hinaus im ganzen Nahen Osten um. Wir ha-
ben heute gehört, dass die Wahlen in Ägypten annulliert
worden sind. Wir werden sehen, was sich daraus entwi-
ckelt.

Unsere Gedanken gelten in besonderem Maße den
unschuldigen Menschen in Syrien. Ihr Leiden hat ein
schreckliches Ausmaß angenommen. Unsere Aufmerk-
samkeit gilt dieser Region. Längst ist aus dem Konflikt
innerhalb Syriens eine Gefahr für die Sicherheitslage
auch in angrenzenden Staaten geworden.

Der Nahe Osten wurde und wird oft – sicher etwas
vereinfacht – als Pulverfass bezeichnet. Wenn der Nahe
Osten ein Pulverfass ist, dann ist eine Lunte für dieses
Pulverfass auf jeden Fall im Libanon zu suchen. Hier
kommen unterschiedlichste Interessen zusammen. Hier
sind Interessenkonflikte seit Jahrzehnten an der Tages-
ordnung.

1) Anlage 9 2) Anlage 10





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Eine militärische Eskalation zu verhindern und das
angespannte Verhältnis zwischen dem Libanon und Is-
rael zu entschärfen, ist der Auftrag der seit 2006 mit ei-
nem robusten Mandat ausgestatteten UNIFIL-Mission.
Den im Rahmen von UNIFIL eingesetzten Streitkräften
fällt dabei nach wie vor die wichtige Funktion zu, aus-
gleichendes Element zu sein und Verständigung zu er-
möglichen. UNIFIL erfüllt diese Funktion. Der UNIFIL-
Flottenverband, an dem die deutsche Marine beteiligt ist,
trägt wesentlich dazu bei.

Die Unterstützung der Bundesregierung für UNIFIL
folgt dabei dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Damit
die libanesische Regierung allmählich selbst für Sicher-
heit auch zur See sorgen kann, muss sie über leistungsfä-
hige Strukturen und Sicherheitskräfte verfügen.

Der vorliegende Antrag der Bundesregierung zeigt
auf, wie vielseitig und umfangreich Deutschland sich am
Aufbau dieser Strukturen und Kräfte beteiligt. Gemein-
sam mit anderen Streitkräften sichern und kontrollieren
Einheiten der deutschen Marine den Seeverkehr vor der
libanesischen Küste. Gleichzeitig wird mit unserer fi-
nanziellen und organisatorischen Hilfe der Aufbau einer
leistungsfähigen Küstenradarorganisation vorangetrie-
ben, damit die libanesische Marine diese Aufgabe künf-
tig selbst wahrnehmen kann.

Noch in diesem Jahr wird die achte von insgesamt
neun Stationen der landesweiten Küstenradarorganisa-
tion in Betrieb gehen, und zwar in Tripoli. Die Aktivie-
rung der letzten Station im Süden des Libanon wird 2013
folgen. Dank der Unterstützung durch die deutsche Ma-
rine wird bis dahin auch das für den Betrieb der Station
benötigte Personal ausgebildet sein. Damit verfügt die li-
banesische Marine ab dem kommenden Jahr über ein
vollständig ausgebautes und funktionsfähiges System für
die Erfassung des Schiffsverkehrs.

Mit der neuen Küstenradarorganisation verfügt der
Libanon gewissermaßen über Ohren und Augen, um Ge-
fahren frühzeitig zu erkennen. Noch fehlen die Hände,
um diese Gefahren auch frühzeitig abwehren zu können.
Noch stellen die Einheiten von UNIFIL Schiffe mit Sol-
daten zur Verfügung, die Waffenlieferungen unterbinden
und den Seeverkehr ordnen. Unser Ziel ist es, den Liba-
non so schnell und umfassend wie möglich in die Lage
zu versetzen, in Zukunft auch selbst durchgreifen zu
können.

Zur Erfüllung ihres anspruchsvollen Auftrages wer-
den die an UNIFIL beteiligten Kräfte der Bundeswehr
auch künftig bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten benö-
tigen. Es bleibt bei dieser Mandatsobergrenze.

Die libanesische Marine muss allmählich den Schutz
der seeseitigen Grenzen eigenverantwortlich überneh-
men können. Die dafür notwendige personelle und mate-
rielle Ausstattung und die dazu erforderliche Ausbildung
sind noch nicht vorhanden. Hier bedarf es der weiter ge-
henden Unterstützung durch die internationale Staaten-
gemeinschaft.

Die Fortsetzung von UNIFIL wird nicht nur von den
Vereinten Nationen begrüßt, sondern auch von libanesi-
scher und insbesondere von israelischer Seite. Mehr

noch: Sie ist erwünscht. Dies gilt in besonderem Maße
für den deutschen Beitrag zu UNIFIL.

Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um Ihre Unter-
stützung für den Antrag der Bundesregierung, die deut-
sche Beteiligung bei UNIFIL für ein weiteres Jahr fort-
zusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718426000

Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1718426100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst ein Wort zu der ungewöhnlichen Uhrzeit. Ich
glaube, das ist der späteste Beginn einer Mandatsdebatte
im Bundestag, den wir jemals hatten. Ich hoffe, das wird
ein Ausnahmefall bleiben. Diese Debatte gehört in das
Zentrum des Parlaments.


(Beifall im ganzen Hause)


Was wir heute hier praktizieren, ist die klassische Par-
lamentsbeteiligung, die uns das Bundesverfassungsge-
richt aufgegeben hat und die wir mit einem Gesetz gere-
gelt haben, an dem wir festhalten wollen. Es gibt
Diskussionen darüber, was das für die weitere europäi-
sche Vertiefung zu bedeuten hat.

Ich glaube, man darf nicht am Parlamentsvorbehalt
rühren, vielleicht aber an der Frage, wann sich das Parla-
ment mit europäischen oder NATO-Fragen befassen
sollte. Denn immer dann, wenn Deutschland einer Mis-
sion zustimmt – sei es eine EU-Mission oder eine
NATO-Mission; es ist egal, ob wir uns daran substanziell
beteiligen oder nicht –, findet mit deutscher Legitima-
tion ein internationaler Militäreinsatz statt. Dann ist es
immer ein Fall für das Parlament.

Da brauchen wir keine Angst zu haben, dass dann
vielleicht auch über den Einsatz von Soldaten gespro-
chen werden könnte, die von uns aus nötig sind, damit
dieses Mandat überhaupt erfolgreich sein kann. Wer
diese Diskussion im Grundsatz führen will, führt eine
Scheindebatte. Wir interessieren uns für alles, was die
EU und was die NATO in militärpolitischer Hinsicht in-
ternational unternimmt. Auch wir wollen im Regelfall
dabei sein – und nicht nur die Bundesregierung, wenn
sie einer Mission zustimmt.

Hier reden wir über eine UNO-Mission, und zwar
über eine ganz besondere. Dass im Libanon schon über
Jahrzehnte eine UN-Mission an Land existiert, hat die
deutsche Öffentlichkeit erst zur Kenntnis genommen, als
sich die Frage stellte, ob auch wir uns an der seeseitigen
Mission beteiligen wollen. Bis dahin war das nicht auf
dem Radarschirm unserer Öffentlichkeit. Dabei war das
keine einfache Mission. Es hat Tote unter unseren Ver-
bündeten gegeben, die unter dem Dach der UN den Frie-





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)


den im Libanon und den Frieden zwischen Libanon und
Israel sichern helfen wollten.

Wir interessieren uns dann, wenn es Deutsche betrifft.
Hier war nun die erste UN-Mission zur See auf den Weg
zu bringen. Wir können stolz darauf sein, dass dies mit
substanzieller deutscher Unterstützung gelang. Der erste
Offizier, der diesen UN-Verband zur See, die erste mari-
time UN-Mission, führte, war ein Deutscher. Wir haben
operative Grundlagen mitgeprägt für das, was die UN
selbst künftig vielleicht auch an anderer Stelle auf See
leisten kann, ohne Rückgriff auf andere Bündnisse zu
nehmen. Dies ist ein UN-geführter und nicht nur ein
UN-mandatierter Einsatz. Ich bin froh, dass Deutschland
dabei eine führende Rolle eingenommen hat.

Der Minister hat es angesprochen: Wir tun das nicht,
weil wir uns vordrängen, sondern weil Libanesen und
Israelis übereinstimmend der Meinung waren, dass
Deutschland dabei sein sollte. Das ist ein Zeichen des
großen Vertrauens, das unser Land sowohl in dieser Re-
gion als auch anderswo genießt. Diesen Wünschen sollte
man dann auch nachkommen. Wir können manches tun,
was andere nicht tun, weil uns heute eine gute Rolle zu-
getraut wird, auch in diesem Konflikt.

Es wird gelegentlich die Frage gestellt: Was hat das
denn gebracht? Wie viele Waffenschmuggler sind denn
gefasst worden? Wie viele Waffen sind eingesammelt
worden? Kann man das wirklich genau überprüfen? Die
FDP hat sich, als dieses Mandat das erste Mal beschlos-
sen wurde, ganz anders ausgelassen – das will ich jetzt
gar nicht zitieren – als heute in der Regierungsverant-
wortung. Damals war sie dagegen, weil sie skeptisch
war, ob man diese Überprüfung tatsächlich erfolgreich
vollziehen kann.

Der Auftrag der UNIFIL-Mission war ein ganz ande-
rer: Nicht das Einsammeln von Waffen war das Ziel,
sondern das Bilden von Vertrauen, das Herstellen einer
Situation, in der nicht mehr die israelische Marine den
Libanon von der See her blockiert, sondern in der diese
Blockade aufgehoben werden konnte und durch eine in-
ternationale Mission abgelöst wurde. Das war Vertrau-
ensbildung in beide Richtungen. Das hat funktioniert. In
dieser Weise ist der militärische Beitrag erfolgreich ge-
wesen.

Ich möchte sagen: Dieser Antrag ist gut formuliert.
Dieser Antrag enthält mehr als nur die Frage: Mit wel-
chen militärischen Beiträgen und mit welchem Finanz-
aufwand beteiligen wir uns? Vielmehr ist die Frage: Was
tun wir sonst noch in dieser Region? Einige Dinge sind
noch nicht erledigt. Sie werden noch länger dauern müs-
sen als der UNIFIL-Einsatz, der vielleicht in absehbarer
Zeit enden kann.

Was nicht enden kann, ist unser Engagement – das
kann auch ruhig bilateral sein –, ein deutsches Engage-
ment zum Aufbau der sehr kleinen libanesischen Marine.
Wer einmal dort war, wird wissen, dass sie eigentlich
nicht als Marine gestartet ist, sondern als Schlauchboot-
abteilung des libanesischen Heeres. Das wird jetzt mit
unserer Unterstützung eine Marine. Wir sollten sie so

lange unterstützen, bis sie sich selbst trägt. Das kann
noch eine ganze Weile dauern, aber es ist kein großer
Aufwand. Für uns als großes Land ist es kein großer Auf-
wand, mit Material und den Ausbildungseinrichtungen,
die Deutschland zur Verfügung stellt, Unterstützung zu
leisten.

Gestatten Sie mir eine kurze Bemerkung zu der Dis-
kussion, die wir vorhin geführt haben: Das ist in der
Bundeswehrreform übrigens auch dienstpostenrelevant.
Ich finde, dass das, was die Bundeswehr hervorragend
macht – nicht nur im Libanon, sondern auch an anderer
Stelle –, nämlich Nationen durch Ausbildungsunterstüt-
zung in die Lage zu versetzen, für ihre eigene Verteidi-
gung zu sorgen, ein Beitrag von uns zur Sicherheit in der
Welt ist. Dies sollte sich auch hinsichtlich der Dienstpos-
ten in den Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr
niederschlagen und nicht immer nur zusätzlich sein. Es
geht dabei nicht um große Summen.

Wir sehen, dass es hier und da Probleme gibt. Deshalb
muss man ein bisschen nachsteuern und sagen: Das ge-
hört zu der Sicherheitspolitik, die wir wollen und die wir
uns in der Welt, in der wir eine positive Rolle spielen
wollen, wünschen.

Das Mandat bleibt richtig. Es ist vernünftig formu-
liert, und es ist gut, dass es uns jetzt zur Abstimmung
vorgelegt wird. Es bleibt so lange notwendig, bis die Be-
dingungen, die das Mandat formuliert, eingetreten sind,
nämlich dass der Libanon selbsttragend für die Sicher-
heit seiner Seegrenzen sorgen kann. Ich glaube nicht,
dass wir uns mit dem Druck auf die UN, frühzeitig abzu-
ziehen, beeilen müssen. Denn gerade in der unsicheren
Situation im Nahen Osten wird vielleicht ein Stabilitäts-
anker gebraucht. Ein kleiner Teil des Stabilitätsankers im
Nahen Osten kann die UNIFIL-Mission zur See sein, an
der wir uns beteiligen wollen. Wir werden zustimmen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718426200

Für die Bundesregierung ergreift der Staatsminister

Michael Link das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1718426300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesregierung begründet diesen Antrag natürlich
dann, wenn der Bundestag ihn auf die Tagesordnung
setzt, auch zu später Stunde – und dies aus Überzeugung.
Aber einen Wunsch an den Bundestag darf sie schon äu-
ßern – darin schließe ich mich dem Kollegen Bartels
ausdrücklich an –, nämlich dass wir das zu einer frühe-
ren Tageszeit machen könnten. Wir denken, dass dieses
Thema dort eher hingehören würde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Staatsminister Michael Link GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr richtig! Da sind wir uns sofort einig!)





(A) (C)


(D)(B)


Keine Krise beschäftigt uns derzeit mehr als die in
Syrien. Das Leid der Menschen in diesem immer bluti-
geren Bürgerkrieg und die unerträglichen Grausamkei-
ten, die das Regime von Präsident Assad Tag für Tag be-
geht, stellen die internationale Gemeinschaft derzeit vor
extreme Herausforderungen.

Doch als wäre diese Krise für sich genommen noch
nicht furchtbar genug, birgt sie zusätzlich die Gefahr,
sich zu einem regionalen Flächenbrand auszuweiten.
Das Land, das hiervon vermutlich als Erstes betroffen
wäre, ist der Libanon. Seit einigen Wochen bereits be-
obachten wir die Lage dort mit wachsender Sorge. Die
jüngsten tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Sun-
niten und Alawiten in Tripoli und zwischen sunnitischen
Gruppen in Beirut haben gezeigt, wie real die Gefahr ei-
nes Übergreifens des Konflikts in Syrien auf den Liba-
non ist, auch wenn die libanesische Armee die Situation
wieder beruhigen konnte.

Außenminister Westerwelle, der letzte Woche in Bei-
rut mit der libanesischen Führung zusammengetroffen
ist, hat dort für eine Politik des inneren Ausgleichs ge-
worben und Deutschlands Interesse an einem stabilen
Libanon bekräftigt. Dieses Ziel verfolgt die Bundesre-
gierung auf vielfältige Weise. Eine sehr wichtige Rolle
kommt dabei auch der deutschen Beteiligung an der ma-
ritimen Komponente der VN-geführten Mission UNIFIL
zu.

Die maritime Komponente von UNIFIL hat in den
letzten Jahren einiges erreicht: Die Sicherung der libane-
sischen Seegrenzen verläuft effizient und zuverlässig.
Die Präsenz der UNIFIL-Schiffe hat erheblich zur Stabi-
lisierung der seeseitigen Grenzen des Libanon beigetra-
gen. Zugleich ist der Ausbildungsstand der libanesischen
Marine deutlich verbessert. Diese ist nun in der Lage, die
Seegrenzen mit neuer Radartechnik zu überwachen, und
hat neue Fähigkeiten auf dem Meer erworben. Dazu ha-
ben wir nicht nur entscheidende Ausbildungshilfe geleis-
tet, sondern auch die entsprechende Ausstattungshilfe.

Hier bleibt noch vieles zu tun; das ist unbestritten.
Aber wir haben erhebliche Verbesserungen erzielt. Das
ist besonders das Verdienst der Soldatinnen und Soldaten
der deutschen Marine. Hierfür gilt ihnen Dank, Respekt
und Anerkennung.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb beantragt die Bundesregierung die Verlänge-
rung des UNIFIL-Mandats um ein weiteres Jahr. Perso-
nalobergrenze, Einsatzgebiet und Aufgabenbeschrei-
bung bleiben unverändert. Es gilt, das bislang Erreichte
zu sichern und darauf aufzubauen. Der bisherige Ansatz
für die maritime Komponente ist weiterhin richtig. Die
deutsche Beteiligung an UNIFIL bleibt eingebettet in
das politische, wirtschaftliche und sozial-ökonomische
Maßnahmen umfassende Engagement der Bundesregie-
rung für den Libanon und die Gesamtregion.

UNIFIL ist mit seiner Landkomponente und auch mit
der maritimen Komponente mehr denn je ein stabilisie-
rendes Element in einer Region, die immer mehr von In-
stabilität gefährdet wird. Dem Libanon, der in den 80er-
Jahren zum traurigen Inbegriff eines von ethnisch-reli-
giösen Konflikten zerrissenen Landes wurde, droht nun
ein erschreckendes Szenario: Genau diese Art von Kon-
flikten könnte aus dem Nachbarland Syrien wieder über
den Libanon hereinbrechen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verurteilen in
aller Schärfe die Verbrechen, die das syrische Regime an
seiner eigenen Bevölkerung begeht und geschehen lässt.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte an dieser Stelle auf die aktuellen Ticker-
meldungen verweisen, die uns ganz besonders beunruhi-
gen. Darin ist davon die Rede – bei aller Vorsicht, die bei
Tickermeldungen geboten ist, muss man doch zumindest
die entsprechende Sorge haben –, dass die syrische Ar-
mee aktuell widerstandsfreie Gebiete in größerem Maß-
stab schaffen will. Das lässt Schlimmstes befürchten.
Auch hier müssen wir klar und deutlich auf die Gefahren
hinweisen und das Regime von Assad zum Stoppen be-
wegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Darüber hinaus dürfen wir die Augen nicht davor ver-
schließen, dass Syrien noch mehr droht – nämlich in ei-
nen Teufelskreis ethnisch und religiös geprägter Gewalt
zu geraten.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die UNO spricht von Bürgerkrieg!)


Die Massaker in syrischen Dörfern, die uns in den letz-
ten Wochen so erschüttert haben, fanden auch an der
Trennlinie zwischen den Konfessionen statt. Der Kon-
flikt zwischen Sunniten und Alawiten wurde erwähnt. Es
ist möglich, dass hier auch untergeordnete lokale Motive
eine Rolle spielen. Das entbindet die Regierung in Da-
maskus aber in keiner Weise von ihrer Verantwortung,
zumal die reguläre syrische Armee offenkundig an den
Massakern jeweils zumindest beteiligt war.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Und wer noch?)


Wenn aber das, was als politisches Aufbegehren ge-
gen diktatorische Unterdrückung begonnen hat, nun in
einen Bürgerkrieg entlang konfessioneller Linien führt,
dann wird dieser Konflikt noch viel schwerer zu beenden
sein, als es ohnehin schon der Fall ist.

Dies alles sollte bedacht werden, bevor vorschnell
eine militärische Intervention in Syrien gefordert wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Derartige Forderungen untergraben im Übrigen den
politischen Prozess. Wir brauchen keine Diskussionen
um scheinbare militärische Optionen, sondern verstärkte
Anstrengungen auf dem politisch-diplomatischen Weg.
Er allein kann zu einer Lösung führen.





Staatsminister Michael Link


(A) (C)



(D)(B)


Wie diese Lösung aussehen wird, lässt sich heute
noch nicht abschätzen. Doch eines ist schon jetzt klar:
Wie immer der Konflikt in Syrien in den nächsten Wo-
chen konkret weitergeht, er wird sich auf die gesamte
Region auswirken. Syrien grenzt unmittelbar an die Tür-
kei, den Irak, an Jordanien, Israel und den Libanon. Al-
lein das zeigt die Dimension des Konflikts – um von an-
deren schwierigen Nachbarn in der weiteren Region gar
nicht zu reden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundes-
regierung bleibt dem politisch-diplomatischen Weg ver-
pflichtet, auch wenn wir auf diesem Weg nicht so schnell
vorankommen, wie wir uns dies wünschen. Umso wich-
tiger ist es, dass wir alles in unseren Möglichkeiten Ste-
hende tun, um die Staaten der Region, der unmittelbaren
Nachbarschaft zu unterstützen und zu stabilisieren. Der
Außenminister hat dies in den letzten Wochen bei zahl-
reichen Reisen in die Region intensiv getan und dafür
auch bereits sehr viel Unterstützung gerade aus der Re-
gion heraus erfahren. Die Bundesregierung wird exakt
diesen Weg fortsetzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718426400

Herr Kollege.


Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1718426500

Ich komme zum Schluss. – Die UNIFIL-Mission leis-

tet einen in der jetzigen Lage nicht ersetzbaren Beitrag.
Deshalb wollen wir sie fortsetzen. Die Vereinten Natio-
nen und in seltener Einigkeit auch alle – ich betone aus-
drücklich: alle – regionalen Akteure, einschließlich Is-
rael, haben den deutschen Beitrag zur maritimen
Komponente von UNIFIL immer wieder gewürdigt und
uns gebeten, an diesem Weg festzuhalten. Genau das
werden wir tun. Wir bitten um Ihre Unterstützung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718426600

Wolfgang Gehrcke hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718426700

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Ich war während des Krieges in
Beirut. Ich bin extra mit Kollegen von anderen europäi-
schen Parteien dort hingefahren, um der Bevölkerung
von Beirut und des Libanon ein Stück weit Solidarität
entgegenzubringen und zu zeigen, dass andere Men-
schen kommen, um sich mit ihnen zu verbünden. Ich
sehe nach wie vor die furchtbaren Bilder, die entstehen,
wenn Raketen in Wohnviertel einschlagen, Häuser plötz-
lich zusammenbrechen und wenn Gewalt eine hohe
Dimension erreicht. Es war zu beobachten, dass sich die
reichen Libanesen blitzschnell über die Autobahn nach
Syrien – das sind nur 50 Kilometer – absetzten. Wer
nicht aus der Stadt und aus dem Land herausgekommen
ist, das waren vor allen Dingen die Menschen, die in den

Flüchtlingslagern gelebt haben, die Palästinenserinnen
und Palästinenser und andere.

Deswegen war mir klar: Dieser Krieg muss schnell zu
Ende gebracht werden. Notwendig dafür war ein Waf-
fenstillstand. Um einen Waffenstillstand zu erreichen,
war es notwendig, die UNIFIL-Vereinbarung unter dem
Dach der Vereinten Nationen abzuschließen. Das habe
ich hier im Bundestag immer vertreten.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das hat für mich eine innere Logik. Gleichzeitig lag in
dieser Logik nicht, dass sich deutsche Militäreinheiten
daran beteiligen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der SPD: Warum denn nicht?)


Ich fand und ich finde: Es wäre gut, wenn Deutschland
keine Soldaten in die Region des Nahen und Mittleren
Ostens entsendet.


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Aber die wünschen das ausdrücklich!)


– Auch wenn es gewünscht wird, ist das noch lange kein
Argument. – Das war meine Entscheidung. Ich finde es
ganz interessant, dass die FDP bis zu dem Zeitpunkt, als
sie in die Regierung eingetreten ist, ähnlich argumentiert
hat. Heute ist das bei euch alles vergessen. Das zeigt,
wie dünnhäutig ihr seid, und das spiegelt auch eure
Außenpolitik wider.

Unsere Sorge war, dass auch deutsche Soldatinnen
und Soldaten aus der Lage heraus in den Konflikt gera-
ten können, zum Beispiel auch gegen israelische Solda-
tinnen und Soldaten bewaffnet vorzugehen.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Aber sie sind es nicht!)


Diese Sorge war nicht unberechtigt. Es lag oft in der
Luft, wenn israelische Einheiten die UNIFIL-Verbände
zumindest kontaktiert hatten, dass ein solcher Vorfall
eintritt. Deswegen haben wir Nein gesagt, und wir blei-
ben beim Nein.


(Beifall bei der LINKEN – Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/CSU]: Die Sorge war unbegründet!)


Ich finde es recht interessant, dass beim Einbringen
des Antrags durch die Bundesregierung argumentiert
wurde, dass sich die Situation entlang der Grenzen auch
des Libanon durch die furchtbare Entwicklung in Syrien
verändert habe. Der ganze Nahe Osten ist in Gefahr, in
eine große militärische Auseinandersetzung einbezogen
zu werden. Darüber muss man sich doch klar werden.
An der Analyse habe ich gar nicht so viel auszusetzen.
Es ist ein Bürgerkrieg, und man muss schauen, dass man
aus diesem Bürgerkrieg wieder herauskommt. Ich fand
es aber interessant, dass keiner hier die Courage gehabt
hat, zu sagen: Der Vorschlag von Kofi Annan, eine neue
Kontaktgruppe einschließlich Russland, China und Iran





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)


einzusetzen, ist ein vernünftiger Vorschlag, der die Un-
terstützung des Bundestages finden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Das wäre eine gute Politik. Warum hat hier keiner
gesagt, dass man der internationalen Syrien-Konferenz
in Russland eine Chance geben muss und wir Politik in
diese Richtung entwickeln müssen? Wenn man sagt,
dass jetzt Diplomatie gefragt ist und nicht Säbelrasseln
und das Rufen nach militärischen Einsätzen, dann muss
man solche Chancen nutzen und aktiv dafür eintreten.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Das hat keiner gemacht!)


– Nein, das hat keiner gemacht, aber keiner hat etwas
dazu gesagt. Man kann solche Themen auch einfach ver-
schweigen.

Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich ganz
deutlich machen: Mit militärischen Aktionen wird man
keine Probleme lösen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Ohne auch nicht!)


Man muss eine aktive und ideenreiche Nahost-Politik
betreiben. Ich würde gern den alten Gedanken, ob man
nicht aus der europäischen Sicherheitskonferenz
Schlussfolgerungen für den Nahen Osten ziehen kann,
aufgreifen. Es sollte eine politische Initiative zu einer
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Na-
hen Osten gestartet werden. Das wäre jetzt wichtig, und
eine solche Initiative wäre dem Parlament angemessen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718426800

Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718426900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man

kann zum UNIFIL-Einsatz sagen: Das ist ein verhältnis-
mäßig kleiner Einsatz, es handelt sich nur um 300 Solda-
tinnen und Soldaten. Das ist ein vergessener Einsatz. Der
Debattenplatz heute Abend trägt auch nicht dazu bei,
dass sich das ändert. Man kann sagen: Es gibt keine Zwi-
schenfälle. Man kann aber auch sagen: Es gibt keine
Zwischenfälle, weil es diese Präsenz vor Ort gibt. Nicht
nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch ihren
Familien, die eine sehr schwere private Situation durch-
machen müssen, gilt ein herzlicher Dank für das, was sie
dort tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Man kann UNIFIL natürlich auch als Beitrag deut-
scher Verantwortung in einer der schwierigsten Regio-
nen der Welt sehen. Es ist natürlich nicht unerheblich,
dass die beiden Konfliktpartner, die libanesische und die
israelische Seite, für diesen Einsatz waren und sind. Es
ist natürlich alles andere als unerheblich, dass das ein

UN-geführter Einsatz ist. Es ist natürlich alles andere als
unwichtig – Kollege Gehrcke hat es völlig zu Recht
gesagt –, dass dieser Einsatz den Krieg dort beendet hat.
Das kann man bei der Bewertung des Mandats nicht ein-
fach weglassen. Deshalb, meine Damen und Herren,
werden wir der Fortsetzung von UNIFIL zustimmen.

Jeder Einsatz von Militär ist dafür da, Zeitfenster für
Politik zu schaffen. Die Frage ist, wie die Politik in die-
sem Zeitfenster tatsächlich tätig wird, damit der Einsatz
überflüssig wird. Ich finde, in diesem Zusammenhang
muss man der Bundesregierung das eine oder andere
vorwerfen. Wir haben darüber bereits im letzten Jahr im
Rahmen der Mandatsdebatte gesprochen.

Die Bundeswehr musste ihre Leadfunktion vor Ort
wegen der von der Bundesregierung beschlossenen Re-
duzierung aufgeben. Wenn man vor Ort nachgefragt hat,
musste man feststellen, dass die deutschen Soldatinnen
und Soldaten am Ende doch die Leadfunktion operativ
unter deutlich widrigeren Umständen mit ausübten.

Herr Minister, Sie haben gerade völlig zu Recht da-
rauf hingewiesen, wie wichtig die libanesische Armee
ist. Sie ist noch mehr; denn die libanesische Armee ist
eine der wenigen Institutionen im ganzen Lande, die von
allen Seiten wirklich akzeptiert wird.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Stimmt!)


Der Gedanke einer Einheit ist ohne die Armee im Liba-
non gar nicht denkbar. Er wird gerade vor dem Hinter-
grund des bestehenden Konflikts in Syrien zunehmend
wichtiger.

Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum der
Libanon bei der Ausbildungshilfe in der Priorität herab-
gestuft worden ist. Das wurde von Ihnen nicht korrigiert.
Da gehen Ihre Ausführungen und die Realität, die Hand-
lungen der Bundesregierung, ein Stückchen auseinander.
Weil sich die Region so verändert, wäre es deshalb gut
gewesen, wenn Sie bei diesem Mandat nicht einfach so
weitergemacht hätten. Es reicht auch nicht, dass man
sehr beherzt applaudiert, wenn sich der Bundespräsident
zu Auslandseinsätzen äußert, sondern man muss auch
etwas tun.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: An wen war der Appell gerichtet? – Zurufe von der CDU/CSU: Haben wir doch!)


Das ist leider Gottes ein Glied in einer Kette, die zu
außenpolitischer Bedeutungslosigkeit führt. Das ist beim
Südsudan so. Das ist am Horn von Afrika so. Das ist im
Falle von Libyen so gewesen. Hier geht es – das sage ich
noch einmal – nicht um das Engagement der Soldatinnen
und Soldaten, sondern hier geht es um die Begleitung
durch die Politik. Wie es die Bundesregierung macht,
reicht einfach nicht aus.


(Birgit Homburger [FDP]: Was soll sie denn machen nach Ihrer Meinung?)


– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen und ich noch
mehr Redezeit bekomme,


(Birgit Homburger [FDP]: Nein!)






Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)


gebe ich Ihnen eine ausführliche Antwort. Aber ich habe
zum Beispiel zur Frage der Ausbildungshilfe und ihrer
Priorität für die libanesische Armee gerade einiges
gesagt.


(Birgit Homburger [FDP]: Waren Sie schon mal da?)


– Selbstverständlich, Frau Kollegin. Wir waren schon
einmal zusammen in einem Ausschuss. Sie wissen, dass
man da natürlich die Soldatinnen und Soldaten vor Ort
besucht, um zu schauen, was sie dort leisten. – Jetzt
haben Sie mir viel Redezeit geklaut; das war nicht nett.

Ich möchte noch einige Sätze zum Kollegen Gehrcke
sagen. Ich bin bei Folgendem bei Ihnen: Die Anwen-
dung von militärischer Gewalt ist immer von Übel. Man
muss natürlich hierbei auch die Frage stellen – das war
auch für meine Partei über die Jahrzehnte ein Lernpro-
zess –, ob das nicht manchmal das kleinere Übel ist. Sie
haben eben nicht kategorisch jede Beteiligung ausge-
schlossen, sondern Sie haben von der deutschen Beteili-
gung aufgrund der Geschichte gesprochen.

Aber wie Sie bei einem Einsatz, der explizit und
nachweislich Schmuggel und Proliferation von Waffen
in eine Konfliktregion unterbinden und Gewalt sowie
weitere Gewalt verhindern soll, einfach Nein sagen kön-
nen, geht mir nicht in den Kopf.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Der Schmuggel wird doch gar nicht verhindert!)


Ich habe das Gefühl, dass es um das innenpolitische
Vorgärtchen und weniger um Frieden im Nahen Osten
geht.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich erkläre es Ihnen bei Gelegenheit!)


Das ist sehr bedauerlich. Ich freue mich auf Ihre Erklä-
rung.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718427000

Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1718427100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Zunächst einmal zu unserem gemein-
samen Bundespräsidenten. Herr Nouripour, ich finde
schon, dass diese Debatte eines zeigt: dass wir das sehr
ernst nehmen, was der Bundespräsident uns mit auf den
Weg gegeben hat. Ich glaube, dass er einen wichtigen
Beitrag geleistet hat. Er hat eine gesellschaftliche De-
batte, die die Union schon seit Jahren führt, aufgenom-
men und fortgesetzt. Es geht darum, dass wir uns bei
allen Mandaten, die wir hier beschließen, hinter die Sol-
datinnen und Soldaten stellen sollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb passt das, was wir hier gemeinsam beschließen,
eigentlich sehr gut zu dem von uns gemeinsam vorge-
schlagenen und getragenen Bundespräsidenten. Insofern
habe ich die Einlassungen vorhin nicht verstanden.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich jetzt aber auch nicht verstanden!)


Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem – es ist
vorhin schon gesagt worden – bei den Soldatinnen und
Soldaten, die einen wichtigen Dienst leisten, bedanken.
Die deutsche Marine arbeitet auf ihren Schiffen effizient
und zielorientiert. Deshalb mein herzlicher Dank, auch
zu dieser Uhrzeit, an die Soldatinnen und Soldaten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drei Punkte sind mir wichtig; einige sind schon ge-
nannt worden.

Erstens. Ein Grund, warum wir bei dieser Mission
weiterhin unseren Dienst leisten sollten, ist: Die Region
ist insgesamt in Aufruhr. Das UNIFIL-Mandat ist er-
wünscht. Die Soldatinnen und Soldaten werden überall
in den beteiligten Ländern willkommen geheißen. Wir
leisten damit einen Beitrag zur Stabilität. Gerade mit
Blick auf die innenpolitische Situation des Libanon ist es
sehr wichtig, dass wir diesen Beitrag auch weiterhin leis-
ten.

Zweitens. Dieser Dienst ist ein Beitrag zur Sicherheit
Israels. Er steht im Einklang mit dem, was die Bundes-
kanzlerin in ihrer vielbeachteten Rede vor der Knesset
gesagt hat. Es gehört zur deutschen Staatsräson, die
Sicherheit Israels zu schützen. Dies ist ein konkreter
Beitrag und damit auch eine Erfüllung unserer politi-
schen Mission, für die wir als Union ja besonders eintre-
ten.

Drittens. Unsere Beteiligung zeigt auch innerhalb der
Staatengemeinschaft, dass wir uns gemeinsam engagie-
ren. Gerade die Teilnahme an UNIFIL, getragen von
Ländern wie Belgien, Bangladesch, Italien und Indone-
sien, zeigt, wie wichtig es ist, gemeinsam Lasten zu tei-
len und gemeinsam zielorientiert einen militärischen
Beitrag zu leisten, der über das rein Militärische hinaus
eine große Bedeutung hat.

Meine Damen und Herren, der Waffenschmuggel vor
der Küste des Libanon muss eingeschränkt werden.
Dazu gehört, die widerstreitenden Gruppierungen im Li-
banon selbst dazu zu bringen, auf eine weitere Bewaff-
nung zu verzichten. Dafür ist das UNIFIL-Mandat sehr
wichtig. Ich darf an dieser Stelle auch den Kooperations-
gedanken noch einmal hervorheben, den gerade Kapitän
zur See Gerald Koch vor wenigen Wochen in einem In-
terview erwähnt hat. Deutschland hat durch die Ausrüs-
tungshilfe und Ausbildungsunterstützung eine Vorreiter-
rolle übernommen. Auch das zeigt, dass wir mit diesem
Mandat eine sehr große Akzeptanz haben. Auf einer
Reise im Libanon, die Ruprecht Polenz und ich kürzlich





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


unternommen haben, sind wir von allen widerstreitenden
Gruppierungen auf diesen positiven Beitrag angespro-
chen worden. Ich glaube, das ist Grund genug, auf dieses
erfolgreiche Mandat zurückzublicken.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Deut-
schen Bundestag der Verlängerung dieses Mandats zu-
stimmen können und dass wir uns darüber hinaus dafür
einsetzen sollten, weitere Aktivitäten in dieser Region zu
starten. Der Übergriff der Unruhen in Syrien auf den
Libanon steht unmittelbar bevor; das ist zu befürchten.
Vor diesem Hintergrund ist all das, was wir diplomatisch
und politisch tun können, um die Unruhen einzugrenzen,
wichtig und sinnvoll. Ich sehe den UNIFIL-Einsatz in
diesem Zusammenhang in einem größeren Rahmen. Ich
glaube, dass es wichtig ist, an diesem Mandat festzuhal-
ten und damit, wenn auch nur mit kleinen Mitteln, zur
Stabilisierung des Libanons und der Region beizutragen.
Einen Flächenbrand im Nahen Osten zu verhindern,
wird ein wichtiger Punkt sein. Insofern empfiehlt unsere
Fraktion, diesem Mandat zuzustimmen. Wir bitten
darum, dass wir in den nächsten Wochen der Beratungen
dieses Mandat gemeinsam weitertragen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718427200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9873 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Auskunftspflichten der Europäischen Zentral-
bank einfordern und für eine ausreichende Ei-
genkapitalbasis der Kreditwirtschaft sorgen

– Drucksache 17/9585 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Es wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9585 an
die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung
stehen. – Damit sind Sie einverstanden. Das ist so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a und b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines pauschalierenden Ent-
geltsystems für psychiatrische und psychoso-


(Psych-Entgeltgesetz – PsychEntgG)


– Drucksache 17/8986 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/9992 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Lothar Riebsamen

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen
in Krankenhäusern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-
Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einführung eines pauschalierenden psychia-
trischen Entgeltsystems zur qualitativen
Weiterentwicklung der Versorgung nutzen

– Drucksachen 17/5119, 17/9169, 17/9992 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Lothar Riebsamen

Die Reden sind ebenfalls zu Protokoll gegeben.2)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einfüh-
rung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychia-
trische und psychosomatische Einrichtungen. Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9992,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/8986 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich
um das Handzeichen. – Die Gegenstimmen! – Die Ent-
haltungen! – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt.
Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal-
ten.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. – Die Gegenstimmen! – Die Enthaltungen! –
Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit fast dem
gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen,
allerdings hat die SPD jetzt dagegen gestimmt.

Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
17/9992 fort. Unter Buchstabe b wird die Ablehnung des

1) Anlage 11 2) Anlage 12





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5119
mit dem Titel „Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauscha-
len in Krankenhäusern“ empfohlen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die
SPD. Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/9169 mit dem Titel „Einführung
eines pauschalierenden psychiatrischen Entgeltsystems
zur qualitativen Weiterentwicklung der Versorgung nut-
zen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Ko-
alitionsfraktionen, SPD und Linke. Bündnis 90/Die Grü-
nen waren dagegen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP

Übersetzungserfordernisse der nationalen
Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanz-
planung 2014–2020 berücksichtigen – Überset-
zungen auch im intergouvernementalen Rah-
men sicherstellen

– Drucksachen 17/9736, 17/10003 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth (Heringen)

Dr. Stefan Ruppert
Dr. Diether Dehm
Manuel Sarrazin

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10003,
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/9736 anzunehmen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Die Oppositionsfraktionen haben sich enthalten.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Gustav Herzog, Garrelt Duin, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes und ein moder-
nes Wasserstraßenmanagement

– Drucksache 17/9743 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Die Reden sind wiederum zu Protokoll gegeben.2)

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9743 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der
Tagesordnung finden. – Damit sind Sie einverstanden.
Das ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Harald Weinberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Tagespflegepersonen stärken – Qualifikation
steigern

– Drucksache 17/9925 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter

(Dritter Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes)


– Drucksache 17/9850 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.3)

Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen
17/9925 und 17/9850 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Das ist beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Gabriele Hiller-Ohm, Silvia Schmidt (Eisleben),

1) Anlage 13
2) Anlage 14
3) Anlage 15





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Barrierefreier Tourismus für alle

– Drucksachen 17/5913, 17/9853 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Hirte
Gabriele Hiller-Ohm
Jens Ackermann
Dr. Ilja Seifert
Markus Tressel

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1718427300

Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir erstmals

über den vorliegenden Antrag geredet. Damals wurde
auch gerade der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskommission vorgestellt. In
der Zwischenzeit haben wir im Ausschuss das Thema
Barrierefreiheit in vielen Facetten diskutiert. Ich erin-
nere unter anderem an die Anhörung zum Thema im Fe-
bruar dieses Jahres. Auch die ITB mit dem Schwerpunkt-
tag des barrierefreien Tourismus liegt hinter uns. Das
zeigt, dass nicht nur die Politik das Thema immer wieder
auf die Agenda setzt, sondern auch die Branche selbst
erkennt, dass das Thema wichtiger wird. Es ist ethisch
wichtig, um Barrieren abzubauen und um mehr Men-
schen Teilhabe zu ermöglichen. Es ist aber eben auch
ökonomisch eine Chance für Unternehmen, für Hotels,
für Reiseanbieter, kurzum: für die gesamte Leistungs-
kette. Allerdings ist mein Eindruck, dass in der Branche
im Vergleich zur Politik noch der weitaus größere Nach-
holbedarf zu sehen ist.

Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es ge-
winnt immer weiter an Bedeutung. Das sehen und erle-
ben wir alle miteinander täglich. Barrierfreiheit geht
uns alle an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir
die Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit ei-
nem Kinderwagen. Wir werden alle aber auch irgend-
wann einmal älter und sind nicht mehr so mobil, hören
schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren auf.
Die demografische Entwicklung kommt hinzu und macht
uns deutlich, dass das Thema immer mehr an Fahrt ge-
winnt und weiter gewinnen wird.

Dem vorliegenden Antrag werden wir als Union den-
noch nicht zustimmen. Uns allen ist klar, dass es immer
noch viel zu tun gibt, nicht zuletzt deshalb, ich habe es
erwähnt, weil die Zahl der Betroffenen größer wird. Der
demografische Wandel setzt uns quasi unter Druck,
nicht stillzustehen und immer wieder das Thema voran-
zubringen.

Man muss an dieser Stelle auch noch einmal betonen:
Im föderalen System ist Tourismus Ländersache. Gerade
beim barrierefreien Tourismus gilt: Es ist eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe. Akteure müssen vor Ort schauen,
wie sie konkret Probleme lösen können, wie im Kleinen
Hilfe geleistet werden kann und Bedingungen verbessert
werden können. Das war ja durchaus auch ein Ergebnis
der Anhörung. Nicht immer braucht es die große Ge-

setzeskeule. Viel wichtiger ist der Einsatz und das Enga-
gement der Menschen vor Ort.

Sie haben einige Forderungen bezüglich des barrie-
refreien Reisens aufgestellt. Die Bahn solle etwa die An-
gebote beim Einsteige-, Umsteige- und Ausstiegsservice
ausbauen. Meine Erfahrung, und das bestätigen zum
Beispiel Behindertenbeauftragte, mit denen ich regel-
mäßig Kontakt habe, ist die, dass die Bahn hier sehr zu-
verlässig Hilfsangebote bietet, den Service aber auch
immer weiter ausbaut. Oder denken Sie an die Mittel,
die wir auch als Bund bereitgestellt haben, um barriere-
freie Bahnhöfe voranzubringen. Allein hier in Berlin ha-
ben wir die Baustellen vor Augen, an denen es vorwärts
geht. Und jeder hat aus seinem Wahlkreis wahrschein-
lich Beispiele, die das auch untermauern.

Ich bin sehr dafür, dies immer weiter voranzutreiben.
Aber ich bin skeptisch, wenn wir dies immer mit neuen
Vorgaben aus Berlin tun. Wir wollen immer Bürokratie-
abbau, aber gleichzeitig fallen uns immer wieder tau-
send Dinge ein, bei denen der Staat handeln soll, bei de-
nen neue Gesetze her müssen, deren Einhaltung dann
natürlich auch wieder kontrolliert werden muss. Manch-
mal ist es aber vielleicht tatsächlich ausreichend, auf die
Kreativität und die Intelligenz der Menschen in der Pra-
xis zu vertrauen.

Die SPD hat in der Diskussion im Ausschuss selbst
darauf verwiesen, dass gerade im Tourismus viele Klein-
und Kleinstbetriebe am Markt sind, oft genug mit dem
entsprechend geringen Eigenkapital. Ihre Forderung
nach einem KfW-Programm wird das Problem auch
nicht wirklich lösen. Denn so gering wie das Eigenkapi-
tal sind auch die Margen und damit die Chancen, diese
Kredite bedienen zu können.

Ich glaube, beim Thema Barrierefreiheit dürfen wir
nicht stillhalten. Aber uns muss auch klar sein, dass wir
Geduld brauchen. Barrierefreiheit im Tourismus und in
der Gesellschaft wird nicht allein im Bundestag ent-
schieden, sondern in der Verantwortung eines jeden Ein-
zelnen vor Ort.

Als Letztes möchte ich daran erinnern, dass die Poli-
tik, dass der Bund sich dennoch engagiert. Erwähnen
möchte ich das Projekt des Bundeswirtschaftsministe-
riums „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier An-
gebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus
für alle in Deutschland“. Ich glaube, dass wir mit der
Förderung konkreter Projekte, die ein Zeichen setzen,
die Schule machen und die auch ein Anreiz sind, in den
Wettbewerb um die besten Ideen einzusteigen, gut fah-
ren. Seit September 2011 gibt es zudem die Möglichkeit
für Schwerbeschädigte, kostenlos im Nahverkehr der
Bahn zu fahren. Auch dies war eine konkrete Initiative
des Bundes, die ein unglaublich wichtiger Beitrag ist.
Auch bei anderen Initiativen setzen wir ja genau auf den
Weg konkreter Angebote und Anreize, etwa bei den An-
trägen zum Reformationsjubiläum. Das ist auch für den
Bundestag der richtige Weg. Länder haben die Verant-
wortung beim Tourismus. Wir können immer dann, wenn
wir konkrete Projekte initiieren oder begleiten, in diesen
Bereichen auf das Thema einwirken.





Christian Hirte


(A) (C)



(D)(B)


Nehmen Sie aktuell das Beispiel des Berliner Flugha-
fens. Der Bund ist beteiligt und legt natürlich größten
Wert darauf, dass Barrierefreiheit gegeben ist. Das De-
saster um die Verzögerungen steht auf einem anderen
Papier. Aber das Beispiel zeigt, dass der Bund mit gutem
Beispiel vorangeht, um beim Bau und im Tourismus
auch Akzente zu setzen. Ich glaube, dass diese Vorbild-
funktion eben auch Druck auf die Akteure andernorts
aufbaut und dem Thema hilft. Ich habe jedenfalls großes
Vertrauen, dass wir mit diesem Weg weiter Stück für
Stück Barrieren abbauen.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1718427400

Der barrierefreie Tourismus hat sich in der vergange-

nen Dekade grundsätzlich positiv entwickelt. Dennoch
ist die Botschaft „Tourismus für alle“ leider noch nicht
bei allen Unternehmen angekommen. Dabei sind Urlaub
und Reisen für Menschen mit Behinderungen wichtige
Faktoren für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Daher verfolgen alle Fraktionen des Ausschusses für
Tourismus das Ziel, die Barrierefreiheit zu einem Mar-
kenzeichen des Deutschlandtourismus zu machen. Im
Ziel sind wir uns einig; wie wir das Ziel erreichen kön-
nen, dazu gibt es in den Fraktionen allerdings unter-
schiedliche Vorstellungen.

Der vorliegende Antrag ist grundsätzlich nicht falsch,
aber die Vielzahl der in ihm enthaltenen Forderungen ist
so nicht umsetzbar. Es ist in naher Zukunft, um ein Bei-
spiel herauszunehmen, nicht möglich, Großveranstal-
tungen über die gesamte Servicekette barrierefrei zu or-
ganisieren.

Auch die an die Deutsche Bahn gerichteten Forde-
rungen lassen sich nicht von heute auf morgen umsetzen.
Die Umsetzung des Programms zur Barrierefreiheit bei
der Bahn wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen,
auch wenn die Bundesregierung mit dem Konjunktur-
programm schon erste wichtige Schritte angestoßen hat.
Die Bahn und ihr Vorstandsvorsitzender Grube sind auf
einem wichtigen und richtigen Weg. Als Parlament müs-
sen wir ihn dabei ideell, finanziell und politisch weiter
unterstützen. Insgesamt ist die Realisierung der Barrie-
refreiheit mit sehr viel Geld verbunden. Daher müssen
die Ressourcen realistisch eingeschätzt und bei der Um-
setzung Prioritäten gesetzt werden.

Wie bereits eingangs gesagt, sind wir uns einig, dass
so viel Barrierefreiheit wie möglich realisiert werden
muss. In Deutschland sind immerhin 30 bis 40 Prozent
der Bevölkerung mobilitätseingeschränkt. Aufgrund der
demografischen Entwicklung wird der Anteil der älteren
und mobilitätseingeschränkten Menschen an der Ge-
samtbevölkerung weiter ansteigen. Aber Barrierefreiheit
kommt ja nicht nur Menschen mit Handicaps zugute.
Der Konzeptidee des „Designs für alle“ liegt zugrunde,
dass Barrierefreiheit für 10 Prozent der Bevölkerung
zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent not-
wendig und für 100 Prozent komfortabel ist.

Viele mobilitätseingeschränkte Menschen verzichten
aufgrund mangelnder Barrierefreiheit auf das Reisen
oder würden bei einem besseren Angebot häufiger als
bisher in Urlaub fahren. Damit auch diese Menschen

reisen bzw. öfter verreisen, bedarf es einer flächende-
ckenden barrierefreien Infrastruktur, aber auch spezifi-
scher Tourismusangebote für diese Zielgruppe. Für ei-
nen barrierefreien Tourismus ist eine geschlossene
Servicekette mit durchgängig barrierefreien Angeboten
Voraussetzung. Dazu gehört insbesondere die barriere-
freie An- und Abreise sowie die Mobilität vor Ort.

Wir werden auch in Zukunft nicht aufhören, immer
wieder in der Tourismusbranche für Barrierefreiheit zu
werben. Gelungene Beispiele sind meiner Meinung nach
die besten Argumente, um noch unentschlossene Unter-
nehmer und Anbieter zu überzeugen. So engagiert sich
die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in
Deutschland“ in der Entwicklung des barrierefreien
Tourismus. In ihr haben sich acht Städte und Tourismus-
regionen zusammengefunden, und der Erfolg gibt ihnen
recht. Auch meine Heimatregion, die Sächsische
Schweiz, ist als Modellregion mit dabei.

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe erarbeiten vor Ort
barrierefreie Angebote und suchen nach Lösungsmög-
lichkeiten bei bestehenden Problemen; sie sind Teil ei-
nes Netzwerkes mit einer großen Zahl von Beteiligten.
Die Mitglieder beziehen Behindertenverbände in ihre
Arbeit mit ein, sie setzen Marketingprojekte um, und sie
beraten bei Infrastrukturprojekten. Mein Wunsch ist es,
dass die Bundesregierung in den nächsten Monaten die
Arbeitsgemeinschaft durch eine konkrete Projektförde-
rung unterstützt.

Wir werden beim Thema barrierefreier Tourismus
aber nur dann Fortschritte erreichen können, wenn wir
sensibilisieren und Konflikte beseitigen bzw. vermeiden.
Toleranz, Offenheit, Pragmatismus und Kreativität sind
dabei von allen Seiten gefordert. Wir müssen erreichen,
dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr am Rand
der Gesellschaft stehen und falsches Mitleid ernten. In-
tegration im Tourismus beginnt für mich dort, wo wir
Mittel und Wege finden, Menschen mit gleichen Interes-
sen zusammenzubringen. Konkret bedeutet das, dass Fa-
milien mit anderen Familien, Naturfreunde mit anderen
Naturfreunden oder Feinschmecker mit anderen Fein-
schmeckern ihre Freizeit verbringen können, ungeachtet
dessen, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie groß Solidarität
und Zusammenhalt zwischen Menschen mit gleichen In-
teressen werden, wenn sie sich über ihre Erfahrungen
austauschen können. Meines Erachtens hat ein gutes
barrierefreies Tourismusangebot vor allem auch ein ho-
hes sozialpsychologisches Moment, wenn behinderte
Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit erfahren und
nichtbehinderte Menschen das Gleiche spüren. Jeder ist
anders, und trotzdem gehören alle auf eine gewisse Art
zusammen und teilen die gleichen Träume und Freuden,
ob groß oder klein, dick oder dünn, jung oder alt, ob hö-
rend oder gehörlos, ob sehend oder blind.

Aufgrund des demografischen Wandels wird der An-
teil der altersbedingt behinderten Menschen weiter stei-
gen. So lässt bei vielen Menschen die Hör- und Sehfä-
higkeit nach. Touristische Destinationen werden daher
in Zukunft vermehrt in ein Design für alle investieren
müssen. Im Urlaub stehen Spaß, Erlebnis und Entspan-

Zu Protokoll gegebene Reden





Klaus Brähmig


(A) (C)



(D)(B)


nung an erster Stelle, und da behinderte Menschen, wie
die meisten Reisenden, nicht gerne alleine ihren Urlaub
verbringen, muss bei barrierefreien Angeboten der Ur-

(Mitstehen. Hier gilt es, innovative Angebote zu schaffen. Ich beginne mit einem Zitat, das uns allen bestens be kannt sein müsste: „Um die Teilhabe aller an touristischen Angeboten zu ermöglichen, soll das Ideal des barrierefreien Reisens in der gesamten touristischen Leistungskette verankert werden. Die Zugänge zu Bahnhöfen, Flughäfen, Verkehrsmitteln sowie zu Kulturund Freizeiteinrichtungen, Gaststätten und Hotels sollen barrierefrei gestaltet sein.“ Diese Forderung steht in den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung. Die SPD hat diese gemeinsam mit der CDU/CSU in der Großen Koalition Ende 2008 im Kabinett beschlossen. Wir haben dann 2009 einen Antrag auf den Weg gebracht, der viele gute Punkte für barrierefreies Reisen enthielt. Von der schwarz-gelben Bundesregierung war dann allerdings sehr lange nichts mehr zu sehen und zu hören zu diesem wichtigen Thema. Dabei ist Barrierefreiheit eine zentrale Voraussetzung, damit Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft teilhaben können. Die SPD setzt sich dafür ein, dass Urlaub und Reisen für alle Menschen möglich werden. Warme Worte, wie wir sie immer wieder in Sonntagsreden vernehmen, reichen nicht aus. Es gilt, politisch die richtigen Weichen zu stellen, um konkret Barrierefreiheit im Deutschlandtourismus voranzubringen. Deshalb haben wir bereits im Mai 2011 den heute abzuschließenden Antrag vorgelegt. Die Überschrift „Barrierefreier Tourismus für alle“ ist gleichzeitig das Motto, an dem sich unsere Maßnahmen orientieren. Wir haben damit viele gute Ideen auf den Tisch gelegt und diese auch ausführlich diskutiert, unter anderem im Rahmen einer Expertenanhörung im Februar im Tourismusausschuss. Die Anhörung hat unseren Kurs klar bestätigt: Alle Sachverständigen waren sich einig, dass mehr politische Unterstützung für Barrierefreiheit notwendig ist. In der Beschlussempfehlung kann man nachlesen, dass Sie selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, festgestellt haben, dass der Antrag nicht grundsätzlich falsch sei. Ich frage Sie: Warum lehnen Sie ihn dann ab? Sie stellen in Bezug auf Barrierefreiheit fest, dies sei „eine Aufgabe, die die Bundesregierung nicht allein erfüllen“ könne. Genau, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, deshalb fordern wir, einen Masterplan für barrierefreien Tourismus in Zusammenarbeit mit den Ländern und den Kommunen aufzustellen. Die Verantwortung aber allein den Ländern, Kreisen, Städten und Gemeinden zuzuschieben, wie Sie das machen, bringt uns nicht voran. Wir stellen erneut fest: Regierungsverantwortung ist nicht Ihre Stärke. Wir greifen Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, gerne unter die Arme. Unser Forderungskatalog ist umfassend. Wir sagen: Für eine bundesweite Koordinierung ist professionelle Arbeit nötig. Diese kann die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, leisten – allerdings nur, wenn die Finanzierung über vereinzelte Projekte hinausgeht. Wir wollen die NatKo zu einer bundesweiten Kompetenzstelle ausbauen. Wie erfolgreich sie arbeiten kann, hat sich beim ersten Tag des barrierefreien Tourismus auf der Internationalen Tourismusbörse ITB gezeigt. Die NatKo hat ihn organisiert und zu einem großen Erfolg werden lassen. Dies ging jedoch hart an die Reserven ehrenamtlicher Arbeit. Hier wollen wir, dass der Bund sich für einen dauerhaften Barrierefreiheitstag auf dem ITB-Kongress einsetzt und die Arbeit dafür entsprechend unterstützt. Entscheidend ist, dass die gesamte Servicekette barrierefrei ist. Ansonsten scheitert der Urlaub für viele Menschen mit Behinderung bereits an der Anreise. Noch immer sind rund ein Drittel aller Bahnhöfe nicht ansatzweise barrierefrei. Die Bahn hat jetzt ihr zweites Programm für Barrierefreiheit vorgestellt. Es ist dringend nötig und muss noch deutlich weitergehen. Die sogenannte 1 000er-Regelung der Bahn führt dazu, dass Stationen, die von weniger als 1 000 Reisenden am Tag genutzt werden, beim Bau von Aufzügen oder langen Rampen hinten herunterfallen. Das sind zwei Drittel aller Bahnhöfe. Wir fordern, dass Bahnhöfe generell barrierefrei umgebaut werden, auch kleinere Stationen. Dazu verpflichtet sich Deutschland im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention. Es gibt zudem sehr unterschiedliche Anforderungen an Barrierefreiheit in den Nahverkehrsnetzen der Länder und verschiedene Bahnsteighöhen. Auf diesen Baustellen ist der Bund ganz zentral gefordert. Wir müssen endlich zu bundeseinheitlichen Standards kommen. Die Tourismuswirtschaft steht ebenfalls in der Pflicht, mehr barrierefreie Angebote zu schaffen. Immer noch gibt es viel zu wenig barrierefreie Hotels und Gaststätten. Die Sachverständigen haben in der Anhörung bestätigt, dass viele Betriebe sich nicht dafür interessieren. Fakt ist auch: Gerade kleinen Familienbetrieben fehlt oft das Geld für Umbauten. Deshalb fordern wir, notwendige Investitionen in Hotels und Gaststätten zu bezuschussen. Das Potenzial von Barrierefreiheit ist für die Tourismuswirtschaft enorm: 5 Milliarden Euro zusätzlicher Umsatz wären mit barrierefreiem Tourismus möglich, 90 000 Vollzeitarbeitsplätze könnten zusätzlich geschaffen werden. Und das Potenzial wird in unserer älter werdenden Gesellschaft immer größer. Ich bin in meinem Wahlkreis Lübeck in unserer wunderschönen Altstadt mit dem örtlichen Behindertenrat unterwegs, um hautnah zu erfahren, wo es Probleme und Barrieren für Menschen mit Behinderung gibt. Die Be Zu Protokoll gegebene Reden Gabriele Hiller-Ohm troffenen wissen am besten, wo es hakt und wie praktische Lösungen auf der Straße, in Bahnhöfen, Restaurants oder Hotels aussehen können. Deshalb fordern wir, bei allen Maßnahmen für Barrierefreiheit Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände mit einzubeziehen. Zudem müssen sich die Betroffenen verlässlich über barrierefreie Angebote informieren können. Wir haben mit unserem Antrag den Aufbau eines bundesweiten Qualitätsgütesiegels für barrierefreien Tourismus gefordert. Ich begrüße, dass die Bundesregierung diese Idee aufgreift und das laufende Projekt des Deutschen Seminars für Tourismus, DSFT, und der NatKo unterstützt. Um ein erfolgreiches Gütesiegel daraus zu machen, brauchen wir allerdings einen „TÜV für Barrierefreiheit“. Wir fordern deshalb, unabhängig zu überprüfen, ob als barrierefrei ausgezeichnete Angebote dies tatsächlich sind. Dass sich Betriebe selbst einschätzen, reicht nicht aus. Das wird auch ein Knackpunkt des aktuellen Projekts des Wirtschaftsministeriums sein. Rund 8 Millionen Menschen mit Behinderung sind auf Barrierefreiheit angewiesen. Für mehr als 30 Millionen Menschen ist Barrierefreiheit hilfreich, gerade für Ältere oder Familien mit kleinen Kindern. Fest steht aber auch: Für 80 Millionen Menschen, also für alle, ist Barrierefreiheit komfortabel. Für barrierefreien Tourismus können und müssen wir eine Menge tun. Der Bund steht in der Pflicht, erst recht durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland bereits seit 2009 gilt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, unterstützen Sie wie die gesamte Opposition auch unseren Antrag, wenn Sie es ernst meinen, allen Menschen barrierefreies Reisen ermöglichen zu wollen. In Deutschland beginnen in wenigen Tagen die Som merferien, und damit befinden wir uns kurz vor Beginn der großen Reisewelle. Was man dabei oft übersieht, ist, dass es für circa 10 Millionen Menschen in unserem Land, die mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen leben, nicht selbstverständlich und unproblematisch ist zu verreisen. Für Menschen mit einem körperlichen oder geistigen Handicap ist es immer noch schwieriger als für gesunde Menschen zu verreisen. Das zu ändern, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Tourismusindustrie, und dementsprechend muss die gesamte touristische Servicekette barrierefrei gestaltet werden. Einfach in den Urlaub zu fahren – ohne Angst vor der Anreise, der Art der Beherbergung etc. –, sollte für behinderte Menschen zur normalen Sache werden, auf die man sich freut und die man entsprechend genießen kann. Für uns steht die Herstellung der Barrierefreiheit bei allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Tourismuspolitik im Vordergrund. Der Bundesregierung ist dieses Thema wichtig. Sie setzt sich dafür ein, dass barrierefreies Reisen im gesamten Spektrum der touristischen Leistungskette verankert wird. Barrierefreiheit erhöht die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland. Gerade im Hinblick auf die Sicherung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Deutschlandtourismus stehen wir hier vor einer zentralen Aufgabe. Wir setzen dabei auf Verantwortung und Bereitschaft in der Tourismusbranche. Jedem Hotelier und Gastwirt ist doch klar, dass er sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn er auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älteren und Behinderten eingeht. Gerade angesichts der demografischen Entwicklung ist die Teilhabe aller Menschen am Tourismus von zentraler Bedeutung. Wir begrüßen deshalb jedwede Art von Initiativen und Projekten von Verbänden und Vereinen, um die Öffentlichkeit und die Tourismuswirtschaft weiter für das Thema barrierefreier Tourismus zu sensibilisieren. Zentrale Aufgabe der Bundesregierung ist es, die Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in Deutschland zu verbessern. Zu diesem Zweck hat das Bundeswirtschaftsministerium Studien zum Thema Barrierefreiheit gefördert. Die ökonomische Bedeutung des barrierefreien Tourismus in Deutschland wurde untersucht und Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zu dessen Qualitätsverbesserung herausgearbeitet. Die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“ hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und setzt sich engagiert für die Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste in den Regionen ein. Die Bundesregierung begleitet die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention im Bereich Tourismus mit flankierenden Projekten. Sie fördert die Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote und Dienstleitungen. Im November 2011 konnte der Startschuss für das Projekt „Tourismus für alle: Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen in Deutschland“ gegeben werden. Am 31. Mai 2012 hat der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Herr Ernst Burgbacher, das Projekt in Berlin vorgestellt. Es läuft bis 2013 und trägt zur Erfüllung des Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention bei. Träger des Projekts ist das Deutsche Seminar für Tourismus in Kooperation mit der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo. In die Durchführung eingebunden sind die Tourismuswirtschaft, die Deutsche Zentrale für Tourismus, die Behindertenverbände, Verkehrsunternehmen, Landesmarketingorganisationen sowie eine Reihe weiterer fachlicher Einrichtungen. Die Bundesregierung unterstützt das Projekt mit knapp 500 000 Euro. Ziel ist es, eine einheitliche Kennzeichnung zu entwickeln und damit die vielen verschiedenen Kennzeichnungen durch ein einheitliches System zu ersetzen. Damit fördern wir eine Transparenz der bestehenden Angebote und Leistungen. Darüber hinaus sollen Führungspersonal und Mitarbeiter der Tourismusbranche für das Thema sensibilisiert und geschult werden. Außerdem wird eine Internetplattform erarbeitet, auf der sich Reisende über barrierefreie Angebote informieren können. Zu Protokoll gegebene Reden Jens Ackermann Eine aktuelle Umfrage des Flughafenverbandes ADV über die PRM-Leistungen an deutschen Flughäfen belegt, dass die deutschen Flughäfen bei der Unterstützung von Reisenden mit eingeschränkter Mobilität vorbildlich sind. So erhielten im vergangen Jahr mehr als 1 Million mobilitätseingeschränkter Reisender Unterstützung auf den Flughäfen, unter anderem beim Ein-, Ausund Umsteigen. Das sind sehr positive Nachrichten und zeigt, dass die Branche auch hier auf dem richtigen Weg ist. Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Tourismus in Deutschland werden sollte und vor allem werden kann. Die Teilhabe aller Menschen am Tourismus muss ermöglicht werden. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam erreichen, in Absprache mit den Ländern, Regionen, Kommunen und den verantwortlichen Akteuren der Tourismuswirtschaft. In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Berli ner Fernsehturms steht: Aufgrund der im Berliner Fernsehturm bestehenden baulichen Gegebenheiten ist, um die Sicherheit der Besucher im Evakuierungsfall zu gewährleisten, Rollstuhlfahrern und Personen mit aktueller Gehbehinderung, d. h. Personen, die sich nicht ohne fremde Hilfe oder ohne Hilfsmittel, wie Krücken etc. fortbewegen können, der Zutritt nicht möglich. Was hat das mit der heutigen Debatte zu tun? Der Berliner Fernsehturm ist seit 1969 nicht nur das Wahrzeichen der Hauptstadt, sondern auch eine der bekanntesten und beliebtesten Sehenswürdigkeiten für Touristinnen und Touristen aus aller Welt. In einer kürzlich von der Deutschen Zentrale für Tourismus veröffentlichten Studie über die 100 Topreiseziele in Deutschland nimmt der Fernsehturm einen vorderen Platz ein. Aber es darf eben nicht jede oder jeder hinauf. Dabei gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass es möglich ist, auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen den Zugang zu solchen Bauwerken zu ermöglichen. Nennen möchte ich hier stellvertretend die Fernsehtürme in Düsseldorf und Schwerin, den Euromast in Rotterdam, den Skytower in Toronto sowie seit den jeweiligen Paralympics die Akropolis in Athen und die Chinesische Mauer in Padaling. Die fehlende Barrierefreiheit beim Berliner Fernsehturm war auch Thema in einer Kleinen Anfrage der Linken, denn der Bund steht hier als Hauptaktionär bei der Deutschen Telekom bzw. ihrer Tochtergesellschaft Deutsche Funkturm GmbH direkt in der Verantwortung. Deswegen ist es aus meiner Sicht unakzeptabel, wenn die Bundesregierung auf die Frage, wie sie sich für die Schaffung der Barrierefreiheit auf dem Fernsehturm einsetzen wird, am 22. Februar 2010 – Drucksache 17/786 – antwortete: „Die Bundesregierung sieht hierfür keine Veranlassung.“ Auf meine Frage, welche der 100 Topreiseziele denn barrierefrei seien und welche der 100 Topreise ziele auch mit Blick auf die Schaffung von Barrierefreiheit Fördermittel des Bundes erhielten, antwortete die Bundesregierung am 3. Mai 2012 – Drucksache 17/9518 –: Informationen, welche der 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten in Deutschland barrierefrei sind, liegen der Bundesregierung nicht vor. … Bei der Beantwortung der Frage nach bereitgestellten Mitteln des Bundes für bauliche Investitionen, Marketingmaßnahmen usw. für die 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten kann nicht nach barrierefreien und nichtbarrierefreien Sehenswürdigkeiten unterschieden werden … So viel Unkenntnis ist keine gute Grundlage, um den barrierefreien Tourismus voranzubringen und Fördermittel des Bundes gezielt und effizient einzusetzen. Vor einem Jahr, am 9. Juni 2011, hatten wir die erste Lesung zu diesem Antrag im Bundestag. Bereits damals wies ich darauf hin, dass die Linke bereits am 24. September 2008 einen Antrag mit dem Titel „Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland“ – Drucksache 16/10317 – in den Bundestag eingebracht hatte. Unser Antrag wurde mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP abgelehnt. Der nun zur Abstimmung stehende Antrag der SPD hat mit unserem Antrag große, teilweise wörtliche Übereinstimmungen. Deswegen wird die Linke dem Antrag auch zustimmen. Was hat sich in diesem Bereich im letzten Jahr getan? In zunehmend mehr Bundesländern, in Kommunen, touristischen Regionen, in der Tourismuswirtschaft und bei Verkehrsunternehmen steht das Thema „Barrierefreier Tourismus“ auf der Tagesordnung. Es gibt zunehmend mehr barrierefreie Angebote und auch bessere Informationen darüber. Wir hatten auf der ITB 2012 erstmalig, vor allem Dank der Initiative und Beharrlichkeit der NatKo, einen Tag des barrierefreien Tourismus – wenn auch noch ohne Unterstützung der Bundesregierung. Und es gibt ein von der Bundesregierung gefördertes Projekt „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ unter Federführung des Deutschen Seminars für Tourismus und Mitwirkung der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e.V., NatKo. Aber es wird immer noch mehr geredet als getan. Ich verzeichne auch weiterhin Gleichgültigkeit und Ignoranz. So hat Bundesverkehrsminister Ramsauer immer noch nicht begriffen, warum Fragen der Barrierefreiheit im Bundesbaugesetz verankert werden müssen, warum Förderungen des Bundes mit der Schaffung von Barrierefreiheit verbunden werden müssen oder warum eine Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes mit der Verpflichtung zum Einsatz barrierefreier Busse im Fernlinienverkehr verbunden werden muss. Hier wird von einem Bundesminister permanent gegen Bundesgesetze verstoßen, denn seit dem 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland. Mein Fazit: Die Bundesregierung nimmt nur unzureichend den Beschluss des Bundestages aus dem Jahr Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Ilja Seifert 2009, ihre eigenen Tourismuspolitischen Leitlinien sowie ihre in der Koalitionsvereinbarung erklärten Ziele hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Förderung des barrierefreien Tourismus ernst. Für die Linke hat barrierefreier Tourismus neben der wirtschaftspolitischen vor allem eine menschenrechtliche und soziale Dimension. Wir wollen die UN-Behindertenrechtskonvention – insbesondere Art. 30 – und den Ehrenkodex der Welttourismusorganisation, „Tourismus für Alle“, in die alltägliche Praxis überführen. Das nützt Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in ihren Kommunen, beim öffentlichen Personenverkehr, beim Einkaufen, bei Theater-, Sportoder anderen Freizeitveranstaltungen, schafft neue, moderne Arbeitsplätze – auch für Menschen mit Behinderungen – und ist nachhaltig innovativ. Eine barrierefreie Infrastruktur nützt nicht nur allen Bürgerinnen und Bürgern. Sie ist auch in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz vorgeschrieben. Fehlende Barrierefreiheit ist ein Wettbewerbsnachteil. Laut der Studie „Barrierefreier Tourismus für Alle in Deutschland – Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zur Qualitätssteigerung“ des Wirtschaftsministerium aus dem Jahre 2008 ist für etwa 10 Prozent der Bevölkerung eine barrierefrei zugängliche Umwelt zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig – das entspricht etwa 25 Millionen Menschen – und für 100 Prozent komfortabel. Demografisch bedingt wird die Zahl derjenigen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, weiter zunehmen. Das zeigt auch ein Blick auf die Zahl der Urlaubsreisenden zwischen 65 bis 75 Jahren. Hier wird bis 2020 ein Anstieg um 40 Prozent erwartet. In dieser Reisegruppe ist aber auch ein besonders hoher Anteil an Deutschlandreisen festzustellen. Er beträgt 41,2 Prozent, im Durchschnitt liegt dieser bei 30,5 Prozent. Es handelt sich dabei also keineswegs um eine vernachlässigbare Marktnische. Barrierefreiheit muss umfassend gedacht werden – von allen Beteiligten. Gebäude für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen, ist nur ein Aspekt eines barrierefreien Angebots. Es gilt, auch die Belange von Menschen mit Sinnesbehinderungen, chronisch-somatischen und psychischen Erkrankungen und Lernschwierigkeiten zu berücksichtigen. Mögliche Effekte sind laut einer Studie des FUR bis zu 5 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen in der Tourismusbranche sowie zusätzliche 90 000 Arbeitsplätze. Tipps für Maßnahmen und Informationen zum barrierefreien Tourismus bietet die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“. Anbieter können damit ihr Angebot über Checklisten auf Barrierefreiheit überprüfen und gezielt verbessern. Derzeit steht die NatKo vor großen Finanzierungsschwierigkeiten. Sie zu erhalten, ist von großer Bedeutung. Über das Thema Barrierefreiheit wird häufig debattiert. Der Tourismusbeauftragte Ernst Burgbacher kündigte am 31. Mai 2012 an, dass Barrierefreiheit das Markenzeichen des Tourismus in Deutschland werden soll. Dann müssen aber endlich Taten den Worten folgen. Das, was die Bundesregierung liefert, ist mehr als dürftig und zeigt einmal mehr, wie es um die soziale Dimension der Nachhaltigkeit bei dieser Bundesregierung bestellt ist! Der vorliegende Antrag greift viele Punkte auf und zeigt damit wie umfassend das Thema gedacht werden muss. Genau hier hat der Antrag aber auch einige kleine Schwächen, über die wir schon in den Ausschüssen gesprochen haben. Ich möchte noch einmal betonen: Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung haben auch im Bereich Tourismus ein Recht auf Teilhabe. Darüber hinaus spricht für den Abbau von Barrieren im Tourismus auch die wirtschaftliche Sicht. Ein Ausbau des barrierefreien Tourismus ist unumgänglich. Deshalb gilt es folgende Kernfrage zu lösen: Wie kann sich unsere Tourismuswirtschaft auf diesen Anstieg älterer Reisender mit ihren Bedürfnissen vorbereiten? Hier bedarf es erstens zielgruppengerechter Ansprache und auf Senioren abgestimmte Angebote. Zweitens brauchen wir Barrierefreiheit, um den Senioren von morgen Deutschland als attraktives Reiseziel zu präsentieren. Diese Senioren werden reiseerfahren und deshalb anspruchsvoll bei der Ausstattung ihrer Wunschdestination sein. Der uneingeschränkte Zugang zu touristischer Infrastruktur darf deshalb in Zukunft nicht die Ausnahme sein, sondern muss zur Selbstverständlichkeit werden. Drittens muss die Erreichbarkeit von Destinationen mit öffentlichem Nahverkehr sichergestellt werden. Das komplette touristische Produkt muss nachhaltig und barrierefrei gestaltet werden. Dies schließt alle Teilbereiche der Reisevorbereitung und Reisedurchführung mit ein; unter anderem lesbare Reiseinformationen, Möglichkeiten des Gepäcktransports, eine adäquate Gesundheitsversorgung vor Ort und vieles mehr. Auch im internationalen Vergleich ist es für Deutschland wichtig, sich als barrierefreie Tourismusdestination zu positionieren: Der demografische Wandel findet nicht nur in Deutschland statt. Mit einem Ausbau des barrierefreien Tourismus können wir für Deutschland im europäischen Vergleich ein bedeutendes Alleinstellungsmerkmal schaffen und damit auch internationale mobilitätseingeschränkte Gäste ansprechen. Gleichzeitig kann ein barrierefreier Deutschland-Tourismus zum einen als Indikator für Innovationsbereitschaft und soziale Nachhaltigkeit stehen und ebenso als Vorbild für den Tourismus des 21. Jahrhunderts dienen. Ich fasse mich noch einmal zusammen: Auf den Ausbau eines nachhaltigen, barrierefreien Tourismus hat jeder Betroffene ein Recht. Es ist gleichzeitig eine Notwendigkeit und enorme ökonomische Chance für die Tourismusindustrie in Deutschland. Die Erleichterungen kommen dabei im Endeffekt allen zugute. Die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“, Natko, bringt den gesellschaftlichen Gewinn mit dem Satz: „Für 10 Prozent zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich, für 100 Prozent komfortabel“, auf den Punkt. Hierbei handelt es sich nur um die aktuellen Zahlen. Die Tendenz ist steigend. Unsere Aufgabe ist es Markus Tressel jetzt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um der Tourismusindustrie diesen notwendigen Umbau möglichst schnell zu ermöglichen. Der Antrag schlägt trotz einiger kleiner Mängel die richtige Richtung ein. Deshalb werden wir zustimmen. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9853, den Antrag der Fraktion der SPD mit der Drucksachennummer 17/5913 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Enthaltungen! – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Koalition hat zugestimmt, die Opposition war dagegen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Tankred Schipanski, Albert Rupprecht Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stärken – Drucksachen 17/7183, 17/9912 – Berichterstattung: Abgeordnete Tankred Schipanski René Röspel Lausitz)

Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1718427500




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Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1718427600




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Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718427700




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Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718427800




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Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718427900

(Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt,

Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1718428000

Die Ressortforschung ist ein unverzichtbarer Bestand-

teil des deutschen Wissenschaftssystems. Seit Jahren ver-
zeichnen wir einen wachsenden Bedarf an qualitativ
hochwertigen wissenschaftsbasierten Erkenntnissen bei
den verschiedenen Ressorts. Weil wir um die große Be-
deutung der Ressortforschung wissen, wollen wir die be-
troffenen Einrichtungen weiterentwickeln und machen
mit unserem Antrag ganz konkrete Vorschläge.

Der Bundesbericht für Forschung und Innovation
2012 weist 40 öffentlich-rechtliche Bundeseinrichtun-
gen mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben aus.
Hinzu kommt die dauerhafte Zusammenarbeit mit sechs
überwiegend privatrechtlich verfassten FuE-Einrichtun-
gen. Zusammen werden sie als Einrichtungen des Bun-
des mit Ressortforschungsaufgaben bezeichnet. Neben
ihren hoheitlichen Funktionen unterstützen sie das je-
weilige Ressort bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben
durch – vereinfacht gesprochen – wissenschaftsbasierte
Politikberatung. Diese erfolgt entweder durch die Ein-
richtungen selbst, in Kooperation mit anderen For-

schungseinrichtungen oder durch die Vergabe von For-
schungsaufträgen an externe Forschungsnehmer.

Im Jahr 2004 begann der Wissenschaftsrat auf Bitten
des BMBF, zunächst 13 Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes zu evaluieren. Er stellte in seiner 2007 vor-
gelegten ersten Gesamtstellungnahme fest, dass die
FuE-Leistungen der Einrichtungen „häufig von guter
bis sehr guter Qualität“ seien, gab jedoch auch Empfeh-
lungen zur Weiterentwicklung der Ressortforschung.
Der Wissenschaftsrat benannte insbesondere das FuE-
Management, Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem,
wissenschaftliche Qualitätssicherung sowie personal-
und haushaltsrechtliche Rahmenbedingungen als Re-
formfelder. Zwischen 2007 und 2010 begutachtete der
Wissenschaftsrat in einem zweiten Schritt die bis dahin
noch nicht evaluierten Einrichtungen. Die zweite Ge-
samtstellungnahme bestätigte die Ergebnisse der ersten
Evaluation und mahnte zusätzlich eine stärkere Profilie-
rung sowie eine Verstärkung der internationalen Aktivi-
täten an.

Seit geraumer Zeit findet in mehreren Ressorts eine
erfolgreiche Umstrukturierung der Ressortforschungs-
einrichtungen statt. Das BMELV hat diesen Prozess be-
reits erfolgreich abgeschlossen. Mit unserem Antrag
wollen wir die Bundesregierung bei der Gestaltung die-
ses Prozesses mit konstruktiven Vorschlägen unterstüt-
zen und den Forderungen des Wissenschaftsrats parla-
mentarischen Nachdruck verleihen.

Lassen Sie mich diese Vorschläge im Einzelnen vor-
stellen. Zunächst muss zur Verbesserung der wissenschaft-
lichen Qualitätssicherung und Transparenz überprüft
werden, welche Einrichtungen künftig als Ressortfor-
schungseinrichtung geführt werden sollen. Zentrales
Kriterium für Verbleib und Aufnahme muss sein, dass die
betreffenden Institutionen über eigene wissenschaftliche
Kompetenz verfügen, indem sie entweder eigene For-
schung betreiben oder FuE-Projekte extern vergeben.

Im Hinblick auf Qualität und Struktur sind die 46 Ein-
richtungen höchst heterogen. Ein Blick auf den FuE-An-
teil der 46 Ressortforschungseinrichtungen offenbart
dies. Während der FuE-Anteil bei 14 Einrichtungen un-
ter 10 Prozent liegt, beträgt er bei 15 Institutionen
50 Prozent und mehr. Einige Einrichtungen – stellvertre-
tend sei auf die Bundesanstalt für Materialforschung
und -prüfung, BAM, verwiesen – sind zweifellos hervor-
ragend und wissenschaftlich exzellent aufgestellt. An-
dere müssen sich einer kritischen Überprüfung der wis-
senschaftlichen Kompetenz stellen. Diese Überprüfung
setzt voraus, dass die Ressorts zunächst ihre For-
schungsbedarfe definieren und systematisch klären, wel-
che Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben er-
forderlich sind.

Zweitens muss die Koordination zwischen den Ein-
richtungen, aber auch zwischen den übergeordneten
Ressorts verbessert werden. Nur so können wissen-
schaftliche Synergien optimal genutzt und Doppelarbeit
vermieden werden. Wichtige Voraussetzung hierfür ist
die vom Wissenschaftsrat empfohlene Kartierung der
FuE-Landschaft des Bundes und der Länder. Insbeson-
dere in Politikfeldern, die auf europäischer Ebene koor-





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


diniert werden, empfiehlt sich eine verstärkte Zusam-
menarbeit.

Drittens sehen wir in der wissenschaftlichen Quali-
tätssicherung eine zentrale Herausforderung. Diese
muss auf mehreren Säulen fußen. Alle Einrichtungen
müssen regelmäßig von erfahrenen externen Experten
evaluiert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt muss
selbstverständlich überprüft werden, ob die gegebenen
Empfehlungen auch umgesetzt wurden. Da die wissen-
schaftliche Leistungsfähigkeit der Institutionen maßgeb-
lich vom jeweiligen Leitungspersonal abhängt, müssen
wissenschaftliche Führungspositionen auch ausschließ-
lich durch ausgewiesene Wissenschaftler besetzt wer-
den. Wissenschaftliche Beiräte in den Einrichtungen
können einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung
leisten. Auch erachten wir es als erforderlich, dass pass-
genaue Qualitätssicherungssysteme entwickelt werden,
die auf validen Indikatoren basieren, zum Beispiel An-
zahl und Qualität der Publikationen, Einwerbung von
Drittmittelprojekten, Kundenzufriedenheit etc.

Viertens wünschen wir uns – die Empfehlung der
zweiten Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats
aufgreifend – eine noch stärkere Vernetzung der Ein-
richtungen untereinander und mit dem nationalen und
internationalen Wissenschaftssystem. Dies kann bei-
spielsweise durch Personalaustausch oder gemeinsame
Berufungen geschehen. So würde die Sichtbarkeit der
Ressortforschung spürbar erhöht und die notwendige
Internationalisierung vorangetrieben werden.

Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben wer-
den ebenso wie universitäre und außeruniversitäre Ein-
richtungen an den Maßstäben wissenschaftlicher Quali-
tät gemessen. Daher gilt es, die Einrichtungen mit
Ressortforschungsaufgaben als Teil der Wissenschafts-
landschaft zu betrachten und im Hinblick darauf Sorge
für Rahmenbedingungen zu tragen, die einen fairen wis-
senschaftlichen Wettbewerb mit universitären und
außeruniversitären Einrichtungen ermöglichen. Grö-
ßere administrative Freiheiten müssen für den jeweili-
gen Einzelfall geprüft und umgesetzt werden. Im Zuge
der Verabschiedung des Entwurfs für ein Wissenschafts-
freiheitsgesetz am 2. Mai 2012 hat die Bundesregierung
grundsätzlich ihre Absicht hierzu bekundet.

Schließlich fordern wir, dass über die hier vorgestell-
ten Vorschläge zur Weiterentwicklung der Ressortfor-
schung in den künftigen Ausgaben des Bundesberichts
für Forschung und Innovation detaillierter berichtet
wird. Zu einem umfassenden Bericht zählen mindestens
ein Überblick über die Schritte zur Verbesserung der in-
stitutionellen Rahmenbedingungen, über Maßnahmen
und Ergebnisse zur Qualitätssicherung, die Forschungs-
pläne einzelner Ressorts sowie Evaluierungsschwer-
punkte in den Einrichtungen. 2014 soll erstmals über die
Anpassung der Liste der Einrichtungen des Bundes mit
Ressortforschungsaufgaben berichtet werden.


Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1718428100

Insgesamt gesehen ist die Qualität der Forschungs-
leistungen in Einrichtungen, die weitgehend den
„Wissenschaftlichen Ressortforschungseinrichtun-

gen“ entsprechen, durchgängig gut bis sehr gut, in
einigen Bereichen auch international hervorra-
gend.“

Das schreibt der Wissenschaftsrat selbst in seiner
Stellungnahme vom 12. November 2010. Mit dem „Kon-
zept einer modernen Ressortforschung“ der Bundes-
regierung aus dem Jahr 2007 wurde in den Ressorts ein
kontinuierlicher Modernisierungsprozess angestoßen,
durch den in den vergangenen Jahren erhebliche Fort-
schritte erzielt wurden. Die Bundesregierung hat auf die
zweite Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats mit
einem Bericht zur Weiterentwicklung der Ressortfor-
schung reagiert, welcher dem Haushaltsausschuss am
1. Juli 2011 vorgelegt wurde.

Der vorliegende Antrag der Koalition von CDU/CSU
und FDP, den der Kollege Schipanski bereits im Detail
geschildert hat, verleiht den Handlungsempfehlungen
des Wissenschaftsrates nun parlamentarischen Nach-
druck und signalisiert, dass die Koalition davon aus-
geht, dass die durch den Wissenschaftsrat aufgezeigten
Optimierungspotenziale durch die Bundesregierung
auch konsequent und zügig genutzt werden und der Mo-
dernisierungsprozess fortgeführt wird, um die anerkannt
hohe Leistungsfähigkeit der Einrichtungen auch zukünf-
tig zu sichern.

Eine Kernkritik der Opposition ist, dass die Ressort-
forschungseinrichtungen des Bundes vorerst nicht vom
Anwendungsbereich des aktuell vorliegenden Wissen-
schaftsfreiheitsgesetzes, das wir voraussichtlich in der
kommenden Sitzungswoche in erster Lesung beraten
werden, erfasst sind. Es wird befürchtet, dass sich die
Rahmenbedingungen für die Einrichtungen mit Ressort-
forschungsaufgaben von denen der außeruniversitären
Forschungseinrichtungen weiter auseinanderentwi-
ckeln. Es stimmt, dass die Ressortforschungseinrichtun-
gen nicht am jährlichen 5-Prozent-Aufwuchs des Pakts
für Forschung und Innovation partizipieren. Allerdings
profitieren die Einrichtungen vom 6-Milliarden-Euro-
Aufwuchs für Forschung in dieser Legislaturperiode.
Ich möchte Sie daran erinnern, das es der schwarz-
gelben Koalition zu verdanken ist, das Bildung und For-
schung höchste Priorität eingeräumt werden.

Um zu verdeutlichen, dass die Ressortforschung hier-
von nicht abgeschnitten wird, möchte ich Ihnen noch
einmal die Verteilung der zusätzlichen Forschungsmittel
auf die Ressorts vor Augen führen: 56 Prozent der Mittel
entfallen auf das BMBF, 18 Prozent auf das BMWi,
3 Prozent auf das BMVg, jeweils 2 Prozent auf das AA,
das BMVBS und das BMU, jeweils 1 Prozent auf das
BMELV, das BMG und BMI sowie 14 Prozent auf den
Energie- und Klimafonds. Aus dem aktuellen Bundes-
bericht Forschung und Innovation 2012 lässt sich
entnehmen, dass die Sollausgaben des Bundes für For-
schung und Entwicklung an Ressortforschungseinrich-
tungen im Jahr 2012 circa 874 Millionen Euro betragen.
Das sind 33 Millionen Euro mehr als im Jahr 2011, was
einer Steigerung von rund 4 Prozent entspricht.

Selbstverständlich muss es unser Ziel sein, dass die
Ressortforschungseinrichtungen im Spannungsfeld von
Politikberatung und wissenschaftsbasierter Aufgaben-

Zu Protokoll gegebene Reden





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)


wahrnehmung gleichberechtigte Partner im Wissen-
schaftssystem sind. Als Haushälter möchte ich Ihnen
jedoch darlegen, warum ich die vorläufige Ausklamme-
rung der Ressortforschung von den Elementen des Wis-
senschaftsfreiheitsgesetzes als angemessen betrachte.
Vor dem Hintergrund der Heterogenität der Ressortfor-
schungseinrichtungen – 15 Einrichtungen weisen einen
Eigenanteil an Forschung am Tätigkeitsspektrum von
50 Prozent und mehr aus, bei 14 Einrichtungen liegt
dieser Anteil bei 10 Prozent und darunter – und ihren
spezifischen gesetzlich geregelten Aufträgen halte auch
ich die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagene Ausdiffe-
renzierung in forschungsintensive und administrative
Einrichtungen nicht für zielführend.

Der Ressortforschung kommt eine Brückenfunktion
zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu. Im
Unterschied zu anderen Forschungseinrichtungen un-
terliegen die Einrichtungen mit Ressortforschungsauf-
gaben als nichtselbstständige Behörden besonderen
rechtlichen Grundlagen; Forschung und Entwicklung ist
in diesen Einrichtung kein Selbstzweck, sondern dient
im Kern der Wahrnehmung hoheitlicher Dienst- und
Amtsaufgaben, wie beispielsweise die Gewährleis-
tung von Sicherheit in Technik und Chemie durch die
Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung oder
die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krank-
heiten, insbesondere der Infektionskrankheiten durch
das Robert-Koch-Institut.

Aufgrund der angesprochenen Heterogenität und des
geltenden Ressortprinzips, welches besagt, dass die
Feststellung des Ressortforschungsbedarf und die Aus-
richtung bzw. Weiterentwicklung der Ressortforschung
in den Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Ressorts
fallen, ist es folgerichtig, dass die zuständigen Ressorts
aufgefordert sind, zu prüfen, inwieweit entsprechende
Flexibilisierungen in den Bereichen Haushalt, Personal
und Bauverfahren auf ihre Ressortforschungseinrich-
tungen oder auf einzelne Teile angewendet werden kön-
nen. Die grundsätzliche Absicht hierzu hat die Bundes-
regierung durch einen gesonderten Beschluss anlässlich
der Verabschiedung des Entwurfes für ein Wissen-
schaftsfreiheitsgesetzes im Kabinett am 2. Mai 2012 be-
kundet.

Im Einzelnen sollten die Ressorts folgende Maßnah-
men prüfen: In Anbetracht des Spannungsverhältnisses
zwischen gesetzlichem Stellenabbau und der Erforder-
lichkeit hoch qualifizierter Experten in den Einrichtun-
gen mit Ressortforschungsaufgaben sollte erstens auf
die Angemessenheit der Stellenausstattung im jährlichen
Haushaltaufstellungsverfahren besonders geachtet wer-
den. Zweitens sollte der Flexibilisierungsbedarf bei der
Bezahlung von Beamten und Arbeitnehmern im Bereich
des wissenschaftlichen Personals für die Ressortfor-
schungseinrichtungen geprüft werden. Dies beinhaltet
die Gewährung von Zulagen als auch die Reaktionsge-
schwindigkeit bei der Abwehr von Abwerbeangeboten
aus der Wirtschaft oder dem Ausland.

Die ressortspezifische Prüfung von Möglichkeiten zur
Flexibilisierung ist meiner Ansicht nach ein vernünfti-
ger Kompromiss, der den großen Unterschieden zwi-

schen den Einrichtungen Rechnung trägt und auch im
Hinblick auf haushalterische Folgewirkungen das rich-
tige Maß ansetzt. Das Ziel einer gleichberechtigten
Partnerschaft gilt nicht nur im Hinblick auf die außer-
universitären Wissenschafts- und Forschungseinrich-
tungen, sondern auch im Hinblick auf die ministerielle
Verwaltungsebene.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition, abgesehen davon, verfügen die Ressortfor-
schungseinrichtungen bereits heute über Möglichkeiten
der Flexibilisierung. Gemäß § 5 des Haushaltgesetzes
stehen den Einrichtungen Möglichkeiten einer weitge-
henden Flexibilisierung von Haushaltsmitteln zur Verfü-
gung, womit sie auf neue Entwicklungen und Erkennt-
nisse im Forschungsbereich schnell und flexibel
reagieren können. Diese werden ressort- und einrich-
tungsspezifisch genutzt und bei Bedarf angepasst.

Dies gilt auch für den Bereich der Beschaffungen.
Um international konkurrenzfähig zu sein, müssen die
Forschungseinrichtungen wirtschaftlich und zügig die
für die Forschungsvorhaben erforderliche Infrastruktur,
insbesondere die entsprechenden technischen Gerät-
schaften, beschaffen können. Die Ressortforschungsein-
richtungen können Waren und Dienstleistungen bis zu
einem Höchstwert von 25 000 bzw. 30 000 Euro im Rah-
men der freihändigen Vergabe einkaufen. Zudem profi-
tieren sie – wie auch andere Forschungseinrichtungen –
von der sogenannten Forschungsklausel im Vergabe-
recht, wonach Aufträge bis zum EU-Schwellenwert ohne
förmliche Ausschreibung vergeben werden können.

Insgesamt kann man festhalten, dass die Ressortfor-
schungseinrichtungen schon heute über gute institutio-
nelle Rahmenbedingungen verfügen, unter denen sie
– wie bereits eingangs erwähnt – gute bis international
hervorragende Forschungsleistungen erzielen. Die
Koalition von CDU/CSU und FDP hat mit dem vorlie-
genden Antrag die Bundesregierung beauftragt, die
Stärkung der Potenziale der Ressortforschungseinrich-
tungen weiterhin voranzutreiben und die Leistungs-
fähigkeit der Ressortforschung stetig weiterzuentwi-
ckeln. Ich denke, mit dem vorliegenden Antrag ist es uns
gelungen, den zentralen Empfehlungen des Wissen-
schaftsrats Nachdruck zu verleihen und somit die starke
Stellung der Ressortforschung in der nationalen und in-
ternationalen Wissenschaftslandschaft auch zukünftig zu
erhalten.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1718428200

Mit den Ressortforschungseinrichtungen des Bundes

beschäftigte sich der Wissenschaftsrat erstmals im Jahr
2004. Bereits in dieser ersten Evaluation hat das Gre-
mium die Rolle der Ressortforschungseinrichtungen
grundsätzlich positiv bewertet, aber auch auf Hand-
lungsbedarfe hingewiesen.

Schon im Jahr 2007, noch zu Zeiten der Großen Ko-
alition und unter aktiver Einflussnahme der SPD, hat
das BMBF ein Papier mit dem Titel „Zehn Leitlinien ei-
ner modernen Ressortforschung“ publiziert, in welchem
die Verbesserungsvorschläge des Wissenschaftsrats auf-
gegriffen und in konkrete Handlungsvorschläge gefasst

Zu Protokoll gegebene Reden





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


wurden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass
dieses Papier noch heute über die Website des BMBF
abrufbar ist. Die inhaltlichen Zielvorgaben für eine
politische Weichenstellung hin zu einer zukunfts- und
leistungsfähigen Ausrichtung der Ressortforschungs-
einrichtungen, die den gesellschaftlichen Herausforde-
rungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird, sollten daher
auch den Koalitionsfraktionen hinlänglich bekannt sein.

Man könnte demnach annehmen, dass mit einer sol-
chen Vorlage eine politische Umsetzung – vor allem im
parlamentarischen Raum – reine Formsache wäre. Liest
man aber den vorliegenden Antrag von Union und FDP,
muss man mit Enttäuschung feststellen, dass dem nicht
so ist. Vorab sei an dieser Stelle noch darauf hingewie-
sen, dass zwischen Publikation der Leitlinien und dem
jetzt vorliegenden Antrag knapp fünf Jahre vergangen
sind. Hatte die Union in der letzten Wahlperiode mit der
SPD-Bundestagsfraktion noch einen Koalitionspartner
an der Seite, der sie dazu drängte, in dieser Frage als
ressortführende Partei endlich zu handeln, so muss man
heute feststellen, dass ohne den nötigen Druck offenbar
alles wesentlich länger dauert.

Der Umstand, dass man auf einen Antrag der Regie-
rungsfraktionen in dieser Frage so lange warten muss,
ist an sich schon äußerst unbefriedigend, wäre aber hin-
nehmbar, wenn der Antrag selbst eine inhaltliche Tiefe
hätte, die eine solche „Bearbeitungszeit“ rechtfertigen
könnte. Mit Ernüchterung muss man aber feststellen,
dass der vorliegende Antrag leider substanziell hinter
den Leitlinien des BMBF zurückbleibt – er es also nicht
vermag, die Mindestzielvorgaben des eigenen Ministe-
riums zu erfüllen.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Wird in den „Zehn
Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ unter
Punkt fünf explizit eine Förderung des wissenschaft-
lichen Nachwuchses – einhergehend mit der Schaffung
von Weiterqualifizierungsmaßnahmen des wissenschaft-
lichen Personals an den jeweiligen Einrichtungen – ge-
fordert, so findet sich dieser wichtige Punkt im Forde-
rungskatalog des Antrags nicht wieder. Zwar wird im
Begründungsteil in dieser Frage noch explizit auf die
Empfehlungen des Wissenschaftsrats hingewiesen und
festgestellt, dass zur optimalen Ausschöpfung der Poten-
ziale der Ressortforschungseinrichtungen die Nach-
wuchsförderung eine wichtige Rolle spielt. Doch leider
unterlässt es der Antrag, diesen Punkt im Forderungsteil
aufzugreifen. Oder um es anders auszudrücken: Es wird
ein Bedarf identifiziert; allein die logische Schlussfolge-
rung aus der Analyse hin zu einer Handlungsempfeh-
lung erfolgt nicht. Daher sei an dieser Stelle die Frage
erlaubt, wie die Regierungsfraktionen dem künftigen Be-
darf der Ressortforschung Rechnung tragen möchten,
wenn sie den jeweiligen Einrichtungen nicht die Mittel
in die Hand geben, qualifizierten wissenschaftlichen
Nachwuchs für ihre spezifischen Bedarfe auszubilden?

Im Antrag der Koalitionsfraktionen ist zudem die
Rede davon, dass die Ressortforschungseinrichtungen
– insbesondere solche mit einem hohen Forschungs-
anteil – „im Wettbewerb zu universitären sowie außer-
universitären … Wissenschaftseinrichtungen“ stehen

und sie folglich auch „im Wettbewerb um hochqualifi-
zierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ge-
stärkt werden“ müssen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe
müssen diese Einrichtungen jedoch über geeignete Mög-
lichkeiten der akademischen Ausbildung verfügen, um
entsprechend qualifiziertes Personal möglichst frühzei-
tig zu rekrutieren und an sich zu binden. Denn die Res-
sortforschungseinrichtungen werden ihren künftigen
akademischen Personalbedarf nicht allein durch die
Anwerbung externen Personals decken können.

Aber selbst inhaltliche Punkte, die tatsächlich von
den „Zehn Leitlinien einer modernen Ressort-
forschung“ ihren Weg in den Antrag gefunden haben,
werden bei genauer Betrachtung im Spiegel der Regie-
rungsrealität als das enttarnt, was sie sind: reine Lip-
penbekenntnisse. So findet sich in besagtem Antrag bzw.
in den Leitlinien die richtige Einschätzung wieder, dass
im Sinne einer stärkeren Vernetzung der jeweiligen Res-
sortforschungseinrichtungen mit dem Wissenschaftssys-
tem gemeinsame Berufungen mit Hochschulen als „ge-
eignetes Mittel“ anzusehen sind. Nach Auskunft der
Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des Abge-
ordneten Klaus Hagemann ist diese Berufungspraxis
seit dem Jahr 2007 – also seitdem diese Forderung erst-
mals in den Leitlinien der Bundesregierung publik ge-
macht wurde – in lediglich drei(!) Ressortforschungsein-
richtungen erfolgt. Alle drei Einrichtungen fallen in den
Geschäftsbereich des BMWi, was ebenfalls für eine nur
punktuelle Umsetzung dieser Vorgabe spricht.

Auch wenn der Antrag zu der Erkenntnis kommt, dass
die „wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Einrich-
tungen … maßgeblich von deren wissenschaftlichem
Leitungspersonal“ abhängt, scheint es die Bundesregie-
rung im Einzelfall besser zu wissen. Als Negativbeispiel
sei an dieser Stelle die Berufungspraxis des Bundes-
ministers Ramsauer bei der Ressortforschungseinrich-
tung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumfor-
schung, BBSR, genannt. Offenbar scheint ebenjener
Bundesminister wissenschaftliche Expertise und Exzel-
lenz mit Parteizugehörigkeit zu verwechseln. Man weiß
zwar, dass der neue Leiter ein schwarzes Parteibuch
hat; eine einschlägige Publikationsliste dieses neu beru-
fenen Leiters der Ressortforschungseinrichtungen ist
uns zumindest – und wohl auch der Bundesregierung –
nicht bekannt. Ob auf diese Weise die gewünschte Ver-
netzung mit der Wissenschaftslandschaft herbeigeführt
werden kann, sei dahingestellt. Dem Ansehen der Res-
sortforschungseinrichtungen ist eine solche Berufungs-
praxis jedenfalls nicht dienlich.

Die Mängelliste ist noch viel länger, kann aber
– mangels Zeit – nicht weiter ausgeführt werden. Ab-
schließend sei aber darauf verwiesen, dass wir uns zu
den vom Wissenschaftsrat angeregten wichtigen Fragen
hinsichtlich der künftigen eigenen Einwerbung von
Drittmitteln und der Koordinierung der Forschungs-
und Entwicklungstätigkeiten der Ressortforschungsein-
richtungen handfeste Handlungsvorschläge gewünscht
hätten. Aber bei diesem Wunsch verhält es sich wie bei
so manchen Versprechungen dieser Bundesregierung:
Sie bleiben unerfüllt.

Zu Protokoll gegebene Reden






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(D)(B)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1718428300

Als der Deutsche Bundestag 2004 das Bundesministe-

rium für Bildung und Forschung beauftragte, die Ein-
richtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben
systematisch zu evaluieren, hatte die FDP-Bundestags-
fraktion bereits 2001 mit einem Antrag auf die Notwen-
digkeit einer umfassenden Evaluation hingewiesen. Der
Antrag wurde abgelehnt; drei Jahre später gelangten
SPD und Bündnis 90/Die Grünen dann doch zu der Ein-
sicht, dass eine systemische Evaluation der Ressortfor-
schung notwendig sei. Denn viel zu lange wurden die
Ressortforschungseinrichtungen als Teil des Wissen-
schaftssystems ignoriert und nur in ihrer dienenden
Funktion für die Bundesministerien wahrgenommen.
Welches wissenschaftliche Potenzial sich tatsächlich da-
hinter verbirgt, wurde nicht wahrgenommen.

Mit der Forderung nach einer systemischen Evalua-
tion der Einrichtungen des Bundes mit Ressortfor-
schungsaufgaben lösten wir Liberale in vielen Ressorts
auch erstmals einen Denkprozess über die wissen-
schaftspolitische Stellung ihrer Einrichtungen aus. Als
die Evaluation durch den Wissenschaftsrat 2007 dann in
einer ersten Gesamtstellungnahme veröffentlicht wurde
und die Bundesregierung darauf aufbauend zehn Leitli-
nien für eine moderne Ressortforschung vorlegte, war
dies ein erster wichtiger Schritt zur Stärkung der Res-
sortforschung. Ein wichtiger Schritt, den wir Liberale
als Erfolg über die Fraktionsgrenzen hinweg anerken-
nen.

Für uns Liberale war aber auch klar, dass mit den
zehn Leitlinien für eine moderne Ressortforschung aus
der Zeit der Großen Koalition der Prozess keinesfalls
abgeschlossen sein kann. Denn der Wissenschaftsrat
verdeutlichte 2010 mit der zweiten Gesamtstellung-
nahme, dass die Ressortforschungseinrichtungen als
Instrument der Politikberatung weiter gestärkt werden
müssen. Dies gelänge, indem sich die Ressortfor-
schungseinrichtungen dem Wissenschaftssystem weiter
öffneten, die Einrichtungen näher an das Wissenschafts-
system herangeführt würden und man einen engen Aus-
tausch förderte. Mit unserem Antrag „Potenziale der
Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufga-
ben stärken“ greifen wir als christlich-liberale Koali-
tion genau diese Möglichkeit auf. Mit unserem Antrag
zielen wir darauf, die Ressortforschung fortzuent-
wickeln, damit die jeweils zuständigen Bundesministe-
rien für die Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben,
für die Erfüllung der Beratungs-, Forschungs- und
Dienstleistungsaufgaben, auf hohe wissenschaftliche
Kompetenz zurückgreifen können.

Um die hohe wissenschaftliche Qualität in den Ein-
richtungen mit Ressortforschungsaufgaben sicherzustel-
len, muss zuallererst eine grundlegende Überprüfung
aller Einrichtungen erfolgen. Diejenigen, die keine Res-
sortforschungsaufgaben leisten, können nicht als Res-
sortforschungseinrichtungen erhalten bleiben, sondern
sollten wie im Antrag gefordert ins Wissenschaftssystem
überführt werden. Alle Einrichtungen, die als Ressort-
forschungseinrichtungen verbleiben, sollen For-

schungsprogramme entwickeln. Darin sollen aktuelle
und erwartbare Forschungsbedarfe dargelegt werden.

Als einen weiteren zentralen Punkt sehen wir eine
stärkere Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem durch
Personalaustausch an. Auch Kooperation mit inter-
nationalen Partnern sowie gemeinsame Berufungen mit
Hochschulen führen zur besseren und stärkeren Vernet-
zung mit dem Wissenschaftssystem. In diesem Zusam-
menhang ist darauf zu achten, dass wissenschaftliche
Leitungspositionen zukünftig im Rahmen öffentlicher
Ausschreibungen nur noch durch ausgewiesene Wissen-
schaftler besetzt werden. Für uns Liberale ist dies eines
der wichtigsten Elemente im Antrag. Eine hohe wissen-
schaftliche Qualität der Ressortforschungseinrichtun-
gen ist vor allem dann möglich, wenn diese ausschließ-
lich durch hervorragende Wissenschaftler geführt
werden. Ein Beispiel, wie die Besetzung wissenschaftli-
cher Leitungspositionen umgesetzt werden kann, bietet
das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.
2011 wurde bei der Neubesetzung der Leitungsposition
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt eine eigens
für diesen Zweck installierte Expertenkommission beru-
fen, deren Empfehlungen Bundesminister Dr. Philipp
Rösler uneingeschränkt gefolgt ist.

Ziel aller Kooperationen und personellen Verschrän-
kungen ist es, Synergien und Kompetenz für die Ressort-
forschung zu nutzen und auch dem Wissenschaftssystem
einen Zugang zu den Forschungsinfrastrukturen zu
geben, die der Bund vorhält. Denn Kooperation und
Vernetzung ist nicht eindimensional, sondern verläuft in
beide Richtungen. Als Forschungspolitiker sind wir in
der christlich-liberalen Koalition an der Stärkung der
Hochschulen und des gesamten deutschen Wissen-
schaftsstandorts interessiert. Deshalb müssen wir allen
Akteuren im Wissenschaftssystem Kooperationen und
Synergien, mittels einer Kartierung der FuE-Infrastruk-
turen über einem Anschaffungswert von 1,5 Millionen
Euro, eröffnen. Eine solche Kartierung entfaltet dabei
eine größere Wirkung, wenn diese gemeinsam mit den
Ländern erstellt wird.

Ein weiterer wichtiger Punkt aus liberaler Sicht ist
die im Antrag adressierte intensiviere Vernetzung der
Ressortforschungseinrichtungen mit Partnern auf euro-
päischer Ebene. Denn die deutschen Ressortforschungs-
einrichtungen müssen noch stärker als Agendasetter in
einer europäischen und internationalen Gremien- und
Ausschussarbeit auftreten.

Mit dem Antrag zieht diese christlich-liberale Koali-
tion den richtigen Ansatz aus der Evaluation der Res-
sortforschungseinrichtungen und folgt im Übrigen vie-
len gemeinsamen überfraktionellen Anliegen, die in den
letzten Jahren über die Fraktionen hinweg adressiert
wurden. Insofern ist die Ablehnung des Antrags durch
Oppositionsfraktionen in den Beratungen des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung bedauerlich. Denn es stellt aus deren Sicht einen
Rückschritt dar, aus nicht nachvollziehbaren Gründen.
Die Punkte, die von SPD und Grünen im Ausschuss an-
geführt wurden, stechen nicht; denn das Kernanliegen,
die Stärkung der Potenziale, wird außer Acht gelassen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718428400

Die Koalition reagiert mit dem Antrag auf die Emp-

fehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung
der Ressortforschung. Diese umfasst derzeit 46 Einrich-
tungen mit einem Gesamtausgabevolumen von etwa
2 Milliarden Euro. Das Spektrum der Einrichtungen
reicht vom Umweltbundesamt über die Physikalisch-
Technische Bundesanstalt, das Robert-Koch-Institut bis
zum Bundesinstitut für Berufsbildung, BIBB. Der Wis-
senschaftsrat hat sich in seinen Empfehlungen vor allem
für eine stärkere Internationalisierung der Einrichtun-
gen sowie für mehr Transparenz, Profil und intensivere
Kooperation mit anderen Wissenschaftseinrichtungen
ausgesprochen.

Die Koalition beantragt, dass eine klare Zugehörig-
keit von Wissenschaftseinrichtungen zur Ressortfor-
schung anhand konkreter Kriterien definiert wird. Nur
Einrichtungen, die eigene Forschungstätigkeit vollzie-
hen, sollen benannt werden. Dazu gehören auch solche
technisch-administrativen Einrichtungen mit geringeren
eigenen Forschungsanteilen. Der Koalitionsantrag bleibt
leider die Antwort auf die Frage schuldig, welchen Sta-
tus Einrichtungen bekommen sollen, die nicht auf die
Liste der Ressortforschung aufgenommen werden. Eine
solche Klärung ist jedoch notwendig, wenn die vom Wis-
senschaftsrat empfohlene Klassifizierung vorgenommen
werden soll. Wir müssen diesen Einrichtungen, die zu-
meist sinnvolle, oft hoheitliche Aufgaben leisten, eine
Perspektive bieten.

Die Einrichtungen der Ressortforschung sollten nach
der Vorstellung der Koalition Forschungs- und Entwick-
lungsprogramme erarbeiten und die von ihnen bearbei-
teten Fragestellungen konkretisieren. Zudem sollen die
Einrichtungen weiterhin regelmäßig evaluiert werden.

Wir finden es verdienstvoll, dass die Koalitionsfrak-
tionen nicht länger auf die Bundesregierung warten und
sich dieses Themas im gebotenen Umfang angenommen
haben. Fünf Jahre liegen die letzten strategischen Posi-
tionierungen der Bundesregierung zurück. Es wird nun
Zeit, der erfolgten Evaluierung der Einrichtungen und
den Empfehlungen des Wissenschaftsrats endlich Taten
folgen zu lassen. Dabei muss natürlich die Rolle des
Wissenschaftsrates, der in erster Linie aus Politik und
universitärer Wissenschaft zusammengesetzt ist, kritisch
berücksichtigt werden.

Die Koalition entlässt jedoch die Bundesregierung zu
weit aus der Verantwortung. Der Wissenschaftsrat hatte
empfohlen, dass nicht die Einrichtungen selbst, sondern
vor allem die Bundesregierung ihre Forschungsbedarfe
regelmäßig und unter Einbezug externen Sachverstands
ermittelt und auch mit dem Parlament diskutiert. Davon
ist bei der Koalition jetzt nichts zu lesen; dabei wäre
eine solche Debatte der erste Schritt zu mehr Transpa-
renz.

Dazu passt leider, dass die Bundesregierung sich aus
der Detailsteuerung der Forschungseinrichtungen in
Fragen der Haushalts- und Personalführung zurückzie-
hen soll. Dies wird aber nicht mit einer entsprechenden
transparenten Steuerung bezüglich der institutionellen
Entwicklung, der Kooperationen und der zu bearbeiten-

den Forschungsfelder verknüpft. Die Linke fordert, das
spezifische Anforderungsprofil der Einrichtungen prä-
zise zu definieren und dementsprechend auch die Gover-
nancestrukturen auszurichten. Wer autonome Einrich-
tungen will, muss auch sagen, was er von ihnen erwartet.

Erst dann ist es auch möglich, eine nachhaltige Per-
sonalpolitik an den Ressortforschungseinrichtungen zu
gestalten. Ein planloser Abbau von Personal, wie an
vielen Einrichtungen in der Vergangenheit geschehen,
ist nicht im Interesse einer zukunftsfähigen Entwicklung
der Institute.

Zudem ist sicherzustellen, dass die Einrichtungen kri-
tische und für die entsprechenden Ministerien unbe-
queme Ergebnisse veröffentlichen dürfen. Die Wissen-
schaftsfreiheit sollte auch für die Ressortforschung und
für beauftragte externe Institute ausgelegt werden. Wir
erinnern uns an mehrere Fälle eines unwürdigen Gezer-
res etwa um Studien aus dem Umweltbundesamt.

Mehr Transparenz ist insbesondere auch in die Res-
sortforschung des Verteidigungsministeriums zu brin-
gen. Hier forschen allein 14 Institute mit einem Etat von
mehr als 150 Millionen Euro. Das Beispiel der For-
schung an Pockenviren im Wehrwissenschaftlichen In-
stitut für Schutztechnologien in Munster zeigt, dass eine
Debatte über Regeln guter wissenschaftlicher Praxis
auch in der Ressortforschung notwendig ist.

Alles in allem: Die Koalition ist gesprungen – leider
zu kurz.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718428500

Der Forschungsausschuss hat sich zuletzt im Dezem-

ber 2010 mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats
befasst. Damals kündigte die Bundesregierung an, im
Frühjahr 2011 eine ausführliche Stellungnahme zu die-
sen Empfehlungen vorzulegen. Davon hat man dann
aber nichts mehr gehört.

Die Modernisierung und Neustrukturierung der Res-
sortforschung ist offensichtlich ins Stocken geraten, das
Engagement der Bundesregierung offenbar erlahmt.

Nachvollziehbar vor diesem Hintergrund, dass die
Koalitionsfraktionen die Bundesregierung jetzt per An-
trag dazu auffordern, einige der Vorschläge des Wissen-
schaftsrats aufzugreifen. Auch ihnen ist aufgefallen,
dass die Regierung zu zögerlich ist, den Empfehlungen
des Wissenschaftsrats von 2007 und 2010 Konsequenzen
und strukturelle Entscheidungen folgen zu lassen.

Ich begrüße das Bemühen, der Bundesregierung
mehr Dampf bei der Reform der Ressortforschungsein-
richtungen zu machen. Wenn die Koalition aber bis
heute gebraucht hat, um sich darüber zu verständigen,
welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats man über-
haupt aufgreifen will: Wie lange wird es dann wohl noch
dauern, bis es zur Umsetzung kommt?

Wir wissen doch alle: Jedes Ressort hockt auf seinen
Ressortforschungseinrichtungen wie die Henne auf ih-
ren Küken. Deshalb ist es schade, dass in Ihrem Antrag
keinerlei Ideen entwickelt werden, wie denn der Prozess
der Umsetzung von Veränderungen in der Ressortfor-

Zu Protokoll gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


schung organisiert werden kann. Denn mit Appellen des
BMBF an die anderen Ministerien ist es sicher nicht ge-
tan.

Die Koalition bekennt sich in ihrem Antrag zur regel-
mäßigen Überprüfung der Forschungsbedarfe. Und sie
ermutigt die Bundesregierung, zu überprüfen, welche
Einrichtungen zukünftig tatsächlich weiter als Einrich-
tungen mit Ressortforschungsaufgaben geführt werden
sollten. Nun hätte ich allerdings erwartet, dass im An-
trag konkretere Vorstellungen entwickelt werden, wie ein
solcher Entscheidungsprozess organisiert werden kann.
Dazu schweigt sich der Antrag jedoch aus. Die Koali-
tion ist also keinen Schritt weiter beim zentralen Thema,
innerhalb welcher Strukturen denn nun zukünftig Ent-
scheidungen getroffen werden sollen. Wie kann es da zur
Anpassung der Liste der Ressortforschungseinrichtun-
gen bis 2014 kommen, über die im Bundesforschungsbe-
richt dann berichtet wird?

Der Antrag gibt keine Antwort darauf, wie zentrale
Fragen gelöst werden sollen: Welche Ressortforschungs-
einrichtungen sollen weitergeführt, welche als Ressort-
forschungseinrichtungen nicht auf der Liste beibehal-
ten, und welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats
zur strukturellen Verbesserung sollen auf welchem Weg
umgesetzt werden?

Auch in anderer Hinsicht greift der Antrag zu kurz.

Bemerkenswerterweise finden zentrale wissenschafts-
politische Entscheidungen der Bundesregierung auf die
Ressortforschungseinrichtungen des Bundes keine An-
wendung. Ich nenne hier zum Beispiel das Wissen-
schaftsfreiheitsgesetz, die forschungspolitische Interna-
tionalisierungsstrategie oder die Umsetzung von Gleich-
stellungsstandards und mehr Chancengleichheit im For-
schungsbereich. An der Ressortforschung laufen diese
Strategien vorbei, und Ihr Antrag schweigt dazu.

Auf welche Einrichtungen welche Regelungen des
jetzt im Entwurf vorliegenden Wissenschaftszeitver-
tragsgesetzes angewendet werden sollten, dazu hätte ich
mindestens etwas von Ihnen erwartet. Das ist doch ein
offenkundiges Defizit.

Wir haben in dieser Woche in einer Anhörung des
Forschungsausschusses gehört, dass es an der Zeit ist,
beim Thema Gleichstellungspolitik in der Wissenschaft
wesentlich mehr Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit
der Fortschritte durchzusetzen. In der Ressortforschung,
wo der Bund direkten Einfluss hat, zeigt er aber leider in
dieser Hinsicht bisher wenig Engagement. Der Bund
bleibt hier hinter den Erfordernissen zurück und ver-
passt Chancen, mit gutem Beispiel voranzugehen.

Der Wissenschaftsrat plädiert dafür, Hochschulen
und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen stärker
bei Forschungsaufträgen der Bundesministerien zu be-
rücksichtigen. Zukünftig mehr Forschungsaufträge,
Fragestellungen und letztlich auch finanzielle Mittel di-
rekt an Hochschulen, außeruniversitäre Einrichtungen
oder auch unabhängige Forschungseinrichtungen zu
geben, halte auch ich vom Ansatz her für völlig richtig.
Leider fehlt es in dem Koalitionsantrag auch hier an
Ideen, wie das umgesetzt werden kann.

Ich sehe ein Manko darin, dass der Wissenschaftsrat
2004 einheitliche Kriterien an völlig unterschiedliche
Einrichtungen angelegt hat. Dabei macht es offenkundig
keinen Sinn, zum Beispiel einer Einrichtung, die vorran-
gig Genehmigungs- und Kontrollfunktionen hat, aufzu-
erlegen, dass sie mehr eigenständige Forschung betrei-
ben oder mehr wissenschaftlich publizieren soll. Erst auf
Basis einer funktionalen Differenzierung ist es möglich,
Forschungsnotwendigkeiten spezifisch zu unterschei-
den.

Alle Fragen zu klären: „Wo wäre die Vergabe von
Forschungsaufträgen und wissenschaftsbasierten Dienst-
leistungen nach außen sinnvoll? Wo ist eigene For-
schung in einer eigenen Einrichtung unerlässlich? Und
in welchen Einrichtungen geht es sinnvollerweise vor-
wiegend um professionelle Beratung, Information und
Entscheidung auf Basis des aktuellen Stands der For-
schung?“, würde aber auch voraussetzen, die Einrich-
tungen stärker nach ihren jeweiligen Aufgabenstellun-
gen und Funktionen zu differenzieren.

Lassen Sie mich zum Schluss einen bislang unterbe-
lichteten Punkt in den Fokus rücken. Die Einbindung
von zivilgesellschaftlichen Stakeholdern in die Entwick-
lung von Forschungsfragestellungen, der partizipative
Dialog mit der Gesellschaft über Forschungsschwer-
punkte und Transparenz bzw. Rechenschaftslegung ge-
genüber der Öffentlichkeit – das sind Anforderungen,
die gegenüber Forschung, Wissenschaft und Technolo-
giepolitik immer stärker formuliert werden. Dem kann
sich auch und gerade die Ressortforschung nicht entzie-
hen. Ich halte es für nicht zeitgemäß, wenn Ministerien
abgeschottet von gesellschaftlichen Debatten über Ar-
beits- und Forschungsprogramme der Ressortfor-
schungseinrichtungen entscheiden. Besser wäre es,
wenn solche Entscheidungen im Dialog und unter Ein-
beziehung von Stakeholdern, gesellschaftlichen Grup-
pen und Institutionen selbst vorbereitet würden. Bei ei-
nigen Ressortforschungseinrichtungen findet dies sicher
schon statt, es ist aber eine politische Aufgabe, dies zu
systematisieren. Der ausstehende Modernisierungspro-
zess in den Ressortforschungseinrichtungen sollte auch
in diese Richtung fortentwickelt werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718428600

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss emp-

fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9912, den Antrag auf Drucksache 17/7183 anzuneh-
men. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Die Enthaltungen! – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen. Dagegen war die SPD, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linken.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Dr. Barbara Höll, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Wirksamer Schutz für Flüchtlinge, die wegen
ihrer sexuellen Identität verfolgt werden

– Drucksache 17/9193 –





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1718428700

Mit dem vorliegenden Antrag beabsichtigt die Frak-

tion Die Linke eine quasiautomatische Zuerkennung des
Flüchtlingsstatus für alle Lesben, Schwulen, Bisexuelle,
Transgender, Trans- und Intersexuelle, die aus Ländern
stammen, in denen die sexuelle Orientierung bzw. Ge-
schlechtsidentität strafrechtlich kriminalisiert wird.
Nach Auffassung der Antragsteller stößt diese Gruppe
im Asylverfahren auf Vorurteile und sachwidrige Ableh-
nungsmuster, obwohl diese Gruppe in vielen Staaten
massiv in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persön-
lichkeit und sexuelle Selbstbestimmung verletzt würde.
Als vorbildlich wird die angebliche Rechtslage in Italien
dargestellt, hier genüge „für die Asylanerkennung be-
reits der Umstand, dass gleichgeschlechtliche sexuelle
Aktivitäten im Herkunftsland kriminalisiert und unter
Strafe gestellt sind“.

Mit dem Antrag soll die Bundesregierung aufgefor-
dert werden, gesetzgeberische und andere Maßnahmen
zu ergreifen, um wegen ihrer sexuellen Identität Ver-
folgte wirksam zu schützen. Hierzu soll nach dem Willen
der Antragsteller den Betroffenen ein Schutzstatus ver-
liehen werden, wenn sie aus einem Land kommen, in
dem „die sexuelle Identität (strafrechtlich) kriminali-
siert wird“; ein Verweis auf staatlichen Schutz bei nicht-
staatlicher Verfolgung und innerstaatliche Fluchtalter-
nativen sowie die Verbergung der sexuellen Identität
sollen nicht erfolgen. Die Einschätzung der Glaubwür-
digkeit der sexuellen Identität im Asylverfahren solle
nur durch entsprechend geschultes Personal erfolgen.
Außerdem sollen besondere Schutzvorkehrungen für
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und
Intersexuelle in Aufnahme-, Haft- und Unterbringungs-
einrichtungen geschaffen werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Die Linke, zum einen halte ich die von Ihnen angeführte
Studie für nicht repräsentativ. So basieren die der Studie
in Bezug auf Deutschland zugrunde gelegten Erkennt-
nisse auf einem von einer Nichtregierungsorganisation
beantworteten Fragebogen. Die Aussagekraft der Studie
halte ich vor diesem Hintergrund für sehr fraglich. Auch
die Darstellung der italienischen Rechtslage geht fehl,
denn auch in Italien wird nicht jeder als Asylbewerber
anerkannt, der aus einem Land stammt, in dem gleichge-
schlechtliche Handlungen mit Strafe bedroht sind.

Insbesondere aber geht der Antrag von der Zielset-
zung über das gebotene und in der Praxis realisierbare
Maß an Schutz von Menschen, die aufgrund ihrer sexu-
ellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität ver-
folgt werden, hinaus. In der Konsequenz würde der von
Ihnen vorgelegte Antrag auf eine Asylberechtigung aller
Menschen hinauslaufen, die aus einem Land stammen,
in denen bestimmte „Handlungen“ pönalisiert sind, und

die glaubhaft machen, unter einen der betroffenen Tat-
bestände zu fallen. Sollte, wie in Ihrem Antrag gefordert,
die Behauptung bzw. Glaubhaftmachung ausreichen, die
von der Asylbehörde im Einzelfall kaum überprüft oder
widerlegt werden kann, würde dies zu einer nahezu be-
liebigen Ausweitung der Gruppe der Asylberechtigten
führen. Zudem bestünden Wertungswidersprüche, weil
in zahlreichen Ländern auch außer- oder voreheliche
Handlungen mit zum Teil drastischen Strafen bedroht
sind. Von diesem Tatbestand ist potenziell zumindest je-
der ehefähige, auch heterosexuelle Mensch betroffen.

Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest, dass das Bun-
desamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, den Be-
troffenen nicht mehr zumutet, Ihre Homosexualität im
Verborgenen zu leben, um dadurch eine drohende Verfol-
gung zu vermeiden. Dass das Bundesamt weiterhin indi-
viduell prüft, ob eine Entdeckung der Homosexualität im
Herkunftsland beachtlich wahrscheinlich ist und des-
halb eine Verfolgung droht, finde ich den Betroffenen ge-
genüber nicht nur zumutbar, sondern auch legitim und
dringend geboten. Wesentliches Element der Zuerken-
nung des Flüchtlingsstatus ist immer eine Einzelfallprü-
fung dahin gehend, ob tatsächlich Verfolgungsgefahr
besteht. Eine pauschale Zuerkennung des Flüchtlings-
status ohne eine solche individuelle Prüfung kommt
grundsätzlich nicht in Betracht und würde auch gegen
den Gleichheitsgrundsatz verstoßen.

Eine Ausnahme wäre nur denkbar, wenn die Person
einer abgrenzbaren sozialen Gruppe zuzurechnen wäre
– Verfolgungsgrund – und alle Mitglieder dieser Gruppe
im Herkunftsland einer so massiven, tatsächlich stattfin-
denden Verfolgung – Verfolgungshandlung – ausgesetzt
wären, dass auch die Verfolgung der betroffenen Person
wahrscheinlich wäre. Gleichzeitig dürfte es im Her-
kunftsland keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten
geben. Für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender,
Trans- und Intersexuelle gibt es in der Asylpraxis solche
Fälle jedoch bislang nicht.

Auch den Verweis auf staatlichen Schutz bei nicht-
staatlicher Verfolgung oder der Verweis auf Fluchtalter-
nativen innerhalb der jeweiligen Staaten, in denen Les-
ben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und
Intersexuelle kriminalisiert werden, oder darauf, dass
staatliche Behörden homosexuellen-, transsexuellen-
oder transgenderfeindlich sind, halte ich für zumutbar
und legitim. Diese Praxis steht im Übrigen im Einklang
mit der EU-Qualifikationsrichtlinie. Nach Maßgabe der
EU-Qualifikationsrichtlinie schließt wirksamer staatli-
cher Schutz die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
aus (Art. 7 der Qualifikationsrichtlinie). Vergleichbare
Grundsätze gelten für die Asylberechtigung. Wegen der
Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes
– diesen benötigt nur, wer im Heimatstaat keinen Schutz
finden kann –, halten wir daran fest.

Ihre Forderung nach geschultem Personal ist obsolet,
denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bie-
tet umfassende Schulungsmaßnahmen zum Themenkom-
plex Verfolgung in Anknüpfung an die sexuelle Identität
an. Die Entscheider werden sowohl in den damit verbun-
denen Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)



(zum Beispiel Erstund Aufbauschulungen für neue Mitarbeiter, Schulungen und Erfahrungsaustausch für sogenannte Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifisch Verfolgte oder im Rahmen von Entscheidertagungen)


Das Bundesamt verlangt grundsätzlich keine sexual-
wissenschaftlichen Gutachten. Der Asylbewerber muss
glaubhaft machen, dass die begründete Furcht vor Ver-
folgung an seine tatsächliche oder vermeintliche Homo-
sexualität anknüpft. Bei der Bewertung der Frage, ob
die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begrün-
det ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsäch-
lich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen,
sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zuge-
schrieben werden. Bei Homosexualität als Verfolgungs-
grund kommt es daher nicht darauf an, ob der Betreffende
nach sexualwissenschaftlichen Maßstäben homosexuell
ist oder nicht, sondern darauf, ob er im Herkunftsstaat
als homosexuell angesehen wird. Eine sexualwissen-
schaftliche Begutachtung ist vor diesem Hintergrund
grundsätzlich nicht zielführend.

Auch lehnt das Bundesamt keine Asylanträge allein
wegen eines späten Vorbringens ab. Es findet immer
eine Prüfung der Gesamtumstände statt.

Das Bundesamt ist bei der Bearbeitung von Asylan-
trägen darauf angewiesen, dass Antragsteller bei der
Aufklärung des Sachverhalts mitwirken, dabei selbst
ihre Furcht vor Verfolgung begründen und die erforder-

(gesetzliche Mitwirkungspflicht, insbesondere gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG)

Es wird jedoch berücksichtigt, dass aufgrund soziokultu-
reller Prägungen oder, aufgrund der Tatsache, dass die
Intimsphäre betroffen ist, es nicht allen Antragstellern
möglich sein wird, von sich aus über Verfolgungen, die
an die sexuelle Orientierung anknüpfen, zu sprechen. In
Fällen, in denen Anhaltspunkte für eine derartige Ver-
folgung vorliegen, wird daher auch ohne eigenständiges
Ansprechen durch die Antragsteller im Rahmen der An-
hörung gezielt, aber mit der gebotenen Sensibilität
nachgefragt.

Die Anhörung wird von besonders geschulten Ent-
scheidern, den sogenannten Sonderbeauftragten, durch-
geführt, wenn Antragsteller dies wünschen oder es ge-
boten erscheint. Als Sonderbeauftragte können je nach
Fallgestaltung sowohl weibliche als auch männliche
Entscheider eingesetzt werden.

Soweit im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Mi-
gration und Flüchtlinge die sexuelle Identität als Verfol-
gungsgrund vorgetragen wird, erfolgt eine individuelle
Prüfung unter Berücksichtigung der bereits vorhande-
nen oder anlässlich des vorliegenden Einzelfalls recher-
chierten Erkenntnisse zum Herkunftsland.

Für die Hauptherkunftsländer der Asylantragsteller
verfasst das Auswärtige Amt mindestens jährlich Be-
richte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage.
In ihnen finden sich jeweils auch Ausführungen zu
geschlechtsspezifischer Verfolgung sowie zu einer mög-
lichen Ahndung homosexueller Handlungen. Das Aus-
wärtige Amt wertet für seine Lageberichte verschie-

denste Quellen aus, insbesondere auch Berichte von
Nichtregierungsorganisationen. Zur Lage von Lesben,
Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans- und Inter-
sexuellen berichten zudem die deutschen Botschaften re-
gelmäßig und speziell im Fall aktueller Anlässe.

Zuletzt möchte ich noch kurz auf Ihre Forderung nach
besonderen Schutzvorkehrungen für Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle in
Aufnahme-, Haft, und Unterbringungseinrichtungen
eingehen.

Die Unterbringung von Asylbewerbern und Abschie-
bungshäftlingen fällt in die Zuständigkeit der Länder.
Eine gesonderte Unterbringung von Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuellen er-
folgt nach den Informationen der Länder in der Regel
nicht. Eine Befragung nach der sexuellen Identität wäre
diskriminierend und findet daher nicht statt. Infolgedes-
sen ist in der Regel nicht bekannt, ob und wer zum Kreis
der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans-
und Intersexuellen gehört. Die Länder haben jedoch
Schutzmaßnahmen vorgesehen für den Fall, dass ein-
zelne Personen Hilfe benötigen. Die Betroffenen können
sich etwa an Sozialarbeiter wenden, erhalten bei Bedarf
Einzelzimmer oder werden in andere Einrichtungen ver-
legt. In keinem Land wurden bislang nennenswerte Pro-
bleme bei der Unterbringung von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen be-
kannt.

Alles in allem bin ich der Ansicht, dass wir der beson-
deren Situation und Problematik von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen, die
aus Ländern stammen, in denen die sexuelle Orientie-
rung bzw. Geschlechtsidentität strafrechtlich kriminali-
siert wird, so gut es überhaupt geht, Rechnung tragen.
Aber ich weise noch einmal darauf hin, dass die in Ihrem
Antrag enthaltenden Forderungen über das gebotene
und in der Praxis realisierbare Maß an Schutz von Men-
schen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder
ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, hinausge-
hen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1718428800

Politisch Verfolgte erhalten in Deutschland Asyl. Ein

Mensch wird verfolgt, wenn ihm aufgrund seiner politi-
schen Überzeugung, seiner religiösen Grundentschei-
dung oder aufgrund von für ihn unverfügbaren Merkma-
len, die seine Persönlichkeit prägen, gezielt schwere
Rechtsverletzungen zugefügt werden oder zu befürchten
ist, dass ihm solche Verletzungen zukünftig zugefügt
werden. Die sexuelle Orientierung eines Menschen ge-
hört zu den von ihm unverfügbaren Merkmalen. Men-
schen, die aufgrund dessen in ihren Heimatländern ver-
folgt werden, können und müssen in Deutschland Asyl
erhalten.

Wenn sie nicht aufgrund von Art. 16 a Grundgesetz
anerkannt werden, haben sie einen Anspruch auf Prü-
fung des sogenannten kleinen Asyls, also auf Prüfung
der Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Dies
wurde durch die 2004 in Kraft getretene Qualifikations-

Zu Protokoll gegebene Reden





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


richtlinie, auf die § 60 AufenthG deklaratorisch ver-
weist, konkretisiert. In Art. 10 Abs. 1 d heißt es: „Eine
Gruppe gilt insbesondere als soziale Gruppe, wenn die
Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale … tei-
len, die so bedeutsam für die Identität sind …, dass der
Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu
verzichten. … Je nach Gegebenheit im Herkunftsland
kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten,
die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen
Ausrichtung gründet.“ (Richtlinie 2004/83/EG.)


Für die Anerkennung als Asylberechtigter oder als
Flüchtling gibt es bei uns also bereits Gesetze, die dies
ermöglichen. Im Asylverfahren vor dem Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge erfolgt in diesen wie in allen
Fällen politischer Verfolgung eine individuelle Prüfung
unter Einbeziehung der vorhandenen oder anlässlich
des Einzelfalls recherchierten Erkenntnisse aus dem

(siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, Drucksache 17/8357)


Unterschiedlich ist die Haltung der deutschen Ge-
richte in Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Transgen-
der-, Trans- und Intersexuellen-Fällen (LSBTTI-Fällen).

In seiner Entscheidung vom 15. März 1988 (9 C 278/86)

hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass die
Verfolgung wegen Homosexualität ein Asylgrund ist. Al-
lerdings trifft es auch unserer Erkenntnis nach zu, dass
einige deutsche Gerichte die drohende Durchsetzung ei-
ner exzessiven Strafe im Herkunftsland für die Zuerken-
nung des Schutzstatus verlangen – so wie es in dem An-
trag der Fraktion Die Linke kritisiert wird –, wogegen
andere den Schutzstatus in korrekter Anwendung der
Qualifikationsrichtlinie gewähren, wenn im Herkunfts-
land die sexuelle Ausrichtung als solche kriminalisiert
wird.

Auch wenn wir für eine einheitliche, der Qualifika-
tionsrichtlinie entsprechende Entscheidungspraxis der
deutschen Gerichte sind, so sehen wir in diesem Punkt
keinen Handlungsbedarf im Sinne der Schaffung neuer
Gesetze. Sollte sich die Lage jedoch ändern und es An-
zeichen für mehr ablehnende, restriktive oder diskrimi-
nierende Entscheidungen und Urteile geben, werden wir
diesen Standpunkt überdenken.

Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag des
Weiteren, die Bundesregierung möge LSBTTI schützen,
indem ihnen nicht entgegengehalten werden könne und
dürfe, sie sollten eine inländische Fluchtalternative nut-
zen oder ihre sexuelle Identität zur Vermeidung von Ver-
folgung verbergen.

Der auch von der Fraktion Die Linke zitierten Studie
von Sabine Jansen und Thomas Spijkerboer „Fleeing
Homophobia“ ist zu entnehmen, dass Deutschland inso-
weit eine „vorbildliche Praxis“ hat, als bei uns nicht
verlangt wird, dass LSBTTI um staatlichen Schutz in
Ländern nachsuchen müssen, in denen Homosexualität
kriminalisiert wird. In der genannten Studie wird auch
gesagt, dass in Deutschland gewöhnlich nicht verlangt
wird, LSBTTI müssen um staatlichen Schutz nachsu-

chen, wenn bekannt sei, dass die Autoritäten homophob
seien.

Der Verweis eines Antragstellers auf eine bestehende
inländische Fluchtalternative ist allerdings grundsätz-
lich als solche in der Qualifikationsrichtlinie in Art. 8
vorgesehen. Danach ist eine Verfolgung nicht anzuneh-
men, wenn in einem Teil des Herkunftslandes keine be-
gründete Furcht vor Verfolgung „besteht und von dem
Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann,
dass er sich in diesem Landesteil aufhält.“ Dies sind all-
gemeine Grundsätze, die so auch bei der Prüfung eines
Antrags auf politisches Asyl ohne LSBTTI-Bezug gelten
und geprüft werden.

Wenn die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert,
LSBTTI dürfe nicht entgegengehalten werden, sie sollten
sich in ihrem Heimatland diskret verhalten, um so einer
drohenden Verfolgung zu entgehen, so stimmen wir dem
zu.


(Art. 10 Abs. 1 d wird – wie bereits gesagt – bestimmt, dass eine Gruppe insbesondere dann eine soziale Gruppe ist, wenn die Angehörigen dieser Gruppe Merkmale teilen, die so bedeutsam für die einzelnen Gruppenmitglieder sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, darauf zu verzichten. Ein Diskretionsgebot würde von LSBTTI aber genau das verlangen: den Ausdruck ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität zu verleugnen. Mithin würde ein solches Erfordernis gegen die Qualifikationsrichtlinie verstoßen. Die Bundesregierung hat die diesbezügliche Frage der Fraktion Die Linke nicht deutlich beantwortet in dem Sinne, ob sie das Erfordernis erhebt, sich im Herkunftsland diskret zu verhalten, oder nicht: „Bei glaubhaft gemachter Homosexualität stellt das BAMF im Rahmen einer Prognoseentscheidung fest, ob eine Entdeckung der Homosexualität im Herkunftsland wahrscheinlich ist und ob der Betreffende deshalb mit asylerheblicher Verfolgung rechnen muss.“ Das ist nicht eindeutig. Allerdings sind es die gleichen Maßstäbe, die bei der Prüfung eines Antrags auf Schutz aufgrund einer praktizierten religiösen Überzeugung gelten. Kernstück eines Asylverfahrens ist die Glaubhaftmachung der Verfolgung. Hauptbezugspunkt ist die Aussage des Antragstellers. Aufgrund dieser Aussage hat der Entscheider zu beurteilen, ob die behaupteten Ereignisse stattgefunden haben und was voraussichtlich passieren wird, wenn der Antragsteller wieder in seine Heimat zurück muss. Von LSBTTI wird hier verlangt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung an die tatsächliche oder vermeintliche sexuelle oder geschlechtliche Orientierung anknüpft. Entsprechend der Qualifikationsrichtlinie kommt es dabei nicht auf die „Irreversibilität“ der Homosexualität an, was die Bundesregierung genauso sieht (siehe Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke „Asylrechtlicher Umgang mit homosexuellen Flüchtlingen und der Einschränkung der sexuellen Vielfallt“, Drucksache 17/8357)

Bundesregierung verlangt das BAMF von LSBTTI auch

Zu Protokoll gegebene Reden





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


keine sexualwissenschaftlichen Begutachtungen. Wenn
solche Begutachtungen jedoch vom Antragsteller selbst
vorgelegt werden, dann werden sie natürlich zugelassen.

Da grundsätzlich der Nachweis der sexuellen Orien-
tierung oder Geschlechtsidentität auf den Angaben des
Antragstellers beruht, sollten die Einzelentscheider ent-
sprechend geschult sein, so auch eine in dem vorliegen-
den Antrag der Fraktion Die Linke enthaltene Forde-
rung. Hierzu hat die Bundesregierung in der genannten
Entscheidung angeführt, dass das BAMF umfassende
Schulungen zum Themenkomplex „Verfolgung im Zu-
sammenhang mit der sexuellen Identität“ anbietet und
durchführt. Dabei werden die Entscheider sowohl in
Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang mit den
Antragstellern geschult.

Die Frage einer inländischen Fluchtalternative, nach
einem diskreten Verhalten und die Kriterien und Maß-
stäbe, die an die Glaubhaftmachung angelegt werden,
sind keine speziell auf LSBTTI bezogenen Fragen. Die
zugrunde liegenden Probleme sind verallgemeinerungs-
fähig und deshalb in Verfahren der Anerkennung und
Glaubhaftmachung in Bezug auf jeden Verfolgungs-
grund mehr oder weniger vorhanden.

Wir brauchen eine allgemeine Debatte über die Aus-
gestaltung des Anerkennungsverfahrens, innerhalb de-
rer wir darüber sprechen sollten, ob sich die Standards
bei der Glaubhaftmachung und der Nachweispflicht än-
dern sollten; dass man Menschen – zumal wenn sie zum
Beispiel traumatisiert sind, und das müssen nicht nur
LSBTTI sein – vielleicht auch Zeit geben muss, Dinge zu
einem späteren Zeitpunkt vorzubringen, da es ihnen auf-
grund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit schwerer
fallen könnte, bei der ersten Anhörung alles für den Ent-
scheider Wesentliche zu sagen und glaubhaft zu machen.

Das Grundanliegen, die Anerkennung der sexuellen
oder geschlechtlichen Orientierung als Asyl- und
Fluchtgrund, teilen wir, ebenso die Forderung nach ei-
ner diskriminierungsfreien Behandlung von LSBTTI im
Verfahren. Aus unserer Sicht bedarf es dazu jedoch kei-
ner gesetzlichen Änderung; das „Werkzeug“ ist vorhan-
den.

Ich empfehle daher, sich dem Antrag gegenüber zu
enthalten.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Der Antrag der Linken ist, wie so viele dieser offen-

bar zur Glaubenssekte verkommenden Partei, bizarr.
Zur Begründung – aber auch in den Forderungen –
stützt er sich vollständig auf eine niederländische Stu-
die, die unwissenschaftlich und keinesfalls repräsentativ
ist. Wenn die Linken den Bundestag auffordern, sich
solch ein Elaborat unkritisch zu eigen zu machen, ist es
mit der politischen Gestaltungskraft der Linken wohl
nicht mehr allzu gut bestellt.

Die Linken zitieren in ihrem Antrag nicht zu Unrecht
die deutsche Rechtsprechung. So habe das Bundesver-
fassungsgericht festgestellt, das Asylrecht habe nicht die
Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische An-

schauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles
Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen.

Warum die Linken in ausdrücklicher Bezugnahme auf
die Verfassungsgerichtsrechtsprechung nicht gleich ei-
nen Verfassungsänderungsantrag einbringen, wäre ein
Rätsel, wenn wir nicht alle wüssten, dass der Bekennt-
nisakt im Sektierertum das Entscheidende ist.

In einer poltischen Partei dagegen kommt es auf poli-
tische Gestaltung an. Davor hat die Linkspartei offenbar
längst kapituliert. Dass die Linken einmal mehr statt der
individuellen Prüfung eines Verfolgungsschicksals
gleich pauschal die Bürger ganzer Länder für in
Deutschland asylberechtigt anerkennen wollen, ist inak-
zeptabel.

Man kann nur hoffen, dass die vielen gutgläubigen
Wählerinnen und Wähler der Linkspartei sich die abseh-
baren Konsequenzen solcher Forderungen konkret für
ihren Wohnort deutlich vor Augen führen.

Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Flüchtlings- und Asylpolitik weiterhin verantwortungs-
bewusst und sensibel entwickeln und auch die EU-Pla-
nungen auf diesem Gebiet kritisch und konstruktiv
begleiten.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718428900

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans-

und Intersexuelle – ich möchte sie im Folgenden, ent-
sprechend einem in Fachkreisen geläufigen Kürzel,
LSBTTI nennen – werden in zahlreichen Ländern der
Welt wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt. In einigen
Ländern nimmt die Bedrohungslage sogar noch zu. Ich
nenne beispielhaft Uganda, wo ein Gesetz zur Einfüh-
rung der Todesstrafe für „schwere Homosexualität“ im
Gespräch ist, und Russland, wo das St. Petersburger
Stadtparlament erst vor wenigen Monaten ein Gesetz
gegen die „Propagierung“ von Homosexualität verab-
schiedet hat. Die gesetzliche Verfolgung von einver-
nehmlicher Homosexualität geht häufig einher mit tief
verwurzelten Vorurteilen und Ablehnungen von Homo-
sexualität innerhalb der Bevölkerung. Die Fraktion Die
Linke legt nun einen Antrag vor, um den Menschen, die
wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und aus
ihren Ländern fliehen müssen, einen möglichst wirk-
samen Schutz in Deutschland zu bieten.

Dass Handlungsbedarf besteht, hat unlängst eine wis-
senschaftliche internationale Studie – „Fleeing Homo-
phobia“ – umfassend belegt. Dass wir etwas tun müssen,
wird aber auch offenkundig, wenn man sich aktuelle
Behördenentscheidungen, vor allem aber eine zum Teil
skandalöse Asylrechtsprechung in Bezug auf LSBTTI
konkret ansieht. In unserem Antrag nennen wir zur Illus-
tration beispielhaft ein Urteil des Verwaltungsgerichts
Augsburg vom April letzten Jahres. Das Gericht hielt al-
len Ernstes eine dreijährige Gefängnisstrafe für einen
homosexuellen Soldaten in Syrien für legitim und nicht
asylrelevant, weil sie dem „Schutz der öffentlichen
Moral“ diene und eine dreijährige Haft auch keine „un-
menschliche Strafe“ sei. Das ist leider kein Einzelfall.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


Viele Gerichte berufen sich auch heute noch auf ein
völlig antiquiertes Grundsatzurteil des Bundesverwal-
tungsgerichts, BVerwG, aus dem Jahr 1988. Darin wird
ausgeführt, dass Gesetze zum „Schutz der öffentlichen
Moral“ und „der Zwang, sich entsprechend den in die-
ser Hinsicht herrschenden sittlichen Anschauungen zu
verhalten und hiermit nicht im Einklang stehende Ver-
haltensweisen zu unterlassen“, „keine politische Verfol-
gung“ darstellten. Das Asylrecht habe auch „nicht die
Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische An-
schauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles
Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen“. Die homo-
sexuellenfeindliche Rechtslage im Iran wurde vom Bun-
desverwaltungsgericht sogar mit einem Verweis darauf
relativiert, dass ja auch in der Bundesrepublik Deutsch-
land bis 1969 eine entsprechende Verbotslage ge-
herrscht habe – die wiederum der im Jahr 1935 (!) geän-
derten Fassung des § 175 im Wesentlichen entsprach,
fügten die Richter kommentarlos hinzu. Aber es ist doch
unerträglich, wenn verfolgten LSBTTI ein Schutz in
Deutschland versagt wird mit dem Argument, dass ihnen
im Faschismus und in der Bundesrepublik Deutschland
bis vor wenigen Jahrzehnten ein vergleichbares Unrecht
angetan wurde! Unerträglich ist auch, dass das Bundes-
verwaltungsgericht schließlich vorgab, dass eine politi-
sche Verfolgung nur dann vorliege, wenn Homosexuel-
len Strafen drohten, die nicht nur „besonders streng“,
sondern „offensichtlich unerträglich hart und unter je-
dem denkbaren Gesichtspunkt schlechthin unangemes-
sen“ seien. Strafgesetze, die einvernehmliche gleichge-
schlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen
verbieten, sind schlicht und ergreifend diskriminierend
und stellen eine schwerwiegende Verletzung eines
grundlegenden Menschenrechts dar. Das Recht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit und auf Schutz der Privat-
sphäre gilt uneingeschränkt auch für LSBTTI und darf
nicht im Rahmen einer auf Abwehr bedachten Asylrecht-
sprechung relativiert werden.

Das Bundesverwaltungsgericht berief sich bei seiner
Entscheidung im Übrigen zu Unrecht auf den Europäi-
schen Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR. Zwar
hieß es im Dudgeon-Urteil des EGMR von 1981 tatsäch-
lich, dass „eine gewisse Regelung des männlichen homo-
sexuellen Verhaltens“ „in einer demokratischen Gesell-
schaft“ gerechtfertigt werden könne. Das BVerwG
unterschlug jedoch einen entscheidenden Einschub des
EGMR; denn im Originalurteil lautet der Satz wie folgt:
„Es lässt sich nicht bezweifeln, dass eine gewisse Rege-
lung des männlichen homosexuellen Verhaltens, wie in
der Tat jeder Form sexuellen Verhaltens, mit dem Mittel
des Strafrechts als notwendig in einer demokratischen
Gesellschaft gerechtfertigt werden kann.“ Der EGMR
rechtfertigte also strafrechtliche Regelungen jeglichen
sexuellen Verhaltens – allerdings nur zum Schutz derje-
nigen, „die besonders ungeschützt sind, weil sie jung,
geistig oder körperlich schwach oder unerfahren sind
oder sich in physischer, amtlicher oder wirtschaftlicher
Abhängigkeit befinden“, und nicht „zum Schutz der Mo-
ral“, wie das BVerwG freihändig hinzugefügt hatte.
Schließlich lautete das Urteil des EGMR im Ergebnis,
dass die damaligen Strafbestimmungen in Irland zu ein-
vernehmlichen homosexuellen Beziehungen zwischen

Erwachsenen ungeachtet der dort bestehenden rigiden
moralischen Normen einen nicht zu rechtfertigenden
menschenrechtswidrigen Eingriff in das Recht des
schwulen Klägers auf Achtung seines Privatlebens dar-
stellten, unabhängig davon, wie wahrscheinlich es war,
dass diese Gesetzesvorschriften in der Praxis auch tat-
sächlich zur Anwendung kamen – was im Umgang mit
LSBTTI-Flüchtlingen ebenfalls von Bedeutung ist.

Ich habe die Bundesregierung gefragt, inwieweit das
überkommene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
aus dem Jahr 1988 zeitbezogen und unter Berücksichti-
gung des öffentlichen Wandels im Umgang mit Homo-
sexualität interpretiert und angewandt werden müsse.
Die Antwort war, dies gehe nur durch eine neuerliche
höchstrichterliche Entscheidung – „es sei denn, der Ge-
setzgeber regelt die Frage durch Gesetz“. Genau das
will die Linke jetzt anstoßen; denn auf eine höchstrich-
terliche Entscheidung werden wir lange warten müssen,
nachdem ein Vorlageverfahren beim Europäischen Ge-
richtshof zur Klärung dieser Fragen „geplatzt“ ist: Der
Kläger wurde als Flüchtling anerkannt, nachdem das
Verfahren vom EuGH wie üblich unter Nennung seines
Namens öffentlich bekannt gemacht wurde.

Der EuGH sollte unter anderem eine ganz entschei-
dende Frage klären: Ist es zumutbar, Schutz suchende
LSBTTI dazu aufzufordern, sich im Herkunftsland „be-
deckt“ zu halten, um eine Verfolgung wegen ihrer se-
xuellen Identität zu vermeiden, und mit dieser Begrün-
dung eine Asylanerkennung zu verweigern? Eine solche
Zumutung mag für unbefangene Ohren absurd klingen –
denn wer käme schon auf die Idee, politisch Verfolgten
anzuraten, sich politisch diskret zu verhalten, um nicht
verfolgt zu werden? Aber bis heute ist genau dies im
Umgang mit LSBTTI in Teilen der Asylrechtsprechung
üblich. Auch die Bundesregierung war noch bis vor kur-
zem dieser Auffassung. Umso mehr hat mich gefreut,
dass sie auf Anfrage der Linksfraktion bestätigt hat, dass
ein solches Ablehnungsargument jedenfalls nach In-
krafttreten der EU-Qualifikationsrichtlinie nicht mehr
angewandt werden darf.

Erfreulich ist die Antwort der Bundesregierung auf
Bundestagsdrucksache 17/8357 auch deshalb – zu einer
solchen Einschätzung gibt mir die Bundesregierung üb-
rigens nur sehr selten Anlass –, weil sich die Regierung
von weiteren alten Zöpfen der Rechtsprechung trennt,
etwa wonach drohende Strafen besonders hart und un-
erträglich streng sein müssten, wonach das Asylrecht
nicht hiesige Grundrechtsvorstellungen auf andere Län-
der übertragen wolle oder wonach eine „irreversible“
Homosexualität nachgewiesen werden müsse. Nur wa-
ren die Antworten der Regierung zu den konkreten
Handlungsvorschlägen der Studie „Fleeing Homopho-
bia“ nicht so erfreulich, und leider gibt es, wie darge-
legt, viele Gerichte, die anders entscheiden.

Deshalb haben wir uns zu dem vorliegenden Antrag
entschlossen, und zu allen weiteren Details möchte ich
Sie auf diesen verweisen. Ich empfehle zudem die sehr
gute Überblicksdarstellung zur internationalen Recht-
sprechung von Frau Dr. Annegret Titze in der „Zeitschrift
für Ausländerrecht und Ausländerpolitik“ Nr. 4/2012.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


Ich hoffe, dass wir auf dieser Grundlage dann zu einer
ernsthaften und sorgfältigen Beratung unseres Anlie-
gens im weiteren parlamentarischen Verfahren kommen.
Ich lade alle anderen Fraktionen ein: Sie müssen ja
nicht alle unsere Forderungen im Detail übernehmen,
aber im Interesse der Menschen bitte ich Sie, daran mit-
zuwirken, die geltenden Gesetze, Bestimmungen und
Praktiken so zu ändern, dass allen Menschen, die wegen
ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und nach
Deutschland fliehen müssen, hier ein wirksamer Schutz
gewährt wird.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718429000

In 75 Staaten werden schwule Männer verfolgt und

wird schwule Liebe mit Freiheitsentzug oder sogar mit
der Todesstrafe bestraft. Für lesbische Frauen ist es in
den meisten dieser Staaten nicht zum Besseren bestellt:
Wo die ausdrückliche Bestrafung nicht genannt wird,
werden sie häufig mit gemeint und mit verfolgt. Diese
Verfolgungen sind Menschenrechtsverletzungen, wie
auch die Bundesregierung nicht müde wird zu betonen.
Ich habe mit Außenminister Westerwelle viele Brief-
wechsel geführt, in denen der Minister wiederholt auf
Einzelfälle von Verurteilungen reagiert hat und bei-
spielsweise im Fall eines schwulen verfolgten Paares in
Malawi auch erwogen hat, den beiden Betroffenen Asyl
nach § 22 Aufenthaltsgesetz anzubieten. Dieser Fall
hatte international hohe Aufmerksamkeit erzeugt, für die
beiden Männer ist eine andere Lösung gefunden worden.

Leider haben viele Menschen nicht das Glück, dass
internationale Medien über ihr Schicksal berichten.
Schwule und Lesben, die in Deutschland Asyl suchen,
werden dagegen mit der unbarmherzigen Maschine des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge konfrontiert.
Denn unbarmherzig ist es, wie dieses Amt mit Menschen
umgeht, die aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt
wurden. Gerade aktuell liegt mir ein Ablehnungsbe-
scheid einer lesbischen Iranerin vor, der an diskriminie-
render Sprache und absurden Forderungen nicht zu
übertreffen ist. So könnten „Homosexuelle, die sich im
Ausland aufhielten, unbeschadet wieder nach Iran zu-
rückkehren, falls nicht eine sexuelle Verfehlung erfolgt
und nachgewiesen sei“. Die Rückkehr sei unproblema-
tisch, falls die Homosexuellen mit „ihren Neigungen
nicht auf offener Straße provozierten“. Fazit des Amtes,
das dem Bundesinnenminister untersteht: „Die Homo-
sexuellen könnten im Iran ein sicheres Dasein führen.“
Das steht im eklatanten Widerspruch zu der Tatsache,
dass im Iran Homosexualität mit der Todesstrafe
bedroht wird und diese Strafe auch angewandt wird. Die
Menschenrechtsorganisation Hrana spricht von zwei bis
fünf Fällen im Jahr 2011, wobei die Dunkelziffer hoch
ist; denn im Iran gibt es eben keinen Rechtsstaat wie in
Deutschland mit klarer Statistikführung und einer brei-
ten Zivilgesellschaft, die den Staat kontrollieren kann.

Herr Außenminister, das BAMF bezieht sich bei all
diesen zitierten Äußerungen auf eine Stellungnahme des
Auswärtigen Amts aus dem Jahr 2008. Ich frage mich
doch, welche Äußerungen in Bezug auf die Sicherheit
von homosexuellen Menschen im Iran eigentlich gelten:

die offiziell gegenüber dem Parlament und der Öffent-
lichkeit vorgetragenen menschenrechtlichen Bedenken
oder die geheim gehaltenen Stellungnahmen gegenüber
dem BAMF? Wir werden prüfen müssen, wie solche Ein-
schätzungen zustande kommen und wer dafür Verant-
wortung trägt.

Diese eben zitierten Stellen aus dem Bescheid ma-
chen aber auch deutlich, wie lebensfremd und men-
schenfeindlich die Entscheidungen des Bundesamts
sind. De facto wird hier gesagt: Homosexuelle sollen
doch einfach aufhören, homosexuell zu sein, dann pas-
siere ihnen schon nichts. Damit wird der Sinn des Asyl-
rechts und des Flüchtlingsschutzes ausgehöhlt und ins
Gegenteil verkehrt. Denn nach derselben Logik könnten
verfolgte Christen im Irak einfach aufhören, ihre christ-
liche Religion zu praktizieren, und könnten politisch
Verfolgte aufhören, ihre Meinungsfreiheit zu nutzen. Die
Menschenrechte sind aber unteilbar. Es ist deswegen
richtig, wenn die Linkspartei in ihrem Antrag fordert,
dass eine Abschiebung von homosexuellen Menschen in
Länder, die Homosexualität kriminalisieren, generell
unterbunden werden muss. Ich begrüße den vorsichtigen
Positionswechsel der Koalition in dieser Frage, wie er
sich in der Antwort der Bundesregierung in Drucksache
17/8357 andeutet. Ich erwarte, dass wir hier in den wei-
teren Beratungen zu einer besseren Verständigung kom-
men.

Der Antrag behandelt auch Fragen, die den Umgang
mit homosexuellen Flüchtlingen im Zuge des Verfahrens
thematisieren. Es ist richtig, dass die Glaubhaftma-
chung von Homosexualität nicht immer einfach nachzu-
prüfen ist. Eine Beweiserhebung im Herkunftsland wäre
verfassungswidrig, ein Beweis über Gutachten medizini-
scher Art ist nicht möglich. Deswegen müssen wir zu ei-
nem Verfahren kommen, dass besonders auf entsprechend
geschultes Personal hier in Deutschland abstellt. Dabei
sollten die Lesben- und Schwulenverbände und -bera-
tungsstellen eine Schlüsselfunktion erhalten, denn sie
können vorurteilsfrei und präzise entsprechende Fragen
stellen und überprüfen.

Mich freut, dass in diese Debatte wieder Bewegung
kommt. Die Koalition hat an verschiedenen Stellen an-
gedeutet, zu Änderungen im Asylverfahren kommen zu
wollen. Ich hoffe, dass wir in den Ausschüssen zu kon-
kreten Ergebnissen kommen, um den Umgang mit homo-
sexuellen Flüchtlingen zu verbessern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718429100

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Das ist
beschlossen.

Tagesordnungspunkt 26:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg (Hamburg), Michael Kretschmer, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Sylvia Canel, Dr. Martin





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der
Lehrerausbildung

– Drucksache 17/9937 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Haushaltsausschuss

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718429200

Die Qualität eines Bildungssystems hängt entschei-

dend von der Qualifikation der Lehrerschaft ab. Gute
Schule und gute Lehrer bewirken guten Unterricht! Leh-
rer fungieren als Vermittler zwischen Wissenschaft, Ge-
sellschaft und der jungen Generation. Insbesondere sind
sie es, die jungen Menschen neben den Eltern das Rüst-
zeug mitgeben, dass diese sich in die Gesellschaft ein-
bringen und einen erfolgreichen Berufsweg beschreiten
können. Und nicht zuletzt sollen sie Motivator sein, um
die Lebensgestaltung junger Menschen positiv zu beein-
flussen. Wir alle in diesem Hause haben hier unsere per-
sönlichen Erfahrungen und könnten sofort eine Lehrerin
bzw. einen Lehrer nennen, der uns im Leben motiviert
hat. Wir haben gute bis sehr gute Lehrer. Sie sind zu ei-
nem großen Teil sehr engagiert und verstehen es, ihre
Schülerinnen und Schüler zu motivieren.

Aber das Anforderungsprofil an die Lehrerschaft hat
sich besonders in den vergangenen Jahren gewandelt.
Verschiedene internationale und nationale Vergleichs-
studien haben die enormen Herausforderungen be-
schrieben, denen sich die deutschen Schulen und damit
vor allem die Lehrerschaft gegenübersehen. Insbeson-
dere die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen in
Verbindung mit den Herausforderungen der Integration
sowie die verstärkt differenzierten Anforderungen von
Wirtschaft und Gesellschaft machen eine Anpassung der
Lehrerausbildung erforderlich.

Ebenso ist belegt, dass die Qualität des Unterrichts
durch die Lehrkräfte ein entscheidender Faktor für das
Kompetenzniveau und die Entwicklung von Schülern mit
unterschiedlichen Voraussetzungen ist.

Eine weitere Herausforderung liegt in der Zusam-
mensetzung der Lehrerschaft: Über die Hälfte sind älter
als 50 Jahre. Die unter 40-Jährigen bilden mit 27 Pro-
zent hingegen eine relativ kleine Gruppe. Unter 30 Jahre
sind lediglich 6 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer.
Eine ältere Lehrerschaft bedeutet zwar nicht automa-
tisch einen Verlust an Unterrichtsqualität, doch eine gut
durchmischte Zusammensetzung in der Altersstruktur
der Lehrer verstärkt auch einen größeren Erfahrungs-
und Kompetenzaustausch. Es ist erstrebenswert, den
Lehrerberuf attraktiver zu machen, um mehr Abiturien-
ten für ein Lehramtsstudium zu gewinnen. Der Lehrer-
beruf muss für junge Menschen wieder erstrebenswerter
werden!

Eine weitere Herausforderung ist die begrenzte Mo-
bilität von Lehramtsstudierenden und aktiv tätigen Lehr-

kräften zwischen den einzelnen Bundesländern. Durch
die nach wie vor uneinheitliche Anerkennung von Stu-
dienleistungen und Abschlüssen der verschiedenen Bun-
desländer existieren unnötige Hemmnisse, die einen
konstruktiven bundesweiten Austausch didaktischer und
fachlicher Expertise innerhalb der Lehrerschaft er-
schweren. Daher sollte es auch Ziel sein, die Mobilität
angehender und aktiver Lehrer zu fördern. Dies im Ein-
klang mit dem föderalen Bildungssystem zu gestalten, ist
Herausforderung und Chance zugleich.

Dem Wandel dieser Anforderungen und den aktuellen
Herausforderungen muss die Bildungspolitik Rechnung
tragen. Die kontinuierliche Verbesserung Deutschlands
im PISA-Ranking spricht zwar dafür, dass in den Schu-
len vieles gut läuft, aber es gibt Verbesserungsbedarf.
Daher müssen auch Strukturen und Inhalte der Lehrer-
bildung überprüft und verbessert werden, sei es im fach-
lichen, didaktischen oder auch im methodischen Be-
reich.

Für eine Verbesserung der Lehrerbildung bedarf es
eines Steins des Anstoßes, der die Öffentlichkeit und die
Lehrer der Zukunft für die Notwendigkeit exzellenter
Lehrerbildung sensibilisiert. Ein solcher erster Schritt
und Impuls kann – wie bei den Hochschulen bereits be-
wiesen – in einer Exzellenzinitiative liegen. Die von uns
auf den Weg gebrachte „Qualitätsoffensive Lehrerbil-
dung“ hat zum Ziel, die Lehrerausbildung und -weiter-
bildung fortzuentwickeln. Ziel ist es, durch Förderung
universitärer Initiativen, die in einem Wettbewerb be-
wertet und gefördert werden, nachhaltige Impulse zu
setzen – Impulse dafür, die Bedeutung der Lehrerbildung
an Hochschulen aufzuwerten und sie aus der „Nische“
ins Zentrum der universitären Profilbildung zu rücken.
So soll ein Qualitätsschub in Forschung und Lehre er-
reicht werden. Damit soll die Lehrerbildung in ihrer
ganzen Breite weiterentwickelt werden, und das Schul-
system soll ebenso profitieren.

Die Exzellenzinitiative soll im Rahmen eines Wettbe-
werbs stattfinden. Dabei können einzelne Hochschulen
oder Hochschulen im Verbund Zukunftskonzepte einrei-
chen, die eine praxisorientierte und forschungs- bzw.
evidenzbasierte Lehrerbildung zum Inhalt haben. Die
Auswahl erfolgt anhand verschiedener Kriterien wie
dem aktuellen Stand der Forschung oder klarer Berufs-
feldorientierung. Ebenso soll das Konzept die Fach-
didaktik stärken und, damit einhergehend, eine fundierte
Wissensbasis für die angehenden Lehrer schaffen.

Die Bewertung erfolgt durch eine externe Jury. Die
ausgewählten Hochschulen können für fünf oder zehn
Jahre gefördert werden und sollten sich dazu verpflich-
ten, das Konzept nach Auslaufen der Förderphase insti-
tutionell zu sichern. Die ausgewählten Konzepte werden
so zu Leuchttürmen der Lehrerbildung und können als
solche flächendeckend wahrgenommen werden.

Gerade von einem Leuchtturmprojekt wie einer Ex-
zellenzinitiative für die Lehrerbildung kann eine Strahl-
kraft für die gesamte Schullandschaft ausgehen, von der
eine positive Wirkung für das gesamte Bildungswesen
ausgehen kann. Wir wollen sehr gute Schüler, sehr gute
Lehrer, sehr gute Bildung – mit der Exzellenzinitiative





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)


für Lehrerbildung kommen wir diesem Ziel wieder ein
Stück näher. Die Bildungsrepublik Deutschland nimmt
langsam Gestalt an.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1718429300

Guter Unterricht ist und bleibt das Kernziel von

Schulentwicklung. Er muss strukturiert sein, herausfor-
dernde Lerninhalte bieten und in einem unterstützenden
Klima stattfinden. Dies belegen zahlreiche Ergebnisse
der Bildungsforschung. Der demografische Wandel und
eine bessere Integration von Kindern und Jugendlichen
mit Migrationshintergrund sowie die Verwirklichung
eines inklusiven Bildungssystems sind nur einige der
Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Auch der
ausgeprägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft
und Bildungschancen bleibt eine große Herausforde-
rung.

Die Hälfte aller befragten Lehrer beklagt, dass sie
durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf den Unter-
richt vorbereitet werden. Das ist das Ergebnis einer Stu-
die des Allensbach-Instituts, die im April 2012 veröffent-
licht wurde. 20 Prozent dieser Befragten empfanden den
Einstieg ins Berufsleben als sehr schwierig.

Die Qualität des Unterrichts durch die Lehrkräfte ist
jedoch ein entscheidender Faktor für das Kompetenz-
niveau, die Herausbildung von Schülerinteressen und
insbesondere für die Förderung von Schülerinnen und
Schülern mit unterschiedlichen sozialen und ethnischen
Hintergründen. PISA hat gezeigt, dass sich die unter-
schiedliche Lehrerausbildung in den einzelnen Bundes-
ländern mit einem Leistungsunterschied der Schüler von
bis zu einem ganzen Schuljahr auswirkt. Die COACTIV-
Studie hat des Weiteren bewiesen, dass es einen signifi-
kanten Zusammenhang zwischen fachlichem, fachdidak-
tischem und pädagogischem Wissen von Lehrern einer-
seits und der Effektivität ihres Unterrichts auf der
anderen Seite gibt. Um die Leistungsfähigkeit des Bil-
dungssystems zu steigern, muss somit das Wissen und
das Know-how des Lehrerberufs in allen Abschnitten
der Ausbildung erhöht werden.

Zunächst ist es wichtig, geeignete und motivierte Stu-
dienanfänger zu finden. Leider ist das Berufsbild des
Lehrers in den letzten Jahren mit einer Abnahme des
Ansehens und Respekts bei gleichzeitiger Zunahme der
Anforderungen konfrontiert. Dies muss sich ändern – die
Profilbildung des Berufs muss gestärkt werden. Zwei-
tens müssen die Studierenden früh mit der Realität des
Klassenzimmers konfrontiert werden. Es kann nicht sein,
dass ein zukünftiger Lehrer erst am Ende seiner Studien-
zeit Praxiserfahrung sammelt. Daher ist es essenziell,
dass die vom Bund geförderten Projekte immer in engem
Austausch mit einer oder mehreren Schulen stehen.
Zuletzt muss dafür gesorgt werden, dass Lehrer durch
Fort- und Weiterbildungsangebote im Sinne eines lebens-
langen Lernens gefördert werden. Deshalb sprechen wir
uns in unserem Antrag für einen Qualitätswettbewerb
für eine exzellente Lehrerbildung aus. Dabei sollen
besonders herausragende Konzepte der Lehrerausbil-
dung ausgezeichnet werden und dadurch die Einführung
der prämierten Ideen oder die Stärkung bereits vorhan-

dener Strukturen ermöglicht werden. Die Hochschulen
konkurrieren um eine Fördersumme von insgesamt
16 Millionen Euro im Jahr. Dabei ist uns wichtig, dass
sich nicht nur bereits exzellente Hochschulen bewerben,
sondern auch solche Hochschulen eine Gelegenheit
bekommen, die über gute Entwicklungspotenziale verfü-
gen. Es sollen auch nicht nur vereinzelte Fakultäten
gefördert werden, sondern die Hochschulen können sich
mit ihren Konzepten zu Verbünden zusammenschließen.

Daher läuft der Vorwurf der Grünen, die Regierung
würde nur Exzellenz fördern und nicht auf eine Breiten-
wirkung setzen, meines Erachtens ins Leere. Selbstver-
ständlich bleiben die Länder in der Verantwortung, die
Hochschuen in vollem Umfang zu unterstützen. Dabei
können Sie aber auf die geförderten Best-Practice-
Modelle des Bundes zurückgreifen. Es liegt dann in ihrer
Hand diese in voller Bandbreite zu implementieren.

Ich möchte nochmal daran erinnern, dass die Bun-
desregierung so viel für die deutschen Hochschulen tut
wie keine Regierung zuvor. Durch die Hochschulpakte I
und II sowie den Qualitätspakt Lehre werden die For-
schungs- und Lehrbedingungen an deutschen Hoch-
schulen nachhaltig verbessert.

Worauf ich zuletzt noch eingehen möchte und was mir
als Bildungspolitiker aus Bayern wirklich am Herzen
liegt, ist die länderübergreifende Angleichung der Lehr-
amtsstudien. Bayern kann dabei als Vorbild für einen
sehr hohen Standard, wie es die TUM School of Educa-
tion beweist, dienen.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1718429400

Mit dem Antrag „Initiative zur Stärkung der Exzellenz

in der Lehrerausbildung“ nehmen die Koalitionsfraktio-
nen auf, was seit längerem in der deutschen Kultus-
ministerkonferenz und auch der gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz von Bund und Ländern erarbeitet wird,
und bringen es in die parlamentarische Mitberatung ein.
Wir begrüßen es, dass es hierzu jetzt eine parlamentari-
sche Diskussion gibt, zumal wir zu etlichen Punkten,
was die Analyse und auch die Bewertung der Aufgaben-
stellung angeht, Übereinstimmungen haben.

Erstens. Natürlich stimmen wir darin überein, dass
entscheidend für die Qualität von Schulbildung die Qua-
lität der Lehrkräfte ist. Lehrkräfte sind entscheidende
pädagogische Bezugspersonen, sie wirken als Persön-
lichkeit, sie organisieren Lern- und Sozialprozesse, sie
vermitteln Wissen und Fertigkeiten auf möglichst hohem
Niveau in kind- und jugendgerechter Form. Gute Schule
muss gute Lehrkräfte gewinnen, gute Hochschule den
Lehrkräften in Aus- und Weiterbildung das optimale
Rüstzeug mitgeben und gute Lehrkräfte auch zur Koope-
ration im engeren schulischen Umfeld mit anderen Pro-
fessionen, mit Eltern wie Schülern verhelfen. Sie müssen
auch darauf vorbereitet und darin unterstützt werden,
Schule als Teil eines kommunalen, eines sozialen Umfel-
des gut zu organisieren.

Zweitens. Der Lehrerberuf ist ein ausgesprochen
schöner Beruf. Er ist auch ein ausgesprochen fordernder
Beruf, weshalb wir nachdrücklich unterstreichen, was

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


auch an Anerkennung gegenüber den Lehrkräften in der
Öffentlichkeit wieder stärker aufgebaut werden muss.
Gute personale Autorität, Zufriedenheit mit dem Beruf,
die dann auch auf Schüler, Kolleginnen und Kollegen
und Eltern ausstrahlen kann, fordert auch von uns als
politische Meinungsträger und Multiplikatoren, diesem
Beruf immer wieder zur Anerkennung zu verhelfen. Das
muss erst recht auch dafür gelten, der Aus-, Fort- und
Weiterbildung von Lehrkräften, nicht zuletzt an den
Hochschulen, ein wesentlich höheres Gewicht zu geben.
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschulen,
hervorragende Lehrkräfte auszubilden. Es ist keine Ne-
benaufgabe, es ist nicht etwas, das die wissenschaftliche
Leistungsfähigkeit von Hochschulen einschränkt, son-
dern ganz im Gegenteil: Eine gute Hochschule ist auch
eine gute Lehrerausbildungsstätte.

Drittens. Die Analyse, die von den Koalitionsfraktio-
nen dem Antrag vorangestellt worden ist, weist auch auf
eine quantitative Problematik hin. Allerdings kommt der
Antrag an dieser Stelle mit einer gewissen Verzögerung,
denn nicht zuletzt die Gewerkschaft Erziehung und Wis-
senschaft oder auch einzelne Bildungsökonomen und
Wissenschaftler wie Klaus Klemm und andere weisen
schon seit Jahren darauf hin, dass in Deutschland zu we-
nig Lehrkräfte ausgebildet werden und wir von daher in
ein dramatisches Nachwuchsproblem an den Schulen
hineinlaufen werden. Will man allerdings guten Nach-
wuchs gewinnen, müssen nicht nur die materiellen und
ideellen Rahmenbedingungen stimmen, was die öffent-
liche Anerkennung und Motivierung angeht, sondern
auch die Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen
vorgehalten werden und dieses rechtzeitig, mit langem
zeitlichen Vorlauf und in der entsprechenden Qualität.

Viertens. Übereinstimmung besteht schließlich darin,
dass der Beruf der Lehrkraft immer anspruchsvoller
wird aus pädagogisch-psychologischen Gründen, im ge-
sellschaftlichen Umfeld und auch in der Neuorgani-
sation von Schule. Sie weisen in Ihrem Antrag richtig
darauf hin, dass die Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention erfordert, die stärkere Inklusion als
wesentlichen Gegenstand von Lehrerausbildung für alle
verpflichtend aufzubauen. Sie haben auch in Ihrem An-
trag ganz in Übereinstimmung mit der sozialdemokrati-
schen Betrachtung aufgeführt, dass die alten Strukturen
der Lehrerausbildung für die Zukunft nicht mehr ausrei-
chen, was die Rekrutierung und Motivierung von Studie-
renden angeht, die studienbegleitende Beratung, die
Verstärkung der Praxisbezüge und den Ausbau der Pra-
xisphasen bis hin zu neusten Erkenntnissen in der Di-
daktik und Methodik, die für moderne Lernarrange-
ments in Schule einzubringen sind und schließlich auch
die soziale und personale Kompetenz. An dieser Stelle
haben wir Übereinstimmungen, so wie es sie auch in der
Kultusministerkonferenz und der gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz gibt.

Wenn diese Übereinstimmungen langsam gewachsen
sind, so sind Wegmarken hierfür sicherlich die ersten
großen Studien zur empirischen Bildungsforschung, die
sich mit Kürzeln wie TIMMS und PISA verknüpfen. Im-
merhin sind das Studien, die zum Teil bereits über ein-
einhalb Jahrzehnte zurückliegen. Als der sogenannte

PISA-Schock ausgelöst wurde, hatte sich die damalige
Kultusministerkonferenz auf acht Handlungsfelder ver-
ständigt, an denen in Zukunft gemeinsam und länder-
übergreifend auch im Zusammenwirken mit dem Bund
vorrangig gearbeitet werden müsste, um die evident ge-
wordenen Schwächen des deutschen Schulsystems auf-
zuarbeiten und zu verändern. Die Lehrerausbildung ist
hierbei allerdings ein großer Restant geblieben, und es
ist deshalb höchste Zeit, dass auf der Kultusminister-
ebene, aber eben auch auf der Bundesebene diesem
wichtigen und zentralen Handlungsfeld mehr Aufmerk-
samkeit gewidmet wird. Erste Verabredungen in der
KMK aus dem Jahr 2004 über gemeinsame Standards
sollen hier nicht verschwiegen werden, aber auch dies
ist schon acht Jahre her und die Probleme sind gewiss
nicht kleiner geworden. Weshalb?

Erstens. Zum einen gibt es immer noch keine ausrei-
chende Konsensbildung und Konvergenz in Bezug auf
die verschiedenen Schulstrukturen, die in den einzelnen
Bundesländern angeboten werden, sondern im Gegen-
teil erleben wir in Teilen sogar noch eine weitere Ausdif-
ferenzierung. Grundsätzlich muss Lehrerbildung aber
auf eine Praxis ausgerichtet sein, die sich nicht an erster
Stelle über Schulstrukturen definiert, sondern über Al-
tersphasen, das heißt Entwicklungsphasen von Kindern
und Jugendlichen und bestimmte pädagogisch-schu-
lische Leitprinzipien. Diese Betrachtung darf deshalb
unseres Erachtens auch in der Zukunft einer länderüber-
greifend ausgerichteten Lehrerausbildung nicht ausge-
spart werden. Allerdings gibt es hier Tabus, und Tabus
führen bekanntlich dazu, dass sich Entscheidungen auch
hinziehen bzw. verdrängt werden und letztlich rudimen-
tär bleiben.

Zweitens. Gute Lehrerbildung erfordert einen hohen
Einsatz an den Universitäten wie in den Praxiseinrich-
tungen. Und in einer Situation, in der die Hochschulen
nicht zuletzt wegen der begrüßenswerten Zuwächse an
Studienanfängerzahlen sowieso schon eine starke zu-
sätzliche Bildungsleistung erbringen, gibt es auch unter
dieser Überlastungswahrnehmung eine gewisse Distanz
zu einer deutlichen qualitativen Verbesserung und auch
einem quantitativen Ausbau von Lehrerbildung. Nur kann
diese Überlastungssituation nicht der Maßstab bleiben,
unter dem wir in Zukunft diese zentrale Rolle der Lehrer-
ausbildung weiterhin bewerten. Gerade weil die Hoch-
schulen schon so viel leisten, müssen sie an dieser Stelle
noch eine besondere Unterstützung erfahren.

Drittens. Niemand soll ja drumherumreden: Gerade
im Schulbereich und in Verbindung damit auch in der
Lehrerausbildung gibt es noch eine Kleinstaaterei in
Deutschland, die, historisch gewachsen, dennoch nicht
mehr in diese Zeit passt: Statt der Konkurrenz muss es
hier zur Kooperation kommen, dies aber eben nicht nur
in Bezug auf die Schulen unmittelbar, sondern auch auf
die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Weil aber
der Abschied von einem konkurrierenden Föderalismus
hin zu einem kooperativen Föderalismus vielen Beteilig-
ten nicht leicht fällt, ist hier sicherlich zu viel Zeit ins
Land gegangen, die guten Einsichten der PISA-Reform
auch schnell in Taten umzusetzen. Kooperation heißt
hier aber auch, sich offen zu zeigen gegenüber den in-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


haltlich wie materiell – sprich haushalterisch – gegebe-
nen Möglichkeiten des Bundes als einem weiteren Mit-
verantwortlichen, damit Bildung in Deutschland und
speziell Lehrerbildung zu einem guten Ergebnis ge-
bracht wird. Das gute Ergebnis wird sich dann auch da-
ran bemessen, dass es für die Lehrkräfte selbst keine aus
der Zeit gefallenden Einschränkungen gibt und eine
wechselseitige Anerkennung ihrer Qualifikation zwi-
schen den einzelnen Bundesländern sowie die Möglich-
keiten ihrer Mobilität in Deutschland und mit einer
langfristigen Perspektive auch über Deutschland hinaus
Standard wird.

Nun zu Ihrem Antrag im Einzelnen, wobei hier sicher-
lich auch Differenzierungen und kritische Bewertungen
stärker deutlich werden.

Erstens. Sie beziehen sich bei Ihrem Antrag, dem von
daher auch nur eine begrenzte Originalität zuzuspre-
chen ist, im Wesentlichen auf die Eckpunkte für die in-
haltliche Ausrichtung der Bund-Länder-Initiative Leh-
rerbildung, wie sie von der Kultusministerkonferenz,
KMK, bis hin zur Gemeinsamen Wissenschaftskonfe-
renz, GWK, vorbereitet worden ist. Dort ist davon die
Rede, dass Schwerpunkte einer solchen gemeinsamen
Initiative sein sollten: a) die Profilierung und Optimie-
rung der Strukturen der Lehrerbildung an den Hoch-
schulen, b) die Qualitätsverbesserung des Praxisbezugs
in der Lehrerbildung, c) die Verbesserung der profes-
sionsbezogenen Beratung und Begleitung der Studieren-
den in der Lehrerbildung, d) die Fortentwicklung der
Lehrerbildung in Bezug auf die Anforderungen der He-
terogenität und Inklusion, e) die Fortentwicklung der
Fachlichkeit, der Didaktik und der Bildungswissen-
schaften.

Wir stimmen dem gerne zu, möchten hier aber ergän-
zen, dass natürlich auch ein großer Bereich von Verän-
derung in den nächsten Jahrzehnten, der in Deutschland
längst überfällig ist, die Entwicklung von Schule hin zur
Ganztagsschule ist. Deutschland hat hier einen gewalti-
gen Nachholbedarf und steht in seiner Struktur der
Halbtagsschule vollkommen isoliert in Europa und auch
darüber hinaus da. Erste Ansätze, hier Ganztagsschule,
und zwar gute Ganztagsschule, aufzubauen, sind seit der
Regierung von Gerhard Schröder und Edelgard Buhlman
in Bewegung gekommen. Nun müssen sich das verän-
derte Bild von Schule und auch die veränderten Anfor-
derungen an die Lehrkräfte natürlich auch in einer re-
formierten Lehrerausbildung in angemessener Form
wiederfinden, bei der sich Lehrkräfte nicht nur von
vornherein in der Ausbildung darauf einzustellen haben,
dass sie als zentrale Beteiligte an einem Ganztagslern-
und Lebensort Schule ganz anders gefordert sind. Sie
müssen auch in einer solchen erneuerten Lehrerausbil-
dung bzw. Weiterbildung immer wieder darauf vorberei-
tet bzw. dafür qualifiziert werden, mit viel mehr Beteilig-
ten zu kooperieren, neue Ideen von Schule zu entwickeln
und zu leben, als sie Schule im klassischen Klassenzim-
merunterricht über lange Jahre selbst noch kennenge-
lernt haben. Von SPD-Seite im Bundestag aus wünschen
wir uns jedenfalls, dass diese große Zukunftsaufgabe der
guten Ganztagsschule gleichberechtigt neben die andere
Zielsetzung tritt und dieses auch mit einschließt, den

Lehrerberuf aus seiner isolierten Position zu befreien
und als Teil eines Gesamtberufsfeldes Schule zu verste-
hen.

Zweitens. Die Frage der Schulstruktur soll nicht im
Vordergrund der Lehrerausbildung stehen, gerade weil
die Lehrertätigkeit vom einzelnen Kind und Jugendli-
chen her zu sehen ist, im emotionalen Bezug, in der pä-
dagogischen Führung, in der Fachdidaktik und in der
Anlage von Unterricht. Deshalb darf die Lehrerausbil-
dung in der Zukunft die Schulstrukturfrage nicht ganz
aussparen. Wir beobachten jetzt schon in der Lehreraus-
bildung in vielen Bundesländern, dass diese nach Über-
windung des klassischen mehrgliedrigen Schulsystems
zunehmend auch alters- und entwicklungsstufenbezo-
gene Schulstrukturen in die Lehrerausbildung mit hin-
einnehmen. Dies wird umso wichtiger werden, wenn
gleichzeitig ein offener Arbeitsmarkt für Lehrer geschaf-
fen werden soll, der nicht nur aus Sicht der einzelnen
Lehrkräfte, sondern auch aus Sicht der Bundesländer
und letztlich auch mit der europäischen Perspektive im-
mer wichtiger wird. Viele Bundesländer gehen deshalb
schon dazu über, neben dem Lehramt für die Grund-
schule ein Lehramt für die Sekundarstufe I und II an Ge-
meinschaftsschulen, Stadtteilschulen, Gesamtschulen und
Gymnasien auszuweisen und darüber hinaus auch noch
die Lehrämter an den Schulen für besondere Förderbe-
darfe sowie den beruflichen Schulen. Weil alle Beteilig-
ten wissen, dass dieses ein sehr schwieriges Feld ist,
darf es dennoch nicht aus der Entwicklung von zukunfts-
bezogener Lehrerausbildung ausgespart werden,
sondern die Perspektiven, die sich mit einer stärker ko-
ordinierten und stärker konsensorientierten Lehreraus-
bildung mit Blick auf die Konsensbildung in der Schul-
struktur absehbar ergeben, müssen jetzt schon in die
Verbesserung der Lehrerausbildung in Qualität und
Quantität mit einbezogen werden. Schließlich werden
Lehrer nicht für eine kurze Berufsphase, sondern für ei-
nen Arbeitsplatz, der in der Regel über 35 Jahre im Be-
rufsfeld Schule wahrgenommen wird, ausgebildet. Hier
Offenheit und Anschlussfähigkeit in einer harmonisier-
ten Struktur der Lehrerausbildung mit zu befördern,
sollte deshalb auch ein Anliegen dieser Initiative für die
Stärkung der Lehrerausbildung in Deutschland sein.
Natürlich sind hier an erster Stelle die Länder gefordert,
aber wenn es schon zu einem kooperativen Vorgehen von
Bund und Ländern in der Verbesserung der Lehreraus-
bildung kommt, darf es hier auch keine Tabus mehr ge-
ben, was die Erwartungen durch den Bund als Teilneh-
mer angeht.

Allein der demografische Wandel mit der Verringe-
rung der Schülerinnen- und Schülerzahlen zwingt hier
alle klassischen Schulideologen aus ihren Schützengrä-
ben heraus und zu einer stärker konsensorientierten ge-
meinsamen Politik. Die Lehrerbildung kann hier hinter
nicht zurückstehen und muss im Gegenteil sogar Antrei-
ber für eine solche veränderte Politik sein. Damit beant-
wortet sich auch, dass natürlich eine Bund-Länder-Ini-
tiative zur Stärkung der Lehrerausbildung auch immer
mit einschließen muss, das Anerkennungsverfahren der
jeweiligen in den einzelnen Bundesländern erreichten
Qualifikationen so zu verändern, dass die teilweise wi-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


dersinnigen Hürden und Abgrenzungen einer wahrlich
vernünftigen und betroffenen- wie schulzentrierten Of-
fenheit weichen.

Drittens. Wenn die Koalitionsfraktionen die Über-
schrift wählen „Initiative zur Exzellenz in der Lehrer-
ausbildung“ und auch an mancher anderer Stelle im An-
trag, hier allerdings weniger in den Forderungen als
vielmehr im Begleittext, assoziativ an die Exzellenzini-
tiative im Hochschulbereich, den Wettbewerbscharakter
dieser Exzellenzinitiative und an das Paradigma der
Leuchttürme-Philosophie anknüpfen, so ist dies nicht
unser Verständnis, und wir glauben, auch nicht das Ver-
ständnis der KMK und der gemeinsame Geist aus der
GWK von Bund und Ländern. Uns muss es darum gehen,
die Lehrerausbildung generell in Deutschland zu ver-
bessern und nicht einzelne Hochschulen als quasi Exzel-
lenzhochschulen mit der Lehrerausbildung zu identi-
fizieren. Wir möchten deshalb nachdrücklich dafür
werben, dass Sie in Ihrem Verständnis dabei bleiben,
dass ein Element der Verbesserung der Hochschul-
lehrerausbildung an den 120 Hochschulen, die wir in
Deutschland haben, die Identifikation von Best-Practice-
Beispielen sein kann, dass es aber im Übrigen nicht nur
um einen Wettbewerb gehen darf, in dem eine Prämie-
rung von als besonders gut identifizierten Lehrerausbil-
dungen stattfindet, sondern ein Prozess organisiert wird,
der Breitenwirkung entfaltet und am Ende alle Hoch-
schulen in Deutschland und die gesamte Lehrerausbil-
dung erreicht. Über die einzelnen Bedingungen eines
solchen Qualitätswettbewerbs wird deshalb auch noch
im Einzelnen zwischen den Bundesländern und auch
zwischen Bund und Ländern zu diskutieren und zu ver-
handeln sein. In den Ziffern 2 und 3 Ihres Antrags haben
Sie dazu einige Vorschläge gemacht. Ob es klug ist, hier
als Bundestag die Regierung anzuweisen, und dies
schon zum jetzigen Zeitpunkt, in dieser Weise den Quali-
tätswettbewerb auszugestalten, ohne es mit den Part-
nern in den Ländern bereits abschließend geklärt zu ha-
ben, ob diese Form der Eingrenzung tatsächlich das
angestrebte Ziel ist, nämlich eine Stärkung der Lehrer-
ausbildung mit mehr Qualität und Quantität insgesamt
in Deutschland zu erreichen, sei deshalb dahingestellt.

Viertens. Natürlich spielt auch das Geld eine große
Rolle. Der Hinweis in Ihrem Antrag, dass unter strikter
Beachtung der verfassungsrechtlich verankerten Schul-
denbremse haushalterisch Vorsorge getroffen werden
soll, dass der Wettbewerb für eine Laufzeit von fünf Jah-
ren gesichert ist und die Fördermaßnahmen im kommen-
den Jahr beginnen können, kann einerseits als Selbst-
verständlichkeit gesehen werden andererseits aber auch
als Hinweis darauf, wie verwirrend hier die Regierungs-
fraktionen bisher agieren. So gibt es Zeitungsmeldun-
gen, zum Beispiel aus dem „Hamburger Abendblatt“
vom 12. März 2012, wonach die Fraktionen der Union
und der FDP im Wettbewerb angeblich planen, dass sich
die Hochschulen um eine Fördersumme von jeweils
16 Millionen Euro im Jahr für die einzelne Hochschule
bewerben sollen. Davon sollen nach der Berichterstat-
tung aus dem „Hamburger Abendblatt“ 10 bis 16 sol-
cher sogenannten Zukunftskonzepte gefördert werden.
Zugleich wird von der „Süddeutschen Zeitung“ am

21. April 2012 berichtet, dass das Programm über zehn
Jahre laufen und eine Größenordnung von 500 Millio-
nen Euro haben solle. Damit würden pro Jahr 50 Millio-
nen Euro zur Verfügung stehen, und man muss nicht
Adam Riese bemühen, um in diesen verschiedenen Ver-
lautbarungen, die offensichtlich sehr mediengeleitet in
die Öffentlichkeit gebracht worden sind, auf der Hand
liegende Widersprüche zu erkennen.

Und wenn wir dann als Abgeordnete noch wissen,
dass die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP eine
mittelfristige Finanzplanung vorgelegt hat, bei der die
Haushaltsmittel des Bundes ab 2014 für Bildung und
Forschung rückläufig sein sollen, bleibt erst recht die
Frage, was eigentlich die finanzielle bzw. materielle
Substanz ist, die seitens der Bundesregierung für dieses
Projekt der Lehrerausbildung mobilisiert werden soll.
So sind wir gespannt, auch in den weiteren Beratungen
im Ausschuss Näheres zu hören. Allerdings sollten die
CDU/CSU- und FDP-Fraktionen zusammen mit ihrer
Regierung vorher mehr Klarheit in sich selbst gefunden
haben, statt hier weiter zur Verwirrung beizutragen.

Dass eine solche Initiative zur Verbesserung der Leh-
rerausbildung von Bund und Ländern einer ausreichen-
den finanziellen Absicherung bedarf, steht für die SPD
außer Zweifel. Vielleicht kann hier auch ein neues Nach-
denken bei den Koalitionsfraktionen über das unsinnige
Kooperationsverbot nachhelfen, das immer noch von Ih-
nen im Bereich der hochschulischen und der schulischen
Bildung hochgehalten wird. Es ist doch im Gegenteil so,
dass wir hier keine minimale, nur auf ganz konkrete Pro-
bleme abzielende Lösungsstrategie brauchen, sondern
eine umfassende Öffnung neuer Kooperationsmöglich-
keiten von Bund und Ländern in der Finanzierung und in
der Gestaltung von Bildung an Schule und Hochschule.
Wie sehr dies notwendig ist, zeigt sich auch in der Initia-
tive der Verstärkung der Lehrerausbildung in Qualität
und Quantität. Als SPD im Bundestag werden wir diesen
Prozess im Bundestag konstruktiv begleiten.


Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1718429500

Bildung ist einer der Grundpfeiler unserer Gesell-

schaft. Folglich muss eine hohe Qualität des deutschen
Bildungssystems gewährleistet sein, um den wirtschaft-
lichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt unse-
rer Gesellschaft zu garantieren.

Sie wissen, dass Deutschland eine Bildungsrepublik
ist. Genau aus diesem Grund müssen wir uns auch im in-
ternationalen Wettbewerb behaupten können und auf
dieser Grundlage das gesamte Bildungssystem sowie
dessen Qualität mit Blick in die Zukunft stetig verbes-
sern. Es ist richtig, dass die Dozenten, Ausbilder und
Ausbilderinnen sowie Lehrerinnen und Lehrer in diesem
Prozess eine besondere und wichtige Rolle spielen.

Die Entwicklung des Bildungssystems wird in der
heutigen Zeit maßgeblich vor drei gesellschaftliche He-
rausforderungen gestellt: den demografischen Wandel,
die Inklusion und die Digitalisierung.

Der demografische Wandel spielt in dem gesamten
Prozess der Verbesserung der Qualität des Bildungssys-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sylvia Canel


(A) (C)



(D)(B)


tems in Deutschland eine Schlüsselrolle. Es ist bekannt,
dass in den folgenden Jahren viele Lehrerinnen und
Lehrer aufgrund des Erreichens des Rentenalters aus
dem Schuldienst ausscheiden werden. Schon heute ist
beinahe jede zweite Lehrkraft über 50 Jahre und älter.
Damit bilden die 50- bis 60-Jährigen die größte Alters-
gruppe im Schuldienst. Im Vergleich dazu gibt es nur ei-
nen geringen Anteil von jungen Lehrkräften. Dies ist
zum einen auf die Länge der Hochschulausbildung zu-
rückzuführen, zum anderen wurden aufgrund der demo-
grafischen Entwicklung weniger Lehrkräfte eingestellt.
Für das Jahr 2020 wird ein Rückgang der Zahl der
Schülerinnen und Schüler um 2,2 Millionen erwartet.
Junge Leute müssen daher motiviert werden, den Beruf
des Lehrers zu erlernen. Um dieses Ziel zu erreichen und
die Motivation der potenziellen neuen Lehrkräfte zu stei-
gern, müssen die Ausbildungsbedingungen verbessert
werden.

Auch für die Problematik der Inklusion muss eine Lö-
sung gefunden werden. Konkret bedeutet das einen ver-
änderten Umgang mit der Leistungsdifferenzierung,
eine Abkehr von homogenen Lerngruppen, eine Hinwen-
dung zu individuellen Lernarrangements und eine
Anpassung pädagogischer Unterstützungsleistungen.
Deutschland setzt sich für eine inklusive Pädagogik ein
und muss folglich eine Neuausrichtung der Lehreraus-
bildung und Schulorganisation vornehmen. Dies setzt
voraus, dass die jeweilige Schule sich an die Förderbe-
dürfnisse der ihr anvertrauten Schüler anpasst und die
Lehrkräfte umfassend qualifiziert werden.

Die Digitalisierung fordert das Bildungssystem eben-
falls heraus. Die Lehrerausbildung muss sich demzu-
folge an die aktuelle Bildungstechnologieentwicklung
anpassen, um die daraus entstehenden wichtigen Per-
spektiven für den Unterricht und die Kooperation mit
den Unternehmen verstärkt nutzen zu können. Die ge-
samte Gesellschaft verändert sich. Da darf die Lehrer-
ausbildung nicht bleiben, wie sie ist.

Gute Lehrer sind der Grundpfeiler eines gelingenden
Bildungssystems. Ihr Engagement verdient höchste
gesellschaftliche Anerkennung; denn die Qualität im
Klassenzimmer wird maßgeblich durch die Qualität der
Lehrerausbildung bestimmt. Guten Unterricht gibt es
nur mit guten Lehrern. Doch die Lehrerausbildung wird
in Deutschland vernachlässigt.

Die Zersplitterung der Lehrerausbildung ist ein wei-
teres ärgerliches Hemmnis. So wie ein Arzt und ein
Jurist muss auch ein Lehrer mit seinem abgeschlossenen
Studium in allen Bundesländern gleichermaßen aner-
kannt und angestellt werden können. Auch soll die Aus-
bildung sich mehr an den Erfordernissen des Unterrich-
tens orientieren.

Wir wollen Lehrer, die Fachleute vor Ort sind, ernst
nehmen, indem wir ihnen mehr Gestaltungsfreiheit über-
tragen. Ebenso gibt es einen Zusammenhang zwischen
Schülerleistung und Autonomie: Je eigenständiger die
Schule, desto besser die Leistung der Schüler. Darum:
Wir benötigen Freiheit und Stärke vor Ort. Mehr
Bildungsqualität braucht ein klares Bekenntnis zur Ei-

genständigkeit der Schulen mit den Möglichkeiten der
Leistungsdifferenzierung.

Die Ziele dieser Initiative sind vielseitig und umfang-
reich. So soll die Struktur der Lehrerbildung an den
Hochschulen im Sinne einer Profilbildung befördert
werden. Dies soll die Sichtbarkeit sowie die Lehrerbil-
dung stärker an den Hochschulen verankern. Insgesamt
soll eine Stärkung der Lehrerausbildung vorgenommen
werden.

Ein weiteres Ziel der Initiative ist die Weiterentwick-
lung von Konzepten der Lehrerbildung. Das bedeutet,
eine fachliche, fachdidaktische und pädagogische Aus-
bildung zu garantieren. Ferner soll die Verzahnung von
Lehrerausbildung und pädagogischer Forschung ver-
bessert werden. Des Weiteren sollen an ausgesuchten
Standorten die finanziellen Kapazitäten aufgestockt und
damit die Grundlage zu einer deutlichen Qualitätsstei-
gerung geschaffen werden.

Ein Problem stellt im Moment noch das Bund-
Länder-Programm dar, da dieses noch zur Verhandlung
aussteht. Durch sogenannte Leuchtturmprojekte sollen
die künstlichen Barrieren zwischen den Bundesländern
eingerissen werden. Die gegenseitige Anerkennung der
Abschlüsse muss nämlich gegeben sein. Betrachtet man
die Initiative insgesamt, so ist dies der erste Schritt in
die richtige Richtung.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718429600

Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag zur Ver-

besserung der Lehrerausbildung auf den Weg gebracht.
Es ist erfreulich, dass sie die Bedeutung einer guten Leh-
rerausbildung für eine gute Schule und gute Bildungsab-
schlüsse von Lernenden begreifen, und es ist erfreulich,
dass sie zu der Einsicht gekommen sind, dass es nicht
reicht, diese Aufgabe den Ländern allein zu überlassen.
Immerhin wurde der vor ziemlich genau zwei Jahren
eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke für ein
Fachkräfteprogramm Bildung und Erziehung noch mit
dem Verweis auf den Hochschulpakt und die Zuständig-
keit der Länder abgelehnt. Man sah keinen Handlungs-
bedarf.

Das scheint sich nun geändert zu haben, und das ist
ein ermutigendes Zeichen. Dass mehr als die Hälfte der
Lehrerinnen und Lehrer heute älter als fünfzig Jahre
sind und damit ihr Verbleib im Schuldienst endlich ist,
war allerdings schon damals bekannt. Nun fällt der
Koalition auf, dass trotz des Hochschulpakts zu wenige
Lehrerinnen und Lehrer nachwachsen, denn nur 27 Pro-
zent sind insgesamt unter 40 Jahre alt. Auch das ist für
die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen keine
Neuigkeit, sehen sie es doch jeden Tag in der eigenen
Schule.

Auf der anderen Seite wurde auch von der Seite der
Politik in den letzten Jahren zu wenig getan, die Aner-
kennung des Lehrerberufes zu verbessern. So geht im-
mer noch das Sprichwort herum, dass Lehrer vormittags
Unterricht und nachmittags frei hätten. Abfällige Äuße-
rungen über Lehrerinnen und Lehrer wie die eines uns
allen gut bekannten ehemaligen Ministerpräsidenten

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)


eines Bundeslandes haben dabei offensichtlich nachhal-
tige Wirkungen hinterlassen.

Vielleicht reagiert die Koalition ja auch erst, wenn
sich die Wirtschaft in Bildungsangelegenheiten zu Wort
meldet: So hat eine Studie des Allensbach-Instituts im
Auftrag der deutschen Wirtschaft jüngst herausgefun-
den, dass sich zwar die Anerkennung des Lehrerberufes
in den letzten Jahren geändert hat, dass aber die Anzie-
hungskraft des Lehramtsberufes nach wie vor gering ist.
Darum wundert es nicht, dass zu wenige Studierende mit
der Absicht ein Studium beginnen, am Ende Lehrerin
oder Lehrer zu werden. Und wenn schon, dann doch
eher für Grundschulen oder besser noch Gymnasien,
aber keinesfalls für Hauptschulen oder zusammenge-
fasste Haupt- und Realschulen, die es nun in irgendeiner
Weise in den meisten Bundesländern geben wird.

Zu meiner Zeit als Landespolitikerin konnte man die
Studierenden eines Jahrgangs für ein Lehramt an
Sekundarschulen an einer Hand abzählen. Das hat sich
noch nicht wesentlich verbessert.

Ein Grund ist sicher auch, dass die Länder über viele
Jahre hinweg eine verfehlte Einstellungspolitik prakti-
ziert haben, weshalb vor allem im Osten ausgebildete
Lehrerinnen und Lehrer verstärkt in die finanzstärkeren
Westländer gegangen sind, seit die Länder auch die Ho-
heit über die Besoldung von Lehrkräften in eigener Re-
gie regeln.

Tatsächlich gibt es inzwischen zwar eine größere An-
erkennung der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern,
aber an der problematischen Arbeitssituation in den
Schulen hat sich nichts zum Positiven gewendet, im Ge-
genteil. Lehrerinnen und Lehrer werden mit immer mehr
Vorschriften, Programmen, abzurechnenden Verpflich-
tungen überhäuft, sodass für das Kerngeschäft Unter-
richt zu wenig Zeit bleibt.

Auf der anderen Seite haben die Hochschulen zu
wenig getan, um die Qualität der Lehrerausbildung zu
befördern und mit der Einführung des Bachelor-Master-
Systems ist die berufliche Ausbildung von Lehrerinnen
und Lehrern noch unübersichtlicher geworden, wurden
die Bildungswissenschaften vernachlässigt usw.

Es gibt also allen Grund, etwas für die Lehrerausbil-
dung zu tun, zumal dieser Ausbildungsbereich für Hoch-
schulen nicht drittmittelfähig ist und damit kein Geld
bringt.

Doch was fällt der Koalition ein? Sie beschließt:
„Wir machen einen Wettbewerb.“ „Wer bildet die besten
Lehrerinnen und Lehrer aus?“ Das soll es richten. Die
am besten ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer wer-
den dann mit Kusshand von den Ländern aufgenommen,
die am besten bezahlen können. So ist das halt in einer
vom Wettbewerb geprägten Gesellschaft, und warum
soll es in der Schule anders sein? Länder, die ärmer
sind, können sich dann die Lehrkräfte leisten, deren Aus-
bildung eben noch nicht so gut war. Was ja nicht an ihrer
persönlichen Eignung liegen muss, sondern vielleicht an
der Kurzsichtigkeit oder auch nur der Unterfinanzierung
von Hochschulen. Die Lehrenden und die Lernenden in
den Ländern, die nicht die am besten ausgebildeten

Lehrkräfte abbekommen, sind erneut die Gelackmeier-
ten.

Die Koalition behauptet in ihrem Antrag, dass die un-
terschiedliche Unterrichtsqualität von den unterschied-
lichen Unterrichtsmustern abhänge. Was immer sie
darunter versteht, es erklärt nicht den Hang zum Wettbe-
werbsföderalismus als Heilmittel für die Mängel in der
Lehrerausbildung in Qualität und Quantität in der Flä-
che und in den Bildungsergebnissen in Deutschland. Ein
solcher Wettbewerb führt auch nicht zur Verringerung
der hohen Zahlen von Schulabgängerinnen und Schul-
abgängern ohne Abschluss, die heute in zahlreichen
Bundes- und Landesprogrammen wenigstens teilweise
aufgefangen werden. Es führt dazu, dass die Schere wei-
ter aufgeht, ganze Generationen von Lehrenden und
Lernenden abgehängt werden, dass die wirtschaftliche
und soziale Lage zwischen den Bundesländern weiter
auseinanderdriftet. So kann man das richtig erkannte
Problem nicht lösen.

Eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwi-
schen den Bundesländern und Regionen und gleiche
Teilhabe in der Bildung wird sich so ebenso wenig her-
stellen lassen wie eine Verbesserung der Arbeitsbedin-
gungen an den Schulen außerhalb der Gymnasien.

Was von dem Antrag der Koalition bleibt, ist neben
der Einsicht, dass es in der Lehrerausbildung ein Pro-
blem gibt, aus dem sich der Bund nicht herausmogeln
kann, die Erkenntnis, dass der alte biblische Spruch
„Wer hat, dem wird gegeben“ für die Koalition immer
noch politischer Leitfaden ist.

Der Bund hat eine gesamtstaatliche Verantwortung,
auch im Bildungsbereich. Sonst könnte man den Art. 7
auch gleich aus dem Grundgesetz entfernen, nach dem
das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Der
Bund muss, gemeinsam mit den Ländern auch gesamt-
staatlich handeln. Wenn das Kooperationsverbot in der
Bildung dabei hinderlich ist, dann muss es weg.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718429700

Das Image der Lehrer in Deutschland hat sich ver-

bessert. In der Studie „Lehre(r) in Zeiten der Bildungs-
panik“ des Allensbach-Instituts, die im April 2012 ver-
öffentlicht wurde, landeten die Lehrer im Bezug auf
Ansehen auf dem vierten Platz hinter Ärzten, Kranken-
schwestern und Polizisten. In derselben Studie beklagte
sich die Hälfte der befragten Lehrkräfte, dass sie sich
durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf ihre Arbeit
vorbereitet fühlten. Unter den jungen Lehrern, die bis zu
fünf Jahre im Beruf sind, waren es sogar 62 Prozent.
Das zeigt überdeutlich: Eine bessere Aus- und Weiterbil-
dung von Lehrkräften ist eine beständige Herausforde-
rung für alle Länder und Hochschulen. Ein Förderpro-
gramm von Bund und Ländern zur Verbesserung der
Lehrerbildung kann ein sinnvoller Ansatz sein, gute Bei-
spiele zu unterstützen, die dann idealerweise Impulse für
die Verbesserung der Lehrerbildung an anderen Hoch-
schulen auslösen.

Gute Schulen brauchen gute Lehrerinnen und Lehrer.
Die konkreten beruflichen Anforderungen an sie wach-

Zu Protokoll gegebene Reden





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


sen und müssen bei einer Erneuerung der Lehrerausbil-
dung maßgeblich sein. Im Schulalltag sind hohe fachli-
che Qualifikationen genauso gefordert wie zunehmend
anspruchsvolle didaktische Qualitäten oder diagnosti-
sche und evaluative Kompetenzen. Neben erzieherischen
und betreuenden Kompetenzen benötigen Lehrkräfte die
Fähigkeiten zur Qualitätsentwicklung und klugen
Selbstverwaltung. Studium und Referendariat müssen
darauf dringend besser vorbereiten und können so die
Basis schaffen für pädagogische Eigenverantwortung,
hohe Unterrichtsqualität und ein demokratisches Schul-
klima mit sozialem Zusammenhalt.

Wer höchste Lernleistungen und Chancengleichheit
will, muss alle Schülerinnen und Schüler nach ihren in-
dividuellen Potenzialen fördern und darf kein Talent
vergeuden. Alle Lehrerinnen und Lehrer müssen deshalb
im professionellen Umgang mit Heterogenität ausgebil-
det sein, um produktiv mit der gewachsenen Vielfalt ih-
rer Schülerschaft umgehen zu können.

Unterschiedliche soziale Lebenslagen in unserer Ein-
wanderungsgesellschaft erfordern eine schulische Lehr-
und Lernkultur, die Integration und Inklusion in den Mit-
telpunkt guter pädagogischer Praxis rückt. Eine refor-
mierte Lehrerausbildung ist daher ein Schlüssel für
beste Bildung vor Ort. Sie muss Teamfähigkeit stärken,
da selbstständige Ganztagsschulen mit Personalmix
diese brauchen, und sie sollte Lehrkräfte stärker zur In-
terdisziplinarität befähigen: Es braucht nicht nur die
Fähigkeit zur Verständigung zwischen Schulfächern,
sondern unter anderem auch mit Sozialarbeit, Gesund-
heitsprävention und kommunaler Quartiersentwicklung.
Denn Schulen werden heute vielerorts zum zentralen
Baustein lokaler Bildungslandschaften.

Diesen modernen Ansprüchen genügt der Antrag der
Regierungsfraktionen nicht. Es ist zweifelhaft, dass die
von Union und FDP skizzierte „Initiative zur Stärkung
der Exzellenz in der Lehrerausbildung“ zu einer flä-
chendeckenden Verbesserung der Lehrerbildung in
Deutschland führen wird.

Erstens scheint das Prinzip der individuellen Förde-
rung in den Köpfen und Herzen von CDU/CSU und FDP
immer noch nicht angekommen zu sein.

Zweitens beschränken sich die Regierungsfraktionen
fast völlig auf die Ausbildung von Lehrkräften, ihre
Fort- und Weiterbildung wird nur alibimäßig erwähnt.
Dabei zeigen die Zahlen über Alterskohorten, dass hier
ein riesiger Bedarf liegt. Niemand kann und darf war-
ten, bis es zu einem kompletten Austausch der Lehrkräfte
gekommen ist. Fort- und Weiterbildung müssen gleich-
rangig zur Ausbildung von Lehrkräften gesehen werden.

Drittens ist es erstaunlich, dass Schwarz-Gelb das
Kooperationsverbot in der Bildung nicht anrührt, dann
aber in ihrem Parlamentsantrag formuliert, die Bundes-
regierung solle mit dem Qualitätswettbewerb darauf
hinwirken, „dass auch die länderübergreifende Aner-
kennung von Ausbildung und Abschlüssen in der Lehrer-
ausbildung und damit eine verbesserte Mobilität von
Studierenden und Lehrkräften als Ziele des Wettbewerbs
verankert werden“. Damit erkennen auch die Fraktio-

nen von Union und FDP die dringende Notwendigkeit
an, dass Bund und Länder in einem zentralen Bereich
der Bildungspolitik kooperieren. Es geht ihnen also
nicht nur um abstrakte Exzellenz der Hochschulbildung
für eine Fächergruppe, sondern es geht auch ihnen um
die praktische Verbesserung der Schulen. Darum, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP: Seien
Sie ehrlich, öffnen Sie die Verfassung auch im Bildungs-
bereich, und ermöglichen Sie dort endlich Kooperation!

Bundesbildungsministerin Schavan muss endlich aus
ihren Fehlern lernen und mehr Steuerungs- und Ver-
handlungsgeschick beweisen, damit mehr Bund-Länder-
Kooperation möglich wird und eine echte Offensive für
die Lehrerbildung herauskommt. Sonst wird Schavan
einmal mehr als Ankündigungsministerin dastehen, wie
bei den mickrigen Deutschlandstipendien, dem ad acta
gelegten Zukunftskonto für jedes Kind, den zusammen-
geschrumpften lokalen Bildungsbündnissen oder dem
gescheiterten Plan einer „Akademie für die Lehre“.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718429800

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9937 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Ta-
gesordnung stehen. – Sie sind einverstanden. Das ist so
beschlossen.

Tagesordnungspunkt 27:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen
Deutschland und Polen

– Drucksache 17/9947 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Tourismus

Hier sind die Reden zu Protokoll genommen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1718429900

Der Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutsch-

land und Polen ist sinnvoll und notwendig, sowohl im
Personen- als auch im Güterverkehr. Wir sind uns einig,
dass es große Defizite bei der grenzüberschreitenden Ei-
senbahninfrastruktur gibt und dass sich teilweise die
Fahrzeit mit den Zügen in Polen derzeit mit dem Pkw
nicht messen kann. Aber was die Grünen nicht sagen,
ist, dass derzeit in Polen auf sehr vielen Strecken Aus-
bau- und Modernisierungsarbeiten stattfinden. Dies
führt dazu, dass die Züge große Umwege machen müs-
sen, um an ihr Ziel zu gelangen.

Die Modernisierung in Polen wird sehr zügig voran-
getrieben. Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Strecken,
die Teil des transeuropäischen Verkehrsnetzes sind. Au-
ßerdem wird in die technische Aufrüstung des Bestand-
netzes investiert. Im Jahr 2012 wurden in Polen Schie-
nenverkehrsprojekte im Wert von rund 4,5 Milliarden
Euro allein zwischen dem zentralen Eisenbahninfra-





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


strukturunternehmen PkP Polskie Linie Kolejowe und
verschiedenen Auftragnehmern beschlossen.

Dieser enorme Umfang der Sanierungsmaßnahmen
verursacht leider zahlreiche Verzögerungen durch die
Bauarbeiten, da die Bahnen die Baustellen weiträumig
umfahren müssen. Mit einer deutlichen Verbesserung
wird ab dem Jahr 2014 gerechnet.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung und insbeson-
dere unser Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer streben
eine Fortführung der intensiven und guten Zusammen-
arbeit zu grenzüberschreitend bedeutsamen Infrastruk-
turprojekten mit der polnischen Seite an. Der Zustand
der grenzüberschreitend bedeutsamen Schienenprojekte
begründet einen weiteren Investitionsbedarf auf beiden
Seiten, der bisher und künftig im Bundeshaushalt ange-
messen berücksichtigt wird.

Es bedarf hierfür jedoch internationaler Abkommen,
in der Regel Staatsverträge, für deren Abschluss
erfahrungsgemäß lang dauernde Abstimmungsprozesse
erforderlich sind. Im Rahmen der deutsch-polnischen
Regierungskonsultationen im Juni 2011 wurde eine ge-
meinsame Projektliste bezüglich Bau und Betrieb aller
Verkehrsträger mit grenzüberschreitender Bedeutung
vereinbart, deren Umsetzung von deutscher Seite nach-
drücklich verfolgt wird.

Aktuell verhandelt werden Ressortabkommen zum
Ausbau der Eisenbahnverbindung Berlin–Stettin und
zum Eisenbahnbetrieb.

Ich möchte die wichtigsten Ausbaustrecken erörtern:
ABS Berlin–Stettin:Die Ausbaustrecke Berlin–Stettin ist
ein internationales Vorhaben des Bedarfsplans Schiene.
Folgende Maßnahmen sind geplant: Ausbau auf eine
Streckengeschwindigkeit von bis zu 160 Stundenkilome-
tern, durchgehende Elektrifizierung, Erhöhung der Ka-
pazität durch Blockverdichtung, langfristig und bei ent-
sprechender Entwicklung des Verkehrsaufkommens die
Herstellung der durchgehenden Zweigleisigkeit, Investi-
tionsvolumen: rund 104 Millionen Euro ohne Zweiglei-
sigkeit.

Nach mehrjährigen Verhandlungen und einer Unter-
brechung von nahezu zwei Jahren durch die polnische
Seite wurde im Sommer 2011 ein überarbeiteter polni-
scher Entwurf bilateral erörtert. Der ursprünglich ange-
strebte Fertigstellungstermin der Elektrifizierung 2016
ist nicht mehr umsetzbar. Über die Inhalte besteht inzwi-
schen weitestgehend Einvernehmen. Eine abschließende
Einigung zum Realisierungszeitraum war bisher nicht
möglich. Aus haushalterischen Gründen ist eine Fertig-
stellung aus deutscher Sicht nicht vor 2020 zu erwarten.

Nach erneuten Gesprächen unter anderem auf Minis-
terebene im Mai/Juni 2012 soll nun gemeinsam mit dem
polnischen Verkehrsministerium eine schnelle Lösung
gefunden werden. Angestrebt wird eine Unterzeichnung
des Abkommens noch in 2012.

ABS Berlin–Cottbus–Görlitz: Es bestand die Mög-
lichkeit, nach Abschluss der Bauarbeiten in beiden Län-
dern, die Fahrzeit zwischen Berlin und Breslau um bis
zu 40 Minuten zu verkürzen. Der Ausbau des Abschnittes

Berlin–Cottbus ermöglicht eine Reduzierung um bis zu
20 Minuten. Es zeichnet sich derzeit ab, dass die polni-
sche Eisenbahn den alten Laufweg über den Grenzüber-
gang Forst trotz Ausbaus der niederschlesischen
Magistrale zwischen Kohlfurt und Breslau für eine Stre-
ckengeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern weiter-
hin beibehalten will. Die DB AG steht hierzu in Ver-
handlung mit der polnischen Seite.

Bahnstrecke Hoyerswerda–Horka–Grenze Deutsch-
land/Polen–Wegliniec: Polen ist stark daran interessiert,
dass der deutsche Abschnitt der niederschlesischen Ma-
gistrale Grenze–Horka–Hoyerswerda zweigleisig elekt-
rifiziert ausgebaut wird, einschließlich des Neubaus der
Eisenbahngrenzbrücke bei Horka. Die Planungen zum
Ausbau der Strecke wurden seitens der DB Netz AG
beauftragt. Erste Planfeststellungsbeschlüsse liegen vor.
Der Beschluss zum Planfeststellungsabschnitt 3 Horka–
Grenze Deutschland/Polen wird frühestens Mitte 2012
erwartet. Die notwendige Finanzierungsvereinbarung
mit einem Investitionsvolumen von rund 420 Millionen
Euro zwischen Bund und DB AG wurde im April 2012
abgeschlossen. Ein Baubeginn ist frühestens im Herbst
2012 möglich. Die Streckengeschwindigkeit soll nach
Fertigstellung 120 km/h betragen.

Im Zusammenhang mit dem zweigleisigen Ausbau
einschließlich Elektrifizierung ist der Neubau der
Grenzbrücke über die Lausitzer Neiße bei Horka durch
die polnische Seite erforderlich. Polen geht von einer
Fertigstellung bis 2014 aus.


(Wroclaw)

schnitte der Verbindung Breslau–Dresden ist die polni-
sche Seite sehr daran interessiert, den Bahnhof Görlitz
als vorgezogene Maßnahme zu elektrifizieren. Zum mög-
lichen Ausbau der Strecke Dresden–Görlitz auf 120 bis
160 Stundenkilometer können unter Beachtung der Prio-
risierung derzeit keine zeitlichen Angaben getätigt wer-
den. Dies trifft insbesondere auf die Elektrifizierung die-
ser Strecke zu, die aus deutscher Sicht erst langfristig
vorgesehen ist.

Bahnstrecke Zittau–Liberec: Die Bahnstrecke hat le-
diglich regionale Bedeutung. Die Verkehrsleistung wird
durch die Vogtlandbahn/Trilex nach Ausschreibung im
Jahre 2010 erbracht. Es besteht Regelungsbedarf auf-
grund des sehr schlechten Zustands des auf deutscher
und polnischer Seite befindlichen Viadukts. Im Jahre
2008 wurde von polnischer Seite ein trilateraler Staats-
vertrag (Polen-Tschechien-Deutschland) vorgelegt, der
vor allem Tschechien und Deutschland zu Instandset-
zung und Unterhaltung verpflichten würde. Die Ver-
handlungen über eine für alle Seiten befriedigende Lö-
sung laufen.

Erläutern möchte ich noch das deutsch-polnische Ab-
kommen zum Eisenbahnbetrieb: Im Rahmen der Ver-
handlungen im Oktober 2010 wurde in Warschau der
Entwurf eines deutsch-polnischen Abkommens über die
Zusammenarbeit im Bereich des grenzüberschreitenden
Eisenbahnverkehrs paraphiert. Die Unterzeichnung des
Abkommens durch die Verkehrsminister beider Länder
wird kurzfristig angestrebt. Ein für Anfang Juni 2012 be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


reits geplanter Unterzeichnungstermin konnte wegen
noch nicht erfüllter formeller Voraussetzungen auf der
polnischen Seite nicht realisiert werden.

Der Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutsch-
land und Polen wird von deutscher Seite sehr stark vo-
rangetrieben, ohne dass es eines Antrags bedarf. Ich
bitte Sie, unterstützen Sie mit uns unseren Bundesver-
kehrsminister Dr. Ramsauer in seinem Einsatz für bes-
sere Verkehrsanbindungen in ganz Deutschland.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1718430000

Ich möchte gleich an den Anfang meiner Rede stellen,

dass meine Fraktion den vorgelegten Antrag nicht unter-
stützt, weil vieles, was hier wortreich gefordert wird, be-
reits gemacht wird und anderes wiederum schlichtweg
falsch dargestellt wird.

Die Analyse der antrageinreichenden Fraktion ist je-
doch dahin gehend richtig, dass der grenzüberschrei-
tende Bahnverkehr zwischen Deutschland und Polen
weiter ausgebaut und verbessert werden muss.

Das ist aber keine Erkenntnis mit Neuigkeitswert.
Das ist eine Erkenntnis, die niemand hier im Raum in-
frage stellt. Seit Jahren wird über diese Verbesserungen
verhandelt. Darüber verhandelt die Bundesregierung
mit der polnischen Regierung, darüber tauschen sich die
Ministerpräsidenten der an Polen grenzenden Bundes-
länder regelmäßig mit den Wojewoden aus, darüber dis-
kutieren die Bahnunternehmen der Länder miteinander.
Über Verbesserungen wird unter anderem auch am
„Runden Tisch Verkehr der Oder-Partnerschaft“ inten-
siv debattiert.

Ich gebe zu, dass auch ich mir wünsche, dass die Ver-
handlungen beispielsweise für die Strecke Berlin–Stet-
tin, die bereits vor dem Beitritt Polens zur Europäischen
Union aufgenommen wurden, endlich in einen unter-
schriebenen Vertrag münden. Die Strecke führt durch
meinen Wahlkreis, und sowohl die Menschen auf der
polnischen Seite als auch die Uckermärker sind sich be-
wusst, dass ihre Regionen von einer besseren verkehrli-
chen Vernetzung zwischen den attraktiven touristischen
Gebieten profitieren würden. Die positive Nutzen-Kos-
ten-Relation dieser Strecke wurde auch durch das Bun-
desverkehrsministerium bereits 2003 bei Aufstellung des
geltenden Bundesverkehrswegeplans festgestellt.

Dennoch: Deutschland und Polen sind zwei gleichbe-
rechtigte Partner, die nicht in jedem Punkt der verkehr-
lichen Vernetzung eine identische Interessenlage haben.
Die Strecken haben teilweise unterschiedliche strategi-
sche Bedeutung beiderseits der Grenze. Da helfen auch
parlamentarische Anträge, die das bisher Erreichte in-
frage stellen, nicht weiter. Ich glaube daher nicht, dass
der vorgelegte Antrag die laufenden und weit vorange-
schrittenen Verhandlungen unterstützt.

Wir müssen bedenken: Polen hat nicht nur die ver-
kehrlichen Verbindungen nach Deutschland auszu-
bauen. Vielmehr wurde auch der grenzüberschreitende
Verkehr und dessen Infrastruktur mit anderen Nachbar-
ländern unter der sozialistischen Diktatur stark ver-
nachlässigt. Wir wissen, wie schwierig es in Deutsch-

land ist, den Infrastrukturausbau finanziell abzusichern.
Unser Nachbarland Polen mit einem wesentlich höheren
infrastrukturellen Defizit und anderer öffentlicher Ein-
nahmesituation sollte motiviert werden – zum Beispiel
über die guten europäischen Fördermöglichkeiten –,
gute Verkehrsverbindungen nach Deutschland anzustre-
ben. Wir sollten unseren Nachbarn aber nicht bevor-
munden.

Ich halte auch nichts davon, wenn man den Straßen-
verkehr gegen den Bahnverkehr ausspielt. Beides hat
seine Bedeutung für das Zusammenwachsen der Regio-
nen. Beides hat seine Bedeutung für den wirtschaftli-
chen Erfolg in Polen und Deutschland. Eine Straßenver-
bindung weniger nach Deutschland bedeutet nicht einen
Schienenweg mehr nach Deutschland! Hier wird mit
dem Antrag etwas suggeriert, was nicht haltbar ist.

In den letzen Jahren wurde im Bereich des Schienen-
verkehrsangebots zwischen Deutschland und Polen ei-
niges erreicht, zum Beispiel im Bereich Usedom, die
Strecke Bützow–Szczecin, die Dreiländerbahn, der Aus-
bau Küstrien–Kietz, die Verbindung mit der branden-
burgischen Stadt Guben. Die Aufzählung der erfolgrei-
chen Projekte ließe sich fortsetzen.

Ob die Bahnangebote verbessert werden, ist aber
nicht nur eine Frage des Infrastrukturausbaus, sondern
auch der Bestellpolitik der Länder und der unternehme-
rischen Entscheidungen der Bahn. Wenn die Länder, die
für den Nahverkehr verantwortlich sind, grenzüber-
schreitende Verkehrsangebote nicht bestellen oder nur
unbefriedigende Taktzeiten vorsehen, bringen Anträge –
wie von den Grünen formuliert – gar nichts. In Branden-
burg beispielsweise macht die rot-rote Landesregierung
vor, wie man es nicht machen sollte. Hier werden die
Schienenangebote in die ländlichen Gebiete und damit
in den Grenzraum massiv ausgedünnt. Hier muss bei der
Novellierung des Regionalisierungsmittelgesetzes ange-
setzt werden. Ländliche Räume müssen für die Nachteile
kompensiert werden, die aus der dünnen Siedlungs-
dichte bei der Bestellung von Bahnleistungen bestehen.
Dann werden auch mehr Züge im Grenzraum fahren.
Eine Verkehrspolitik, wie die von Ministerpräsident
Platzeck, die das Zusammenwachsen Europas behin-
dert, darf nicht weiter einfach akzeptiert werden.

Der Bahnverkehr zwischen Deutschland und Polen
wird und muss in den kommenden Jahren deutlich ver-
bessert werden. Wir, die schwarz-gelbe Koalition, sind
uns unserer Verantwortung bewusst, und auch die polni-
sche Regierung und die Bundesländer wissen, dass er-
reichte Fortschritte zum Nutzen aller sind.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1718430100

Als die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954

Weltmeister wurde, hat sie die Deutsche Bundesbahn mit
einem Sonderzug aus Bern nach Deutschland gefahren.
Die Fahrt hat lange gedauert, weil damals entlang der
Strecke und an den Bahnhöfen Tausende Menschen stan-
den und feierten.

Wenn in diesen Wochen die deutschen Fußballer Eu-
ropameister würden – was zu wünschen wäre – und die

Zu Protokoll gegebene Reden





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


heutige Bahn AG sie wieder mit einem Sonderzug abho-
len würde, wäre die Fahrzeit aus der Ukraine über
Polen noch sehr viel länger. Aber nicht wegen der länge-
ren Strecke oder noch mehr feiernder Anhänger, sondern
schlicht deshalb, weil die Bahnverbindungen zwischen
Deutschland und Polen in einem Zustand sind, wie sie
nach mehr als 20 Jahren nach dem Fall des „Eisernen
Vorhangs“ eigentlich nicht sein dürften.

Die Fahrtzeit mit der Bahn von Berlin nach Breslau,
nur ein Beispiel, beträgt mehr als fünf Stunden. In den
30er-Jahren hat man für die gleiche Strecke nur zweiein-
halb Stunden benötigt.

An politischen Vorgaben, diese Misere zu beenden
und die bahntechnische Teilung in Ost und West zu über-
winden, hat es nicht gemangelt. Bereits im deutsch-pol-
nischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 wurde festge-
halten, dass die Bundesrepublik Deutschland und die
Republik Polen eine „Erweiterung der Transportverbin-
dungen im Luft-, Eisenbahn- und Straßenverkehr sowie
in der See- und Binnenschifffahrt unter modernsten
Technologien“ anstreben.

Zuletzt forderte der Deutsche Bundestag die Bundes-
regierung im Juni 2011 fraktionsübergreifend auf, die
Zusammenarbeit mit Polen in allen Politikbereichen
voranzutreiben und für „rasche und substanzielle Fort-
schritte beim Ausbau der grenzüberschreitenden Ver-
kehrsinfrastruktur zu sorgen, insbesondere bei den
Schienenverbindungen in Richtung Stettin, Warschau
und Breslau“.

Die Bundesregierung hat sich zudem anlässlich des
20. Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-polni-
schen Vertrags über gute Nachbarschaft und freund-
schaftliche Zusammenarbeit verpflichtet, zusammen mit
der polnischen Regierung ein Programm zur erweiterten
Zusammenarbeit vorzulegen. Man hat sich explizit auf
eine deutliche Fahrzeitreduzierung auf den Schienen-
strecken Berlin–Breslau und Berlin–Stettin verständigt
und den Ausbau und die Elektrifizierung der Strecken
zwischen Horka und Hoyerswerda sowie Breslau und
Dresden beschlossen.

Alle diese Maßnahmen sind dringend notwendig,
denn die Wirtschaft in Deutschland und Polen wächst
und partizipiert in enormem Maße voneinander. Der ste-
tig steigende Güter- und Warenaustausch – aber auch
der Personenverkehr zwischen beiden Ländern – be-
weist das.

Vor allem Grenzregionen wie zum Beispiel die struk-
turschwache Region von Ost-Vorpommern können bei
besserer Anbindung von der boomenden Wirtschaft im
nahen Stettin partizipieren.

Aber der angestrebte zweigleisige Ausbau der Strecke
Berlin–Stettin mit einer durchgehenden Elektrifizierung
kommt nicht voran, noch immer muss in Angermünde
umgekoppelt werden – ein verkehrstechnisches Armuts-
zeugnis, dass mitten in Europa zwei boomende Regionen
wie Berlin und die Region um Stettin über eine solch
schlechte Anbindung verfügen.

Ein weiteres Beispiel: Der künftige Hauptstadtflug-
hafen BER wird auch für die westpolnischen Regionen
ein wichtiger Luftverkehrsstandort sein, der daher
bahnseitig besser angeschlossen werden muss. Laut dem
Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg – VBB – müssen
dafür bis 2020 sechs Bahnkorridore zwischen dem BER
und Westpolen ausgebaut werden.

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Immer-
hin gibt es für den Ausbau der sogenannten niederschle-
sischen Magistrale über Horka bis 2016 einen Silber-
streif am Horizont.

Auch die nun umsteigefreie Anbindung Danzigs im
Rahmen der Maßnahmen für die Fußballeuropameister-
schaft ist ein Schritt aus der bahntechnischen Steinzeit
hinein ins 21. Jahrhundert.

Gleichwohl, das reicht alles nicht aus. Gerade mit
Blick auf die deutsche Geschichte ist jede deutsche Re-
gierung in der Pflicht, alles zu tun, um die sich stetig
weiterentwickelnde Verzahnung der deutschen und der
polnischen Gesellschaft zu unterstützen. Dazu gehört
eben auch ein adäquater Ausbau der Schienenverkehrs-
wege.

Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zählt die Maßnahmen auf, die so schnell wie
möglich zu realisieren sind. Die SPD erwartet von der
Bundesregierung, sich ernsthaft und zielorientiert mit
der polnischen Seite über deren Umsetzung zu verstän-
digen. „Schwarzer-Peter-Spiele“, bei denen der ande-
ren Seite vorgeworfen wird, zu verzögern, müssen aufhö-
ren. Sie dienen häufig nur dazu, zu verschleiern, dass
letztlich Geldfragen im unterfinanzierten Etat des
BMVBS und die einseitige Fokussierung auf den Stra-
ßenbau für den schleppenden Ausbau verantwortlich
sind.


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1718430200

„Es fährt kein Zug nach nirgendwo…!“ Ja, diesen

Eindruck bekomme ich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen, wenn ich Ihren Antrag lese.
Ich habe das Gefühl, unser Nachbarland Polen ist mit
dem Zug praktisch nicht erreichbar. Sie zeichnen ein
völlig verzerrtes Bild! Vielmehr ist es doch so, dass der
Infrastrukturausbau weit vorangekommen ist und auch
angebotsseitig in den letzten Jahren von deutscher und
polnischer Seite Fortschritte bei den Eisenbahnverbin-
dungen erzielt werden konnten. Gleichwohl sind diese
noch lange nicht auf dem Stand, den Sie und ich uns
wünschen. Doch das liegt nicht immer nur an der Bun-
desregierung, denn zu einem Vertrag gehören immer
zwei Parteien. Vielleicht hat die polnische Regierung
andere verkehrspolitische Prioritäten,oder es ist schlicht-
weg eine Frage fehlender Mittel .

Nehmen wir die von Ihnen angesprochene Verbin-
dung nach Breslau. Diese ist in der Tat etwas schwieri-
ger zu realisieren, da es sich auf der polnischen Seite um
eine Regionalstrecke handelt, für die keine EU-Mittel
bereitgestellt werden. Demnach liegt es nicht nur an der
deutschen Seite – so wie Sie es in ihrem Antrag darstel-
len –, sondern vielleicht auch an fehlenden Mitteln auf

Zu Protokoll gegebene Reden





Werner Simmling


(A) (C)



(D)(B)


polnischer Seite, dass der Ausbau nicht auf allen Stre-
cken zügig vorangeht.

Bei dem einen oder anderen Streckausbau sind wäh-
rend der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen
im vergangenen Jahren keine konkreten Zeitpläne ver-
einbart worden. Bei anderen Strecken sind Vereinbarun-
gen mit den betroffenen Nachbarländern erzielt worden,
und diese sind auch entsprechend im noch unter Rot-
Grün erstellten und beschlossenen Bundesverkehrswe-
geplan eingestuft worden. Ein Abkommen über die Zu-
sammenarbeit bei der Weiterentwicklung der Eisen-
bahnverbindung Berlin–Stettin ist derzeit in Vorberei-
tung. Darüber hinaus ist ein Abkommen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen
über die Zusammenarbeit im Bereich des Eisenbahnver-
kehrs über die deutsch-polnische Staatsgrenze im Okto-
ber 2010 paraphiert worden; eine Unterzeichnung folgt
dieser Tage.

Besonders hervorheben möchte ich das Ausbauvor-
haben „niederschlesische Magistrale“ Knappenrode–
Horka–Hoyerswerda–Bundesgrenze. Hier sind wir mitt-
lerweile so weit, dass wir eine Entwurfsplanung haben
und drei von sechs Planfeststellungsbeschlüssen vorlie-
gen. Die noch fehlenden Planfeststellungsbeschlüsse
Knappenrode–Niesky werden im Lauf des Jahres 2012
erfolgen. Nach derzeitigem Stand ist mit einer vollstän-
digen Umsetzung des Projekts „niederschlesische Ma-
gistrale“ bis zum Jahr 2016 zu rechnen.

Auch die von Ihnen angesprochene Strecke nach Stet-
tin ist bei der Bundesregierung in guten Händen. Alle
Seiten wollen einen möglichst zügigen Ausbau der Stre-
cke von der Hauptstadt nach Stettin. Auf deutscher Seite
muss noch ein 30 Kilometer langer Streckenabschnitt bis
zur Grenze elektrifiziert werden, auf der anderen Seite
der Grenze sind es zehn Kilometer. Voraussetzung zum
Abschluss des Projektes ist nach Worten eines Bahnspre-
chers ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland
und Polen. Das solle bis zum Jahr 2020 zustandekom-
men.

Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich doch sehr er-
staunt. Soweit ich mich erinnere, ist es besonders die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die bei Schienenpro-
jekten peinlich auf das Kosten/Nutzen-Verhältnis achtet.
Da wundert es mich schon, wenn ich dann lesen muss,
dass die Strecke Berlin–Cottbus–Görlitz nur knapp die
Wirtschaftlichkeit erreicht hat, Sie sich aber in Ihrem
Antrag massiv für diese Strecke starkmachen. Da könnte
man ja auf die Idee kommen, dass der Kollege Kühn
Grundprinzipien grüner Verkehrspolitik beim eigenen
Wahlkreis etwas lockerer auslegt. Ich kann mich noch
sehr gut an Diskussionen im Verkehrsausschuss erin-
nern, in denen die Grünen bei einem Kosten/Nutzen-Ver-
hältnis von 1,3 oder 1,1 lauthals die Sinnhaftigkeit des
Baus von Strecken infrage gestellt haben.

Zu guter Letzt noch eine aktuelle Nachricht: Am
6. Juni dieses Jahres haben Bundesverkehrsminister
Ramsauer, Bahnchef Grube und der polnische Verkehrs-
minister Nowak gemeinsam die neue Eurocitystrecke,
die Direktverbindung Berlin–Danzig in Betrieb genom-
men. Die neue Eurocitystrecke führt von Berlin nach

Frankfurt/Oder und Posen (Poznan) in die polnischen
Küstenregion Dreistadt mit den Zentren Danzig, Zoppot
und Gdingen. Sie sehen, auch die Bundesregierung weiß
um die Potenziale einer guten Schienenverkehrsverbin-
dung zwischen Deutschland und Polen. Denn Polen und
Deutschland rücken schon längst zusammen.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718430300

Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Thema Verbes-

serung des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und
Polen auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Und wir un-
terstützen auch den Antrag der Grünen zu dieser The-
matik vollinhaltlich.

Jüngst schrieb der Kabarettist Steffen Möller – er ist
in Wuppertal geboren, lebt seit 1994 in Polen und ist
dort landesweit unter anderem durch das Fernsehpro-
gramm „Europa da się lubić – Europa lässt sich mögen“
bekannt: „Polen ist mit Sicherheit von allen neun Nach-
barländern Deutschlands das exotischste. Eher macht
der Potsdamer eine Kaffeefahrt nach Holland oder der
Hellersdorfer eine Kreuzfahrt durch die Antarktis. Und
warum ist das so? … Weil die polnische Grenze für uns
… gefühlt 2 000 km im Osten liegt, kurz vor dem Ural.

(Grußwort in: Weißbuch Öffentliche Personenverkehre zwischen dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg und Westpolen, Berlin 2011, Seite 10)


Wenn Steffen Möller hier indirekt auf die deutsch-pol-
nische Geschichte mit all den Narben, die diese zurück-
ließ, verweist, dann mag dies eine Erklärung dafür sein,
dass das östliche Nachbarland vielen Deutschen fremd
ist. Eine andere Erklärung hat jedoch mit der aktuellen
Politik zu tun – und Verkehrspolitik und Bahnpolitik sind
doch Teil der aktuellen Politik.

Nehmen wir mal das Beispiel unseres großen west-
lichen Nachbarn. Frankreich und Deutschland sahen
sich auch rund ein hundert Jahre lang als Feinde; es gab
sogar den Begriff „Erbfeinde“. Doch dann kam es nach
dem Zweiten Weltkrieg zu einer politisch gewollten und
vorangetriebenen Annäherung, zu „jumelage“, zu den
vielen Hundert Partnerschaften zwischen westdeutschen
und französischen Städten, zu hunderttausendfachem
Schüleraustausch und auch zu einem teilweise guten
Ausbau des Schienenverkehrs zwischen beiden Ländern.

Sehen wir uns doch einmal im Vergleich die Verbin-
dungen Frankfurt/Main–Paris und Berlin–Warschau an.
Die Strecke Frankfurt am Main nach Paris ist stolze
741 Kilometer lang. Die ICE- bzw. TGV-Züge benötigen
auf dieser Verbindung 3 Stunden und 56 Minuten. Und
die Züge sind fast immer gut gebucht. Die Bahnlinie
Berlin–Warschau ist deutlich kürzer, sie hat eine Länge
von nur 591 Kilometer. Doch der vier Mal am Tag ver-
kehrende Fernverkehrszug „Berlin–Warszawa-Ex-
press“ benötigt auf der Verbindung 5 Stunden und
24 Minuten, also eine um eineinhalb Stunden längere
Zugfahrt für eine um 150 Kilometer kürzere Strecke. Das
ist irgendwie höhere Mathematik. Entsprechend sehen
im Übrigen die Fahrgastzahlen aus. Es herrscht oft gäh-
nende Leere in diesen weißblau lackierten Zügen. Und
natürlich ist man dann schnell dabei zu sagen: Das An-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


gebot wird nicht angenommen, worauf eine Verbindung
ausgedünnt oder komplett eingestellt wird. Überhaupt:
Warum fährt der ICE nach Kopenhagen, nach Paris,
nach Zürich, gar nach Interlaken und nach Wien, aber
nicht nach Warschau?

Es gibt da nicht nur fehlende Angebote. Es gibt real
existierenden Abbau von Angeboten. So beim letzten
Fahrplanwechsel vor ein paar Tagen. Da wurde doch
der Eurocity Berlin–Sczeczin – immerhin die einzige
durchgehende Verbindung zwischen den beiden Groß-
städten – komplett eingestellt. Auch hier hieß es: man-
gelnde Nachfrage. Doch wer den – inzwischen alten –
Fahrplan mal genauer studiert hat, der weiß: Die Nach-
frage hat eben auch hier mit dem Angebot zu tun. Origi-
nellerweise benötigte man mit diesem durchgehenden
EC eine um zehn Minuten längere Fahrtzeit als mit der
schnellsten Nahverkehrsverbindung – bei Nutzung eines
Regionalexpresszuges und einer Regionalbahn mit Um-
steigen in Angermünde. Im Übrigen kostete dann die
langsamere EC-Fahrt auch noch zwei Euro mehr – ge-
wissermaßen eine Art Draufgeld für Entschleunigung.

Im Übrigen trifft ja nicht ganz zu, was Steffen Möller
sagte. Es ist vor allem der Schienenpersonenverkehr, der
zwischen beiden Ländern darnieder liegt. Der Straßen-
verkehr und auch der Luftverkehr zwischen Deutschland
und Polen hat sich dagegen sprunghaft entwickelt. Und
warum? Vor allem, weil die Infrastruktur hier massiv
ausgebaut wurde – völlig im Gegensatz zur Schiene.

Das lässt sich im Übrigen auch beim Güterverkehr
ablesen. 2010 wurden zwischen Polen und Deutschland
gerade mal 8,2 Millionen Tonnen Güter auf der Schiene
transportiert. Das ist der niedrigste Werte seit 1990. Er
ist auch niedriger wie zu DDR-VR-Polen-Zeiten, und
niedriger als in den 1920er-Jahren. Gleichzeitig
schnellte jedoch nach 1990 der Straßengüterverkehr
zwischen beiden Ländern nach oben – allein seit 2000
mit 28 Millionen Tonnen bis 2010 auf 40 Millionen Ton-
nen.

Zum Schluss noch drei ergänzende Anmerkungen zum
Antrag selbst:

Erstens. Wenn in Punkt 4 des Antragteils gefordert
wird, dass auf den zentralen Korridoren zwischen bei-
den Ländern „ein angemessenes Fernverkehrsangebot
eingerichtet wird“, dann erinnere ich daran, wie oft wir
seitens der Regierung, gelegentlich auch durch Mitglie-
der der Grünen Partei belehrt wurden, dass es nicht Sa-
che der Bundesregierung sei, im Schienenpersonenver-
kehr Angebote einzurichten usw. Wir stimmen diesem
Punkt im Antrag ausdrücklich zu und glauben, eine sol-
che Forderung lässt sich aus Art. 87 des Grundgesetzes
ableiten, in dem der Bund nicht nur für die Schienen-
infrastruktur, sondern auch für „Angebote“ auf dem
Schienennetz in die Pflicht genommen wird. Im Übrigen
verweise ich an dieser Stelle darauf, dass alle, die ja zur
Änderung von § 13 des Personenbeförderungsgesetzes
– und damit ja zu einer Liberalisierung des Buslinien-
fernverkehrs – sagen, an dieser Stelle in einen Wider-
spruch geraten. Wenn es zu dieser Liberalisierung
kommt, so werden gerade Strecken wie die hier Genann-
ten oft mit Buslinienfernverkehr bedient werden, was

eine Ausweitung oder gar erst Einrichtung von Schie-
nenfernverkehrsangeboten enorm erschwert, wenn nicht
verunmöglicht. Dabei ist es oft die DB AG selbst, die von
Zug auf Bus umstellt, so vor zwei Jahren auf der Verbin-
dung Nürnberg–Prag.

Zweitens. Im Antragstitel ist zwar allgemein von
„Schienenverkehr“ die Rede, doch real wird nur von
Schienenpersonenfernverkehr gesprochen. Das sehe ich
kritisch. Die Potenziale im grenzüberschreitenden
Schienenverkehr auf mittleren und kurzen Distanzen
sind rund zehn Mal größer als die des Fernverkehrs. Im
Grunde wäre ein ergänzender Antrag für den grenzüber-
schreitenden Schienenpersonennahverkehr zwischen
Deutschland und Polen sinnvoll. Hier gab es in jüngerer
Zeit sogar komplette Streckenstilllegungen bzw. die Auf-
gabe jeglichen Schienenverkehrs, so wurde im Oktober
2002 der Schienenpersonenverkehr zwischen Guben und
Czerwiensk eingestellt.

Drittens. Schließlich möchte ich mich in diesem Zu-
sammenhang für den Wiederaufbau der Karniner Brü-
cke und damit für eine schnelle Schienenverbindung

(Swinemünde)

ner Senat – nach Absprache mit Vertretern der Inselge-
meinden auf Usedom und der Stadt Swinemünde – seine
Unterstützung für dieses Projekt. Die äußerst erfolgrei-
che Usedomer Bäderbahn und sogar DB Netz unterstüt-
zen inzwischen dieses Vorhaben. Damit würde sich die
Fahrtzeit von Berlin nach Usedom oder Swinemünde
von vier auf zwei Stunden halbieren und die deutsch-pol-
nische Insel wäre wieder das, was sie einmal war: „Ber-
liner Badewanne“. Leider lehnt Bundesverkehrsminis-
ter Ramsauer weiterhin eine Unterstützung dieses
Projekts ab. Wir sollen bei der Beratung im Ausschuss
prüfen, ob der Antrag nicht um diesen Punkt erweitert
werden sollte.

Ach ja: Der zitierte Kabarettist Steffen Möller schrieb
in seinem erwähnten Grußwort: „Auf die Frage nach
meiner wahren Heimat würde ich heute sofort antwor-
ten: ,der Berlin–Warszawa-Express‘“.

Die beiden auf Frankfurt (Oder) zulaufenden Bahn-
verbindungen ab Eberswalde und ab Königs Wusterhau-
sen sind ebenfalls von Abbestellungen bedroht. Auch
hier gibt es spezifische Gründe für das unbefriedigende
Fahrgastaufkommen. Auf der Verbindung Eberswalde–
Frankfurt (Oder) verkehrt die ODEG über viele Kilome-
ter als Bummelbahn, mit Tempo 40 km/h. Auf der Strecke
Königs Wusterhausen ist die Reisegeschwindigkeit eben-
falls deutlich zu niedrig, wobei sie hier vor allem durch
die langen Wartezeiten auf den Ausweichbahnhöfen zu-
stande kommt.

Wenn schließlich die Verbindung Angermünde–Tan-
tow–Sczeczin ein zu niedriges Fahrgastaufkommen auf-
weist, dann gibt es auch hierfür gute Gründe. Auf der
Strecke zwischen der größten deutschen Stadt und der
mit 400 000 Einwohnern siebtgrößten polnischen Stadt
– übrigens Partnerstadt von Berlin-Friedrichshain-
Kreuzberg – gibt es derzeit pro Tag gerade mal zwei
durchgehende Zugverbindungen: eine mit einem durch-

(Berlin Hauptbahnhof ab Zu Protokoll gegebene Reden Sabine Leidig 7.48 Uhr)





(A) (C)


(D)(B)

11.37 Uhr). Die Letztere soll im Übrigen mit dem kom-
menden Fahrplanwechsel eingestellt werden.

Ansonsten gibt es nur sechs Nahverkehrsverbindun-
gen mit Umsteigen in Angermünde. Es ist schlicht pein-
lich, dass für die Deutsche Bahn bzw. für die deutsche
Verkehrspolitik – und analog für die polnische Seite – zu
gelten scheint: Je mehr Europa beziehungsweise je mehr
EU, desto weniger Schienenverkehrsverbindungen. Das
Hauptproblem bei dieser Verbindung ist aber in dem
Dreisatz zu sehen: Es gibt erstens zu wenig Direktver-
bindungen, zweitens zu wenige Verbindungen überhaupt
und drittens liegt bei allen Verbindungen die Reisege-
schwindigkeit (mit weniger als 60 km/h) deutlich zu
niedrig.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718430400

Die Fußballeuropameisterschaft rückt unseren Nach-

barn Polen für drei Wochen in den Mittelpunkt des me-
dialen Interesses, und manch einem wird in diesem Zu-
sammenhang erst bewusst, wie beschwerlich zumindest
teilweise die Anreise mit der Bahn ist. Wir sind der An-
sicht, dass mehr als 20 Jahre nach Öffnung der Grenzen
und acht Jahre nach dem EU-Beitritt Polens es Zeit ist,
auch im Verkehrssektor Bilanz zu ziehen.

Polen ist heute ein aufstrebendes Land. Nicht zuletzt
der Beitritt unserer Nachbarn östlich von Oder und
Neiße zur Europäischen Union hat eine Dynamik entwi-
ckelt, die viele in der alten, westlich geprägten EU nicht
für möglich gehalten haben. Die deutschen Exporte ha-
ben sich seit dem EU-Beitritt verdoppelt; Polen ist in der
Außenhandelsbilanz bei den Ausfuhren mittlerweile auf
Rang 10 und bei den Einfuhren auf Rang 12 aufgerückt.
„Handel bringt Wandel“ – sagt ein Sprichwort, und so
gesehen sind die Beziehungen zwischen Deutschland
und Polen also auf einem guten Weg.

Stärkere wirtschaftliche Beziehungen sind ohne Ver-
kehrswege nicht denkbar. Schauen wir auf den Zustand
der Verkehrswege zwischen beiden Ländern, dann zeigt
sich uns ein zweigeteiltes ambivalentes Bild. Wir stellen
nämlich fest, dass das Fernstraßennetz im deutsch-pol-
nischen Grenzgebiet in den letzten beiden Dekaden mas-
siv ausgebaut wurde. Alle geplanten Vorhaben sind fer-
tiggestellt bzw. im Bau. Welch ein Kontrast im Vergleich
zu dem Zustand der Eisenbahnstrecken, die über Oder
und Neiße führen.

Besonders drastisch wird dies an der Verbindung
Berlin–Wrocław deutlich. Mit dem Pkw ist man rund
vier Stunden unterwegs, während der Bahnreisende für
die rund 320 Kilometer fünf Stunden und 22 Minuten be-
nötigt – vor allem gibt es diese Verbindung nur einmal
am Tag. Vor 75 Jahren benötigte der Bahnfahrgast übri-
gens nur zwei Stunden und 40 Minuten für diese Strecke.

Eine mittelfristig umsetzbare Lösung könnte darin
bestehen, die „niederschlesische Magistrale“, deren
Ausbau bis 2016 erfolgen soll, für die Verbindung
Berlin–Wrocław zu nutzen. Der Schlüssel dafür ist die
Elektrifizierung der rund 94 Kilometer zwischen Cott-
bus und Görlitz. Dann ließen sich Fernverkehrszüge

zwischen Berlin und Wrocław erstmalig durchgehend
mit E-Loks bespannen, und die Fahrzeit würde um rund
zwei Stunden auf etwa dreieinhalb Stunden zusammen-
schmelzen. Damit könnten die Bahnen gegenüber dem
Pkw konkurrenzfähige Angebote etablieren. Auch bei
der Strecke Berlin–Stettin liegt noch vieles im Argen.
Zwar haben wir dank des Engagements des dortigen
Aufgabenträgers für den Nahverkehr auf der Schiene
– dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg – ein dich-
teres Angebot; jedoch werden die Züge durch Langsam-
fahrstellen und eine Elektrifizierungslücke von rund
30 Kilometern ausgebremst.

Neben infrastrukturellen Voraussetzungen fehlen uns
im Fernverkehr auf der Schiene aber auch die Angebote.
Während noch Anfang der 1990er-Jahre 15 Zugpaare
des Fernverkehrs Bahnreisen zwischen Deutschland und
Polen ermöglichten, sind es heute gerade einmal be-
scheidene sieben Zugpaare. Daran ändert auch die in
der vergangenen Woche erfreulicherweise eingeführte
neue Eurocity-Verbindung von Berlin nach Danzig
nichts. Wo Licht ist, da ist auch Schatten: Während die
neue Verbindung nach Danzig gefeiert wurde, fuhr zwi-
schen Berlin und Stettin der letzte Fernverkehrszug.

Leider müssen wir im Jahr 2012 konstatieren, dass
die Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen
der gewachsenen Bedeutung der deutsch-polnischen Be-
ziehungen nicht gerecht werden. Angesichts des mage-
ren Fernverkehrsangebots wundert es kaum, dass der
Marktanteil im Personenverkehr auf fast unbedeutende
2 Prozent abgesunken ist. Auch der Güterverkehr auf
der Schiene konnte vom wachsenden Verkehrsmarkt
nicht profitieren, was letztendlich dazu geführt hat, dass
der Marktanteil unter 20 Prozent abgesunken ist.

Sehr geehrter Herr Minister Ramsauer! Wir fordern
Sie auf: Beenden Sie das Trauerspiel beim Ausbau des
Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen! Be-
enden Sie das mittlerweile unwürdige Schwarze-Peter-
Spiel beim Abschluss eines Staatsvertrags zum Ausbau
der Strecke Berlin–Stettin! Bei gutem Willen könnte die
Strecke – wie von polnischer Seite gefordert – bis 2016
in Betrieb gehen.

Senden Sie ein Signal für gute nachbarschaftliche Be-
ziehungen und bringen Sie diesen Staatsvertrag endlich
zum Abschluss. Einigen Sie sich mit unseren polnischen
Nachbarn auch bei der Strecke Berlin–Wrocław auf eine
Ausbauvariante und bringen Sie die dazugehörigen Pro-
jekte auf den Weg, sodass auch hier spätestens 2020
endlich attraktive Angebote auf der Schiene angeboten
werden können.

Sehr geehrter Herr Minister: Für die Verbesserung
der deutsch-polnischen Bahnverbindungen wurde über
die Jahre viel angekündigt und wenig umgesetzt. Die
Zeit der Ankündigungen muss vorbei sein: Handeln Sie,
Herr Minister!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718430500

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9947 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


schüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann
haben wir das beschlossen.

Tagesordnungspunkt 28 a und b:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene
Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Helga Daub, Horst
Meierhofer, Jens Ackermann, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP

Kinder- und Jugendtourismus unterstützen
und weiter fördern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-
Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Reisen für Kinder und Jugendliche ermögli-
chen – Förderung sicherstellen und „Ak-
tionsplan Kinder- und Jugendtourismus in
Deutschland“ weiterentwickeln

– Drucksachen 17/8451, 17/8924, 17/9913 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Gabriele Hiller-Ohm
Helga Daub
Thomas Lutze
Markus Tressel

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Seifert, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Mitgliedschaft in der International Organisa-
tion of Social Tourism

– Drucksachen 17/4844, 17/9308 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gabriele Hiller-Ohm
Jens Ackermann
Dr. Ilja Seifert
Markus Tressel

Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.1)


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1718430600

Kinder- und Jugendreisen in Deutschland verdienen

unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie sind nicht nur für
die Tourismuswirtschaft bedeutsam, sondern fördern
auch die Entwicklung, die soziale Kompetenz und den
Zusammenhalt junger Menschen in unserem Land. Kin-

der- und Jugendreisen schaffen intensive Gemein-
schaftserlebnisse. Sie stärken unsere Kinder auf dem
Weg zur Selbstständigkeit. Sie bieten gute Gelegenhei-
ten, die eigene Heimat kennen- und schätzen zu lernen
sowie auch frühzeitig in Kontakt mit anderen Ländern
und Kulturen zu treten.

Wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen,
wie die Bundesregierung bereits mit erheblichen Mitteln
Fort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveran-
staltungen, die internationale Jugendarbeit, den Bau
von Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten so-
wie von Jugendherbergen unterstützt.

Wir machen uns zudem für eine noch intensivere Un-
terstützung stark: bei der Qualifizierung, bei der Vernet-
zung und Kooperation jugendtouristischer Angebote,
beim möglichen Aufbau einer Internetplattform sowie
bei der intensiveren internationalen Vermarktung.

Für Letzteres bietet das Themenjahr „Junges Reise-
land Deutschland“ der Deutschen Zentrale für Touris-
mus im kommenden Jahr einen idealen Anknüpfungs-
punkt.

Darüber hinaus wollen wir, dass die Einsatzmöglich-
keiten des neuen Bundesfreiwilligendienstes in jugend-
touristischen Einrichtungen verstärkt genutzt werden.
Auf diese neuen Möglichkeiten soll die Bundesregierung
an geeigneter Stelle hinweisen.

Im Gegensatz zu den Forderungen der SPD gibt es
noch weitere Punkte, mit denen wir auch ohne finanziel-
len Aufwand einiges bewegen können. Einige Bundes-
länder etwa lassen Reisevermittler als Organisatoren
von Klassenfahrten nicht zu. Wie kürzlich bei einer Ver-
anstaltung des Bundesforums Kinder- und Jugendreisen
e. V. deutlich wurde, wünschen sich dies aber manche
Lehrer. Da die mit der Organisation einer Klassenfahrt
verbundene Arbeit neben dem normalen Job aus ihrer
Sicht zuweilen zu aufwendig ist, hätten sie gern die Mög-
lichkeit, bei Bedarf auch auf kommerzielle Anbieter zu-
rückgreifen zu können.

Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, bei den
Bundesländern auf die positiven Aspekte der Einbezie-
hung von Reisevermittlern bei der Planung von Klassen-
fahrten hinzuweisen. Dabei geht es nicht um die Vergabe
öffentlicher Mittel für private Anbieter, sondern um eine
Unterstützung für Lehrer bei der Planung und Durch-
führung von Klassenfahrten, die ansonsten möglicher-
weise nicht stattfinden.

Das zweite Thema der heutigen Debatte ist die Forde-
rung der Linken, dass Deutschland Mitglied in der Inter-
nationalen Organisation für Sozialtourismus werden
soll. Damit soll die Möglichkeit für eine direkte Einfluss-
nahme auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus und
das Kennenlernen guter Praxisbeispiele eröffnet wer-
den.

Diese Organisation ist aber bisher vergleichsweise
wenig in Erscheinung getreten, und eine dortige Mit-
gliedschaft ist unserer Meinung nach nicht zielführend.
Schon heute engagiert sich die Bundesregierung stark
im sogenannten Sozialtourismus und fördert Familien-1) Anlage 16





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)


ferienstätten, Jugend-, Bildungs- und Begegnungsstät-
ten, Jugendherbergen sowie die internationale Jugend-
arbeit. Eine Auflistung der wichtigsten Punkte können
Sie gerne in unserem Antrag nachlesen.

Außerdem gibt es neben den aus öffentlichen Mitteln
und von gemeinnützigen Organisationen unterstützten
Angeboten für die genannten Zielgruppen in Deutsch-
land zahlreiche attraktive und preisgünstige Quartiere.
Dies gilt insbesondere für den ländlichen Raum, dessen
Stärkung ein Schwerpunkt unserer tourismuspolitischen
Arbeit ist. So gibt es eine Vielzahl sehr attraktiver, natur-
naher, sehr persönlich betreuter Urlaubsangebote auf
dem Bauernhof, die noch dazu häufig sehr preisgünstig
sind. Das gilt nicht nur für die Übernachtung, sondern
auch für das Essen und andere Dienstleistungen.

Anfang dieser Woche haben wir – die Koalitionsfrak-
tionen – einen Kongress mit 500 Teilnehmern zum
Thema „Ländliche Räume, regionale Vielfalt“ durchge-
führt. Dabei haben wir uns auch intensiv mit der Frage
beschäftigt, wie wir die ländlichen Räume als Reiseziel
stärken können. Das hervorragende Preis-Leistungs-
Verhältnis der oft einzigartigen touristischen Angebote
ist sicher ein wichtiges Argument dabei. Gerade hier
sind Urlauber und Familien mit begrenztem Budget gut
aufgehoben.

Außerdem möchte ich auf die ausgezeichneten und
preiswerten Angebote der Bundesarbeitsgemeinschaft
Familienerholung hinweisen, die vom Katholischen und
dem Evangelischen Arbeitskreis für Familienerholung
zusammen mit dem Paritätischen Arbeitskreis für Fami-
lienerholung gebildet werden. Die Vorsitzende des Ka-
tholischen Arbeitskreises ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker aus unserer Fraktion, die Vorsit-
zende des Evangelischen Arbeitskreises – und gegen-
wärtig auch der Bundesarbeitsgemeinschaft – ist unsere
SPD-Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller.

Zentrales Anliegen ist es dort, Familien mit vielen
Kindern einen preiswerten Urlaub in familienfreundli-
chen Unterkünften anzubieten und den Zusammenhalt in
den Familien zu stärken. Dafür gibt es in Deutschland
120 gemeinnützige Familienferienstätten, die seit den
50er-Jahren entstanden sind. In diesen Einrichtungen
gibt es immerhin rund drei Millionen Übernachtungen
pro Jahr.

Familienerholung wendet sich an alle Familien, doch
werden finanziell benachteiligte und kinderreiche Fami-
lien, Alleinerziehende sowie Familien mit behinderten
Kindern oder behinderten Angehörigen besonders be-
rücksichtigt. Angebote für Familienberatung, zur Stär-
kung der Familienkompetenz und zur gesundheitlichen
Prävention spielen dabei heute eine große Rolle. Bau
und Renovierung von Familienferienstätten werden im
Übrigen ebenfalls bereits aus dem Bundeshaushalt ge-
fördert in Kofinanzierung mit den Bundesländern und
den Trägern.

Statt Geld für eine nicht zielführende Mitgliedschaft
in einer internationalen Organisation auszugeben, soll-
ten wir lieber als Bundestagsabgeordnete diese Fami-
lienferienstätten unterstützen, die sich manchmal noch

etwas schwertun bei der Vermarktung und noch lange
nicht allen bekannt sind, die als Gäste infrage kommen.
Wenn sich in Ihrem Wahlkreis eine solche Einrichtung
befindet, informieren Sie sich doch einmal vor Ort über
deren Arbeit, weisen Sie mit auf diese Angebote hin und
machen Sie beispielsweise bei eigenen Besuchen in
Schulen und Kindergärten auf diese besonderen und
preisgünstigen Familienerholungsangebote aufmerk-
sam. Damit könnten wir alle einen wichtigen Beitrag
leisten und gezielt helfen.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1718430700

Heute debattieren wir hier im Plenum des Deutschen

Bundestages innerhalb von gut vier Monaten zum drit-
ten Mal über das Thema Kinder- und Jugendtourismus.
Als Koalitionsfraktionen haben wir mit unserer Antrags-
initiative das Thema auf die Tagesordnung der Politik
hier im Bundestag gesetzt. Wenn wir heute zum dritten
Mal über dieses Thema beraten, dann zeigt dies, dass
der Kinder- und Jugendtourismus auch für die Touris-
muspolitik im Deutschen Bundestag eine hohe Bedeu-
tung hat. Insofern ist es den Sozialdemokraten nicht zu
verübeln, dass auch sie mit einem eigenen Antrag hin-
terher gekommen sind.

Bereits bei der ersten Beratung über den Antrag der
Koalitionsfraktionen der christlich-liberalen Koalition
hier im Plenum haben wir auf die Bedeutung des Kin-
der- und Jugendtourismus für den Tourismus insgesamt
hingewiesen. Er umfasst einen Jahresumsatz von etwa
12 Milliarden Euro. Kinder- und Jugendreisen machen
einen Anteil von 20 Prozent des Inlandstourismus aus.
Allein die Jugendherbergen verzeichnen über 10 Millio-
nen Übernachtungen und einen Umsatz von insgesamt
über 1 Milliarde Euro an Wertschöpfung. Dies erlebe
ich gerade in meinem Wahlkreis Nordfriesland/Dithmar-
schen-Nord, der mit 13 Jugendherbergen so viele
Jugendherbergen umfasst wie kein anderer Wahlkreis in
Deutschland.

Eigentlich waren wir uns auch in vielen Punkten, in
denen wir seitens der Politik den Kinder- und Jugend-
tourismus unterstützen können, einig. Niemand von uns
würde sagen: Das wollen wir nicht unterstützen.
Schließlich geschieht ja auch bereits viel an Unterstüt-
zung, unsere Bundesregierung leistet diese Unterstüt-
zung in vielfältiger Form. Das gilt für die internationa-
len Jugendreisen, den Jugendaustausch, die Förderung
des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen
Jugendaustausches und für die deutsch-israelischen
Jugendbegegnungen.

Wenn im kommenden Jahr die Deutsche Zentrale für
Tourismus das Themenjahr „Junges Reiseland Deutsch-
land“ weltweit vermarktet, dann finanzieren wir dies
auch aus Bundesmitteln, die wir auf über 27 Millionen
Euro aufgestockt haben. Mit unserem Antrag zeigen wir
aber auch die Aspekte auf, wo wir noch Handlungsnot-
wendigkeiten sehen.

Ich will nicht alles wiederholen, was wir bereits vor
vier Monaten debattiert haben. Schließlich hat sich in
dieser Hinsicht an den Sachverhalten selbst ja auch
nichts geändert: dass wir mehr für Qualitätssicherung

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingbert Liebing


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und Qualitätssteigerung tun müssen, dass es um Klassi-
fizierung geht, aber auch darum, dass die Bundesländer
in ihrer Zuständigkeit einiges tun können, zum Beispiel
zur Steigerung des pädagogischen Profils von Klassen-
fahrten.

In den vergangenen Wochen nach Vorlage unseres
Antrages und in der Ausschussberatung haben wir über
einige neue Aspekte diskutiert. Nachdem wir unseren
Antrag veröffentlicht hatten, sind uns viele Anregungen
zugegangen, was man noch alles mehr tun könnte – vor
allem, wo man noch mehr Geld ausgeben könnte. Vieles
davon wäre wünschenswert, aber wir alle müssen uns
nach der finanziell knappen Decke strecken. Deshalb
haben wir bewusst davon abgesehen, in unseren Antrag
einen „Wunschkatalog“ aufzunehmen, ohne dass die
darin enthaltenen Maßnahmen finanziell abgesichert
wären. Dies kann nur in den Haushaltsberatungen selbst
geschehen. Deshalb sind die entsprechenden Passagen
im Antrag der Sozialdemokraten zwar nett zu lesen, aber
heute schlichtweg verfehlt. Wir sind eben nicht in den
Haushaltsberatungen.

Wir haben in den vergangenen Wochen auch über die
unterschiedlichen Aufgaben und die wechselseitige Ab-
grenzung zwischen gewerblichen und gemeinnützigen
Anbietern im Kinder- und Jugendtourismus gesprochen.
Sicherlich gibt es hier Konkurrenz, aber jeder hat eben
seine speziellen Geschäftsfelder, seine Profile und seine
Aufgaben. Damit hat auch jeder seine eigene Berechti-
gung. Ich halte überhaupt nichts davon, diese Anbieter
gegeneinander auszuspielen. Jeder hat seine Funktion
und wird dem gerecht.

Dabei ist auch klar, dass die finanzielle Förderung
mit staatlichen Mitteln sich darauf bezieht, dass beson-
dere im Gemeinwohl liegende Aufgaben wahrgenommen
werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies in ers-
ter Linie die gemeinnützigen Anbieter sind. Insofern ist
jede Sorge unbegründet, wir wollten in irgendeiner
Form Mittel umschichten von gemeinnützigen zu ge-
werblichen Unternehmen, wenn wir auch deren spezielle
Rolle in diesem touristischen Segment nennen und aner-
kennen.

Unser Antrag beschreibt das Thema, nennt die
Herausforderungen, vor denen der Kinder- und Jugend-
tourismus steht, und zeigt Handlungsoptionen auf, wie
wir unterstützen und helfen wollen. Dabei sind unsere
Möglichkeiten auf Bundesebene allein begrenzt, wir
brauchen auch die Bundesländer, die gerade hier in viel-
fältiger Form in der Verantwortung stehen. Insofern
geht es auch um eine Gemeinschaftsaufgabe zur Förde-
rung des Kinder- und Jugendtourismus.

Der Antrag der Fraktionen der christlich-liberalen
Koalition wird diesem Anliegen gerecht. Der Tourismus-
ausschuss hat dem Antrag mehrheitlich zugestimmt, und
ich bitte auch heute hier im Plenum darum, unserem An-
trag zuzustimmen.

Mit den beiden Anträgen zum Thema Kinder- und
Jugendtourismus verhandeln wir heute auch über den
Antrag der Fraktion Die Linke, Deutschland möge
Mitglied in der „International Organisation of Social

Tourism“, OITS, werden. Diesen Antrag werden wir ab-
lehnen.

Schon heute engagiert sich die Bundesregierung
stark im sogenannten Sozialtourismus. Familienfe-
rienstätten, Jugend-, Bildungs- und Begegnungsstätten,
Jugendherbergen sowie die internationale Jugendarbeit
fördern wir. Darauf habe ich bereits hingewiesen. Hinzu
kommen Hilfen auf Landes- und Kommunalebene für
Familien mit geringem Einkommen. Neben den aus den
öffentlichen Mitteln und von gemeinnützigen Organisa-
tionen unterstützten Angeboten gibt es für diese Ziel-
gruppe in Deutschland eine Vielzahl attraktiver und
preisgünstiger Quartiere. Dazu gehört auch der Urlaub
auf dem Bauernhof. Wir sehen nicht, wie eine Mitglied-
schaft in dieser Organisation den Menschen, um die es
doch eigentlich geht, tatsächlich konkret helfen soll.

Lassen Sie mich aber auch gern eine persönliche An-
merkung anfügen: In der Begründung zum Antrag der
Fraktion Die Linke wird Bezug genommen auf den
Ethikkodex der Welttourismusorganisation UNWTO, in
dem das „universelle Recht auf Tourismus“ angespro-
chen wird. Mit Verlaub: Die Partei Die Linke steht in der
Nachfolge der Parteien PDS und SED. Diese Partei be-
teiligt sich immer wieder gern an der Verherrlichung der
SED/DDR-Vergangenheit – und dazu gehört auch, dass
die Regierung das eigene Volk eingesperrt hat. Damals
gab es überhaupt kein Recht auf Tourismus und freies
Reisen, Reisefreiheit war ein Fremdwort. Von dieser
Partei braucht sich niemand etwas über das „Recht auf
Tourismus“ sagen zu lassen.

Auch aus diesem Grunde bitte ich um Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1718430800

Ich freue mich, dass wir uns heute erneut mit Kindern

und Jugendlichen befassen, genauer: mit ihren Chancen
zu reisen und ihren Horizont zu erweitern.

Die vorliegenden Anträge haben viel Bewegung in
das Themenfeld gebracht. Das allein reicht aber nicht.
Wir müssen die entstandene Dynamik für gutes politi-
sches Handeln nutzen.

Schon die Titel der Anträge machen deutlich, wie ver-
schieden die politischen Ansätze sind. Ihnen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, geht es
vor allem um die Tourismuswirtschaft, die sich den
Markt der Kinder- und Jugendreisen stärker erschließen
soll. Natürlich wollen auch wir, dass der starke Aufwind
im Deutschlandtourismus anhält und wir in diesem Jahr
die Schallmauer von 400 Millionen Übernachtungen
durchbrechen. Der SPD kommt es jedoch in erster Linie
darauf an, Kindern und Jugendlichen das Reisen zu er-
möglichen. Wir wollen allen jungen Menschen die
Chance geben, zu reisen, unser Land und andere Kultu-
ren kennenzulernen, toleranter und selbstbewusster zu
werden. Dass Reisen die persönliche Entwicklung
stärkt, wissen wir alle aus eigenen Kindheitserfahrun-
gen.

Reisen bildet – und die Bildung und Entwicklungs-
chancen unserer Kinder sind uns viel wert. Dazu gehört,

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Hiller-Ohm


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das nötige Geld bereitzustellen, um qualitativ hochwer-
tige Reiseangebote für Kinder und Jugendliche zu unter-
stützen. Gemeinnützige und jugendverbandliche Träger
stehen in besonderem Maße für pädagogisch wertvolle
Angebote, von denen auch Kinder aus Familien profitie-
ren, die kaum Geld für einen Urlaub übrig haben.

Die Förderung aus dem Kinder- und Jugendplan des
Bundes ist deshalb unverzichtbar. Sozial benachteiligten
Kindern und Jugendlichen, jungen Menschen mit Behin-
derung und mit Migrationshintergrund wird bei der För-
derung besonderes Augenmerk gewidmet.

Sehr bedauerlich ist, dass CDU/CSU und FDP in die-
sem Jahr die Mittel für Jugendherbergen, Jugendbil-
dungs- und Begegnungsstätten um 500 000 Euro gekürzt
haben. Dass Sie, meine Damen und Herren Koalitio-
näre, dies in Ihrem Antrag auch noch falsch darstellen
und verschweigen, wirft ein schlechtes Licht auf Ihren
Antrag.

Wir haben uns bereits im letzten Jahr im Haushalts-
ausschuss gegen die Kürzungen gestellt. Wir fordern Sie
auch jetzt mit unserem Antrag auf: Nehmen Sie die Kür-
zungen im neuen Haushalt zurück! Damit können Sie
mehr für Kinder- und Jugendreisen tun als mit ihrem
wortreichen, aber schlappen Antrag. Zwischen Reden
und Handeln liegen Welten bei Ihnen. Sie sind seit 2009
in Regierungsverantwortung und hätten schon seit drei
Jahren etwas tun können – vor allem für die Familien
mit Kindern und Jugendlichen, die sich aus dem eigenen
Geldbeutel keine Reise leisten können.

Ich erinnere Sie gerne daran: Die SPD war es, die
sich im vorigen Jahr im Vermittlungsausschuss dafür
eingesetzt hat, dass vom Bildungs- und Teilhabepaket
auch Familien profitieren, die Kinderzuschlag und
Wohngeld beziehen. Mit Erfolg: 500 000 Kinder zusätz-
lich haben Anspruch auf die monatlichen 10 Euro. Diese
können für Ferienfreizeiten angespart werden. Sie hät-
ten das am liebsten verhindert. Gut, dass Sie an uns
nicht mehr vorbeikommen im Bundesrat.

Wir haben Ende April beim Polittalk mit den Reise-
anbietern und Trägern der Kinder- und Jugendarbeit
ausführlich über Kinder- und Jugendreisen diskutiert.
Es wurde von allen Seiten bestätigt, dass unsere Forde-
rung sinnvoll ist, den 2002 von Rot-Grün aufgelegten
„Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutsch-
land“ weiterzuentwickeln. Wir brauchen dringend
neuen Schwung und müssen den Aktionsplan thematisch
breiter aufstellen. Ein zentraler Baustein ist, Betreuerin-
nen und Betreuer optimal zu qualifizieren und auch für
das Problem sexueller Gewalt zu sensibilisieren. Wich-
tig ist ebenfalls, gesundheitsfördernde Konzepte durch-
zusetzen. Gesundes Essen und viel Bewegung sind zu
fördern. Die Jugendaktion „GUT DRAUF“ der Bundes-
zentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet eine gute
Grundlage.

Das Ziel ist klar: Es muss überall gewährleistet sein,
dass Kinder und Jugendliche in guten Händen sind und
das Kindeswohl an allen Stellen berücksichtigt wird.

Wir sagen der Bundesregierung ganz deutlich: Setzt
euch dabei mit den Trägern zusammen. Dort sind viel

Sachverstand und praktische Erfahrung vorhanden, die
die Politik nutzen sollte.

Die Regierung muss auch die Länder ins Boot holen.
Wir müssen es schaffen, dass alle Länder eigene Ak-
tionspläne für den Kinder- und Jugendtourismus ableiten
und umsetzen. Hier haben die meisten Nachholbedarf.

Der Dachverband Bundesforum Kinder- und Jugend-
reisen hat ebenfalls die SPD-Forderung begrüßt, eine
interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten, um beste-
hende Kompetenzen zusammenzuführen.

Wir fordern die Regierung zudem auf: Gebt den Ver-
einen und Verbänden einen zentralen Ansprechpartner!
Sie dürfen sich nicht länger im Labyrinth der verschie-
denen Ministerien verirren.

Das sind allesamt Punkte, die die Koalition verschla-
fen hat, auch in ihrem Antrag. Wir lehnen diesen deshalb
ab.

Fördern Sie Kinder- und Jugendreisen richtig, und
unterstützen Sie unseren Antrag! Er geht weit über die
Prüfaufträge des Koalitionsantrags hinaus.

Ich hoffe, dass auch Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Grünen, sich noch anschließen. Denn die vorge-
brachten Gründe für eine Enthaltung zu unserem Antrag
sind nicht stichhaltig. Sie schreiben in der Beschluss-
empfehlung, dass wir nichts zur Datenlage sagen. Das
stimmt nicht. Wir fordern, dass bundesländerübergrei-
fend eine einheitliche statistische Erfassung für Kinder-
und Jugendreisen geschaffen wird. Wir wollen aktuelle,
zuverlässige Zahlen auf dem Tisch haben. Und die von
Ihnen gewünschte konzertierte Aktion zur Verbesserung
der Qualität und Qualifizierung wollen wir ja gerade
mit der Fortschreibung des Aktionsplans erreichen – ge-
meinsam mit den Fachleuten der Träger. Sie können sich
unserem Antrag also bedenkenlos anschließen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich freue
mich über Ihre Unterstützung des Antrags. Sie selbst ha-
ben zum heutigen Debattenpunkt Ihren Antrag zur Mit-
gliedschaft der Bundesregierung in der International
Organisation of Social Tourism, OITS, aufsetzen lassen.
Die OITS verfolgt international das Thema Sozialtouris-
mus. Darüber können sicher gute Praxisbeispiele aus-
getauscht werden, wie mehr Menschen am Tourismus
teilhaben können. Das Ziel, dass alle Menschen am Tou-
rismus teilhaben können, haben wir in unserer Regie-
rungszeit auch in den Tourismuspolitischen Leitlinien
der Bundesregierung beschlossen.

Wir denken, dass Deutschland in der OITS mit dem
Bundesforum Kinder- und Jugendreisen bereits gut ver-
treten ist. Da kaum andere staatliche Stellen Mitglied
der OITS sind, scheint die Beteiligung der deutschen Re-
gierung verzichtbar. Deshalb enthalten wir uns bei der
Abstimmung über diesen Antrag.


Helga Daub (FDP):
Rede ID: ID1718430900

Vorab: Es war wichtig und richtig, sich in den ver-

gangenen Monaten so intensiv mit dem Thema Kinder-
und Jugendreisen zu beschäftigen. Darüber sind sich die
Koalitionsparteien einig. Die breite Resonanz auf un-

Zu Protokoll gegebene Reden





Helga Daub


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sere Beratungen in den Reihen der Träger dieser Reisen
zeigt die Relevanz des Themas.

Von den vielen Stellungnahmen aus dem Nichtregie-
rungsbereich greife ich das Bundesforum Kinder- und
Jugendreisen heraus. Das Forum hat in seiner neuerli-
chen Stellungnahme recht mit seiner Feststellung – ich
zitiere –:

Kinder- und Jugendreisen werden in Deutschland
durch eine vielfältige Trägerlandschaft mit unter-
schiedlichen Wertevorstellungen und unterschiedli-
chen Zielen veranstaltet. Darunter sind gemeinnüt-
zige Anbieter, Organisationen mit gewerblicher
Firma und gemeinnützigem Verein sowie gemein-
nützige Anbieter. Unabhängig von der Gesell-
schaftsform müssen beide Bereiche wirtschaftlich
arbeiten.

Damit sind die Rahmenbedingungen für unsere Bera-
tungen eigentlich hervorragend beschrieben. Für die
FDP fasse ich zusammen, welche Ansprüche wir an den
Kinder- und Jugendtourismus haben: Wir wollen Viel-
falt. Wir wollen Wettbewerb. Wir wollen Qualität. Wir
wollen Wirtschaftlichkeit. Wir wollen aber keine mehr
oder weniger willkürlichen Abgrenzungen zwischen den
Veranstaltern.

Im Sinne einer besseren Zusammenarbeit aller Anbie-
ter von Kinder- und Jugendreisen wünschen wir uns im
Übrigen auch eine weitere Öffnung des Bundesforums
Kinder- und Jugendreisen e.V. für gewerbliche Anbieter.
Wichtig ist für uns: Auf die Qualität der Angebote kommt
es an. Und da gelten für Kinder- und Jugendreisen na-
türlich andere Kriterien als für Angebote des Massen-
tourismus. Für uns gibt da unser Koalitionsantrag am
meisten her. Wir bedauern, dass sich dafür eine breitere
und fraktionsübergreifende Akzeptanz nicht herstellen
ließ.

Der SPD-Antrag bringt uns – wie schon in den voran-
gegangenen Diskussionen und Debatten gesagt – nicht
weiter. Wieder einmal wollen die Sozialdemokraten ihre
altbekannten und längst verworfenen Instrumente aus-
packen. Hier soll ein Haushaltstitel angehoben werden,
dort sollen Bundesmittel erhöht werden, Statistiken er-
stellt und neue bürokratische Positionen geschaffen
werden. Das alles kostet ein Heidengeld und bringt
nichts für die Kinder- und Jugendlichen.

Was den Antrag der Fraktion Die Linke angeht, kann
ich nur sagen: Jeder nach seinen Möglichkeiten! Wir pa-
cken die Dinge an, formulieren konkrete Vorschläge und
bringen die Beteiligten an einen Tisch. Die Linke fordert
die Mitgliedschaft in einer weiteren internationalen
Organisation, in der es um den sozialen Tourismus geht.
Na prima, die werden unsere Probleme schon lösen,
wenn wir den jährlichen Mitgliedsbeitrag bezahlen.

Nein, unverändert bleibt richtig: Kinder und Jugend-
liche werden als bedeutende Zielgruppe für die Reise-
branche häufig unterschätzt. Beim Reisen entwickeln die
jungen Menschen den Blick für Neues und anderes. Nie
mehr im Leben ist der Mensch so lernfähig und aufnah-
mebereit wie gerade in der Jugend, und gerade auch
deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugendtouris-

mus weiterhin im Fokus zu behalten. Dass wir das tun
wollen, ist aber längst klar. Die Initiative der DZT be-
weist das. Insgesamt hilft die öffentliche Hand an vielen
Stellen bereits heute bei notwendigen Finanzierungen.

Ich schließe mich dem Lob des Deutschen Jugendher-
bergswerks in seiner Stellungnahme zur Ausschussbera-
tung ausdrücklich an:

Mit MeckPomm, einem speziellen Angebot für Klas-
sen- und Jugendreisen aus Mecklenburg-Vorpommern,
gibt es ein Beispiel dafür, was zum Beispiel auf Länder-
ebene noch alles getan werden kann. An diesem Beispiel
könnten sich auch andere Bundesländer orientieren und
evaluieren, welche touristischen Angebote für Kinder
und Jugendliche vorhanden sind und wo Verbesserun-
gen möglich sind. „Action am Strand“, Rangertouren im
Wald oder „Paddeln statt Pauken“ sind Ideen, die sich
nicht nur mit MeckPomm umsetzen lassen. Man muss
eben nur einmal genau hinsehen.

Ich will mich an dieser Stelle nicht wiederholen und
verweise auf unsere früheren Diskussionen. Richtig
bleibt: Die Bundesregierung wird diesen wichtigen tou-
ristischen Bereich weiter unterstützen; finanziell – aber
auch dort, wo es gilt, die ausgetretenen Pfade zu verlas-
sen und Neues zu wagen. Aber Gießkannenpolitik à la
SPD oder neue Mitgliedschaften in unbekannten Orga-
nisationen, wie von der Linkspartei gefordert, bringen
uns auch beim Kinder- und Jugendtourismus nicht wei-
ter. Gute Ideen sind gefragt, und die waren in dem be-
reits beschlossenen Koalitionsantrag längst enthalten.
Wir sehen deswegen immer noch keinen Grund, dem An-
trag der SPD oder dem Antrag der Linkspartei zuzustim-
men, und werben für unseren eigenen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718431000

Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag der Linken,

in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, Mitglied
in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus
zu werden, ab. In der Begründung heißt es: „Schon jetzt
engagiere sich die Bundesregierung stark im so genann-
ten Sozialtourismus.“ Sie verwies auch auf „die Gefahr
eines Subventionswettlaufs zulasten sich selbst tragen-
der Angebotsstrukturen.“ Siehe Drucksache 17/9308.
Was damit gemeint sein könnte, erfuhren die Zuschauer-
rinnen und Zuschauer der Sendung „Panorama“ am
7. Juni 2012 in der ARD: „Allgäu, Haus am See, Dop-
pelzimmer ab 9 Euro die Nacht. Oder Häuschen für
6 Personen in Italien, 20 Euro die Nacht für alle. Und
hier: Eine Nacht im bayerischen Schloss Hohenaschau
ab 7 Euro 80. Nicht schlecht, was? Buchen kann man
diese sagenhaft günstigen Urlaube allerdings nur, wenn
man etwa Beamter oder Angestellter der Bundesverwal-
tung ist. Zum Beispiel Diplomaten, Zöllner oder Finanz-
oder Ministerialbeamte. … Kampen auf Sylt. Traum-
hafte Landschaft, nur leider für Normalverdiener fast
unbezahlbar. Oft kosten Ferienwohnungen in Strand-
nähe mehr als 100 Euro am Tag, es sei denn man ist Be-
amter oder Angestellter der Bundesverwaltung. Wie hier
in Kampen finden sich auf der Insel so einige preiswerte
Domizile für Staatsdiener. Diese Ferienwohnung zum
Beispiel ist schon für ganze 6,60 Euro pro Nacht und

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


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Person zu haben. Da ist die Erholung nur ein Grund
nach Sylt zu fahren.“

Seit 52 Jahren organisiert das Sozialwerk „Bund“
mit millionenschweren direkten und indirekten Zuschüs-
sen preiswerte Reisen für Bundesbeamte, unabhängig
von deren Einkommen und sozialer Bedürftigkeit. Natür-
lich fehlt dann das Geld an anderer Stelle, zum Beispiel
für dringend notwendige Investitionen in den Kinder-
und Jugenderholungszentren, in Jugendherbergen oder
für den Jugendaustausch in Richtung Osteuropa. Auch
die wenigen sozial wirklich bedürftigen Familien, die
mal Urlaub in den von Bund bzw. einigen Ländern ge-
förderten Familienheimstätten machen dürfen, würden
sich über solche Konditionen sehr freuen. Es würde sich
also schon lohnen, wenn die Bundesregierung gemäß ei-
genen Worten zielgerichtet fördert und nicht mit der
Gießkanne die Steuermittel verteilt. Und es würden sich
dann auch die 4 000 Euro für den jährlichen Mitglieds-
beitrag in der Internationalen Organisation für Sozial-
tourismus finden. Ich meine, es wäre gut angelegtes
Geld, denn der Erfahrungsaustausch mit den rund
140 Mitgliedern, darunter die Staaten Griechenland,
Italien, Polen, Belgien, Frankreich, Schweiz, Türkei,
Portugal, Spanien und Mexiko, in dieser 1963 gegrün-
deten Organisation käme auch der Entwicklung des Tou-
rismus für Kinder und Jugendliche, für Menschen mit
Behinderungen und finanzschwachen Familien in
Deutschland zugute. Ein Drittel der Kinder in Deutsch-
land – dem „Reiseweltmeister“ – kann nicht in den Ur-
laub fahren. Tendenz steigend! Es sind vor allem finan-
zielle, aber auch bauliche und kulturelle Barrieren. Das
ist kein Problem, welches sich durch die Selbstheilungs-
kräfte des Marktes lösen lässt. Hier ist die Politik ge-
fragt. Auch und gerade für diese Kinder und Jugendli-
chen sind Reisen zur Förderung von Bildung, Erholung,
Gesundheit und Weltanschauung wichtig.

Welche Kenntnisse die Bundesregierung zur realen
Situation in diesem Bereich hat, zeigt sich in der Antwort
der Bundesregierung vom 7. Februar 2012 auf meine
wiederholten Fragen zu Kinder- und Jugendreisen für
alle, Drucksache 17/8637, Seite 46/47. Hier teilt die
Bundesregierung, vertreten durch ihren Staatssekretär
Dr. Bernhard Heitzer, achtmal in ähnlichen Formulie-
rungen mit: „Der Bundesregierung liegen keine Er-
kenntnisse vor. Entsprechende Daten werden nicht erho-
ben.“ Und zur Bewertung der Tatsache, dass ein Drittel
aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland aus fi-
nanziellen Gründen keine Urlaubsreise mehr machen
können, antwortet dieser Staatssekretär – Drucksache
17/8637, Seite 48 –: „Auch Menschen mit gesundheitli-
chen, sozialen oder finanziellen Einschränkungen sollen
reisen können. Über die Nichtteilnahme von Kindern
und Jugendlichen an Urlaubsreisen aus finanziellen
Gründen liegen der Bundesregierung keine Primärerhe-
bungen vor.“

Ich möchte Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie das
wirkliche Leben ist, und dazu aus dem Schreiben des Be-
zirksamtes Pankow von Berlin an das BDP-Integra-

tionsprojekt e.V., BDP – Bund Deutscher PfadfinderInnen,
vom 6. Februar 2012 zitieren: „Leider muss ich Ihnen mit-
teilen, dass der Bezirk Pankow in den Haushaltsjahren
2012 und 2013 keine Leistungen der Kinder- und Jugend-
erholung im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 5 SGB VIII mehr er-
bringen kann. Unter dieses Leistungsangebot fallen
auch die behindertenbedingten Mehrkosten bei den Er-
holungsreisen, die in Ihrer Trägerschaft durchgeführt
werden.“ Und das ist kein Einzelfall, sondern die Regel
in den Kommunen infolge ihrer Haushalts- und Finanz-
politik. Deswegen fordert die Linke unter anderem eine
Fortschreibung des Aktionsplanes Kinder- und Jugend-
tourismus in Deutschland durch Bund, Länder sowie die
Betroffenen und ihre Interessenverbände; deswegen for-
dert die Linke, dass eine Klassenfahrt pro Jahr in allen
Altersstufen Pflichtteil der schulischen Bildung wird,
und deswegen fordert die Linke eine stärkere Förderung
von Familienurlauben und -freizeiten. Auch deswegen
wird die Linke als Zeichen des guten Willens zur Zusam-
menarbeit auf diesem Gebiet nicht gegen den Koali-
tionsantrag stimmen und dem SPD-Antrag zustimmen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718431100

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-

schusses für Tourismus auf Drucksache 17/9913. Unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8451 mit dem
Titel „Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und
weiter fördern“. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen waren SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, die Linke hat sich enthal-
ten.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8924 mit dem Titel
„Reisen für Kinder und Jugendliche ermöglichen – För-
derung sicherstellen und ‚Aktionsplan Kinder- und Ju-
gendtourismus in Deutschland‘ weiterentwickeln“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Ge-
genstimmen von SPD und Linken.

Tagesordnungspunkt 28 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Mitgliedschaft in der Interna-
tional Organisation of Social Tourism“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9308, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/4844 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Die SPD hat sich enthalten. Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke waren dagegen, die Koalitionsfraktionen da-
für.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


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Tagesordnungspunkt 31:

Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Menschenrechte in Zentralasien stärken

– Drucksache 17/9924 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1718431200

Die Regionen Zentralasiens und des Kaukasus sind

seit dem Zerfall der Sowjetunion fast traditionell ein au-
ßenpolitisches Randthema der Europäischen Union,
aber auch Deutschlands. Oftmals richtet sich unser prü-
fender Blick zu unseren östlichen Partnern nur, wenn
Großevents wie die Fußballeuropameisterschaft in der
Ukraine oder ein großes europäisches Event wie der
Eurovisioncontest in Aserbaidschan gastieren.

Dabei ist die Nichtbeachtung dieser Weltregion für
unsere nationalen wirtschaftlichen Interessen und de-
mokratischen Ansprüche nahezu sträflich, befindet sich
doch eine Vielzahl von Rohstoffen, Handelswegen und
geostrategischen Ansätzen in der Region, die Deutsch-
land und Europa besser im Blick haben müssen.

Zudem ist Deutschlands Engagement im Bereich der
Verbesserung der Menschenrechte gefragt. Gerade die
Regierungen der zentralasiatischen Länder – Kasach-
stan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbe-
kistan – sind für die Missachtung der Menschenrechte
bekannt. In einigen Ländern wie Usbekistan und Turk-
menistan hat sich die Situation seit dem Ende der So-
wjetunion sogar noch verschlechtert. Turkmenistan gilt
als eines der repressivsten Länder der Welt. Kasachstan
wird immer noch von einem Spitzenpolitiker der ehema-
ligen Sowjetunion, Nursultan Nasarbajew, regiert. Die
aktuelle Regierung Kirgisiens kam vor zwei Jahren an
die Macht und versprach Reformen. Bis jetzt hatte der
Menschenrechtsschutz in dem Land jedoch weiter keine
Priorität.

Das untergeordnete Interesse der EU an dieser Welt-
region zeigt auch, dass nur Deutschland das einzige
Land innerhalb der Europäischen Union ist, das in allen
fünf zentralasiatischen Staaten Botschaften unterhält.
Zudem ist Deutschland im Rahmen der EU der größte
bilaterale Geldgeber. Wir genießen in Zentralasien ei-
nen sehr guten Ruf als ehrlicher Makler. Trotz unseres
im Vergleich zu unseren EU-Partnern starken Engage-
ments bleiben auch hier die wechselseitigen Interessen
untereinander diffus – jeder gibt sich offen, aber nie-
mand weiß so recht, was durch die Tür kommen wird.
Um diesem Missstand entgegenzuwirken, hat die
Bundesregierung kürzlich im Rahmen der EU-Zentral-
asienstrategie darauf gedrungen, eine Vielzahl von An-
geboten an die Länder Zentralasiens zu formulieren. Die
Chancen, den deutschen Einfluss und damit auch unsere
positiven Standards nachhaltiger in die Region einzu-
bringen, sind gegeben. Nachdruck ist deshalb mehr

denn je gefordert, denn alle Länder Zentralasiens sind
an einer intensiven Zusammenarbeit mit Deutschland
interessiert.

Klar ist, sollten wir unser Engagement erhöhen, wer-
den wir auch eine nachhaltigere Menschenrechtspolitik
in Zentralasien erreichen. Faire Zusammenarbeit und
Ehrlichkeit sind Tugenden, die die Regierungen dort
verstehen, denn noch befinden sich die jungen Staaten
des Kaukasus und Zentralasiens im schwierigen Prozess
des Übergangs zur Demokratie. Aus diesem Grund soll-
ten wir klar in der Analyse der Probleme sein, um die de-
mokratische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in den
nächsten Jahren zu verbessern.

Eines der Hauptprobleme der gesamten Region sind
nach wie vor die wirtschaftliche Situation sowie auf-
flammende ethnisch definierte Konflikte – in Nagorni-
Karabach, Abchasien, Südossetien und anderen Teilen
des Kaukasus und Zentralasiens.

Die bleibend labile Sicherheitslage in Zentralasien
ist symptomatisch für die mangelnde soziale, wirtschaft-
liche und politische Entwicklung in den Staaten der ehe-
maligen Sowjetunion, die sich sowohl mit wachsender
politischer Unzufriedenheit im Innern als auch mit
immer häufigeren Scharmützeln in den Grenzgebieten
konfrontiert sehen. Eine Bedrohung stellt zudem auch
der Drogenhandel – insbesondere mit Opium – dar, doch
handelt es sich dabei nicht um die bedeutendste Gefähr-
dung für die Sicherung einer friedlichen Entwicklung.

In dieser schwierigen Gemengelage entwickeln sich
viele Staaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten
zu mehr oder weniger demokratischen Strukturen. Nicht
alles ist perfekt, doch die Richtung stimmt für mich in
kaukasischen Ländern wie Armenien, Georgien und mit
mehr Abstrichen auch Aserbaidschan, vielleicht sogar
in Abgrenzung zu Zentralasien im gesamten Kaukasus.

Gerade bei meiner Tätigkeit als Wahlbeobachter der
OSZE bei den Wahlen in Armenien hat sich gezeigt, dass
die demokratischen Spielregeln geachtet werden und die
Umsetzung von Menschenrechten auch bei der Regie-
rung nicht nur Lippenbekenntnis ist. Es lohnt jedoch
auch ein kurzer Blick auf die anderen Länder Zentral-
asiens, um einen Eindruck zu bekommen, dass noch vie-
les im Bereich der Menschenrechte im Argen liegt.

Die meisten ungelösten Probleme im Bereich der
Menschenrechte gibt es in Turkmenistan und Usbeki-
stan. Das sind zwei Staaten, in denen Andersdenkende
besonders unterdrückt werden – und das nicht nur poli-
tisch oder religiös, sondern auch in wirtschaftlicher
Hinsicht. Fakt ist, dass internationale Menschenrechts-
aktivisten zudem nur schwer in diesen beiden Ländern
arbeiten können.

Anders sieht die Lage wiederrum in Kirgisistan,
Kasachstan und Tadschikistan aus, wo es Vertretern von
Amnesty International durchaus gelingt, mit Bürgern
vor Ort zu sprechen.

Mir erzählen europäische Menschenrechtsaktivisten
oft, dass im Falle Usbekistans vor allem auf den Um-
gang mit der Todesstrafe in dem Land aufmerksam ge-





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)


macht werden muss. Seit dem 1. Januar 2009 ist die
Todesstrafe zwar abgeschafft, trotzdem ist nicht bekannt,
wie viele Personen von Gerichten bereits zum Tode ver-
urteilt worden sind und bei wie vielen Menschen die To-
desstrafe inzwischen durch eine lebenslange Haftstrafe
ersetzt worden ist. Manchmal wissen die Angehörigen
der zum Tode Verurteilten nicht, ob ihre Angehörigen
noch leben oder nicht.

In Tadschikistan müssen wir besonders das Thema
häusliche und sexuelle Gewalt ansprechen. Ein weiteres
Problem: Flüchtlinge und Asylsuchende aus Usbekistan
werden in Kirgisistan nach wie vor mit dieser Abschie-
bung bedroht, betonen viele besonders in Deutschland
engagierte Menschenrechtler. In Kasachstan haben die
Behörden den Druck auf Vertreter religiöser Minderhei-
ten verstärkt. Weiterhin bleiben Brutalität und Amts-
missbrauch bei Vertretern kasachischer Rechtsschutz-
organe immer noch unbestraft, obwohl der Staat
versichert hat, für Ordnung zu sorgen.

Viele Menschenrechtler machen zudem auf russi-
schen Einfluss in ehemaligen Sowjetrepubliken aufmerk-
sam. Es ist daher die Aufgabe der deutschen und euro-
päischen Politik, den Einfluss Russlands mit einer
aktiven Politik zurückzudrängen. Leider nehmen sich
häufig die zentralasiatischen Staaten die russische Pra-
xis zum Vorbild. Beispielsweise hat man gerade erst das
russische Gesetz über Nichtregierungsorganisationen in
Kirgisistan übernommen, was die Arbeit von Menschen-
rechtlern deutlich erschwert. Auch ist der Einfluss Russ-
lands auf den Stand der Ermittlungen zur Erschießung
friedlicher Bürger in Andischan in Georgien zu be-
obachten.

Wir sehen also, dass die Kooperation zwischen der
EU, Deutschland und den Ländern Zentralasiens und
dem Kaukasus intensiv fortgeführt werden muss, damit
die benannten Missstände abgebaut werden können.

Ich empfehle daher eine effektivere Koordination der
existierenden Strategien: Wesentlich ist ein Ausbau der
Vertretung und damit der Sichtbarkeit der EU und des
Europäischen Auswärtigen Dienstes in der Region. In-
vestiert werden muss in eine Bildungs- und Ausbildungs-
initiative, die der jungen Generation Perspektiven bie-
tet. Eine Ausbildung zukünftiger zentralasiatischer
Eliten an europäischen Hochschulen muss gefördert
werden. Es muss ein regelmäßiger, strukturierter und er-
gebnisorientierter Menschenrechtsdialog mit den ein-
zelnen Staaten stattfinden. Die Zusammenarbeit mit der
OSZE, den Vereinten Nationen, internationalen Finanz-
institutionen und regionalen Organisationen soll ausge-
baut werden. Ich möchte besonders hervorheben, dass
die Bundesregierung die wichtige Rolle, die die auswär-
tigen Kultur- und Bildungspolitik bei der europäischen
Zentralasien-Strategie spielen kann, in den letzten Jah-
ren massiv unterstützt hat. Gerade auf zivilgesellschaft-
licher Ebene, gerade im Umgang mit Ländern, wo sich
die Beziehung auf staatlicher Ebene nicht gerade pro-
blemlos und durch offene Kommunikation auszeichnet,
ist das Instrument der auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik von unschätzbarem Wert. Es ist daher gut,

dass die Bildungsoffensive im Kaukasus und Zentral-
asien durch diese Bundesregierung verstärkt wurde.

Der Kaukasus und Zentralasien sind unser Brücken-
kopf nach Asien. Dieser Leitlinie müssen wir uns immer
wieder bewusst werden, wenn wir über unsere zukünfti-
gen geostrategischen Entwicklungen nachdenken. Die
Bundesregierung und die EU haben auf der politischen
Ebene seit 2007 konstruktive Schritte unternommen. Es
gilt auch, die europäische Öffentlichkeit stärker auf die
Chancen und Probleme dieser Länder aufmerksam zu
machen. Neue Partnerschaften brauchen auch ein ge-
sellschaftliches Fundament. Hieran müssen wir noch
viel arbeiten.


Ullrich Meßmer (SPD):
Rede ID: ID1718431300

Seit 2007 bildet die EU-Zentralasien-Strategie den

politischen Rahmen, um die Zusammenarbeit zwischen
Europa und den zentralasiatischen Staaten zu intensivie-
ren. Sie wird seit Anfang 2012 überprüft und soll in
neuen EU-Ratsschlussfolgerungen zu Zentralasien mün-
den. Europa hat sich mit der Zentralasien-Strategie vor
allem das Ziel gesetzt, die gute Staatsführung, Rechts-
staatlichkeit, Demokratie und die Einhaltung von Men-
schenrechten zu fördern.

Mit demokratisch anmutenden Verfassungen haben
sich die zentralasiatischen Länder – Kasachstan, Kirgi-
sistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan –
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber nicht
in eine demokratische, sondern eher in eine autoritäre
Richtung entwickelt. Die fortlaufende Verlängerung der
Amtszeiten der Präsidenten und die anhaltend prekäre
Menschenrechtslage gehen dabei Hand in Hand. Offen-
bar fürchten die regierenden Präsidenten, dass eine Öff-
nung und Demokratisierung der Gesellschaft unmittel-
bar mit ihrem Machtverlust verbunden ist.

Stabilität wird so in den zentralasiatischen Staaten
als Stabilität der Regime verstanden und Sicherheit wird
nicht auf den einzelnen Menschen und die Wahrung sei-
ner Rechte, sondern auf die staatstragenden Eliten bezo-
gen. Die EU hingegen sieht gerade in Öffnung und De-
mokratisierung die Voraussetzung für Sicherheit und
Stabilität sowie für wirtschaftliche Entfaltung. Auf diese
Diskrepanz gilt es einen entsprechenden Politikansatz,
mit dem die EU und Deutschland den zentralasiatischen
Staaten gegenübertreten können, zu finden.

Die menschenrechtliche Lage in den zentralasiati-
schen Staaten ist besorgniserregend:

In keinem der fünf Staaten existiert ein wirklich un-
parteiisches Rechtssystem, es gibt teilweise keine Ver-
fassungsgerichtsbarkeit und Frauen und Minderheiten
sind nicht ausreichend geschützt. Hier versucht die EU-
Rechtsstaatsinitiative mit konkreten Projekten, Beratun-
gen, Ausbildungshilfen und Ähnlichem Abhilfe zu schaf-
fen. Auch die Arbeit der politischen Stiftungen leistet
hier einen Beitrag. Kleine Erfolge sind zwar sichtbar,
aber wir brauchen unverminderte Anstrengungen, um
die rechtliche Situation der Menschen in Zentralasien
schrittweise zu verbessern.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ullrich Meßmer


(A) (C)



(D)(B)


Auch die Religionsfreiheit ist in den zentralasiati-
schen Ländern teilweise erheblich eingeschränkt. Das
betrifft sowohl das freie Bekenntnis als auch die Mis-
sion. Kleinen Verbesserungen – wie zum Beispiel bei der
Registrierung von Gemeinden – stehen teilweise gravie-
rende Verschlechterungen – wie zum Beispiel das tad-
schikische Gesetz über die „Verantwortung der Eltern
bei der Erziehung ihrer Kinder“, das grundsätzlich die
Religionsausübung stark beschneidet – gegenüber.

Das Bildungssystem ist ebenfalls in einem alarmie-
rend schlechten Zustand, und in Ländern wie Usbekistan
stellt der umfangreiche Einsatz von Kindern bei der
Baumwollernte einen zusätzlichen Bildungshemmschuh
dar.

Die Reise- und Bewegungsfreiheit ist besonders für
regimekritische Menschenrechtsverteidiger und Journa-
listen teilweise erheblich eingeschränkt.

Die Situation in den Gefängnissen ist größtenteils er-
schreckend, Haftbedingungen menschenunwürdig und
Folter an der Tagesordnung. Regelmäßige Besuche des
IKRK finden nicht statt, und es ist hier noch erheblicher
politischer Druck nötig, um die Situation vor allem der
politischen Gefangenen nachhaltig zu verbessern und
menschenwürdig zu gestalten.

Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit gibt es
nur in eingeschränktem Maße. Kritische Journalisten
werden verfolgt, es herrscht zum Teil strikte staatliche
Zensur. Besonders der Zugang zu Informationen über
das Internet und internationale Medien muss ermöglicht
und die staatliche Zensur abgeschafft werden.

Politische Opposition wird unterdrückt, Wahlen im-
mer noch manipuliert und Wahlergebnisse gefälscht, ob-
wohl sich alle zentralasiatischen Staaten durch ihre
OSZE-Mitgliedschaft automatisch zur Einhaltung des
Kopenhagener Dokuments und damit zur Durchführung
von Wahlen nach demokratischen Standards verpflichtet
haben. Nach wie vor werden politische Oppositionspar-
teien bei ihrer Arbeit behindert, Gegenkandidaten zu
den amtierenden Machthabern nicht zur Wahl zugelas-
sen oder in Haft genommen. Unbequeme Journalisten,
Gewerkschafter, Umweltaktivisten und Menschenrechts-
verteidiger sind ständiger Behinderung und Verfolgung
ausgesetzt. Die Maßnahmen reichen von Schikanen, Be-
rufsverbot und Hausarrest hin zu Inhaftierung und teil-
weise Ermordung. Jüngstes Beispiel ist der Gewerk-
schaftsaufstand in der Stadt Zhanaosen, der in einem
beispielhaften Schauprozess mit 34 teilweise äußerst
fragwürdigen Verurteilungen sein unrechtes und nicht
der Aufklärung verpflichtetes Ende fand. Der Vorfall
von Zhanaosen wirft aber auch die drängende Frage
auf, ob die Beziehungen Deutschlands und der EU zu
den zentralasiatischen Regierungen politisch tragfähig
und menschenrechtlich vertretbar sind, oder ob
Deutschland und die EU Gefahr laufen, sich dem Vor-
wurf der doppelten Standards auszusetzen, wenn sie ei-
nerseits die Menschenrechtsverletzungen in den zen-
tralasiatischen Ländern verurteilen, aber andererseits
keine Konsequenzen daraus für ihre Wirtschaftsbezie-
hungen zu den einzelnen Ländern ziehen.

Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern sind
notwendig, denn nur der Dialog schafft die Vorausset-
zungen für Veränderungen. Es müssen aber konkrete
Verbesserungen für die Menschen erreicht werden, re-
den allein kann da zu wenig sein. Seit Anfang 2012 läuft
eine Überprüfung der EU-Zentralasien-Strategie, die in
neuen EU-Ratsschlussfolgerungen zu Zentralasien mün-
den soll. Dies ist sehr zu begrüßen. Wichtig erscheint
vor dem Hintergrund der Umbrüche in der arabischen
Welt besonders eine stärkere Fokussierung auf die Zivil-
gesellschaft, denn nur deren Erstarken wird einen demo-
kratischen und friedlichen Wandel bewirken können.

Es gilt die hinsichtlich ihrer bürgerlichen Freiheiten
und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten politisch
enttäuschten Menschen zu adressieren und sie in die
Lage zu versetzen, sich zu vernetzen und politisch zu ar-
tikulieren.

Dann können jene kritischen Massen entstehen, die in
den arabischen Ländern Massenproteste in Gang ge-
setzt haben und die autoritäre Regime einer ganzen Re-
gion erschüttert und zum Einsturz gebracht haben.

Daneben müssen selbstverständlich die Projekte und
Initiativen zur Rechtsstaatlichkeit, zur Verbesserung der
Situation in den Gefängnissen und alle anderen weiter
gefördert und angemessen finanziell ausgestattet wer-
den.

Das Gelingen sämtlicher Bemühungen wird von einer
stärkeren Hinwendung zur Zivilgesellschaft und ihrer
Akteure abhängen.

Ein Verharren bei den vermeintlich Mächtigen dieser
Länder kann dazu führen, dass die Ansprechpartner in
den jeweiligen Ländern wegbrechen, da eher mittel- als
langfristig mit einem Erstarken der Zivilgesellschaft in
den zentralasiatischen Ländern und damit mit einem
Ende der autoritären Regime zu rechnen ist.

Dann tun Deutschland und die EU gut daran, für den
Aufbau einer demokratischen Spielregeln verpflichteten
wirtschaftlichen und kulturellen Partnerschaft die ent-
sprechenden Ansprechpartner zu kennen.


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1718431400

Ich begrüße die Debatte zu einer Region, die oft nur

durch die Brille der wirtschaftlichen und energiepoliti-
schen Zusammenarbeit gesehen wird. Derweil sind die
Regierungen der zentralasiatischen Länder – Kasach-
stan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Us-
bekistan – für die Missachtung der Menschenrechte ih-
rer Bevölkerung bekannt. In einigen Ländern wie
Usbekistan und Turkmenistan hat sich die menschen-
rechtspolitische Situation seit dem Ende der Sowjet-
union sogar noch verschlechtert. Turkmenistan gilt als
eines der repressivsten Länder der Welt. Kasachstan
wird immer noch von einem Spitzenpolitiker der ehema-
ligen Sowjetunion, Nursultan Nasarbajew, regiert, ohne
eine einzige nationale Wahl gemäß den OSZE-Wahlstan-
dards abgehalten zu haben. In Usbekistan steht staatlich
organisierte Kinderarbeit und Zwangsarbeit auf der Ta-
gesordnung. Die Forderungen an Usbekistan, eine ILO-

Zu Protokoll gegebene Reden





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


Untersuchungskommission einreisen zu lassen, verhal-
len schon seit Jahren ungehört.

Wie in dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen richtig dargelegt, wird Stabilität in den semiautori-
tären bzw. autoritären Regimen Zentralasiens als
„Stabilität des Regimes“ verstanden; eine offene demo-
kratische Gesellschaft dagegen als dessen Risiko, ein-
hergehend mit Macht- und Reichtumsverlust für die
herrschende Elite.

Was der vorliegende Antrag allerdings nur unzurei-
chend beleuchtet, ist die Diskrepanz zwischen den Län-
dern Zentralasiens. Die Heterogenität der Länder unter-
einander und die schwelenden Konflikte zwischen den
einzelnen Ländern dürfen nicht übersehen werden. Sie
sind für die Behebung menschenrechtlicher Vergehen
– auch diese sind in den jeweiligen Ländern unter-
schiedlich ausgeprägt – mit einzubeziehen. Während in
Zentralasien ethnische Konflikte zwischen den einzelnen
Ländern auf der einen Seite bestehen, herrschen Vertei-
lungskonflikte um Wasser auf der anderen Seite. Manche
Länder profitieren von deren Öl- und Gasreichtum,
während Kirgisistan und Tadschikistan wirtschaftlich
stagnieren. Die wirtschaftliche und soziale Schieflage
zwischen den Ländern wird durch Probleme der organi-
sierten Kriminalität, so beispielsweise des Drogenhan-
dels aus Afghanistan, verschärft.

Die fehlende Stabilität der Region, resultierend aus
den genannten Konflikten, führt zu negativen Ausstrahl-
effekten – im Bereich der organisierten Kriminalität, des
Terrorismus etc. – bis nach Europa. Ein weiterer Punkt,
der Deutschland und Europa unmittelbar betrifft, ist die
Stabilisierung und die zukünftige Entwicklung Afghani-
stans. Denn auch diese ist eben nicht unabhängig von
der Situation in den umliegenden Nachbarstaaten. Zen-
tralasien hat als geostrategische Brücke zwischen
Europa, Russland und China das Potenzial einer politi-
schen und wirtschaftlichen Drehscheibe. Um jedoch ein
verlässlicher Partner Europas zu werden, sind Rechts-
staatlichkeit, verantwortliche Staatsführung und Demo-
kratisierung sowie die Einhaltung von Menschenrechten
Voraussetzung. Diese sind ebenso Bedingungen für Si-
cherheit und Stabilität. Dafür setzt sich die Bundesregie-
rung seit der 1991 gewonnenen Unabhängigkeit der
zentralasiatischen Länder ein.

Deutschland ist bisher das einzige EU-Land mit Bot-
schaften in allen fünf zentralasiatischen Hauptstädten.
Gleichwohl ist die Einflusskraft Deutschlands und Euro-
pas auf Zentralasien begrenzt. In ihrer politischen Rele-
vanz rangiert die EU hinter den in Zentralasien seit lan-
gem etablierten Akteuren Russland, China und den USA.
Dies unterstreicht umso mehr die Wichtigkeit eines ge-
meinsamen und konzertierten Vorgehens innerhalb
Europas. Die Zentralasienstrategie bietet dafür seit
2007 den ersten konzertierten Rahmen für die Zusam-
menarbeit zwischen Europa und Zentralasien. Der Auf-
bau rechtsstaatlicher Strukturen und die Achtung der
Menschenrechte stellen dabei einen Schwerpunkt der
Zentralasien-Strategie dar.

Deutschland engagiert sich sowohl im Rahmen der
EU-Zentralasien-Strategie als auch bilateral in vielfälti-

ger Weise in Zentralasien. Die deutschen politischen
Stiftungen führen Programme zur Förderung von Demo-
kratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Zen-
tralasien durch.

Seit den 90er-Jahren unterstützt Deutschland die zen-
tralasiatischen Staaten im Bereich der Rechts- und Jus-
tizreform. Andere Schlüsselbereiche des deutschen En-
gagements sind verantwortungsvolle Staatsführung und
Demokratisierung. Im Bereich der Rechts- und Justizre-
form fördert ein Regionalprojekt insbesondere den Auf-
bau der für die Gewährleistung von Menschenrechten
erforderlichen rechtsstaatlichen Strukturen. Im Rahmen
dieses Regionalvorhabens erfolgte beispielsweise auch
der Erfahrungsaustausch zwischen dem tadschikischen
Verfassungsgericht und dem deutschen Bundesverfas-
sungsgericht. In einem weiteren Projekt finden Aus-
tausch und rechtliche Zusammenarbeit des Justizminis-
teriums mit den Ministerien Kasachstans und
Usbekistans statt, zum Beispiel durch Seminare zum
Strafvollzug oder zur Gerichtsorganisation. Im Rahmen
der Zentralasienstrategie koordiniert Deutschland ge-
meinsam mit Frankreich die EU-Rechtsstaatsinitiative
für Zentralasien.

Zur Förderung des Menschenrechtsschutzes werden mit
allen zentralasiatischen Staaten strukturierte Menschen-
rechtsdialoge durchgeführt. In deren Rahmen erfolgt ein
intensiver Austausch mit hochrangigen Vertretern der Jus-
tiz- und Innenbehörden der zentralasiatischen Staaten.
Die erste Runde des EU-Menschenrechtsdialogs fand
2007 unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft statt.

Seit vielen Jahren fördert das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die
Modernisierung der Rechtssysteme in allen fünf zen-
tralasiatischen Ländern. Seit 2002 wurden hierfür mehr
als 12 Millionen Euro bereitgestellt. Schwerpunkte der
Beratung sind das Zivil- und Wirtschaftsrecht sowie der
Aufbau unabhängiger und qualifizierter Organe der
Rechtspflege. Dabei findet ein ständiger Austausch so-
wohl der zentralasiatischen Staaten untereinander als
auch mit deutschen und europäischen Institutionen statt.
Deutschland unterstützt zudem ein Projekt mit der Vene-
dig-Kommission des Europarats zur Anwendung inter-
nationaler menschenrechtlicher Standards.

Darüber hinaus wird der Aufbau von zivilgesell-
schaftlichen Organisationen auf unterschiedlichen Ebe-
nen mit verschiedensten Instrumentarien unterstützt.
Zentrales Element der EU-Politik ist dabei das Pro-
gramm „Nichtstaatliche Akteure und lokale Behörden in
der Entwicklungszusammenarbeit“, das für den Zeit-
raum 2007 bis 2013 mit Fördermitteln in Höhe von
4,36 Millionen Euro für Projekte in Zentralasien ausge-
stattet ist.

Auch in politischen Gesprächen mit den zentralasia-
tischen Regierungen setzt sich die Bundesregierung
nachdrücklich für die Verbesserung der Menschen-
rechtslage vor Ort ein. So war der Beauftragte der Bun-
desregierung für Menschenrechtspolitik und Humani-
täre Hilfe zu Gesprächen bereits in Kirgisistan und in
Usbekistan.

Zu Protokoll gegebene Reden





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


Vor diesem Hintergrund des deutschen Engagements
bündelt der vorliegende Antrag ein wichtiges Thema.
Doch auch wir als Parlamentarier sind bereits aktiv tä-
tig. So reiste der Menschenrechtsausschuss des Deut-
schen Bundestages letztes Jahr nach Tadschikistan und
informierte sich vor Ort über die Situation der Men-
schenrechte im Land. Die Reise nach Usbekistan steht
noch aus. Zudem haben Kollegen im Rahmen des Pro-
gramms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“
Patenschaften übernommen; zum Beispiel hat Angelika
Graf, MdB, eine Patenschaft für den usbekischen Oppo-
sitionspolitiker und Menschenrechtsaktivisten Agzam
Turgunov übernommen. Ich fordere alle Kolleginnen
und Kollegen auf, sich ebenfalls am Programm „Parla-
mentarier schützen Parlamentarier“ zu beteiligen und
Patenschaften zu übernehmen. So erhöhen wir die Sicht-
barkeit der verheerenden Menschenrechtssituation vor
Ort und erhöhen den Druck auf die politischen Eliten.
Jeder von uns kann etwas tun – für die Menschenrechte.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718431500

Ich freue mich, dass wir heute über Zentralasien spre-

chen. Der Region wurde lange Zeit viel zu geringe Be-
achtung geschenkt. Zentralasien gliedert sich in die fünf
Staaten Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgi-
sistan und Tadschikistan, zwischen und in denen zahlrei-
che ungelöste Konflikte bestehen. Vor allem Usbekistan
und Turkmenistan sind auch für den Transport und die
Logistik des Afghanistankrieges von hoher militärstrate-
gischer Bedeutung. Und nicht zu vergessen: Zentral-
asien ist außerordentlich reich an Rohstoffen wie Erdöl,
Erdgas, Uran und seltenen Erden. Gleichzeitig existie-
ren große ökologische Probleme von überregionaler Be-
deutung wie das Verlanden des Aralsees und der Streit
um die Wassernutzungsrechte der Quellzuflüsse Amu-
darja und Syrdarja. Deshalb weisen Expertinnen und
Experten immer wieder darauf hin, dass sich die Region
in naher Zukunft zum wohl weltweit bedeutsamsten Aus-
tragungsfeld imperialer Gegensätze entwickeln könnte.
Gegenwärtig konkurrieren bereits die Großmächte
Russland, China und die USA um Einfluss in Zentral-
asien, die EU zeigt ebenfalls wachsendes Interesse.
Indien, Pakistan oder der Iran könnten bald noch hinzu-
kommen. Die Türkei verfügt aufgrund ihrer engen
sprachlichen und kulturellen Verbindungen ohnehin
über historisch enge Sonderbeziehungen zu den Turk-
Republiken.

Insgesamt ist dies eine komplexe Ausgangsituation, in
der sich die Frage stellt, mit welcher Politik Deutsch-
land bzw. die EU die Beziehungen zu den zentralasiati-
schen Ländern künftig gestalten will und um welche
konkreten Interessen es hierbei gehen soll. Ein erster
Eindruck lässt sich durch die EU-Zentralasien-Strategie
gewinnen. Unter dem Stichwort „Good Governance“
wird als abstraktes Ziel zwar auch die Förderung von
Menschenrechten und Demokratie erwähnt, insgesamt
dominieren aber wirtschaftliche Interessen, vor allem im
Bereich der Energiezusammenarbeit. Konkret geht es
um die Diversifizierung der Energiebezugsquellen und
Transitwege im Rahmen zu errichtender marktwirt-
schaftlicher Strukturen in Zentralasien. Das bedeutet

nichts anderes, als dass Demokratie und Menschen-
rechte in der Praxis unter wirtschaftlichem Vorbehalt
stehen sollen. Wie heißt es doch in der EU-Zentralasien-
Strategie? Ich zitiere:

Die EU unterstützt die Beseitigung von Handels-
hemmnissen zwischen den zentralasiatischen Staa-
ten und setzt sich weiterhin dafür ein, dass die vier
zentralasiatischen Staaten, die noch nicht Mitglie-
der der WTO sind, der WTO unter handelspolitisch
tragbaren Bedingungen und in voller Übereinstim-
mung mit den WTO-Anforderungen beitreten kön-
nen. Der WTO-Beitritt ist der Schlüssel zu einer
weiterreichenden Reform und Diversifizierung der
Wirtschaft und einer besseren Integration der Staa-
ten in das internationale Handels- und Wirtschafts-
system.

Im Kern sollen die zentralasiatischen Länder nur das
neoliberale Wirtschaftsmodell der EU übernehmen, da-
mit die EU leichter an die dortigen Rohstoffe kommt und
neue Absatzmärkte für sich selbst gewinnt. Das bedeu-
tet: Wenn dabei gegebenenfalls auch mehr Demokratie
in den zentralasiatischen Ländern herauskommt, dann
ist dies sicherlich gut; wenn dabei aber keine Demokra-
tie herauskommt, dann ist dies im Zweifelsfall egal. Das
ist mehr als nur ein menschenrechtspolitisches Armuts-
zeugnis.

Es ist Tatsache, dass die EU und die deutsche Bundes-
regierung jederzeit gern bereit sind, mit autoritären Re-
gimen zusammenzuarbeiten, solange dies für sie wirt-
schaftliche oder geostrategische Vorteile bringt. Solange
die herrschenden Eliten in autoritär regierten Staaten
kooperationswillig sind, wird selbst zu massiven Men-
schenrechtsverletzungen hartnäckig geschwiegen. Sind
sie hingegen nicht oder nicht mehr zur Kooperation be-
reit, werden plötzlich die Menschenrechte entdeckt oder
oppositionelle Kräfte dazu ermutigt, einen Regimewech-
sel herbeizuführen. Häufig wird dabei das Völker-
rechtsprinzip der Nichteinmischung in innere Angele-
genheiten anderer Staaten nach der UN-Charta
missachtet und selbst militärische Interventionen wer-
den zunehmend im Namen der Menschenrechte geführt.

Das Ergebnis sind menschenrechtliche Doppelstan-
dards: Während die Bundesregierung an Saudi-Arabien
Kampfpanzer geliefert hat, die ja nicht zufällig bei der
Niederschlagung der Demokratiebewegung in Bahrain
zum Einsatz kamen, trat sie im Fall des Lukaschenko-
Regimes in Belarus vorgeblich der Menschenrechte we-
gen als Fürsprecherin von verschärften EU-Sanktionen
auf. Die blutige Unterdrückung der friedlichen Gewerk-
schaftsproteste in Kasachstan wurde von der Bundesre-
gierung nicht kommentiert, der Abschluss eines Partner-
schaftsabkommens mit Nursultan Nasarbajew war ihr
wichtiger. Demgegenüber wurden bestimmte Demokra-
tieprobleme in Aserbaidschan und der Ukraine im Vor-
feld des Eurovision Song Contests bzw. der Fußball-EM
umgehend verallgemeinert und geradezu hysterisch
politisiert.

Bei allen genannten Fällen bestanden durchaus kon-
krete Missstände, die Kritik verdienten. Die vorgeb-
lichen „nationalen Interessen“ Deutschlands, mittels

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)


derer die Bundesregierung aber entscheidet, ob und wie
sie Kritik ausübt oder auf Kritik verzichtet, sind Aus-
druck ihrer politischen Doppelmoral. In Wahrheit dient
dies nur den herrschenden Eliten und Großkonzernen,
jedoch nicht der Bevölkerung. Die Linke fordert die
Bundesregierung auf: Beenden Sie endlich ihre politi-
sche Heuchelei beim Thema Menschenrechte!

Sie werden jetzt wieder danach fragen, was denn un-
sere Vorschläge seien. Ich will sie Ihnen nicht vorenthal-
ten:

Mit einigen Abstrichen im Fall Kirgisistans herr-
schen in allen zentralasiatischen Republiken autoritäre
Regime, die mitunter sogar notstandsfeste Menschen-
rechte wie das absolute Folterverbot systematisch ver-
letzen oder die ausbeuterische Kinderzwangsarbeit tole-
rieren bzw. sogar aktiv fördern. Das ist vollkommen
inakzeptabel und zu Recht empörend, dennoch lassen
sich Menschenrechte und Demokratie nicht erzwingen
oder herbeibomben. Menschenrechte erfordern eine zi-
vile Logik. Die Linke fordert einen konsequenten und
kritischen Menschenrechtsdialog mit den zentralasiati-
schen Staaten und die Schaffung von geeigneten politi-
schen und wirtschaftlichen Anreizen für menschenrecht-
liche Fortschritte.

Der Förderung von Nichtregierungsorganisationen
und Gewerkschaften ist Vorrang einzuräumen, da dies
die demokratische Zivilgesellschaft insgesamt stärkt.

Soziale Entwicklung und Demokratie erfordern auch
andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Linke
ist nicht gegen internationalen Handel und wirtschaft-
liche Zusammenarbeit. Entscheidend sind die Bedingun-
gen und, ob alle Beteiligten auch tatsächlich davon pro-
fitieren.

Die zentralasiatischen Länder leiden meist noch
unter historisch bedingten, technologisch wenig entwi-
ckelten und umweltschädlichen Monowirtschaften, vor
allem im Bereich der Rohstoffgewinnung. Dies betrifft
die Erdöl- und Erdgasproduktion, aber auch die Baum-
wollgewinnung und die Elektrizitätserzeugung. Die Di-
versifizierung der Binnenwirtschaft und der Ausbau der
Infrastruktur bei Verkehr, Telekommunikation, Gesund-
heitsversorgung sind längst noch nicht abgeschlossen.
Gerade im Bereich der Industrie- und Konsumgüterpro-
duktion müssten viel stärker kleinere und mittlere Unter-
nehmen gefördert werden, um insbesondere in den teil-
weise großflächigen ländlichen Räumen Zentralasiens
regionale Wirtschaftskreisläufe und eine zahlungskräf-
tige Binnennachfrage zu schaffen.

Dabei ist es sehr wichtig, dass deutsche Unterneh-
men, die in den zentralasiatischen Staaten tätig sind,
internationale Menschenrechtsstandards und die Kern-
arbeitsnormen der ILO einhalten. Es ist völlig inakzep-
tabel, wenn deutsche Unternehmen einheimische
Arbeitskräfte zu menschunwürdigen Bedingungen be-
schäftigen und damit ihrerseits zu Menschenrechtsver-
letzungen beitragen oder diese verursachen. Es ist bei-
spielsweise seit langem bekannt, dass in Usbekistan zur
Baumwollernte Kinder zur Zwangsarbeit verpflichtet
werden. Die Linke fordert: Produkte aus ausbeuteri-

scher Kinderarbeit müssen international geächtet wer-
den! Hier muss auch die ILO ihrer internationalen Ver-
antwortung zur Durchsetzung der Konventionen zur
Abschaffung von Zwangsarbeit und den schlimmsten
Formen der Kinderarbeit stärker gerecht werden. Die
Linke fordert die deutschen Arbeitgeberverbände auf,
dass sie ihre Blockadehaltung in der ILO aufgeben,
damit das Thema Kinderzwangsarbeit in Usbekistan
endlich behandelt werden kann. Die Linke ist auch
gespannt, wie sich die Bundesregierung und die Koali-
tionsfraktionen zu diesem Thema verhalten werden.

Über diese und andere Aspekte des Antrags von SPD
und Grünen werden wir in den Ausschüssen in den
nächsten Wochen diskutieren. Ich freue mich auf eine
kritische Debatte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich, dass wir heute einen gemeinsamen
rot-grünen Zentralasien-Antrag einbringen können. Lei-
der widmen wir uns der Region im Bundestag nur selten.
Dabei nimmt die sicherheitspolitische Bedeutung Zen-
tralasiens im Rahmen des ISAF-Abzugs aus Afghanistan
für die NATO-Staaten zu. China und Russland bauen ihr
Engagement in der Region stark aus, und Europa spielt
trotz der EU-Zentralasien-Strategie von 2007 nur eine
begrenzte Rolle in Zentralasien. Doch der als Great
Game bezeichnete Kampf externer Großmächte um die
Vormachtstellung in Zentralasien und die Gunst der
größtenteils extrem autoritären Regime ist nicht das,
woran wir uns beteiligen sollten; er wird auf dem Rücken
der Menschen in Zentralasien ausgetragen und trägt
nicht zur Stabilität der Region bei, im Gegenteil.

Die Bundesregierung trägt jedoch etwa mit der bila-
teralen Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan oder dem
nicht öffentlich zugänglichen militärischen Transitver-
trag mit Usbekistan zu diesem Great Game bei. Das ges-
tern vorgestellte Asien-Konzept der CDU/CSU-Fraktion
hat den engstirnigen sicherheits- und wirtschaftspoliti-
schen Ansatz der Bundesregierung gegenüber Zentral-
asien noch mal eindeutig bestätigt.

Mit dem Antrag „Die Menschenrechte in Zentral-
asien stärken“ möchten wir dazu einen deutlichen Ge-
genpol setzen: Die so wichtige dauerhafte Stabilität der
Region hängt ganz entscheidend davon ab, ob sich ver-
antwortungsvolle Staatsführung, Rechtsstaatlichkeit, De-
mokratie und Menschenrechte in Zentralasien entwi-
ckeln können. Doch momentan scheint nur in Kirgisien
mit der friedlichen Machtübergabe und einem gestärk-
ten Parlament eine solche Entwicklung in näherer Zu-
kunft denkbar.

Insgesamt müssen wir einsehen, dass wir mit dem
bisherigen Politikansatz der EU-Zentralasien-Strategie
keine relevanten Erfolge erzielt haben; teilweise gab es
sogar gravierende Rückschritte in der Menschenrechts-
lage. Diese Realität müssen wir anerkennen und eine
überzeugende Antwort für die Gestaltung deutscher und
europäischer Politik finden. Doch leider habe ich den
Eindruck, dass der Evaluierungsprozess der EU-Zen-
tralasien-Strategie im ersten Halbjahr dieses Jahres die-

Zu Protokoll gegebene Reden





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)


ses Problem umgangen hat und der Rat der Außenminis-
ter demnächst ein Weiter-so in Bezug auf Zentralasien
beschließen wird.

Unser Antrag fordert dagegen eine Neuausrichtung
der deutschen und europäischen Zentralasien-Politik,
die sich an der Stärkung zivilgesellschaftlicher Struktu-
ren orientiert. Dies betrachten wir als eine zentrale
Lehre aus dem arabischen Frühling. Dieser hat gezeigt,
wie schnell junge Generationen, die nach ökonomischen
Perspektiven und persönlichen Freiheiten streben, eine
ganze Reihe autoritärer Regime hinwegfegen können.
Wir dürfen uns zwar in dieser Hinsicht in Zentralasien
keinen falschen Hoffnungen hingeben. Aber die schein-
bare Stabilität der Regime wird spätestens mit dem Ab-
leben langjähriger Präsidenten erschüttert werden. Ob
die darauf anstehenden Machtwechsel friedlich stattfin-
den werden, bleibt eine offene Frage.

Eine selbstbewusste Zivilgesellschaft wäre für eine
friedliche Entwicklung jedenfalls ein entscheidender
Faktor. Deswegen sollten wir uns jetzt ganz genau über-
legen, mit welchen Mitteln wir die Entstehung bzw. Stär-
kung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Zentralasien
unterstützen können. Dazu sind einerseits klare Worte in
Menschenrechtsfragen notwendig; hierzu haben wir
eine Reihe konkreter Forderungen in unserem Antrag
aufgelistet. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass in Us-
bekistan aus sicherheitspolitischen Erwägungen und im
Fall Kasachstan aufgrund von Rohstoffinteressen Men-
schenrechtsstandards aufgeweicht werden, weil es ver-
meintlich um Wichtigeres geht.

Andererseits müssen wir uns auch selbstkritisch fra-
gen: Was sind wir bereit zu investieren, um Verände-
rungsprozesse in Zentralasien zu fördern? Ich denke, ein
wichtiger Aspekt muss hier die Visapolitik sein. Was für
die östliche Partnerschaft gelten sollte, muss auch für
die Gesellschaften in Zentralasien eine Perspektive dar-
stellen. Ich spreche von erleichterten Einreisemöglich-
keiten in Bezug auf die EU, die positive gesellschaftliche
und politische Veränderungen anstoßen können.

Selbstverständlich können bessere Reisemöglichkei-
ten nur ein Ansatzpunkt sein, und die Stärkung der Zivil-
gesellschaft in Zentralasien ist kein einfaches Unterneh-
men – die Rahmenbedingungen sind mehr als widrig.
Aber das macht sie nicht weniger notwendig, und ich
hoffe, wir können mit unserem Antrag einen wichtigen
Impuls in diese Richtung geben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718431600

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9924 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Ta-
gesordnung stehen. – Sie sind einverstanden. Das ist so
beschlossen.

Tagesordnungspunkt 30:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Andreas G. Lämmel,
Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia

Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Neue Herausforderungen der regionalen Wirt-
schaftsstruktur meistern – GRW fortführen
und EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert
gestalten

– Drucksache 17/9938 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Die Reden sind wiederum zu Protokoll genommen.


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1718431700

Deutschland ist ein vielfältiges Land mit starken Re-

gionen. In Deutschland gibt es nicht eine dominante Me-
tropole und einen Rest flache Provinz. Die Mehrheit der
Deutschen lebt nicht in Großstädten, sondern in ländli-
chen Regionen oder mittleren Städten. Dementspre-
chend konzentriert sich das wirtschaftliche Geschehen
auch nicht auf eine Metropolregion. Die Vielfalt von
Stadt und Land spiegelt sich auch in der heterogenen
wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen wider. Es
gibt Regionen, da herrscht Vollbeschäftigung, während
in anderen Teilen des Landes leider eine höhere Arbeits-
losenquote zu verzeichnen ist. Weiterhin sind viele
Regionen von den Großtrends wie Strukturwandel, Glo-
balisierung oder der deutschen Einheit höchst unter-
schiedlich betroffen.

Gleichzeitig verlangt das Grundgesetz die Herstel-
lung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland.
Das zentrale und bewährte Instrument dafür ist seit
1969 die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-
serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW. Ge-
meinsam unterstützen Bund und Länder strukturschwa-
che Regionen, die den Strukturwandel nicht aus eigener
Kraft bewältigen können bzw. die vor besonderen regio-
nalen Herausforderungen stehen. Hauptziel ist die
Schaffung und Sicherung dauerhaft wettbewerbsfähiger
Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen durch die
Förderung von gewerblichen Investitionen, Investitio-
nen in die wirtschaftsnahe Infrastruktur und gezielte
Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit
kleiner und mittlerer Unternehmen. Die GRW zielt also
auf die Aktivierung der regionalen Wirtschaftskraft als
Hilfe zur Selbsthilfe ab.

Im Rahmen der regelmäßigen Evaluation der GRW
wird ihre positive Wirkung ständig bestätigt. Schwer-
punkte der Förderung liegen eindeutig bei kleinen und
mittleren Unternehmen und bei Innovationen. So haben
die geförderten Unternehmen zwischen 1998 und 2008





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


einen Beschäftigungszuwachs in Höhe von durchschnitt-
lich 4,6 Prozent und einen Einkommenszuwachs in Höhe
von 6 Prozent erziehlt. Gerade in den jüngsten Krisen-
jahren konnte mit dem Sonderprogramm der GRW auf
ein bewährtes und eingespieltes System zurückgegriffen
werden, um die wirtschaftliche Basis in den struktur-
schwachen Regionen zu stärken. Zwischen 2008 und
2010, also während des heftigsten Einbruchs der Kon-
junktur in der Geschichte der Bundesrepublik, führten
5,8 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bund und Län-
dern sowie EFRE-Mittel der Europäischen Union zu
25,1 Milliarden Euro Investitionen von Unternehmen. In
der gewerblichen Wirtschaft wurden über 74 000 neue
Dauerarbeitsplätze geschaffen und circa 301 000 Dau-
erarbeitsplätze erhalten. Hohe Mittelabflüsse von über
90 Prozent belegen das hohe Interesse seitens der Bun-
desländer und der Unternehmen vor Ort.

Nun steht die regionale Wirtschaftspolitik in Deutsch-
land vor einer großen Herausforderung:

Die beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für die
nationale Regionalpolitik werden von der Europäischen
Kommission für die neue Förderperiode ab dem Jahr
2014 neu ausgerichtet. Diese Regeln werden festlegen,
wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch
gefördert werden darf.

Der demografische Wandel wirkt zuerst in ländlichen
und strukturschwachen Räumen, also in jenen Gebieten,
auf die sich die GRW-Mittel konzentrieren.

GRW-Mittel stehen auch für die gewerbliche Umwid-
mung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung.
Die angelaufene Reform der Bundeswehr stellt eine
neue Aufgabe für die GRW dar.

Die Investitionszulage für Unternehmen in Ost-
deutschland wird Ende des Jahres 2013 auslaufen. Der
Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschen Bun-
desländer ist bis zum Jahr 2019 befristet. Die Mittel aus
den europäischen Strukturfonds werden in Deutschland
ab dem Jahr 2014 vermutlich ebenfalls erkennbar zu-
rückgehen, sodass der GRW eine höhere regionalpoliti-
sche Verantwortung zukommt.

Die europäischen Strukturfonds werden ab 2014 neu
fokussiert.

Von daher werden momentan die Weichen dafür ge-
stellt, dass die GRW effektiv und flexibel zur Stärkung
der Regionen im Standortwettbewerb beitragen kann
und auch die strukturschwachen Regionen ihren Anteil
am gesamtdeutschen Wirtschaftswachstum leisten kön-
nen.

Die christlich-liberale Koalition steht zur GRW als
zentrales Instrument der regionalen Wirtschaftspolitik.
Wir bekennen uns aber ebenfalls zur Schuldenbremse.
Daher musste auch die GRW ihren Beitrag zur Haus-
haltskonsolidierung leisten. Im Gegensatz zu mancher
Vorgängerregierung haben wir die GRW aber nicht als
haushalterischen Steinbruch genutzt. Außerdem haben
wir in den parlamentarischen Haushaltsberatungen die-
ser Legislaturperiode den Regierungsvorschlag stets ein
wenig zugunsten der GRW verschoben.

Im Rahmen der Haushaltsmittel und der Schulden-
bremse steht diese Koalition zur Fortführung des Haus-
haltstitels der GRW auf bestehendem hohem Niveau und
zu einer finanziellen Ausstattung, die gewährleistet,
dass sie strukturell wirksam bleibt und die neue Aufgabe
der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften
entsprechend gewürdigt wird. Weiterhin erwarten wir
von den Regierungen der Bundesländer, dass sie die pa-
ritätische Kofinanzierung durch Landesmittel sicher-
stellen. Die GRW ist eine Gemeinschaftsaufgabe.

Tiefgreifende Entscheidungen für die regionale Wirt-
schaftspolitik in Deutschland werden momentan auf EU-
Ebene vorbereitet. In diesen Verhandlungen unterstützen
wir die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur
Weiterentwicklung der Regionalleitlinien der Euro-
päischen Union. Es muss faire und wirksame Über-
gangsregelungen für Regionen geben, die ihren Status
als A-Fördergebiet verlieren. In Deutschland betrifft
dies konkret die Unterstützung des Angleichungsprozes-
ses der ostdeutschen Bundesländer. Entsprechend dem
Grundsatz der Subsidiarität müssen auch künftig natio-
nale Spielräume zur wirkungsvollen Förderung struk-
turschwacher Regionen in den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union bestehen. Dies betrifft auch die
Förderung strukturschwacher Regionen in Westdeutsch-
land.

Wir bestärken daher die Bundesregierung in den Ver-
handlungen zur Weiterentwicklung der Leitlinien der
Regionalpolitik der Europäischen Union in ihrem Ein-
satz unter anderem für die Verlängerung der Über-
gangsperiode für Ex-A-Gebiete bis 2020, die Begren-
zung des Fördergefälles zu Höchstfördergebieten auf
15 Prozentpunkte und die Fördermöglichkeit von Groß-
unternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten.

Auch bei den Verhandlungen über die zukünftige Ko-
häsionspolitik unterstützen wir die Bundesregierung.
Insbesondere begrüßen wir, dass die Strukturfonds ver-
stärkt auf die Ziele der Strategie „Europa 2020“ ausge-
richtet werden und damit Wettbewerbsfähigkeit und
nachhaltiges Wachstum vorantreiben. Dabei muss die
Kohäsionspolitik weiter auf das Vertragsziel, den Abbau
regionaler Entwicklungsunterschiede, ausgerichtet blei-
ben. Wir brauchen einen effizienten und zweckmäßigen
Einsatz der EU-Mittel in allen Staaten. Daran hat es in
den letzten Jahren oft gefehlt, wie wir heute sehen kön-
nen. Von daher ist die von der Europäischen Kommis-
sion vorgeschlagene thematische Ausrichtung und Kon-
zentration der künftigen Kohäsionspolitik in weiten
Teilen sinnvoll. Allerdings müssen den Regionen dabei
Spielräume verbleiben, um den spezifischen regionalen
Bedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen zu
können.

Die Bundesregierung hat unsere Unterstützung in den
weiteren Verhandlungen des Legislativpaketes für die
Kohäsionspolitik. Es geht unter anderem um ein Sicher-
heitsnetz für ehemalige Konvergenzregionen, das min-
destens zwei Drittel der Förderung der Jahre 2007 bis
2013 entspricht, der Sicherstellung eines effizienten und
zweckmäßigen Einsatzes der EU-Mittel in allen Mit-
gliedstaaten und deren regelmäßige Fortschritts- und

Zu Protokoll gegebene Reden





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Erfolgskontrolle sowie die Senkung der Bürokratiekos-
ten bei der Umsetzung der Kohäsionspolitik für alle Be-
teiligten, insbesondere für die nationalen Behörden und
die betroffenen Unternehmen. Weiterhin ist uns die Abfe-
derung des Förder- und Behilfengefälles in den Grenzre-
gionen wichtig.

Wir werden über diesen Antrag noch vertiefend in
verschiedenen Ausschüssen diskutieren. Ich werbe um
die Zustimmung aller Fraktionen. Die regionale Wirt-
schaftspolitik verdient unser aller Unterstützung, gerade
bei den Verhandlungen in Brüssel.


Doris Barnett (SPD):
Rede ID: ID1718431800

Es ist erstaunlich, dass die Koalitionsfraktionen

knapp 15 Monate brauchten, um nach der Einbringung
unseres Antrages „Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe
‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ – Fi-
nanzierung langfristig sichern“ jetzt einen eigenen An-
trag einzubringen, der in weiten Teilen deckungsgleich
mit unserem ist. Das hätten wir einfacher haben können,
indem wir uns bereits im letzten Jahr zusammenge-
schlossen hätten. Aber damals wollten oder durften das
die Koalitionsfraktionen nicht. Denn wenn ich mir jetzt
Ihren Antrag ansehe, bekomme ich ein déjà vu.

Es ist gut, dass alle im Bundestag vertretenen Frak-
tionen die Auffassung teilen, dass die GRW die wirt-
schaftliche Entwicklung in unserem Land erheblich nach
vorne gebracht hat. Die hier investierten Gelder zahlten
sich um ein Mehrfaches aus. Nicht nur wurden erhebli-
che Investitionen angestoßen, auch der Aufwuchs an Ar-
beitsplätzen war und ist beachtlich. Wegen der Vertei-
lung der Mittel in den Osten unseres Landes ist dort die
Wirkung auch am größten. Aber das wollen wir ja so,
hier muss sehr schnell eine wirtschaftliche Dynamik ein-
setzen, um jungen Menschen eine Perspektive in ihrer
Heimat zu geben. Wir können es nicht einfach hinneh-
men, dass ganze Landstriche keine Jugend mehr haben.
Das hat Folgen für die Infrastruktur, angefangen von
der Versorgung des täglichen Bedarfs bis hin zu Hand-
werksbetrieben, Ärzten, Sozialdiensten und vielem mehr.
Hier kommt der GRW eine wesentlich größere Bedeu-
tung zu, als viele glauben.

In der Zwischenzeit sehen wir, dass zunehmend auch
im Westen Gebiete entstanden sind, die unserer Auf-
merksamkeit und unserer Unterstützung bedürfen. Das
sind aber nicht nur die ehemaligen Zonenrand- und
bayerischen Grenzgebiete, sondern auch Regionen, in
denen die klassische, traditionelle Industrie wegen der
günstigeren Produktionsstandorte im europäischen und
asiatischen Ausland zusammengebrochen ist. In meiner
Heimatregion, der Pfalz, betrifft es Pirmasens, einst die
Hochburg der deutschen Schuhindustrie. Unser Anlie-
gen muss hier eine innovative Wirtschaftsförderung sein,
wie sie das Land Rheinland-Pfalz bereits bei den Kon-
versionsgebieten der ehemaligen US-Streitkräfte-Stütz-
punkte durchgeführt hat. In Kaiserslautern entstand auf
dem großen Kasernengelände direkt neben der A 6 ein
Technologiepark, der gute, interessante und innovative
neue Arbeitsplätze zu bieten hat.

Kommen wir zurück zu Ihrem Antrag. Ich verstehe ja,
dass Sie unseren Antrag nicht ohne eigene Antwort be-
handeln wollen. Und erstaunlich ist, wie konkret jetzt
Ihre Forderungen gegenüber Ihrer eigenen Bundesre-
gierung sind. Fast zu allen Ihren Forderungen finden
sich Entsprechungen in unserem Antrag – nur, wie ge-
sagt, 15 Monate früher.

Ja, es ist richtig, eine Diskussion über die Zukunft der
Kohäsionspolitik zu führen und sie auf die Strategie Eu-
ropa 2020 auszurichten.

Es stimmt auch, dass die Investitionszulage für Un-
ternehmen in Ostdeutschland Ende 2013 ausläuft. Wir
hatten vorgeschlagen, deshalb die GRW mit entspre-
chend mehr Finanzmitteln auszustatten. Letztes Jahr
hätten Sie bereits dafür kämpfen können, statt es jetzt zu
bedauern.

Was ich als sinnvolle Ergänzung zu unseren bisheri-
gen Forderungen betrachte, ist Ihre Forderung, GRW-
Mittel auch für die gewerbliche Umwidmung ehemaliger
Bundeswehrstandorte zur Verfügung zu stellen. Wie ge-
sagt, weiß ich, wovon ich spreche, da mein Bundesland
Rheinland-Pfalz eine ganze Arie zu dem Problem Kon-
version singen könnte. Dann sollten Sie aber Ihre Forde-
rungen konsequenter durchdenken. Denn wie soll das in
der Haushaltsplanung für 2013 aussehen, in der „die
Rolle der GRW bezüglich der Konversion“ entsprechend
gewürdigt werden soll, andererseits der „Haushaltstitel
der GRW auf bestehendem hohem Niveau“ fortgeführt
und finanziell so ausgestattet werden soll, dass die GRW
strukturell wirksam bleibt? Heißt das nun, dass der dies-
jährige Ansatz bestehen bleiben soll, oder soll er gekürzt
werden, oder soll er vielleicht sogar aufgestockt werden,
eben für diese neue Aufgabe?

Hier kneifen Sie, hier bleiben Sie im Ungenauen, Sie
können sich nicht dazu durchringen, die von uns schon
im letzten Jahr geforderten zusätzlichen Mittel von der
eigenen Bundesregierung einzufordern, obwohl Sie
schon damals uns eigentlich recht gaben. Und da hatten
wir noch gar nicht die Konversion mit im Gepäck. Wie,
glauben Sie, soll die Förderung für Konversionsgebiete
vonstatten gehen?

Sind Sie sicher, dass Sie das mit Ihrer Regierung so
abgesprochen haben?

Etwas gewundert hat mich, dass Sie auch Selbstver-
ständlichkeiten in Ihren Forderungskatalog schreiben,
zum Beispiel den Punkt II Ziffer 3. Bisher war doch klar,
dass die Bundesländer die paritätische Cofinanzierung
der GRW übernehmen müssen. Wieso „bestehen“ Sie
jetzt darauf? Gibt es da eventuell neue Bestrebungen?

Noch nicht ganz verstehen kann ich Ihre Aufforderung
an Ihre eigene Regierung, dass diese sich in den anste-
henden Verhandlungen für „die Förderfähigkeit von Un-
ternehmensinvestitionen auch außerhalb von KMU“ ein-
setzt – das ist Punkt 16. Und bereits in Punkt 10 fordern
Sie von der Bundesregierung deren Einsatz für „die För-
dermöglichkeit von Großunternehmen auch in Ex-A- und
C-Gebieten“.

Zu Protokoll gegebene Reden





Doris Barnett


(A) (C)



(D)(B)


Wenn dies jetzt nicht gelänge, bestünde dann tatsäch-
lich die Gefahr, dass Regelungen aus Brüssel unseren
„grundgesetzlichen Auftrag zur Herstellung gleichwer-
tiger Lebensverhältnisse in Deutschland“ behindern
würden? Was befürchten Sie da?

Wen genau meinen Sie mit den Großunternehmen, die
förderbar werden sollen? Eigentlich wundert mich, dass
die FDP ein solches Ansinnen mitträgt.

Nun, wir werden hoffentlich bald Gelegenheit haben,
uns mit den Anträgen und den sich daraus ergebenden
Fragen dann endlich auch im Unterausschuss zu befas-
sen, nachdem wir darauf jetzt über ein Jahr lang warten
mussten.


Claudia Bögel (FDP):
Rede ID: ID1718431900

Die Koalition stärkt die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-

besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW.
Das ist eine gute Nachricht für die Wirtschaft in struk-
turschwachen Regionen. Die Gemeinschaftsaufgabe wird
mit zusätzlichen Finanzmitteln in Höhe von 39 Millionen
Euro ausgestattet, ohne dabei den Bundeshaushalt zu-
sätzlich zu belasten. Das wiederum ist eine gute Nach-
richt für den Steuerzahler und ganz im Sinne unseres
Ziels einer Haushaltskonsolidierung. Die GRW-Mittel
steigen damit von den ursprünglich im Regierungsent-
wurf des Bundeshaushalts für 2012 vorgesehenen
557 Millionen Euro auf 596 Millionen Euro an. Das be-
deutet die Fortführung der Regionalförderung, entspre-
chend des Koalitionsvertrages, auf hohem Niveau, trotz
notwendiger Sparmaßnahmen im Zuge des beschlosse-
nen Sparpakets.

Die investive GRW-Förderung leistet einen wirkungs-
vollen und nachhaltigen Beitrag zur Stärkung wettbe-
werbsfähiger Strukturen und zum Aufbau nachhaltiger
Beschäftigung. Damit kann die GRW ihre erfolgreiche
Förderung strukturschwacher Regionen in den ost- und
westdeutschen Bundesländern fortsetzen. Gerade vor
dem Hintergrund der wegfallenden Investitionszulage
und Unsicherheiten über die Zuflüsse aus dem EFRE ab
2014 ist eine hinreichende Ausstattung der GRW für
eine wirkungsvolle Regionalpolitik erforderlich. Der
Umfang der im Haushalt 2012 ausgebrachten Verpflich-
tungsermächtigungen ermöglicht den Bundesländern
Mittel für Investitionen in den kommenden drei Jahren in
notwendiger Höhe zu bewilligen und damit eine kontinu-
ierliche und nachhaltige Förderung zu gewährleisten.
Diese Entscheidung ist ein deutliches Signal an die Re-
gierungen der Bundesländer, ihrerseits entsprechende
Haushaltsmittel bereitzustellen.

Als Beauftragte für IT-Kommunikation meiner Fraktion
und stellvertretende Vorsitzende der Koalitionsarbeits-
gruppe „Ländliche Räume, regionale Vielfalt“ möchte
ich besonders einer Verwendung der zusätzlichen Finanz-
mittel für die Förderung des Breitbandausbaus anregen.
Die Standortnachteile ländlicher Regionen, die in Sa-
chen Breitbandausbau noch Defizite aufweisen, können
so in Angriff genommen werden.

Die GRW-Förderung wirkt, und das belegt auch die
hohe Abfrage der Mittel seitens der Bundesländer und

Unternehmer. Auch in Phasen einer schleppenden Kon-
junktur hat sich die Förderung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur bewährt. Das bestätigt die Evaluierung
der GRW-Förderung zwischen 2008 und 2010. Dem-
nach stiegen die Investitionen von Unternehmen, es
konnten Arbeitsplätze geschaffen und erhalten werden.

Diese Ergebnisse bestärken uns in der Entscheidung,
die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regiona-
len Wirtschaftsstruktur“ fortzuführen.


Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718432000

Die Kohäsionspolitik gehört zu den Kernaufgaben

der EU. Sie soll die wirtschaftlichen und sozialen Unter-
schiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten und einzelnen
Regionen verringern. Ein Drittel des gesamten EU-
Haushalts wird dafür ausgegeben. Mit den Geldern wer-
den zum Beispiel Investitionen in kleine und mittlere
Unternehmen, KMU, Qualifizierungsprojekte für Ar-
beitslose und Infrastrukturmaßnahmen gefördert. Einige
Entwicklungsunterschiede konnten so schon reduziert
werden. Kohäsionspolitik stärkt den wirtschaftlichen,
sozialen und territorialen Zusammenhalt.

In Deutschland haben vor allem die ostdeutschen
Bundesländer von den EU-Fördermitteln profitiert. So
wurde die Erneuerung der Infrastruktur, die Förderung
von Forschung und Entwicklung und die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit möglich. In Deutschland selbst wird
außerdem über die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“,
GRW, an der Gleichstellung gleichwertiger Lebensver-
hältnisse in Deutschland gearbeitet.

Ab 2014 sollen neue EU-Vorgaben für die Regional-
politik gelten. Damit fallen Entscheidungen darüber, wo
und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch ge-
fördert werden darf. Diese Weichenstellungen müssen
der Grundidee der Struktur- und Kohäsionspolitik ge-
recht werden!

Die Bundesregierung will mit Strukturpolitik, „insbe-
sondere wirtschaftlich schwächeren Regionen dabei hel-
fen, Standortnachteile abzubauen und Anschluss an die
allgemeine Wirtschaftsentwicklung zu halten“. Aber das
darf nicht das einzige Ziel sein. Mit diesen Geldern muss
auch der sozial-ökologische Umbau vorangetrieben
werden. Regionale Wirtschaftskreisläufe müssen ge-
stärkt werden statt einseitiger Exportorientierung. Bei
den geförderten Investitionsprojekten müssen Tarifver-
träge eingehalten und ökologische Standards sicherge-
stellt werden. Und selbst wenn Wirtschaftswachstum
nicht wie erhofft generiert werden kann, dürfen struktur-
schwache Regionen nicht abgeschrieben werden. Das
heißt, in Regionen, die besonders vom demografischen
Wandel betroffen sind, stellt sich weniger die Frage, wie
Wachstum initiiert werden kann. Hier geht es darum, Le-
bensqualität langfristig zu sichern und so auch dem
Schrumpfen der Bevölkerung entgegenzuwirken.

Im vorliegenden Antrag der schwarz-gelben Koali-
tion begrüßen wir die Forderung, die Rolle der GRW be-
züglich der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegen-
schaften entsprechend zu würdigen. Auch unterstützen

Zu Protokoll gegebene Reden





Johanna Voß


(A) (C)



(D)(B)


wir das Ansinnen, faire Übergangsregelungen für die
ostdeutschen Bundesländer und andere Regionen zu
schaffen, die ihren Status als A-Fördergebiet verlieren.

Für die Förderung von Großunternehmen ist die EU-
Regionalpolitik allerdings weder geeignet, noch wird sie
dafür gebraucht. Aber genau das fordert die Regie-
rungskoalition. Wir fordern stattdessen, dass die ohne-
hin nicht gerade üppig bemessenen Gelder den Kernauf-
gaben der Regionalpolitik zugutekommen sollen.

Außerdem müssen die Kriterien des Verteilungsme-
chanismus erweitert werden. Bisher wird die Förder-
bedürftigkeit von Regionen ausschließlich nach wirt-
schaftlichen Kennzahlen ermittelt. Aber auch vom
demografischen Wandel besonders betroffene Regionen
müssen explizit berücksichtigt werden.

Darüber hinaus muss sich die Bundesregierung in
den Verhandlungen mit der EU für folgende drei Punkte
einsetzen:

Erstens darf die Kohäsionspolitik nicht zu einem
bloßen Umsetzungsinstrument der EU-2020-Strategie
werden. Die Verbindung von Kohäsionspolitik mit der
neoliberalen EU-2020-Strategie brauchen wir nicht.

Zweitens muss sich die Mittelvergabe aus dem Euro-
päischen Sozialfonds mehr auf die Förderung von „Gu-
ter Arbeit“ und auf die Armutsbekämpfung richten.
Wettbewerbsfähigkeit ist kein Ziel an sich.

Drittens ist die Idee der „makroökonomischen Kondi-
tionalität“ sofort zu verwerfen. Die EU-Kommission
will damit durchsetzen, dass Mitgliedstaaten, die sich ei-
nem Defizitverfahren aufgrund der Verletzung der
Maastricht-Kriterien unterziehen müssen, mit einem
teilweisen Entzug von Mitteln aus den Strukturfonds be-
straft werden. So würden Regionen für die Haushalts-
politik der Nationalstaaten bestraft, für die sie keine
Verantwortung tragen. Hinzu kommt, dass ein Staat, der
sich offensichtlich in haushalts- und fiskalpolitischen
Schwierigkeiten befindet, nicht noch zusätzlich durch
den Entzug von Fördergeldern bestraft werden sollte.
Die Kohäsionspolitik war und ist ein deutliches Zeichen
der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, und das
muss sie auch bleiben!


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718432100

Wäre dieser Antrag gut gemacht, könnte er nicht nur

Menschen und kleinen und mittleren Unternehmen in
strukturschwachen Gebieten in Deutschland helfen. Er
könnte auch gegen die Rezession, besonders gefährlich
in Spanien, Italien und Griechenland, helfen, zu einer
Lösung beitragen. Stattdessen bringen Sie unterstüt-
zungsbedürftige Menschen in Deutschland und in Eu-
ropa in die Gefahr, dass ihnen ab 2014 die Hilfe entzo-
gen wird. Denn hinter den Widersprüchen und den
irreführenden Begriffen dieses Antrags verbirgt sich vor
allem die Forderung nach weniger: Sie wollen rund
100 Milliarden Euro weniger im wahrscheinlich sieben-
jährigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Und
Sie wollen weniger klare Regeln, als die EU-Kommis-
sion vorgeschlagen hat und die Grünen im Europaparla-
ment unterstützen. Das ist falsch. In der Krise brauchen

wir mehr Europa. Wir brauchen mehr europäische Soli-
darität in Form eines Investitionsprogramms in den so-
zialen und ökologischen Wandel, in Berliner Bezirken, in
ostdeutschen Kommunen und in Spanien, Italien und
Griechenland. Damit das Geld klug in Köpfe statt in
eine neue Immobilienblase fließt, in die nötige Infra-
struktur für das Einsparen der 400 Milliarden, die
Europa jetzt noch für Ölimporte ausgibt, braucht es ver-
bindliche Regeln und wirksame Erfolgskontrolle.

Der irreführende Begriff Better Spending heißt in der
Realität zuerst: Statt 1,12 Prozent des Bruttonational-
einkommens bisher soll die EU in sieben Jahren nur
1,0 Prozent investieren können. Dieser Freundeskreis
von Regierungen will Ländern in der Rezession helfen,
indem er Investitionsmittel kürzt. Die Bundesregierung
ist ganz vorne dabei. Das Institut der deutschen Wirt-
schaft hat gerade noch einmal ausgerechnet, dass diese
Bundesregierung 2009 bis 2012 durch den Zinsvorteil
von Bundesanleihen 52,5 Milliarden Euro Entlastung
ohne Eigenleistung erfahren hat. Braucht die Bundesre-
gierung diese 52,5 Milliarden so dringend, um so zu tun,
als würde sie sparen, dass nichts übrig bleibt, um in die
Energiewende in Europa zu investieren? Investitionen in
erneuerbare Energien in Griechenland senken nicht nur
das Außenhandelsdefizit dort, sondern bringen auch
Jobs für deutsche Fachbetriebe. Sie verhindern das ak-
tuell. Wir fordern: Lassen Sie uns jetzt in eine nachhal-
tige Wirtschaft investieren!

Eine faire Regelung, ohne de facto die sozial-ökologi-
schen Investitionsmittel noch weiter zu kürzen, braucht
auch die Frage der Reste à Liquider, kurz RAL. Übrige
Mittel sollten nicht einfach aus dem EU-Haushalt he-
rausfallen.

Mit weniger Geld für den EU-Haushalt gefährden Sie
aber die Vorteile der EU-Strukturfonds nicht nur für an-
dere Länder in Europa, sondern auch für strukturschwa-
che Gebiete in Deutschland, die davon bisher sehr pro-
fitieren konnten. Viele Gebiete sollen nach bisherigen
Regeln endgültig aus der Höchstförderung herausfallen.
Wer sich mit der Debatte auch außerhalb Deutschlands
beschäftigt, weiß: Der Kommissionsvorschlag der Über-
gangsregionen ist die einzige Hoffnung, für diese
Gebiete, einen sanften Übergang finden zu können. Sie
sollten wissen, dass Ihre Forderung nach einem „Sicher-
heitsnetz“ ganz vorwiegend spezifisch für Ostdeutsch-
land nicht für einen europäischen Kompromiss taugt.
Machen Sie den Menschen keine falschen Hoffnungen.
Unterstützen Sie wie wir die Übergangsregionen.

Better Spending meint nicht nur weniger Geld, son-
dern völlig gegen die Logik der deutschen Sprache auch
schlechtere Regeln und verwässerte Ziele im Vergleich
zum EU-Kommissionsvorschlag. Die Kommissare hat-
ten vorgeschlagen: In entwickelten Regionen müssen
80 Prozent für die Energiewende ausgegeben werden,
50 Prozent über den Europäischen Sozialfonds – also in
Köpfe statt in Beton. Einige kämpfen gerade gegen die
Mindestquote für den Europäischen Sozialfonds, den
ESF. Finger weg von diesem wichtigen Vorschlag der
Kommission!

Zu Protokoll gegebene Reden





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


Vordergründig unterstützen Sie die EU-2020-Ziele,
öffnen dann aber Hintertüren, um zum Beispiel mit dem
Argument Tourismusförderung doch wieder Autobahnen
zu bauen. Sie wollen Förderung auf kleine und mittlere
Unternehmen konzentrieren, aber ja nicht die Groß-
industrie ausschließen. Gar keine Entscheidung im Bun-
destag, um es Kompromissen nachts beim Gipfel zu
überlassen? So viel Entscheidungsunfähigkeit ist ge-
fährlich.

Besonders schädlich war in der Vergangenheit die
Förderung für Neuansiedlungen von Großbetrieben, die
dann wie Nokia aus dem Ruhrgebiet nach Rumänien zo-
gen und inzwischen schon wieder den Standort gewech-
selt haben. Die Kommission und wir wollen damit
Schluss machen. Finden auch Sie die Stärke zu dieser
Entscheidung.

Einig sind wir uns beim Anliegen, die Mittel nach
dem Prinzip der Subsidiarität zu verwenden. Das heißt,
diejenigen, die sich vor Ort auskennen, sollen eng in die
Entscheidungen eingebunden sein. Praktisch fordern Sie
deshalb mehr Macht für die Landesregierungen. Aber
die lokalen Partner, die Zivilgesellschaft, die Kommu-
nen sind noch näher am Wissen um die lokalen Struktu-
ren. Auch die Abgeordneten der Landtage kennen ihre
Wahlkreise gut. Seien Sie konsequent und unterstützen
Sie unsere Forderungen, die Partner und Parlamente
auf allen Stufen der Entscheidung wirksam einzubinden.

Ausreichend Mittel, um gegen den Zyklus dieser Krise
zu kämpfen, wirksame Regeln für die Umsetzung der
EU-2020-Ziele ohne Hintertüren und die demokratische
Einbindung des Wissens der lokalen Expertinnen und
Experten: Damit richten Sie die Gemeinschaftsaufgabe
Regionale Wirtschaftsstruktur und die EU-Kohäsions-
politik gegen die Krise und für die Zukunft richtig aus.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718432200

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9938 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 36:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Marco Bülow, Dirk Becker, Gerd
Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Keine deutsche Zustimmung zu einer europäi-
schen Förderung der Atomenergie

– Drucksachen 17/9554, 17/9799 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß

Die Reden haben wir zu Protokoll genommen.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1718432300

Der vorliegende Antrag verdeutlicht einmal mehr, wie

sehr die Opposition an ihrem Lieblingsthema Atomkraft

klebt. Auch wenn zu Euratom und Atomausstieg schon
alles gesagt wurde, versuchen einige unbeirrbar, weiter-
hin das Thema durch immer neue Anfragen und Anträge
aufzublasen. Diesen sei gesagt: Wir schalten die Kern-
kraftwerke ab. Suchen Sie sich ein neues Thema.

Die deutsche Bundesregierung hat mit der Energie-
wende einen mutigen und weltweit beispiellosen Weg be-
schritten. Die Förderung der erneuerbaren Energien
steht dabei an erster Stelle. Doch auch wenn Deutsch-
land beschlossen hat, aus der Kernenergie auszusteigen,
bedeutet dies nicht, dass uns andere EU-Mitgliedstaaten
automatisch folgen müssen. Als guter europäischer
Nachbar haben wir es zu respektieren, wenn andere EU-
Länder die mit der Kernenergie verbundenen Risiken für
akzeptabel halten. Wir können und dürfen nicht aus
einer nationalen Befindlichkeit heraus den Strommix
unserer Nachbarn bestimmen. Die Wahl des Strommixes
bleibt auch weiterhin den Mitgliedsländern selbst über-
lassen. Hierzu empfehle ich den geschätzten Oppositions-
kollegen die Lektüre des Lissabon-Vertrags: Dort steht
in Art. 194 explizit das Recht eines Mitgliedstaats auf
die Wahl seiner Energiequellen festgeschrieben.

Der Energiefahrplan der EU-Kommission stellt fest,
dass mit der Kernenergie eine Dekarbonisierungsoption
geboten wird, die den Großteil des in der EU verbrauch-
ten CO2-arm erzeugten Stroms liefert. Dabei muss man
ganz klar sehen, dass dieser Anteil nicht so schnell wie
von manchen gefordert zu ersetzen sein wird. EU-weit
ist die Forderung nach weniger Kernkraft im Stromsek-
tor mit den ehrgeizigen EU-Klimaschutzzielen vorerst
nicht vereinbar. Im Gegenteil bietet Strom aus Kernener-
gie mit CO2-Emissionen von 32 Gramm je Kilowatt-
stunde bessere Emissionswerte als Wasserkraft mit
40 Gramm je Kilowattstunde oder Solarzellen mit sogar
101 Gramm je Kilowattstunde. Wenn man die ökonomi-
sche Seite des Klimaschutzes betrachtet, so taucht die
Frage nach den Kosten der CO2-Vermeidung auf: Also,
wie viel kostet es, eine Tonne weniger CO2 zu emittie-
ren? Schaut man sich diese Größe an, so bietet die Kern-
energie mit Vermeidungskosten von 15 bis 30 Euro je
Tonne vermiedene CO2-Äquivalente sogar eine günsti-
gere Alternative als Strom aus Sonne, Wind und Wasser.
Man muss diese Zahlen kennen, um über Kernenergie
und Klimaschutz diskutieren zu können.

Nichtsdestotrotz haben wir in Deutschland unter dem
Eindruck der Ereignisse von Fukushima beschlossen,
dass wir uns den Ausstieg aus der Kernenergie leisten
möchten. Deutschland steht somit vor einer doppelten
Herausforderung im Energiesektor: Die abgestellten
Kernkraftwerke sind möglichst schnell klimaschonend
zu ersetzen. Wenn wir uns jedoch den damit verbunde-
nen Anstrengungen stellen, so heißt das nicht, dass auch
andere Länder diese auf sich nehmen müssen. Wir soll-
ten es unseren Nachbarn also selbst überlassen, auf wel-
chem Wege sie die Klimaschutzziele erreichen, anstatt
dauernd zu versuchen, in ihre Angelegenheiten reinzu-
reden.

Die Opposition hält ihr altes Kampfthema Kernkraft
immer noch hoch. Doch nicht die Kernenergie, sondern
der Ausbau der erneuerbaren Energien steht im Mittel-





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


punkt des EU-Energiefahrplans. Deshalb ist es doch
sinnvoller, über neue Chancen zu reden, anstatt dem al-
ten Klassenfeind nachzutrauern. Der EU-Energiefahr-
plan 2050 weist uns Wege für mehr Klimaschutz und für
eine nachhaltige Energiepolitik. Die enthaltenen Szena-
rien für eine fast vollständige Treibhausgasreduktion,
nämlich auf 5 bis 20 Prozent im Jahre 2050 verglichen
mit 1990, sind sehr ambitioniert. Darüber in das Klein-
Klein der Kernenergiefragen zu verfallen, zeugt nicht
gerade von großem Verantwortungsbewusstsein. Statt-
dessen sollte die Opposition lieber konstruktiv an der
Energiewende hierzulande mitarbeiten, um Europa und
der Welt zu zeigen, dass der Weg Deutschlands durchaus
gangbar ist. Mitarbeiten heißt konkret, Blockadehaltun-
gen auflösen, beispielsweise auf Landesebene beim Aus-
bau der Netze oder beim Bau von dringend benötigten
Pumpspeicherkraftwerken, wie zum Beispiel Atdorf im
Schwarzwald.

Über mehr Klimaschutz und Ressourcenunabhängig-
keit als Ziele unserer Energiepolitik sind wir uns hof-
fentlich alle einig. Genau deswegen ist es richtig, dass
wir europaweit nicht nur den Ausbau der erneuerbaren
Energien vorantreiben, sondern auch die Energieeffi-
zienz fördern. Das Ziel von 20 Prozent mehr Energie-
effizienz bis 2020 ist ehrgeizig, aber auch erreichbar.
Die Steigerung der Energieeffizienz führt dazu, dass wir
insgesamt weniger Energie verbrauchen, unabhängig
von der Erzeugungsart. Deshalb dürfte es unseren
Nachbarländern in Zukunft einmal leichter fallen, auf
Kernenergie zu verzichten, zumal bei einem weiteren Zu-
bau von erneuerbaren Energien.

Der EU-Energiefahrplan zeigt auf, dass wir die Ener-
gieeffizienz noch weiter werden steigern müssen. Auf eu-
ropäischer Ebene sorgt der Energieeffizienzplan für die
notwendigen Anreize und Schwerpunktsetzung. Vor al-
lem der Bereich der Gebäudesanierung verspricht hier
große Möglichkeiten. Die Blockadehaltung der Opposi-
tion im Bundesrat bei der Zustimmung zur steuerlichen
Förderung der Gebäudesanierung ist deshalb besonders
beschämend.

Gleichzeitig wird auf nationaler Ebene durch Initia-
tiven wie das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, die
Mietrechtsnovelle oder das Marktanreizprogramm für
regenerative Wärmetechnologien Anreize für mehr Ener-
gieeffizienz geschaffen. Wir sind also auf dem richtigen
Weg.

Mit den 20-20-20-Zielen hat sich die EU ambi-
tionierte Energie- und Klimavorgaben gegeben. Es ist
unser aller gemeinsames Ziel, diese zu erreichen. Diese
gemeinsame Zielsetzung rechtfertigt jedoch keine Sou-
veränitätsverletzung einzelner Mitgliedstaaten in Ener-
giefragen. Denn auch wenn die Opposition am liebsten
alle Länder zu einem Atomausstieg zwingen möchte,
muss dennoch akzeptiert werden, dass andere Mitglied-
staaten an der Kernenergie festhalten.

Mit Euratom haben wir auf europäischer Ebene auch
das passende Instrument, um angemessen in Kernener-
giefragen mitreden zu können und dies trotz des selbst-
gewählten Ausstiegs aus der Kernenergie. Die von Tei-
len der Opposition erhobene Forderung nach einer

Anpassung von Euratom oder gar einem Ausstieg schie-
ßen deshalb weit über das Ziel hinaus. Nicht einmal
Greenpeace Österreich ist für einen Austritt aus Eura-
tom. Wir können zwar mit dem eingeschlagenen Weg zei-
gen, dass wir unsere Energieversorgung ohne Kernener-
gie gewährleisten können, aber wir können die anderen
Länder nicht zwingen, aus der Kernenergie auszustei-
gen.


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1718432400

Zweifelsohne werden im EU-Energiefahrplan bis

2050 neue Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Aber
was nun den heutigen Antrag konkret angeht, darf ich
erst einmal Dichtung und Wahrheit sortieren:

Es gab im April eine sich dann als falsch erwiesene
Pressemeldung, dass Frankreich, Großbritannien, Polen
und Tschechien sich per Brief an die EU-Kommission
gewandt hätten mit dem Ziel, „dass Brüssel Nuklear-
technik genauso wie Wind- und Solaranlagen fördert“,
„Süddeutsche Zeitung“, 13. April 2012. Richtig ist, dass
sich diese die Staaten in ihren Stellungnahmen zum so-
genannten Energiefahrplan 2050 für eine Gleichwertig-
keit aller CO2-armen Technologien einsetzen. Damit ist
jedoch nicht notwendigerweise eine Förderung auf EU-
Ebene verknüpft. Das ist eine reine Behauptung Ihrer-
seits.

Die Bundesregierung setzt sich in ihrer Stellung-
nahme zum Entwurf der Ratsschlussfolgerungen zum
Energiefahrplan dafür ein, dass keine Förderung von
Nuklearenergie durch die EU-Ebene erfolgt. Es gibt
nach vorliegenden Informationen derzeit auch keine
Pläne, auf EU-Ebene eine Subventionierung geplanter
oder in Betrieb befindlicher Kernkraftwerke anzustre-
ben. Damit ist Ihr Antrag bereits obsolet.

Deutschland vertritt eine andere Haltung zur Nuklear-
energie als die in der Pressemeldung genannten Staaten.
Gleichzeitig ist jedoch die souveräne Entscheidung ei-
nes jeden EU-Mitgliedstaates zu achten, der gegebenen-
falls Nuklearenergie auf seinem Gebiet zulässt und för-
dert. Der Vertrag von Lissabon belässt die Hoheit über
den Energiemix in der Hand der EU-Mitgliedstaaten.
Europäische Energieeffizienzpolitik muss die unter-
schiedlichen Potenziale zur Steigerung der Energieeffi-
zienz und die Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten be-
rücksichtigen.

Ich bin mir allerdings sicher, die deutsche Energie-
wende wird sich langfristig auch auf die anderen Mit-
gliedstaaten auswirken, wenn sie uns überzeugend ge-
lingt, ganz nach dem Motto Vorbild statt Bevormundung.

Aber ich möchte doch auf Ihr Szenario eingehen.
Wenn Sie die Kernkraft so sehr fürchten, müssen Sie
doch dafür eintreten, dass die bestehenden Kraftwerke
auf die technisch besten Sicherheitsstandards gebracht
werden. Solange sie noch genutzt werden, haben wir
doch ein ureigenes Interesse daran, dass der von Ihnen
beispielhaft erwähnte Reaktorpark in Frankreich sicher-
heitstechnisch ertüchtigt wird. Selbst wenn es hierfür
auch EU-Mittel bedürfte, wäre dies doch allemal besser,
als irgendwelche Risiken zu erhöhen. Zudem sollten wir in

Zu Protokoll gegebene Reden





Franz Obermeier


(A) (C)



(D)(B)


der Tat – und da widerspreche ich Ihnen ausdrücklich –
allen energieerzeugenden Technologien unter dem As-
pekt der CO2-Vermeidung offen gegenüberstehen.

Sie nennen die Windkraft als positives Beispiel. Dabei
vermeiden Sie geflissentlich, die CO2-Bilanz der Photo-
voltaik zu erwähnen. Die fällt nämlich gegenüber der
Kernkraft deutlich schlechter aus, und zwar um das
Vier- bis Achtfache schlechter. Das zeigt eine Ausarbei-
tung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages
über die „CO2-Bilanzen verschiedener Energieträger im
Vergleich“. Also, wenn schon, dann bitte die ganze
Wahrheit.

Machen wir uns doch nichts vor: Wir können den an-
deren Mitgliedstaaten erstens nichts vorschreiben und
zweitens nicht von jetzt auf gleich eine Vollbremsung
hinlegen. Noch haben wir unsere Probleme wie den nö-
tigen Ausbau der Hochspannungsnetze, die Fragen der
Energiespeicherung und vieles mehr auch noch nicht zu-
friedenstellend gelöst. Da ist es klüger, nicht allzu ein-
gleisig aufgestellt zu sein.

Als Wirtschaftspolitiker sehe ich auch den positiven
Effekt, dass der deutsche Technologie- und Forschungs-
standort sich weiter frei entwickeln können muss. Da wir
anerkanntermaßen mit weltführend sind, was die Sicher-
heitstechnik in Kernkraftwerken angeht, wäre es fatal,
hier mit ideologischen Scheuklappen von jetzt auf gleich
alle abzuwürgen. Solange es weltweit immer noch Kern-
kraftwerke gibt und geben wird, sollte wenigstens deut-
sche Sicherheitstechnik zum Einsatz kommen können.
Ich sage, wir müssen die Energiewende sorgfältig,
Schritt für Schritt und mit Augenmaß vornehmen.

Wir alle sind gegen einen hemmungslosen CO2-Aus-
stoß, der keine Rücksicht nimmt auf die Folgen für Men-
schen und Umwelt. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es,
für eine verlässliche und umweltverträgliche Stromver-
sorgung zu sorgen, die uns aber nicht die Basis unseres
Sozialstaates – Wirtschaft und Arbeitsplätze – unter un-
seren Füßen wegzieht.


Marco Bülow (SPD):
Rede ID: ID1718432500

Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass man an

dieser Stelle, wenn man über das Thema Atomenergie
redet, vorrangig über die Fragen debattiert: Wie kann
man noch schneller aussteigen? Wie kann man für mehr
Sicherheit sorgen? Wie kann man einer Lösung der End-
lagerfrage näherkommen? Wie kann man Nachbarn
beim Atomausstieg helfen? Gerne hätte man das Gefühl,
es ginge voran, man würde einen großen Schritt nach
dem anderen machen, um mehr Sicherheit für Mensch
und Umwelt zu schaffen und die Energiewende konse-
quent zu vollziehen. Aber nein, stattdessen man muss
tatsächlich darüber reden, dass Atomenergie nicht noch
zusätzlich gefördert wird.

Vor einem Jahr sind wir mit viel rhetorischem Brim-
borium ausgestiegen. Seitdem ist beim Thema Atom-
energie nichts mehr passiert. Wo bleiben denn die Initia-
tiven der Bundesregierung, um den Atomausstieg auch
international voranzutreiben? Den Griechen wollen wir
ständig erklären, was sie zu tun und zu lassen haben –

schließlich geht es da um unser Geld! Wenn es nicht um
Geld, sondern „nur“ um die Sicherheit unserer Bürge-
rinnen und Bürger geht, dann halten wir uns vornehm
zurück. Wir wollen ja angeblich niemandem irgendwo
hineinreden. Jedes Land solle selbst entscheiden, wie es
seinen Energiebedarf deckt. Ja, das ist richtig, aber nur
solange andere davon nicht bedroht werden. Fossile und
nukleare Energieproduktion haben aber internationale
Folgen. Auch wenn sich in der globalen Klimapolitik zu-
letzt leider nichts mehr bewegt hat, so ist wenigstens
hier doch nahezu allen Beteiligten seit Jahren klar, dass
es nicht allein um nationale Belange geht, sondern das
Verhalten einzelner Länder Auswirkungen auf Menschen
in ganz anderen Erdteilen hat.

Bezüglich des Betriebs von Atomkraftwerken wissen
wir schon seit Jahrzehnten, dass sich die Auswirkungen
eines Reaktorunfalls in der Regel nicht auf nationale
Territorien beschränken. Trotzdem passiert hier nichts,
um einen globalen Atomausstieg zumindest als langfris-
tiges Ziel zu formulieren. Im Gegenteil, Politiker der Re-
gierungskoalition, die vor einem Jahr für den Atomaus-
stieg in Deutschland gestimmt haben, sind nach wie vor
dafür, dass Nachbarländer Atomkraftwerke betreiben.
So hat beispielsweise der Kollege Joachim Pfeiffer noch
an diesem Montag in der Anhörung des Wirtschaftsaus-
schusses zu Euratom erwähnt, dass es richtig sei, dass
andere Länder noch auf Atomenergie setzen.

Natürlich wundert mich das nicht; denn der erneute
Atomausstieg im letzten Jahr war nicht für alle in Union
und FDP eine Überzeugungstat, sondern für genügend
Atomfreunde ein wahltaktisches Manöver, das sie zähne-
knirschend vollzogen haben. Daher fehlt es in Union
und FDP jetzt an Geschlossenheit, um das Thema wei-
terhin offensiv anzugehen. Der nächste Schritt wäre
konsequenterweise, sich in der EU für einen europawei-
ten Atomausstieg stark zu machen. Wenn man liest, dass
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in
Mainz errechnet haben, dass Ereignisse wie in Tscher-
nobyl und Fukushima etwa einmal in 10 bis 20 Jahren
auftreten können und damit 200-mal häufiger als in der
Vergangenheit geschätzt, dann sollte man alles andere
tun, als die Füße stillzuhalten. Die Mainzer haben auch
festgestellt, dass Westeuropa weltweit das höchste Ri-
siko einer radioaktiven Kontamination trägt, denn hier
ist die Dichte an Reaktoren am höchsten. Insgesamt sind
in Europa noch 133 Atomkraftwerke am Netz. Es bleibt
also noch viel zu tun.

Wenn Länder wie Frankreich, Großbritannien, Polen
und Tschechien jetzt plötzlich auch noch fordern, Atom
als klimafreundliche Energie anzuerkennen, um sie so-
mit genauso subventionieren zu können wie zum Beispiel
erneuerbare Energien, dann reicht es nicht, wenn die
Bundesregierung dies still und leise ablehnt. Hier wäre
ein lautes und klares Nein die richtige Antwort, und
zwar eingebettet in eine Initiative, die versucht, auch an-
dere Länder davon zu überzeugen, dass Atomenergie
keine Zukunft mehr hat. Neue Atomkraftwerke, beson-
ders im dichtbesiedelten Europa, bauen zu wollen, zeugt
von nationalem Egoismus, den man nicht, wie Herr
Pfeiffer, beklatschen sollte. Es ist schon traurig, dass die
Führungseliten einiger Länder, offensichtlich unter dem

Zu Protokoll gegebene Reden





Marco Bülow


(A) (C)



(D)(B)


Eindruck der Atomlobby stehend, nicht das Sicherheits-
bedürfnis und die Gesundheit ihrer Bevölkerung in den
Vordergrund stellen. Aber wenn das schon so ist, dann
ist es nicht nur legitim, sondern geradezu eine Verpflich-
tung für die Bundesregierung, zu sagen: Wir können das
nicht tolerieren, weil auch Menschen in Deutschland da-
durch gefährdet werden.

Man muss sich über die Überlegungen Großbritan-
niens schon sehr wundern, für Strom aus neuen Atom-
kraftwerken eine feste Einspeisevergütung garantieren
zu wollen, quasi ein EEG für Atomkraftwerke – und das
für eine seit Jahrzehnten eingeführte Technologie, die
sich am Markt bis heute nicht so weit wirtschaftlich
rechnet, dass sich private Investoren finden würden, die
das immense Milliardenrisiko ohne staatliche Unterstüt-
zung in Kauf nehmen wollten; für eine Technologie, die
hochgefährliche Abfälle hinterlässt, deren sichere Ent-
sorgung auch im Vereinigten Königreich nicht geklärt
ist; für eine Technologie, die wieder einmal auf zentra-
listische und unflexible Großstrukturen setzt, die mit
dem Ausbau der erneuerbaren Energien nicht zusam-
mengehen. Es ist einfach ein Widerspruch, in Zukunft
vor allem auf die Erneuerbaren setzen, aber gleichzeitig
neue Atomkraftwerke bauen zu wollen.

Ich würde gerne einmal von einem Menschen mit wirt-
schaftlichem Sachverstand erklärt bekommen, wie sich
neue Atomkraftwerke ganz ohne Hilfe der Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler rechnen sollen, wenn sie es bis-
her nicht getan haben, obwohl die Rahmenbedingungen
sogar günstiger waren. Schließlich müssen die Atom-
reaktoren in Zukunft viel häufiger ihre Leistung drosseln,
hoch- und runterfahren, also im verschleißfördernden
Lastwechselbetrieb laufen, um auf die zum Teil volatile
Stromeinspeisung von erneuerbaren Energien reagieren
zu können. Offenbar gibt es selbst unter Atomenergiebe-
fürwortern keinen mehr, der eine solche Rechnung nach-
vollziehbar aufmachen kann. Ansonsten würde man nicht
ausgerechnet aus Großbritannien, dem Vorreiterland des
völlig liberalisierten Marktes, das sich immer gegen je-
den staatlichen Interventionismus wendet, Stimmen hö-
ren, die die Förderung der Atomenergie fordern.

In unserem Antrag „Keine deutsche Zustimmung zu
einer europäischen Förderung der Atomenergie“ for-
dern wir daher die Bundesregierung auf, die Anliegen
Großbritanniens, Frankreichs, Polens und Tschechiens
ganz klar abzulehnen. Eine Gleichstellung von Atom-
energie mit den erneuerbaren Energien ist geradezu ab-
surd. Wenn sich morgen die zuständigen EU-Minister
treffen, um erneut über das Thema zu reden, dann muss
das Nein Deutschlands eindeutig stehen. Das sind Sie
den Menschen, denen Sie im letzten Jahr mehr Sicher-
heit und eine nachhaltige Energiewende versprochen
haben, schuldig.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1718432600

In ihrem Antrag fordert die SPD-Fraktion die Bundes-

regierung auf, sich beim Europäischen Rat für Verkehr,
Telekommunikation und Energie am 15. Juni klar gegen
eine Gleichstellung der Atomenergie mit erneuerbaren
Energien auszusprechen. Sie soll sich dort gegen jede

Subventionierung vorhandener oder geplanter Kern-
kraftwerke aussprechen – ein frommer Wunsch. Aller-
dings gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung
derzeitig überhaupt gar keine konkreten Pläne, auf
EU-Ebene eine Subventionierung geplanter oder schon
in Betrieb befindlicher Kernkraftwerke anzustreben.
Vielmehr will die EU die Umsetzung der Energiewende
mit einer gemeinsamen EU-Richtlinie vereinheitlichen.

Auch bin ich der Auffassung, dass es in Deutschland
einhellige Meinung ist, ausgereifte und erprobte Techno-
logien nicht noch obendrein zu fördern. So äußerte sich
auch eindeutig der Parlamentarische Staatssekretär
beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Ernst Burgbacher.

Anders sieht es natürlich bei dem Forschungsprojekt
ITER aus. Hier sind Investitionen in Forschung und Ent-
wicklung durchaus angesagt. Mit dem internationalen
Fusionsexperiment ITER wird erstmals eine Fusionsan-
lage entstehen, die einen Nettoenergiegewinn erzielen
kann. ITER stellt damit einen entscheidenden Schritt auf
dem Weg zu einem kommerziellen Fusionskraftwerk dar –
und damit zu einer schier unerschöpflichen und ebenso
sauberen Energiequelle.

Maßgeblichen Anteil an diesem Fortschritt hat das
Max-Planck-Institut. Im Teilinstitut Greifswald des Max-
Planck-Instituts für Plasmaphysik, IPP, entsteht derzeit
mit Wendelstein 7-X das weltweit größte und fortge-
schrittenste Stellaratorexperiment. Es soll die Kraft-
werkstauglichkeit dieses Anlagentyps demonstrieren.
Kernstück der Anlage ist ein Spulensystem aus 70 supra-
leitenden Magnetspulen. Durch dieses Engagement kön-
nen deutsche Forscher an der Spitze der Weltelite agie-
ren: sei es in der theoretischen Forschung oder in der
praktischen Materialentwicklung. Die notorischen Kriti-
ker an diesem Projekt erscheinen mir immer wie die Pes-
simisten, die vor gut hundert Jahren dem Automobil
keine Zukunft voraussagten.

In ihrem Antrag verweist die SPD-Fraktion auf die
von der dänischen Ratspräsidentschaft erbetenen Stel-
lungnahmen zum EU-Energiefahrplan bis 2050. Vier
Mitgliedstaaten – Großbritannien, Frankreich, Polen
und Tschechien – hätten sich darin für eine Gleichstel-
lung der Atomenergie mit erneuerbaren Energien ausge-
sprochen. Beide Energieformen seien kohlendioxidneu-
tral und damit wichtige Mittel gegen den Klimawandel.
Deshalb wollen die vier EU-Mitgliedsländer die finan-
zielle Förderung des Abbaus der Kohlendioxidemissio-
nen technologiefrei erfolgen lassen. In dieser Forderung
eine Motivation ökonomischer Natur zu sehen, wie es
die SPD tut, ist wirklich keine große Kunst. Es ist aber
verwunderlich, wenn Rot-Grün seinerzeit selbst Hun-
derte von verschiedenen Fördertatbeständen geschaffen
hat und sich dann erstaunt zeigt, wenn das System auf
europäischer Ebene Schule macht.

Im Dezember 2011 waren in 31 Ländern 437 Kern-
kraftwerke mit einer installierten elektrischen Brutto-
leistung von etwa 389 Gigawatt in Betrieb.

In 14 Ländern sind 63 Kernkraftwerke mit einer elek-
trischen Bruttoleistung von knapp 65 Gigawatt im Bau.

Zu Protokoll gegebene Reden





Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)


In Europa nutzen heute 14 der 27 EU-Mitgliedstaaten
Kernenergie. Dies tun sie nach dem deutschen Aus-
stiegsbeschluss mit insgesamt 135 Reaktoren.

Die weltweite Stromerzeugung aus Kernenergie be-
trug im Jahr 2011 netto rund 2 497,1 Milliarden Kilo-
wattstunden. Seit der ersten Stromerzeugung in einem
Kernkraftwerk 1951 in den USA – sind kumuliert rund
65 600 Milliarden Kilowattstunden netto erzeugt wor-
den.

Dies zeigt, dass für viele andere Länder die Kernkraft
noch lange kein Auslaufmodell ist. Das müssen wir so
akzeptieren. Insofern mutet es zumindest fragwürdig an,
wenn die SPD die Kernkraft in Bausch und Bogen als
völlig unwirtschaftlich ablehnt. Wo diese doch auch in
Europa noch durchaus verbreitet ist. Schließlich obliegt
es laut Euratom-Vertrag jedem einzelnen Staat, sich für
oder gegen die friedliche Nutzung der Kernkraft zu ent-
scheiden. Diese Entscheidung darf nicht durch europäi-
sche Gesetzgebung festgelegt werden.

Nach SPD-Meinung soll die Bundesregierung auf
eine Weiterentwicklung der Energiewende hinwirken.
Diese Meinung ist als Bemerkung schlichtweg überflüs-
sig. Denn sie tut es ja: Energiepaket, Netzentwicklungs-
plan, EEG- und KWK-Novelle usw.

Zielführender wäre es jedenfalls, wenn die Opposi-
tion ihre egozentrische Grundhaltung im Bundesrat än-
dern und die energetische Häusersanierung wie auch
die Anpassung der PV-Förderung nicht weiter blockie-
ren würde.

Zum Schluss argumentiert die SPD-Fraktion dann
noch mit einem vermeintlich hohen Energieverbrauch
beim Uranabbau. Deshalb sei die Kernkraft nicht koh-
lendioxidneutral. Das renommierte Schweizer Paul-
Scherrer-Institut hat unter Einbeziehung aller Faktoren
für die Kernkraft 16 bis 23 Gramm Kohlendioxidäquiva-
lent pro Kilowattstunde berechnet. Zum Vergleich: Für
die Photovoltaik fallen in Bezug auf Lebensdauer und
Produktion zwischen 80 und 160 Gramm Kohlendioxid
pro Kilowattstunde an. Dieser Ansicht folgend wies das
Landgericht Berlin am 9. November 2010 eine einstwei-
lige Verfügung auf Untersagung zurück. Mit dieser Ver-
fügung sollte dem Deutschen Atomforum Werbung
untersagt werden, die Kernkraft als CO2-freie Strompro-
duktion darstellt.

Der SPD-Antrag ist alles in allem ohne Bezug zur eu-
ropäischen Realität und auch in der sachlichen Argu-
mentation von einseitig interessengeleiteten Gutachten
getragen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.


Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718432700

Vor wenigen Tagen wurde eine Studie veröffentlicht,

aus der hervorging, dass der Süden Deutschlands die
mit am meisten von einem atomaren GAU gefährdete
Region Europas ist – und dabei handelt es sich nicht nur
um die Bedrohung aus eigenen Atomkraftwerken, viel-
mehr auch um Bedrohungen durch die nahegelegenen
französischen AKW knapp hinter der Grenze.

Atomkraft zu betreiben, ist keine national-isolierte
Angelegenheit. Eine radioaktive Wolke macht vor
Staatsgrenzen nicht halt. Deswegen müssen wir in der
Europäischen Union dringend über die nachbarschaft-
lichen Verantwortlichkeiten in Sachen Atomkraft spre-
chen. Während Deutschland einen zwar langsamen,
aber doch richtungsweisenden Atomausstieg vollzieht,
umzingeln uns geplante AKW-Neubauten, neuerlich
auch in Polen. Dieser Zustand ist unerträglich und muss
endlich in einer Diskussion um den Sinn und Zweck des
Euratom-Vertrags und letztendlich in dessen Auflösung
münden. Nur auf Grundlage des Euratom-Vertrags sind
solche absurden Forderungen, wie sie von Polen, Groß-
britannien, Tschechien und Frankreich jetzt zur Förde-
rung der Atomkraft nach Vorbild des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes erhoben werden, überhaupt erst möglich.
Es ist ganz klar, dass der Betrieb von Atomkraftwerken
nicht nur ökologisch Irrsinn ist, sondern auch ökono-
misch. Die Kosten, die mit der Atomkraft verbunden
sind, sind so hoch, dass es noch nie irgendwo ein Atom-
kraftwerk gegeben hat, das ohne staatliche Unterstüt-
zung zu bauen gewesen wäre. Genau daher kommt auch
diese absurde Forderung. Da Polen den fatalen Weg in
die Atomkraft einschlagen will und Großbritannien den
Bau mehrerer neuer Atomkraftwerke erwägt, brauchen
sie solch eine Förderung, um den Neubau ihrer Atom-
kraftwerke irgendwie wirtschaftlich darstellen zu kön-
nen.

Die Atomwirtschaft lässt sich von vorn bis hinten
durchsubventionieren: für den Bau, für den Betrieb, für
den Rückbau und für die Entsorgung von Atomkraft-
werken und ihren Begleiterscheinungen. Allein in
Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten so
Kosten von wenigstens 200 Milliarden Euro zusammen-
gekommen, die die Steuerzahler aufgebracht haben. In
anderen Staaten sind die Relationen zumindest ähnlich.
Als ob das nicht genüge – als ob es nicht genüge, dass
wir uns ebenfalls mit Steuergeldern noch um Jahrmillio-
nen strahlenden Müll werden kümmern müssen, und als
ob es nicht genüge, dass ein Atomkonzern mit einem lau-
fenden Atomkraftwerk 1 Million Euro Profit täglich er-
wirtschaften kann – bekommt die internationale Atom-
mafia den Rachen nicht voll genug und fordert ein EU-
Subventionsprogramm für die Atomkraft. Die Bevölke-
rung von Staaten wie Österreich, die verfassungsmäßig
Atomkraft im eigenen Land verboten haben, würden
dann zur Kasse gebeten werden zur Förderung auslän-
discher Atomkraftwerke. Welch ein Irrsinn! Man kommt
sich vor wie in die 50er-Jahre versetzt, als Franz Josef
Strauß als Atomminister durch die Lande zog und allen
das Märchen vom billigen, sauberen und sicheren Atom-
strom auftischte und sagte, dass das Wirtschaftswunder
davon abhinge.

Die international agierende Atomwirtschaft bäumt
sich wieder auf und versucht mit aberwitzigen Mitteln,
ihren Albtraum weiter zu träumen, und zwar auf Kosten
der Menschen, der Umwelt und der zukünftigen Genera-
tionen. Gleichzeitig verhindern die Institutionen der
Europäischen Union die Gründung einer europäischen
Antiatom-Bürgerinitiative mit dem billigen Argument,
eine solche verstieße gegen den Euratom-Vertrag. Wenn

Zu Protokoll gegebene Reden





Sabine Stüber


(A) (C)



(D)(B)


das Diktat der Wirtschaft in Europa mehr Gewicht hat
als die Entfaltung basisdemokratischer Strukturen, dann
haben wir ein ernsthaftes Demokratieproblem. Deutsch-
land muss seinen Weg aus der Atomkraft konsequent
gehen und auf EU-Ebene ausweiten. Der Euratom-Ver-
trag muss aufgelöst werden und einem Vertrag für eine
soziale und ökologische Energiewende weichen. Die
Linke wird ihren Teil dazu beitragen und an der interna-
tionalen Vernetzung von Umweltverbänden und Anti-
atominitiativen weiter aktiv mitwirken.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718432800

Die Geschichte der staatlichen Förderung der Atom-

kraft ist seit dieser Woche um eine Anekdote reicher. Die
deutschen AKW-Betreiber wollen in der ihnen eigenen
Dreistigkeit die Steuerzahler mit rund 15 Milliarden
Euro für einen in breiter Mehrheit beschlossenen Atom-
ausstieg büßen lassen. Ob ihre Rechnung aufgeht, ist
zwar mehr als fraglich. Aber man muss auch festhalten:
Abermals steht eine happige Summe im Raum, die unser
Staat für die Atomkraft aufbringen soll. Sie steht nur
deshalb im Raum, weil Schwarz-Gelb mit dem rot-grü-
nen Atomausstieg aus dem Jahr 2000 gebrochen hat,
dem ein ausgehandelter Konsens mit den EVU aus gu-
tem Grund vorausging. Mit ihrer unsäglichen Laufzeit-
verlängerung vom Herbst 2011 hat die Regierung
Merkel den Menschen in Deutschland neben dem ato-
maren Risiko nun auch ein völlig unnötiges Finanzrisiko
in Milliardenhöhe eingebrockt.

Im europäischen Kontext betrachtet hat diese Ge-
schichte dennoch etwas Positives. Denn sie handelt vom
Niedergang der Atomkraft. Andere Länder sind leider
noch nicht so weit. So wollen in der EU Frankreich,
Großbritannien, Polen und Tschechien mit weiteren Un-
summen dafür sorgen, dass Atomkraft Bestandteil im je-
weiligen Energiemix bleiben bzw. werden kann. Es
spricht schon Bände, dass sich die seit Jahrzehnten
staatlich gepäppelte Atomkraft ohne erneute staatliche
Hilfe ganz offensichtlich nicht selbst behaupten könnte.

Der Einfluss der Atomlobby ist in vielen EU-Ländern
stark. Das geht auch zulasten dessen, was auf EU-Ebene
energiepolitisch insgesamt notwendig wäre. Längst ist
klar, dass die EU sich darum kümmern muss, die Grund-
lagen und Leitplanken für eine zukunftsfähige Energie-
versorgung zu schaffen. Das heißt, sie muss den Mit-
gliedstaaten mit Engagement und Elan den Weg ebnen
zu Energieeffizienz, Energieeinsparung und erneuerba-
ren Energien; mithin den Weg zu einer dezentralen
Stromversorgung. Ein Zementieren zentraler Versor-
gungsstrukturen wäre für die Zukunftsfähigkeit der eu-
ropäischen Energie- und Klimapolitik fatal. Auch des-
halb darf es keine europäische Hilfe für weitere
Päppelungen der Atomkraft geben.

Dass die Bundesregierung durchaus Einfluss in der
EU haben kann, konnte man jüngst am negativen Bei-
spiel ihrer Blockade der EU-Energieeffizienzrichtlinie
sehen. Es wird höchste Zeit, dass die schwarz-gelbe
Bundesregierung ihren Einfluss auf die europäische
Energiepolitik sinnvoll geltend macht. Im Bereich Atom-
politik heißt das, aktiv Nein zu sagen zu Vorstößen staat-

licher Subventionierung einer sinnlosen und hochge-
fährlichen Technologie. Es heißt, alles dafür zu tun, dass
gut ein Jahr nach der Atomkatastrophe von Fukushima
die richtige Diskussion geführt wird: nicht die um neue
Atomsubventionen, sondern die um höhere Sicherheits-
anforderungen für die bestehenden AKW. Darum müsste
sich in Europa heute eine energische und fruchtbare De-
batte drehen, mit einer gut hörbaren Bundesregierung,
die zum Beispiel den AKW-Stresstest der EU dafür nutzt,
dass die gefährlichsten Anlagen in Europa möglichst
schnell stillgelegt werden – am besten sofort –, und die
dafür kämpft, dass die noch am Netz bleibenden Anlagen
mit umfangreichen Nachrüstungen deutlich sicherer ge-
macht werden.

Doch davon fehlt bislang jede Spur. Beim EU-Stress-
test macht das zuständige Bundesumweltministerium im
Gegensatz zu manchen Bundesländern gerade das Aller-
nötigste. Mit Indifferenz und Untätigkeit trägt es dazu
bei, dass der Stresstest zum Wohlfühl- und PR-Pro-
gramm für die europäischen AKW-Betreiber verkommt.

Noch schlimmer ist es um die Rolle des Bundesum-
weltministeriums im Bereich der Terrorgefahren für
europäische Atomkraftwerke bestellt. Vor rund einem
Jahr wurde diesbezüglich auf EU-Ebene eine Arbeits-
gruppe eingerichtet, die kürzlich weitgehend unbeachtet
ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Dieser ist unfass-
bar oberflächlich, ist das Papier nicht wert, auf dem er
steht. Anstatt sich den wichtigsten Problemen und den
gefährdetsten Anlagen zu widmen, hat die Arbeitsgruppe
anscheinend genau das Gegenteil getan: keine konkre-
ten Anlagen untersucht und auch nicht die vorhandenen
gehaltvollen Unterlagen ausgewertet. Sie hat Empfeh-
lungen ausgesprochen, ohne sicherzustellen, dass sie
umgesetzt werden, geschweige denn schnell umgesetzt
werden.

Nun kann in Prozessen, an denen mehrere Staaten be-
teiligt sind, natürlich nicht alles so laufen, wie ein ein-
zelner Staat es für optimal hielte. Doch das Erschre-
ckende ist, dass sich die Bundesregierung nicht von den
unsäglichen Ergebnissen dieser Arbeitsgruppe distan-
ziert. Vielmehr stellt sie sich voll und ganz dahinter. Da-
mit ist sie maximal von der Haltung entfernt, die sie ein-
nehmen müsste, wenn sie es ernst meinte mit einem
Mehr an Atomsicherheit als Konsequenz aus der japani-
schen Atomkatastrophe. Sie müsste ihren Einfluss gel-
tend machen, damit die Arbeitsgruppe ein neues, besse-
res Mandat bekommt und noch einmal richtig arbeitet.

Ähnlich schlecht ist es um die Haltung des Umweltmi-
nisteriums in Bezug auf das tschechische AKW-Neubau-
vorhaben Temelin 3 und 4 bestellt. Hier versteckt sich
das BMU hinter den Bundesländern Sachsen und Bay-
ern und lässt damit den Großteil der deutschen Bevölke-
rung im Regen stehen. Anstatt den Menschen eine maxi-
male Mitsprache bei einem Projekt mit so enormem
Schadenspotenzial wie zwei neuen AKW kurz hinter der
deutschen Grenze zu ermöglichen, steckt das BMU seine
Energie in immer neue Argumente, warum es sich nicht
zuständig fühlt.

Ähnlich untätig und feige hätte sich das BMU auch
vor einem Jahrzehnt verhalten können, als es um die Re-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sylvia Kotting-Uhl


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(D)(B)


aktorblöcke Temelin 1 und 2 ging. Das tat es aber nicht,
sondern hat sich engagiert und seine Ressourcen ge-
nutzt, um aktive Schadensvorsorge für die Bevölkerung
zu betreiben und gemeinsam mit Tschechien das Sicher-
heitsniveau von Temelin 1 und 2 zu erhöhen.

Umweltminister Altmaier täte daher gut daran,
Jürgen Trittin zum Vorbild zu nehmen anstatt seinen di-
rekten Vorgänger und Parteikollegen Norbert Röttgen.
Vierzehn Monate voll hochtrabender Ankündigungen
und kaum Taten sind im Bereich Atomsicherheit nach
der Fukushima-Katastrophe vergangen. Es wird höchste
Zeit, die noch verbleibenden vierzehn Monate in dieser
Wahlperiode zu nutzen, um das Versäumte nachzuholen
und zahlreiche Lippenbekenntnisse in Taten umzusetzen.
Herr Altmaier, Sie stehen in besonderer Pflicht!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718432900

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9799, den Antrag
auf Drucksache 17/9554 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die
Enthaltungen! – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Die Koalitionsfraktionen waren dafür, die Opposi-
tionsfraktionen dagegen.

Tagesordnungspunkt 32:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
einfachung des Elterngeldvollzugs

– Drucksache 17/1221 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)


– Drucksache 17/9841 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön (St. Wendel)

Caren Marks
Miriam Gruß
Jörn Wunderlich
Katja Dörner

Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der
SPD vor. Die Reden haben wir zu Protokoll genom-
men.

Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Das Elterngeld ist heute aus dem Kanon der familien-

politischen Leistungen nicht mehr wegzudenken. Für
immer mehr junge Paare ist es ein fester Bestandteil ih-
rer finanziellen Planungen, und – darüber freue ich
mich ganz besonders – auch immer mehr Väter nehmen
eine Auszeit von ihrem Beruf, um sich um die Erziehung
des Nachwuchses zu kümmern.

Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf
wollen wir den Vollzug des Elterngeldes vereinfachen,
für die Antragssteller ebenso wie für die Mitarbeiter der
Behörden; denn im Laufe der vergangenen Jahre hat die

Praxis gezeigt, dass bei der verwaltungstechnischen
Umsetzung des Elterngeldes Verbesserungsbedarf be-
steht. Insbesondere die Einkommensermittlung der Be-
zieher hatte in den Ländern viele Kapazitäten in An-
spruch genommen.

Ich begrüße deshalb besonders, dass die gefundenen
Verbesserungen im Einvernehmen mit den Ländern, der
Bundesregierung sowie den christlich-liberalen Frak-
tionen getroffen werden konnten. Wir Familienpolitiker
von CDU/CSU und FDP hatten in einem gesonderten
Antrag noch einmal bei einigen Punkten nachjustiert
und den bestehenden Gesetzentwurf des Bundesrates an
unterschiedlichen Stellen ergänzt. Die neuen Regelun-
gen werden somit zum 1. Januar 2012 in Kraft treten
können.

Ich möchte Ihnen einige konkrete Verbesserungen
nennen, welche die Gesetzesnovelle mit sich bringt:

Das Kernstück des Gesetzentwurfs des Bundesrates
ist die Einführung von Pauschalen für Steuern und
Abgaben. Dadurch wird die Ermittlung des Einkom-
mens, an dessen Höhe sich das letztendlich auszuzah-
lende Elterngeld bemisst, wesentlich erleichtert. Auch
der Vollzug wird erleichtert. Die Verwaltungsmitarbeiter
müssen nun nicht mehr die Lohn- und Gehaltsbescheini-
gungen als einzelne Positionen separat bewerten und
übernehmen, sondern können mit den pauschalen Sätzen
rasch und mit Unterstützung der elektronischen Daten-
verarbeitung verfahren. Auf diese Art und Weise werden
auch mögliche Fehlerquellen minimiert. Lästiges Nach-
fragen – wie es in der Vergangenheit ab und an der Fall
war – entfällt, was den Aufwand für die Elterngeldstel-
len und Arbeitnehmer spürbar verringert.

Vonseiten der Fraktionen von CDU/CSU und FDP
war es uns darüber hinaus ein Anliegen, den bürokrati-
schen Aufwand für Selbstständige durch eine Vereinfa-
chung bei der Ermittlung des Bemessungseinkommens
zu reduzieren. Dies wird gewährleistet, indem der Nach-
weis des Einkommens aus selbstständiger Erwerbstätig-
keit grundsätzlich über den Steuerbescheid des letzten
abgeschlossenen Veranlagungszeitraums vor der Geburt
erfolgt.

Die Selbstständigen müssen somit nicht zusätzlich zur
steuerlichen Gewinnermittlung noch eine elterngeldli-
che Gewinnermittlung vornehmen. Ich bin mir sicher,
das ist ganz in ihrem Sinne. Gleichzeitig verringert sich
abermals der Verwaltungsaufwand in den Elterngeld-
stellen, weil die vormals gesondert erstellten Gewinnbe-
rechnungen für die tatsächliche Berechnung des Eltern-
geldes wegfallen. Die neue Regelung hilft somit beiden
Seiten.

Darüber hinaus sieht unser gemeinsamer Ergän-
zungsantrag vor, das Prozedere zur generellen Ermitt-
lung des Einkommens aus selbstständiger Arbeit zu
vereinfachen: Dies geschieht, indem wir den Antragstel-
lern mit Einkommen aus selbstständiger Arbeit die Mög-
lichkeit geben, für die Ermittlung der Betriebsausgaben
eine Pauschale von 25 Prozent der zugrunde zu legen-
den Einnahmen anzusetzen. Machen die Elterngeldbe-
rechtigten davon Gebrauch, entfällt das Erfordernis des





Nadine Schön (St. Wendel)



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(D)(B)


bisweilen sehr aufwendigen Einzelnachweises von Be-
triebsausgaben und die entsprechende Umrechnung auf
die Bezugszeit des Elterngeldes.

Diese Vereinfachungen werden durch weitere Verbes-
serungen ergänzt, die aus den Erfahrungen der vergan-
genen Jahre ratsam geworden sind: So wird der Höchst-
betrag des berücksichtigungsfähigen Einkommens vor
der Geburt auf 2 770 Euro erhöht. Eine andere Ergän-
zung sieht vor, dass der Elterngeldantrag je nach Bedarf
geändert werden kann. Die Beschränkung zulässiger
Antragsänderungen, die sich in der Praxis nicht
bewährt hat, wird somit aufgehoben. Zusätzlich wird
klargestellt, dass auch bei der Berechnung von Kosten-
beiträgen – etwa für die Kita-Betreuung – das Eltern-
geld in der Regel bis zu einem Betrag von 300 Euro nicht
berücksichtigt werden darf.

Um auch künftig einen möglichst guten Einblick da-
rüber zu haben, welche Entwicklungen das Elterngeld in
der Praxis nehmen wird und wo es gegebenenfalls noch
etwas nachzujustieren gibt, werden wir auch Verbesse-
rungen bei der statistischen Erfassung vornehmen. So
wird eine Bestandsstatistik eingeführt und eine Ergän-
zung der Übermittlungsbefugnisse des Statistischen
Bundesamtes vorgenommen. Auf diese Art und Weise ist
die Erstellung einer differenzierteren Datenlage mög-
lich, die wiederum eine bessere gesetzgeberische Pla-
nung und Folgenabschätzung möglich macht.

Es wird deutlich, dass der ganz überwiegende Teil der
Änderungen rein formeller Natur ist und sich aus rege-
lungstechnischen Erfordernissen speist. Aus Gründen
der Rechtsförmlichkeit und Systematisierung des Geset-
zes haben wir über den gesamten Gesetzestext hindurch
Veränderungen vorgenommen, Passagen glattgestrichen
und mögliche Widersprüche aus dem Weg geräumt. Das
Ergebnis wird ein kompakteres und in sich abgerundetes
Gesetz sein.

Ich möchte abschließend noch ergänzen, dass die
vorzunehmenden Veränderungen im praktischen Ver-
waltungsablauf natürlich einen einmalig höheren Pro-
grammierungs- und Schulungsaufwand erfordern. Ich
bin aber überzeugt, dass sich, sobald sich die Neuerun-
gen eingespielt und bewährt haben, mittel- und langfris-
tig der Arbeitsaufwand in der Verwaltung reduzieren
wird, und das war schließlich eines unserer Anliegen.

Kurzum: Mit dieser Novelle verbessern wir formell
ein materiell erwiesenermaßen sehr erfolgreiches Ge-
setz. Ich bitte sie daher um Ihre Zustimmung.


Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1718433000

Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Vereinfa-

chung des Elterngeldvollzugs enthält zwar positive Re-
gelungen, die zur Vereinfachung der Berechnung des
Elterngelds beitragen werden. Insbesondere Selbststän-
dige werden wohl von der Verwaltungsvereinfachung
profitieren können, auch wenn das Problem der Selbst-
ständigen mit nicht verstetigten Einkommen dabei kei-
nesfalls gelöst wurde; denn es wird lediglich der Vollzug
vereinfacht. Aber dies wird zumindest teilweise gelin-
gen.

Trotzdem lehnen wir als SPD-Bundestagsfraktion
diesen Gesetzentwurf auch mit den Änderungen, die
durch die Koalitionsfraktionen eingebracht wurden, ab;
denn er enthält an vielen Stellen Ungereimtheiten. Die
Koalitionsfraktionen verschlechtern sogar einzelne Re-
gelungen, wie etwa beim Bezug von Mutterschaftsgeld.
Betroffen hiervon sind vor dem errechneten Geburtster-
min Gebärende. Diese Mütter dürfen sich bei den Koali-
tionsfraktionen für deren vermeintliche „Klarstellung“
bedanken.

Auch die Anrechnungsfreiheit des Geschwisterbonus
auf Leistungen nach dem SGB II und XII ist durch die
schwarz-gelbe Koalition wieder aufgehoben worden.
Hier war der Gesetzentwurf besser als der Änderungsan-
trag von CDU/CSU und FDP. Wir lehnen diese Anrech-
nung ab, ebenso wie wir grundsätzlich die Anrechenbar-
keit des Mindestelterngelds auf die entsprechenden
Sozialleistungen ablehnen.

Zu einer weiteren „Ungereimtheit“ zählt etwa auch
die durch nichts begründete und durch die Koalition ein-
fach festgelegte Höhe des pauschalen Abzugs von
25 Prozent der Betriebseinnahmen als Betriebsausga-
ben bei Selbstständigen ohne Einkommensteuerbe-
scheid. Der Gesetzentwurf sah hier 20 Prozent Abzugs-
höhe vor. Dies führt unweigerlich zu einer Senkung des
Bemessungseinkommens für die Berechnung des Eltern-
gelds.

So ließen sich noch viele weitere Detailregelungen
anführen, die dazu beigetragen haben, dass der Gesetz-
entwurf für uns insgesamt nicht zustimmungsfähig ist.
Zudem wurde eine Chance vertan, das Elterngeld sinn-
voll weiterzuentwickeln. Das bleibt grundsätzlich festzu-
halten.

Aber vielleicht auch noch einmal etwas Grundsätzli-
ches zum Ansatz dieses Gesetzentwurfs. Um den Vollzug
des Elterngelds zu vereinfachen, hat sich der Bundesrat
für eine Orientierung am Einkommensteuerrecht ent-
schieden. Die Übernahme des steuerrechtlichen Ein-
kommensbegriffs auf der einen Seite, aber Ausschluss
etwa von Einmalzahlungen, Sonn- und Feiertagszu-
schlägen, Weihnachtsgeld bei der Einkommensberech-
nung für das Elterngeld auf der anderen Seite sind kaum
verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Einmalzah-
lungen zum Beispiel versteuert werden.

Überhaupt, wenn es bestimmte steuerrechtliche Rege-
lungen gibt, müssen sie auch Eltern bei der Berechnung
des Elterngelds zugutekommen. Verwerfungen im Steu-
errecht dürfen nicht auf ihrem Rücken ausgetragen wer-
den. Dies hat uns auch die Anhörung im Familienaus-
schuss deutlich gemacht. Wenn es also die Möglichkeit
der Freibeträge gibt, dann muss diese Möglichkeit auch
Eltern zur Verfügung stehen, die Elterngeld beziehen
wollen. Im Übrigen ist die Eintragung von Freibeträgen
ja auch an die vorhersehbaren realen Aufwendungen ge-
knüpft, womit das Einkommen in dieser Höhe den Eltern
für die Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht.

Im Zusammenhang mit den Freibeträgen haben wir
auch gleich eine auf den ersten Blick erkennbare
Gruppe von Verlierern der Neuregelung. Eltern mit Be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


hinderung oder Eltern, deren Kinder eine Behinderung
haben, haben nun nicht mehr die Möglichkeit, Freibe-
träge eintragen zu lassen und so ihren vorhandenen
Mehrbelastungen entsprechend zu begegnen. Dies ist in
der Anhörung von allen Sachverständigen kritisiert wor-
den, und es ist eine Lösung – und wenn auch außerhalb
dieses Gesetzentwurfs – eingefordert worden. Allerdings
meine ich nach wie vor, dass eine Lösung genereller Na-
tur sein sollte und daher für alle eine Berücksichtigung
der Freibeträge erfolgen muss.

Wir dürfen auf jeden Fall sehr gespannt sein, was die
Bundesregierung hier zu tun gedenkt. Nur viel Zeit darf
sie sich im Interesse der Betroffenen wohl kaum lassen.
Wir werden dies jedenfalls entsprechend beobachten
und einfordern.

Apropos Zeit: Als Grund für diese notwendige Reform
zur Verwaltungsvereinfachung wird genannt, dass auch
eine Verkürzung der Bearbeitungsfristen erforderlich
ist, weil Eltern zu lange auf ihren Bescheid warten müss-
ten. Ist das so? Ich jedenfalls kenne keine Statistik, die
verlässlich Auskunft über die Bearbeitungsdauer der
Anträge durch die einzelnen Elterngeldstellen gibt.

Die SPD-Bundestagsfraktion bringt deswegen auch
einen Entschließungsantrag ein, der unter anderem die
Bundesregierung auffordert, die durch dieses Gesetz in
Kraft tretenden Regelungen zu evaluieren und dem
Deutschen Bundestag spätestens nach einem Jahr erst-
malig zu berichten, welche Auswirkungen und welche
Ergebnisse durch die Rechtsänderungen im BEEG ein-
getreten sind. Geht es jetzt wirklich schneller? Welche
Elterngeldberechtigten haben gegebenenfalls welche
Nachteile erfahren? Welche Erfahrungen liegen in der
Verwaltung vor? Gibt es weniger Nachfragen bei den
Antragstellern oder sogar mehr? Was wir zu einer sinn-
vollen Beurteilung wirklich brauchen, sind verlässliche
empirische Daten.

Aber ich komme noch einmal grundsätzlich zurück
zum Elterngeld: Es ist als Lohnersatzleistung konzipiert,
soll die finanziellen Einbußen nach der Geburt eines
Kindes abfedern, wenn die Erwerbsarbeit ganz oder teil-
weise aufgegeben wird, und gleichzeitig den erforderli-
chen Schonraum für die Betreuung im ersten Lebensjahr
des Kindes bieten. Es hat „den doppelten Charakter ei-
ner Einkommensersatzleistung und einer Anerkennungs-
und Unterstützungsleistung“, so wörtlich das BMFSFJ
in seiner schriftlichen Antwort auf die Frage Nr. 5/455.
Nur die Anerkennungs- und Unterstützungsleistung er-
halten nicht mehr alle Eltern. Würdigung der Erzie-
hungsleistung, Gleichbehandlung, Gleichstellung, dies
ist bei dieser Bundesregierung absolute Fehlanzeige.

Dies gilt auch für die Weiterentwicklung des Eltern-
gelds. Es soll auch dazu beitragen, dass sich die Ein-
schränkung der Erwerbstätigkeit – vor allem von Müt-
tern – zeitlich begrenzt halten lässt, und letztlich soll die
Väterbeteiligung an der Betreuung und Erziehung zu-
nehmen. Damit sich Väter noch mehr als bisher beteili-
gen und Frauen ihre Erwerbsarbeit ebenfalls vielleicht
nur reduzieren, muss als Erstes zwingend der doppelte
Anspruchsverbrauch beseitigt werden. Dies hat die Ko-
alition zwar verkündet und auch im Koalitionsvertrag

festgehalten, aber nach dem Motto „Papier ist gedul-
dig“ blieb es bisher dabei. Eine wirkliche Absicht liegt
wohl nicht vor, denn der Gesetzentwurf hätte die Chance
dazu geboten.

Auch sind alle weiteren Chancen vertan worden, das
Elterngeld partnerschaftlich weiterzuentwickeln, damit
sich Erziehungs- und Erwerbsarbeit zwischen den El-
tern entsprechend aufteilen lässt.

Auch zum Elterngeld liegen genügend Untersuchun-
gen, Studien und Berichte vor, die der Bundesregierung
viele Hinweise und Vorschläge für ihr weiteres Handeln
gegeben haben. Aber sie stehen wohl nur im Regal der
Ministerin, vielleicht nicht einmal gelesen.

Die Eltern und Kinder in diesem Land haben wirklich
eine bessere Familienpolitik verdient. Sie haben eine
bessere Familienministerin und eine bessere Bundesre-
gierung verdient.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1718433100

Das Elterngeld ist eine insgesamt erfolgreiche – und

sehr beliebte – familienpolitische Maßnahme. Seine Ein-
führung hat zwei Effekte gehabt, die ich sehr begrüße:
Zum einen hat es die Erwerbsbeteiligung von Müttern
im zweiten Lebensjahr des Kindes gesteigert, und zum
anderen hat es die Rolle des Vaters in der Erziehung ge-
stärkt. Die berühmten „Vätermonate“ sind ein großer
Erfolg.

Das hat allerdings seinen Preis: Allein 4,6 Milliarden
Euro sind für das laufende Jahr im Haushalt veran-
schlagt. Um diese Kosten in Schach zu halten, sind wir
als Staat aufgefordert, sorgsam nachzusteuern und Pro-
zesse zu optimieren. Das haben wir mit dem vorliegen-
den Entwurf getan. Der Elterngeldvollzug wird einfa-
cher und effektiver. Und das ist gut für alle Beteiligten –
für die Kommunen, für die Eltern und für den Bundes-
haushalt.

Die Anhörung zum Elterngeldvollzug hat eindeutig
gezeigt, dass alle Expertinnen und Experten den Gesetz-
entwurf und den Änderungsantrag der Koalitionsfrak-
tionen im Grundsatz begrüßen. Lassen Sie mich einige
Verbesserungen im Einzelnen aufzählen:

Die Regelungen der §§ 2 und 3 BEEG werden einfa-
cher. Dadurch kann die Bearbeitung schneller erfolgen.
Das ist gut für die Eltern, die Anträge stellen.

Die Ermittlung des Einkommens für Selbstständige
wird einfacher. Statt 96 Eingaben sind nunmehr nur
noch 12 Eingaben notwendig. Gerade dieser Punkt war
uns Liberalen wichtig. Dabei haben wir die Kritik, dass
bei Gründern das Einkommen häufig von Jahr zu Jahr
stark schwankt, durchaus zur Kenntnis genommen. Eine
Berechnung über einen längeren Zeitraum, beispiels-
weise fünf Jahre, hätte aber das Ziel der Vereinfachung
wieder konterkariert.

Außerdem ist zu nennen: Der Höchstbetrag des be-
rücksichtigungsfähigen Einkommens wird auf 2 770 Euro
angehoben. Die Antragstellung, insbesondere die Ände-
rungsmöglichkeiten, wird flexibilisiert und dem Bedarf
der Antragsteller angepasst. Bei der Berechnung von

Zu Protokoll gegebene Reden





Miriam Gruß


(A) (C)



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Kostenbeiträgen darf das Elterngeld in der Regel bis
zum Betrag von 300 Euro nicht berücksichtigt werden.
Zudem wird die statistische Datenbasis verbessert.

All das optimiert den Elterngeldvollzug deutlich. Ge-
rade uns Liberalen ist immer an einer Entbürokratisie-
rung gelegen.

Es gibt aber vor allem einen Punkt, bei dem auch wir
Ergänzungsbedarf sehen. Das ist die Situation von Be-
hinderten. Hier kann es im Einzelfall zu einer Schlech-
terstellung kommen. Allerdings haben alle Experten
erklärt, dass man einen entsprechenden Nachteilsaus-
gleich nicht in diesem Gesetz regeln sollte, sondern au-
ßerhalb dieses Gesetzes, zum Beispiel durch einen pro-
zentualen oder pauschalen Zuschlag. Deshalb haben
wir von einem entsprechenden Änderungsantrag abge-
sehen.

Ich hoffe, dass dieses Gesetz im Bundesrat nicht blo-
ckiert wird. Schließlich war es der ausdrückliche
Wunsch der Länder, hier etwas zu tun. Das Gesetz führt
zu Bürokratieabbau und zu einer bürgerfreundlichen
Politik im Sinne der betroffenen Eltern. Deshalb sollten
Bund und Länder gleichermaßen ein Interesse daran ha-
ben, dass dieses Gesetz zum 1. Januar 2013 in Kraft tre-
ten kann.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718433200

Und wieder werden Chancen vertan, das Elterngeld

sinnvoll weiterzuentwickeln.

Ziel des Gesetzentwurfs des Bundesrates sind die Ver-
einfachung des Elterngeldvollzugs und die dadurch be-
dingte Reduzierung der finanziellen Belastung der Län-
der. Ein Ziel, das durchaus ehrenwert ist. Aber man
muss auch die Risiken und Nebenwirkungen beachten,
die eine solche Regelung mit sich bringt oder bringen
kann.

Positiv ist, dass die Berechnung für das Elterngeld
schneller geht und damit Eltern auch schneller in den
Bezug von Elterngeld gelangen. Jedoch gibt es auch El-
tern, welche durch die Vereinfachung schlechter gestellt
werden. Die Nichtanrechnung des Geschwisterbonus bei
Sozialleistungen ist eine sinnvolle Fortführung der An-
rechnungsfreiheit von Mindestelterngeld und Mehrlings-
bonus. Da jedoch das Mindestelterngeld beim Bezug von
Hartz-IV-Leistungen abgezogen wird, profitieren Eltern,
welche sich im ALG-II-Bezug befinden, leider nicht da-
von.

Bei der Pauschalierung ergibt sich das Problem, dass
diejenigen Eltern, welchen hohe Freibeträge auf der
Lohnsteuerkarte eingetragen waren, sei es wegen eines
langen Arbeitswegs, also Pendlerpauschale, oder gar
einer doppelten Haushaltsführung, eben mit dieser Pau-
schalierung schlechter gestellt werden.

Weiter gibt es Ungerechtigkeiten, die teilweise zu An-
spruchsverlusten führen. Beispielsweise entfällt der El-
terngeldanspruch für den gesamten Monat, wenn die
Mutter nur einen Tag Mutterschaftsgeld bezieht.

Der Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und
Jugend hat eine Anhörung zu diesem Gesetz durchge-

führt. Von allen Sachverständigen wurde der Gesetzent-
wurf grundsätzlich positiv eingeschätzt; jedoch wurde
auch bemängelt, dass bestimmte Elterngruppen benach-
teiligt werden, so beispielsweise Eltern mit Behinderung
oder Eltern von Kindern mit Behinderung. Von daher ist
dem Entschließungsantrag der Grünen zuzustimmen, da
dieser die Regierung auffordert, für diese besondere El-
terngruppe nach einer Lösung zu suchen, welche die Be-
nachteiligung abschafft.

In der Anhörung konnte auch von allen Sachverstän-
digen einhellig festgestellt werden, dass der doppelte
Anspruchsverbrauch bei Teilzeitarbeit der Eltern geän-
dert werden sollte. Von daher hat meine Fraktion den
entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, um El-
tern nicht finanziell schlechter zu stellen, welche die Er-
ziehung gemeinschaftlich mit Teilzeitarbeit leisten. So
sollen Eltern, die halbtags arbeiten gehen, auch nur je-
weils einen halben Monat Elterngeldanspruch verbrau-
chen. Wenn beide Eltern nacheinander jeweils sieben
Monate im Beruf aussetzen, bekommen sie gemeinsam
14 Monate lang das volle Elterngeld. Wenn beide paral-
lel sieben Monate halbtags arbeiten, ist für sie schon
nach sieben Monaten der Bezug des Teilelterngelds vor-
bei. Das soll der Antrag ändern.

Der Entschließungsantrag der SPD geht ebenfalls in
die richtige Richtung und versucht auch in Teilen, die
Ungerechtigkeiten dieses Gesetzes zu beheben, gerade
was die Anrechnungsfreiheit des Elterngelds bei Leis-
tungen nach den Sozialgesetzbüchern II und XII angeht.
Von daher wird die Linke diesem Entschließungsantrag
zustimmen.

Es ist schade, dass die Regierung unter Berufung auf
die Haushaltskonsolidierung wieder einmal verpasst,
Familien vernünftig zu unterstützen. In der Neujahrsan-
sprache hat die Bundeskanzlerin versprochen, Familien
zu unterstützen. Und wieder einmal gilt für diese gelb-
schwarze Koalition: Versprochen – gebrochen!

Die Anträge der Opposition sind durchweg rich-
tungsweisend, was eine Besserstellung von Familien be-
trifft. Daran hat die Regierung ganz offensichtlich nicht
das geringste Interesse. Konsolidierung ist gut; das
kann man aber auch an anderen Stellen tun, zum Bei-
spiel bei Rüstungsausgaben.

Der Vollzug des Elterngelds wird durch das Gesetz
zwar vereinfacht; bestehende Ungerechtigkeiten werden
allerdings nicht behoben.

Im Ergebnis wird meine Fraktion dem Gesetz wegen
der vertanen Chancen nicht zustimmen, sondern sich
aufgrund der Vereinfachung der Bearbeitung und der
sich daraus ergebenden nicht zu negierenden Beschleu-
nigungseffekte enthalten.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718433300

Diejenigen, die derzeit die Republik überzeugen wol-

len, dass ein Betreuungsgeld notwendig und sinnvoll ist,
mögen unterschiedliche Motive haben. Doch eines ha-
ben sie nicht: die Wünsche der Familien im Blick.

Zu Protokoll gegebene Reden





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


1,2 Milliarden Euro jährlich sind für das Betreuungs-
geld vorgesehen. Eine unsinnige und immens kostspie-
lige Maßnahme, gegen die es zu Recht ein breites Bünd-
nis von Verbänden und Wissenschaftlern gibt, die die
Mehrzahl der Deutschen ablehnt und die trotzdem jetzt
wider alle Vernunft im Schweinsgalopp durch das Parla-
ment gepeitscht werden soll.

Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir in der Fami-
lienpolitik an anderer Stelle sehr viel besser einsetzen.
Und das würde auch den Wünschen vieler Mütter und
Väter entsprechen. Doch dafür hat die Bundesregierung
kein Geld. Beispielsweise liegen die seit 2009 angekün-
digten Weiterentwicklungen beim Elterngeld, also das
Teilelterngeld und der Ausbau der Vätermonate, auf Eis,
weil sie unter Finanzierungsvorbehalt stehen.

Bei der kürzlich durchgeführten Anhörung zum El-
terngeld waren sich die Expertinnen und Experten völlig
einig, dass wir das Teilelterngeld ausbauen sollten. Die
jetzige Regelung hat den großen Nachteil, dass die El-
tern, die sich die Kindererziehung partnerschaftlich tei-
len, benachteiligt und diskriminiert werden. Das können
wir alle eigentlich nicht wollen. Alle Expertinnen und
Experten waren sich auch einig: Die Partnermonate
beim Elterngeld müssen ausgebaut werden. Auch das
finden wir eigentlich alle richtig. Beide Vorschläge sind
auch im Koalitionsvertrag so vorgesehen. Es liegen
auch bereits Vorschläge vor, das Teilelterngeld mit nur
geringen Kosten oder gar kostenneutral zu ermöglichen
oder die Partnermonate auszuweiten. Doch die Regie-
rung lässt sich lieber von der bayerischen Landespartei
ein antiquiertes Familienbild diktieren und propagiert
ein Betreuungsgeld, als tatsächlich bessere Rahmenbe-
dingungen für ein Leben mit Kindern zu schaffen. Die
Weiterentwicklung des Elterngeldes wäre die richtige
Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt, flankiert durch eine
gute, verlässliche Kinderbetreuung.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Vollzug des
Elterngelds hat die Bundesregierung leider nicht die
Chance genutzt, Familienpolitik entlang der Bedürfnisse
von Familien zu machen und das Elterngeld substanziell
weiterzuentwickeln. Neben richtigen verwaltungstechni-
schen Veränderungen, die zu einer Verkürzung der Bear-
beitungszeiten und zu einem Abbau von Bürokratie füh-
ren sollen, drohen durch die Gesetzesänderung jedoch
auch Verschlechterungen für bestimmte Personengrup-
pen. Ich spreche hier von Eltern und Kindern mit Behin-
derungen. Durch die Reform werden behinderungsbe-
dingte Freibeträge bei der Berechnung des Elterngelds
ausgeklammert. Das führt zu einer Absenkung des aus-
gezahlten Elterngelds. Eltern mit Behinderungen oder
Eltern, deren Kinder mit Behinderungen aufwachsen,
sind jedoch ohnehin oft in ihrer Erwerbstätigkeit einge-
schränkt. Daher wäre es ungerecht und nicht im Sinne
der Zielsetzung des Elterngelds, wenn die wirtschaftli-
che Situation dieser Familien durch ein geringeres El-
terngeld weiter verschlechtert wird. Hier muss die Bun-
desregierung dringend eine Lösung finden. Statt sich
wegen des Betreuungsgeldes in immer neuen Krisenge-
sprächen aufzureiben, sollte sie endlich die richtigen
Prioritäten in der Familienpolitik setzen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718433400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9841, den
Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1221
in der Ausschussfassung anzunehmen.

Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9996 ab. Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion, Bündnis 90/Die Grü-
nen und SPD. CDU/CSU und FDP waren dagegen.

Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die SPD
war dagegen. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke ha-
ben sich enthalten.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer möchte zustimmen und er-
hebt sich deswegen? – Die Gegenstimmen! – Die Ent-
haltungen! – Mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
vorher ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung ange-
nommen.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/9997. Wer stimmt für den
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion, Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke. Die Koalitionsfraktio-
nen waren allerdings dagegen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eigengebrauch von Cannabis wirksam entkri-
minalisieren – Nationale und internationale
Drogenpolitik evaluieren

– Drucksache 17/9948 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben
und genommen.


Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1718433500

In Ihrem Antrag sprechen Sie davon, dass Cannabis

eine Alltagsdroge sei. Aber die aktuelle Repräsentativ-
erhebung „Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bun-
desrepublik Deutschland 2011“ der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung zeigt, dass der Konsum von





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


Alkohol, Tabak und Cannabis unter Jugendlichen im
Alter von 12 bis 17 Jahren in den letzten zehn Jahren
kontinuierlich zurückgegangen ist. Im Jahr 2011 gaben
6,7 Prozent der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen an,
schon einmal Cannabis konsumiert zu haben. Damit hat
sich der Prozentsatz im Vergleich zum Spitzenwert aus
dem Jahr 2004 – 15,1 Prozent – mehr als halbiert.

Im Gegensatz zum insgesamt positiven Trend bei den
Jugendlichen ist bei den jungen Erwachsenen zwischen
18 bis 25 Jahren der Alkoholkonsum unverändert hoch
und der Cannabiskonsum stabil.

Wenn wir aber wenigstens solche Erfolge zumindest
bei den Jugendlichen vorweisen können, gäben wir doch
ein völlig falsches Signal, wäre es geradezu kontrapro-
duktiv, wenn man wie Sie die Legalisierung der Droge
fordert.

Zusätzlich ist auch die Anzahl der Personen, die sich
in Behandlung begibt, weiterhin hoch. Im Jahr 2010 wa-
ren es 23 349 Personen, die wegen einer cannabisbezo-
genen Störung eine ambulante oder stationäre Therapie
gemacht haben.

Es ist meines Erachtens außerordentlich wichtig und
muss doch hoffnungsvoll stimmen, wenn deutlich weni-
ger Kinder und Jugendliche Cannabis konsumieren. Un-
sere Prävention wirkt offensichtlich. Eine derart unver-
antwortliche Haltung Ihrerseits in der Drogenpolitik
kann ich nicht nachvollziehen.

Eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, wo-
durch die Strafbarkeit bei Personen entfällt, die Canna-
bis in geringen Mengen zum Eigenverbrauch konsumie-
ren, wird es mit uns nicht geben.

Eine sinnvolle Suchtpolitik stellt den Menschen in den
Mittelpunkt mit seinen spezifischen, meist suchtstoff-
übergreifenden Problemen. Es geht um die Fragen der
Entstehung von Sucht, der meist ein komplexes Geflecht
aus Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, Stö-
rungen im emotionalen Gleichgewicht oder Misshand-
lung zugrunde liegt.

Wir stellen mit unserem Verständnis von Drogen und
Suchtpolitik deshalb Prävention, Therapie, Hilfe zum
Ausstieg und die Bekämpfung der Drogenkriminalität in
den Mittelpunkt. Unser christliches Menschenbild geht
vor allem vom freien unabhängigen Menschen aus.
Denn wer abhängig ist, kann nicht frei über sein Leben
entscheiden. Genau deshalb stehen wir zuerst für Prä-
vention und im zweiten Schritt für Hilfe zum Ausstieg.

Staatliche Strafverfolgung ist und bleibt notwendig,
um den Schutz der Gesundheit Dritter, aber vor allem
auch von Kindern und Jugendlichen, zu sichern. Der
Bund fördert mit diesem Verständnis von Sucht zahlrei-
che Initiativen und Projekte, die sich insbesondere an ju-
gendliche Konsumenten wenden. Ich verweise hier zum
Beispiel auf das Internetangebot der BZgAw „drug-
com.de“.

Wir wollen die Menschen mit riskantem Cannabis-
konsum so früh wie möglich mit unterschiedlichsten An-
geboten erreichen, um so den Ausstieg zu ermöglichen

oder zumindest den Konsum zu reduzieren. Das ist für
mich der richtige Weg.

Konkret zu Ihrem Antrag stelle ich fest: Illegale Dro-
gen wie Cannabis stellen nachgewiesenermaßen und
entgegen Ihrer Darstellung für die Gesundheit der Men-
schen eine erhebliche Gefahr dar. Während in anderen
europäischen Staaten, allen voran den Niederlanden,
der Konsum von Cannabis – Haschisch, Marihuana –
immer weiter eingeschränkt wird, wollen Sie mit Ihrem
Antrag Cannabis in Deutschland künftig erlauben.
Nochmals: Cannabis ist kein harmloses Betäubungsmit-
tel. Der Cannabiskonsum birgt nach neueren medizini-
schen Erkenntnissen erhebliche physische und psychi-
sche Risiken. Chronischer Konsum kann nicht nur zur
psychischen, sondern auch zur körperlichen Abhängig-
keit führen. Genau davor will das BtmG schützen.

Ein wissenschaftliches Gutachten aus den Niederlan-
den aus dem Jahr 2008 bestätigt überdies, dass die Ein-
führung von Cannabisclubs, ein Thema, das Ihnen auch
am Herzen liegt, der organisierten Kriminalität erhebli-
chen Vorschub leistet, weil die Trennung der Märkte, das
ursprüngliche Ziel der niederländischen Drogenpolitik,
nicht funktioniert.

Nicht zuletzt gehen wir sehr differenziert vor: Mit der
25. Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtli-
cher Vorschriften haben wir neben wichtigen anderen
Regelungen zur Verbesserung der betäubungsmittel-
rechtlichen Rahmenbedingungen auf dem Gebiet der
Palliativmedizin auch die betäubungsmittelrechtlichen
Voraussetzungen für die Zulassungs- und Verschrei-
bungsfähigkeit cannabishaltiger Fertigarzneimittel ge-
schaffen. Eine Legalisierung des Cannabiskonsums
– egal in welcher Menge – lehnen wir aber weiterhin ab.

Nur nochmal zur Erinnerung: Die von mehr als
180 Staaten unterzeichneten Suchtstoffkonventionen der
Vereinten Nationen verpflichten die Bundesrepublik
Deutschland überdies, die Verwendung von Cannabis
und anderen Suchtstoffen auf ausschließlich medizini-
sche oder wissenschaftliche Zwecke zu beschränken so-
wie den Besitz, Kauf und Anbau für den persönlichen
Verbrauch mit Strafe zu bewehren. Deshalb ist in
Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten,
die allesamt Vertragsstaaten der Suchtstoffkonventionen
sind, der Verkehr mit Cannabis, dazu zählen insbeson-
dere Anbau, Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe, Ver-
äußerung, Erwerb und Besitz von Pflanzen oder Pflan-
zenteilen, nach dem BtMG grundsätzlich strafbar.

(Eigen Zudem ist in der von Ihnen zitierten „Cannabisentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 gerade ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Cannabisverbote anerkannt. Mit seinen Beschlüssen vom 29. Juni 2004 und 30. Juni 2005 hat das Bundesverfassungsgericht sogar seine früheren Entscheidungen zur Strafbarkeit in aller Deutlichkeit bestätigt und unsere Haltung ausdrücklich gestärkt. Das Gericht hat lediglich die Strafverfolgungsorgane aufgefordert, von der Verfolgung der in § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes – einer damals noch sehr jungen Zu Protokoll gegebene Reden Karin Maag Vorschrift – bezeichneten Straftaten unter den dort genannten Voraussetzungen nach dem Übermaßverbot abzusehen bzw. die Strafverfahren einzustellen. Die Länder wurden aufgefordert, für eine einheitliche Einstellungspraxis bei Strafverfahren wegen Cannabisbesitz – zum Beispiel hinsichtlich der „geringen Menge“ – zu sorgen. Dieser Verpflichtung sind die Länder nachgekommen. In der Regel findet eine Verurteilung wegen des Besitzes kleiner Mengen Cannabis bis zu 6 Gramm unter den übrigen Voraussetzungen nicht statt. Wenn Sie dann von unterschiedlichen Einstellungspraktiken sprechen, so kann ich nur auf den Föderalismus verweisen. Auch bezüglich des Anbaus, Handels und Besitzes von Cannabis bleibt die Rechtslage mit uns unverändert. Denn die grundsätzliche Strafbarkeit beruht auf der Gefahr der Weitergabe an Dritte und dem Ziel des Gesundheitsschutzes des Einzelnen und der Bevölkerung. Auch neuere Studien haben Cannabis nicht als unbedenklich bewertet, vielmehr wird auf eine Reihe akuter und langfristiger Risiken des Cannabiskonsums hingewiesen. Die Gefährlichkeit des Cannabiskonsums wird in den letzten Jahren sogar eher höher eingeschätzt als früher, zumal eine stetige Steigerung des THC-Gehalts bei Cannabisprodukten zu beobachten ist. Die Gesundheitsgefahren des Cannabismissbrauchs gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden sind medizinisch erwiesen. Ich bin auch dankbar, dass sich in jüngster Zeit grundsätzlich ein Rückgang im Konsum und in der Verbreitung von Cannabis zeigt. Dies zeigt doch vor allem, dass unsere zahlreichen Initiativen und Projekte Wirkung zeigen. Dies gilt es fortzusetzen. Dafür stehen dem Bund in diesem Jahr rund 12,6 Millionen Euro und insbesondere rund 7 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung. Um letztlich noch auf Ihren zweiten Antrag einzugehen: Richtig ist, dass Deutschland weiterhin die internationale Zusammenarbeit im Bereich des Betäubungsmittelrechts aktiv mitgestaltet. Die Drogenbeauftragte hat zuletzt in der Sitzung des Gesundheitsausschusses vom 13. Juni 2012 dazu berichtet. Selbstverständlich fließen auch diese internationalen Erkenntnisse in die Drogenpolitik der christlich-liberalen Koalition ein. Aber Evaluierung heißt erfassen und bewerten, nicht 1:1-Umsetzung. Die christlich-liberale Fraktion wird die Bundesregierung dort in ihren Reformbemühungen unterstützen, wo dies aus ihrer Sicht notwendig ist. Auf das differenzierte Vorgehen im Hinblick auf cannabishaltige Fertigarzneimittel habe ich bereits beispielhaft verwiesen. Dazu bedarf es keiner weiteren Kommission. Schlussendlich bleibt festzuhalten: Mit dem Willen unserer Fraktion werden auch künftig der Handel und die Verwendung von Cannabis zu Rauschzwecken verboten bleiben. Durch die präventive Wirkung der Strafdrohung soll die Verfügbarkeit und Verbreitung der Substanz weiterhin eingeschränkt bleiben. Ein Wegfall der Strafbarkeit und, damit gleichgesetzt, eine Freigabe der Droge ist ein gesundheitliches und innenpolitisches Armutszeugnis. Eine weitere Freigabe von Rauschmitteln ist angesichts der enormen Anstrengungen, den Missbrauch von Alkohol zu verhindern und Jugendliche zu schützen, nicht vertretbar. Eine Öffnung würde zu einem deutlich höheren Konsum und einer größeren Zahl von Abhängigen führen. In der Folge kämen auch Kinder und Jugendliche einfacher und häufiger mit diesem Rauschund Suchtmittel in Kontakt. Dies könnte insbesondere von dieser Personengruppe als Aufmunterung zum Drogenkonsum verstanden werden. Wir lehnen daher alle Maßnahmen mit dem Potenzial zur unmittelbaren und aktiven Förderung des Konsums von illegalen Drogen ab. Der effektivste Schutz vor illegalen Substanzen besteht vielmehr darin, den Konsum dieser Substanzen konsequent zu unterlassen. Das erfordert unsere Anstrengungen in der Prävention und vor allem auch dahin gehend, die Lebensbedingungen für junge Menschen in Deutschland so zu gestalten, dass eine Flucht aus der Realität in die Sucht erst gar nicht als Ausweg in Betracht gezogen wird. Genau in diesem Bereich ist die christlich-liberale Koalition mit ihren Anstrengungen zum Beispiel für Arbeitsplatzsicherheit und daraus resultierend zum Beispiel einer der besten Quoten für Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf dem richtigen Weg. Die Rechtspraxis bezüglich des § 31 a des Betäu bungsmittelgesetzes ist in den jeweiligen Bundesländern und Gerichtsbezirken in der Tat nicht einheitlich und damit aus rechtsstaatlichen und demokratiepolitischen Gründen durchaus problematisch. Zu Recht kritisieren dies die Grünen in ihrem Antrag. Und die Debatte ist nicht neu. Die damalige SPD-geführte Bundesregierung hatte schon als Reaktion auf die sogenannte HaschischEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 bei den zuständigen Landesjustizministerien insbesondere die Festlegung einer „geringen Menge“ für den Eigenkonsum angeregt. Vor allem die starre Haltung der unionsgeführten Bundesländer in dieser Problematik hat dazu geführt, dass es bis heute keine einheitliche Regelung zur Festlegung der Kriterien für die Einstellungspraxis nach § 31 a BtMG gibt und wir uns immer wieder mit unterschiedlichen Gerichtsurteilen in den einzelnen Gerichtsbezirken und Bundesländern auseinandersetzen müssen. Ich erinnere Sie an die letzte Anhörung des Gesundheitsausschusses zum Thema Cannabis als Arzneimittel, in der dieses Thema auch zur Sprache kam. Dies kann der Gesetzgeber nicht hinnehmen. Dies untermauern auch die im Antrag angeführten Studien zur Rechtsanwendung. Der heute eingebrachte Antrag der Grünen fordert also aus meiner Sicht zu Recht eine einheitliche Strafverfolgung, doch schießt er meines Erachtens in anderen Teilen ein Stück weit über das Ziel hinaus. Ist die Forderung nach einer Kommission zur Evaluierung des Betäubungsmittelgesetzes noch verständlich und unterstützenswert, so ist die Forderung nach einem Gesetzentwurf, der den Anbau von Cannabis ohne transparente und exakte Grenze straffrei stellen soll, unrealistisch und naiv. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Grünen-Fraktion: Die Anhörun Zu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf gen des Deutschen Bundestages zum Konsum von Cannabis scheinen Sie leider nur sehr selektiv wahrzunehmen. Sowohl die Frage, inwiefern Cannabiskonsum die Wahrscheinlichkeit für einen späteren Konsum härterer Drogen erhöht, als auch die Frage nach der Gesundheitsgefährdung durch gelegentlichen oder regelmäßigen Konsum von Cannabis sind in den Anhörungen mitnichten so eindeutig widerlegt worden, wie die Grünen in ihrem Antrag behaupten. Zudem geben die Grünen weder auf die Frage, wie der Anbau zum Eigenverbrauch definiert bzw. kontrolliert werden soll, eine glaubhafte Begründung noch für Folgeprobleme, die mit so einer Regelung entstehen würden, wie zum Beispiel die Kontrolle des THC-Grenzwerts von Konsumenten im Straßenverkehr. Dabei ist beim Cannabis die Dosis/Konzentration-Wirkung-Beziehung immer noch weitgehend unbekannt, und sie kann nicht so zuverlässig wie beim Alkoholkonsum kontrolliert werden. Bei Cannabis handelt es sich um eine Vielzahl von Mitteln und Substanzen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Fahrleistungen. Ich habe das Gefühl, im Gegensatz zu anderen Problematiken und Sachverhalten erscheinen Ihnen solche Detailfragen erstaunlich lästig und unwillkommen. Das macht einen dann schnell skeptisch. Die Liberalisierung des Eigengebrauchs beim Cannabiskonsum scheint für Sie ein überfälliges Zeichen an Ihre Wählerinnen und Wähler zu sein. So liest sich zumindest der Antrag spätestens bei den Begründungen. Diese wirken auf mich wie Teile eines Strategiepapiers des Hanfverbands. Was für die FDP die Unterstützung der privaten Krankenversicherung ist, ist für die Grünen vermutlich die regelmäßige Forderung nach der Freiheit des Kiffens. Mich sorgt dabei vor allem die sichtbare Bagatellisierung der Gesundheitsgefährdungen durch den regelmäßigen Konsum von Cannabis sowie vor allem die Gedankenlosigkeit der Grünen bei zu definierenden Grenzen des Eigengebrauchs. Warum legen Sie sich nicht auf eine feste Grenze für eine mögliche Geringe-Mengen-Regelung für § 31 a in Verbindung mit § 29 BtMG fest? Weil dem Hanfverband 10 oder 15 Gramm nicht reichen, oder weil Sie fürchten, in den Verhandlungen mit unionsgeführten Ländern unter diesen Grenzen zu landen? Sie schreiben selbst in der Begründung des Antrags – übrigens fast im Stil einer Gebrauchsanweisung –, dass der Ertrag allein einer Cannabispflanze bereits über 10 Gramm liegen könnte. Und Sie schlussfolgern daraus, dass man neue Regelungen für den Anbau von Pflanzen und für den Erwerb von Samen brauche. Sie beantworten die Fragen aber nicht, wer denn für die Kontrolle dieses Anbaus zuständig sein soll, wer ihn überwachen soll etc. In den weiteren Beratungen dieses Antrags werden Sie deutlich machen müssen, wie viele Pflanzen es Ihrer Meinung nach sein sollen, inwiefern wir uns auf die angeblich etwas kleinere Psychosewahrscheinlichkeit durch Cannabis verlassen können, ob es anderslautende Studien gibt und wie die Folgeprobleme eines straffreien Eigenanbaus gelöst oder vermieden werden können. Welches Signal ein straffreier Eigenanbau für die Suchtprävention ist und wie die Grenze des Eigenanbaus definiert und kontrolliert werden soll, wären weitere Fragen der praktischen Politik und Rechtsanwendung, die Sie – ähnlich der daueroppositionellen Linksfraktion – bei diesem Thema stets unbeantwortet lassen. An der FDP können Sie sehen, wie schief es gehen kann, wenn man sich auf Geschenke an die eigene Klientel konzentriert. Auf die 4,8 Prozent der Cannabiskonsumenten, die Sie in Ihrem Antrag als Begründung für eine Legalisierung angeben, würde ich mich dabei nicht verlassen; denn auch diese Bürgerinnen und Bürger schätzen eine verantwortungsvolle Politik, die beispielsweise den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Drogen und Sucht ernst nimmt. Und davon ist in Ihrem Antrag leider keine Silbe zu lesen. Sehr schade. Ziel des vorliegenden Antrags ist der komplette Weg fall der Strafbarkeit von Konsum, Anbau, Herstellung, Einführung, Erwerb, Besitz und Handel von Cannabis. Das ist unhaltbar. Ich halte den Weg, den Gelegenheitskonsum von Cannabis ein Stück weit zu entkriminalisieren, durchaus für richtig. Es gilt, angemessen und verhältnismäßig auf die Tatsache zu reagieren, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints ein gesellschaftliches Phänomen ist, das nicht mit aller Staatsmacht angegangen werden muss. Deshalb halte ich eine Entkriminalisierung über den Weg geringer Eigenbedarfsmengen für praktikabel. Dabei muss zunächst festgehalten werden: Der bloße Konsum von Cannabisprodukten war schon immer straffrei, nur der Besitz und Handel etc. nicht. Es gilt weiterhin: Wer Cannabisprodukte „anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft“ – so hält der § 29 des Betäubungsmittelgesetzes es fest – macht sich strafbar. Allerdings gab es durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts bereits eine gewisse Entkriminalisierung des Eigengebrauchs von Cannabis. Das Bundesverfassungsgericht hat sich jedoch nicht genau festgelegt, was eine geringfügige Menge denn nun tatsächlich ist. Das Gesetz unterscheidet nur zwischen der „geringen Menge“, der „Normalmenge“ und der „nicht geringen Menge“, gibt dafür jedoch Anhaltspunkte. Es liegt im Ermessen der jeweiligen Bundesländer, inwieweit der Besitz gewisser Mengen straffrei bleibt. Die Länder haben da jeweils unterschiedliche Regelungen. Das erwähnte Urteil sollte vor allem dazu beitragen, Erstoder Geringkonsumenten zu entkriminalisieren, sodass von einer Strafverfolgung abgesehen werden kann, begründet unter anderem durch das verfassungsmäßige Verbot übermäßiger Bestrafung. Eine praktikable Entkriminalisierung des Eigenbedarfs würde durch eine Anhebung oder gar Aufhebung der Mengengrenze konterkariert. Eine praktikable Entkriminalisierung kann meines Erachtens nur über eine möglichst niedrige Menge gewährleistet werden. Denn nur dadurch, durch die möglichst niedrige Menge, wird deutlich, dass mit dem mitgeführten Betäubungsmittel kein Handel betrieben werden soll und ausschließlich Zu Protokoll gegebene Reden Christine Aschenberg-Dugnus der Eigenbedarf bzw. der tatsächliche eigene Konsum im Vordergrund steht. Je höher die Grammzahl jedoch ist, desto mehr kann man aus der mitgeführten Menge ableiten, dass vielleicht doch andere Konsumenten an dem Stoff teilhaben sollen und mit ihm gedealt werden könnte. Deshalb wäre eine Anhebung der Mengengrenze kontraproduktiv. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der von den Grünen skizzierte „gemeinsame Konsum“ tatsächlich unentgeltlich stattfindet. Das ist grüne Träumerei. In Wahrheit wird doch gedealt, bis sich die Balken biegen. Bei allem gemeinsamen Bestreben, Erstoder Geringkonsumenten entgegenzukommen, muss festgehalten werden: Cannabis ist illegal, sein Konsum ist gefährlich und kann den Einstieg in eine Suchtspirale hin zu härteren Drogen bedeuten. Die in der Öffentlichkeit oft geäußerte völlige Unbedenklichkeit des Cannabiskonsums entspricht nicht den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Experten warnen insbesondere, dass Cannabis immer stärker und immer giftiger wird. Der THC-Gehalt ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen. Beispielsweise weisen Experten auf die Gefahr von schizophrenen Psychosen hin. So heißt schon es im Drogenund Suchtbericht der Bundesregierung vom Mai 2009, dass manche neue, synthetische Substanzen aus der Arzneimittelforschung stammen und daher eine vielfach stärkere Wirkung als das THC der Cannabispflanze haben. Dies bedeutet ein hohes gesundheitliches Risiko. Es sind Erkenntnisse wie diese, die mich ermutigen, weiterhin vor der Verharmlosung von Cannabis zu warnen – und eine weitergehende Entkriminalisierung würde genau diese Verharmlosung bewirken. Im Übrigen halte ich diesen Ansatz der Grünen für schizophren. Denn wo immer sie können, wollen sie den Konsum „normaler“ Tabakprodukte einschränken, verbieten oder sanktionieren. Aber wenn dem Tabak ein bisschen Harz oder Gras beigemischt ist, verfolgen sie eine ganz andere Linie. Das ist nur schwer nachvollziehbar. Ich freue mich darüber, dass nun auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag zur vollständigen Entkriminalisierung des Cannabiskonsums vorgelegt hat. Wir haben bereits mit unserem Antrag zur Einführung von Cannabisclubs – Drucksache 17/7196 – Ende des letzten Jahres einen konkreten Vorschlag für eine Legalisierung auf den Weg gebracht, der in einer öffentlichen Anhörung zum Antrag am 25. Januar 2012 mündete. Unser Ziel war es, einen Wettbewerb der Parteien zu initiieren, in welchem die besten Lösungen für eine moderne Drogenpolitik im Mittelpunkt stehen. Das haben wir erreicht. Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung, auch wenn klar gesagt werden muss, dass unser Antrag zur Einführung von Cannabisclubs den weitergehenden Antrag darstellt. Leider beantwortet der Antrag der Grünen nämlich nicht die Frage nach dem Vertrieb von Cannabis. Nach dem vorliegenden Antrag sollen die Konsumierenden die Möglichkeit zum Eigenanbau erhalten. Ist das jedoch nicht möglich, müssen sie weiter hin auf den Schwarzmarkt zurückgreifen oder das Glück besitzen, jemanden zu kennen, der Eigenanbau betreibt und bereit ist, zu teilen. Außerdem muss betont werden, dass zur Ermöglichung des Eigenanbaus auch der Vertrieb von Samen erlaubt werden müsste. Das wird im Antrag – wenn überhaupt – nur implizit gefordert. Trotzdem ist der Antrag auf dem Weg zu einer modernen Drogenpolitik ein richtiger Schritt. Die Kriminalisierung der Cannabiskonsumierenden muss endlich ein Ende haben. Sie ist unverhältnismäßig der Bürgerin und dem Bürger gegenüber und steht dem Jugendund Verbraucherschutz vollkommen entgegen. Sie grenzt Cannabiskonsumierende aus der Gesellschaft aus. Diese werden gezwungen, sich an den Schwarzmarkt zu binden; im schlimmsten Fall entstehen dadurch Kriminalitätskarrieren. Die Kriminalisierung bedeutet zudem eine konkrete Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Personen, die auf den Konsum von Cannabis aus medizinischen Gründen angewiesen sind. So berichtet Herr Dr. med. Grotenhermen, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin, in seiner Stellungnahme zur Anhörung des Gesundheitsausschusses am 9. Mai 2012 zur medizinischen Verwendung von Cannabis von einem erblindeten Multiple-Sklerose-Patienten, der vor etwa 15 Jahren festgestellt hat, dass Cannabis bei seiner Symptomatik hilfreich ist. Er wurde im Frühjahr dieses Jahres in einem Zug aus den Niederlanden mit 150 Gramm Cannabis aufgegriffen und muss sich nun strafrechtlich verantworten. Herr Grotenhermen berichtet ebenso von einem weiteren ihm bekannten Patienten aus Würzburg, der eine ähnliche Situation erlebte und daraufhin nach Spanien ausgewandert ist, da er die Bewährungsauflagen in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen nicht einhalten konnte. Dass Cannabis unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, stellt einen erheblichen Eingriff in die Bürgerrechte dar. Gerade deshalb müssen die Folgen dieses Eingriffs im Gleichgewicht zum Zweck der Maßnahme stehen, um legitim zu sein. Das ist bei der aktuellen Drogenpolitik nicht der Fall. Der Antrag der Grünen fordert richtigerweise eine einheitliche Rechtslage in Deutschland zum Eigenverbrauch von Cannabis. Aber wie bereits erwähnt, kann dies nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer vollkommenen Legalisierung von Cannabis sein. Wie im Antrag erwähnt, greift dieser ähnliche Initiativen der SPD-Bundestagsfraktion aus der 12. und 13. Legislaturperiode auf. Ich hoffe daher, dass die SPD endlich über ihren Schatten springt und dazu beiträgt, die Kriminalisierung endlich zu beenden. Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass SPD und Grüne in ihrer Regierungszeit 1998 bis 2005 keinerlei Verbesserungen im Bereich der Entkriminalisierung der Konsumierenden eingeführt und sich nicht für die Legalisierung von Cannabis und Cannabisprodukten eingesetzt haben. Auch unter der Federführung eines grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg sind bis heute noch keinerlei Verbesserungen für Cannabiskonsumierende eingetreten. Zu Protokoll gegebene Reden Frank Tempel Aber weiter zum Antrag: Die Forderung nach Einrichtung einer Kommission, die das Betäubungsmittelrecht im Hinblick auf unerwünschte Wirkungen formulieren soll, ist ein ebenso richtiger Schritt. Diese Kommission soll rechtliche, soziale und gesundheitliche Folgen evaluieren und Empfehlungen für Reformen in der Drogenpolitik abgeben. Hierbei sollten wir auf die Erfahrungen aus Portugal zurückgreifen: Dort ist man mit der Einrichtung einer solchen Kommission den ersten von vielen nötigen Schritten hin zu einer modernen Drogenpolitik gegangen. Die Anzahl der Konsumierenden oder Abhängigen von bis dato illegalisierten Drogen hat sich in Portugal nicht erhöht; dafür hat sich die Gesundheitslage der Abhängigen verbessert, die HIV-Infektionsrate ist zurückgegangen und die Kriminalisierung der Konsumierenden wurde beendet. Eine Evaluierung des gesamten Drogenstrafrechts ist daher auch in Deutschland dringend erforderlich. Kriminalisierung von Konsumentinnen und Konsu menten, Verhinderung der letzten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten für chronisch kranke Menschen: Cannabis und der Umgang damit ist das Symbol dafür, was grundsätzlich falsch läuft in der nationalen und internationalen Drogenpolitik. Obwohl mittlerweile wissenschaftlich belegt ist, dass es für die Tatsache und die Höhe des Konsums von Cannabis keine Rolle spielt, ob diese Substanz verboten ist, hält die Bundesregierung nach wie vor daran fest. Gleichfalls wissenschaftlich belegt ist, dass die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums unter denen von Alkohol oder Tabak liegen. Trotzdem hält die Bundesregierung an dem Verbot fest und verbreitet weiter die unhaltbare These, dass der Cannabiskonsum per se gefährlich sei. Und obwohl inzwischen klar ist, dass es vor allem die Kriminalisierung der Konsumentinnen und Konsumenten ist, die durch den Schwarzmarkt zu erheblichen gesundheitlichen Risiken führt, hält die Bundesregierung an dem Verbot fest und nimmt damit erhebliche Gesundheitsschäden der vielfach jungen Menschen in Kauf. Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Schon 2004 hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen angemerkt, dass die strafrechtliche Verfolgung der Konsumentinnen und Konsumenten kontraproduktiv ist. Die Europäische Drogenbeobachtungsstelle hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass es keinen Zusammenhang zwischen gesetzlichen Regelungen und dem Konsum gibt. 2009 hat eine Studie im Auftrag der Bundesregierung ergeben, dass etwa zwei Drittel des finanziellen Engagements des Staates in Bezug auf Drogen in repressive Maßnahmen fließen. 10 Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben für die öffentliche Sicherheit und Ordnung haben einen Bezug zu illegalen Drogen. Nur ein geringer Teil der Mittel fließt hingegen in Prävention, Therapieund Hilfsangebote. Und schon vor fast 20 Jahren hat eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts die These von Cannabis als Einstiegsdroge verworfen. Ich frage mich nun ernsthaft, warum wir uns eigentlich auf nationaler und europäischer Ebene all die Studien und Beratungsinstitutionen in der Drogenpolitik leisten, wenn deren Erkenntnisse insbesondere durch die Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt werden. Oder um grundsätzlich zu fragen: Warum verzichten wir in der Drogenpolitik auf Evidenz? Warum werden Forschungsergebnisse ignoriert und weiter Mythen verbreitet? Warum macht die Bundesregierung drogenpolitische Strategien und evaluiert nicht einmal, ob und wie ihre repressiven Maßnahmen in der Drogenpolitik wirken? Warum behaupten Sie nach wie vor, Cannabis sei eine Einstiegsdroge oder habe eine Schrittmacherfunktion, obwohl seit 20 Jahren das Gegenteil belegt ist? Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Frau Dyckmans, behauptet, sie würde für eine moderne, am Menschen orientierte Drogenpolitik stehen. Am 26. März dieses Jahres hat sich nun diese Drogenbeauftragte zusammen mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamts vor die Presse gestellt und gefordert, den Kampf gegen die Betäubungsmittelkriminalität weiterhin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – präventiv wie repressiv – zu betreiben. Und so frage ich die Bundesregierung weiter: Warum spielt es keine Rolle für Sie, dass der von ihr propagierte „War on drugs“ viele Staaten an den Abgrund geführt und allein in Mexiko seit 2007 fast 50 000 Menschenleben gekostet hat? 1994 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem damaligen Urteil darauf hingewiesen, dass auch bei Cannabiskonsumenten das verfassungsrechtliche Übermaßverbot zu gelten hat. „Die Verhängung von Kriminalstrafe gegen Probierer und Gelegenheitskonsumenten kleiner Mengen von Cannabis kann in ihren Auswirkungen auf den einzelnen Täter zu unangemessenen und spezialpräventiv eher nachteiligen Ergebnissen führen, wie etwa einer unerwünschten Abdrängung in die Drogenszene“, urteilte das Bundesverfassungsgericht seinerzeit. Allerdings hat die herrschende Drogenpolitik hieraus kaum Schlüsse gezogen. Nach wie vor wird das Märchen erzählt, der Eigengebrauch von Cannabis sei entkriminalisiert. Die Bundesregierung behauptet in der gewohnten Spitzfindigkeit, ihr lägen keine Erkenntnisse vor über die Zahl konsumnaher Delikte. Dann gebe ich Ihnen eine Hilfestellung: Schauen Sie einfach in die sogenannten Lagebilder Rauschgiftkriminalität des Bundeskriminalamts und dort unter Allgemeine Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Da werden Sie entsprechende Zahlen finden: Gegen fast 100 000 Menschen werden Jahr für Jahr Strafverfahren eröffnet, weil sie Cannabis zum Eigenverbauch besitzen oder anbauen. Schauen Sie sich an, bei wie vielen Cannabiskonsumentinnen und -konsumenten Jahr für Jahr die Fahreignung überprüft wird oder wie viele gar ihre Fahrerlaubnis verlieren, obwohl sie gar nicht unter Einfluss dieser Droge gefahren sind. Diesen Menschen mag die Behauptung, der Eigengebrauch von Cannabis sei bei uns entkriminalisiert, wie Hohn in den Ohren klingen. Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Harald Terpe Wir erleben in Berlin gerade, wie ohne Not eine Absenkung der sogenannten geringen Menge für Cannabis erwogen wird. Dabei zeigen uns Studien, dass es keinerlei Rolle für den Cannabiskonsum spielt, ob die geringe Menge bei 15 Gramm oder 6 Gramm liegt. In Berlin wird eine rein ideologische Diskussion geführt, die niemandem nutzt, aber am Ende viel Schaden anrichtet. Da sind unsere Kolleginnen und Kollegen von der SPD hier im Bundestag offensichtlich deutlich weiter. Deren drogenpolitische Sprecherin, Frau Graf, befürwortete immerhin kürzlich eine Entkriminalisierung von „Süchtigen“ und sprach sich für eine bundeseinheitliche geringe Menge aus. Wir wollen vor diesem Hintergrund mit unserem Antrag nun einen neuen Anlauf nehmen, um eine Entkriminalisierung des Eigengebrauchs von Cannabis zu erreichen. Unser Vorschlag ist eine Regelung, durch welche die Strafbarkeit des Eigengebrauchs von Cannabis entfällt. Das ist zwar noch keine Legalisierung, wie wir sie uns vorstellen, aber es ist ein erster Schritt, um die Konsumentinnen und Konsumenten endlich wirksam vor Kriminalisierung zu schützen. Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9948 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 34: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes – Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungsund Präventionshilfe – Drucksache 17/9695 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Innenausschuss Die Reden wurden zu Protokoll genommen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände rung des Strafgesetzbuchs, mit der offiziellen Bezeichnung „Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungsund Präventionshilfe“ hat zum Gegenstand, den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung einzuschränken. Die erst 2009 eingeführte Änderung der Kronzeugenregelung hat sich als sehr weitgehend erwiesen. Daher ist eine Korrektur angebracht, zumal es unserem Rechtssystem ohnehin eher wesensfremd ist, über Strafen zu verhandeln. Unser Strafrecht beruht auf dem Schuldprinzip. Das Schuldprinzip bedeutet, dass eine gerechte, schuldangemessene und vor allem gleichmäßige, also in vergleichbaren Fällen ähnliche Strafe zu finden ist. Wir reden hier von schweren Straftaten und schwerkriminellen Tätern und Strukturen. Ein „strafrechtlicher Deal“, und einen solchen stellt die Kronzeugenregelung dar, kann damit nur in den Fällen gerechtfertigt sein, in denen der Staat, weil er ansonsten an die bedeutsamen Hintermänner schwerer Straftaten nicht herankommen kann, sie weder aufklären noch verhindern könnte, kapitulieren müsste. Dies betrifft damit nur Bereiche, in denen der Staat in „Aufklärungsnotständen“ ist. Die Kronzeugenregelung sollte also nicht inflationär, sondern nur restriktiv in geeigneten Fällen angewandt werden. Dies ist angezeigt bei organisierter Banden-, Milieuund Wirtschaftskriminalität, bei terroristischen Vereinigungen und bei Serientaten, Korruption, sowie Betäubungsmittelkriminalität also Straftaten, bei Verbrechen Hand in Hand gehen die feste Strukturen aufweisen, bei denen das Schweigen Voraussetzung für den Verbrechenserfolg ist und wo der Verräter sich selbst erheblicher, gar einer Lebensgefahr aussetzen würde. Das ist also dort, wo wir derartig straffen Strukturen gegenüberstehen, dass nur die Offenbarung von Insiderwissen eine Strafverfolgung oder Verhinderung ermöglicht. Das sind Taten, bei denen der übliche Instrumentenkasten der normalen Ermittlungen nicht mehr ausreicht. Will der Staat nicht vor diesen Verbrechen kapitulieren, muss er andere Methoden anwenden, wie das Einschleusen von verdeckten Ermittlern oder die Belohnung für das Offenbaren von Insiderwissen. Das Insiderwissen gibt es aber nicht umsonst. Der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, ist, dem Straftäter, der zur Offenbarung seines Wissens bereit ist, mit einer Strafmilderung entgegenzukommen. Die Kronzeugenregelung ist also eine Strafrahmenverschiebung, die auf einem Deal beruht. Die durch die Aussage des Kronzeugen mögliche Verurteilung oder Prävention von Straftaten fordert jedoch rechtspolitisch einen durchaus hohen Preis: Durch die verhandelte Strafmilderung wird das Prinzip einer gleichmäßigen, berechenbaren und der Schuld angemessenen Bestrafung verwischt. So kann sich ein Täter mit besonders großer Schuld möglicherweise einen Vorteil bei der Strafzumessung erhandeln, den sogenannte kleine Straftäter nicht erlangen können. Wir wenden das Strafrecht also ungleich an. Es besteht auch immer die Gefahr, dass sich Täter durch falsche Beschuldigungen versuchen, einen Vorteil zu erkaufen. Anders als ein unbelasteter Zeuge ist es ein Straftäter, dem es freisteht, sich zu äußern und ob und wie sehr er sich selbst belasten will. Der Kronzeuge ist eben nicht der unbelastete und objektive Zeuge im Strafprozess. Er kann seinen Tatbeitrag verharmlosen und den anderer Täter preisgeben, um für sich und unter Umständen mit einem „faulen Deal“ einen erheblichen Vorteil bei der Strafzumessung zu erzielen. Er kann seinen Tatbeitrag ungestraft verharmlosen, obwohl er Schlimmeres begangen hat, um so Strafklageverbrauch in eigener Sache zu erreichen. Letztlich bleibt daher immer auch ein Zweifel an dem Wert und der Qualität der Aussage vom Kronzeugen. Ansgar Heveling Diese schwere Einschätzung fällt allerdings erheblich leichter, wenn das Offenbarte im Zusammenhang mit der eigenen Tat steht. Gleichzeitig lässt der Kronzeuge damit erkennen, wie sehr er sich von der Tat und der Gruppe distanziert. Dies macht auch seine Aussage wertvoller und damit gewichtiger für seine Schuldfrage. Nur aus diesem Gesichtspunkt kann es gerechtfertigt sein, das Maß des Schuldvorwurfs und damit das Maß der Strafe zu reduzieren. Soweit er andere Straftaten, die nicht im inhaltlichen Zusammenhang mit seiner eigenen Straftat stehen, aufklären oder verhindern hilft, findet dies ausreichend Berücksichtigung durch eine Milderung der Strafe durch die Anwendung der allgemeinen Strafzumessungsregelung des § 46 StGB. Es geht bei der Beurteilung einer Kronzeugenregelung also im Ergebnis immer darum, die Möglichkeit der Aufklärung einer Straftat dort, wo der Staat im Ermittlungsnotstand ist, auf der einen Seite gegenüber dem Preis einer erkauften Strafmilderung auf der anderen Seite abzuwägen. Ich meine, dass der aktuelle Gesetzentwurf einen ausgewogenen Kompromiss anbietet. Die Offenbarung von Insiderwissen zur Aufklärung oder der Verhinderung von Straftaten sollte in einem Zusammenhang zu der eigenen Straftat stehen. Nur in diesem Kontext ist der rechtstreuen Bevölkerung die Vergünstigung bei der Milderung des Schuldvorwurfs und der Strafe durch die Kronzeugenregelung zu vermitteln: nämlich eine Strafmilderung für die eigene Tat, wo die Offenbarung von Insiderwissen im Zusammenhang mit der eigenen Tat steht und zu eine Aufklärung oder Verhinderung von gravierenden Taten anderer erst ermöglicht wird. Nur so lässt sich der strafrechtliche Handel, der der Kronzeugenregelung zugrunde liegt, vor der rechtstreuen Bevölkerung glaubhaft und nachvollziehbar rechtfertigen. Im Jahre 2009 haben die Koalitionsfraktionen nach langem Ringen und vielen Diskussionen die Neuauflage der sogenannten Kronzeugenregelung verabschiedet. Diese Regelung dient der effizienteren Aufklärung und Verhinderung von Straftaten, insbesondere in den Bereichen organisierte Kriminalität und terroristische Vereinigungen. Unter der Voraussetzung, dass die Aussage des Kronzeugen tatsächlich zu einem Aufdeckungserfolg führt oder die Begehung bestimmter Straftaten verhindert, soll dessen Strafe gemildert werden können. Der nun von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf will den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung einschränken. Kann bisher dem Täter die Vergünstigung für eine Kooperation unabhängig davon gewährt werden, ob zwischen seiner Tat und der Tat, zu der er Aufklärungsoder Präventionshilfe leistet, ein Zusammenhang besteht, soll diese Verknüpfung zukünftig erforderlich sein. Die Taten müssen nach dem Willen der Bundesregierung zwar nicht aus dem gleichen Deliktsbereich stammen, es muss jedoch ein innerer oder inhaltlicher Bezug zwischen den Taten bestehen. Dies soll, so die Begründung, der Fall sein, wenn die eigene und die offenbarte Tat Teil eines kriminellen Gesamtgeschehens sind. In der Großen Koalition haben wir uns vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staats zur Verbrechensaufklärung und mit Blick auf die abgeschotteten Täterstrukturen der organisierten Kriminalität bewusst für eine weit gefasste Regelung entschieden. Was hat sich geändert? Die Bundesregierung argumentiert, der weite Anwendungsbereich ermögliche Strafmilderungen, die aus Sicht des Tatopfers nicht mehr schuldangemessen seien und die das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung beeinträchtigen könnten. Zudem werde man dem Zweck der Norm, geschlossene Täterkreise aufzubrechen, mit der Eingrenzung besser gerecht, da es speziell der Hinweise von Personen aus dem Täterkreis bedarf. Diese Argumente sind nicht neu. In der letzten Legislaturperiode haben wir dem entgegengehalten, dass § 46 b StGB keine zwingende Strafmilderung vorsehe und das Gericht in der Abwägung den Wert der Aufklärungsoder Präventionshilfe zur Schwere der Straftat und Schuld des Kronzeugen ins Verhältnis zu setzen habe. Mittlerweile sind jedoch zweieinhalb Jahre vergangen, sodass wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Anlass nehmen sollten, die damals von der Opposition und heute von der Bundesregierung vorgetragenen Argumente auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Daher werden wir eine Anhörung fordern, in der wir insbesondere den Umgang der Rechtsprechung mit der Kronzeugenregelung beleuchten wollen. Zudem sollte in der Anhörung geklärt werden, ob und inwieweit Aussagen von Kronzeugen, deren Tat nicht im Zusammenhang mit der offenbarten Tat stehen, wesentlich zur Aufdeckung oder Verhinderung beigetragen haben oder beitragen können. Wir reden heute über die Veränderung der sogenann ten Kronzeugenregelung, also die Veränderung des § 46 b StGB. Die Kronzeugenregelung ist nicht neu, sie hat im Gegenteil eine sehr wechselvolle Geschichte. Noch unter Helmut Kohl wurde sie 1989 eingeführt und zunächst auf zwei Jahre beschränkt. Danach wurde sie gegen den Willen der damaligen Bundesjustizministerin LeutheusserSchnarrenberger verlängert, und erst unter Rot-Grün lief die Kronzeugenregelung aus. Es war die Koalition aus SPD und CDU, die die Kronzeugenregelung 2009 wieder einführte. Ich gehe davon aus, dass die heutige Bundesjustizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Hinblick auf die Kronzeugenregelung immer noch die gleiche Position vertritt wie die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in den Neunzigerjahren. Deshalb ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum aus dem Haus der Bundesjustizministerin nicht ein Ge Zu Protokoll gegebene Reden Halina Wawzyniak setzentwurf kommt, der die Kronzeugenregelung wieder abschafft, sondern lediglich ein Gesetzentwurf, der die Kronzeugenregelung einschränkt. Dabei liegen noch nicht einmal empirische Erkenntnisse vor, ob diese Regelung zur Aufklärung von Straftaten überhaupt benötigt wird. Hinzu kommt, dass Kronzeugen häufig dazu neigen, falsche Angaben zu machen, um einer Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe zu entgehen. Sie sind aufgrund dessen häufig unglaubwürdig und ihre Aussagen sind daher untaugliche Beweismittel. Zudem können Richter und Richterinnen bereits jetzt im Rahmen des § 46 StGB etwaige Aufklärungshilfe berücksichtigen. Worum geht es bei der Kronzeugenregelung? Ein Täter bzw. eine Täterin wird mit einer geringeren Strafe oder gar mit Absehen von Strafe für eine begangene Straftat belohnt, wenn er bzw. sie Aufklärungsoder Präventionshilfe im Hinblick auf zukünftige Straftaten vorwiegend abgeschotteter Strukturen leistet. Bislang musste zwischen der eigenen Tat und der zukünftigen Tat, zu der Informationen gegeben werden, kein Zusammenhang bestehen. Das soll durch den Gesetzentwurf geändert werden. Will man sich überhaupt auf das System Kronzeugenregelung einlassen, ist dies sicherlich richtig. Aber angesichts der Diskussionen in der Vergangenheit um die Kronzeugenregelung und angesichts der Tatsache, dass die Kronzeugenregelung nichts anderes ist als ein Deal des Staates mit Straftätern zur Aushöhlung der im Strafgesetzbuch festgehaltenen Schuldstrafe, ist das nicht überzeugend. Eine geringere Strafe als die der Schuld des Täters bzw. der Täterin aufgrund ihrer bzw. seiner Taten entsprechende, unter Umständen sogar das Absehen von Strafe ist unserem streng rechtsstaatlichen Verfahren vom Grunde her fremd. Ein solcher Deal mit der Strafe hat auch nichts mit dem Prinzip der schuldangemessenen Strafe zu tun. Rechtssystematisch ist eine solche Weitergabe eben auch kein Schuldmilderungsgrund, denn die Tat ist abgeschlossen, die Tatschuld ist vollendet. Es ist schon ein wenig absurd, wenn die Sicherheitsfanatiker, insbesondere bei der Union, nach immer härteren Strafen für jede kleine Straftat rufen, aber in Kauf nehmen, dass unter Umständen bei schwersten Straftaten die Täter straffrei ausgehen, wenn sie entsprechende Informationen über Strukturen und geplante Straftaten weitergeben. Die Verhinderung und Aufklärung von zukünftigen Straftaten, zum Beispiel durch Informationsweitergabe über abgeschottete Strukturen, ist nichts, was es extra zu belohnen gilt, sondern sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Schließlich will ich noch auf einen Aspekt hinweisen: Mit der Kronzeugenregelung findet ein Deal mit der Gerechtigkeit zugunsten der „großen Fische“ und zulasten der „kleinen Fische“ statt. Täter und Täterinnen, die tief ins kriminelle Milieu verstrickt sind, können aufgrund ihrer Kenntnisse besser aufklären helfen als Täter und Täterinnen, die vielleicht erstmalig straffällig geworden sind. Kurz und gut: Der Gesetzentwurf hält an der Kronzeugenregelung fest, und genau das können wir nicht akzeptieren. Hier hätte von einer liberalen Ministerin ein größerer Wurf erfolgen können und auch müssen: ein Gesetzentwurf, der mit der Kronzeugenregelung aufräumt und diese abschafft. 1989 hat die damalige schwarz-gelbe Koalition eine Kronzeugenregelung befristet eingeführt. Sie lief 1999 aus, weil wir Grüne und die SPD sie wieder abgeschafft haben, wir haben sie auslaufen lassen. 2009 hat die Koalition von SPD und CDU/CSU sie wieder eingeführt, und das in einem so erschreckend weiten Ausmaß, dass die jetzige schwarz-gelbe Koalition sie wieder einschränken will. In den 10 Jahren von 1989 bis 1999 ist die Kronzeugenregelung im Bereich des Terrorismus weniger als 25-mal und in ungefähr genauso vielen Fälle im Bereich der organisierten Kriminalität eingesetzt worden. In den folgenden 10 Jahren ohne Kronzeugenregelung ist die Kriminalität in Deutschland kontinuierlich zurückgegangen, die Ausklärungsquoten sind gleich hoch geblieben oder sie sind gestiegen, und besonders im Bereich des Terrorismus hatten die Ermittlungsbehörden alle Möglichkeiten, Terroranschläge zu verhindern, und die Justiz alle Beweismöglichkeiten zur Aburteilung terroristischer Straftäter. Und das alles ohne eine Kronzeugenregelung! Damit ist eines völlig klar: Die Justiz braucht die Kronzeugenregelung nicht. Sie setzt sie so gut wie nie ein, und sie gewährleistet hohe Sicherheit vor Straftaten ohne sie. Umso größer ist der Schaden für den Rechtsstaat. Die Kronzeugenregelung ist ein Geschäft mit Straftätern: Um vermeintlicher oder tatsächlicher Aufklärungserfolge willen machen Polizei und Staatsanwaltschaft Straftätern – natürlich informell – Zusagen, sie vor schuldangemessener Strafe zu schützen, wenn sie „auspacken“. Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit bleiben dabei auf der Strecke. Wir Grünen lehnen die Kronzeugenregelung nach wie vor ab: Die Kronzeugenregelung ermöglicht einen schmutzigen Handel mit Straftätern. Dies ist eines Rechtsstaats nicht würdig. Einsicht, Reue und Mitleid braucht ein Kronzeuge nicht zu zeigen. Bei dem Handel um die Höhe seines Strafrabatts dienen ihm als Kapital seine Verstrickung und sein Insiderwissen. Je mehr er hiervon einbringt, um so günstiger kommt er weg. Die Kronzeugenregelung verletzt den Grundsatz schuldangemessenen Strafens und den Gleichheitsgrundsatz. Denn der angemessene Strafrahmen darf unterschritten werden. Es ist nicht erträglich, dass bei einem Mord, der nach jahrelangem Martyrium an dem Peiniger begangen wird, eine Milderung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach dem Gesetzeswortlaut nicht möglich sein soll, bei einem Mörder, der sich aus rein egoistischen Gründen als Kronzeuge zur Verfügung Zu Protokoll gegebene Reden Jerzy Montag stellt, dagegen schon. Besonders infrage gestellt wird der Schuldgrundsatz, wenn sogar ganz von Strafe abgesehen werden kann, obwohl an sich drei Jahre Freiheitsstrafe angemessen wären. Die Kronzeugenregelung schafft Anreize für falsche Anschuldigungen: Je umfangreicher die Belastungen anderer, umso größer kann der „Strafrabatt“ für den Kronzeugen ausfallen. Für eine Kronzeugenregelung gibt es kein praktisches Bedürfnis. Schon nach der Strafzumessungsregel des § 46 StGB kann das Gericht – außer bei Mördern – Strafrabatt gewähren, wenn der Angeklagte hilft, andere Delikte aufzuklären. Ein angebliches „Bedürfnis der Praxis“ nach einer Kronzeugenregelung ist nicht ersichtlich: Vom Deutschen Anwaltverein bis zum Deutschen Richterbund lehnen große Teile der Praxis eine Kronzeugenregelung mit großer Einigkeit ab. Nicht zuletzt ist die Präklusionsregelung zu kritisieren, wonach eine Kronzeugenaussage noch vor Eröffnung der Hauptverhandlung gemacht werden muss. Damit wird die Hauptverhandlung zur Farce. Denn das Gericht kann so nur noch prüfen, was im Vorverfahren geschehen ist, wäre jedoch gehindert, vor Gericht gemachte Aussagen in gleicher Weise zu berücksichtigen wie vor dem Staatsanwalt gemachte „Kronzeugenaussagen“. Nunmehr hat sich die FDP mit einer Minireparatur an der Kronzeugenregelung durchgesetzt, die die SPD und CDU/CSU beschlossen haben. So konnte sich in den letzten Jahren – genauer seit dem 29. Juli 2009 – ein Straftäter einen Strafrabatt schon allein dadurch erkaufen, dass er Dritte einer Straftat bezichtigte, mit der er selbst nichts zu tun hatte. Diese Regelung war doppelt unerträglich. Zum einen ermuntert sie zu Falschbelastungen und honoriert mit Strafrabatt ohne Reue und Schuldeinsicht, zum anderen bevorzugt sie diejenigen, die mehr im kriminellen Umfeld verstrickt sind und an der Spitze krimineller Strukturen stehen. Wer mehr weiß, kann mit mehr auspacken. Der Vorschlag der Bundesregierung geht dahin, dass die Tat, die vom Kronzeugen offenbart wird, im Zusammenhang mit seiner eigenen Tat stehen muss. Entsprechende Änderungen werden auch für das Betäubungsmittelrecht vorgelegt. Das engt den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung ein wenig ein und soll der Uferlosigkeit von Drittbelastungen vorbeugen. Deshalb ist, bei aller fortbestehenden Kritik an der Kronzeugenregelung, der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf ein kleines Stück in die richtige Richtung. Wir werden uns ihm nicht verweigern, aber wir werden uns weiterhin für eine Wiederabschaffung der Kronzeugenregelung einsetzen. D Sie alle wissen, dass eine allgemeine Kronzeugenregelung, so wie sie heute in § 46 b StGB verankert ist, seit vielen Jahren rechtspolitisch umstritten ist. Der Deutsche Anwaltverein, die Bundesrechtsanwaltskammer sowie der Deutsche Richterbund, aber auch der Bundesrat kritisierten bei ihrer Einführung im Jahr 2009 vor allem einen Punkt. Kritisiert wurde, dass § 46 b StGB auch dann eine Strafmilderung ermögliche, wenn die offenbarte Tat überhaupt nichts mit der eigenen Tat des Kronzeugen zu tun hat und daher seine unmittelbare Tatschuld gar nicht beeinflussen könne. Dadurch könne es zu Strafmilderungen kommen, die nicht nur für das Tatopfer als nicht mehr angemessen angesehen werden, sondern die auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts beeinträchtigen könnten. Mit diesem Gesetzentwurf will die Bundesregierung diese Kritik aufgreifen. In Zukunft soll die Kronzeugenregelung daher nur noch gelten, wenn ein Zusammenhang zwischen begangener und aufgeklärter bzw. verhinderter Tat besteht. So haben wir das im Koalitionsvertrag vereinbart, und das setzen wir mit dem Gesetzentwurf jetzt eins zu eins um. Wir erreichen damit, dass eine etwaige Strafmilderung stärker vom Verhältnis der geleisteten Aufklärungsoder Präventionshilfe zur eigenen Tatschuld des Täters abhängt und die Regelung somit noch deutlicher den allgemeinen Strafzumessungsgrundsatz der schuldangemessenen Strafe betont. Mit der von uns angestrebten Neuregelung erreichen wir zudem einen Gleichklang zu der „kleinen Kronzeugenregelung“ des § 31 BtMG, bei dem das Erfordernis des Zusammenhangs nach der Rechtsprechung ohnehin schon seit vielen Jahren gilt. Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass der Bundesrat gegenüber dem Gesetzentwurf keinerlei Einwendungen erhoben hat, also dem Entwurf unverändert zugestimmt hat. Ich möchte dennoch kurz auf gelegentlich vorgetragene Bedenken gegen unseren Vorschlag eingehen.Vereinzelt wird befürchtet, durch die vorgeschlagene Änderung könne die Regelung für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Terrorismus ihre Wirkung einbüßen, da in diesen Bereichen häufig ein hohes Maß an Abschottung anzutreffen sei. Diese Bedenken halte ich für unbegründet. In der Tat werden gerade bei organisierten bzw. terroristischen Täterkreisen oftmals stark abgeschottete Strukturen vorherrschen. Die für das Aufbrechen dieser Strukturen notwendigen „internen“ Kronzeugen, also Personen, die deshalb über detailliertes Wissen verfügen, weil sie Teil dieser Strukturen sind, werden durch die Neuregelung aber keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr werden zukünftig gerade sie von der Neufassung erfasst. Denn gerade weil sie Teil der jeweiligen kriminellen Struktur sind, werden ihre eigenen Taten in der Regel den notwendigen Zusammenhang zu den anderen Taten dieser Struktur aufweisen. Insgesamt kann daher der Gesetzentwurf der Hauptkritik, die aus rechtsstaatlicher Sicht an der Regelung von 2009 erhoben wurde, Rechnung tragen, ohne die mit ihr angestrebten Erleichterungen bei der Tataufdeckung und -verhinderung wesentlich zu beinträchtigen. Ich Zu Protokoll gegebene Reden Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler hoffe deshalb, dass er auch in diesem Haus eine breite Unterstützung finden wird. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent wurfs auf Drucksache 17/9695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften – Drucksache 17/9851 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Die Reden haben wir zu Protokoll genommen. Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften. Die christlich-liberale Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf eingebracht, weil die Veränderungen im Wohngeldverfahren einige Rechtskonkretisierungen notwendig gemacht haben. Im Zuge der Föderalismusreform I im Jahre 2006 hat die damalige Große Koalition aus CDU/CSU und SPD das Wohngeldverfahren erheblich verändert. Das Wohnraumförderungsund Wohnungsbindungsrecht ist von der Kompetenz des Bundes in die Kompetenz der Länder übertragen worden. Gemäß Wohngeldgesetz soll zudem ein automatisierter Datenabgleich im Wohngeldverfahren stattfinden. Durch dieses transparente Verfahren wird der rechtswidrigen Inanspruchnahme von Wohngeld vorgebeugt. Dies ist im Sinne der Haushaltskonsolidierungen und im Sinne der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die ein Interesse daran haben, dass Sozialleistungen sachgerecht eingesetzt werden. Die Kosten, die bei der Datenstelle der Träger der Rentenversicherung für die Durchführung und Vermittlung des automatisierten Datenabgleichs entstehen, sollen die Länder tragen. Der vorliegende Gesetzentwurf präzisiert dieses Verfahren des automatisierten Datenabgleichs, damit dieses Verfahren auch effizient eingesetzt werden kann. So schaffen wir mit dem Gesetz eine Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung der Länder an die Datenstelle für den Datenabgleich. Wie hoch sind diese Kosten? Den Ländern entstehen Kosten in Form der jährlichen Erstattung der Verwaltungskosten, die bei der Datenstelle anfallen. Das macht im ersten Kalenderjahr nach Einführung 2 700 Euro zuzüglich 950 Euro je Kalendervierteljahr. In den nachfolgenden Jahren beläuft sich die Summe auf bis zu 3 800 Euro. Angenommen, die Länder würden den automatisierten Datenabgleich ohne die Hilfe der Datenstelle vollziehen, so wären die Kosten um ein Vielfaches höher. Kosten und Nutzen stehen in einem sehr gewinnbringenden Verhältnis. Darüber hinaus erwartet die christlich-liberale Koalition von diesem neuen Verfahren erhebliche Einsparungen an Wohngeldausgaben. Der automatisierte Datenabgleich deckt Fälle rechtswidrigen Wohngeldbezugs auf, die daraufhin zurückgezahlt werden müssen. Dass hier erhebliche Einsparungspotenziale liegen, beweisen diejenigen Länder, die den automatisierten Datenabgleich bereits eingeführt haben. Denn durch die Föderalismusreform I wurde den Bundesländern die Kompetenz eingeräumt, eigene landesrechtliche Wohnraumförderungsund Wohnungsbindungsgesetze einzuführen. Nur in denjenigen Ländern, die darauf bislang verzichtet haben, gilt weiterhin das Bundesrecht. Für diese Fälle schaffen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Rechtsgrundlage für den automatisierten Datenabgleich. Bislang haben vier Bundesländer bereits eigene Landesgesetze eingeführt: Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Diese Länder haben mit dem automatisierten Datenabgleich sehr gute Erfahrungen gemacht. Mit seiner Hilfe konnten insbesondere bei der Antragstellung zum Wohngeld verschwiegene Kapitalerträge aufgedeckt werden. Auf diese Weise wurde ein überhöhter Leistungsbezug verhindert. So wurde in Nordrhein-Westfalen allein beim ersten Datenabgleich ein Rückforderungspotenzial von 9 Millionen Euro ermittelt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass diese Summen tendenziell abnehmen, wenn sich herausstellt, dass zukünftig strikter kontrolliert wird. In NRW wurde beim vierten Datenabgleich immerhin noch 1 Million Euro Rückforderungspotenzial ermittelt. Die Ausweitung dieses effizienten Verfahrens auf die gesamte Bundesebene ist insofern sehr lohnenswert. Es ist eindeutig: Gemessen an diesen Kostenersparnissen fallen die einmalig entstehenden Kosten zur Einführung des technischen Verfahrens nicht ins Gewicht. Dieses neue Verfahren macht den Wohngeldbezug hingegen wesentlich gerechter und bedürfnisbezogener. Die Bundesregierung schafft mit diesem Gesetzentwurf somit ein effizientes System zur Aufdeckung nicht gerechtfertigter Wohngeldbezüge. Darüber hinaus stellt der Gesetzentwurf klar, dass Kreditinstitute für Auskünfte über Kapitalerträge nach Wohngeldgesetz eine Entschädigung durch die Länder erhalten. Dies ist in anderen Sozialleistungsbereichen ohnehin gängige Praxis. Pro Auskunftsersuchen werden hierdurch Kosten in Höhe von 50 Euro entstehen. Diese Kosten werden durch die zu erwartenden Einsparungen jedoch ebenfalls deutlich überkompensiert werden. Der Gesetzentwurf nimmt weitere Konkretisierungen vor. Die Wohngeldstatistik wird zukünftig bei der Erhebung der Merkmale Erwerbsstatus und Geschlecht auf alle zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder ausgeweitet. Die Erhebung von Kindern und Jugendlichen wird vereinfacht. Hierdurch entsteht ein vollständigeres statistisches Bild des Wohngeldbezugs in Deutschland. Durch die statistische Erhebung dieser zusätzlichen Merkmale entstehen keine nennenswerten Mehrkosten. Es ist lediglich eine einmalige Anpassung des Datensatzes notwendig – sprich, einmalige Umstellungskosten des Statistischen Bundesamts von rund 20 000 Euro. Für Gero Storjohann die Länder entstehen Umstellungskosten von jeweils 5 000 Euro und laufende Mehrkosten von rund 7 000 Euro jährlich, wohlgemerkt: für alle Länder zusammen. Diese 7 000 Euro, die die Länder jährlich insgesamt mehr aufbringen müssen, sind absolut vertretbar in Hinblick auf die Einsparungen im Millionenbereich, die dieses Gesetz bewirken wird. Ein weiteres – sehr spezifisches – Problem, das wir mit diesem Gesetz lösen wollen, liegt bei der abweichenden Bundeskompetenz des Bergarbeiterwohnungsbaus. Denn auch in Bundesländern mit eigenen Wohnraumförderungsund Wohnungsbindungsgesetzen gelten für die Belegung von Wohnungen, die von der Zweckbindung für Wohnungsberechtigte im Kohlenbergbau freigestellt sind, die Vorgaben des Bundesrechts. Diese unübersichtliche Lage in den Ländern mit eigenen Landeswohnraumförderungsund Landeswohnungsbindungsgesetzen wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf aufgelöst. Auch für die von der Zweckbindung freigestellten Bergarbeiterwohnungen gelten zukünftig – sofern vorhanden – die Landesgesetze. Durch den neuen Gesetzentwurf wird eine weitestgehend lückenlose Aufdeckung von Missbrauchsfällen beim Wohngeldbezug gewährleistet. Das Gesetz nimmt umsichtige und notwendige Anpassungen vor. Auch der Bundesverband Freier Immobilienund Wohnungsunternehmen e. V. unterstützt unsere Pläne deshalb ausdrücklich. Das Gesetz dient aber nicht nur der Aufdeckung rechtswidriger Inanspruchnahme des Wohngelds, sondern auch der umfassenden Prävention. Denn der Datenabgleich findet bereits während der Wohngeldbeantragung statt. Würden die Länder den neuen automatisierten Datenabgleich nicht durchführen, so würden Bund und Ländern Millionenbeträge verloren gehen, Millionenbeträge wohlgemerkt, die sonst rechtswidrig als Wohngeld ausgezahlt wurden. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass wir die anstehenden Ausschussberatungen zu diesem Gesetzentwurf zügig abschließen können, um diese notwendigen Verbesserungen im Wohngeldverfahren schnell einzuführen. Heute findet die erste Lesung des Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften statt. Wir werden uns also in den Ausschüssen in den kommenden Wochen mit den Details dieses Gesetzentwurfs befassen. Der Bundesrat hat dazu bereits eine Stellungnahme abgegeben und war eigentlich recht zufrieden. Lediglich ein paar kleinere Änderungen werden gewünscht. Es macht den Eindruck, als sei es ein gelungener Entwurf, über den wir hoffentlich nicht viel streiten werden. Nachdem wir im Zuge der Föderalismusreform I im Jahr 2006, an der ich mitarbeiten durfte, die Zuständigkeit für das Wohnraumförderungsund Wohnraumbindungsrecht auf die Länder übertragen haben, wurde über die Jahre offensichtlich, dass einige Nachbesserungen erforderlich sind. Nun hat die Bundesregierung vor, die Regelungen zum wohngeldrechtlichen Datenabgleich zu präzisieren und zu verbessern. Auch soll eine Ermächtigungsgrundlage für die Kostenerstattung der Länder an die Datenstelle im Rahmen des automatisierten Datenabgleichs geschaffen sowie die Vorschrift zur Berücksichtigung vom weitergeleiteten Pflegegeld präzisiert werden. Ferner wird mit dem Gesetz klargestellt, dass Kreditinstitute für Auskünfte über Kapitalerträge eine Entschädigung erhalten. Aber auch die Erfassung statistischer Werte soll erweitert werden, indem bei der Erhebung der Wohngeldstatistik die Merkmale Erwerbsstatus und Geschlecht auf alle zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder ausgeweitet und die im Haushalt lebenden Kinder und junge Erwachsene mit aufgenommen werden sollen. Ein besonderer Punkt, der zudem geregelt werden soll, ist die Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes. Es sollen zukünftig für die von der Zweckbindung freigestellten Bergarbeiterwohnungen und alle öffentlich geförderten Sozialwohnungen jeweils landeseinheitliche Vorschriften für die Ermittlung des Einkommens und der Einkommensgrenzen gelten. Doch nun zu den Plänen im Einzelnen: Der automatisierte Datenabgleich im Wohngeldverfahren nach § 33 Abs. 5 Wohngeldgesetz, WoGG, ist unerlässlich, um eine rechtswidrige Inanspruchnahme zu verhindern. Es kommt zu Rückzahlungen und Einsparungen von Geldern, auf die es keinen Anspruch gab. Dies führt dazu, dass Bund und Länder Haushaltsmittel einsparen, die an anderen Stellen viel besser eingesetzt werden könnten. Die Erfahrungen in den Bundesländern, die bereits den automatischen Datenabgleich eingeführt haben, wie zum Beispiel NRW oder Baden-Württemberg, waren sehr positiv. Schon bei der Antragstellung konnten viele Anträge abgewiesen werden, weil die Antragsteller sich nach einer Prüfung als nicht berechtigt herausstellten. Gut, NRW muss ja auch zuzusehen, dass es an Geld kommt, denn man hat ja bekanntlich extreme haushalterische Defizite und plant, sich noch weiter zu verschulden. Da kann man jeden Euro gebrauchen. Aber zurück zum Thema: Im Rahmen des Datenabgleichs nehmen also die Länder die Hilfe der Datenstelle in Anspruch; denn würden sie den Datenabgleich selber vornehmen, würden die Kosten noch viel höher ausfallen. Die einmalig aufzubringenden Kosten zur Einrichtung der Technik sind daher auch im Vergleich zu den zu erwartenden Summen, die zurückfließen, als eher untergeordnet zu betrachten. Die entstandenen Einsparungen stehen entsprechend den Finanzierungsanteilen jeweils hälftig dem Bund und dem jeweiligen Land zu. Um mögliche, nicht angegebene Kapitalrücklagen zu erfahren, werden Auskünfte bei Banken eingeholt. Diese sollen künftig für ihre Informationen bzw. ihren Aufwand entschädigt werden. Es wird mit einer Summe von etwa 50 Euro pro Anfrage gerechnet. Zu Protokoll gegebene Reden Daniela Ludwig Bei diesem Punkt gibt es allerdings wahrscheinlich noch Diskussionsbedarf, denn es ist nicht vorhersagbar, wie oft diese Auskünfte künftig eingeholt werden müssen. So schlägt der Bundesrat in seiner Stellungnahme vor, dass diese Kosten durch die betroffenen Bürger übernommen werden sollten, da die betreffende Person durch das Verschweigen von Angaben letztendlich für diese Prüfung selbst verantwortlich ist. Darüber werden wir also nochmal sprechen müssen. Die Ausweitung der Erhebung statistischer Daten ist ebenfalls sinnvoll und nur mit geringen Kosten und geringem Aufwand verbunden. Es muss dazu eine Umstellung der Technik vorgenommen werden. Das sind für das Statistische Bundesamt einmalig 20 000 Euro, die dieses übernimmt, und für die Statistischen Landesämter jeweils einmalig 5 000 Euro. Die jährlichen Mehrkosten für die Länder belaufen sich voraussichtlich auf insgesamt 7 000 Euro; also alles Summen, die gut zu verkraften sind. Diese liefern wertvolle Daten für die Statistiken. Das bedeutet konkret, dass an die bisher schon bestehende Informationspflicht beim Wohngeldantrag noch die Information über im Haushalt lebende Kinder und junge Erwachsene hinzugefügt wird. Damit kann die Informationspflicht über einen möglichen Kindergeldbezug für den Antragsteller entfallen. Außerdem gibt es bekanntlich immer mehr Mehrverdienerhaushalte, sodass es wichtig wird, in diesem Rahmen einzelne Erwerbsquellen statistisch zu erfassen. Jetzt komme ich nochmal kurz auf die Föderalismusreform I zu sprechen. Damals verblieb die Kompetenz für das Recht des Bergarbeiterwohnungsbaus beim Bund. Es wurde durch das Inkrafttreten länderspezifischer Wohnraumförderungsgesetze, das Wohnraumförderungsgesetz und das Wohnraumbindungsgesetz des Bundes ersetzt – auch bei mir in Bayern. Aber die Bergbauwohnungen wurden weiterhin ausschließlich aus dem bundeseigenen Bundestreuhandvermögen für den Bergarbeiterwohnungsbau im Kohlenbergbau gefördert. Da es sowohl unpraktisch, ineffizient und schon gar nicht bürgernah und transparent ist, gleich zwei Regelungen zu haben, soll § 22 Abs. 3 WoBindG dahingehend ergänzt werden, dass landesrechtliche Regelungen in der jeweiligen Fassung nun auch für von der Zweckbindung freigestellte Bergarbeiterwohnungen gelten können. Ich stimme mit der Schlussfolgerung der Bundesregierung überein, dass es eindeutig besser und im Sinne aller Beteiligten ist, wenn für die Erteilung eines Wohnberechtigungsscheins in solchen Fällen der Freistellung von der Zweckbindung öffentlich geförderter Wohnungen landeseinheitliches Recht gilt. Wohnen ist für alle Menschen ein zentrales Grund bedürfnis, ist persönlicher Rückzugsraum. Wohnraum macht nicht nur seine Quantität, sondern gerade die individuelle Qualität lebenswert. Haushalte mit Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Singles, Paaren usw. haben hier oft sehr unterschiedliche spezielle Wohnbedürfnisse. Unterhalb bestimmter Einkommensgrenzen greift hier die soziale Wohnraumförderung, um Härten abzufedern und einen Grundlebensstandard zu sichern. Bezahlbare Wohnungen werden vielerorts immer knapper, gerade wenn noch bestimmte bauliche Voraussetzungen wie beispielsweise Barrierefreiheit erforderlich sind. Zusammen mit den steigenden Energiekosten bei gleichbleibenden Gehältern und Löhnen, der Zunahme der Zahl von Geringverdienern am Arbeitsmarkt, niedrigeren Renten aufgrund niedriger Einkommen im Erwerbsleben und Brüchen in den Erwerbsbiografien werden zukünftig mehr Menschen Unterstützung brauchen. Wohngeld wird zur wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens als Mietzuschuss für Mieter von Wohnraum oder als Lastenzuschuss für Eigentümer gewährt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchte die Bundesregierung die gesetzlichen Regelungen zum wohngeldrechtlichen Datenabgleich im Wohngeldverfahren automatisieren und verbessern. Gleichzeitig ist eine Harmonisierung von Gesetzen der Länder und des Bundes vorgesehen. Darüber hinaus soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch mittels des automatisierten Datenabgleichs die rechtswidrige Inanspruchnahme von Wohngeld vermieden und der Gesetzesvollzug erleichtert werden. Nach dem Entwurf der Bundesregierung wäre nun ein Abgleich der Meldedaten bereits bei der Antragsbearbeitung möglich und kann auch hinsichtlich einer versicherungspflichtigen oder geringfügigen Beschäftigung unter Nennung des Arbeitgebers vorgenommen werden. Der automatisierte Datenabgleich wird bundesweit eingeführt. Dies soll der Prävention von rechtswidriger Inanspruchnahme von Wohngeld dienen und somit ein Schlupfloch zum Leistungsmissbrauch schließen, aber auch Fehler in den Antragstellungen vermeiden und somit die Zahl nachträglicher Aufhebungsbescheide und entsprechender Rückforderungsansprüche verringern. Allerdings ist dafür Sorge zu tragen, dass der Datenschutz sichergestellt ist. Es ist wichtig, dass Wohngeld denjenigen zugutekommt, die wirklich darauf angewiesen sind. Deswegen darf sich die Bundesregierung nicht nur darauf ausruhen, Leistungsmissbrauch zu verhindern, sondern muss auch dafür Sorge tragen, dass die Mittel für diese Leistungen in ausreichender und zeitgemäßer Form zur Verfügung stehen, um laut § 1 WoGG angemessenes und familiengerechtes Wohnen zu ermöglichen. Hierzu gehört auch ein Monitoring und die Überprüfung, ob die vorhandene Gesetzeslage und Regelstruktur tatsächlich ausreichend ist. Auch eine Mittelaufstockung und zeitgemäße Anpassung sollte regelmäßig überprüft werden. Im Zusammenhang mit steigenden Heizkosten und zukünftig nicht absehbar sinkenden Energiepreisen sollte ebenfalls überprüft werden, ob der pauschale Zuschlag für Heizkosten, den die schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 gestrichen hat, nicht dringend wieder eingeführt werden müsste. Zu Protokoll gegebene Reden Michael Groß Der Aspekt der einseitigen Entschädigung für Kreditinstitute für Bankauskünfte zur Ermittlung des wohngeldrechtlichen Einkommens wird von außen insofern kritisiert, dass natürlich auch Immobilienverwalter, aber auch Vermieter Bestätigungen und Bescheinigungen für Mieter im Antragverfahren ohne Vergütung ausstellen. Hier ist klar zu prüfen, ob dies nicht zu einer Ungleichbehandlung führt. Wichtig wird sein, Wohnraum jetzt und zukünftig bezahlbar, angemessen, barrierearm und familienfreundlich zu ermöglichen. Das Wohngeld ist eine wesentliche und wichtige Säule unseres Sozialstaats. Es gewährt Bürgerinnen und Bürgern mit geringem Einkommen einen Mietzuschuss oder einen Lastenzuschuss für selbst genutztes Wohneigentum. Es unterstützt damit alle, die sich bemühen, ihr Leben zu gestalten, auf eigenen Beinen zu stehen, für sich und ihre Nächsten zu sorgen und zu arbeiten, denen es aber trotzdem nicht gelingt, dies ganz aus eigener Kraft zu leisten. Es entspricht unserer zutiefst liberalen Grundüberzeugung, den Menschen einerseits für diese Lebensgestaltung allen möglichen und notwendigen gesellschaftlichen Freiraum zu schaffen. Andererseits ist es Aufgabe unseres sozialen Gemeinwesens, überall dort einzuspringen, wo die elementaren Lebensrechte unverschuldet nicht gesichert sind. Allein für Wohngeld sind im laufenden Haushaltsjahr 650 Millionen Euro vorgesehen. Zu jedem Euro Wohngeld steht die FDP. Wir haben uns in der Vergangenheit dagegen eingesetzt – ich erinnere an die Debatte im Jahre 2010 –, und wir werden das auch in Zukunft tun, wenn Haushaltskonsolidierung auf dem Rücken der sozial Schwächsten betrieben werden sollte, zum Beispiel zulasten der Wohngeldbezieher. Jeder, der arbeitet, jeder der sich mit täglicher Anstrengung und Einsatzbereitschaft den eigenen Unterhalt versucht zu erwirtschaften, hat ein Recht auf unsere Hilfe und muss unterstützt werden. Nur so ist es möglich, sich letztlich selbstständig und unabhängig zu machen von staatlicher Versorgung. Verbunden mit diesem finanziellen Einsatz des Bundes und der Länder ist die Pflicht, sparsam, sorgsam und bedacht mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen. Im heute diskutierten Dritten Gesetz zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften führt die christlichliberale Koalition unter anderem den automatischen Datenabgleich im Wohngeldverfahren ein. Das dient erstens der Vermeidung einer rechtswidrigen Inanspruchnahme von Wohngeld. Es führt damit zur Einsparung von Haushaltsmitteln im Bund und in den Ländern – und das in nicht unerheblicher Größenordnung. Dort, wo dieser Datenabgleich bereits eingeführt worden ist, in Nordrhein-Westfalen, in Hamburg, in Berlin und in Baden-Württemberg, überall dort konnten zum Beispiel verborgene Kapitalerträge aufgedeckt und überhöhte Leistungsbezüge verhindert werden. Allein in Nordrhein-Westfalen lag das Rückforderungspotenzial im ersten Datenabgleich bei 9 Millionen Euro. Damit spart der Staat nicht nur Geld, das Verfahren trägt da rüber hinaus, zweitens, in erheblichem Maße zu Rechtssicherheit und Verfahrensgerechtigkeit bei. Hier geht es weder um den Schnüffelstaat noch soll irgendwem ein Anspruch auf Sozialleistungen streitig gemacht werden. Für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger entsteht weder eine neue Informationspflicht noch werden berechtigte Leistungen gekürzt oder eingeschränkt. Recht soll und muss hier Recht bleiben. Auch der Wohnungswirtschaft und insbesondere den vielen Mittelständlern in diesem Bereich erwachsen keine zusätzlichen Kosten durch das Gesetz. Keine bisher bestehende Informationspflicht wird geändert oder abgeschafft oder ergänzt. Lediglich der Verwaltung entstehen für die statistische Erhebung der Daten und die Umstellung der Datenerhebungsund Statistiksoftwarekosten. Diese aber sind marginal im Vergleich zu den erwartbaren Einspareffekten. Einen dritten positiven Aspekt möchte ich zum Abschluss noch ansprechen: Mit der Gesetzesänderung soll die Wohngeldstatistik insbesondere bei der Berücksichtigung von Haushaltsmitgliedern und bei der Erfassung von Kindern und Jugendlichen vereinheitlicht und vereinfacht werden. Vereinfachung und Vereinheitlichung struktureller und administrativer Abläufe und Regelungen ist seit langem eine politische Forderung der FDP nach Entbürokratisierung. Hier gehen wir einen kleinen, doch weiteren Schritt. Auch das wird perspektivisch Steuergelder sparen und den Verwaltungsaufwand senken. Solide statistische Daten sind die Grundvoraussetzung für einen effektiven und passgenauen Einsatz öffentlicher Mittel. Auch dazu werden wir mit dieser Gesetzesänderung beitragen. Einsparungen, wo möglich, Anspruchsgerechtigkeit, wo nötig, Bürokratieabbau, wo er sinnvoll ist: Das ist liberale Politik, in diesem Fall christlich-liberale Politik. Es hat ganz den Anschein, dass die Bundesregierung in voller Breite und mit preußischer Gründlichkeit gegen die Mieterinnen und Mieter in diesem Land vorgehen will. Erst dieser unsägliche und völlig überflüssige Entwurf eines „Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“, dann die permanenten Fluchtversuche aus den Verpflichtungen zur sozialen Wohnraumförderung mit ungewissem Ausgang und nun dieses „Dritte Gesetz zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften“. Das alles passt zusammen und wirft erneut ein grelles Licht auf das Denken und Handeln dieser Bundesregierung. Der politische Anspruch des eingebrachten Entwurfes ist nicht: Wie kann den rund 900 000 Menschen in diesem Land geholfen werden, die auf Wohngeld angewiesen sind, weil sie sowieso schon nicht wissen, wie sie sonst ihr alltägliches Leben fristen sollen? Nein, es geht darum, wie die von diesen schreienden sozialen Missständen betroffenen Menschen noch effizienter verwaltet, überwacht und ausgepresst werden können. Zu Protokoll gegebene Reden Heidrun Bluhm Bis zur letzten Briefmarke soll geregelt werden, welche Behörde, welches Kreditinstitut wem gegenüber welche Kosten in Rechnung stellen darf und wem gegenüber ein Erstattungsanspruch in welcher Höhe besteht. Zuletzt immer gegen diejenigen, die ohnehin schon nichts haben: Kein Geld, keine Rechte und keine Lobby – außer uns. Dieser Gesetzentwurf zeugt von einem tiefen Misstrauen eines Obrigkeitsstaats seinen Untertanen gegenüber, eines Staats, der sich längst von den Grundsätzen des Sozialstaats verabschiedet hat, der dabei ist, sich über die Phase des Verwaltungsstaats immer mehr zu einem Überwachungsstaat zu entwickeln. Ein solches Gesetz brauchen die Menschen in diesem Land nicht – vielleicht mit Ausnahme einiger Regierungsbeamter, die mit der Erarbeitung solcher Vorlagen ihr Geld verdienen. Was die Menschen – besonders die von diesem Gesetzentwurf Betroffenen; es handelt sich dabei zu einem ganz überwiegenden Teil um Rentnerhaushalte – stattdessen brauchen, ist zunächst die Wiederberücksichtigung der Heizkosten bei der Wohngeldberechnung, die ja auch von dieser Koalition zum 1. Januar 2011 gestrichen worden war, und zwar mit der völlig weltfremden Begründung, die Heizkosten seien gesunken. Angesichts der tatsächlich steigenden Mieten und der geradezu explodierenden Heiz-, Energieund Wasserkosten sowie anderer wohnnaher Kosten und Gebühren ist eine Erhöhung des Wohngelds nötig, weil immer mehr Mieterhaushalte einen immer größeren Teil ihres Einkommens für Wohnkosten auszugeben gezwungen sind. Mehr als 40 Prozent der deutschen Mieterhaushalte müssen heute schon die Hälfte ihres monatlichen Nettoeinkommens für Wohnkosten aufwenden. Da diese Haushalte schon jetzt keine Einkommensund schon gar keine Vermögensreserven – wie der vorliegende Ge-setzentwurf unterstellt – mehr haben, müssen sie bei anderen lebensnotwendigen Ausgaben sparen und verzichten. Es droht in diesem Land eine neue, flächendeckende, durch Wohnkosten verursachte Armut. Das ist der eigentliche Skandal. Dagegen muss der Gesetzgeber dringend aktiv werden. Angesichts der tatsächlichen, für immer mehr Menschen spürbaren und für einen wachsenden Teil der Bevölkerung existenzbedrohenden Wohnprobleme brauchen wir ein klares Bekenntnis der Politik zum Wohnen als sozialem Grundbedürfnis und ein daran orientiertes Regierungshandeln. Wir brauchen eine verlässliche Zusage zur Fortführung einer bedarfsgerechten sozialen Wohnraumförderung, und wir brauchen ein soziales Mietrecht, das Mieterinnen und Mieter ihren Vermietern nicht ausliefert, sondern sie ihnen rechtlich gleichstellt. Was wir absolut nicht brauchen, ist ein Gesetz für einen automatisierten Datenabgleich zur Vermeidung rechtswidriger Inanspruchnahme des Wohngelds zur Einsparung von Haushaltsmitteln des Bundes. Das ist absurd und menschenverachtend und muss von jedem verantwortungsbewussten Volksvertreter sofort zurückgewiesen werden. Der von der Bunderegierung eingebrachte Gesetzent wurf ist in seiner inhaltlichen Ausrichtung weitestgehend unproblematisch, da es sich um die Umsetzung des bereits in der Wohngeldnovelle 2009 angelegten Datenabgleichs handelt. Seine finanziellen Auswirkungen sind insbesondere für die Kommunen allerdings kritisch zu hinterfragen. Deswegen habe ich gemeinsam mit meiner Fraktion im März diesen Jahres eine Kleine Anfrage parlamentarische Fragerecht im Deutschen Bundestag gibt, war ich mit den Antworten der Bundesregierung Der Datenabgleich hat zum Ziel, die rechtswidrige Inanspruchnahme des Wohngelds zu verhindern. Er wird zur Folge haben, dass Bund und Länder mittelfristig weniger Wohngeldkosten zu tragen haben. Umgesetzt wird der Datenabgleich allerdings in den Kommunen, die diesen wahrscheinlich mit höherem Personalaufwand umsetzen werden. Zusätzlich entstehen für die Kommunen nach Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfs weitere Kosten durch die Entschädigung der Kreditinstitute für die Auskunftserteilung. Auf diese Problematik habe ich unter anderem in meiner Kleinen Anfrage hingewiesen. Auf meine Frage „Wie hoch werden die Kosten für die Kommunen, entstehend aus der neuen Erstattungspflicht für die auskunftgebenden Kreditinstitute, sein?“, hat die Bundesregierung geantwortet, dass sie „… nicht von nennenswerten Mehrkosten für die Kommunen aus[geht].“ Dem widerspricht sie allerdings in ihrer Gegenäußerung auf die Einwände des Bundesrates, siehe Seite 17 des vorliegen „Da die Anzahl der Bescheinigungen nicht absehbar ist, kann der gesamte Erfüllungsaufwand für die Wohngeldbehörden nicht beziffert werden.“ Angesichts der weit verbreiteten schlechten finanziellen Lage vieler Kommunen sollten wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren eine Lösung finden. Bund und Länder zahlen die Wohngeldkosten hälftig. Maßnahmen, die zu finanziellen Einsparungen führen, sollten die Kommunen nicht zusätzlich belasten. Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Druck sache 17/9851 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. – Das sehen Sie auch so. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 38: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke Rix, Ute Kumpf, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrich Schneider, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung stärken – Drucksache 17/9926 – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Rede noch ein mal die Mühe gemacht, die Plenarprotokolle der zurückliegenden Reden zum Thema Freiwilligendienste und Bundesfreiwilligendienst zur Hand zu nehmen und die Aussagen von damals mit den Realitäten zu vergleichen. Um es vorwegzunehmen: Ihre Aussagen von damals müssen Ihnen – und dabei meine ich von den antragstellenden Fraktionen insbesondere die Grünen – ziemlich peinlich sein. Aus Zeitgründen ist es gar nicht möglich, alle Fehleinschätzungen aufzulisten, deshalb beschränke ich mich auf einige wenige Aussagen in der Debatte vom 24. März 2011. „Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgsmodell sein.“ Das war die Aussage des Grünen-Redners von damals. Fest steht heute: Sie haben unrecht gehabt. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Wir haben es geschafft, die Wehrpflicht auszusetzen, einen anerkannten Bundesfreiwilligendienst zu etablieren und das bürgerschaftliche Engagement in einer bisher nie dagewesenen Weise zu verstärken. Der Systemwechsel mit all seinen Begleiterscheinungen ist geglückt. Die Freiwilligendienste sind mit einem gestärkten Rücken aus dem gesamten Prozess hervorgegangen. Wie froh können wir alle sein, dass wir nicht auf Ihre Kassandrarufe gehört haben und uns von Ihrer sehr oft parteipolitisch und negativ vorgetragenen Kritik nicht aus der Ruhe haben bringen lassen. Sie haben von geringer Nachfrage schwadroniert und von fehlender Akzeptanz. In der Realität ist genau das Gegenteil eingetreten. Jeder einzelne Platz im BFD wurde besetzt – wir sehen uns sogar mit dem Problem konfrontiert, dass nicht genügend freie Plätze für alle Bewerberinnen und Bewerber zur Verfügung stehen. Dies zeigt: Der Bundesfreiwilligendienst ist bei den engagementbereiten Menschen längst angekommen. Was hat es alles für Ratschläge von Ihnen gegeben, was zu tun wäre. Wir können im Sinne der Freiwilligen gemeinsam froh und dankbar sein, diese Vorschläge nicht aufgegriffen zu haben. Wenn Sie heute in Ihrem Antrag schreiben:„Die große Engagementbereitschaft Jugendlicher zeigt, dass die Warnungen und Verwerfungen im Sozialbereich infolge der Zivildienstaussetzung unbegründet und übertrieben waren“, ist dies insofern zuallererst als Selbst kritik an Ihren eigenen Fehleinschätzungen zu sehen. Ich finde es gut und richtig, dass Sie das heute eingesehen haben. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen aus der christlich-liberalen Koalition, der Bundesregierung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben sowie insbesondere auch Herrn Dr. Kreuter für ihre Leistungen in den zurückliegenden Monaten. Es war gut und richtig, dass wir den Bundesfreiwilligendienst eingeführt und die Jugendfreiwilligendienste deutlich gestärkt haben. Es ist zudem ein großartiger Ausweis jugendlichen Verantwortungsbewusstseins, wenn man betrachtet, wie viel Interesse in diesen Generationen besteht, sich für die Gesellschaft einzusetzen. Es kann uns alle mit Freude erfüllen, dass gerade die junge Generation so viel Verantwortungsbewusstsein zeigt. Eine weitere Aussage der Grünen, die Ihnen heute bitter aufstoßen müsste, ist: „Es ist ein Kardinalfehler, dass Schwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiter Klasse schaffen will.“ Mittlerweile müsste auch den Grünen deutlich geworden sein, dass diese Unterstellung jeglicher Grundlage entbehrt. Unser Ziel war es, dass die Teilnehmer an den Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilligendienst auf gleichem Niveau betreut und unterstützt werden – sowohl finanziell als auch organisatorisch. Genau das ist gelungen – und ich denke, das bestreitet heute auch niemand mehr. Wir sind angetreten mit dem Ziel, dass die Teilnehmer an beiden Formaten keinen Unterschied in ihren Diensten merken. Unterschiede sind heute nur sehr gering. Das war uns wichtig, und deshalb haben wir bei der Umstellung beide Komponenten immer auch parallel mitgedacht. Das hat sich ausgezahlt, und es freut uns, dass wir heute auch von vielen Trägern nach anfänglicher Skepsis viel Anerkennung und Zustimmung erfahren haben. Diese Koalition hat sich schon im Koalitionsvertrag vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zu stärken. Genau das haben wir auch getan. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwar schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Inzwischen werden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligendienst dreimal so hoch sein wie noch zu Beginn der Legislaturperiode. Wir haben eine Sonderregelung eingeführt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf besser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereiche über das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausgebaut. Heute können Jugendliche sich auch in der Politik, im Sport, in der Kultur, in der Bildung und in der Integration mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihren Ideen einbringen. Die Freiwilligendienste haben in dieser Legislaturperiode eine Aufwertung und eine Unterstützung erfahren, wie es sie noch nie vorher gab. Es ist die große gesellschaftspolitische Entscheidung, das große gesellschaftspolitische Projekt dieser Legislaturperiode. Wenn die antragstellenden Fraktionen dann an den verschiedenen Details herumkritteln, dann muss man sich vor Augen führen, woher wir kommen und was angesichts von Haushaltskonsolidierungsdruck und Schuldenbremse Dr. Peter Tauber alles auf dem Spiel stand. Wir haben insofern allen Grund, auf das Gesamtergebnis stolz zu sein. Wenn Sie angesichts dieser Entwicklungen und der damals zu lösenden Mammutaufgaben dann von „handwerklichen Mängeln“ und dergleichen schwadronieren, muss man sich schon fragen, ob die Komplexität der Aufgabe Ihrerseits erfasst wurde. Es ist an dieser Stelle noch einmal wichtig, zu betonen, dass Sie es sich mit Ihren Aussagen zu den Doppelstrukturen beim BFD und den Jugendfreiwilligendiensten ziemlich einfach machen. Sie wissen um die verfassungsmäßige Problematik, die sich rund um die Frage dreht, inwieweit der Bund sich an den Jugendfreiwilligendiensten der Länder beteiligen darf. Mit der erheblichen Aufstockung der Mittel für die Jugendfreiwilligendienste ist die Bundesregierung bereits weit gegangen. Sie hat dies ganz im Sinne der Stärkung der Jugendfreiwilligendienste getan. Die zivilgesellschaftliche Komponente hat alleine durch diesen Aufwuchs eine Stärkung erfahren, wie es sie bislang nicht gab. Dies müssen Sie bei Ihrer Forderung nach Stärkung der Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung zur Kenntnis nehmen, und ich denke, dass es daran fraktionsübergreifend keinen Zweifel gibt. Ich finde es auch sehr interessant, wie ambivalent Sie immer wieder mit der Frage der Zivilgesellschaft umgehen. Das hat sich ja bei den Beratungen rund um den Bundesfreiwilligendienst deutlich gezeigt. Auf der einen Seite haben Sie sich darüber aufgeregt, dass der staatliche Einfluss auf den Bundesfreiwilligendienst zu groß sei und der Staat nun einen zu großen Einfluss auf die Zivilgesellschaft nimmt. Andererseits sind Sie nicht müde geworden, immer neue Forderungen zu stellen, was alles noch gesetzlich geregelt werden muss, um es nicht der Zivilgesellschaft selbst zu überlassen. Unter diesem Blick muss auch Ihre Forderung nach neuen gesetzlichen Regelungen oder – wie Sie es nennen – „einem einheitlichen Rechtsrahmen“ gesehen werden. Umstellungsprozesse brauchen immer ein wenig Zeit – und es gibt tatsächlich das eine oder andere, das aus meiner Sicht noch geschärft werden muss. Ich habe keinen Zweifel, dass wir diese Änderungen im Sinne der Freiwilligen in beiden Säulen angehen werden. Ein knappes Jahr nach der Einführung des Bundes freiwilligendienstes ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo steht der BFD? Nach wie vor ist deutlich spürbar, dass das Gesetz zum Bundesfreiwilligendienst unter einem hohen Zeitdruck durch die Gremien gebracht werden musste. Es gibt weiterhin grundsätzliche Schwachstellen, die sich aus der „Pflichtdienstlogik“ ergeben – schließlich sollte der BFD die Lücke schließen, die der Zivildienst vermeintlich hinterlassen hat –; aber es gibt auch massive Probleme bei der Umsetzung, der Verzahnung zwischen BFD und FSJ/FÖJ und der Arbeitsmarktneutralität. Anfang des Jahres hat meine Fraktion gemeinsam mit Freiwilligen, Trägern und Einsatzstellen versucht, syste matisch die Schwächen des BFD aufzuzeigen. Gemeinsam mit den Grünen bringen wir nun einen Antrag ein, der unsere Vorstellung von klugen Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste deutlich macht. Diesen Rahmenbedingungen liegt unserer Meinung nach ein grundsätzlich anderes Verständnis von Freiwilligendiensten zugrunde als das, das die Bundesregierung im letzten Jahr vermittelt hat. Wir nämlich sind der Überzeugung, dass Freiwilligendienste in zivilgesellschaftliche Verantwortung gehören und nicht in staatliche. Man kann es aufgrund der aktuellen Entwicklungen nicht oft genug sagen: Freiwilligendienste sind weder Ausfallbürgen noch Lückenbüßer für sozialstaatliche Aufgaben. Engagement im Rahmen eines Freiwilligendienstes ist für die Gesellschaft, aber eben auch für den einzelnen Freiwilligen ein großer Gewinn. Freiwilligendienste sind Bildungsdienste. Das muss auch für den BFD gelten. In diesem Sinne muss er sich in seiner Struktur stärker an den Jugendfreiwilligendiensten orientieren. Dazu gehört – und damit komme ich zum harten Kern unseres Antrags – die Verankerung des Trägerprinzips im Bundesfreiwilligendienstgesetz. Denn es kann nicht sein, dass die Träger, die wichtige Ansprechpartner für ihre Freiwilligen sind, die eine koordinierende Funktion wahrnehmen und für die Qualitätssicherung zuständig sind, im BFD kein Vertragspartner sind. Neben dem Grundsatz der Subsidiarität, den es hier zu wahren gilt, stellt die momentane Situation die Träger allein schon verwaltungstechnisch vor unlösbare Aufgaben – müssen sie doch auch hinsichtlich ihres Kontingents einen Überblick über die Anzahl und die Daten „ihrer“ Freiwilligen erhalten. Wir wollen, dass auch der BFD – genau wie die Jugendfreiwilligendienste – seinen Anspruch als Bildungsdienst ernst nimmt. Noch ist dies nicht der Fall: Beispielsweise ist die pädagogische Begleitung in den Einsatzstellen nicht festgeschrieben; für mein Dafürhalten ist sie aber essenziell. Zum anderen gibt es organisatorische Schwierigkeiten beim Umgang mit den Bildungsgutscheinen für die ehemaligen Zivildienstschulen. FSJund FÖJ-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer können häufig nicht an den Seminaren teilnehmen, weil es vonseiten der Bildungszentren keine Flexibilität gibt. So verfallen die Bildungsgutscheine und damit ein Teil der aufgestockten Mittel. Hier fordern wir in unserem Antrag ein neues System und eine grundlegende Reform des Bildungskonzeptes. Neben vielen anderen Punkten, die wir in unserem Antrag aufführen, ist mir ein Thema besonders wichtig: Die Doppelrolle des BAFzA sehen wir mehr als kritisch. Einerseits ist es steuernde, koordinierende und kontrollierende Behörde und verwaltet die Zuschüsse an die zivilgesellschaftlichen Zentralstellen. Andererseits ist es insbesondere für kleine und kommunale Träger Zentralstelle und Dienstleister. Somit tritt das BAFzA in Konkurrenz zu den Zentralstellen aus dem dritten Sektor. Das widerspricht unter anderem dem Subsidiaritätsgebot. Wir fordern, dass diese zweite Rolle des BAFzA aufgegeben wird. Zu Protokoll gegebene Reden Sönke Rix Grundsätzlich müssen wir uns die Frage stellen, wie wir uns die Freiwilligendienstlandschaft in Zukunft vorstellen. Ich begrüße, dass es mit dem BFD nun auch eine Möglichkeit für Menschen über 27 gibt, einen Freiwilligendienst zu leisten. Gleichzeitig wirft dies aber Fragen auf, die wir klar beantworten müssen. Die Abgrenzung zum Arbeitsmarkt und zu anderen Formen des bürgerschaftlichen Engagements muss gewährleistet sein. Tätigkeitsfelder müssen neu definiert und stets kontrolliert werden. Die Möglichkeiten, die die Abschaffung des Wehrund Zivildienstes nun bieten, müssen wir nutzen, und zwar besser, als es die Bundesregierung momentan tut. Wir brauchen ein kluges, durchdachtes und zivilgesellschaftlich orientiertes Konzept für eine Zukunft der Freiwilligendienste. Unser Antrag stellt eine gute Grundlage dafür dar. Das große Interesse am Bundesfreiwilligendienst hat die Bundesregierung überrascht, sie feiert das als ihren Erfolg. Wir, die SPD, waren nicht überrascht. Das Interesse am freiwilligen Engagement ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Engagementquote ist in den letzten zehn Jahren um 2 Prozent gestiegen, bei den über 60-Jährigen sogar um mehr als 5 Prozent. Auf einen Platz im Freiwilligen Sozialen bzw. im Freiwilligen Ökologischen Jahr kamen drei Bewerbungen. Die SPD hat in ihrer Regierungsverantwortung, in der 14. und 15. Wahlperiode, die klassischen Jugendfreiwilligendienste kontinuierlich ausgebaut, quantitativ wie qualitativ. Diesen Ausbau wollten wir fortsetzen, die Bundesregierung nicht. Stattdessen hat sie mit dem Bundesfreiwilligendienst einen neuen Dienst eingeführt. Danken müssen wir den Freiwilligen wie den Trägern. Trotz der widrigen Bedingungen haben sie aus den neuen Vorgaben das Beste gemacht und den neuen Dienst erfolgreich umgesetzt. Freiwillige, die bereits als junge Erwachsene erfahren, welchen Wert und welche Bedeutung ihr Engagement für die Gesellschaft hat, werden sich auch im weiteren Verlauf ihres Lebens engagieren, davon bin ich überzeugt. Wir, die SPD, fordern daher auch in unserem Antrag, dass wir eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung entwickeln müssen. Das darf sich nicht auf schöne Worte und Schulterklopfen beschränken. Anerkennung muss schon bei der Bundesregierung anfangen. Während das Familienministerium für den neuen Dienst wirbt, beschäftigt sich das Finanzministerium lieber damit, wie man Freiwilligen in die Tasche greifen kann. Das Finanzministerium erarbeitete Pläne für eine Engagementsteuer! Das ohnehin schon geringe Taschengeld der Freiwilligen sollte besteuert werden. Solche Gedankenspiele sind ein vollkommen falsches Signal, sie sind das Gegenteil einer Anerkennungskultur. Solche Stolpersteine dämpfen Engagement, anstatt es zu befördern. Eine Kultur der Wertschätzung und Anerkennung müssen auch die Einsatzstellen und Träger entwickeln. Der Zivildienst war ein Pflichtdienst. Viele Einsatzstellen müssen erst noch realisieren, dass sie es mit Freiwil ligen und nicht mit Dienstverpflichteten zu tun haben, denn Freiwillige können ihren Dienst jederzeit quittieren. Die Abbrecherquote von rund 10 Prozent im Bundesfreiwilligendienst muss daher näher untersucht werden. Was sind die Gründe, dass Freiwillige ihren Dienst abbrechen? Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden? In Gesprächen mit Freiwilligen äußerten viele, dass sie als Freiwillige gesehen werden wollen, und nicht als Verpflichtete. Sie wollen ihre Qualifikationen im Freiwilligendienst einbringen, auch Veränderungen anstoßen, Freiwillige erwarten, dass sie auf Augenhöhe behandelt werden. Unklarheiten gibt es auch nach wie vor bei der Anrechnung eines Freiwilligendienstes als Wartesemester oder Praktikum für eine spätere Ausbildung oder ein Studium. FSJ und FÖJ sind eingeführt und werden angerechnet. Für die Freiwilligen im BFD muss dies auch gelten. Die Bundesregierung ist hier noch nicht aktiv geworden. Die ersten Bundesfreiwilligen sind schon fertig mit ihrem Dienst, und es gibt – nach einem Jahr – noch nicht einmal einen Bundesfreiwilligendienstausweis. Die Bundesregierung versichert immer wieder, man arbeite an dem Problem. Wie lange noch? Dabei ist ein einheitlicher und breit akzeptierter Freiwilligendienstausweis, der zu Ermäßigungen berechtigt, ein wichtiger Baustein für mehr Anerkennung. Auch Arbeitgeber sind in Sachen Anerkennung gefordert. Ehemalige Freiwilligendienstleistende sind ein Gewinn für Arbeitgeber. Wer einen Freiwilligendienst geleistet hat, bringt außergewöhnliche Kompetenzen, Fertigkeiten und Erfahrungen mit, Qualifikationen, die auch im Job gefragt sind. Davon profitieren sowohl Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als auch Kolleginnen und Kollegen. Umgekehrt müssen Arbeitgeber auch jungen Auszubildenden die Teilnahme an einem Freiwilligendienst ermöglichen, ohne dass sie ihren sicheren Job aufgeben müssen. Denn bisher werden Freiwilligendienste von jungen Leuten meistens zwischen Schule und Studium oder vor dem Berufseinstieg absolviert. Auszubildende, die von ihrem Betrieb übernommen werden wollen, können sich einen Freiwilligendienst gar nicht leisten, weil sie damit die Übernahme aufs Spiel setzen. Wir brauchen daher eine „Allianz für Freiwilligendienste“. Die Arbeitgeber verpflichten sich, einen Freiwilligendienst mit gleichzeitiger Rückkehr in den Job zu ermöglichen. Zivis hatten ein Rückkehrrecht. Eine Selbstverpflichtung wäre ein Baustein für eine reale Anerkennung. Und sie erspart uns gesetzliche Regelungen. Der Bundesfreiwilligendienst richtet sich nicht nur an Junge, sondern auch an Ältere. Eine erste Studie zum BFD, verfasst von der Hertie School of Governance und des CSI, „Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst“, zeigt: Über 30 Prozent der Bundesfreiwilligen sind über 27. Auf den ersten Blick sieht das toll aus. Schaut man sich die Verteilung auf die Bundesländer an, fällt auf, dass es in den östlichen Bundesländern überproportional viele ältere Teilnehmer am BFD sind. Während in BadenWürttemberg 16 Prozent der BFDler älter als 27 sind, sind es in Thüringen 79 Prozent. Ist die Arbeitsmarkt Zu Protokoll gegebene Reden Ute Kumpf neutralität im Osten nicht gegeben? Mir wurden Fälle geschildert, in denen die Arbeitsagentur Arbeitsuchende zur Aufnahme eines Bundesfreiwilligendienstes aufgefordert hat. Aus der persönlichen Sicht der Arbeitslosen kann ein Bundesfreiwilligendienst vielleicht ganz schön sein. Bei einem Besuch bei der Diakonie habe ich mit älteren Freiwilligen gesprochen. Oft sind es Brüche im Lebenslauf, die der Aufnahme eines BFD vorausgegangen sind. Es kann aber nicht sein, dass aktive arbeitsmarktpolitische Instrumente gekürzt werden und Arbeitslose mit dem Bundesfreiwilligendienst abgespeist werden. Der Bundesfreiwilligendienst ist keine AB-Maßnahme und darf nicht zu weiteren prekären Beschäftigungsverhältnissen führen. Die Altersöffnung ist aber mit noch mehr Fragezeichen verbunden. Mitnahmeeffekte sind möglich: Durch geringe Stundenzahl im BFD und einem Teilzeitjob im selben Bereich kann Missbrauch betrieben werden. Hier ist die Bundesregierung in der Pflicht. Möglicher Missbrauch muss untersucht und konsequent unterbunden werden. Alle die aufgeworfenen Themen sind in unserem Antrag aufgeführt. Wir fordern einen klaren Rechtsrahmen. Wir brauchen eine Abgrenzung zum Arbeitsmarkt. Freiwilligendienste dürfen nicht als Ersatz für soziale Arbeit, arbeitsmarktpolitische oder Wiedereingliederungsmaßnahmen missbraucht werden. Ein Freiwilligendienstestatusgesetz schafft Abhilfe. Es kann dazu beitragen, dass das Angebot für Interessierte übersichtlich ist, gesellschaftliche Anerkennung gewährleistet ist, Zuständigkeiten klar und transparent geregelt sind, und die Qualität der Einsatzstellen gesichert ist. Die Vielfalt und die zivilgesellschaftliche Verankerung der Freiwilligendienste muss darin gewährleistet sein. Ein letzter Punkt, der uns als SPD wichtig ist, ist die Frage der Partizipation. Wer sich für einen Freiwilligendienst entscheidet, will mitreden, mitgestalten und teilhaben. Gerade in den Freiwilligendiensten geht es nicht um das Ableisten einer Dienstpflicht. Dazu benötigt es eine Interessenvertretung der Freiwilligen, sowohl bei den Einsatzstellen, als auch bei den Trägern. Das ist bisher nicht gewährleistet. Es muss eine Plattform geschaffen werden, auf der sich BFDler organisieren und austauschen können. Die SPD steht zum Ausbau der Freiwilligendienste, dazu bekennt sich unser Antrag. Wir wollen die Vielfalt und die Verlässlichkeit in der Finanzierung gewährleisten. Unser Ziel bleibt es, jedem und jeder Interessierten einen qualitativ guten Freiwilligendienstplatz anbieten zu können, und dazu braucht es die entsprechenden Haushaltsmittel. Man soll den Tag bekanntlich nicht vor dem Abend loben. Aber in diesem Falle möchte ich das Wagnis eingehen. Schließlich stellt dieser Antrag fast eine 180Grad-Wendung von SPD und Grünen dar. Man erlebt es nicht alle Tage, dass die Opposition in einem Antrag so offen und unumwunden einräumt, dass die mutige Entscheidung der Koalition, die Wehrpflicht auszusetzen, richtig war. Da gab es in der Vergangenheit ja durchaus unterschiedliche Signale von der linken Seite des Hauses. Die SPD war mal für die Wehrpflicht, dann dagegen, dann für eine „freiwillige Wehrpflicht“; unklarer ging es kaum. Für uns Liberale war die Sache hingegen eindeutig: Anstatt babylonische Sprachverwirrung zu betreiben, haben wir uns seit über einem Jahrzehnt konsequent für die Aussetzung der Wehrpflicht und damit aller Zwangsdienste eingesetzt, weil wir die Wehrpflicht aus bekannten sicherheitspolitischen Erwägungen nicht mehr für zeitgemäß hielten. Als Nächstes hieß es dann, die Aussetzung sei übereilt, komme zum falschen Zeitpunkt oder sei in der aktuellen Lage fehl am Platze. Ich freue mich, dass Sie all diese vorschnellen Urteile mit diesem Antrag öffentlich eingestehen. Ferner räumen Sie Ihren Irrtum ein, dass der BFD ein Rohrkrepierer werden würde. Sie haben uns dies stets prophezeit – und ganz offensichtlich die Engagementbereitschaft der Menschen in unserem Lande massiv unterschätzt. Aber aus Fehlern kann man bekanntlich lernen. Ich wünschte, dass ich es dabei schon belassen könnte. Aber wo Licht ist, da ist auch Schatten, und der ist in diesem Fall leider ziemlich lang. Wenn Sie feststellen, dass mit der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes die Chance verpasst wurde, die Jugendfreiwilligendienste weiterzuentwickeln und auszubauen, dann haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Sie ignorieren wieder einmal geflissentlich die Hinweise des Bundesrechnungshofs, der bereits die heutige Förderung der Jugendfreiwilligendienste wiederholt gerügt hat. An anderer Stelle, liebe Mitglieder der Opposition, argumentieren Sie doch gerne mit dem Bundesrechnungshof. Warum weigern Sie sich in diesem Fall so beharrlich, dessen Hinweise zur Kenntnis zu nehmen? Außerdem unterschlagen Sie schlicht die enormen Anstrengungen, die diese Koalition im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements unternommen hat. Wir haben die Unterstützung für die Freiwilligendienste, die pädagogische Förderung, um das beinahe Vierfache erhöht. Nichts annähernd Vergleichbares ist unter Ihrer Ägide geschehen. Daher können wir, CDU, CSU und FDP, mit Fug und Recht sagen, dass wir die Koalition des bürgerschaftlichen Engagements sind. Und es ist kein Geheimnis, dass sich insbesondere die Liberalen für den Ausbau der Jugendfreiwilligendienste von Beginn dieser Legislatur an eingesetzt haben. In Ihrem Antrag stellen Sie nun eine Reihe von Forderungen. Teilweise werden diese schon erfüllt. So läuft die Evaluation des BFD bereits, und natürlich wird dabei dezidiert auf die Arbeitsmarktneutralität geachtet. Und es steht doch völlig außer Frage, dass die Freiwilligendienste nicht als arbeitsmarktpolitisches Instrument missverstanden werden dürfen. Da sind wir fachpolitisch völlig einer Meinung. Zu Protokoll gegebene Reden Florian Bernschneider Für einige andere Punkte, die Sie fordern, habe ich allerdings kein Verständnis. Nicht etwa, weil ich sie inhaltlich nicht teilen würde, sondern weil Sie sich schlicht und ergreifend wieder einmal den falschen Adressaten für Ihre Forderungen ausgesucht haben. Für die Anerkennung von bürgerschaftlichem Engagement in Form von Wartesemestern durch die Universitäten beispielsweise ist der Bund überhaupt nicht zuständig. Und das trifft auch auf eine Reihe anderer Punkte zu. Das sollten Sie eigentlich wissen. Es steht Ihnen aber selbstverständlich frei, sich bei Ihren Landeskollegen für eine größere Wertschätzung des bürgerschaftlichen Engagements einzusetzen. Es wäre höchste Zeit, und ich würde das ausdrücklich begrüßen. Sicherlich gibt es auch Punkte, wie zum Beispiel die Zukunft der Bildungszentren, die Sie selbst ansprechen, über die wir uns im Ausschuss austauschen sollten. Das gesetzliche „Feintuning“ beim BFD ist ohne Frage noch nicht abgeschlossen; wie sollte es auch. Die Freiwilligendienste haben sich über 40 Jahre entwickelt. Der BFD wurde in weniger als einem Jahr von uns sprichwörtlich aus dem Boden gestampft. Rom wurde bekanntlich auch nicht an einem Tag erbaut. Da wartet noch Arbeit auf uns. Ob aber dieser Antrag dazu beiträgt, die wichtigsten Baustellen erfolgreich abzuschließen, habe ich doch erhebliche Zweifel. Es ist interessant, wie stark sich die anderen Fraktio nen – trotz gegenteiliger Beteuerungen – regelmäßig an den Positionen der Linken orientieren, so wie in diesem Fall SPD und Bündnisgrüne, die in ihrem gemeinsamen Antrag zu den Freiwilligendiensten viele Forderungen und Bedenken der Linken aufnehmen. Unsere Forderungen, die von Ihren alles andere als weit entfernt sind, stellten wir schon im Februar 2011 im Bundestagsplenum zur Abstimmung. Unserem Antrag „Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen, statt Bundesfreiwilligendienst einführen“ stimmten Sie damals aber leider nicht zu. Im Mai 2012 wurde meine umfassende Kleine Anfrage zur „Weiterentwicklung des Bundesfreiwilligendienstes“ von der Bundesregierung beantwortet. Diese Anfrage haben Sie, wie Ihr Antrag zeigt, zu Recht genau studiert. Doch ob hier im Plenum oder im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“. Nicht nur die Regierungskoalition, auch Sie von SPD und Grünen untermalten regelmäßig unsere Anmerkungen – ob zur vermeintlichen Arbeitsmarktneutralität oder zur Altersöffnung – mit genervtem Desinteresse. Dies macht Sie nicht unbedingt glaubwürdiger! Wenn Sie jetzt schon einiges von der Linken guttenbergen, ist es umso bedauerlicher, dass wir nicht einen oppositionsübergreifenden Antrag vorlegen. Dies hätte erstens Ihrem jetzigen Antrag noch mehr Nachdruck und Glaubwürdigkeit verliehen, gerade in die soziale Bewegungsund Engagementszene hinein. Und zweitens hätte dies Ihrem Antrag gewiss zu noch mehr Qualität verholfen. Rot-Grün fordert nun im Antrag, dass alle Freiwilligendienste vollständig zivilgesellschaftlich organisiert sein sollen. Dies ist richtig. Doch wären Sie nur immer schon so konsequent gewesen! Die Linke lehnte den staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienst von vornherein und – das ist der Unterschied zu Ihnen – mit Nachdruck ab. Wir wollten rechtliche Voraussetzungen schaffen, um die bestehenden Jugendfreiwilligendienste mithilfe erfahrener zivilgesellschaftlicher Akteure weiter auszubauen und zu stärken. Sie eierten dagegen rum! Aber in Ihrem Antrag wird vieles Richtige und Wichtige angesprochen: Der Linken liegt das Thema Arbeitsmarktneutralität ganz besonders am Herzen. Da lassen wir auch nicht locker. Schön, dass Sie sich dieses Themas zumindest in Ihrem Antrag ein bisschen ausführlicher annehmen. In Debatten schoben Sie es bisher allzu oft schnell beiseite. Uns ist wichtig, dass alle Freiwilligendienste noch klarer von Erwerbsarbeit und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen abgegrenzt werden. Gerade in Ostdeutschland wurden und werden viele Erwerbslose von den Arbeitsagenturen in den Bundesfreiwilligendienst geschickt. Es ist doch offensichtlich, warum: Erwerbslose stellen eine Armada an günstigen Arbeitskräften da – nun auch noch unter dem Deckmantel des staatlichen Freiwilligendienstes. In der Altersgruppe von 27 bis 65 Jahren leisten mehr Frauen als Männer einen Bundesfreiwilligendienst, weil ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt geringer sind als die von Männern. Kommunen schielen aufgrund ihrer Finanznöte immer öfter auf Freiwillige jeglicher Couleur. Und dann gab es noch den absurden Vorschlag, Bundesfreiwilligendienstler vermehrt in Kitas zu schicken. Hieran sehen wir doch deutlich: Freiwillige sollen immer häufiger für fehlende Fachkräfte und Arbeitsplätze sowie als Ausgleich für zu geringe Finanzmittel in die Bresche springen. Sie müssen es oftmals sogar tun, um zum Beispiel als Erwerbslose überhaupt über die Runden zu kommen. Auch Seniorinnen und Senioren sind in ihrer berechtigten Furcht vor Altersarmut davon besonders betroffen. Mit einem Bundesfreiwilligendienst können sie ihr Einkommen bzw. ihre Rente wenigstens ein kleines Stück aufstocken. Gerade die geringere Stundenzahl für über 27-Jährige im Bundesfreiwilligendienst verführt dazu. Generell sehen wir im Gegensatz zu SPD und Grünen die Altersöffnung sehr kritisch. Zudem kommt es immer öfter vor, dass mehrere derartig niedrig entlohnte Beschäftigungen kombiniert werden. Die Zuverdienstmöglichkeiten für Beziehende von Arbeitslosengeld II verstärken dieses „Getriebenwerden in den Bundesfreiwilligendienst“ ebenso wie die vom Gesetzgeber angestrebten Anreize, mit einem Bundesfreiwilligendienst wieder Ansprüche auf Arbeitslosengeld I zu erhalten. Doch das ist der völlig falsche Weg! Die Linke ist der Meinung, dass Freiwilligendienste nicht als Ausfallbürgen und Freiwillige nicht als Lückenbüßer in einem bewusst ausgetrockneten Sozialsystem herhalten dürfen! Bürgerschaftliches Engagement als Ganzes darf und kann nicht all das übernehmen und auffangen, was die Zu Protokoll gegebene Reden Harald Koch öffentliche Hand nicht mehr finanzieren kann oder will. Es darf nicht länger Notnagel im Zuge des Sozialstaatsabbaus sein und auch nicht reguläre, qualifizierte Beschäftigung verdrängen! Die Linke will nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine weitere Niedriglohnoase zwischen klassischem Engagement und regulärer Erwerbsarbeit wird. Was wir an erster Stelle brauchen, sind mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit qualifizierten Beschäftigten bei tariflichem Lohn oder wenigstens 10 Euro Mindestlohn und mehr betriebliche Ausbildungsplätze. Statt prekärer Beschäftigung und Leiharbeit will die Linke existenzsichernde Arbeitsplätze und gute Arbeit für Jung und Alt. Erwerbslose brauchen eine sank-tionsfreie, Teilhabe ermöglichende Grundsicherung. Und wir fordern eine armutsfeste und lebensstandardsichernde Rente. Die Kommunen wiederum haben stabilere und höhere Einnahmen nötig, um wieder handlungsfähig zu werden und umfassende kommunale Daseinsvorsorge zu garantieren. Deshalb muss unter anderem die Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickelt werden. Dies alles muss dringend angegangen werden! Ein Bundesfreiwilligendienst wird kein Heilsbringer sein! Kommen wir zu anderen Punkten Ihres Antrags: Die Linke sieht Freiwilligendienste ebenfalls primär als Lernund Bildungsdienste, aber eher für junge Menschen. Deren zielgruppengerechte pädagogische Begleitung in der jeweiligen Einsatzstelle muss gesichert sein! Da stimmen wir mit Ihnen überein. Jedoch zeigen sich auch hier Probleme aufgrund der Altersöffnung: Sinnvolle Regelungen aus dem Bereich Bildung lassen sich nicht so einfach von Jugendfreiwilligendiensten auf Bundesfreiwilligendienstler jedes Alters übertragen. Die Verschiedenartigkeit dieser Gruppe macht Bildungsbegleitung und das Entwickeln konsistenter Bildungskonzepte sehr schwer. Auch befürwortete die Linke schon immer eine breite Anerkennungskultur für Engagement in Freiwilligendiensten, was beispielsweise in unserem Antrag aus dem letzten Jahr nachzulesen ist. Ergänzend zu den rot-grünen Forderungen unter anderem nach einem Freiwilligendienstausweis, ÖPNV-Vergünstigungen und Anerkennung eines Dienstes als Wartesemester oder Praktikum möchte ich noch Vergünstigungen beim BAföG oder Möglichkeiten zur gebührenfreien Weiterbildung in die Debatte einbringen. Dass Arbeitgeber Beschäftigte, die einen Freiwilligendienst geleistet haben oder leisten wollen, mehr wertschätzen bzw. besser unterstützen sollen, ist eine sinnvolle Forderung. An dieser Stelle gilt es aber, sich für konkrete Freistellungsregelungen und vor allem für einen starken Kündigungsschutz einzusetzen. Im Unterschied zu SPD und Grünen fordern wir die ausdrückliche Beachtung von Gleichstellungsund Antidiskriminierungsprinzipien in Freiwilligendiensten. Im Bereich Mitgestaltung der Teilnehmenden an einem Freiwilligendienst bleiben Sie außerdem zu schwammig: Die Linke möchte nicht nur eine vage Mitgestaltung, sondern Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Ebenso wichtig ist die demokratische Mitbestimmung an Zielen, Inhalten und Ausrichtung der Jugendfreiwilligendienste selbst. Gremien der Mitbestimmung sind aus unserer Sicht bei jedem Träger von Freiwilligendiensten notwendig. In Ihrem Antrag hätten Sie zudem deutlicher hervorheben müssen, dass Freiwilligendienste niedrigschwelligere Zugangsmöglichkeiten bieten müssen, um unterrepräsentierte Gruppen vermehrt zu gewinnen. Die Linke fordert, dass sich Freiwilligendienste stärker für neue Zielgruppen öffnen, wobei besonders Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Behinderung in den Blick genommen werden müssen. Freiwilligendienste dürfen aber auch hier nicht Platzhalter für umfassende Integration und Inklusion sein. Was insgesamt an diesem in weiten Teilen gelungenen Antrag auffällt, ist, dass Sie wie die Bundesregierung Freiwilligendienste als Hauptinstrument zur Engagementförderung ansehen. Damit agieren Sie jedoch zu einseitig. Sie verstärken die Sicht auf freiwilliges Engagement als bloße Dienstleistung für die Bewältigung sozialer Probleme. Der Staat greift auf Freiwillige zu, an der Zivilgesellschaft vorbei. Engagement soll geradezu planwirtschaftlich gesteuert werden. Freiwillige werden dem Bereich zugeteilt, in dem sie gerade gebraucht werden: heute Pflege, morgen Kita, je nachdem, wo aktuell durch Sozialabbau die Strukturen geschliffen wurden. Der engagierte Mensch wird damit zur bloßen Ressource, zur Ware. Das lehnt die Linke entschieden ab! Bund, Länder und Kommunen – nicht Freiwillige – sind gefordert, eine breite öffentliche Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Am Bundesfreiwilligendienst wird hingegen berechtigterweise die zu große Staatsnähe und das Kleben an der Logik der Pflichtdienste kritisiert. Der vermoderte, altertümliche Dienst-Begriff stellt in den Schatten, dass sich bürgerschaftliches Engagement an dem freien und freiwilligen, solidarischen Miteinander aller Menschen in einer vitalen und sozialen Demokratie orientieren sollte. Dies alles wird seit geraumer Zeit unter dem Stichwort „Verdienstlichung der Engagementpolitik“ diskutiert. Dem sollten wir uns in den entsprechenden Ausschüssen vertiefend annehmen. Bürgerschaftliches Engagement hat noch mehr Facetten als nur die Freiwilligendienstseite. Dies müsste mal dem Familienministerium bewusst werden! Die Linke fordert nach dem „Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements“ aus der letzten Wahlperiode daher eine weitreichende Strukturförderung von bürgerschaftlichem Engagement auch jenseits der Freiwilligendienste. Kommunen, Vereine, Verbände und Initiativen müssen in die Lage versetzt werden, zielgenaue Infrastrukturen zur Engagementförderung aufzubauen. Denn nur dann kann freiwilliges Engagement als das gestärkt werden, was es sein sollte: als wichtiges sozia Zu Protokoll gegebene Reden Harald Koch les Plus in einer demokratischen und gerechten Gesellschaft. Knapp ein Jahr ist die Aussetzung der Wehrpflicht und des damit verbundenen Zivildiensts her. Und knapp ein Jahr besteht der Bundesfreiwilligendienst. Allen Unkenrufen zum Trotz ist mit dem Ende des Zivildienstes das soziale System in Deutschland nicht zusammengebrochen. Im Gegenteil: Es gibt eine große Nachfrage nach allen Freiwilligendiensten. Aktuell leisten circa 85 000 vorwiegend junge Menschen in Deutschland ein freiwilliges Jahr. Circa 35 000 von ihnen haben einen Platz im Bundesfreiwilligendienst – in einem Dienst, den Union und FDP im Hauruckverfahren im vergangenen Jahr eingeführt haben und der das bewährte System der Jugendfreiwilligendienste in eine Schieflage gebracht hat, weil die Qualität der Angebote hinter der Quantität weit zurücksteht. Vor diesem Hintergrund haben wir gemeinsam mit der SPD den vorliegenden Antrag eingebracht, um wenigstens die groben Probleme kurzfristig anzugehen. Mit der Einführung des Bundesfreiwilligendiensts durch die Bundesregierung am 1. Juli 2011 entstanden Risse in der Erfolgsgeschichte der Freiwilligendienste und eine große Verunsicherung für alle Beteiligten. Wäre die jahrelange Erfahrung der Träger bei Einführung des neuen Bundesfreiwilligendiensts nicht vorhanden gewesen, hätten sie nicht die Freiwilligen und Einsatzstellen unterstützt und wären sie darüber hinaus nicht in finanzielle Vorleistung gegangen, dann gäbe es den Bundesfreiwilligendienst ein Jahr nach seiner Einführung so nicht mehr. An dieser Stelle also ein großes Lob an die Träger und Einsatzstellen, die die Einführung des Bundesfreiwilligendiensts zu einem Erfolg gemacht haben! Und ein Lob an die Freiwilligen, die sich nicht haben verunsichern lassen! „Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung stärken“ ist Titel und Ziel unseres Antrags. Das bedeutet für uns Grüne, dass das Subsidiaritätsprinzip flächendeckend für alle Freiwilligendienste gelten muss. Traditionell sind unsere Inlandsfreiwilligendienste FÖJ und FSJ und ihre vielen Facetten in den Bereichen Kultur, Sport, Politik, Denkmalschutz usw. zivilgesellschaftlich organisiert. Der Bundesfreiwilligendienst untergräbt dieses Prinzip, indem der Staat – mittels des „neuen“ Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, kurz BAFzA, und seiner Bildungszentren – die zentrale Steuerungsfunktion übernimmt und gleichzeitig als Zentralstelle fungiert. Diese Doppelrolle muss beendet werden. Die Träger haben ausreichend Erfahrung im Umgang mit Freiwilligen. Die Verwaltungsstruktur des BAFzA dagegen ist überdimensioniert, schwerfällig und teuer. Außerdem muss die Rolle der Bildungszentren entsprechend angepasst werden. Die Qualität von Bildung und pädagogischer Begleitung der bewährten Jugendfreiwilligendienste muss wieder unbedingter Maßstab werden. Die staatlich geführten Bildungszentren bereiten den Trägern in ihrer Ausrichtung als „Nachfolgeeinrichtung“ der Zivildienstschulen Probleme in der pädagogischen Begleitung und Passgenauigkeit. Die Träger haben momentan keine Möglichkeit der Einflussnahme auf das Curriculum der staatlichen Bildungszentren. Die Vielfalt der unterschiedlichen Akteure in den Freiwilligendiensten geht dadurch verloren und weicht einem Zentralangebot, das nur erhalten werden muss, um den Fortbestand der Zivildienstschulen zu sichern. Hier sollten sich BAfzA und Familienministerium einmal beim Verteidigungsminister erkundigen, der überflüssige Strukturen nach der Aussetzung der Wehrpflicht abschafft und Kasernen schließt. Schließlich wollen wir die Teilhabe der Freiwilligen im Rahmen ihres Freiwilligendiensts gewährleisten. Denn es kann nicht nur darum gehen, die Freiwilligen in die Pflicht zu nehmen. Engagement braucht Raum für Kreativität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Hierfür ist eine fundierte Evaluation für die Weiterentwicklung der Freiwilligendienste dringend nötig. Kurzfristig müssen Zwischenergebnisse der Evaluation die Weiterentwicklung begleiten, um unter anderem die Arbeitsmarktneutralität sicherzustellen und den steigenden Abbrecherquoten entgegenzuwirken. Es gibt noch viel zu tun, bis die Struktur der Freiwilligendienste insgesamt aus einem Guss ist. Es gibt noch viel zu tun, bis der Bundesfreiwilligendienst ein echter Freiwilligendienst ohne staatliche Fernsteuerung ist und bis sich der Dschungel der Freiwilligendienste für junge engagierte Menschen gelichtet hat. Die Bundesregierung muss endlich handeln und das lange angekündigte Freiwilligendienstestatusgesetz vorlegen. Auch dazu fordern wir sie mit unserem Antrag auf. Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9926 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 37: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Für effektive EU-Regeln zur Beteiligungstransparenz an börsennotierten Unternehmen und die Möglichkeit des Stimmrechtsverlustes von Aktionären bei Verstößen gegen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a des Wertpapierhandelsgesetzes in der Fassung des Anlegerschutzund Funktionsverbesserungsgesetzes – Drucksache 17/9940 – Die Reden sind zu Protokoll genommen. Einige spektakuläre Übernahmefälle in der Vergan genheit haben gezeigt, wie wichtig die Beteiligungstransparenz für die betroffenen Unternehmen, Anteils Ralph Brinkhaus eigner und Arbeitnehmer ist. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die bestehenden Regelungen nicht ausreichten, da sie durch die Nutzung von Finanzinstrumenten, die der Meldepflicht nicht unterlagen, umgangen werden konnten. So konnten unerkannt Stimmrechtspositionen an Unternehmen aufgebaut werden. Man spricht diesbezüglich auch von „Anschleichen“. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, das zu Beginn des vergangenen Jahres verabschiedet wurde, haben wir die Meldepflichten daher deutlich ausgeweitet. Mit dem neuen § 25 a WpHG wurde ein Auffangtatbestand geschaffen, um alle bekannten, aber auch alle noch nicht angewendeten Strategien zur Verschleierung des Aufbaus von Beteiligungen zu erfassen. Es werden alle Instrumente erfasst, die es ihrem Inhaber faktisch oder wirtschaftlich ermöglichen, mit Stimmrechten verbundene und bereits ausgegebene Aktien eines Emittenten zu erwerben. Der neue § 25 a WpHG ist daher ein geeignetes Mittel, um – der Kreativität der Finanzbranche trotzend – in zukünftigen Fällen ein Anschleichen wirksam zu verhindern. Wir haben dies national festgelegt, haben aber großes Interesse daran, dass diese Regelung auch europaweit gilt. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, dieses Anliegen im Rahmen der Verhandlungen über den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Novellierung der Transparenzrichtlinie einzubringen. Zu einem wirksamen Verbot gehört aber auch eine wirksame Sanktionierung bei Verstößen gegen dieses Verbot. Ein Verstoß gegen die Transparenzvorschriften des WpHG ist eine Ordnungswidrigkeit, die bisher mit einem Bußgeld bis zu 1 Million Euro geahndet werden kann. Das Bußgeld ist im Vergleich zu Bußgeldandrohungen in anderen Rechtsgebieten sehr hoch. Bei den immensen Werten, um die es beim versuchten Anschleichen geht, steht aber zu befürchten, dass auch diese hohe Bußgeldandrohung keine ausreichend abschreckende Wirkung hat. Daher haben wir bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts zugesagt, zu prüfen, ob die bestehenden Sanktionen ausreichen. Zwar sind weitere negative Folgen mit einem Melderechtsverstoß verbunden. So gibt es beispielsweise die Möglichkeit der Vorteilsabschöpfung, unter bestimmten Umständen auch strafrechtliche Konsequenzen und in jedem Fall einen erheblichen Reputationsschaden. Insgesamt erscheint es uns aber dennoch notwendig, im Falle einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung gegen die Transparenzvorschriften der §§ 25, 25 a WpHG auch die Möglichkeit eines vorübergehenden Stimmrechtsverlustes vorzusehen. Denn mit einem Stimmrechtsverlust verliert derjenige, der verdeckt eine Position aufbaut, die Möglichkeit, die erworbenen Stimmrechte und Mehrheiten einzusetzen. Mit dieser Sanktionsandrohung wird jedem Erwerber der Anreiz genommen, verdeckt vorzugehen; denn sie trifft ihn in seinem Grundanliegen. Die Sanktion des Stimmrechtsverlustes trägt daher dazu bei, das Anschleichen effektiv zu verhindern. Die bereits erwähnte Novellierung der Transparenzrichtlinie ist eine gute Gelegenheit, die bestehenden deutschen Regelungen um die Möglichkeit zur Stimmrechtsaussetzung zu ergänzen. Denn wir legen großen Wert darauf, dass wir bei diesem doch sehr weitgehenden Eingriffsinstrument europaweit abgestimmt handeln. Auch wenn ein nationaler Alleingang in anderen Fällen von Vorteil sein kann, würde er in diesem Fall mehr schaden als nützen. Zum einen ginge es nicht um die Einführung der Meldepflicht – diese haben wir bereits eingeführt. Es ginge lediglich um die Verschärfung der Sanktionen bei einem Verstoß gegen diese Meldepflichten. Zum anderen rechnen wir mit einem baldigen Abschluss der Verhandlungen. Das grundsätzlich mögliche nationale Vorangehen wäre nur von kurzer Dauer. Dies würde unter den Marktteilnehmern wahrscheinlich mehr Verwirrung als Respekt für die neuen Meldetatbestände schaffen. Es ist uns daher wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag entsprechend positioniert und die Bundesregierung bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene aktiv begleitet. Konkret geht es dabei um folgende drei Punkte: Erstens wollen wir erreichen, dass die harmonisierten Regeln zur Beteiligungstransparenz nicht hinter dem in Deutschland durch die §§ 25, 25 a WpHG erreichten Standard zurückbleiben. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, für Meldepflichten einen Auffangtatbestand zu schaffen, auch wenn wir dadurch nicht heute schon alle Instrumente konkret benennen können, die unter die Meldepflicht fallen. Mit dieser gewissen Unsicherheit zu leben, ist besser, als immer neuen Gestaltungen mit angepassten Regelungen hinterherzulaufen. Daher wäre es wichtig, dass auch die Transparenzrichtlinie einen Auffangtatbestand nach deutschem Vorbild enthält. Zweitens wollen wir erreichen, dass als mögliche Sanktion bei vorsätzlichen Verstößen gegen Meldepflichten, die auf der Transparenzrichtlinie beruhen und der Beteiligungstransparenz dienen, die Möglichkeit eines vorübergehenden Stimmrechtsverlusts eingeführt wird. Diese Sanktionsandrohung soll die Erfüllung der Meldepflichten beim Aufbau einer Beteiligung sicherstellen. So können wir Fälle, in denen ein Anschleichen zur Vorbereitung einer Übernahme versucht wird, wirkungsvoll verhindern, da es im Falle einer geplanten Übernahme gerade auf die Ausübung der Stimmrechte ankommt. Drittens erwarten wir eine zügige Verabschiedung der Transparenzrichtlinie. Wir streben an, die Richtlinie nach Inkrafttreten schnell – möglichst noch in dieser Legislaturperiode – in deutsches Recht umzusetzen. Dabei wollen wir darauf achten, gleiche Wettbewerbsbedingungen für börsennotierte Unternehmen in Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sicherzustellen. Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen im Rat zeigen, dass die Bundesregierung erfolgreich im Sinne des vorliegenden Antrages tätig ist. Vor den anstehenden abschließenden Beratungen im Rat und dem sich an Zu Protokoll gegebene Reden Ralph Brinkhaus schließenden Trilogverfahren wollen wir mit diesem Antrag die Verhandlungsposition der Bundesregierung noch einmal gezielt stärken. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag. „Creeping in“, das unbemerkte Anschleichen von In vestoren an große Aktiengesellschaften, verfolgt das Ziel der Übernahme einer kontrollierenden Beteiligung. Diese Praxis soll europaweit durch Beteiligungstransparenz im Aktienrecht verhindert werden. Deshalb gibt es bei börsennotierten Aktiengesellschaften Meldeund Offenlegungspflichten ab einem Paketanteil von 3 Prozent. Auch Optionsgeschäfte, mit denen nur das Recht erworben wird, Aktien in diesem Umfang erwerben zu können, müssen nach dem Wertpapierhandelsgesetz offengelegt und veröffentlicht werden, § 25 a WpHG. Verstöße sind bußgeldund unter Umständen auch strafbewehrt. Außerdem droht nach dem deutschen Wertpapierhandelsgesetz bei einem Verstoß gegen die Mitteilungspflichten ein vorübergehender, sechsmonatiger Stimmrechtsverlust aus den Aktien, wenn sie selbst gehalten oder zugerechnet werden, zum Beispiel bei Sicherungsübertragung an einen Dritten, § 28 WPHG. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für eine Änderung der Transparenzrichtlinie, 2007/14/ EC (COM Maximalharmonisierung der Beteiligungsmeldungen anstrebt. Die Sanktionen für Verstöße gegen Meldepflichten sollen drastisch bis zu einer Höhe von 10 Prozent des Konzernumsatzes angehoben werden, so Art. 28 a Nr. 2 d, und Meldepflichten soll es künftig – wie im deutschen Recht – auch für Optionsgeschäfte geben, steht in Art. 13 des Richtlinienvorschlags. Der Koalitionsantrag fordert die Bundesregierung auf, die Kommission bei diesem Vorschlag zu unterstützen. Die europäisch vorgegebenen Mitteilungspflichten dürften nicht hinter dem nationalen Recht, insbesondere hinter § 25 a Wertpapierhandelsgesetz, zurückbleiben. § 25 a Wertpapierhandelsgesetz regelt die Mitteilungspflichten auch bei Optionsgeschäften. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Forderung, den Richtlinienvorschlag der Kommission betreffend Mitteilungspflichten für Optionsgeschäfte zu unterstützen. Die Schutzmechanismen sollten nach unserer Auffassung aber nicht nur börsennotierte Unternehmen im Auge haben. Die Forderung nach weiteren gesetzlichen Maßnahmen bezüglich des Umfangs der Beteiligungstransparenz – trotz Änderungen durch das Anlegerschutzund Funktionsverbesserungsgesetz – wird insbesondere von Vertretern der Unternehmen und Gewerkschaften, aber auch mehrheitlich von Investmentbankern befürwortet, während die Rechtsberater und Wissenschaftler mehrheitlich das Transparenzniveau für ausreichend halten. Außerdem soll nach Art. 28 Nr. 2 c des Richtlinienänderungsvorschlags die zuständige Behörde die Befugnis zur vorübergehenden Aussetzung von Stimmrechten bei Verstoß gegen die Meldepflichten erhalten. Der Koalitionsantrag fordert die Bundesregierung deshalb auf, darauf hinzuwirken, dass die Mitgliedstaaten als Sanktion die Aussetzung von Stimmrechten vorsehen müssen. Diese Verschärfung des Richtlinienvorschlags unterstützen wir, weil der Stimmrechtsverlust die wichtigste Sanktion gegen unbemerktes Anschleichen darstellt. Er ist wirksamer als Ordnungswidrigkeitentatbestände. Vor Einführung der Sechsmonatsfrist im deutschen Wertpapierhandelsgesetz war es gängige Praxis, zwischen zwei Hauptversammlungen unerkannt ein relevantes Paket aufzubauen und erst kurz vor der Hauptversammlung die Meldepflicht zu erfüllen, um dann das Stimmrecht auszuüben. Das muss auch auf europäischer Ebene unterbunden werden. Denkbar wäre über den vorliegenden Antrag hinaus, die in Folge einer nicht korrekten Meldung einem Aktionär nach § 28 WpHG nicht zustehenden Dividendenzahlungen als Sanktion – gegebenenfalls auch nur teilweise – verfallen zu lassen bzw. sie zugunsten der Staatskasse einzuziehen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag. Gestatten Sie mir allerdings noch eine Bemerkung zur Art und Weise, wie der Antrag von CDU/CSU und FDP eingebracht wurde. Wie Sie wissen, haben wir mehrfach unseren Wunsch bekräftigt, Aufforderungen an die Bundesregierung bezüglich europäischer Verfahren im Einvernehmen zwischen Koalition und Opposition zu verfassen. Leider ist hier erneut versäumt worden, sich an diese Gepflogenheit zu halten, was wir sehr bedauern. Mit unserem Antrag führen wir der Bundesregierung bei den Verhandlungen über den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Transparenzrichtlinie in einer Detailfrage die Feder. Es geht um die Transparenz von Beteiligungsverhältnissen an börsennotierten Aktiengesellschaften. Wer eine Beteiligung an einer börsennotierten Aktiengesellschaft erwirbt oder ausbaut, muss dies offenlegen. Das ist schon lange so. Problematisch sind Verstöße gegen diese Transparenzpflicht. Wir müssen uns mit der Frage befassen, was passieren soll, wenn jemand eine Beteiligung nicht meldet, die er melden muss. Ganz einfach ist dies nicht zu beantworten. Das liegt an dem Spannungsfeld, in dem wir uns hier bewegen. Zunächst ist da die Frage der Sanktionierung eines Verstoßes. Im Grunde stehen uns hier nur Bußgelder zur Verfügung. Doch diese haben keine ausreichende abschreckende Wirkung. Wer eine Milliardenübernahme stemmt, der stört sich nicht an einem Millionenbußgeld. Das ist der Grund, warum wir schon seit längerem über eine Aussetzung des Stimmrechts nachdenken. Damit könnten wir das nötige Abschreckungsniveau erreichen. Es stört den Übernehmer empfindlich, wenn er die Stimmrechte aus unter Verstoß gegen die Transparenzvorschriften erworbenen Anteilen nicht ausüben darf. Dann aber laufen wir in ein Problem der Rechtssicherheit. Ein Verstoß gegen Transparenzvorschriften kommt üblicherweise erst später ans Licht. Er kommt häufig sogar erst so spät ans Licht, dass eine Hauptversammlung bereits durchgeführt wurde und die Stimmrechte ausgeübt worden sind, die eigentlich ausgesetzt Zu Protokoll gegebene Reden Frank Schäffler sein sollten. Nun stehen wir vor einem erneuten Dilemma, wenn wir die so gefassten Hauptversammlungsbeschlüsse als unwirksam behandeln. Denn dann verlagert sich das Risiko der Rechtsverletzung vom Übernehmer auf die Gesellschaft und die anderen Aktionäre. Diese wissen nicht, welche Beschlüsse gültig sind. Dabei sollen die Konsequenzen des Verstoßes doch bei dem liegen, der die Transparenzregeln verletzt. Wenn wir die Beschlüsse der Hauptversammlung dagegen als gültig betrachten, dann ist die Stimmrechtsaussetzung folgenlos, weil die für den Übernehmer wichtigen Beschlüsse schon gefasst worden sind. Schließlich ist zu beachten, dass die nationalen Gesellschaftsrechtstatute noch sehr verschieden sind. Sie sind – und so muss es auch sein – nicht harmonisiert. Wir wollen einen Wettbewerb der Rechtsformen in Europa. Wegen der Niederlassungsfreiheit kann jeder deutsche Gründer unter vielen europäischen Rechtsformen wählen und die passende aussuchen. Das Gleiche gilt für erfolgreiche gestandene Unternehmen. Die Vielfalt der Angebote führt zu einem race to the top zum Nutzen aller, wie wir es aus dem weltweit führenden amerikanischen Gesellschaftsrecht kennen. Diesen tatsächlichen, rechtspolitisch auch gewollten Befund galt es hier zu berücksichtigen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, einen großen nationalen Umsetzungsspielraum zu verhandeln. Je weniger die Richtlinie vorschreibt, desto mehr nationalen Umsetzungsspielraum haben wir, um den Interessen der Gesellschaften und Anteilseigner gerecht werden zu können. Deshalb ist es gut, dass wir die Möglichkeit der Stimmrechtsaussetzung auf vorsätzliche Verstöße beschränken. Deshalb ist es auch gut, dass die Stimmrechtsaussetzung nicht zwingend ist, sondern nur eine mögliche und vorübergehende Folge ist. Wenn die Richtlinie schließlich verhandelt ist, dann haben wir den nötigen Raum zum Manövrieren auf nationaler Ebene, den wir dann später eigenständig und in Übereinstimmung mit den europäischen Vorgaben füllen werden. Anschleichen und bereit machen zum Entern! Nein, wir reden heute nicht über die Piratenpartei, aber gewissermaßen über Freibeuter des Kapitalmarkts. Ob Hochtief, Continental oder Porsche, das Anschleichen, das überfallartige Aufkaufen bzw. die Übernahme börsennotierter Unternehmen standen in den vergangenen Jahren öfters im Blickpunkt. Die modernen Freibeuter sicherten sich beispielsweise große Aktienpakete und betrieben einen verdeckten Ausbau ihrer Beteiligung an einem börsennotierten Unternehmen. Durch Anschleichen sollen Übernahmekosten verringert werden, denn bei Bekanntwerden eines Übernahmeinteresses steigt der Börsenkurs des angegriffenen Unternehmens. Um diesem heimlichen, verdeckten Agieren teilweise vorzubeugen, wurde auf europäischer Ebene die Transparenzrichtlinie entwickelt. Die Richtlinie will die Unterrichtung der Anleger über die Ergebnisse und Finanzlage börsennotierter Unternehmen sowie über Änderungen größerer Beteiligungen verbessern. In Deutschland sollte das Anlegerschutzund Funktionsverbesserungsgesetz, das im Februar dieses Jahres in Kraft trat, den Freibeutern das Handwerk legen. Zusätzliche Meldeund Veröffentlichungspflichten bei der feindlichen Übernahme von Unternehmen wurden darin beschlossen und ins Wertpapierhandelsgesetz, WpHG, übernommen. Wer Instrumente hält, die ihm den Erwerb börsennotierter Aktien ermöglichen, muss dies bei Überschreiten bestimmter Beteiligungsschwellen der Gesellschaft mitteilen. Die Gesellschaft bzw. das Unternehmen muss diese Mitteilungen veröffentlichen. So soll Beteiligungstransparenz erreicht werden. Die Linke unterstützt Regeln, die ein unbemerktes Anschleichen an Unternehmen verhindern. Höhere Transparenzund Offenlegungspflichten sind für mögliche Zielgesellschaften und ihre Beschäftigten vorteilhaft. Die bisherigen Regeln sehen wir aber nicht als ausreichend an. Denn die erweiterten Mitteilungspflichten der §§ 25 und 25 a WpHG ändern kaum etwas daran, dass das deutsche Aktienund Kapitalmarktrecht börsennotierte Unternehmen grundsätzlich dazu zwingt, übernahmeoffen zu sein. Unternehmen und ihre Beschäftigten bleiben der Gefahr ausgesetzt, dass sich Finanzinvestoren oder Großkonzerne an sie heranschleichen und sie gegen den ausdrücklichen Willen von Vorständen und Betriebsräten übernehmen, mit Schulden überhäufen und der Gefahr des Zugrundewirtschaftens sowie des Arbeitsplatzverlusts aussetzen können. Werden gemäß dem Anlegerschutzund Funktionsverbesserungsgesetz Mitteilungspflichten verletzt, gilt dies als Ordnungswidrigkeit und zieht eine Geldbuße nach sich. Ein Verstoß gegen die Mitteilungspflichten für Finanzinstrumente nach § 25 a WpHG löst jedoch keinen Stimmrechtsverlust aus. In dem heute zur Debatte stehenden Antrag von Union und FDP wird gefordert, dass die EU-Mitgliedstaaten als Sanktion für vorsätzliche Verstöße gegen Mitteilungspflichten, die auf der Transparenzrichtlinie beruhen und der Beteiligungstransparenz dienen, die Möglichkeit einer Stimmrechtsaussetzung vorsehen müssen. Das heißt, ein Freibeuterinvestor, der Geschäfte nach §§ 25 und 25 a WpHG nicht meldet, muss befürchten, dass ihm die Stimmrechte aus den Aktien, wenn er sie denn später erwirbt, streitig gemacht werden. Union und FDP betonen dabei stets nur den „vorübergehenden“ Verlust der Stimmrechte eines meldepflichtigen Aktionärs. Im Ganzen stellt diese weitere Sanktionsmöglichkeit sicherlich einen Fortschritt dar. Dieser ist aber immer noch nicht ausreichend. Ob das angekündigte „scharfe Schwert“ wirklich so scharf ist, ist zu bezweifeln. Es bleibt fraglich, ob und in welchem Umfang die Sanktionsmöglichkeiten überhaupt greifen und abschrecken. Zudem bleibt das Grundproblem, dass Unternehmen grundsätzlich übernahmeoffen sein müssen, wenn sie sich über die Börse rekapitalisieren wollen, was auch Monopolisierungstendenzen vergrößert. Dies alles wird durch das deutsche Aktienrecht verstärkt, welches Marktfreiheit in der Regel höher als Vertragsfreiheit bewertet. So ist es nicht möglich, dass offen agierende Aktionäre eines Unternehmens selbst erweiterte Offenlegungspflichten oder Stimmrechtsregelun Zu Protokoll gegebene Reden Harald Koch gen in ihrer Satzung festlegen. In der Folge scheiden im deutschen Aktienrecht sinnvolle Regelungen aus, zum Beispiel Erwerbsbegrenzungen von Aktien, wie in der Schweiz üblich, oder Mehrfachstimmrechte für langfristig investierende Aktionäre bzw. Mehrstimmrechtsaktien wie in Frankreich oder Schweden. Die Linke fordert, den Zielunternehmen und ihren Belegschaften das Recht einzuräumen, selbst zu bestimmen, wer und in welchem Umfang Unternehmensanteile erwerben kann. Im Grunde sollten Investoren gezwungen werden, ihre Beteiligungen an Unternehmen wieder langfristiger auszurichten, um nicht in Versuchung zu geraten, das eigene Geschäftsmodell auf dem Rücken der Beschäftigten und zulasten des nachhaltigen Wachstums eines Unternehmens durchzudrücken. Deshalb ist es aus meiner Sicht nötig, das Stimmrecht an die Haltedauer der Aktien zu koppeln. Wenn es dann doch zur Übernahme oder Fusion kommt, will die Linke vor allem die Beschäftigtenrechte stärken. Die Auskunftsund Mitbestimmungsrechte der Belegschaften, Aufsichtsratsvertreter und Gewerkschaften müssen erweitert werden. Gewerkschaften brauchen einen gesetzlichen Anspruch auf Abschluss eines Fusionstarifvertrags zum Erhalt sozialer und tariflicher Standards. Ein Vetorecht für den Betriebsrat des betroffenen Unternehmens gegen Übernahmen ist nötig. Beschäftigte müssen ferner im Übernahmerat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht paritätisch vertreten sein. Der öffentlichen Hand muss schließlich ein Vetorecht bei Übernahmen mit großem öffentlichem Interesse, zur Verhinderung von Unternehmenskonzentration und zur Beschäftigungssicherung eingeräumt werden. Mit ihrem Antrag werden Sie das Anschleichen an Unternehmen und die „feindliche Übernahme“ nicht verhindern können. Zielunternehmen und ihre Beschäftigten brauchen hier mehr Rechte. Die Linke nimmt im Gegensatz zu Ihnen Existenzängste von Beschäftigten eines betroffenen Unternehmens sehr ernst. Den Freibeutern des Kapitalmarkts ist das Handwerk zu legen, damit niemand mehr auf hoher See und auf dem Kapitalmarkt hilflos ausgeliefert ist. Wir beraten heute über den Antrag der Koalitions fraktionen für effektive EU-Regeln zur Beteiligungstransparenz an börsennotierten Unternehmen und die Möglichkeit des Stimmrechtsverlusts von Aktionären bei Verstößen gegen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a Wertpapierhandelsgesetz in der Fassung des Anlegerschutzund Funktionsverbesserungsgesetzes. Die Tatsache, dass wir einen solchen Antrag hier in diesem Hause debattieren, ist begrüßenswert. Hintergrund ist, dass auf EU-Ebene derzeit im Rahmen der Revision der Transparenzrichtlinie die Kommissionsvorschläge für eine verbesserte Durchsetzung der Mitteilungspflichten diskutiert werden. Ich bin jedoch einigermaßen verwundert und auch enttäuscht, warum wir diesen Antrag ohne inhaltliche Ausschussberatung heute sofort abstimmen müssen. Seit langem ist die Überarbeitung der Transparenzrichtlinie auf europäischer Ebene bekannt. Warum der Antrag nun so eilig beschlossen werden muss, ist mir unverständlich und offenbart eine mangelnde Abstimmung und auch Versäumnisse in den Reihen der Koalition. Im November letzten Jahres haben wir im Finanzausschuss in einvernehmlichem Rahmen ein inhaltlich aufschlussreiches Fachgespräch zur Überprüfung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Übernahmerechts und der möglichen Benachteiligung deutscher Unternehmen durchgeführt. Dort spielten die neuen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a Wertpapierhandelsgesetz und insbesondere die Frage der Rechtsfolgen bei Verstößen eine entscheidende Rolle. Warum die Koalitionsfraktionen nun ein halbes Jahr später nicht einmal versuchen, zu einem fraktionsübergreifenden gemeinsamen Antrag mit der Opposition zu gelangen, ist mir schleierhaft. Ich hatte bereits im Mai 2011, als wir den Antrag der Koalitionsfraktionen zum Europäischen Zahlungsverkehr, SEPA, in einem ähnlichen Hauruckverfahren durch das Plenum brachten, meine Bedenken über das parlamentarische Verständnis dieser Koalition zum Ausdruck gebracht. Ich möchte noch einmal betonen, dass den Stellungnahmen des Bundestages ein weitaus größeres Gewicht zukommt, wenn wir gemeinsam vorgehen und mit einer interfraktionellen Stimme zu europäischen Themen und Vorhaben sprechen. Diese Chance hat die schwarz-gelbe Koalition heute wieder einmal verpasst. So viel zum Verfahren – ich komme zum Inhaltlichen. Wir begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen im vorliegenden Antrag die Bundesregierung auffordern, sich bei den Verhandlungen über den Kommissionsvorschlag dafür einzusetzen, dass die der Beteiligungstransparenz dienenden Mitteilungspflichten in ihrer durch die revidierte Transparenzrichtlinie harmonisierten Form in ihrem Tatbestand nicht hinter den §§ 25 und 25 a Wertpapierhandelsgesetz zurückbleiben. Erst mit dem im April 2011 verkündeten Anlegerschutzund Funktionsverbesserungsgesetz wurde national die Pflicht zur Meldung sogenannter Erwerbsrechte im Sinne des § 25 Wertpapierhandelsgesetz um „sonstige Instrumente“ ergänzt und eine Meldepflicht für Instrumente mit wirtschaftlicher Zugriffsmöglichkeit auf Aktien nach § 25 a Wertpapierhandelsgesetz eingeführt. Damit sollte der heimliche Aufbau größerer Beteiligungen verhindert werden. Damals war – unabhängig von der Kritik aus der Wissenschaft, dass die neuen Meldepflichten bestimmte Strategien zur Umgehung der Beteiligungstransparenz und Instrumente nicht erfassen – bereits klar, dass es zur Absicherung der neuen Meldepflichten jedenfalls geeigneter Sanktionen bei Meldepflichtverstößen bedarf. Klar war auch, dass die dafür vorgesehene Erhöhung des Bußgeldrahmens von zuvor 200 000 Euro auf zunächst 500 000 Euro – Diskussionsentwurf – und sodann auf 1 Million Euro nicht mehr als ein stumpfes Schwert sein kann. Der Grund dafür, dass selbst ein Bußgeld in Höhe von 1 Million Euro nicht in der Lage ist, die Einhaltung der neuen Meldepflichten sicherzustellen, liegt in den immensen Vorteilen und Erträgen von größeren Übernahmetransaktionen. Inwieweit diese das maximale Bußgeld übersteigen, zeigt exemplarisch der Fall Conti Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Gerhard Schick nental/Schaeffler, wo von Einsparungen durch Optionsgeschäfte von 145 Millionen Euro die Rede ist. Bei der Beschlussfassung zum Anlegerschutzund Funktionsverbesserungsgesetz verständigte man sich sodann auf ein Fachgespräch, um der Frage nachzugehen, ob „abschreckendere Sanktionen für Verstöße gegen die neuen Meldepflichten nach § 25 a Wertpapierhandelsgesetz ergriffen werden sollten und wie diese auszugestalten sind“. Der heute diskutierte Antrag stellt fest, dass vorsätzliche Verstöße gegen die Pflichten aus den §§ 25, 25 a Wertpapierhandelsgesetz die Möglichkeit eines vorübergehenden Verlusts der Stimmrechte des meldepflichtigen Aktionärs nach sich ziehen sollten. Da die Absicherung der neuen Meldepflichten auf der Rechtsfolgenseite nur mit einem scharfen Schwert gelingen kann, ist dieses Ansinnen zu begrüßen. Leider bleibt die Ausgestaltung eines solchen Stimmrechtsverlusts jedoch ziemlich vage. Entscheidend ist gerade die Beantwortung der Frage, ob es einen Stimmrechtsverlust ipso iure, eine Anordnung der Aufsicht oder ein Antragsrecht der Aufsicht mit einer gerichtlichen Entscheidung geben soll. Leider schweigt der Antrag zu diesem Punkt. Gleichfalls gibt der Antrag keinerlei Antwort darauf, dass zusätzliche Sanktionen in Form des Stimmrechtsverlusts auch das Anfechtungspotenzial von Beschlüssen in Hauptversammlungen erhöhen, was unter Umständen die Falschen trifft. Darauf hatten die Sachverständigen im Rahmen des Fachgesprächs einvernehmlich hingewiesen. Festzuhalten bleibt damit, dass der Antrag kaum Aufschluss gibt zu konkreten Punkten einer möglichen Ausgestaltung eines auf Verstöße gegen die neuen Meldepflichten erweiterten Stimmrechtsentzugs. Wir werden uns daher enthalten. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9940. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und SPD. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Tagesordnungspunkt 40: Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Groschek, Uta Zapf, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katja Keul, Volker Beck geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für einen wirkungsvollen UN-Waffenhandelsvertrag – Drucksache 17/9927 – In der Tagesordnung lesen Sie, dass die Reden zu Protokoll genommen worden sind. Der weltweite Handel mit konventionellen Waffen fin det seit langer Zeit in besonderem Maße das Interesse der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft. Bislang werden jedoch nur Teile des internationalen Waffenhandels durch einzelne Verträge reguliert. Zu nennen ist hier beispielsweise das „Ottawa-Protokoll“ von 1997 zum Handel mit Landminen oder auch die „Konvention über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen“ von 1980, die Waffen verbietet, welche unterschiedslos wirken oder besonderes Leiden verursachen, zum Beispiel Brandwaffen oder blindmachende Laserwaffen. Ein rechtlich verbindliches Dokument, das den globalen Handel mit konventionellen Waffen, zum Beispiel Kampfpanzern und -flugzeugen oder Kleinwaffen, umfassend reguliert, fehlt jedoch bislang. Das nicht vorhandene Exportkontrollsystem im Bereich Rüstungsgüter hat ausufernde illegale Waffenmärkte und Waffenmissbrauch in Konflikten zur Folge. Insbesondere kleine und leichte Waffen werden weltweit in großer Zahl für schwere Menschenrechtsverletzungen benutzt. Keine andere Waffenart fordert in Kriegen und Bürgerkriegen mehr Opfer. Kleine und leichte Waffen sind die Waffen der Warlords, des Terrorismus, des organisierten Verbrechens. Es sind die Waffen, mit denen heute weltweit über 300 000 Kinder als Soldaten in den Krieg geschickt werden. Gerade in vielen Staaten der MENA-Region, also die Staaten von Marokko bis Iran, sind kleine und leichte Waffen eine Gefahr für das Individuum und die Gesellschaften. Schätzungen zufolge zirkulieren 50 bis 90 Millionen Kleinwaffen in der Region, von denen 80 Prozent in den Händen der Zivilbevölkerung sind. In der MENARegion gibt es verschiedenste offene Konflikte, was die Proliferationsgefahr noch verstärkt. Hier müssen wir als internationale Gemeinschaft dringend aktiv werden. Schon seit den 1990er-Jahren verhandeln wir über einen Handelsvertrag für konventionelle Waffen. Dabei geht es nicht um ein generelles Verbot des Handels mit Rüstungsgütern, sondern um die Sicherstellung eines verantwortungsvollen Umgangs mit ihnen. Von Anfang an hat die Bundesregierung diesen Prozess aktiv begleitet und den Abschluss eines internationalen Abkommens zur Regulierung des legalen Handels mit konventionellen Rüstungsgütern vorangetrieben. Im Juli dieses Jahres haben wir nun erstmals die Chance, ein solches Abkommen – den ATT – zu verabschieden. Von Anfang an wurde der Verhandlungsprozess von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft unterstützt. Ohne sie und ihre tatkräftige Lobbyarbeit und Unterstützung wäre der Prozess nicht so weit fortgeschritten. Dafür möchte ich der Zivilgesellschaft ein großes Kompliment aussprechen. Der ATT ist für uns vor allem wichtig, weil er ein wirksames Instrument vernetzter Sicherheit sein kann und als Mittel der zivilen Krisenprävention bereits bei der Konfliktvermeidung ansetzt – und nicht erst, wenn es zu spät ist. Damit werden wir auch der ersten Säule der Responsibility to Protect, R2P, der Responsibility to Prevent, gerecht. Mir kommt es in der Sicherheitspolitik auf die Vernetzung vorhandener Strukturen und Fähigkeiten an, um wirkungsvolle Krisenprävention, Frühwarnfä Roderich Kiesewetter higkeit und rasches Handeln besser zu verknüpfen. Das reduziert auch den Aufwand in der Krisennachsorge und verzahnt bisher parallel, aber nicht synergetisch wirkende Handlungsfelder. Wie bereits ausgeführt ist die Gefahr illegalen Waffenhandels in der MENA-Region besonders virulent. Hier – nur als ein Beispiel – käme der ATT mustergültig zur Anwendung und wird dringend gebraucht. Wie es der Antrag von SPD und Grünen fordert, will Deutschland mit dem ATT international rechtlich verbindliche Standards für den Handel mit konventionellen Rüstungsgütern auf hohem Niveau etablieren. Uns geht es um die Wahrung von Frieden, Sicherheit und Stabilität, um die Prävention von bewaffneten Konflikten im Sinne einer zivilen Krisenprävention und um die Abwehr von Terrorismus und Kriminalität. In diesem Sinne vertreten wir, vertritt unser Land, eine der positivsten und aufgeschlossensten nationalen Positionen gegenüber dem ATT. Nach unserer Vorstellung sollte sich der ATT auf sämtliche konventionellen Rüstungsgüter erstrecken, insbesondere auf kleine und leichte Waffen sowie Munition. Ein ATT sollte zudem einen klaren Kriterienkatalog für Waffenausfuhren beinhalten – mit höchstmöglichen Mindeststandards bei der Genehmigung von Rüstungstransfers. Insbesondere die Beachtung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht, die Bewahrung der regionalen Stabilität und die Berücksichtigung der inneren Lage im Empfängerland sollten dabei eine Rolle spielen. Weitere Priorität beim ATT ist für uns ein wirksames System zur Endverbleibssicherung sowie ein nach Transferarten differenziertes nationales Kontrollsystem. Bei den Verhandlungen im Juli dieses Jahres in New York muss die Bundesregierung deshalb darauf achten, erstens auf einen möglichst umfassenden Regulierungsbereich hinzuwirken und zweitens ein möglichst starkes Abkommen zu erzielen. Drittens muss auch die Anwendbarkeit des ATT gewährleistet sein, und das Abkommen muss viertens eine Chance auf Verabschiedung haben. Die Verhandlungen werden schwierig werden. Deshalb sollten wir uns für eine Überprüfungskonferenz bezüglich des ATT zwei bis drei Jahre nach Abschluss des Vertrags einsetzen, um gegebenenfalls Nachverhandlungen zu ermöglichen. Denn leider stehen nicht alle Staaten dem ATT so aufgeschlossen gegenüber wie wir. Gerade die großen Exporteure China, Russland oder auch die USA wollen sich nur ungern weitreichenden Beschränkungen unterwerfen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass es überhaupt eine Basis für gemeinsame Verhandlungen gibt. Wir werden uns jetzt nicht mit jeder weitreichenden Forderung durchsetzen können. Eine umfassende Kontrolle in allen Einzelheiten werden wir im Juli wohl nicht erreichen. Den privaten Waffenbesitz und illegale Märkte wird man mit dem ATT nicht direkt beeinflussen können. Trotz allem gilt für mich: Lieber im Juli Abschluss eines Vertrags, bei dem wir nachverhandeln, als gar kein Abschluss! Der gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen „Für einen wirkungsvollen UN-Waffenhandelsvertrag Parlament einbringen, sollte ursprünglich ein gemeinsamer Antrag mit den Regierungsfraktionen werden. Nachdem mir die Kollegen Schnurr und Kiesewetter ihr grundsätzliches Einverständnis signalisiert hatten, ging es um die konkrete Umsetzung. In Anbetracht des Themas wäre ein gemeinsamer Antrag auch angebracht gewesen. Die Bundesregierung war von den mitbeteiligten Nichtregierungsorganisationen in der Vergangenheit für ihr Auftreten und ihre Positionen ausdrücklich gelobt worden. Ein gemeinsamer Antrag des deutschen Parlaments hätte die Regierung bei den abschließenden Verhandlungen im Juli dieses Jahres bei den Vereinten Nationen gestärkt. Doch es kam anders: Sobald es konkret werden sollte, wurden die Kollegen Kiesewetter und Schnurr wieder in die Büsche zurückgepfiffen. Der Kollege Kiesewetter entschuldigte sich mit Verweis auf den FDP-Kollegen Dr. Stinner, dass ein gemeinsamer Antrag nicht möglich sei. Der FDP-Kollege Schnurr wusste von all dem nichts und sein Büro wurde von dem meinen erstmalig über den Sachverhalt aufgeklärt. Aus dem zu diesem Zeitpunkt noch vorliegenden Einverständnis wurde so sehr schnell eine Ablehnung. Nun haben Bündnis 90/Die Grünen und die SPD einen Oppositionsantrag eingebracht, der die Schaffung einer sogenannten Implementation Support Unit, ISU, zum zentralen Gegenstand macht. Denn was auch immer bei den Verhandlungen im Sommer diesen Jahres bei den Vereinten Nationen herauskommt – die Überwachung des Handels mit konventionellen Rüstungsgütern und die damit einhergehende Auswertung der Berichte ist finanziell und personell zu gewährleisten. Des Weiteren macht sich der Antrag dafür stark, dass die Beachtung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Staats beim Handel mit Rüstungsgütern berücksichtigt werden soll, sowie, neben der Exportkontrolle, auch der Import, der Transit, die Lizenzherstellung und der Technologietransfer. Wenn es gelingt, endlich auch den Handel mit Kleinwaffen und deren Munition weltweit zu kontrollieren, wären wir einen guten Schritt weiter. Es existieren auf europäischer Ebene bereits einige gut funktionierende Kontrollregime der weiteren konventionellen Rüstungsgüter. Auch die europäische Rüstungsindustrie gibt bei den jetzigen Verhandlungen Rückendeckung. Dies machen sie natürlich nicht uneigennützig. Bisher hatten sie im Zweifel beim weltweiten Handel mitunter das Nachsehen, wenn ihr die bereits bestehenden Kontrollregime einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Wenn es jetzt durch den ATT eine weltweit geltende Regelung geben soll, dann kann dies einigen Händlern nur gefallen. Und daher komme ich erneut auf den Rückpfiff der von mir geschätzten Kollegen Kiesewetter und Schnurr zu sprechen. Welche Strategie verfolgen die Kräfte in Union und FDP, wenn sie diesen Antrag von vorneher Zu Protokoll gegebene Reden Michael Groschek ein ablehnen, ohne inhaltliche Bewertung? Ist dies schon der Vorbote für einen beginnenden Lagerwahlkampf kurz vor Ende der Legislaturperiode? Werden gemeinsame Werte im internationalen Kampf gegen kriegsentscheidende Waffenlieferungen über Bord geworfen, nur weil ein gemeinsamer Antrag mit der Opposition nicht ins Schema passt? Diese Antwort erscheint mir als die wahrscheinlichste. Denn um ein Ringen um Inhalte ging es ja gar nicht. Schließlich wäre eine sachliche Begründung schwieriger zu führen. Da nicht einmal erste Formulierungen Gegenstand der Betrachtung waren, ließe dies dann die Schlussfolgerung zu, dass die Bundesregierung in der Vergangenheit lediglich gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat und von vorneherein auf ein Scheitern der Verhandlungen bei den Vereinten Nationen gesetzt haben müsste. Demzufolge bräuchten sich die Regierungsfraktionen gar nicht erst mit einem solchen Antrag herumzuschlagen. Um die Inhalte geht es den Regierungsfraktionen scheinbar nicht. Ich glaube, einigen in den Reihen der Regierungsfraktion ist es egal, ob bei den Vereinten Nationen ein starker oder schwacher Waffenhandelsvertrag herumkommt. Die Menschenrechte, die im Übrigen ein Kriterium bei diesem Vertrag sein sollen, sind diesen Leuten egal, und die Tatsache, dass allein mit Kleinwaffen jährlich bis zu 500 000 Menschen getötet werden, was sie zu den „Massenvernichtungswaffen der Gegenwart“ macht, wie der Stern titelt, geht an dieser Stelle lediglich zu Protokoll. Für die Verhandlungen bei den Vereinten Nationen ist es wünschenswert, dass ein möglichst starker ATT zustande kommt. Ein Scheitern würde bedeuten, dass es analog zu den Verhandlungen der Ächtung von Streumunition in den 90er-Jahren zu einem Ottawa-Abkommen kommen müsste. Damals hat sich die Staatengemeinschaft bei den Vereinten Nationen nicht einigen können, und durch die Initiative einiger Staaten haben sich mittlerweile circa 160 Staaten auf das Ottawa-Abkommen einigen können. Auch die Bunderepublik hat bereits 1998 frühzeitig dieses Abkommen ratifiziert. Die anstehende Staatenkonferenz zum Arms Trade Treaty ist nicht der erste Versuch der Weltgemeinschaft, gemeinsame Regeln für den internationalen Waffenhandel zu finden. Fast 90 Jahre ist es her, dass die Staaten des damaligen Völkerbunds Verhandlungen zum gleichen Thema geführt haben. Damals waren die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs allgegenwärtig. Heute ist es der arabische Frühling und es sind die Bürgerkriege der 1990erund der 2000er-Jahre, die uns die Notwendigkeit der Regulierung des Waffenhandels vor Augen führen. Es waren aber nicht die Staaten, die diese Notwendigkeit zuerst erkannt haben. Der ATT-Prozess wurde vor fast zehn Jahren von einer Gruppe von Nobelpreisträgern, unterstützt von Nichtregierungsorganisationen, angestoßen. Es war also die Zivilgesellschaft, die all das möglich gemacht hat, die immer wieder die treibende Kraft war und die weiter Impulse gibt. Als Liberaler ist es mir besonders wichtig, darauf hinzuweisen und allen Beteiligten für ihren oft jahrelangen Einsatz zu danken. Dieser Einsatz hat Wirkung gezeigt. In der Bundesrepublik gibt es heute einen breiten Konsens – zwischen Regierung und Parlament, zwischen den Parteien und Fraktionen. Selbst Nichtregierungsorganisationen und Industrie finden einhellig lobende Worte für die Anstrengungen der Regierung. Ein solch breiter Konsens ist nicht selbstverständlich. Woher kommt er also? Vor allem von der gemeinsamen Erkenntnis, dass die gegenwärtige Situation ein Problem darstellt. Entgegen den Hoffnungen nach Ende des kalten Krieges sind die weltweiten Ausgaben für Rüstungsgüter im letzten Jahrzehnt stark gestiegen. Gleichzeitig hat die Globalisierung den Handel in allen Bereichen befördert. Beides hat dazu geführt, dass sich auch der internationale Handel mit Waffen und anderen militärischen Gütern intensiviert hat. Während die Staaten Europas, der NATO und einige wenige andere aber Exportkontrollen eingeführt haben und damit Waffenlieferungen an diktatorische Regime weitestgehend verhindern konnten, ist dies in den meisten Ländern der Welt noch nicht der Fall. Das ist bereits heute ein Problem, wird sich in Zukunft aber noch verschärfen, da immer mehr Staaten eigene Kapazitäten für die Produktion von Rüstungsgütern aufbauen und damit zu potenziellen Exporteuren werden. In den falschen Händen können Waffen aber Konflikte anheizen, intensivieren und verlängern. Die Kontrolle des Waffenhandels ist daher ein wichtiges Element präventiver Sicherheitspolitik. Der breite Konsens in Deutschland, auch in Europa, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verhandlungen im Juli sehr schwierig werden. Ein Erfolg ist keineswegs sicher. Zu weit gehen die Auffassungen der beteiligten Staaten auseinander. Das betrifft den Regelungsgehalt ebenso wie den Regelungsumfang. Wenige Wochen vor Beginn der Verhandlungen ist beispielsweise völlig offen, welche Waffenkategorien ein ATT beinhalten soll, ob auch Munition erfasst wird und welche Kriterien für Exportentscheidungen maßgeblich sein sollen. Einige, wenn auch wenige Staaten, stehen gar dem ganzen Vorhaben skeptisch gegenüber. Das im Vorfeld für die Konferenz vereinbarte Konsensprinzip ist eine zusätzliche Hürde, die die Verhandlungen erschweren wird. Das gilt auch für die kurze Dauer der Verhandlungen. In lediglich vier Wochen soll der Vertrag stehen. Andere Rüstungskontrollfragen wurden und werden zum Teil über viele Jahre hinweg debattiert. Es ist also völlig offen, ob es überhaupt zu einem Vertragsabschluss kommt. Im Moment sieht es so aus, als stünden sich der Anspruch auf Robustheit, auf einen starken und wirkungsvollen Vertrag, und der Wunsch nach Universalität konträr gegenüber. Wir werden vermutlich nicht beides haben können. Die Kunst der Verhandlung wird darin liegen, das eine nicht gänzlich für das andere aufzugeben. Ich blicke daher mit vorsichtiger Hoffnung nach New York und hoffe darauf, dass sich die Zögerer noch über Zu Protokoll gegebene Reden Christoph Schnurr zeugen lassen und am Ende ein Vertrag steht, der tatsächlich Einfluss auf die Staatenpraxis nimmt. Allerdings mahne ich auch zur Vorsicht und warne vor überhöhten Erwartungen. Die Gefahr ist real, dass solche Erwartungen enttäuscht werden. Denn selbst wenn sich die Staatengemeinschaft auf einen Vertrag einigen sollte, wäre das erst der Auftakt. Mindestens ebenso wichtig wird die anschließende Phase der Implementierung. Erst dann entscheidet sich, welche Bedeutung die Buchstaben des Vertrags haben, ob und wie der Vertrag die Exportpraxis der Staaten beeinflusst. Von großer Bedeutung wird es dann sein, dass es zu regelmäßigen Überprüfungskonferenzen kommt, auf denen der Vertrag weiterentwickelt werden kann und eine Diskussion über die getätigten Exportentscheidungen möglich ist. Immer im Hinterkopf sollten wir auch behalten, dass der ATT nur ein Teil einer größeren Strategie der Sicherheitsvorsorge sein kann. Er löst nicht alle Probleme, noch nicht einmal im eng begrenzten Bereich des Waffenhandels: So kann er sich im besten Fall indirekt auf den illegalen Waffenhandel auswirken. Komplementär bietet sich hier immer noch das VN-Kleinwaffenaktionsprogramm an, das weiter gestärkt werden muss. Vor allem aber kann der ATT das Problem der Entstehung von Konflikten nicht lösen. Konfliktprävention und -bewältigung müssen noch stärker in den Fokus der Weltgemeinschaft rücken, damit die Nachfrage nach Militärgütern gar nicht erst entsteht. Trotz alldem bin ich der festen Überzeugung, dass wir einen Arms Trade Treaty brauchen und dass ein solcher ein wichtiges Element einer umfassenden Sicherheitspolitik sein kann. Ebenso sicher bin ich mir, dass sich die Bundesregierung nach Kräften und im Sinne des Hohen Hauses für den Abschluss eines starken Vertrags einsetzen wird. Der vorgelegte Antrag ist daher nicht nötig. Hoffen wir lieber gemeinsam darauf, dass die Konferenz im Juli erfolgreicher verläuft als vor 90 Jahren, als sich ein weltweites Abkommen nicht durchsetzen ließ. Keine Minute vergeht, in der nicht irgendwo auf die ser Welt ein Mensch mit Waffen, insbesondere Kleinwaffen, getötet wird. Mit dem UN-Waffenhandelsvertrag soll ein wichtiger Schritt unternommen werden, dem einen Riegel vorzuschieben. Die Vertragsverhandlungen im Juli werden entscheidend dafür sein, ob der Waffenhandelsvertrag als Papiertiger daherkommen oder ein ernsthaftes Instrument zur Eindämmung und Kontrolle des internationalen Geschäfts mit dem Tod sein wird. SPD und Grüne stellen in ihrem Antrag richtige Forderungen auf, und die Bundesregierung wäre gut beraten, diese Forderungen energisch bei den Verhandlungen in New York zu vertreten. Eine Ausweitung der Erfassung von Waffengeschäften auf Kleinwaffen, auf Munition und vor allem auf Rüstungskomponenten ist unabdinglich. Ansonsten würde die Mehrzahl der Rüstungsexporte gar nicht unter den Vertrag fallen. Auch die Forderung nach einem handlungsfähigen Gremium zur Umsetzung des Waffenhandelsvertrages ist sinnvoll. Das Mandat des Gremiums darf sich nicht nur auf die Erfassung und Verwaltung der Waffengeschäfte beschränken, sondern muss auch einen Mechanismus für den Informationsaustausch zu den jeweiligen Genehmigungsentscheidungen umfassen. Nur so entsteht eine politische Rechenschaftspflicht, die Regierungen davon abhalten kann, Waffen an problematische Empfänger zu liefern. Genauso wichtig ist es, auf die Beibehaltung der bislang in der Diskussionsvorlage für die Vereinten Nationen enthaltenen Mindeststandards für erlaubte Rüstungsexportgeschäfte hinzuwirken – allen voran die Einhaltung der Menschenrechte. Allein die Erfahrungen des Arabischen Frühlings haben gezeigt, welche schrecklichen Konsequenzen es für die Menschen haben kann, wenn man Waffen und Gerät an repressive Regime liefert. Hier hätten SPD und Grüne allerdings besser noch die Forderungen von Nichtregierungsorganisationen übernommen. Diese fordern zu Recht, dass Rüstungstransfers bereits zu untersagen sind, wenn ein erhebliches Risiko besteht, dass die Rüstungsgüter zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen benutzt werden, und nicht erst, wenn dies nachweislich der Fall ist. Die Linke gibt sich allerdings keiner Illusion über die positiven Auswirkungen des Waffenhandelsabkommens auf die deutsche Genehmigungspraxis hin. Hier sieht es Jahr für Jahr düster aus. Trotz aller vermeintlich hohen Standards gehört Deutschland regelmäßig zu den größten Rüstungsexportnationen. Diktaturen wie SaudiArabien erhalten Waffen aller Art; deutsche Unternehmen – zum Teil sogar mit Unterstützung der Bundeswehr – bauen in diesen Ländern Rüstungskapazitäten auf. Deutschland liefert gerne auch in Spannungsgebiete; Stichwort: U-Boot-Lieferungen an Israel. Derzeit wird über Kampfpanzer nach Saudi-Arabien und Indonesien spekuliert; Algerien soll Know-how für den Bau von Panzern und einige Kriegsschiffe bekommen. Nach wie vor bemüht man sich um den Verkauf von Kampfflugzeugen nach Indien. Und wenn man sich die Liste der Waffensysteme ansieht, die aufgrund der Bundeswehrreform ausgemustert werden sollen und für die Käufer gesucht werden – neben den Kampfpanzern auch Tornado-Kampfflugzeuge und Panzerhaubitzen –, kann einem nur angst und bange werden. Daher bleiben wir bei unserer grundsätzlichen Forderung nach einem Stopp aller deutschen Rüstungsexporte. Trotzdem: Der Waffenhandelsvertrag ist wichtig, um weltweit Standards zu setzen und langfristig ein Umdenken zu erreichen. Je mehr Länder mitziehen, umso besser. Deswegen sollte so lange wie möglich an einem Konsens gearbeitet werden. Wenn allerdings die Standards heruntergeschraubt werden, dann darf die Bundesregierung dem nicht zustimmen. Dann muss als Alternative eben der gleiche Weg beschritten werden wie bei den Kontrollregimen für Landminen und Streumunition: In beiden Fällen hat sich eine Gruppe gleichgesinnter Staaten auf höhere Standards verpflichtet, andere sind daraufhin nachgezogen. Zu Protokoll gegebene Reden Paul Schäfer Darüber hinaus wäre es gefährlich, wenn die Diskussion um einen UN-Waffenhandelsvertrag den Blick auf die anderen großen Herausforderungen verstellt. Nur zur Erinnerung: Die EU-Staaten haben sich bereits 1998 einen Verhaltenskodex für Waffenausfuhren gegeben, der 2009 zu einem Gemeinsamen Standpunkt aufgewertet worden ist. Das hat nichts daran geändert, dass die EU-Staaten mit Exportgenehmigungen im Wert von sage und schreibe 31 Milliarden Euro nach wie vor mehr als 170 Staaten außerhalb der EU mit Rüstungsgütern versorgen. Das zeigt deutlich: Wenn man ernsthaft an einer Verbesserung der Kontrollen und Standards für Rüstungsexporte interessiert ist, darf das Bemühen nicht beim UN-Waffenhandelsvertrag aufhören. Man sollte vor allem vor der eigenen Haustür anfangen. Das bleibt für die Linke auf der Tagesordnung. Am 2. Juli beginnen in New York die Verhandlun gen über einen weltweiten Waffenhandelsvertrag auf UN-Ebene. Deutschland kommt als einem der sechs großen Rüstungsgüter exportierenden Staaten eine besondere Verantwortung im Rahmen der Verhandlungen zu. Nur wenn die Bundesregierung sich für einen umfassenden und verbindlichen Vertrag einsetzt und positiv Einfluss auf die übrigen Staaten nimmt, besteht die Chance, dass am Ende ein erfolgreiches Abkommen verhandelt wird. Erfolgreich bedeutet, sowohl einen weiten Geltungsbereich als auch einen hohen Kontrollstandard im Vertrag zu verankern. Es müssen Waffen, die in zwischenstaatlichen Konflikten oder für Repressionen gegen die eigene Bevölkerung genutzt werden können, vor allem Kleinwaffen und leichte Waffen, einbezogen werden. Die meisten Menschen, die weltweit Opfer militärischer Gewalt werden, sterben nicht durch Panzer oder andere Großwaffensysteme, sondern durch Handfeuerwaffen. Alle abseits der medialen Aufmerksamkeit geführten Konflikte in Afrika, Asien und Amerika sind auf die stete Zufuhr mit ebendiesen leicht verbringbaren Waffen angewiesen. Wenn wir es schaffen können, den unkontrollierten Handel mit diesen Waffen zu regulieren, haben wir eine Chance, die Gewalt in diesen Konflikten wirksam einzudämmen. Kleinwaffen sind die Massenvernichtungswaffen der heutigen Zeit. Einmal produziert, sind Handfeuerwaffen leicht von einem Konflikt in den nächsten zu transportieren; sie sind pflegeleicht in der Lagerung und können ohne nennenswerte Ausbildung bedient werden. Eine AK-47 kann Jahrzehnte genutzt werden und ein Elfjähriger ohne größere Probleme damit schießen. Geschmuggelt, entzieht es sich allen legalen Kontrollwegen. Auch Munition muss ein Teil des Abkommens werden. Eine Handfeuerwaffe kann Jahrzehnte eingesetzt, eine Gewehrkugel hingegen lediglich einmal verschossen werden. Um wirksam Einfluss auf schwelende Konflikte nehmen zu können, ist es wichtig, den Nachschub mit Munition zu unterbinden. Ohne die notwendige Munition können auf Dauer keine Konflikte geführt werden, und deshalb ist es so wichtig, die Munition in den Waffenhandelsvertrag einzubeziehen. Hier muss die Bundesregierung gegenüber unserem größten Bündnispartner, den USA, standhaft bleiben. Der Vertrag muss außerdem menschenrechtliche und humanitäre Gesichtspunkte enthalten. Staaten, die systematisch die Rechte ihrer Bürger missachten und in kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, sollen sich auf dem weltweiten Waffenmarkt nicht mehr legal mit den Mitteln für dieses Unrecht eindecken können. Diese – von den Nichtregierungsorganisationen – als „goldene Regeln“ bezeichneten Kriterien müssen für die Bundesregierung die roten Linien in den anstehenden Verhandlungen darstellen. Die Bundesregierung muss sich aber auch für sozioökonomische Kriterien einsetzen. Diese sollen bewirken, dass Staaten durch Rüstungsausgaben nicht in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gefährdet werden. Das Rüstungsstreben eines Staats muss im Verhältnis zu seinen sozialen und wirtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern stehen. Wenn dies nicht gegeben ist, dürfen keine Waffen exportiert werden. Bestes Beispiel dafür sind die deutschen Exporte nach Griechenland in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch der Staatfinanzen. Entscheidend ist aber, dass der Vertrag am Ende mehr wert ist als das Papier, auf dem er geschrieben steht. Ein Abkommen mit vielen leeren Versprechungen ist vertane Zeit. Dies gilt besonders in Anbetracht des Umstands, dass ein Waffenhandelsvertrag nur der Beginn eines Prozesses sein kann, an dessen Ende eine spürbare Verringerung der globalen Rüstungsausgaben stehen muss. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich für eine starke „Implementation Support Unit“ einzusetzen, die den Vertragsstaaten bei der Anpassung ihrer Strukturen an die neuen Regelungen hilft und die gewonnenen Daten auswertet und veröffentlicht. Dies wäre ein Schritt auf dem Weg zu mehr Transparenz, der zumindest zu ein wenig mehr Ehrlichkeit in diesem für Korruption und Bestechung sehr anfälligen Wirtschaftsbereich führen könnte. Unverständlich ist mir, dass es nicht möglich war, die Abgeordneten der Koalition für einen gemeinsamen Antrag zu gewinnen. Es hätte der Bundesregierung sicher bei den anstehenden Verhandlungen geholfen, wenn sie mit einem starken Verhandlungsmandat des Deutschen Bundestages in New York hätte auftrumpfen können. Ihr FDP-Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Georg Link hat vor einigen Tagen bei einer Veranstaltung im Auswärtigen Amt selbst gesagt, dass eine parteiübergreifende Behandlung des Themas jetzt notwendig und geboten sei. Deshalb ist es geradezu grotesk, dass ein gemeinsamer Antrag an seiner eignen Fraktion im Bundestag scheiterte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU: Lassen Sie sich nicht immer von der FDP vorführen, und stimmen Sie unserem Antrag für einen starken VN-Waffenhandelsvertrag zu! Zu Protokoll gegebene Reden Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der beiden Fraktionen auf Drucksache 17/9927? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die Oppositionsfraktionen. Dagegen waren die Koalitionsfraktionen. Tagesordnungspunkt 39: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klimaziel der EU auf 30 Prozent anheben – zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf 30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen – Überschüssige Emissionsrechte stilllegen – zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN EU-Klimaziel anheben – 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020 – Drucksachen 17/9561, 17/9562, 17/9175, 17/9993 – Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung Frank Schwabe Michael Kauch Eva Bulling-Schröter Bärbel Höhn Die Reden wurden zu Protokoll genommen. Der Gipfel in Rio de Janeiro setzte 1992 Maßstäbe für eine weltweite Politik zum Schutz von Klima und Umwelt in einer gerechteren Welt. Exakt 20 Jahre danach werden wir uns besonders an den Erfolgen oder Misserfolgen messen lassen müssen. In diesem Kontext gilt es, die bereits international und national aufgestellten Wegmarkierungen noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Der Weg und das Ziel sind dabei mehr oder minder klar umrissen. Die auf der Weltklimakonferenz in Cancun 2010 festgelegte 2-Grad-Grenze gilt es auf jeden Fall zu erreichen, um die schlimmsten Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt zu verhindern. Das 2007/ 2008 von der EU beschlossene 20-20-20-Programm war hierbei bereits ein erster Aufschlag. Die Beschlüsse von Durban vom Dezember 2011 legten dann die rechtlichen Grundlagen für die Klimaschutzanstrengungen der Industriestaaten unter dem Kioto-Protokoll, voraussicht lich bis 2020. Mittlerweile ist es allgemein anerkannt, dass die bisher verbindlich vorgelegten Minderungsangebote allerdings wohl nicht ausreichen werden, um die international vereinbarte 2-Grad-Grenze für den globalen Temperaturanstieg einhalten zu können. Es ist – wieder einmal – an der Zeit, zu handeln. Wir dürfen uns auf den für einen langen Zeitraum festgelegten Zielen nicht ausruhen, sondern sollten technische Innovationen und gesellschaftliche Lernprozesse aufgreifen und nutzen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, Machbares umzusetzen, die vorhandenen Instrumente und Vorgaben anzupassen. Tatsache ist, dass wir in der Europäischen Union das 20-Prozent-Ziel an CO2-Einsparung bis 2020 schaffen werden, ohne uns anstrengen zu müssen, da die bisher geleisteten technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Anstrengungen ausreichen werden. Doch wenn wir die kommenden acht Jahre ungenutzt verstreichen lassen, dann verschaffen wir uns ohne Not eine schlechtere Ausgangsposition für eine kosteneffiziente Erfüllung der Langstreckenziele bis 2050. Aktuelle Prognosen machen deutlich, dass eine Erhöhung des EUKlimaziels auf 30 Prozent bis 2020 hier den Druck herausnehmen kann und darüber hinaus machbar ist. Wir brauchen hierfür klare Signale der europäischen Politik, dass sich Investitionen in die Dekarbonisierung der Wirtschaft in Europa lohnen. Blieben wir auf Dauer beim derzeitigen Ziel von 20 Prozent bis 2020, laufen wir darüber hinaus Gefahr, dass die Europäische Union international als anspruchslos und träge wahrgenommen wird. Dies gilt es zu vermeiden, um auch die Schwellenund Entwicklungsländer zu einem konsequenteren Handeln zu animieren. Das gegenwärtige 20Prozent-Ziel der EU liegt noch unterhalb der unteren in Cancun beschlossenen Spannbreite der Emissionsminderung für die Industrieländer von 25 bis 40 Prozent bis 2020 gegenüber 1990. Diese Spannbreite wurde auch vom Weltklimarat IPCC 2007 als notwendig angesehen, um zumindest mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu verhindern, dass die globale Erwärmung um mehr als 2 Grad Celsius Temperaturerhöhung steigt. Als Vorreiter wird international von uns erwartet, dass wir gangbare Schritte machen und unsere gesteckten Ziele regelmäßig überprüfen, Vorbild geben und Nachahmung initiieren. Gleichzeitig demonstrieren wir durch eine Erhöhung den innovativen Vorsprung, den wir anderen vermitteln können. Ich bin fest überzeugt, dass ein verbindliches Klimaziel von 30 Prozent Reduktionen der europäischen Emissionen bis 2020 eine wirtschaftliche Dynamik auslösen kann, die zusätzliche Arbeitsplätze schafft und Wirtschaftswachstum ermöglicht. Von dem bestehenden 20-Prozent-Ziel sind kaum neue Investitionsanreize zu erwarten, da schon 2009 die Emissionen bereits 17,3 Prozent unter dem Niveau von 1990 lagen. Die EU-Mitgliedstaaten müssen unter den geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen nur noch eine zusätzliche Minderung von 285 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent in dem Zeitraum von 2009 bis 2020 erbringen. Bei einem 30-Prozent-Ziel müsste die Europäische Andreas Jung Union bis 2020 eine Minderung von insgesamt 1,22 Milliarden Tonnen leisten, hiervon hat sie aber mit 535 Millionen Tonnen bereits fast die Hälfte erreicht. Im März 2011 legte die Europäische Kommission eine Analyse vor, aus der hervorgeht, dass die europäischen Emissionen bis 2020 um 25 Prozent unter das Niveau von 1990 sinken, wenn die Europäische Union allein ihre längst verabschiedeten Ziele erreicht, insbesondere im Bereich Energieeffizienz. Das schafft keine Anreize. Die Europäische Union hat in einer Zeit großer Umbrüche und Transformationen schon heute einen strategischen Vorsprung – mit der verbindlichen Einführung eines CO2-Preises, ihrer Klimaschutzgesetzgebung und den damit einhergehenden Innovationsimpulsen im Bereich der Umwelttechnologien. Diesen Vorsprung gilt es jetzt konsequent zu verteidigen und auszubauen, Wenn wir uns vor diesem Hintergrund das EU-Klimaund -Energiepaket aus dem Jahr 2008 anschauen, wird allerdings schnell klar, dass wir hier unbedingt nachbessern müssen. Die Erhöhung des EU-Klimaziels ist hierbei ein wesentlicher Schritt. Europa muss nun sein Ambitionsniveau im Klimaschutz erhöhen. Dies kommt auch den Forderungen der Wirtschaft nach einer langfristigen Investitionssicherheit nach und bietet eine Chance, auf einen Wachstumspfad für Europa zu kommen, ohne auf ein verbindliches internationales Klimaschutzabkommen warten zu müssen. Zudem ist es die angemessene strategische Antwort der Europäischen Union auf steigende Ölpreise und eine Positionierung im Wettbewerb mit China und den USA, Es geht um die Führerschaft bei den Technologieleitmärkten von morgen. Bereits in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie hat die Bundesregierung 2011 die ambitionierten nationalen Minderungsziele für die Treibhausgase fixiert. Sie sollen bis 2020 um 40 Prozent, bis 2030 um 55 Prozent, bis 2040 um 70 Prozent und bis 2050 um 80 bis 95 Prozent – jeweils gegenüber 1990 – sinken. Diesen Weg geht die Bundesregierung mit der Unterstützung des Bundestages konsequent weiter. So konnte Deutschland im Jahr 2010 seine Verpflichtungen aus dem Kioto-Protokoll erfüllen, Gegenüber dem Basisjahr 1990 sind die Treibhausgasemissionen Deutschlands 2010 um fast 25 Prozent zurückgegangen. Das entspricht einer Verminderung von mehr als 295 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr und zeigt: Ein großes Stück des Wegs haben wir bereits geschafft. Wir können feststellen, dass von unserer Klimaschutzpolitik gleichzeitig kräftige Impulse für Wirtschaftswachstum, Innovation und Beschäftigung ausgehen. Europa muss nach meinem Dafürhalten den positiven Nachweis erbringen, dass Klimaschutzpolitik eine leistbare Zukunftsvorsorge darstellt, dass sie kein Gegensatz zu wirtschaftlicher Entwicklung ist, sondern dass die Integration von modernen Technologien natürliche Ressourcen schonen und klimaschädliche Emissionen nachhaltig reduzieren kann. Denn eine technologische Modernisierung ist es, die uns wettbewerbsfähiger, produktiver, wirtschaftlich erfolgreicher macht und darum auch ökonomisch zu empfehlen ist. Dafür reicht es nicht, dass die Europäische Union bei ihrem 20-Prozent-Reduzierungsziel bleibt. Wenn wir uns nur das vornehmen, was wir ohne zusätzliche Maßnahmen erreichen, dann ist das definitiv zu wenig und würgt Innovationen für die Zukunft ab. Dann ist es auch kein Anreiz für Technologieentwicklung, dann senden wir keine positiven Signale an andere Länder, die es ungleich schwerer haben, ihren CO2-Ausstoß zu reduzieren. Vorreiter heißt, immer einen Schritt voraus zu gehen, um gangbares Terrain aufzuzeigen. Die vom Umweltausschuss am 23. Mai 2012 abgehaltene Anhörung der Sachverständigen zur Erhöhung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent hat unmissverständlich klargemacht, dass dieser Schritt jetzt gemacht werden muss. Die entwickelten europäischen Industriestaaten müssen ihrer Vorreiterrolle, aber auch den Erwartungshaltungen gerecht werden, um andere zum Mitmachen zu bewegen. Wer kein Zeichen setzt, kann keine mutigen Schritte von anderen erwarten. Wollen wir an der internationalen Spitze bei den erneuerbaren Energien und den dafür nötigen Technologien bleiben, dann müssen wir jetzt handeln. Eine Initiative der dänischen Ratspräsidentschaft, das EU-Klimaschutzziel auf 30 Prozent bis 2020 zu erhöhen, wurde auf der Sitzung des Umweltministerrats vom 9. März 2012 von Deutschland und 25 anderen Mitgliedstaaten unterstützt. Am 11. Juni 2012 stand es erneut auf der Tagesordnung des Umweltministerrats. Auch bei dieser Sitzung unterstützte Deutschland die Erhöhung des Klimaziels. Gescheitert ist eine Erhöhung bislang an dem Widerstand von Polen. Die Bundesregierung ist mit Polen in intensiven Gesprächen und Verhandlungen, um es von der Erhöhung zu überzeugen. Die Position der Bundesregierung, die als Grundlage für diese Verhandlungen dient, ist auch schwarz auf weiss nachzulesen. Auf Seite 144 des Fortschrittberichts zur Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung wird ausgeführt: „Eine Anhebung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent trägt die Bundesregierung auf Basis des nationalen 40-Prozent-Ziels dann mit, wenn keine darüber hinausgehenden Emissionsminderungen von Deutschland verlangt werden und alle Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten.“ Damit macht die Bundesregierung die Erhöhung des Klimaziels nicht vom – weiter mit Nachdruck angestrebten – Zustandekommens eines internationalen Klimaschutzabkommens und von vergleichbaren Anstrengungen aller Industriestaaten abhängig. Die Betonung des Festhaltens am deutschen 40-Prozent-Ziel und der Notwendigkeit, dass alle Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten, sind logisch und notwendig. Die Arbeitsgruppe Umwelt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt diesen Ansatz nachhaltig. Wir müssen heute die Bundesregierung nicht erst dazu auffordern, sich auf europäischer Ebene für die Erhöhung des Klimaziels einzusetzen, wir können dieses Bemühen begrüßen und das Signal geben, dass wir dieses Engagement ausdrücklich unterstützen. Ich persönlich halte die Erhöhung des Klimaziels für dringend geboten und werde in meiner Funktion als Be Zu Protokoll gegebene Reden Andreas Jung richterstatter für Klimaschutz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion weiterhin für eine ambitionierte Klimapolitik eintreten. Die Anhörung zum europäischen Klimaziel, die wir in der letzten Sitzungswoche hatten, hat eindeutig gezeigt: Es gibt keine vernünftigen Argumente gegen eine Verschärfung des europäischen Klimaziels. Unternehmen sprechen sich offen für diese Erhöhung aus. Die Sachverständigen, die die Union benannt hat, haben sich sehr deutlich und mit guten Argumenten für das 30-Prozent-Ziel ausgesprochen. Nur eine politische Mehrheit hier im Bundestag für dieses Ziel zu finden, das scheint unmöglich, was ich für ein ziemliches Trauerspiel halte, denn neben dem Umweltminister spricht sich nun die gesamte Bundesregierung für ein 30-Prozent-Ziel aus, wenn auch nicht laut und klar, sondern versteckt auf Seite 144 des Fortschrittsberichts zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Kennt eigentlich in Brüssel jemand die Haltung der Bundesregierung? Oder denken dort noch alle, dass sich BMU und BMWi immer noch nicht geeinigt haben? Hier wäre eine klare Stellungnahme des Bundestages oder eine Zustimmung zu unserem Antrag hilfreich gewesen. Zustimmen alleine reicht jedoch nicht. Die anderen Staaten Europas warten auf ein starkes Signal aus Deutschland für mehr Klimaschutz. Nach jahrelangem Herumlavieren muss die Bundesregierung anderen Staaten erklären, dass für sie ein höheres Klimaziel von vitalem Interesse ist. Wenn sie weiterhin nur stumm am Rande steht, macht sie sich mitschuldig, den Klimaschutz zu verhindern. Angesichts der Opfer, die der Klimaschutz heute schon fordert, kann das niemand wollen. Wenn wir das 2-Grad-Ziel erreichen wollen, müssen wir die Treibhausgasemissionen um 80 bis 95 Prozent bis 2050 reduzieren. Wir dürfen in der Debatte um das 30-Prozent-Ziel dieses Langfristziel nicht unbeachtet lassen. Auf dem Weg zu diesem Langfristziel brauchen wir sinnvolle Zwischenschritte. In den nächsten acht Jahren praktisch keinen Klimaschutz zu machen – das würde das Festhalten am 20-Prozent-Ziel bedeuten – aber ab dem Jahr 2020 plötzlich sehr große Anstrengungen von Industrie und Bevölkerung zu verlangen, ist kein sinnvolles Zwischenziel. In diesen acht Jahren würden wir den Vorsprung, den wir in vielen Bereichen haben, verlieren. Welcher Investor würde unter solch unsicheren Bedingungen investieren? Wir sollten heute schon unsere Anstrengungen erhöhen und das Langfristziel auf einem gleichbleibenden und verlässlichen Pfad erreichen. Für das Jahr 2020 ist das 30-Prozent-Ziel konsistent mit dem Langfristziel. Wichtig ist daneben die Debatte um das Klimaziel für das Jahr 2030 und eine schnelle Festlegung dieses Ziels. Auch um das nationale Klimaziel von 40 Prozent zu erreichen, brauchen wir das europäische 30-ProzentZiel. Ansonsten müssten die Bereiche, die nicht im Emissionshandel sind, eine Minderungsleistung erbringen, die jenseits des praktisch Machbaren ist. Somit gilt: Ohne höheres Klimaziel der EU kein Erreichen des deutschen Klimaziels. Die Diskussionen um die Klimaziele sind jedoch äußerst zäh und schwierig. Bereits zweimal war die Klimaroadmap und damit das Klimaziel auf der Tagesordnung des Umweltrates der EU gewesen. Zweimal gab es keinen Konsens. Nachdem die Minister sich nicht einigen konnten, kommt es nun auf die Staatsund Regierungschefs an. Diese treffen sich am 28. und 29. Juni in Brüssel zum Europäischen Rat. Auf diesem Ratstreffen muss der gordische Knoten gelöst werden und endlich eine Einigung auf ein höheres Klimaziel erreicht werden. Die Sorgen von Ländern wie Polen, die sehr von Kohle abhängig sind, müssen angehört werden. Wie kein anderes Land behindert Polen gerade die europäische Klimapolitik. Deutschland muss die polnische Regierung mehr bei Vorhaben unterstützen, die in Polen einen Übergang hin zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz attraktiver machen. Polen wird verschärfte Klimaziele nur akzeptieren, wenn es Klimapolitik nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance wahrnehmen kann. Auch muss die Abhängigkeit Polens von Energieimporten diskutiert werden. Diese Abhängigkeit von Energieimporten nimmt zu, trotz der gegenwärtigen polnischen Kohlepolitik. Die Einfuhren von Kohle sind zwischen 2006 und 2010 nach Angaben von Eurostat um 169 Prozent gestiegen. 2008 wurde Polen Nettoimporteur von Kohle. 2009 machten Kohleimporte aus Russland rund 70 Prozent der polnischen Kohleimporte aus. Unabhängigkeit ist mit erneuerbaren Energien zu erreichen, nicht mit weiteren Kohlekraftwerken. Sonne und Wind kann niemand abschalten. Aber nicht nur ein stärkeres Werben für erneuerbare Energien ist wichtig. Im Mittelpunkt muss auch die Energieeffizienz stehen. Polen verbraucht doppelt so viel Energie, um eine Einheit seines Bruttosozialprodukts zu erzeugen, wie der europäische Durchschnitt. Nach der gegenwärtigen polnischen Energiestrategie will Polen das Energieniveau, das die EU-15-Staaten im Jahr 2005 erreicht hatten, erst im Jahr 2030 erreichen, 25 Jahre später. Hier können wir Wege zeigen, wie man Energie und Geld sparen kann und dabei auch noch neue Arbeitsplätze schaffen kann. Nachdem nun auch der Umweltrat am Montag gescheitert ist, ist nun der Europäische Rat Ende Juni entscheidend. Aber hat die Bundesregierung die Zeit seit dem letzten polnischen Veto im März mit Hochdruck genutzt? Hat die Bundesregierung alles getan, damit Polen nicht auch beim nächsten Treffen eine Einigung blockiert? Jetzt kommt es auf die Staatsund Regierungschefs an. Zu diesem Thema habe ich in meiner letzten Rede der Bundesregierung einige Fragen gestellt. Antworten habe ich leider nicht erhalten. Deswegen möchte ich diese Fragen erneut stellen: Wie möchte die Bundesregierung die polnische Blockade bis Ende Juni auflösen? Wie zeigt die Bundesregierung, dass sie die polnischen Sorgen ernst nimmt? Welche Angebote möchte die Bundesregierung Polen machen? Kann sich die Bundesregierung zum Beispiel vorstellen, die bilateralen Umweltprojekte zwischen Deutschland und Polen auszubauen? Sind vor dem Juni Zu Protokoll gegebene Reden Frank Schwabe Rat Gespräche zwischen Merkel und Tusk geplant? Umweltverbände fordern die Schaffung eines Sonderbotschafters, der Pendeldiplomatie zwischen den Hauptstädten der EU betreibt. Unterstützt die Bundesregierung diese Forderung nach einem Sonderbotschafter? Gibt es in der deutschen Botschaft in Warschau überhaupt jemanden, der zu Klimapolitik arbeitet? Wenn nein, warum nicht? Ich habe meine Zweifel, dass mir die Bundesregierung ausreichend auf diese Fragen antworten kann. Aber wenigstens war der Minister höchstpersönlich auf dem Treffen der Umweltminister und hat sich nicht vertreten lassen, wie sein Vorgänger. Herr Altmaier sagte, dass Klimaschutz für ihn ein Herzensthema sei. Nun kann er zeigen, ob er dies auch ernst meint, und sich dafür einsetzen, dass die Bundesregierung eine klare Position vertritt. Allerdings kann man dann nicht mit dem Wirtschaftsminister kuscheln; denn dieser verhindert Klimaschutz, wo er nur kann. Ich hoffe, dass der neue Minister nicht nur ein Mann der schönen Worte, sondern ein Mann der Durchsetzungskraft ist; denn ohne Durchsetzungskraft ist Klimaschutz nicht möglich. Die Opposition stellt heute erneut Schaufensteran träge zur Abstimmung. Man suggeriert, nur mit einem Beschluss des Parlaments werde eine Verhandlungsstrategie der Bundesregierung in Richtung des 30-ProzentKlimaziels in der EU möglich. Offenkundig sind Sie aber nicht mehr auf der Höhe der Entwicklungen. Denn die Bundesregierung hat bereits eine gemeinsame Strategie zum EU-Klimaziel beschlossen. Das Bundeskabinett hat im Fortschrittsbericht 2012 zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie folgende Verhandlungsposition in Europa beschlossen: „Eine Anhebung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent im Jahre 2020 gegenüber 1990 trägt die Bundesregierung auf Basis des nationalen 40-Prozent-Ziels dann mit, wenn keine darüber hinausgehenden Emissionsminderungen von Deutschland verlangt werden und alle EU-Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten.“ Dies ist die Position der Bundesregierung, die das Wirtschaftsministerium und das Umweltministerium gemeinsam tragen. Ein Entschließungsantrag ist deshalb nicht notwendig. Die Erhöhung auf 30 Prozent wird bereits als Verhandlungslinie der Bundesrepublik Deutschland vertreten. Allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung, die die Opposition weglässt: Was immer auf europäischer Ebene passiert, das deutsche 40-Prozent-Ziel darf im Rahmen der Lastenverteilung nicht noch weiter erhöht werden. Denn die deutschen 40 Prozent sind bereits äußerst ambitioniert. Die Formulierung der Bundesregierung ist daher besser als alle Anträge der Opposition, die wir deshalb ablehnen. Zudem sollten wir bei der Diskussion über das EUKlimaziel immer mit diskutieren, wie Produktionsverlagerungen bei energieintensiven Branchen vermieden werden können. Es ist wichtig, hier einen für alle gangbaren Weg zu finden. Denn Produktionsverlagerungen in Länder, die es mit Klimaschutz nicht ernst meinen, helfen niemandem: der Umwelt nicht und schon gar nicht den Arbeitsplätzen in Deutschland. Deshalb sind bei ambitionierteren Klimaschutzzielen im Emissionshandel Kompensationen im Rahmen der begrenzten finanziellen Möglichkeiten für diejenigen energieintensiven Unternehmen zu prüfen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Peinlich ist es im Übrigen, dass die Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen sich ständig überbieten, mehr Engagement für den Klimaschutz auf Bundesebene und in Europa zu fordern; denn dort, wo sie gemeinsam regieren, geht es mit den Klimaschutzzielen bergab. Sowohl Grün-Rot in Baden-Württemberg als auch RotGrün in NRW haben die Klimaschutzziele gegenüber ihren schwarz-gelben Vorgängern abgesenkt. Gerade erst wurde im rot-grünen Koalitionsvertrag in NRW bestätigt, dass trotz einer gewünschten Anhebung des EUZiels auf 30 Prozent und trotz des deutschen Ziels von 40 Prozent das Land NRW nur 25 Prozent Einsparung erbringen soll. Wer die Grundrechenarten beherrscht, der sieht, dass bei 25 Prozent im größten Bundesland national 40 Prozent kaum zu erreichen sein dürften. Das einzige, was der grüne Umweltminister in NRW mit seinem sogenannten Klimaschutzgesetz erreicht, ist ein Ausufern von Bürokratie und Ordnungsrecht. Das macht Klimaschutz teurer, aber nicht besser. Die Krönung des Ganzen ist die Begründung für das Versagen in Baden-Württemberg. Der grüne Umweltminister erklärt, man müsse die Klimaschutzziele senken, da Baden-Württemberg vom Atomausstieg besonders betroffen sei. Weniger Klimaschutz wegen Atomausstieg, das hatten die Grünen den Wählern vor der Landtagswahl nicht erklärt. Das aber ist offenbar die bittere Realität rot-grüner Umweltpolitik. Die Opposition ist sich einig, und auch große Teile der Koalition, jedenfalls im Umweltausschuss, sind für eine Anhebung des bedingungslosen EU-Klimaschutzziels auf 30 Prozent Minderung bis 2020 gegenüber 1990. Ich hoffe, die Bundesregierung wird sich im EU-Rat so positionieren, wie sie sich im Fortschrittsbericht zur Nachhaltigkeitsstrategie festgelegt hat, und zwar dass Deutschland minus 30 Prozent EU-weit mitträgt, wenn auf die Bundesrepublik keine zusätzlichen Emissionsminderungen über die Selbstverpflichtung von national minus 40 Prozent hinzukommen und alle EU-Staaten einen fairen Beitrag leisten. Sie werden verstehen, dass wir etwas misstrauisch sind, ob die Bundesregierung das Bekenntnis zu 30 Prozent in Brüssel auch wirklich klar kommuniziert. Denn die Koalitionsfraktionen waren im Ausschuss nicht bereit, bei einem entsprechenden fraktionsübergreifenden Antrag mitzumachen. Ich darf allerdings einschränken, dass die Position der Bundesregierung, selbst wenn sie denn ehrlich gemeint ist, klimapolitisch kein allzu großer Wurf ist. Schließlich sind minus 25 bis minus 40 Prozent bei den Industriestaaten das Mindeste, was aus Sicht der Wissenschaft erforderlich ist, um den Klimawandel – mit Zu Protokoll gegebene Reden Eva Bulling-Schröter nur Zweidrittel Wahrscheinlichkeit – auf zwei Grad Erwärmung begrenzen zu können. In dem Zusammenhang wundert mich übrigens die Enthaltung der Grünen und der SPD im Ausschuss zu unserem Antrag. Dem Vernehmen nach war zumindest bei den Grünen das Argument gegen eine Zustimmung, dass die LINKE die Bundesregierung auffordert, in Brüssel für eine weiter Verschärfung des EU-Klimaschutzziels bis 2020 über 30 Prozent hinaus einzutreten. Ich frage mich, was wäre denn so furchtbar schlimm daran? Was ist das politische Problem für die Grünen, wenn sich die EU zu minus 40 Prozent bis 2020 verpflichten würde? Darf man so etwas als Oppositionspartei nicht mehr fordern angesichts der Dramatik des Klimawandels? Werden wir nicht sogar gezwungen sein, noch eine Schippe drauf zu packen, weil Schwellenländer und USA viel mehr Treibhausgase ausstoßen, als in der Zeit vorauszusehen war, in der der Minderungspfad von den Wissenschaftlern des IPCC errechnet wurde? In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, dass das Klimaschutzgesetz von SPD und Grünen in NRW eher wenig ambitioniert ist. Die Treibhausgasemissionen des Bundeslandes sollen bis zum Jahr 2020 um nur 25 Prozent im Vergleich zu den Gesamtemissionen des Jahres 1990 verringert werden. Die 25 Prozent sind für das Braunkohleland NRW aber viel zu niedrig. Damit wird das 40-Prozent-Minderungsziel der Bundesregierung für Deutschland praktisch unerfüllbar: Da Bayern oder Baden-Württemberg historisch bedingt einen Brennstoffwechsel von Atom zu erneuerbaren Energien und Gas zu bewältigen hat, können diese ehemaligen Atom-Länder realistisch bis 2020 nur CO2-Minderungsziele deutlich unter 40 Prozent erreichen. In der Verantwortung stehen hier darum am stärksten die Bundesländer mit einem hohen Anteil an Braunkohleverstromung. Schließlich bringt hier der Wechsel zu erneuerbaren Energien und Gas automatisch enorme CO2-Einsparungen mit sich. An der Spitze – weil auch mit 72 Prozent mit dem höchsten Anteil Braunkohlestrom am Erzeugungsstrommix – müsste hier NRW stehen. Gefragt wäre also ein signifikant schärferes Klimaschutzziel von deutlich über minus 40 Prozent Minderung, anstatt deutlich darunter. Brandenburg hat hier immerhin minus 40 Prozent abgeliefert, was auch noch zu schlapp ist. Rot-Grün in NRW entzieht sich mit 25 Prozent jedoch weitgehend der Verantwortung. Aber zurück zu Europa. Schärfere Klimaschutzziele sind in der EU natürlich sehr schwer umzusetzen. Wir sehen beispielsweise die Probleme Polens, eines Landes, welches 89 Prozent seiner Stromerzeugung mit Braunoder Steinkohle realisiert. Doch genau darum fordern wir in unserem Antrag, ähnlich wie die Grünen, entsprechende Hilfestellungen für unseren kohlegeplagten Nachbarstaat. Was die Stillegung von Emissionsrechten angeht, die wir als Einzige in unserem Antrag fordern, so decken sich unsere Vorstellungen hier weitgehend mit jenen Forderungen, die das Ökoinstitut diese Woche in einer Studie aufgemacht hat, die im Auftrag von WWF und Greenpeace erstellt wurde. Gemäß der Studie sollten an gesichts des Überschusses von 2 Milliarden Euro durch den Verkauf von Verschmutzungsrechten 1,4 Milliarden Zertifikate für mindestens zehn Jahre stillgelegt werden. Zudem seien die Anrechenbarkeit von CDM-Gutschriften für die Unternehmen aus Klimaprojekten in der Dritten Welt zu begrenzen. Schließlich müsse die jährliche Emissions-Minderungsvorgabe der EU und damit das zu schwache europäische Klimaziel „deutlich verschärft“ werden. Unsere Worte, kann ich da nur sagen, natürlich wissenschaftlich besser unterfüttert. Ich denke, unter dem Strich hat die Linke einen runden Antrag hingelegt, die Zustimmung sollte diesem Haus – auch nach den eindeutigen Ergebnissen der Anhörung am 23. Mai – nicht schwerfallen. Die Linke stimmt im Übrigen den Anträgen der SPD und der Grünen zum Thema zu. Wir hätten heute etwas grundlegend Richtiges tun können: Wir hätten einen gemeinsamen Beschluss aller Fraktionen im Bundestag fassen können, der die Anhebung des europäischen Klimaziels unterstreicht. Wir hätten es tun können – und sogar gemusst! Doch obwohl der Umweltausschuss sich prinzipiell einig darin war, dass die Bundesregierung in Brüssel weiterhin ein 30prozentiges CO2-Reduktionsziel für die EU verfolgen soll, konnten wir keinen gemeinsamen Antrag hier einbringen. Die Blockade innerhalb der Koalition beschädigt aber nicht nur weiter ihr eigenes Ansehen, sondern den Klimaschutz weltweit und die Pläne zur Energiewende der Kanzlerin. Unsere gemeinsame Anhörung in der vergangenen Sitzungswoche hat eindrucksvoll bewiesen, wie breit der Konsens für eine Erhöhung der Klimaziele ist, nicht aus ideologischem Kalkül, sondern aus wirtschaftlichen und diplomatischen Gründen. Das haben uns übrigens auch die von der Union geladenen Experten bestätigt. Wenn die EU jetzt nicht ihre Ziele ohne Wenn und Aber von 20 Prozent auf 30 Prozent erhöht, dann droht über kurz oder lang ein Stillstand im Klimaschutz. Denn Europaweit wurden bereits 17 Prozent eingespart. Was wollen wir alle gemeinsam in den nächsten acht Jahren tun? Uns zurücklehnen, während die globalen Emissionen immer weiter steigen? Nein. Wir müssen die Ambition beim Klimaschutz konstant und gemeinschaftlich erhöhen. Wir dürfen uns nicht auf bisher Erreichtem ausruhen. Wenn jetzt Angst und Mutlosigkeit gewinnen, dann hat das verheerende Auswirkungen. Wer gegen das 30-Prozent-Ziel ist, der verzichtet auf zusätzliche 0,6 Prozent Wirtschaftswachstum, der verzichtet auf Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze, der verzichtet auf einen Anstieg der EU-weiten BIPs um über 600 Milliarden Euro und auf einen erheblichen Anstieg der europäischen Investitionsrate. All das hatte die Kanzlerin doch auch schon erkannt, als sie das 40-Prozent-Ziel, also minus 40-Prozent CO2-Emissionen in Deutschland bis 2020, ausgegeben hat. Das wird nun von den Blockierern in der Union untergraben. Denn wenn es keine EU-weite Deckelung von 30 Prozent im Emissonshandel gibt, dann müssen Zu Protokoll gegebene Reden Bärbel Höhn die anderen Sektoren – Verkehr und Gebäude – umso mehr Reduktionen erbringen. Haben Sie für die einen Masterplan? Nein, Sie haben hier nichts als Aufschub vorzuweisen. Statt einer Steigerung der Sanierungsrate gibt es einen Sanierungsstau. In Brüssel verhindern Sie eine ohnehin halbwegs wirksame Energieeffizienzrichtlinie, und im Verkehr haben Sie bis auf altbackene Vorschläge für eine Pkw-Maut auch nichts zustande gebracht. Deutschland muss international mehr Gewicht auf das 30-Prozent-Ziel legen. Nur dann ist es möglich, unseren Nachbarn Polen noch rechtzeitig von den Chancen ambitionierter Klimapolitik zu überzeugen. Denn wer heute weniger für den Klimaschutz tut, der zahlt morgen mehr für importiertes Öl und Gas. Konkret: Bis zu 14 Milliarden Euro mehr kostet diese Blockade die ohnehin von teuren Energieimporten gebeutelten europäischen Staaten. Anstatt mehr zu zahlen, können wir sogar mehr einnehmen. Der Emissionshandel hat das Potenzial, viel Geld für den Klimaschutz und die Energiewende abzuwerfen. Denn die Einnahmen daraus fließen in den von der Regierung eingerichteten Energieund Klimafonds. So ist es jedenfalls gedacht. Doch der Zertifikatspreis dümpelt bei 6,50 Euro herum, statt bei den vom Finanzminister anvisierten 17 Euro. Während die Ansprüche an die Energiewende steigen, werden die Mittel dafür also immer geringer. Das liegt an einem Überangebot an Zertifikaten. Ich hätte den Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion ein besseres Verständnis von Angebot und Nachfrage zugetraut. Wir Grüne fordern ein höheres EU-Klimaziel auch deswegen, weil dadurch die Menge der Zertifikate verknappt wird. Das führt zu einem höheren CO2-Preis und bringt auch mehr Planungssicherheit für die Unternehmen. Außerdem bringt es den EU-Staaten auch Mehreinnahmen, die sie für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz nehmen können, und sorgt damit für ein grünes Wachstum mit Tausenden von Arbeitsplätzen. Sie fahren die Energiewende gerade an die Wand und entziehen ihr dann noch das Geld, indem Sie die einzige Einnahmequelle abwürgen. Diese Politik passt zu den Äußerungen von Minister Rösler, der die Solarbranche in Deutschland plattmachen will. Sie meinen es eben nicht ernst mit der Energiewende, und das wird jetzt immer deutlicher. Nächste Woche beginnt in Rio de Janeiro die UNNachhaltigkeitskonferenz. Wir alle wissen, dass den Zeiten von großen Worten nun große Taten folgen müssen. Unsere nationale Energiewende wäre, wenn sie richtig angegangen worden wäre, solch eine Großtat. Denn sie hat Strahlkraft; die ganze Welt schaut auf uns. Aber Misstrauen zwischen Norden, Süden und den Schwellenländern droht gerade die Klimaverhandlungen zu zerstören. Jetzt endlich den Worten von Kopenhagen Taten folgen zu lassen und als EU auf minus 30 Prozent zu gehen, das wäre ein Signal. Die von Ex-Minister Röttgen in Durban gebaute Allianz mit einigen Entwicklungsländern kann nur tragfähig sein, wenn die EU sich selbst an ihre hohen Ansprüche hält. Unsere CO2-Emissionen müssen bis 2050 fast vollständig reduziert sein. Wenn wir uns nicht kurz vor der Jahrhundertwende auf dem Scherbenhaufen der Geschichte wiederfinden wollen, dann müssen wir uns an einen konsequenten und sinnvollen Reduktionspfad halten. Dieser sieht 2020 für Europa eine Emissionsminderung von sogar über 30 Prozent vor. Je später wir anfangen, uns diesem Pfad anzunähern, desto teurer wird es für uns. Wir Grüne wollen ein starkes Signal initiieren; aus Gründen der Kosteneffizienz, der Glaubwürdigkeit Deutschlands und des Klimaschutzes. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss empfehlung auf Drucksache 17/9993. Unter Buchstabe a wird die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9561 mit dem Titel „Klimaziel der EU auf 30 Prozent anheben“ vorgeschlagen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalition und Ablehnung durch die Opposition. Buchstabe b. Hier wird die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9562 mit dem Titel „Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf 30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen – Überschüssige Emissionsrechte stilllegen“ empfohlen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Enthaltungen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, bei Gegenstimmen durch die Linke. Die Koalitionsfraktionen waren dafür. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9175 mit dem Titel „EU-Klimaziel anheben – 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. CDU/CSU und FDP waren dafür, SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen dagegen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 41 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schutzund Sicherheitskonzepte für den Bau und Betrieb von Offshore-Windparkanlagen weiterentwickeln – Drucksache 17/9928 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Laut Tagesordnung werden die Reden zu Protokoll genommen. Die Offshorebranche ist ein relativ junger Wirt schaftszweig, der insbesondere im Zusammenhang mit der deutschen Energiewende eine große Rolle spielt. Erst im Juni letzten Jahres haben wir deshalb ein 5 Milliarden Euro schweres Kfw-Sonderprogramm aufgelegt, um die Potenziale der Offshoreenergie voranzutreiben. Während das Programm erste Erfolge zeitigt und immer mehr Windparks in Nordund Ostsee genehmigt und gebaut werden, kristallisiert sich sehr deutlich heraus, wie bedeutend die Windindustrie ist. Wir haben den Ausstieg aus der Atomenergie bis Ende 2020 beschlossen und benötigen zum Gelingen dieser Energiewende zweifelsohne einen großen Anteil Offshoreenergie. Für dieses ehrgeizige Vorhaben benötigt der Offshoresektor politische Unterstützung, die er durch uns erhält. Doch neben der Betrachtung der Windkraftindustrie als signifikanten Zweig der maritimen Wirtschaft müssen wir uns ebenso mit den begleitenden Problemen und Risiken befassen. Mit der grundsätzlichen Thematik der Sicherheitsvorkehrungen im Offshorebereich befasst sich auch der vorliegende Antrag der SPD-Bundestagsfraktion. Leider könnte man beim Lesen des Antrags schnell den Eindruck gewinnen, dass die Arbeitsund Sicherheitsbedingungen bei den Offshorebetreibern katastrophale Ausmaße hätten und wir keinerlei Regelung für Seenotfälle in der Bundesrepublik hätten. Aber dem ist nicht so. Wir haben bei der Reglementierung dieser jungen Technik im Seebereich einiges getan, um schwere Seenotfälle zu verhindern oder im schlimmsten Fall dementsprechend reagieren zu können. Vorkommnisse mit tödlichem Ausgang und die besonderen Bedingungen bei der Montage und Wartung der Parks auf hoher See erfordern ein besonderes Management. Daher gibt es bereits viele vereinzelte Projekte, die zusammen mit den Offshorebetreibern – und diese sehe ich hier zwingend in der Pflicht – versuchen, Rettungsund Sicherheitskonzepte an diese hohen Anforderungen anzupassen. So wurde – um nur ein Beispiel zu nennen – am 19. April 2012 im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg, BUKH, das Forschungsprojekt „Rettungskette Offshore Wind“ gestartet. Dessen Zielsetzung ist es, über die nächsten drei Jahre Erkenntnisse dahin gehend zu erhalten, wie die Rettungslogistik und die Rettungsmedizin ausgestaltet werden müssen. Doch was gibt es aktuell für Vorkehrungen zur Sicherheit in diesem Bereich? Im Notfall sieht die derzeit festgeschriebene Meldekette vor, dass die Betreuung von Seenotfällen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger, DGzRS, obliegt. Je nach Sachlage erfolgt von dort aus die weitere Koordination an staatliche Stellen oder an das Havariekommando. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat dieses Havariekommando gemeinsam mit den Ländern in Cuxhaven eingerichtet. Während früher Schadensfälle vom örtlich zuständigen WSA erledigt werden mussten, fällt die Bewältigung komplexer Aufgaben seit dem 1. Januar 2003 – seit der Havarie des Holzfrachters „Pallas“ – in die Zuständigkeit des Havariekom mandos. Diese Stelle ermöglicht das gemeinsame Vorgehen auf See von Bund und Küstenländern. Derzeit arbeitet das Havariekommando außerdem an einem zusätzlichen Strategiekonzept zur Verletztenversorgung und -rettung bei Offshoreunfällen. Wie Sie sehen, läuft hier also im Falle des Falles alles nach Plan. Sicherlich wird es zukünftig noch vereinzelte Punkte im Sicherheitsbereich geben, derer man sich annehmen werden muss. Da die Offshorebranche in Deutschland zu den jüngeren Wirtschaftszweigen zählt, werden noch viele dynamische Entwicklungen folgen. Und dies meine ich angefangen von der Ausbildung der Fachkräfte, der Sicherheit auf See bis hin zur Zusammenarbeit von Bund und Bundesländern. Fachkräfte im Offshorebereich werden immer gefragter. Hier bietet sich sehr viel Potenzial für den Arbeitsmarkt im Norden der Bundesrepublik. Die Gewinnung von Arbeitskräften sowie die Stärkung der Ausund Weiterbildungsmaßnahmen haben wir deshalb schon im Nationalen Masterplan Maritime Technologien anberaumt. Insbesondere die Stiftung der Offshorewindenergie und die dort eingerichtete Fachgruppe „Ausund Weiterbildung“ sowie der ständige Arbeitskreis „Vernetzung der maritimen Wirtschaft mit der Offshore-Windenergie“ sind mit diesen Themengebieten intensiv befasst. Da die Offshoretechnik zu den neuen Technologiebereichen zählt, gibt es derzeit aber noch keine einheitlichen Ausund Fortbildungen. Hier liegt es allerdings auch an den Unternehmen für ihre Fachkräfte und deren Ausund Weiterbildung zu sorgen. Auf diesem Gebiet planen bereits etliche Ausbilder und Institutionen, wie die Universität Rostock, spezielle Bildungsprogramme. Und diese Entwicklung begrüßen wir, denn mit dem verstärkten und durch uns geförderten Zubau an Offshoreenergie wird die Nachfrage in den nächsten Jahren ansteigen. Sie sehen, dass wir nicht tatenlos zusehen, sondern schon vieles auf den Weg gebracht haben. Die Offshorebranche verfügt über dynamische Potenziale. Es ist auch an uns, zukünftig konkrete Bedarfe und Defizite zu definieren und diese Entwicklung konstruktiv zu begleiten. Aber, meine liebe Kollegen und Kolleginnen der SPD-Bundestagfraktion, dazu benötigen wir Ihren Antrag nicht. Er ist überflüssig und das Thema längst auf unserer Agenda! Den vorliegenden Antrag lehne ich daher ab. Die deutsche Sozialdemokratie kümmert sich mit Hingabe um die Offshorewindenergie. Das ist auch verständlich: Die Offshorewindenergie ist nämlich ein so neuer Wirtschaftszweig, dass er bisher noch nicht von sozialdemokratischer Regulierungswut erstickt werden konnte. Das will die SPD jetzt ändern. Aber nicht mit uns! Als ich diesen Antrag zum ersten Mal las, musste ich immer an Ilse Aigner und ihren Kampf für gute Lebensmittel denken. So wie zwielichtige Gestalten verdorbene Lebensmittel in attraktiven Verpackungen anbieten, so servieren die Sozialdemokraten in diesem Antrag angefaulte Politikreste unter einer zugegebenermaßen Zu Protokoll gegebene Reden Hans-Werner Kammer chicen Überschrift als Delikatesse. Doch das ändert natürlich nichts: ungenießbar bleibt ungenießbar. Es ist schon erstaunlich, dass der Glaube an staatliche Intervention, die seligmachend sein soll, noch immer so verbreitet ist. Die Kollegen von der SPD glauben zu sehen, dass ein angeblich bereits heute erkennbarer Engpass an Fachkräften die Wachstumsdynamik dieser Branche zu bremsen droht. Einerseits vermag ich dies nicht zu glauben, andererseits frage ich mich, was der Staat dagegen tun sollte. Sollen wir die Unternehmen dazu zwingen, nach Maßgabe sozialdemokratischer Vorstellungen Leute auszubilden? Was sollen die armen Unternehmen mit den ganzen Mitarbeitern machen, die sie nach Ansicht von praxisfernen Sozialpädagogen in der SPD brauchen? Sollen die den ganzen Tag aus alten Zeitungen Papierschiffchen bauen? Es ist klar, dass ein Unternehmen nur dann wachsen und gedeihen kann, wenn es qualifizierte und motivierte Mitarbeiter hat. Gute Unternehmer wissen das. Schlechte Unternehmer sollten sowieso vom Markt verschwinden. Warum soll sich da der Staat einmischen? Sollen wir Unternehmen, die nicht dazu in der Lage sind, Personal zu gewinnen, qualifizierte Leute zuteilen? Nein, meine Damen und Herren, das muss und wird der Markt schon regeln. Unternehmen, die eine Zukunft haben wollen, bilden aus, Unternehmen, die keine Zukunft haben wollen, bilden nicht aus. Das ist so ähnlich wie mit den Dinosauriern – wer sich nicht weiterentwickelt, muss dem Neuen weichen. Als nächste Zutat taucht der unvermeidliche Leiharbeiter auf. Da unsere sozialdemokratischen Kollegen keine Zahlen für die Offshorewindenergie haben, ziehen Sie Ergebnisse irgendeiner fünf Jahre alten Studie für den gesamten Bereich der erneuerbaren Energien heran. Vor fünf Jahren, meine Damen und Herren, befand sich die Offshorewindenergie noch in einem embryonalen Stadium. Doch das interessiert keinen aufrechten Sozialdemokraten, wenn es um den Kampf gegen die böse Zeitarbeit geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum haben Sie eigentlich die Zeitarbeit eingeführt, wenn diese Form der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes angeblich die Mutter alles Bösen sein soll? Da heute Abend auch Parteifreunde und geschätzte Koalitionspartner, die ich nicht mit schon lange und immer wieder gescheiterten sozialdemokratischen Rezepten langweilen möchte, anwesend sind, lassen Sie mich bitte noch einige Gedanken zu dem eigentlichen Thema ausführen. Im Bereich Sicherheit ist es Aufgabe der öffentlichen Hand, Suchund Rettungsdienste, SAR, bereitzustellen, Notfallpläne und Bereitschaftsdienste zum Schutz vor Umweltverschmutzung vorzuhalten sowie die Einhaltung der Gesundheitsund Sicherheitsbestimmungen am Arbeitsplatz zu kontrollieren. Wer sich schon einmal ernster mit den Aufgaben des Havariekommandos, das im Gebäude des Wasserund Schifffahrtamtes in Cuxhaven untergebracht ist, auseinandergesetzt hat, muss zu dem Schluss kommen, dass es bei Unfällen im Bereich der Nordund Ostsee ein koordiniertes und gemeinsames Unfallmanagement gewährleistet. Das gilt selbstverständlich auch für Offshorewindener gieanlagen. Das kann und soll aber nicht alles sein. Die Bundesregierung hat hier schon lange einen Optimierungsbedarf identifiziert und arbeitet daran, dass die Unternehmen der Offshorewindenergiebranche ergänzend zur staatlichen Daseinsvorsorge ausreichende Schutzund Sicherheitskonzepte sowie Notfallpläne entwickeln und fortschreiben. Sicherheit ist nämlich nicht allein Sache des Bundes. Schon auf der Offshorekonferenz „Partner der Energiewende – Maritime Wirtschaft und Offshore-Windenergie“ hat Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann konkrete Ziele formuliert. Er sah unter anderem verschiedene Möglichkeiten zur Optimierung: intensive Schulung und Fortentwicklung der Notfallpläne der Betreiber, Standardisierung und Zertifizierung der Ausund Weiterbildung der Beschäftigten, Aufbau eines Ausbildungszentrums an der Küste. Sie sehen, diese Koalition handelt schon, bevor die Opposition einen Antrag geschrieben hat! Sie müssen uns nicht zum Jagen tragen. Schauen Sie genau hin, Kolleginnen und Kollegen von der SPD – so sieht nämlich gute Regierungsführung aus. Offshore ist mehr als Onshore auf dem Wasser. Denn ob kirchturmhohe Anlagen im stürmischen Meer, kilometerlange Unterwasserkabel oder ein „wetterfestes“ Umspannwerk – Wind, Wetter und Gezeiten machen jede Offshoreaktivität zur echten Herausforderung für Mensch und Maschine. Die Arbeit auf hoher See und in großen Höhen ist nicht ungefährlich, und sie erfordert gut trainierte Spezialisten. Rund 600 bis 1 000 Menschen werden nach bisherigen Schätzungen künftig direkt auf den Offshorewindanlagen tätig sein, in Spitzenzeiten sogar vierbis fünfmal so viele. Mit der Größe der Bauvorhaben auf See und zunehmenden Beschäftigtenzahlen steigt auch das Unfallrisiko. Der Offshorebereich erfordert eine komplett neue Herangehensweise an die Windenergie: technologisch, logistisch und vor allem mit Blick auf Arbeitsschutz und Sicherheit für die Beschäftigten. Doch weil die Offshorewindkraft eine sehr junge Branche ist, fehlen bisher Standards für Ausund Fortbildung sowie umfassende Qualifizierungsangebote. Derzeit obliegt die Verantwortung für Schutzund Sicherheitskonzepte ausschließlich den Betreibern der Offshorewindenergieanlagen. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Offshorebereiches besteht hier ein dringender Handlungsbedarf. Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass ein klarer Rahmen für die Offshoreaktivitäten geschaffen wird. Notwendig ist eine Ausbildung, die technisch auf dem neuesten Stand ist und die Arbeitsrealität auf den Windparkanlagen möglichst genau abbildet. Ein hohes Qualifikationsniveau der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kann dazu beitragen, die Gefahren bei den Arbeiten auf See deutlich zu senken. Dabei sind auch die besonderen Bedingungen der Zeitarbeitskräfte in den Blick zu nehmen. Zu Protokoll gegebene Reden Uwe Beckmeyer Wichtig sind aber auch klare Handlungsempfehlungen für die Offshorewindenergieunternehmen, um einheitliche Standards sicherzustellen. Dies betrifft Arbeitsschutz und Notfallvorsorge, aber auch Meldeketten und Rettungsverfahren der im Bereich der Offshoresicherheit beteiligten Institutionen. Hier ist eine enge Abstimmung etwa mit dem Havariekommando, der gemeinsamen Einrichtung von Bund und Küstenländern, aber auch mit der DGzRS, der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, erforderlich. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, ein umfassendes Konzept vorzulegen, mit dem das vorhandene Instrumentarium der Rettung auf See für Einsätze in Offshorewindparks gezielt erweitert wird. Bei den meisten Offshoreunfällen dürfte es sich nicht um Seenotfälle im klassischen Sinne handeln. Notwendig ist daher ein allgemeiner Rettungsdienst, der über eine entsprechende technische Ausrüstung verfügt und speziell geschult ist – etwa mit Hubschraubern für den Einsatz auf See, mit denen Verletzte geborgen werden können. Zu berücksichtigen ist aber auch der Fall, dass Schiffe havarieren und in Windparkanlagen zu geraten drohen. Bisher ist nicht eindeutig geregelt, welche Sicherheitsbehörde im Notfall für die Bergung von Unfallopfern zuständig ist. Es ist zu klären, ob dem Havariekommando die Gesamtkoordination für die Offshorerettung übertragen werden sollte. Insbesondere die geplante neue Rettungsleitstelle ist in das bestehende „Sicherheitskonzept Deutsche Küste“ einzupassen. Was wir brauchen, ist ein verantwortungsvoller Umgang mit dem jungen Segment Offshore – damit die Zukunftsbranche auch dort die richtige Richtung weist, wo es um die wichtigen Themen Arbeitsschutz und Sicherheit geht. Der Antrag der SPD spricht zwei für die Offshore branche wichtige Themen an: Ausbildung und Sicherheit. Offshoreanlagen werden in Zukunft einen Großteil unserer Energie bereitstellen. Damit die Energiewende gelingt, müssen nicht nur das Stromnetz und die Häfen ausgebaut werden. Wir brauchen auch gut ausgebildetes Fachpersonal. In punkto Ausund Weiterbildung gibt es noch viel zu tun. Ganz so schwarz wie die SPD die Situation darstellt, ist sie aber nicht. Die Windenergieagentur WAB und das Zentrum für Windenergieforschung ForWind, an dem auch die Universität Bremen beteiligt ist, bieten ein weiterbildendes Studium „Offshore-Windenergie“ an, an der Universität Rostock wurde eine Stiftungsprofessur Windenergie eingerichtet, und in Bremerhaven gibt es das Offshoretrainingszentrum für Monteure – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Es tut sich also etwas. Die norddeutschen Küstenländer haben erkannt, dass ihre Zukunft auf dem Meer und im Offshorebereich liegt. Aber es kann und muss noch mehr getan werden. Ein unkoordinierter Flickenteppich an Einzelmaßnahmen nützt uns wenig. Die Sozialdemokraten fordern daher eine Bestandsaufnahme der Istsituation. Diese ist be reits in Arbeit. Die Stiftung Offshore-Windenergie wird bis Ende des Jahres 2012 den Qualifikationsbedarf und die Ausbildungsangebote im Bereich Offshore für Norddeutschland analysieren. Darauf aufbauend können und müssen umfassende Ausund Weiterbildungskonzepte erarbeitet werden. Beim Thema Schutzund Sicherheitskonzepte ist die Rechtslage eindeutig. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass das deutsche Arbeitsschutzgesetz auch in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, AWZ, Anwendung findet. Die Betreiber von Offshorewindanlagen sind verpflichtet, Sicherheitskonzepte für ihre Anlagen zu erstellen und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dazu gehört auch die Unfallnachsorge. Es steht ihnen frei, diese Aufgaben selbst zu übernehmen oder sie an Dienstleister zu übertragen. Die Bundesregierung steht ihrerseits in der Pflicht, einen Rahmen für ein Schutzund Sicherheitskonzept der Offshorewindparkbetreiber zu schaffen. Das hat der Bundestag im letzten Jahr mit dem Koalitionsantrag zur Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft beschlossen. Das Bundesverkehrsministerium wird diese Forderung erfüllen. Nachdem uns die SPD kurzfristig einen Antrag zu Problemen der Offshorewindenergie bei der Hafeninfrastruktur vorlegte, hat sie gestern einen zweiten eingereicht, weil sie entscheidende Punkte vergessen hat. Aber Sie liefern keine eigenen Ideen, sondern rezitieren bekannte Herausforderungen und Fragen, von denen Sie selber sagen, dass diese hinlänglich bekannt seien und auch bereits bearbeitet würden. Selbstverständlich muss zum Beispiel die Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern für das Rettungswesen in Offshorewindparks geklärt werden. Ja, auch wir sehen dies als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge an. Dennoch müssen die Konzernmultis an den Kosten für die schwierige Versorgung mitten in der Nordund Ostsee beteiligt werden. Auf Schiffen unter deutscher Flagge – so es denn noch welche gibt – stellt die öffentliche Hand ja auch keine Schiffsärzte und Sicherheitskräfte, obwohl es sich um deutsches Hoheitsgebiet handelt. Wir legen Wert darauf, dass die Energiekonzerne diese Kosten nicht der Allgemeinheit überlassen. Warum jetzt ausgerechnet die SPD eine Lockerung der Offshorearbeitszeitregelungen fordert, um der „dynamischen“ Branchenentwicklung Rechnung zu tragen, leuchtet mir allerdings nicht ein. In Ihrem Antrag finden sich viele kleinteilige Forderungen, die Selbstverständlichkeiten des Betriebsablaufs und zur Ausbildung und regelmäßigen Schulung der dort Beschäftigten beinhalten. Dass Sie zum Beispiel einen umfassenden Branchenaustausch fordern, ist ja nett, doch ich bin mir sicher, dass es den auch ohne Forderungen des Deutschen Bundestages geben wird. Es ist vernünftig, konkrete Konzepte für Ausbildung, Arbeitsschutz, Unfallund Notfallkonzepte einzufordern, insbesondere zum Schutz der Beschäftigten, wenn noch niemand daran gedacht hätte. Aber es gibt doch Zu Protokoll gegebene Reden Herbert Behrens schon die guten Empfehlungen aus der 7. Nationalen Maritimen Konferenz 2010 zu dem Thema. Es gibt weitere vom Deutschen Verkehrsgerichtstag und ein „Strategiekonzept zur Verletztenversorgung und -rettung auf Offshore Windkraftanlagen“ vom Havariekommando. Sie kennen sicher die Tätigkeit des Arbeitskreises „Vernetzung der Maritimen Wirtschaft mit der OffshoreWindenergiebranche“ und „Ausund Weiterbildung“ der Stiftung „Offshore-Windenergie“ sowie den Arbeitskreis der Gesellschaft für Maritime Technik, die Arbeit des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie und der Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger. Wozu also Ihr Antrag? Er würde mehr Sinn ergeben, wenn Sie in Ihrem Antrag neben den Sicherheitsfragen auch die Grenzen der Offshorewindparks aufgreifen würden. Sie machen den gleichen Fehler wie die Bundesregierung, die sich allein auf die heilsbringende Wirkung der Offshoreanlagen konzentriert. Wir haben bereits in der letzten Sitzungswoche darüber gesprochen, dass es sich bei dem Offshoreboom im Wesentlichen um einen Planungsboom handelt. Von 6 500 beantragten und über 2 000 genehmigten Anlagen befinden sich gerade einmal 160 Anlagen im Bau. 2004 hieß es noch in einer Studie von drei der vier großen Netzbetreiber in Deutschland, dass 2010 insgesamt 5,4 Gigawatt Offshoreenergie produziert werden würde, tatsächlich haben wir dort heute 0,2 Gigawatt installierte Leistung. Offshorewindparks leisten einen wichtigen Beitrag zur Energiewende. Aber an Land wird heute bereits die 135-fache Menge Windenergie erzeugt – 27 Gigawatt. Sie lässt sich leichter ans Stromnetz anbinden, und die Probleme des schwierigen Notfallmanagements entfallen hier ebenfalls. Wir setzen zur Umsetzung der Energiewende nicht auf die Energiekonzerne, die lediglich von der Atomkraft auf Windkraft umstellen und bei Großprojekten bleiben. Wir wollen einen Mix aller regenerativen Energieformen und dezentrale Strukturen. Die Kommunen müssen bei der Rekommunalisierung ihrer Stadtwerke unterstützt und Genossenschaftsmodelle geschaffen werden. Milliardeninvestitionen zum Ausbau großer Übertragungsnetze quer durch die Republik lassen sich reduzieren, wenn mehr Strom dort erzeugt wird, wo er auch verbraucht wird. Auch im Süden der Republik entstehen neue und mehr Windparks, Biogasoder Photovoltaikanlagen. Mittelfristig ist der geplante gigantische Ausbau der Übertragungsnetze also überdimensioniert und allenfalls in der Offshoreplanung begründet. Ja, wir brauchen ein Konzept, mit dem das vorhandene Instrumentarium zur Rettung auf See für Einsätze in Offshorewindparks erweitert wird. Aber viel dringender brauchen wir eine sichere und umweltfreundliche Energieerzeugung, die nicht ausschließlich auf Großtechnologie setzt. Nur so gelingt uns die Energiewende. Welchen großen Stellenwert die Offshorewindenergie weltweit haben wird, habe ich schon letzte Sitzungswoche betont, als wir den Ausbau der Infrastruktur für die Offshorewindenergie debattiert haben. Besonders die Bewohner von Küsten und an Küsten gelegene Megacitys können durch die Offshorewindenergie und andere Meerestechnologien mit sauberem Strom versorgt werden. Es ist nicht nur der Strom, der diesen Menschen zugutekommt. Das große Potenzial der Energiegewinnung im Meer und durch das Meer ermöglicht einen rascheren Ausstieg aus der atomaren und fossilen Energiegewinnung. So können genau diese Bewohner der Küsten auch vor dem Klimawandel und den daraus resultierenden katastrophalen Folgen des Anstiegs des Meeresspiegels geschützt werden. In Deutschland sollen nach den Plänen der Bundesregierung bis zum Jahr 2020 Offshorewindenergieanlagen mit 10 Gigawatt Leistung installiert sein. Wir sind schon heute im Verzug mit dem Ausbau. Damit der Ausbau zügig vorangehen kann, muss aber nicht nur endlich die schnelle Netzanbindung gewährleistet und die Hafeninfrastruktur ausgebaut werden. Auch weitere Faktoren sind für den reibungslosen Ablauf des Ausbaus der Offshorewindenergie unabdingbar. Der Bau von Windenergieanlagen auf See ist eine technisch anspruchsvolle Aufgabe. Natürlich kann es dabei zu gefährlichen Situationen und Unfällen kommen. In solchen Fällen müssen klare Strukturen und Konzepte greifen. Rettungskräfte müssen personell gut ausgestattet und auf ihre Aufgaben vorbereitet sein. Natürlich muss auch das passende Rettungsgerät zur Verfügung stehen. Aber es geht nicht nur um Rettungsmaßnahmen nach Unfällen. Es muss vor allem auch um vorsorgende Unfallund Arbeitsschutzmaßnahmen gehen. Schließlich ist die Offshorewindenergie eine noch junge Technologie, weshalb Erfahrungen noch gesammelt werden müssen. Diese sollten dann möglichst zeitnah in die Konzepte eingearbeitet werden. Der Antrag der SPD-Fraktion enthält viele wichtige Vorschläge zur Sicherheit für Offshorewindparks. Worauf die SPD in ihrem Antrag jedoch nicht eingegangen ist, sind Schutzkonzepte für das Meer und seine Bewohner. Der Ausbau der Offshorewindenergie muss natürlich auch den Schutz von Meereslebewesen berücksichtigen und darf nicht einseitig zulasten der Fauna gehen. Insbesondere die Lärmvermeidung zum Schutz von zum Beispiel Delphinen und Schweinswalen muss hier eine Rolle spielen, aber auch die Vermeidung von Leckagen, um etwa Chemikalienoder Ölverschmutzungen des Meeres zu vermeiden. Der zügige Ausbau der Offshorewindenergie ist ein wichtiger Pfeiler der Energiewende in Deutschland, hinter dem wir Grünen stehen. Auch international können die Technologien zur Energiegewinnung im Meer einen sehr wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Dabei dürfen Sicherheitsaspekte und der Meeresschutz nicht zurückstehen. Nur wenn wir in Zukunft gute Schutzund Sicherheitskonzepte sowie einen Interessenausgleich zwischen Energiegewinnung und Naturschutz, ein gutes Risikomanagement und ein gutes Küstenzonenmanagement haben, wird sich der Ausbau der Offshorewindenergie nicht noch weiter verzögern. So können wir nicht nur technologischer Vorreiter, sondern auch ein Zu Protokoll gegebene Reden Hans-Josef Fell weltweites Vorbild bei den Sicherheitsstandards für die Offshorewindenergie werden. Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9928 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. – Sie sind einverstanden. Das ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 43 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben – Drucksache 17/9930 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Federführung strittig Die Reden wurden ebenfalls zu Protokoll genommen. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hat die ihr gesetzlich zugewiesene Aufgabe, Immobilien des Bundes wirtschaftlich zu verwalten und für die Bundeszwecke entbehrliche Liegenschaften nach dem geltenden Haushaltsrecht zum vollen Verkehrswert zu veräußern. Die Verkaufserlöse fließen nach Abzug der Verwaltungskosten in den Bundeshaushalt – die Einnahmen kommen also allen Bürgerinnen und Bürgern im gesamten Bundesgebiet zugute. Bei einem Grundstücksverkauf geht die Bundesanstalt aber nicht mit der Holzhammermethode vor, sondern wendet vielmehr die Salamitaktik an, Stück für Stück zum Erfolg – ein Gewinn für beide Seiten: den Bürger und den Staat. Liegen zum Beispiel vergleichbare Kaufangebote für ein zu veräußerndes Grundstück vor, so berücksichtigt die Bundesanstalt im Rahmen der Käuferauswahl die strukturpolitischen Ziele der Länder und Kommunen – ohne dass es hierzu einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedarf. Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wollen sie also gesetzlich etwas regeln, was von der Bundesanstalt bereits praktisch so gehandhabt wird. Wie Sie sehen, gibt es hierfür keine Notwendigkeit. Oder versteckt die Bundes-SPD in ihrem Antrag ein anderes Ziel? Ja, das tut sie! Mit ihrer Forderung, eine gesetzliche Öffnungsklausel zur Berücksichtigung städtebaulicher und regionalpolitischer Belange der Länder und Kommunen einzuführen, verfolgt die SPD vielmehr und primär das Ziel, die verbilligte Abgabe von Grundstücken des Bundes wieder einzuführen. Die BundesSPD verschleiert dies noch in ihrem Antrag, während die SPD im Bundesland Nordrhein-Westfalen mit ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben „das Kind beim Namen nennt“. In der Gesetzesbegründung zur Einführung einer Öffnungsklausel wird aufgeführt, dass die Bundesanstalt eine den kommunalen und regionalen Zielvorstellungen entsprechende Nachnutzung auch dann ermöglichen muss, wenn der volle Wert nicht realisiert werden kann, das heißt also: „Gebt uns das Grundstück verbilligt.“ Die Verschleierungsspielchen der Bundes-SPD sind mit uns nicht zu machen. Eine Partei, die sich für Transparenz einsetzt, sollte dies nicht nur fordern, sondern auch und vor allem selbst umsetzen. Dann legt die Bundes-SPD in ihrem Antrag noch einen Zacken drauf. Ihr eigentliches Ziel ist nicht nur, wie die SPD im Land NRW fordert, die verbilligte Abgabe von ehemals militärischen Liegenschaften, sondern die verbilligte Abgabe von allen nicht mehr benötigten Bundesliegenschaften. Wenn wir dies zuließen, wäre das Nächste, was wir von der SPD zu hören bekämen: Die christlich-liberale Koalition verschleudert Haushaltsmittel, veräußert Grundstücke zu Dumpingpreisen und schadet somit allen Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Bundesrepublik. Es geht nicht, auf der einen Seite der Regierung vorzuwerfen, man mache zu viele Schulden und spare zu wenig, und auf der anderen Seite zu fordern, das Tafelsilber als Plastikbesteck in die Regale zu legen. So etwas ist mit uns nicht zu machen – wir haben unseren Haushalt im Blick, und wir haben Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Bundesrepublik. Man sollte sich auch hier die Frage stellen: Würden die Kommunen ihre nicht mehr benötigten Grundstück auch verbilligt abgeben? Wohl kaum! Die federführende Arbeitsgruppe Haushalt der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion lehnt gemeinsam mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben und dem Bundesministerium der Finanzen eine – vor 2005 praktizierte – Wiedereinführung einer verbilligten Abgabe von Grundstücken ab. Abgesehen von Präjudizwirkungen und Abgrenzungsschwierigkeiten käme es als Folge einer Öffnung des Bundesimmobilienanstaltsgesetzes unter Annahme einer derzeit geschätzten Flächengröße von circa 80 000 Hektar Konversionsflächen zu erheblichen Einnahmeverlusten für den Bund. Zählt man die Flächen noch dazu, die nicht als Konversionsflächen verbilligt veräußert werden sollen, so wären die Einnahmeausfälle noch viel größer. Somit würde Geld im Haushalt des Bundes fehlen, welches an anderer Stelle, zum Beispiel für Ausgaben im Sozialbereich – Rente, Arbeitslosengeld – dringend gebraucht würde. Verschleuderung von Grundstücken zu billigen Preisen wäre dann keine Wohltat, sondern eine Schandtat. Darüber hinaus würde „armen“ Kommunen eine Verbilligung nicht helfen, da sich auch einen verbilligten Ankauf lediglich finanziell gesunde Kommunen leisten könnten. Zudem hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben die Erfahrungen gemacht, dass in der Regel Norbert Brackmann nicht die Kommunen als Körperschaft selbst ein Erwerbsinteresse haben, sondern deren Primärinteresse auf die Anwerbung von Investoren gerichtet ist. Die Verwertungsund Investitionschancen setzen voraus, dass die Kommunen als Planungsträger attraktives Planungsrecht schaffen. Hierfür ist jedoch ein Eigentumserwerb durch die Kommunen nicht erforderlich, es sei denn die Kommune hat neben der Förderung der städtebaulichen Entwicklung mit Blick auf den Grundstückserwerb auch ein eigenes „Gewinnerzielungsinteresse“, welches durch einen verbilligten Kaufpreis entsprechend erhöht würde. Die Bundesanstalt hat verschiedene Verwertungsmodelle, die sowohl eine Beteiligung an den Entwicklungskosten, den Abschluss von städtebaulichen Verträgen wie auch Erleichterungen der Zahlungsmodalitäten für den Grundstückserwerber vorsehen. Diese stellen eine ergänzende wirksame und effektive Hilfestellung für die Entwicklung in den betroffenen Kommunen dar. Eine verbilligte Abgabe wäre zudem auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des europäischen Beihilferechts zu überprüfen. Nach ersten Einschätzungen wäre zumindest eine Notifizierung erforderlich. Gemeinsames Ziel ist und bleibt es im Konversionsprozess, die strukturpolitischen und städtebaulichen Entwicklungsziele der Kommune einerseits und die wirtschaftlichen Verwertungsinteressen der Bundesanstalt andererseits zu einem für beide Seiten annehmbaren Interessenausgleich zu führen. Das vom Haushaltsauschuss am 21. März 2012 beschlossene Erstzugriffsrecht der Kommunen ist der geeignete Weg, um diese Ziele zu erreichen. Kaufangebote Dritter bleiben in diesem Fall unberücksichtigt. Damit erhalten die Kommunen zusätzlich zu ihrer Planungshoheit ein weiteres wichtiges Instrument, weil sie den kompletten Konversionsprozess von der Planung bis zur Vermarktung in einer Hand gestalten können. Man kann es nicht oft genug betonen: Die Flankierung des durch die Schließung von Bundeswehrstandorten eintretenden Strukturwandels ist vorrangig Aufgabe der Länder. Der Bund wirkt im Rahmen bestehender Förderprogramme daran mit. Das ist ausreichend, das ist sinnvoll und das ist haushalterisch vertretbar. So unterstützen wir Haushälter den Weg der Bundesregierung, in den Eckwerten zum Bundeshaushalt 2013 eine Anhebung der Ausgabemittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in Höhe von jährlich 33 Millionen Euro vorzusehen, die gerade für Konversionsprojekte eingesetzt werden können. Die Fraktion der Sozialdemokraten will mit ihrem Antrag „Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ neue Akzente setzen. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ist in ihren Zielen klar definiert: Eine unendliche Vielzahl von Liegenschaften, Grundstücken, Gewerbeflächen und Wohneinheiten sollen nicht nach althergebrachter, gut bürgerlicher Art von verschiedensten Behörden verwaltet werden; vielmehr hatte die damalige rot-grüne Bunderegierung eine andere Intention: Sie begründete die neue Bundesanstalt zum 1. Januar 2005 und hat ihr als Hauptaufgabe maßgeblich ins Stammbuch geschrieben, dass die mehr als 28 000 bundeseigenen Immobilien, Grundstücke, Staatsforsten usw. möglichst wirtschaftlich verwaltet werden sollen. Gerade durch die Zusammenführung in eine Bundesanstalt statt Aufsplitterung in Bundesvermögensämter, Bundesforstämter oder Bundesvermögensabteilungen in den Oberforstdirektionen wollte der Bund wirtschaftlich an die Verwaltung seiner Grundstücke herangehen. Dies ist in den vergangenen Jahren durchaus mit großem Einsatz geschehen. Die Mitarbeiter der BImA bis hin zu ihrem jetzigen Präsidenten Dr. Jürgen Gehb haben außerordentlich gute Arbeit geleistet. Sie müssen die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, insbesondere die des Sparsamkeitsprinzips, einhalten. Gerade in einer Zeit, in der wir an oberster Stelle die Haushaltskonsolidierung als Staatsziel haben, sind diese Oberziele, die Wirtschaftlichkeit genauso wie die Sparsamkeit, auch von der BImA zu verlangen. Der Antrag der Sozialdemokraten läuft diesen Grundprinzipien geradezu diametral entgegen. Der Antrag möchte, dass entgegen Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit andere Belange ins Feld geführt werden. Insbesondere soll die BImA städtebauliche und regionalpolitische Belange stärker als bisher berücksichtigen. Zwar nicht ausgesprochen, aber dennoch als Hintergrund des Antrages ist für jeden erkennbar: Die BImA soll durch verbilligten Verkauf, durch „Unterwertverkauf“, teilweise klamme und teilweise marode Kommunen subventionieren. Dies widerspricht den Grundsätzen, die seinerzeit die rot-grüne Regierung der BImA mit auf den Weg gegeben hat. Unsere Zustimmung wird solch ein Antrag aus diesem Grunde in gar keiner Weise finden können. Gerade im Augenblick, wo viele Bundeswehrliegenschaften frei werden, wo die Bundeswehr aufgrund ihrer Strukturreform mit viel weniger Kasernen, viel weniger Übungsplätzen usw. auskommen wird, hat die BImA die Möglichkeit, das nicht betriebsnotwendige Bundesvermögen verantwortlich zu veräußern und sich wirtschaftlich zu gerieren. Die BImA macht das mit Augenmaß und mit großem Geschick, insbesondere aber – und das müssen wir von ihr verlangen – unter Einhaltung der gesetzlichen Regeln, unter Einhaltung der ihr vorgegebenen Grundlinien. Die BImA hat sich zwar wirtschaftlich und sparsam zu verhalten; sie hat aber nicht die Notwendigkeit, den letzten Cent herauszuschlagen. Die BImA hat durchaus ein kommunalfreundliches Verhalten. Das zeigt sich schon darin, dass wir als Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und der FDP einen anderen Weg gegangen sind. Wir haben beschlossen, dass die interessierten Städte und Gemeinden ein Erstzugriffsrecht haben. Dies bedeutet, dass Gebietskörperschaften, aber auch Stiftungen und Anstalten, an denen die Kommunen mehrheit Zu Protokoll gegebene Reden Alois Karl lich beteiligt sind, billige Grundstücke des Bundes zu günstigen Preisen erlangen können. Sie kennen doch unseren Beschluss! Interessierte Gemeinden können zu einem gutachterlich ermittelten Verkehrswert Konversionsflächen ohne Bieterverfahren erwerben. Dies ist ein großer Vorteil. Die Gemeinden müssen nur ihr Interesse bekunden. Der Verkehrswert der interessierenden Grundstücke wird ermittelt, und die Gemeinden können im Erstzugriffsverfahren diese Grundstücke erwerben, ohne dass sie sich auf Konkurrenten einlassen müssten. In diesem Fall gibt es kein sich gegenseitiges Hochschaukeln von sich überbietenden Angeboten. Die interessierte Gemeinde gelangt in ein außerordentlich komfortables „Alleinstellungskriterium“. Die Gemeinden können von vornherein mit gutachterlich festgesetzten Werten kalkulieren und brauchen sich nicht auf ein oft monatelanges Bieterverfahren einzulassen. Dies nenne ich kommunalfreundlich. Solch ein Verfahren ist nicht nur überschaubar und berechenbar, es schützt Gemeinden auch vor Spekulantentum. Der SPD-Antrag dagegen geht in die Irre. Sie möchten Verbilligungen für Gemeinden erreichen, würden aber gerade das Gegenteil erzielen. Gerade finanzstarke Kommunen würden viel stärker profitieren als finanzschwache Gemeinden. Bedenken Sie nur, dass sich der Bereich von Übungsplätzen usw. über verschiedene Gemeinden erstreckt, dass bei Bundeswehrübungsgeländen mehrere Gemeinden Anlieger sind. Nicht diejenige Gemeinde, die das beste Konzept vorzulegen hat, nicht die Gemeinde, die am dringendsten Erweiterungsflächen braucht, nicht die Gemeinde, die Gewerbeund Industrieausweitung am sinnvollsten darstellen kann, wäre nach Ihrem Konzept zum Schluss Eigentümer der jetzt zur Konversion anstehenden Grundstücke, sondern die wirtschaftlich stärkste Gemeinde. Gerade unser System vom Erstzugriff vermeidet das. Unter Einschränkung des Prinzips der Wirtschaftlichkeit wird der betroffenen Gemeinde das von der BImA verwaltete Grundstück zugesprochen. Die Sozialdemokraten verwechseln in ihrem Antrag grundlegende Dinge. Es geht ihnen eigentlich um ein kommunalfreundliches Verfahren; dieses aber wird gerade durch die Mittel der Strukturförderung bei uns befördert. Strukturförderung geschieht durch andere Instrumente. Die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, GRW, die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes bauförderung, die Möglichkeiten der Kreditanstalt für Wiederaufbau usw., aber auch die entsprechenden EUProgramme, das sind bei uns die Möglichkeiten, die die Strukturförderung im Fokus haben. Die Aufgaben der BImA sind anders beschrieben; die BImA kann nicht die Strukturförderung betreiben. Wir verhalten uns auf der einen Seite sparsam und wirtschaftlich; wir haben auf der anderen Seite aber gerade durch das Erstzugriffsrecht das Interesse der Gemeinden sehr wohl im Auge. Gerade aus diesem Grunde ist eine Ergänzung oder Neufassung der Ziele und Regelungen des Gesetzes über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben nicht notwendig. Aus diesem Grunde lehnen wir den Antrag der SPD ab. Nach wie vor verfügt der Bund als Eigentümer über erhebliche Immobilienwerte. Nicht alle Immobilien des Bundes müssen dauerhaft im Bundesbesitz bleiben. Am Ende muss über den Fortbestand des Bundeseigentums die Frage entscheiden, ob und wie eine effektive Nutzung dieser Liegenschaften im gesamtgesellschaftlichen Sinne erfolgen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion greift mit ihrem Antrag „Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“, über den wir heute diskutieren, ein Problem auf, bei dem aus Sicht der Sozialdemokraten dringender Handlungsbedarf besteht – Handlungsbedarf in mehrfacher Hinsicht und in mehreren Bereichen. Zentrales Ziel ist es hierbei, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, BImA, nicht mehr reiner Immobilienmakler des Bundesfinanzministers sein soll, sondern in ihr Aufgabenspektrum städtebauliche und regionalpolitische Belange einfließen müssen und dass dementsprechend der Aufbau und die Organisation der BImA strukturell und personell optimiert wird. Daraus ergibt sich im Übrigen auch die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit der BImA mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie mit weiteren fachlich zuständigen Bundesbehörden. Vor wenigen Wochen haben wir im Deutschen Bundestag über den Stopp beim Verkauf von TLG-Wohnungen diskutiert. Die BImA hat den Auftrag, circa 11 500 Wohnungen zu privatisieren. Bisher hat die schwarz-gelbe Koalition keine Einsicht gezeigt, dass, wie im SPD-Antrag gefordert, diese Wohnungen vorrangig kommunalen Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften zum Kauf angeboten werden. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht hier ein dringendes Handlungserfordernis, damit der Einfluss der öffentlichen Hand auf den angespannten Wohnungsmarkt in Deutschland erhalten bleibt. Warum verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sollte der Erwerb von TLG-Wohnungen durch Genossenschaften nicht gefördert werden? Auf der kürzlich durchgeführten Veranstaltung zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ist die gesellschaftspolitische Rolle der Genossenschaften ausdrücklich positiv bewertet worden. Ich zitiere einige Aussagen: „Der Gedanke der Genossenschaft überzeugt zum Beispiel in Singapur genauso wie in Finnland“, „Genossenschaften sind Vorbilder, wie man ökonomische, soziale und ökologische Ziele verbindet“. Noch ein weiteres Zitat: „Ich denke zum Beispiel an den Bereich des Wohnungsbaus. Viele Wohnungsbaugenossenschaften haben ja die Frage ‚Wie sieht der Mieter, der Wohnungsbesitzer der Zukunft aus?‘ im Blick …“ „Ich glaube, hier können wir auch politisch von interessanten Beispielen aus Ihrem Bereich lernen und aus dem Reservoir Ihrer Erfahrungen schöpfen.“ Recht hat die Gastrednerin mit ihren Ausführungen. Den Appell von Frau Bundeskanzlerin Merkel bei Hans-Joachim Hacker der Festveranstaltung der Genossenschaften sollten Sie, meine Damen und Herren in der Koalition, ernst nehmen. Mit dem am 26. Oktober 2011 von der Bundesregierung verkündeten Stationierungskonzept der Bundeswehr werden 31 Standorte komplett geschlossen und 90 Standorte zum Teil drastisch reduziert. Hieraus erwachsen nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten, sondern auch für die betroffenen Standortkommunen erhebliche Konsequenzen. Mit dem Antrag „Konversion gestalten – Kommunen stärken“ hat die SPD-Bundestagsfraktion diese Problematik aufgegriffen und konkrete Vorschläge vorgelegt, wie der Bund diesen Prozess mit den Ländern und den betroffenen Kommunen gestalten soll. In beiden Fällen, sowohl bei der Problematik TLGWohnungen als auch im Rahmen der Standortveränderungen der Bundeswehr, ist offensichtlich, dass es einer gestaltenden Hand des Bundes bedarf, damit nicht kurzzeitige Geldnahmen des Bundesfinanzministers das Kriterium sind, sondern eine weitreichende gestaltende Planung die Grundlage für das staatliche Handeln darstellt. Die derzeitige Rechtslage, auf der die BImA als zuständige Bundesbehörde für die Verwertung der vom Bund nicht mehr benötigten Bundesliegenschaften agiert, wird diesen Erfordernissen nicht gerecht. Bei der Verwaltung und Verwertung der Liegenschaften spielt bislang lediglich die Orientierung an kaufmännischen Grundsätzen eine Rolle, nach denen nicht betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich zu veräußern ist. Die Aspekte aus kommunalen und regionalen Zielvorstellungen finden hierbei nicht die notwendige Beachtung. Die Bereiche Landschaftsund Naturschutz und regenerative Energiegewinnung bzw. Ausgleichsmaßnahmen stehen nicht im Fokus der Betrachtung und des Handelns der BImA. Diese kritische Bewertung der derzeitigen Rechtslage bezüglich der Aufgabenstellung der BImA bei Vermögensveräußerungen des Bundes wird auch vom Bundesrat geteilt. Ich verweise darauf, dass das Land Nordrhein-Westfalen einen Gesetzentwurf zur Änderung des BImA-Gesetzes vorgelegt hat, dem mittlerweile die Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz beigetreten sind. Dieser Antrag ist am 31. Mai 2012 im Ausschuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung behandelt worden und wurde mit 14 Ja-Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen. Das ist doch eine ganz klare Botschaft an den Deutschen Bundestag, eine Präzisierung des Auftrags der BImA vorzunehmen. Der Gesetzentwurf des Landes Nordrhein-Westfalen beinhaltet eine Ergänzung des § 1 Abs. 1 BImA-Gesetz. Danach soll nach dem Satz 5 ein weiterer Satz eingefügt werden, mit dem klar definiert wird, dass die BImA bei der Verwaltung und Verwertung ehemals militärisch genutzter Liegenschaften sicherzustellen hat, dass die strukturpolitischen Ziele des Bundes, der Länder und der Kommunen im Sinne einer nachhaltigen Regionalentwicklung zu berücksichtigen hat. Der SPD-Antrag, über den wir heute diskutieren, geht über diese Forderung hinaus und beinhaltet auch eine Berücksichtigung städtebaulicher Belange, und zwar nicht nur bei Konversionsmaß nahmen. Wir stimmen hierbei mit der Forderung der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder überein, die auf ihrer Sitzung am 15. Dezember 2011 gefordert haben, dass strukturpolitische Ziele des Bundes, der Länder und der Kommunen ausdrücklich berücksichtigt werden sollen und hierzu eine Öffnungsklausel ins BImA-Gesetz eingefügt werden soll. Da sind wir wieder beim Thema TLG-Wohnungen. Wir sehen – das kommt in Ziffer 2 unseres Antrages zum Ausdruck – darüber hinaus das Erfordernis, dass die Regelung im § 4 des BImA-Gesetzes zum Aufbau und zur Organisation der BImA präzisiert werden muss. Eine stärkere fachliche Gewichtung städtebaulicher und regionalpolitischer Aspekte bei Veräußerungsund Verwaltungsprozessen muss strukturelle und personelle Folgen nach sich ziehen. Nochmals, die BImA muss mehr sein als nur der Immobilienmakler für den Bundesfinanzminister. Die Ergänzung des Handlungsauftrags für die BImA ist offenkundig notwendig. Das zeigen die dargestellten Beispiele, und darüber gibt es einen Konsens mit dem Bundesrat. Die Diskussion über die künftige Verwertung der TLG-Wohnungen und die Herausforderungen beim Konversionsprozess belegen, dass hier der Bund seiner strukturpolitischen Verantwortung gerecht werden muss. Darauf zielt der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ab, für dessen Unterstützung ich um Ihre Zustimmung werbe. Der Antrag fordert, das Gesetz über die Bundesan stalt für Immobilienaufgaben, BImAG, in zwei wesentlichen Punkten zu ändern. Erstens sollen die in § 1 formulierten Ziele um die Aspekte der städtebaulichen und regionalpolitischen Belange ergänzt werden, und zweitens sollen die in § 4 enthaltenen Regelungen betreffend den Aufbau und die Organisation der BImA strukturell und personell optimiert werden. Begründet werden diese Forderungen unter anderem damit, dass es zu „Konflikten zwischen städtebaulich gebotenen und haushaltsrechtlich erforderlichen Überlegungen kommen kann“. Als Lösung wird vorgeschlagen, „dass die Tätigkeit der BImA stärker als bislang an strukturpolitischen Zielen ausgerichtet werden muss“. Dazu ist „eine bessere Verzahnung der unter der Rechtsund Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen stehenden BImA mit den städtebaulichen und strukturpolitischen Zielvorstellungen der Länder, der Kommunen und des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erforderlich“. Die Richtung ist eindeutig: Die geltende Rechtslage, dass die BImA sich unter haushaltsrechtlichen Verpflichtungen an kaufmännischen Grundsätzen orientieren muss, soll einseitig zulasten des Bundes aufgegeben werden. Gleichzeitig sollen die Entscheidungsgremien der BImA durch Beteiligung der Länder und Kommunen erweitert werden. Beide Forderungen haben, würden sie umgesetzt, weitreichende Konsequenzen. Denn sollten zukünftig Länderinteressen oder kommunale Interessen höher als die Verpflichtung zur Wirtschaftlichkeit bewertet werden, dann ist jede Haushaltskonsolidierungspolitik beliebig: andere Interessen – andere Wertigkeit. Zu Protokoll gegebene Reden Heinz-Peter Haustein Und die Erweiterung des Entscheiderkreises um interessengeleitete Betroffene erinnert fatal an die vielen Runden Tische, korporatistische Bündnisse, die es in Deutschland gab und gibt. Wer so etwas fordert, fördert ein parternalistisches Demokratieverständnis: Wir setzen uns alle zusammen, und dann verkünde ich, was die Mehrheit für gut befunden hat. Orientierung an übergeordneten Grundsätzen, Haushaltsrecht wird dann ebenso zur Farce wie persönliche Verantwortungsübernahme. Wir Liberale lehnen diese sozialdemokratische Betroffenheitspolitik entschieden ab. Interessant ist, dass die Gesetzesnovellierung 2009 vorsah, den Konversionsprozess ohne ein gesondertes Konversionsprogramm des Bundes weiter durchzuführen. Ziel war und ist weiterhin die effiziente Verwaltung der Liegenschaften nach kaufmännischen Grundsätzen und nicht, betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich zu veräußern. Und das ist nach wie vor der richtige Weg. Städtebauliche und regionalpolitische Belange sind im wahrsten Sinne des Wortes zuerst regionalpolitische Aufgaben. Dazu benötigen die Kommunen nicht weniger, sondern eher mehr Autonomie und stehen in der Verantwortung, als Planungsträger ein attraktives, wettbewerbsfähiges Planungsrecht zu schaffen. Auf dieser Grundlage können die Kommunen dann entscheiden, ob sie überhaupt Eigentumserwerb an die durch die Konversion freiwerdenden Gebäuden und Flächen favorisieren oder Private zum Zuge kommen lassen wollen. In jedem Fall legen die Kommunen aber fest, was mit den durch die Konversion freiwerdenden Gebäuden und Flächen geschehen soll: zusätzliche Gewerbestandorte ausweisen, neue Wohngebiete erschließen oder Grünflächen anlegen. Das alles sind kommunalpolitische und keine bundespolitischen Aufgaben. Die FDP fördert den Gedanken des kommunalen Wettbewerbs, um durch Entwicklung regionaler Besonderheiten den Menschen in den unterschiedlichsten Regionen immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen. Städtebauliche oder regionalpolitische Belange auf Bundesebene mit entscheiden zu wollen, widerspricht zudem dem Subsidiaritätsprinzip, dem sich selbst die EU verpflichtet hat: Nur dann, wenn eine Entscheidungsebene nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, kann die nächsthöhere Ebene Entscheidungshilfen anbieten. Das Primat der Entscheidungsfindung bleibt auf der lokalen Ebene. Der Bund hat nicht das Recht, die städtebauliche oder regionale Entwicklung zu bestimmen. Das war und bleibt originäres Planungsrecht der Kommunen. Die BImA durch eine strukturelle und personelle Veränderung optimieren zu wollen, um städtebauliche und regionalpolitische Aspekte stärker zu gewichten, heißt zum einen, mit der geleisteten Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zufrieden zu sein, und zum anderen, ihnen nicht zuzutrauen, weitere Aspekte zusätzlich berücksichtigen zu können. Übersetzt bedeutet das, zusätzliche Stellen in der BImA – im öffentlichen Dienst – schaffen zu wollen. Die schwarz-gelbe Koalition stellt sich hinter die Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BImA und lehnt strukturelle wie personelle Veränderungen im Sinne der Antragsteller klar ab. Die Ablehnung der Umsetzungsforderungen dieser Vorschläge heißt aber nicht, dass die schwarz-gelbe Koalition jegliche Mitverantwortung bei der Konversion zur städtebaulichen und regionalen Entwicklung ablehnt. Im Gegenteil: Bereits im Februar 2012 hatte auf Vorschlag der schwarz-gelben Koalition die BImA für ein kooperatives Zusammenwirken aller Beteiligten zu einer Konversionskonferenz eingeladen. Diese neue Form einer kooperativen Zusammenarbeit aller Beteiligten gilt es zu intensivieren und fortzusetzen. Am 21. März 2012 hat der Haushaltsausschuss mit Mehrheit der schwarz-gelben Koalition beschlossen, dass bei Veräußerungen von Konversionsliegenschaften an Gebietskörperschaft bzw. juristischen Personen des Privatrechts, die im Mehrheitsbesitz einer Gebietskörperschaft sind, eine Veräußerung einer Liegenschaft mit einem durch ein Sachverständigengutachten ermittelten Verkehrswert ohne Bieterverfahren möglich ist. Den Kommunen wurde dadurch ein Erstzugriffsrecht eingeräumt. Weitergehende Preiszugeständnisse kämen tendenziell finanzstarken Kommunen zugute und würden diese ohne Bedarf subventionieren. Finanzschwache Kommunen hätten einen eklatanten Wettbewerbsnachteil. Ob durch weitere Preisnachlässe überhaupt positive kommunale Effekte erzielt werden könnten, ist anzuzweifeln. Denn die unter Wert durchgeführte Abgabe von Bundesliegenschaften in den 90er-Jahren hat den Bund zwar 2,27 Milliarden Euro gekostet; deren Wirksamkeit konnte nicht nachgewiesen werden. Deshalb und aus Gründen der Haushaltskonsolidierung lehnt die schwarz-gelbe Koalition solche effekthascherischen Forderungen strikt ab. Des Weiteren fördert die schwarz-gelbe Koalition den Strukturwandel durch die Zurverfügungstellung von Mitteln im Rahmen der bestehenden Förderprogramme, wie zum Beispiel der Städteförderung und der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, GRW. Daneben kommen zur Flankierung auch Fördermittel des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, EFRE, oder des Europäischen Sozialfonds, EFS, in Betracht. Ziele der Konversion sind nach wie vor, in einem fairen Umgang miteinander den Kommunen neue Chancen für ihre weitere Entwicklung zu bieten und den berechtigten Interessen des Bundes durch einen klaren Gesetzesauftrag für die BImA nachzukommen. Der Antrag entspricht nicht diesen Zielintentionen und wird deshalb von der FDP abgelehnt. Der Abzug der Bundeswehr ist kein Grund für Welt untergangsstimmung. Es ist im Gegenteil begrüßenswert, dass nun ehemals militärisch genutzte Gebäude und Flächen für eine zivile Nutzung zur Verfügung stehen. Am 12. Juni hat die Bundeswehr ihre Realisierungsplanung für den Abzug und leider auch den Ausbau einiger Standorte bekannt geben. Aus 32 Standorten wird die Bundeswehr komplett abziehen und etwa 90 Zu Protokoll gegebene Reden Inge Höger werden deutlich verkleinert. Für die betroffenen Regionen wird dies teils grundlegende Veränderungen in Gang setzen. Da in den letzten 20 Jahren im Osten und Westen des Landes bereits Hunderte von ehemaligen Militärstandorten aufgelöst wurden, existiert zwischenzeitlich ein großer Erfahrungsschatz über Chancen und Risiken der zivilen Konversion. Insgesamt waren jedoch die bisherigen Erfahrungen sowohl in städtischen Ballungsräumen als auch in strukturschwachen ländlichen Gebieten so gut, dass auch die nächste Welle der Konversion mit Optimismus in Angriff genommen werden kann. Mittelfristig und teils sogar bereits kurzfristig entstanden mehr und besser qualifizierte Arbeitsplätze in der Region und die Steuereinnahmen stiegen. Dieser Prozess des zivilen Neuanfangs lief dort besonders gut, wo er unter Beteiligung der Bevölkerung und nicht durch einzelne Investoren durchgeführt wurde. Der positive Effekt der Bundeswehr auf die regionale Ökonomie wird regelmäßig überschätzt, denn die Bundeswehr zahlt im Gegensatz zu Gewerbebetrieben keine Steuern und ist im Gegensatz zu früher kaum noch mit der regionalen Wirtschaft verflochten. Die Verpflegung der Soldatinnen und Soldaten wird größtenteils zentral über das Verpflegungsamt in Oldenburg organisiert, und größere Infrastrukturarbeiten und Reparaturen werden ebenfalls seit einigen Jahren zentral durch die „Territoriale Wehrverwaltung“ organisiert, sodass für das lokale Handwerk kaum positive Impulse gesetzt werden. Für die Linke ist es klar, dass wir die Motivation der Bundeswehr für diese Neuordnung ihrer Liegenschaften ablehnen. Der Bundeswehr geht es allein darum, ihre gesamte Struktur an kriegerischen Auslandseinsätzen auszurichten. Deswegen baut die Bundeswehr jetzt das Personal und die Infrastruktur ab, die für weltweite Kriege und Besatzungen nicht mehr nötig sind. Doch auch wenn wir diese Ziele klar ablehnen, sehen wir doch eine Chance darin, frühere Militärliegenschaften zukünftig zivil zu nutzen und so zu zeigen, dass eine zivile Zukunft definitiv attraktiver ist als Militär. Besonders wichtig wird es sein, dass über die bisher bekannten Orte hinaus, militärische Übungsund Schießplätze in großem Umfang dem Militär entzogen werden. Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Gewinne aus dem Verkauf der Liegenschaften zukünftig nicht mehr in den Militärhaushalt fließen. Stattdessen brauchen Kommunen auch aus Bundesmitteln Startkapital, um solide und demokratische Planungsprozesse durchführen zu können und gegebenenfalls dringend benötigte öffentliche Infrastruktur, wie Sportstätten oder Pflegeeinrichtungen, finanzieren oder auch die Renaturierung von Flächen in Angriff nehmen zu können. Die Linke unterstützt deswegen die Forderung des Deutschen Städteund Gemeindebunds nach Einrichtung beziehungsweise Aufstockung von Förderprogrammen für die Kommunen. Der Bund darf sich dabei nicht aus der Verantwortung stehlen. Zudem teilen wir die Auffassung der kommunalen Spitzenverbände, dass es volkswirtschaftlich sinnvoll sein kann, bei dem Verkauf der Bundeswehrliegenschaften nicht auf kurzfristige Gewinnmaximierung zu setzen. Schließlich handelt es sich bei den Bundeswehrstandorten um öffentliches Eigen tum. Die zukünftige Nutzung darf, so sie sich an den Bedürfnissen der Menschen in der Region orientiert, nicht daran scheitern, dass sich die Kommunen den Kauf dieser Flächen nicht leisten können. Wir haben bereits am 26. April 2012 über die Konver sion militärisch genutzter Liegenschaften in Deutschland debattiert. Der Auslöser für die Anträge und Debatte war, dass am 26. Oktober 2011 das Bundesministerium für Verteidigung die Schließung von 31 Standorten der Bundeswehr angekündigt hatte. Aufgrund der vorherigen Stationierungsentscheidung stehen immer noch 13 weitere Standorte zur Schließung an. Hinzu kommen der Abzug und die Verkleinerung von britischen und US-amerikanischen Streitkräften und deren Standorten in Deutschland. Die britischen Streitkräfte sind derzeit noch an circa 17 und die der USA an 23 Standorten in Deutschland vertreten. Nun hat die SPD erneut einen Antrag zu dem Themenkomplex Konversion und Bundesanstalt für Immobilienaufgaben mit dem Titel „Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ eingebracht. Gefordert werden richtigerweise Änderungen in den §§ 1 und 4 des BImA-Gesetzes. Richtig ist diese Forderung, da die Konversion dieser Liegenschaften die betroffenen Kommunen in den nächsten 10 bis 15 Jahren vor große Zukunftsaufgaben stellt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Veräußerung dieser Liegenschaften durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben als Eigentümerin ausschließlich zum vollen Wert erfolgt und die Gewinne folglich in Form von Verwaltungseinnahmen in den Bundeshaushalt fließen. Seit 2008 lagen diese Einnahmen bei 600 000 Euro in 2008, 1,3 Milliarden Euro in 2011, und für 2012 wird mit Einnahmen in Höhe von 2,2 Milliarden Euro gerechnet. Obwohl die Zuführung einer neuen Nutzung der Liegenschaften die betroffenen Bundesländer und Kommunen vor sehr unterschiedliche Herausforderungen stellt, hat der Bund bis heute kein zukunftsweisendes Konzept zur Nachnutzung der militärischen Liegenschaften von Bundeswehr und alliierten Streitkräften vorgelegt. Aus mehr und mehr betroffenen Bundesländern wird – parteiübergreifend – die Forderung laut, der BImA mehr Freiräume bei der Preisgestaltung zu geben. Die BImA verfügt über eine große Bandbreite und eine große Anzahl von Bundesliegenschaften. Die Art ihrer Nutzung ist schon wegen ihres Umfangs und der Zugriffsmöglichkeit der öffentlichen Hand von erheblicher Bedeutung für Städtebau und Regionalentwicklung, insbesondere in vom Strukturwandel stark betroffenen Gebieten. Wir haben bereits in unserem Antrag gefordert, dass die öffentliche Hand bezüglich ihrer Liegenschaftspolitik, der Verwertung ihrer Grundstücke und Gebäude eine Vorbildfunktion einnehmen sollte. Besonders die Zielsetzungen des Städtebaus, der Regionalentwicklung, des Umweltund Klimaschutzes sollten hier stärker be Zu Protokoll gegebene Reden Daniela Wagner rücksichtigt werden. Wir waren daher von Anfang der Debatte der Auffassung, dass § 1 des BImA-Gesetzes durch eine Öffnungsklausel ergänzt werden muss. Dies sollte dahin gehend erfolgen, dass eine Berücksichtigung strukturpolitischer, darunter auch städtebaulicher und wohnungspolitischer Ziele des Bundes, der Länder und der Kommunen möglich sein muss. Weiterhin haben wir in unserem Antrag gefordert, das Know-how in den Bereichen energetische Gebäudesanierung, warmmietenneutrale Sanierung, Einsatz ökologischer Baustoffe, Energieeffizienz und erneuerbare Energien innerhalb der Abteilung Facility Management der BImA auszubauen und eine bessere Vernetzung mit den Bundesämtern wie dem Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung und dem Umweltbundesamt zu prüfen. In ihrem Antrag greift die SPD-Bundestagsfraktion nun unsere Forderungen auf. Dies begrüßen meine Fraktion und ich ausdrücklich, besonders da alle Oppositionsfraktionen unserem Antrag im Ausschuss für Verkehr, Bau, Stadtentwicklung gefolgt sind. Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9930 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist allerdings strittig. CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss, die Fraktion der SPD beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Ich lasse zunächst über den SPD-Vorschlag abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag: Verkehr, Bau und Stadtentwicklung? – Wer stimmt dagegen? – Die Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt bei Zustimmung durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die übrigen Fraktionen waren dagegen. Ich lasse abstimmen über den Überweisungsvorschlag der CDU/CSU und FDP: Haushaltsausschuss. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Die Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Linke. SPD und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 a und b auf: a)





(A) (C)


(D)(B)

Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1718433600




(A) (C)


(D)(B)

Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1718433700




(A) (C)


(D)(B)

Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718433800




(A) (C)


(D)(B)

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718433900




(A) (C)


(D)(B)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718434000
Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1718434100




(A) (C)


(D)(B)

Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1718434200
Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718434300




(A) (C)


(D)(B)

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718434400




(A) (C)


(D)(B)

Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1718434500




(A) (C)


(D)(B)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718434600
Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1718434700




(A) (C)


(D)(B)

Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1718434800




(A) (C)


(D)(B)

Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1718434900




(A) (C)


(D)(B)

Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1718435000
Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718435100




(A) (C)


(D)(B)

Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718435200

(Drucksachennummer 17/8975) gestellt. Obwohl es das


(Drucksachennummer 17/9215) äußerst unzufrieden.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1718435300
Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718435400




(A) (C)


(D)(B)

Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1718435500




(A) (C)


(D)(B)

Sönke Rix (SPD):
Rede ID: ID1718435600




(A) (C)


(D)(B)

Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1718435700




(A) (C)


(D)(B)

Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1718435800




(A) (C)


(D)(B)

Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718435900




(A) (C)


(D)(B)





(A) (C)


(D)(B)

Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718436000
Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718436100
Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1718436200




(A) (C)


(D)(B)





(A) (C)


(D)(B)

Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1718436300
Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1718436400




(A) (C)


(D)(B)

Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718436500




(A) (C)


(D)(B)

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718436600




(A) (C)


(D)(B)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718436700

(Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab-

Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1718436800




(A) (C)


(D)(B)

Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1718436900




(A) (C)


(D)(B)

Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1718437000




(A) (C)


(D)(B)

Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718437100




(A) (C)


(D)(B)

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718437200




(A) (C)


(D)(B)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718437300
Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1718437400




(A) (C)


(D)(B)





(A) (C)


(D)(B)

Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1718437500




(A) (C)


(D)(B)

Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1718437600
Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718437700




(A) (C)


(D)(B)

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718437800




(A) (C)


(D)(B)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718437900




(A) (C)


(D)(B)

Matthias Lietz (CDU):
Rede ID: ID1718438000
Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1718438100




(A) (C)


(D)(B)

Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1718438200




(A) (C)


(D)(B)

Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1718438300
Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718438400




(A) (C)


(D)(B)

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718438500




(A) (C)


(D)(B)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718438600
Norbert Brackmann (CDU):
Rede ID: ID1718438700




(A) (C)


(D)(B)

Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1718438800




(A) (C)


(D)(B)

Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1718438900




(A) (C)


(D)(B)

Heinz-Peter Haustein (FDP):
Rede ID: ID1718439000




(A) (C)


(D)(B)

Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718439100




(A) (C)


(D)(B)

Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718439200




(A) (C)


(D)(B)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718439300
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Ent-
schließungsantrag der Abgeordneten Volker Beck

(Köln), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler, wei-

terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Ant-
wort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom
Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Zur Situation von Roma in der Europäischen
Union und in den (potentiellen) EU-Beitritts-
kandidatenstaaten

– Drucksachen 17/8868, 17/5536, 17/7131,
17/9915 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Angelika Graf (Rosenheim)

Pascal Kober
Annette Groth
Volker Beck (Köln)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Josef Philip
Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung
der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Zur Situation von Roma in der Europäischen
Union und in den (potentiellen) EU-Beitritts-
kandidatenstaaten

– Drucksachen 17/8869, 17/5536, 17/7131,
17/9723 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Gabriele Fograscher
Serkan Tören
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

Die Reden werden zu Protokoll gegeben.


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1718439400

Die Situation der Roma in der Europäischen Union

wurde ausführlich in der Beantwortung auch der Gro-
ßen Anfrage, Bundestagsdrucksache 17/5536, beleuch-
tet. Um Wiederholungen zu vermeiden, werde ich daher
nicht auf alle aufgeworfenen Punkte nochmals eingehen.
Die Entschließungsanträge sollen zu einer Verbesserung
der Lebensbedingungen für Roma, Ashkali und Kosovo-
ägypter in Deutschland und in der Europäischen Union
führen.

I. Um dies zu erreichen, soll die Bundesregierung
aufgefordert werden, sich gegenüber den Bundeslän-
dern für eine Aussetzung der Abschiebung von Roma,
Ashkali und Kosovoägyptern aus dem Kosovo einzuset-
zen, und die Regierungen anderer EU-Mitgliedstaaten
auffordern, ebenso zu verfahren und Roma, Ashkali und
Kosovoägyptern eine Aufenthaltserlaubnis aus humani-
tären Gründen zu gewähren. Argumentiert wird, dass
Kindeswohl und humanitäre Gründe gegen eine Ab-
schiebung sprächen. Diese Forderungen sind abzuleh-
nen. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen der
Roma würde nicht durch eine Aussetzung der Abschie-
bung erreicht. Im Gegenteil würden Menschen weiter in
einem Schwebezustand in einem Land gehalten, das
nicht ihre Heimat ist, während der Aufbau ihrer Heimat
ohne sie vollzogen werden soll.





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)


Erstens. Situation der Rückkehrer. Ich unterschätze
nicht, dass eine Rückkehr in den Kosovo schwer ist. Es
ist jedoch zu beachten, dass die Herausforderungen, die
der Wiederaufbau des Kosovo mit sich bringt, nicht nur
die Roma, sondern alle Flüchtlinge aus dem Kosovo
betreffen. Es wurden daher bereits Bemühungen unter-
nommen, um allen Rückkehrern gleichermaßen zu hel-
fen. Zur Unterstützung vor Ort wurden eine Reihe von
Hilfsmaßnahmen wie zum Beispiel das Projekt URA 2
ins Leben gerufen. URA 2 wird rein national gefördert.
Ziel des Vorhabens ist es, zurückkehrenden Personen die
Reintegration im Kosovo zu erleichtern und das Rück-
kehrmanagement insgesamt weiter zu verbessern. Es
bietet Maßnahmen zur Integration, Betreuung und Un-
terstützung für kosovarische Rückkehrer. Es nicht sinn-
voll, allen Rückkehrern vor Ort Unterstützung anzubie-
ten und zugleich die Rückkehr der Roma und damit auch
ihre Integration in ihr Heimatland auf unbestimmte Zeit
zu verzögern. Es stärkt die Position der Roma nicht,
wenn ihnen Anreize gegeben werden, zu dem Zeitpunkt
in Deutschland zu verbleiben, in dem die Rückkehr in
die Heimat durch Unterstützungsleistungen erleichtert
würde.

Eine Verzögerung des Neuanfangs in der Heimat be-
hindert auch das Zusammenwachsen der Minderheiten
der Bevölkerung. Soll die Abschiebung so lange hinaus-
gezögert werden, bis der Wiederaufbau des Kosovo ohne
die Minderheiten vollzogen wurde? In diesem Fall
würde den Roma, Ashkali und Kosovoägyptern die Gele-
genheit genommen, einen Platz in der Gesellschaft zu
finden. Der Vorwurf, die Menschen würden ins Nichts
abgeschoben, setzt auch die Bemühungen der kosovari-
sche Regierung Rückkehrerfamilien zu unterstützen, he-
rab. Diese hat einen Reintegrationsfond aufgelegt und
mit 3,4 Millionen Euro ausgestattet. Die Bürgermeister
und Schuldirektoren wurden angewiesen, Rückkehrer-
familien zu unterstützen. Es ist vermessen und naiv zu
glauben, dass ein Land im Wiederaufbau sofort optimale
Verhältnisse für jeden Einwohner schaffen könne. Die
Bemühungen der kosovarischen Regierung tragen je-
doch bereits Früchte und dürfen nicht negiert werden.

Das Wohl der Kinder wird auch im Kosovo geschützt.
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes als in-
ternationales Menschenrechtsabkommen gilt gemäß
Art. 22 der Verfassung der Republik Kosovo unmittelbar
und genießt Anwendungsvorrang.

Ein Zugang zur Bildung ist auch für Roma möglich
und wird unter anderem mit kostenlosen Schulbüchern
unterstützt. Um Eltern zur Anmeldung ihrer Kinder zu
motivieren, werden Aufklärungskampagnen durchge-
führt. Nach einer Untersuchung der Kosovo Foundation
for Open Society aus dem Jahr 2009 besuchen 82,1 Pro-
zent der Kinder aus den genannten Gemeinschaften re-
gelmäßig eine Schule.

Auch werden Anstrengungen zum Schutz von Minder-
heiten unternommen. Die Verfassung des Kosovo enthält
in Art. 58 die Verpflichtung, Minderheitenidentitäten
aktiv zu erhalten und zu schützen. Aus dieser Verpflich-
tung heraus tritt die kosovarische Regierung zum Bei-
spiel mit der „Regierungsstrategie für die Integration

der Gemeinschaften der Roma, Ashkali und Ägypter in
die Republik Kosovo 2009 bis 2015“ aktiv für Toleranz
und Schutz dieser Minderheiten ein.

Zweitens, bereits bestehende Bleiberechte. Die Ab-
schiebungen ohne weitere Prüfung im Einzelfall auszu-
setzen, ist, wie bereits ausgeführt, nicht immer im besten
Interesse der Betroffenen und somit auch nicht wie be-
hauptet human. Für den Erlass der Abschiebungsandro-
hung und für die Durchführung der Abschiebung sind
grundsätzlich die Bundesländer zuständig. Diese sehen
von einer Abschiebung ab, wenn eine erhebliche kon-
krete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bestünde. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verkennt, dass bereits
Einzelfallentscheidungen zur Legalisierung des Aufent-
haltes in Deutschland möglich sind. Daher sind Ausnah-
meregelungen für alle Roma, Ashkali und Kosovoägyp-
tern nicht zielführend und auch nicht notwendig, da in
berechtigten Einzelfällen Handlungsspielraum durch
das Aufenthaltsgesetz eröffnet ist. In § 25 Abs. 4 Satz 1
AufenthG wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
für einen vorübergehenden Aufenthalt aus dringenden
humanitären oder persönlichen Gründen oder erheb-
lichen öffentlichen Interessen ermöglicht. Mit der Einfü-
gung von § 25 a in das Aufenthaltsgesetz wurde eine
stichtagsfreie Bleiberechtsregelung für in Deutschland
aufgewachsene und gut integrierten Jugendliche und
Heranwachsenden geschaffen. Auch die Sinti- und
Romaverbände in Deutschland sind der Ansicht, dass es
keine spezifische Regelung für Roma geben sollte.

II. Des Weiteren fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
Grüne unter anderem die Ausarbeitung einer nationalen
Romastrategie, die Verbesserung der Bildungssituation
der Sinti und Roma, die Erhebung von Zahlen über die
in Deutschland lebenden Sinti und Roma und die Eröff-
nung des Denkmals für die im Nationalsozialismus er-
mordeten Sinti und Roma voranzutreiben. Auch dieser
Entschließungsantrag ist abzulehnen. Die Umsetzung
der EU-Vorgaben zur Integration der Roma wurde be-
reits begonnen. Es wurden integrierte Pakete mit politi-
schen Maßnahmen im Rahmen ihrer breiter angelegten
Politik der sozialen Einbeziehung ausgearbeitet. Eine
nationale Strategie speziell für Sinti und Roma ist nicht
erforderlich, da die nach Schätzungen circa 70 000
deutschen Sinti und Roma sich selbst als gut integriert in
die Gesellschaft sehen. Dies ergibt sich auch aus dem
Ende 2011 der EU-Kommission übermittelten Bericht
der Bundesrepublik Deutschland „EU-Rahmen für na-
tionale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 –
Integrierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teil-
habe der Sinti und Roma in Deutschland“. Deutschland
setzt sich bereits entschlossen für mehr Bildungsbeteili-
gung und Chancengleichheit insbesondere für benach-
teiligte Gruppen ein. Dies zeigt sich unter anderem auch
in die vermehrte Investition in frühkindliche Bildung.
Zusätzlich fördern verschiedene Maßnahmen des Bun-
des und der Länder den Zugang der Sinti und Roma zu
Bildung.

Der Zugang zu Beschäftigung ist eröffnet, da die In-
anspruchnahme von Instrumenten zur Arbeitsförderung
in Deutschland unabhängig von Staatsangehörigkeit
und ethnischer Zugehörigkeit ist. Die speziellen Förder-

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)


maßnahmen der Länder sind problemorientiert und an
die regional unterschiedlichen Integrations- und Unter-
stützungsbedürfnisse auch von Minderheiten angepasst.
Bereits in der Beantwortung der Großen Anfrage wurde
erschöpfend erläutert, dass in der Bundesrepublik
Deutschland statistische Angaben nicht auf ethnischer
Basis erhoben werden, weswegen auch die geforderten
validen Zahlen über die in Deutschland lebenden Sinti
und Roma nicht zu erheben sind. Zwar können statisti-
sche Daten dazu beitragen, Diskriminierungen zu bele-
gen, allerdings besteht dabei die Gefahr, bereits in der
Datenerhebung durch die Kategorienbildung zu einer
Homogenisierung oder gar einer Stigmatisierung von
Menschengruppen beizutragen. Aus den historischen
Erfahrungen in Deutschland im Zusammenhang mit der
Verfolgung von Minderheiten und dem systematischen
Datenmissbrauch wird deshalb zu Recht auf Erhebun-
gen auf ethnischer Basis verzichtet.

Abschließend kann ich Ihnen mitteilen, dass die feier-
liche Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozia-
lismus ermordeten Sinti und Roma für den 25. Oktober
geplant ist, sodass auch hier keine Notwendigkeit der in
dem Entschließungsantrag geforderten Maßnahmen ist.

Die Entschließungsanträge sind abzulehnen.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1718439500

Eine Mitteilung der Europäischen Kommission vor

drei Wochen über die Umsetzung der Forderung nach ei-
nem nationalen Aktionsplan zur Integration der Sinti
und Roma hat mich mit Bitterkeit erfüllt, wenn auch
nicht wirklich überrascht. Der Bericht hat deutlich ge-
macht: Die Bundesregierung zeigt noch nicht einmal
den politischen Willen, die Situation der Roma in
Deutschland gezielt zu verbessern, ganz zu schweigen
von politischen Aktionen. Die Romabevölkerung ist die
größte ethnische Minderheit in Europa. Und sie lebt bei
uns und in anderen EU-Ländern unter zum Teil sehr pro-
blematischen Umständen. Die Kommission hat das Ziel
vorgegeben, „das Leben der Romabevölkerung spürbar
zu verändern“. Sie erkennt auch an, dass Gesetze allein
nicht ausreichen. Jeder Mitgliedstaat sollte deshalb na-
tionale Ansätze ergänzend einsetzen.

Was passiert bei uns? Die Bundesregierung hat die
von der EU geforderte „Strategie“ zur Integration der
Roma vorgelegt. „Allgemeine Hilfen“ in den Kernberei-
chen Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen
bietet sie den Roma in Deutschland an. Damit trifft sie
jedoch im Durchschnitt gerade einmal ein Viertel der
von der EU-Kommission empfohlenen Maßnahmen.
Zum Beispiel im Bereich Bildung – unumstritten derje-
nige Bereich, der allgemein als Schlüssel für eine nach-
haltige Integration angesehen wird. Eine breit angelegte
Studie Ende 2011 zur Bildungssituation deutscher Sinti
und Roma fand heraus, dass 9,4 Prozent der heute 14-
bis 25-Jährigen noch nie eine Grundschule besucht ha-
ben, mehr als 40 Prozent der Erwachsenen keinen Ab-
schluss besitzen und lediglich 18,8 Prozent eine Ausbil-
dung haben. Nennt man das eine erfolgreiche
Integration? Ich denke nicht.

Und was unternimmt die Bundesregierung? Sie
möchte das allgemeine Ziel – nämlich ganz einfach die
Verbesserung des Bildungsstandards – unterstützen.
Doch von sieben zusätzlich vorgeschlagenen Maßnah-
men hat die Bundesregierung vor, lediglich eine umzu-
setzen. Eine Steigerung der Zahl von Hochschulstuden-
ten unter der Romabevölkerung oder Maßnahmen, um
Segregation im Schulalltag zu verhindern, hält sie zum
Beispiel nicht für nötig. Ganz anders zum Beispiel Spa-
nien. Trotz Krise plant die Regierung, zusätzlich zu allen
sowieso schon geforderten Maßnahmen ein ergänzendes
Mediationsprogramm einzuführen. Es soll Schulabbrü-
che und Fehlzeiten verringern.

Bei dem Maßnahmenkatalog, der die Erwerbsbeteili-
gung der Roma steigern soll, zeichnet sich in Deutsch-
land ein ähnliches Bild wie bei der Bildung: Die Bun-
desregierung unterstützt das allgemeine Ziel und noch
eine weitere Maßnahme. Die vier weiteren fallen unter
den Tisch.

Gleiches Szenario bei der Gesundheitsfürsorge: Das
allgemeine Ziel, die Gesundheitsfürsorge zu verbessern
wird – natürlich – unterstützt. Eine von fünf weiteren ge-
forderten Maßnahmen wird darüber hinaus avisiert.
Kein Wort darüber, dass besonders für Romafrauen und
-kinder ein hochwertiger Zugang zu Gesundheit sicher-
gestellt werden muss, oder darüber, das Gesundheits-
personal für den Umgang mit Menschen mit anderem
soziokulturellem Hintergrund zu schulen. Gerade von
Letzterem würde nicht nur die Romabevölkerung profi-
tieren.

Das gleiche Bild im vierten Kernbereich – Verbesse-
rung der Wohnsituation. Hier sieht die Bundesregierung
vor, drei von fünf speziellen Maßnahmen zu implemen-
tieren. Doch diejenigen Maßnahmen, die im Besonderen
für die Romabevölkerung zugeschnitten sind – zum Bei-
spiel die Berücksichtigung der Bedürfnisse der nicht-
sesshaften Bevölkerung oder einen integrierten Ansatz
zu verfolgen – schließt sie aus. Auch hier: Gerade letz-
tere Maßnahme käme nicht nur der Romabevölkerung
zugute, sondern würde eine Integration aller Minderhei-
ten und marginalisierten Gruppen in Deutschland för-
dern. Dies ist gerade bei der Verteilung und Nutzung des
Wohnraums in Städten – ich denke hier zum Beispiel an
die Harzer Straße in Berlin-Neukölln – entscheidend,
um die Bildung von Problemvierteln zu vermeiden.

Andere Länder machen das anders: Viele andere
Staaten der EU wie Frankreich, Österreich oder Slowe-
nien bieten spezielle Hilfsangebote an. Peinlich, dass
unsere Bundesregierung die Notwendigkeit nicht er-
kennt. Vielleicht haben ja die anderen einfach erkannt,
dass letztlich präventive Maßnahmen immer billiger
sind als Hilfe, wenn das Kind schon in den Brunnen ge-
fallen ist. Bei der Twiggy-haften Magerkeit der Strategie
wundert es auch nicht, dass die Bundesregierung weder
eine Evaluierung ihrer nationalen Strategie noch die Zu-
weisung von Haushaltsmitteln plant.

Nun sollte es, glaube ich, jeder verstanden haben:
Die Bundesregierung hat kein Interesse an der Romabe-
völkerung und ihrer Lebenssituation bei uns in Deutsch-
land. Das lässt nur zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)


will sie sich mit dem Thema nicht beschäftigen und hofft,
dass die ungeliebte Bevölkerungsgruppe nicht hier
bleibt bzw. bald abgeschoben werden kann. Oder sie ist
der Meinung, die Romabevölkerung lebe glücklich, su-
perintegriert und völlig diskriminierungsfrei in Deutsch-
land. Und weil Nichtwissen für beide der oben angeführ-
ten Alternativen eine gute Ausrede ist, hat die
Bundesregierung es nicht für nötig befunden, Daten zu
erheben, um die Lage der Roma in Deutschland zu erfas-
sen. Dies geht aus den Antworten der Bundesregierung
auf die Große Anfrage, die die Grundlage für den heuti-
gen Antrag der Grünen war, sehr klar hervor. Es gibt
keinerlei statistische Angaben über die Lebenssituation
der Roma. Ohne diese grundlegende Basis ist es natür-
lich schwer, zum Beispiel die Schwerpunkte der nötigen
Fördermaßnahmen festzulegen. Das muss man schon
verstehen.

Dabei gibt es Probleme zuhauf. Da geht es nicht nur
um materielle Not der Romabevölkerung, sondern auch
um den um sich greifenden Antiziganismus. Die SPD-
Fraktion hat in ihrem Antrag im letzten Jahr deutlich auf
die Hauptprobleme der Romabevölkerung in Deutsch-
land und Europa hingewiesen und die Bundesregierung
schon damals dazu aufgefordert, die Romabevölkerung
zu schützen, zu unterstützen und zu stärken. Die Pro-
bleme sind offensichtlich. Aber anscheinend ist die Bun-
desregierung auf diesem Auge blind. Dabei muss man
nur einmal in die Presse oder auf die Geschehnisse der
vergangenen Monate blicken. Rufen wir uns die Ermitt-
lungen im Fall der ermordeten Heilbronner Polizistin in
Erinnerung. Die Polizei hatte Sinti und Roma unter Ver-
dacht, weil Angehörige dieser Volksgruppe in der Nähe
des Tatorts gesehen worden waren. Dass aber die Me-
dien den falschen Verdacht sozusagen eigenverantwort-
lich in die Welt gesetzt haben, wie zunächst behauptet
wurde, stimmt nicht. „Die heißeste Spur führe ins Zigeu-
nermilieu“, so zitierte etwa der „Stern“ damals einen
anonymen Ermittler. Auch eine Heilbronner Staatsan-
wältin äußerte sich ähnlich. Zahlreiche Sinti und Roma
wurden im Rahmen der Ermittlungen befragt. In einzel-
nen Fällen wurden sogar Telefone überwacht, Mikro-
fone in Autos eingebaut und Handyfunkzellen ausgewer-
tet. Wir wissen heute: Für den Mord ist die NSU
verantwortlich. Ein deutlicher Fall von Antiziganismus.
Den gibt es aber nicht nur in dieser eher subtilen Form.
Er existiert auch in einer aggressiven Variante wie beim
Cover der Schweizer Zeitung „Die Weltwoche“ Anfang
April: „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“
titelte das Blatt. Abgebildet war ein kleiner Junge mit
dunkler Haut, dunklen Augen, dunklen Haaren und einer
Pistole in der Hand, gerichtet auf den Betrachter. Der
Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland hat An-
zeige gegen die Zeitung erstattet. Aber seine Wirkung
hat das Cover bereits gezeigt und ein Ressentiment wei-
ter angetrieben, das auch in der deutschen Bevölkerung
immer noch vorhanden ist. Das Allensbacher-Institut
analysierte, dass 68 Prozent aller Deutschen es ableh-
nen, neben einer Zigeunerfamilie zu wohnen. Trotz Zi-
geunerbraten, Zigeunersoße und Zigeunerbaron! Und
wird irgendwo ein Fahrrad geklaut, war’s bestimmt die
Romafamilie im Hinterhaus.

Abschließend möchte ich noch einige Worte zum
Denkmal verlieren. Der hier diskutierte Antrag fordert
die Bundesregierung dazu auf, sich dafür einzusetzen,
den Bau zügig abzuschließen. Dies unterstützen wir
nachhaltig. Der heutige Antiziganismus hat seine Wur-
zeln auch in der deutschen Geschichte des vergangenen
Jahrhunderts. Das Schicksal der Sinti und Roma ist un-
trennbar mit den Erfahrungen im Dritten Reich verbun-
den. Lange hat die Bundesrepublik gebraucht, bis sie
den Sinti und Roma das zugestand, was für die Juden
von Anfang an galt: nämlich, dass sie während der NS-
Zeit aufgrund ihrer Rasse verfolgt wurden. Erst 1982
sprach Helmut Schmidt ihnen den Opferstatus zu. Im
Herbst nun soll das daran erinnernde Denkmal endlich
fertiggestellt werden. Hoffentlich – fast 60 Jahre nach
Kriegsende.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1718439600

Viele der rund 10 bis 12 Millionen in Europa leben-

den Roma sind tagtäglich mit Vorurteilen, Intoleranz,
Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung konfrontiert.
Sie leben häufig als Randgruppe unter äußerst prekären
sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Dies ist in
der Europäischen Union nicht hinnehmbar. Ein beson-
deres Augenmerk müssen wir dabei auf die Situation der
Roma in Südosteuropa legen, wo sie vor allem in Rumä-
nien, Ungarn und Bulgarien leben. Die Lebenssituation
der Angehörigen dieser ethnischen Minderheit stellt sich
auch in manchen Regionen des westlichen Balkans pro-
blematisch dar. Aber auch in Deutschland werden Roma
diskriminiert. Nach einer Umfrage des Zentralrats
Deutscher Sinti und Roma haben 76 Prozent der Roma
in Deutschland Diskriminierung erfahren, beispiels-
weise bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der
Schule und bei der Ausbildung. Dabei findet Diskrimi-
nierung nicht auf Grundlage staatlicher Rechtsordnun-
gen statt, sondern geschieht im gesellschaftlichen All-
tag. Sie führt zu sozialer, kultureller und wirtschaftlicher
Ausgrenzung und Stigmatisierung. Roma sind europa-
weit in öffentlichen oder politischen Ämtern unterreprä-
sentiert. Zum Teil sind sie mit offener, fremdenfeindli-
cher Gewalt konfrontiert.

Der FDP-Fraktion ist außerdem daran gelegen, auf
ein Problem hinzuweisen, mit dem Angehörige der Roma
besonders konfrontiert werden: Überdurchschnittlich
häufig werden sie Opfer von Menschenhandel. So sind in
einigen EU-Staaten bis zu 80 Prozent der Opfer von
Menschenhandel Roma. Besonders betroffen sind sie da-
bei von verschiedenen Formen sexueller Ausbeutung
und Zwangsarbeit. Die Ursache hierfür ist häufig in der
Armut dieser Bevölkerungsgruppe zu finden, gepaart
mit Perspektivlosigkeit und einem eingeschränkten Zu-
gang zu rechtsstaatlichen Mitteln. In unserem Koali-
tionsantrag zur Situation der Roma in der EU haben wir
daher die Bundesregierung aufgefordert, auch in Zu-
kunft bei der Bekämpfung des Menschenhandels ver-
stärkt auf die Situation der Roma zu achten.

Die FDP-Fraktion begrüßt, dass die christlich-libe-
rale Bundesregierung die EU-Vorgaben zur Integration
der Roma in Deutschland bereits umsetzt und dabei
auch die besondere historische Verantwortung gegen-

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


über den Roma berücksichtigt. Auch europaweit enga-
giert sich die Bundesregierung für die Verbesserung ih-
rer Situation. Dabei setzt die Bundesregierung den
Schwerpunkt ihres Engagements bewusst auf einen mul-
tilateralen Ansatz im Rahmen der europäischen Institu-
tionen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass nur
mittels gemeinsamer Anstrengungen der europäischen
Länder eine effektive Integrationsförderung für die
Roma gelingen kann. An dieser Stelle möchte ich die
Bundesregierung auffordern, weiter an diesem vielver-
sprechenden Ansatz festzuhalten.

In den Ländern des westlichen Balkans fördert
Deutschland aktiv sowohl in internationalen Foren wie
der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa und des Europarates als auch durch verschie-
dene bilaterale Projekte die Integration der Roma. So
förderte das Auswärtige Amt in den letzten Jahren zahl-
reiche Projekte zur Unterstützung der Roma im Rahmen
des Stabilitätspaktes sowie im Rahmen seiner Men-
schenrechtsprojektfinanzierung. Das Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
unterstützt seit 2007 den Roma Education Fund, REF,
der von der Weltbank gemanagt wird und dessen Auf-
gabe die Verbesserung des Bildungsniveaus der Sinti
und Roma auf dem gesamten Balkan ist. Deutschland ist
einer der größten bilateralen Geber des Fonds.

Im Hinblick auf Ihren Entschließungsantrag, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, möchte ich Ihnen
in einem speziellen Punkt vehement wiedersprechen. Auf
Seite 2 unterstellen Sie der Bundesregierung, die Tatsa-
che, dass die ethnische Zugehörigkeit kein statistisches
Erhebungskriterium sei, diene nur dem Bestreiten der
offensichtlichen Missstände, was die Arbeitsmarkt-, Bil-
dungs-, Gesundheits- und Wohnraumsituation der Roma
in Deutschland angeht. Allerdings ist zu betonen, dass
die Bundesregierung bei ihren Maßnahmen zur Förde-
rung der sozialen und gesellschaftlichen Integration
grundsätzlich nicht nach ethnischen Abstammungen un-
terscheidet. Fördermaßnahmen stehen allen Zuwande-
rergruppen offen, sofern diese sich rechtmäßig und auf
Dauer in Deutschland aufhalten. Es steht zu befürchten,
dass die Erhebung der ethnischen Zugehörigkeit eine
Diskriminierung anhand dieses Merkmals fördern
würde. Daher halte ich diesen Grundsatz für richtig und
möchte diesen Vorwurf zurückweisen.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718439700

Im Europäischen Parlament wie im Europarat findet

eine intensive Diskussion über die Diskriminierung von
Roma statt. Leider haben diese Diskussionen zu kaum
einer Veränderung der sozialen und ökonomischen Situa-
tion der Roma geführt.

In Europa leben 10 bis 12 Millionen Sinti und Roma.
Viele von ihnen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung
betroffen. In seiner Erklärung von 20. Oktober 2010 hat
der Europarat eine grundsätzliche Verbesserung der Le-
bensbedingungen für die Roma gefordert und einen Prio-
ritätenkatalog zur Bekämpfung der Diskriminierung von
Roma aufgestellt. Mit dem Sonderbeauftragten des Euro-
parates zu Fragen der Roma wird auch institutionell ver-

sucht, der alltäglichen Diskriminierung der Roma ent-
gegenzutreten.

In der nächsten Sitzungswoche wird der Europarat
voraussichtlich einen Bericht über Roma in Europa ver-
abschieden. Ich bin die zuständige Berichterstatterin
und bemühe mich, einen möglichst breiten Konsens für
eine klare Positionierung des Europarats gegen Antiziga-
nismus zu erreichen.

Von der Antwort der Bundesregierung auf die große
Anfrage zur Situation von Roma bin ich enttäuscht. Sie
zeigt, dass die Bundesregierung keine kohärente Strate-
gie zur Verbesserung der Lage der Roma für Deutsch-
land und die Länder der EU hat.

Roma werden in allen Ländern der EU diskriminiert.
Auch in Deutschland stellt sich die Lage der Roma pro-
blematisch dar. Die Umfrage des Zentralrates Deut-
scher Sinti und Roma zeigt, dass in Deutschland 76 Pro-
zent der Sinti und Roma Diskriminierung erfahren und
bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule
oder in der Ausbildung Benachteiligungen gegenüber
der Mehrheitsgesellschaft hinnehmen müssen. In der
Studie des Europäischen Parlaments „Measures to pro-
mote the situation of Roma EU citizens in the European
Union“ wird darauf hingewiesen, dass in Deutschland
die Lage für Roma in Bezug auf Schul- und Ausbildungs-
abschlüsse äußerst problematisch ist.

Beispiel Duisburg-Hochfeld: Hier leben Menschen
aus 100 Nationen, davon 1 700 Bulgaren, die zum größ-
ten Teil Roma sind. In den regionalen Medien werden
die Roma vor allem als Problem dargestellt. Mit Über-
schriften wie „Ein Stadtteil bekämpft den Absturz“ oder
„Stadt Duisburg scheint Roma-Problem in Hochfeld nicht
in den Griff zu bekommen“ werden soziale Probleme ein-
seitig auf die Bevölkerungsgruppe der Roma übertragen.
Dabei wird in den Artikeln von Schwarzarbeit, Prostitu-
tion, Kriminalität und unwürdigen Wohnverhältnissen
berichtet, jedoch die Ursachen für diese Phänomene
nicht benannt. Vielmehr werden die Roma mit diesen
Verhältnissen als Verursacher in Verbindung gebracht.

Die Roma leben häufig unter schwierigen Bedingun-
gen. Wohnungen sind verschimmelt, die Heizung funktio-
niert nicht oder es gibt kein Bad. Trotzdem werden diese
Wohnungen für völlig überteuerte Mieten an Roma ver-
mietet, die diese Wohnungen annehmen müssen, da sie
keine anderen Wohnungen bekommen. Hier muss die
Politik endlich handeln. Die Fraktion Die Linke erwar-
tet, dass eine nationale Romastrategie erarbeitet wird,
die konkrete Wege zur Beseitigung der Diskriminierun-
gen aufzeigt.

Beispiel Italien: Nach Schätzung des italienischen In-
nenministeriums leben etwa 170 000 Roma in Italien.
Das sind 0,2 Prozent der Bevölkerung. In einen Teil der
italienischen Medien werden die Roma als Problem für
Italien diffamiert. Von den Roma in Italien besitzen mehr
als 50 Prozent die italienische Staatsbürgerschaft. Die
anderen Roma kommen überwiegend aus Rumänien,
Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien.

Roma haben auch in Italien keinen Status als aner-
kannte nationale Minderheit. Meinungsumfragen in Ita-

Zu Protokoll gegebene Reden





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)


lien zeigen, dass Roma bei vielen mit einer negativen As-
soziation verbunden werden. In fast allen italienischen
Städten werden Roma an den Rand gedrängt. Nach Aus-
sagen des Menschenrechtsausschusses des italienischen
Senats wohnen sie überwiegend in Camps und müssen
dort unter unmenschlichen Bedingungen leben. Über
40 Prozent der Roma in den Camps haben keinerlei
Schulausbildung. Viele dieser Lager sind ohne Müllent-
sorgung, Strom- oder Wasserversorgung. Die Lager sind
häufig ohne Genehmigung entstanden und liegen an den
Rändern der großen italienischen Städte, werden aber
von den kommunalen Behörden zum Teil seit 20 Jahren
geduldet.

Seit 2011 werden in Rom die Lager geschlossen und
die dort lebenden Roma umgesiedelt. Amnesty Internatio-
nal kritisiert, dass auch die neuen Unterkünfte nicht ak-
zeptabel sind, da sie zum Teil überbelegt sind und
gleichzeitig die Bewohnerinnen und Bewohner über-
wacht werden. Amnesty fordert, dass Menschen aus der
Romagemeinschaft durch eine solche Maßnahme nicht
stigmatisiert und generell als Kriminelle dargestellt
werden dürfen.

Beispiel Tschechische Republik: In der Tschechischen
Republik wird offen Hetze gegen Roma betrieben. Im
„Schluckenauer Zipfel“ finden seit mehr als einem Jahr
antiziganistische Demonstrationen gegen die dort le-
benden Roma statt. Mit Sprechchören wie „Zigeuner ins
Gas“ werden die Roma offen beleidigt und rassistisch
beschimpft.

Die bestehende Bildungssegregation, bei der Roma-
kinder in Lernbehindertenschulen abgeschoben werden,
wurde bereits 2006 vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte gerügt und die Tschechische Republik
aufgefordert, diese Ausgrenzung der Romakinder zu be-
enden.

In einer Untersuchung behauptete das tschechische
Bildungsministerium, dass 75 Prozent aller Romakinder,
die in eine solche Schule gehen, eine Lernbehinderung
aufweisen. Diese Untersuchung wurde von Menschen-
rechtsorganisationen scharf gerügt, da diese Behaup-
tung falsch ist. Vielmehr brauchen viele der Kinder nur
eine zusätzliche Förderung zur Verbesserung ihrer
Sprach- oder Lesekompetenz, die eine Folge der gesell-
schaftlichen Ausgrenzung ist. Durch den Einsatz von
speziell geschulten Lehrkräften wäre die Integration der
Romakinder sofort möglich. Der tschechische Staat hat
jedoch bisher lediglich 250 solcher Lehrerstellen ge-
schaffen. Auch die bestehenden Vorurteile in der tsche-
chischen Mehrheitsbevölkerung, die keinen gemeinsa-
men Unterricht mit Romakindern wollen, führt dazu,
dass sich das Bildungsministerium hier zurückhaltend
verhält.

Einige Anmerkungen zu den beiden Anträgen von
Bündnis 90/Die Grünen: Kritisch anzumerken ist, dass
pauschal eine „Verbesserung der Bildungssituation“
verlangt wird und „Integrationsmaßnahmen“ gefordert
werden. Sinti- und Romaorganisationen legen aber gro-
ßen Wert darauf, dass Sinti und Roma in Deutschland
und den anderen europäischen Ländern nicht integriert
werden müssen, da sie bereits seit Jahrhunderten Teil

dieser Gesellschaften sind. Staatliche Bemühungen
müssten sich vielmehr auf eine Beendigung der vielfäl-
tigen Diskriminierungen konzentrieren und nicht die In-
tegration von Roma fordern.

Positiv ist die Forderung nach einem sofortigen Stopp
der Abschiebungen von Roma in den Kosovo. Die Linke
setzt sich seit langem für einen Stopp der Abschiebungen
und ein großzügiges Bleiberecht für Roma aus dem Ko-
sovo ein. Die Betroffenen brauchen einen sicheren und
dauerhaften Aufenthaltsstatus und keine weiteren Ket-
tenduldungen bis auf Widerruf.

Den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen können
wir zustimmen, auch wenn wir uns noch klarere Forde-
rungen gewünscht hätten.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718439800

Die Lebensbedingungen der Sinti und Roma sind in

vielen Ländern Europas nach wie vor von Diskriminie-
rung, sozialer Benachteiligung und Antiziganismus ge-
kennzeichnet. Sie sind auch in Deutschland eine an den
Rand gedrängte Minderheit. Die Bundesregierung und
andere Akteure zeigen aber gerne mit dem Finger auf
andere Staaten – auf Rumänien, Ungarn oder Bulgarien –
anstatt erst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren.

Sinti und Roma sind in Deutschland von Diskriminie-
rungen nicht ausgenommen. Nach einer Umfrage des
Zentralrates Deutscher Sinti und Roma haben 76 Pro-
zent dieser Minderheit in Deutschland Diskriminierung
erfahren. Die am 24. Mai 2011 veröffentlichte Studie von
Daniel Strauß weist auf die besorgniserregende Bil-
dungssituation von Roma und Sinti in Deutschland hin.
Nur 2,3 Prozent der Befragten haben in Deutschland ein
Gymnasium besucht. In der Gesamtbevölkerung sind es
24,4 Prozent. Es ist schockierend, dass 44 Prozent der
Befragten keinerlei Schulabschluss besitzen. Das Men-
schenrecht auf Bildung für Sinti und Roma wird in
Deutschland verletzt.

Gesellschaftliche Ausgrenzung besteht auch in den
Bereichen Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge und
Wohnraum. Dennoch finden die Menschenrechte der
Roma und Sinti, insbesondere das Diskriminierungsver-
bot, nicht die notwendige Aufmerksamkeit – weder auf
politischer noch auf wirtschaftlicher, sozialer und ge-
sellschaftlicher Ebene. Ein positives Beispiel ist die erst
kürzlich eröffnete Beratungsstelle in Berlin-Neukölln.
Hier werden überwiegend aus Rumänien stammenden
Mietern Sprachkurse angeboten und beim Kontakt mit
Behörden geholfen. Leider ist es ein in Deutschland ein-
maliges Projekt. Dabei bräuchten wir in Deutschland
viel mehr solcher Initiativen.

Die Bundesregierung beabsichtig zwar, integrierte
Pakete mit politischen Maßnahmen auszuarbeiten, sie
sieht jedoch keinen Bedarf für besondere Integrations-
maßnahmen. Diese Position steht im krassen Wider-
spruch zu den bestehenden Defiziten und Diskriminie-
rungen in Deutschland und den Empfehlungen des
Europäischen Rates. Die Bundesregierung ist auch auf-
grund ihrer besonderen historischen Verantwortung ge-
genüber dieser Minderheit aufgefordert, eine nationale

Zu Protokoll gegebene Reden





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)


Romastrategie mit zugeschnittenen Integrationsmaß-
nahmen für Roma und Sinti auszuarbeiten.

Gleichzeitig darf die Bundesregierung keine Roma
mehr in den Kosovo abschieben. Rückführungen in den
Kosovo sind unverantwortlich, da Roma dort keinerlei
Lebensperspektiven und Lebensgrundlagen finden. Den-
noch hat die Bundesregierung am 12. April 2010 ein
Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo abgeschlossen.
Dabei ist eine Eingliederung von Minderheiten in den
Kosovo gar nicht möglich, weil es praktisch nichts gibt,
in das die Rückkehrer eingegliedert und integriert wer-
den können. 90 Prozent der Roma im Kosovo sind ar-
beitslos und können sich keine Existenz aufbauen. Die
kosovarischen Behörden haben schlichtweg nicht die
Kapazitäten 12 000 Angehörige von Minderheiten auf-
zunehmen und erfolgreich zu integrieren.

Besonders schwierig ist die Lage von rückgeführten
Kindern im Kosovo. Die Bundesregierung bestätigt mit
ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage erneut, dass es
menschenrechtlich nicht vertretbar ist, Roma in den
Kosovo abzuschieben. Fast 5 000 Kinder sind von den
durchgeführten oder geplanten Abschiebungen in den
Kosovo betroffen. Zwei Drittel von ihnen sind hier in
Deutschland geboren. Für sie bedeutet die Rückführung
in den Kosovo eine Abschiebung ins Elend und in die
Fremde. 37 Prozent von ihnen leben mit ihren Familien
in extremer Armut am Rande der Gesellschaft. UNICEF
hat 2010 und 2011 in Untersuchungen dokumentiert,
dass 75 Prozent der aus Deutschland abgeschobenen
Kinder im Kosovo nicht mehr zur Schule gehen. Die
Bundesregierung hat bis heute keine Konsequenzen aus
dieser unvertretbaren Situation gezogen und schiebt
weiterhin Kinder in den Kosovo ab.

Die neueste UNICEF-Studie „Stilles Leid“ von März
2012 zeigt ein erschreckendes Ausmaß psychosozialer
und gesundheitlicher Probleme, denen abgeschobene
Kinder ausgesetzt sind. Die Heranwachsenden beschrei-
ben die Abschiebungen als traumatisches Erlebnis, dass
sie nicht loslässt. Jedes zweite Kind beschreibt seine
Rückkehr in den Kosovo als das schlimmste Erlebnis
seines Lebens. Rund 44 Prozent aller Jugendlichen ha-
ben laut der UNICEF-Studie Depressionen. Fast ein
Drittel der Minderjährigen leidet unter posttraumati-
schen Belastungsstörungen. Ein Fünftel empfindet sein
Leben als nicht mehr lebenswert. Diese Kinder brau-
chen medizinische und therapeutische Hilfe. Doch im
Kosovo kommen auf 600 000 Kinder und Jugendliche
gerade einmal sechs ausgebildete Kinderpsychiater und
ein Kinderpsychologe.

Die Verantwortung Deutschlands für diese Kinder
endet nicht an der Grenze. Kein Kind darf zurückgeführt
werden, wenn es gesundheitlich Schaden nimmt, keine
Lebensperspektiven und Entwicklungschancen hat.
Flüchtlingskinder und Kinder von Migranten sind in
erster Linie Kinder und müssen auch so behandelt wer-
den. Die UN-Kinderrechtskonvention fordert, das Wohl
des Kindes in allen Belangen in den Mittelpunkt zu stel-
len. Die Praxis der Bundesregierung, Kinder in den
Kosovo abzuschieben, bezeugt jedoch das Gegenteil.
Das menschenrechtliche Prinzip der vorrangigen Ach-

tung des Kindeswohls wird mit der Abschiebung in den
Kosovo verletzt. Im Kosovo haben zurückgeführte Kin-
der keinerlei Chancen auf ein menschenwürdiges Leben
und eine normale Entwicklung.

Wir Grüne haben deshalb drei zentrale Forderungen,
erstens, keine minderjährigen Roma mehr in den Kosovo
abzuschieben. Zweitens sind bei allen Entscheidungen
über Abschiebungen, von denen Kinder betroffen sind,
das Wohl des Kindes und seine Gesundheit in den Mittel-
punkt zu stellen. Drittens muss bei Entscheidungen über
Aufenthaltserlaubnisse für langjährig Geduldete das
Kindeswohl der ausschlaggebende Faktor sein. Kinder
und Jugendliche aus dem Kosovo, die seit Jahren in
Deutschland leben, sollten ein dauerhaftes Bleiberecht
erhalten.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718439900

Wir kommen zur Abstimmung.

Tagesordnungspunkt 42 a. Der Ausschuss für Men-
schenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9915 die Ab-
lehnung des Entschließungsantrags auf Drucksache
17/8868. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Die Oppositionsfraktionen waren gemeinsam dagegen.

Tagesordnungspunkt 42 b. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/9723 die Ablehnung des Entschließungsan-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/8869. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen. Die SPD hat sich enthal-
ten, Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen,
CDU/CSU und FDP dafür.


(Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE] begibt sich zum Präsidium)


Es gibt die Bitte zu mehr Konzentration und aktivem
Abstimmungsverhalten. Diese Bitte gebe ich weiter.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 44 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Ehrlicher Dialog über europäische Grund-
werte und Grundrechte in Ungarn

– Drucksachen 17/9032, 17/10004 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Holmeier
Michael Roth (Heringen)

Joachim Spatz
Thomas Nord
Manuel Sarrazin

Die Reden sind zu Protokoll genommen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1718440000

Die ungarischen Mediengesetze haben unerwartet

große internationale Aufmerksamkeit erregt. Zahlreiche
politische Kritiken wurden in Europa und auch weltweit
veröffentlicht. Wie kommt es, dass zwei ungarische Me-
diengesetze so heftige Kontroversen auslösten?

Es ist fast augenscheinlich, dass diese heftigen Re-
aktionen nicht allein in dem ungarischen Medienrecht
begründet sein können. Es liegt geradezu auf der Hand,
dass die neuen Mediengesetze eine günstige Gelegenheit
boten, der neuen ungarischen Regierung auf internatio-
naler Ebene ihre Grenzen zu zeigen. Das ungarische
Mediengesetz war ein sehr willkommener Anlass, Orban
als neuen ungarischen Ministerpräsidenten zu diskredi-
tieren. Sicherlich war es mehr als ungeschickt, das Ge-
setz ausgerechnet zu Beginn der ungarischen EU-Rats-
präsidentschaft in Kraft treten zu lassen. Damit war ein
unglücklicher Start vorprogrammiert.

Warner aus dem Westen waren sich früh einig, dass
die Pressefreiheit in Ungarn mit dem neuen Medienge-
setz ausgehebelt worden sei. Dabei kannte kaum einer
von ihnen die ungarischen Medienerzeugnisse ein-
schließlich Internet in deren unsäglicher Bandbreite von
Antisemitismus bis Pornografie. Über Jahre haben sich
angesehene ungarische Intellektuelle wie der Nobel-
preisträger Imre Kertesz im Lande wie im Westen da-
rüber beklagt, welche Ungeheuerlichkeiten in Ungarn
publiziert werden konnten. Und nun sollte es von vorn-
herein verwerflich sein, dagegen gesetzliche Mittel auf-
zubauen?

Darüber hinaus war die Reformbedürftigkeit bei-
spielsweise des ungarischen Rundfunkgesetzes von 1996
unbestritten. Dieses Gesetz konnte den technischen und
wirtschaftlichen Entwicklungen nicht folgen. Im Gegen-
teil, es wurde zum größten Hindernis für diejenigen, die
von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machen woll-
ten.

Die Mediengesetze wurden unter Beschuss genom-
men, bevor sie überhaupt in einem zitierfähigen Entwurf
vorlagen. Ich will Ihnen an dieser Stelle in Erinnerung
rufen, dass die erste Beratung des Antrags der Fraktio-
nen SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum ungarischen
Mediengesetz am 20. Januar 2011 hier im Plenum des
Deutschen Bundestages erfolgte. Es ist schon unüblich
und irritierend, wenn andere nationale Parlamente die
Gesetze eines Mitgliedstaates der Europäischen Union
diskutieren und bewerten, bevor eine zertifizierte Über-
setzung des Gesetzes vorlag und bevor die Europäische
Kommission eine Stellungnahme abgegeben hat.

Bereits Ende März 2011 wurden dann die von der zu-
ständigen EU-Kommissarin Neelie Kroes kritisierten
Regelungen von der ungarischen Regierung umgesetzt.
Das Mediengesetz wurde nach ganz wenigen, überwie-
gend technischen Korrekturwünschen seitens der EU-
Kommission angepasst. Viele kritisierte Bestandteile des
Gesetzes haben sich übrigens in der Praxis als unpro-
blematisch entpuppt. Erlauben Sie mir hier, nur ein Bei-
spiel zu nennen: Das Gebot der Ausgewogenheit der Be-
richterstattung schlägt gelegentlich auch auf die Regie-
rungspartei zurück. So wurde das öffentlich-rechtliche

Fernsehen im Juni 2011 von der Medienaufsicht mit
Geldbußen sanktioniert, weil dort die Meinung der Par-
tei zu stark zur Geltung gekommen ist.

Meine sehr verehrten Kollegen von der SPD und den
Grünen, Sie machen in Ihrem aktuellen Antrag Ihre
Sorge um die Medienfreiheit in Ungarn auch am Bei-
spiel des Verlusts der Sendelizenz des Klubradios fest.
Erlauben Sie mir hierzu einige klärende Worte.

Dem Radio ist keine Lizenz entzogen worden. Es hat
nach dem Auslaufen seiner früheren Lizenz am 7. Fe-
bruar in einem rechtlich nicht zu beanstandenden
Verfahren nicht erneut die Lizenz erhalten können. Klub-
radio unterlag im Bieterverfahren, bei dem es sich be-
merkenswert stark zurückhielt. Vielleicht hat es sich ja
bewusst in diese Lage gebracht, um sich als Opfer der
Medienpolitik der Regierung Orban vor allem im Aus-
land zu präsentieren. Es wurde dennoch nichts abge-
schaltet vom viel gescholtenen Medienrat, auch wenn
die Eigner des Klubradios in Brüssel das Gegenteil ver-
kündeten. Es gab sogar eine provisorische Verlänge-
rung. Dennoch verkündete man über exakt diese Fre-
quenz, man sei abgeschaltet.

Übrigens haben sich die Eigner des Klubradios ge-
richtlich zur Wehr gesetzt, um das Bieterverfahren, das
wegen weniger Euro zu Ihren Ungunsten verlaufen war,
zu kippen. Das ist vor einigen Wochen gelungen. Ent-
scheidung aus formalen Gründen. Das Verfahren muss
neu entschieden werden, was selbstverständlich ge-
schieht. Die Gerichte urteilen fair und sachgerecht und
sind offenbar keineswegs von der Regierung beauftragt,
was gerne von Kritikern unterstellt wird.

Lassen Sie mich ein weiteres, bekannteres Beispiel in
diesem Zusammenhang nennen. Am 19. Dezember 2011
hat das ungarische Verfassungsgericht das Medienrecht
in weiten Aspekten wie zum Beispiel dem Informanten-
schutz, für verfassungswidrig erklärt. Diese Entschei-
dung zeigt erneut, dass die Verfassungswirklichkeit in
Ungarn intakt ist. Es zeigt auch, dass dieses Land eigene
Institutionen zur Korrektur seiner Gesetzgebung hat.
Dazu bedarf es nicht der Einmischung und Vorverurtei-
lung durch andere Mitgliedstaaten. Es ist nicht die Auf-
gabe des Deutschen Bundestages, mit erhobenem Finger
einem anderen Mitgliedstaat und dazu einem eng ver-
bundenen Freund zu sagen, wie er mit innenpolitischen
Fragen und Gegebenheiten umzugehen hat. Wir sind
nicht dafür zuständig, die Aufgaben der ungarischen
Opposition wahrzunehmen, auch dann nicht, wenn diese
zersplittert und nicht in der Lage ist, eine wahrnehm-
bare Opposition im ungarischen Parlament zu formie-
ren. Auch darf die Verantwortungsgemeinschaft der
Länder der EU keine vorgeschobene Begründung dafür
sein, sich in die Innenpolitik anderer souveräner Staaten
einzumischen. Da ist doch immer so schön die Rede von
Augenhöhe. Es bringt Europa nicht weiter zusammen,
sondern trennt, wenn nicht endlich Schluss gemacht
wird mit der Verlagerung des innerungarischen Kon-
flikts auf die europäische oder deutsche Ebene. Die un-
garischen Wähler haben bewusst diese Regierung ge-
wählt und die MSZP-Regierung der Misswirtschaft und
Korruption, die sich zwei Legislaturperioden „bewei-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


sen“ konnte, abgewählt. Das sollte jedes europäische
Partnerland respektieren.

Sicherlich muss eine Regierung mit einer gewonne-
nen Mehrheit verantwortungsvoll umgehen. Ich will
auch nicht in Abrede stellen, dass das ungarische Me-
diengesetz Anlass zur Besorgnis gibt. Die Verpflichtung
zur Offenlegung von Quellen und die Besetzung des Me-
dienrats stehen einer kritischen Berichterstattung klar
im Weg. Herr Löning als Beauftragter der Bundesregie-
rung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe
hat diese Kritik auch immer wieder vorgetragen. Die un-
garische Regierung habe von Anfang an versprochen,
die gegen die Verfassung verstoßenden gesetzlichen Re-
gelungen des Mediengesetzes nachzubessern, und das
ist auch vor drei Wochen geschehen. Das ungarische
Parlament hat Ende Mai das Mediengesetz nach Ein-
wänden des Verfassungsgerichts geändert.

Sie sehen selbst: Die Gewaltenteilung in Ungarn
funktioniert gut, und das Land kann selbst eine Korrek-
tur seiner Gesetze vornehmen. Gerade in einer krisenbe-
hafteten und wirtschaftlich turbulenten Zeit ist Ungarn
und die ungarische Regierung auf Freunde und Unter-
stützer in Europa und speziell in Deutschland angewie-
sen. Partner und Freunde werden mehr denn je
gebraucht. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bun-
destag wird ihre helfende Hand Ungarn nicht verweh-
ren.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1718440100

Ich stehe heute hier unter dem bewegenden Eindruck

des Besuchs unserer ungarischen Partner und Freunde,
mit denen wir in den vergangenen zwei Tagen einen sehr
intensiven und offenen Dialog geführt haben. Dieser
Dialog war wirklich ehrlich, meine verehrten Opposi-
tionskollegen, und nicht nur scheinbar, wie Sie ihn mit
ihrem vorliegenden Antrag vorzuspielen versuchen. Ich
bin deshalb bewegt, weil ich in den Gesprächen gesehen
habe, welche Spuren die inzwischen völlig aus dem Ru-
der gelaufene politische Kampagne der deutschen Op-
position gegen Ungarn hinterlassen hat. Jetzt werden
Sie mir gleich wieder entgegenhalten, dass Sie keine
Kampagne gegen Ungarn führen, sondern lediglich
sachliche Kritik an der Regierung üben. Genau das tun
Sie aber eben nicht. Sie gehen weit über sachliche Kritik
hinaus. Sie klagen an und verurteilen zugleich. Sie ope-
rieren mit Falschdarstellungen, Halbwahrheiten und
Andeutungen. Sie behaupten eine schwerwiegende Ver-
letzung von Grundwerten der EU und verweisen auf
Art. 7 des EU-Vertrages. Um das hier einmal klarzustel-
len: Sie behaupten damit, Ungarn missachtet Werte wie
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,
Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschen-
rechte. Sie stellen Ungarn hier auf eine Stufe mit dikta-
torischen Regimen. Das ist nichts anderes als eine Kam-
pagne.

Sie verkennen völlig, dass die ungarische Regierung
von einer großen Mehrheit der ungarischen Menschen
gewählt wurde, und viele dieser Menschen stehen nach
wie vor hinter dieser Regierung. Ihre Kampagne trifft
damit letztlich nicht nur die ungarische Regierung, son-
dern sehr wohl Ungarn und das ungarische Volk. Auch

scheint Ihnen die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit
nicht ganz klar zu sein. Es ist nicht die Aufgabe eines Le-
gislativorgans, Recht zu sprechen und zu verurteilen.
Schon gar nicht hat der Deutsche Bundestag als Legis-
lativorgan für Deutschland darüber zu befinden, ob die
Gesetze anderer Länder gegen höherrangiges Recht
verstoßen. Hierfür sind Gerichte zuständig – entweder
nationale oder aber für die EU der Europäische Ge-
richtshof in Luxemburg sowie für den Europarat und die
Einhaltung der Rechte der Europäischen Menschen-
rechtskonvention der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte in Straßburg.

Ich habe an dieser Stelle schon einmal auf ein Zitat
unserer Bundeskanzlerin verwiesen, die gesagt hat:
„Die Ungarn haben dem Freiheitsgedanken der Deut-
schen Flügel verliehen“. Ich kann das nur noch einmal
wiederholen. Ungarn war immer ein freiheitsliebendes
Volk, und wir Deutsche haben den Ungarn aufgrund die-
ser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken. Ohne das Ver-
trauen der ungarischen Freunde in die Freiheit wäre die
deutsche Einheit sicher nicht möglich gewesen. Deutsch-
land ist Ungarn daher in ganz besonderer Weise verbun-
den. Das scheinen einige völlig vergessen zu haben,
wenn sie Ungarn vorwerfen, elementare Grundwerte ei-
ner freiheitlichen Gesellschaft zu missachten. Und damit
möchte ich gern an meinen eingangs angesprochenen
Eindruck von den gemeinsamen Gesprächen mit unseren
ungarischen Partnern anknüpfen. Die Verbundenheit mit
Ungarn hat unter den Anfeindungen der Opposition, un-
ter dem Vorwurf einer schwerwiegenden Missachtung
elementarer Grundwerte wie Freiheit, Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, enorm gelitten.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten mehrfach
dazu aufgerufen, den Weg zur Sachlichkeit zurückzufin-
den, um genau das zu vermeiden. Leider waren meine
Aufrufe vergeblich. Sie stoßen unsere ungarischen
Freunde mit Ihren Anschuldigungen und Vorverurteilun-
gen vor den Kopf und nennen das dann konstruktive Kri-
tik. Ich sage Ihnen, diese Form von Dialog kann nicht
funktionieren und ist von Beginn an zum Scheitern ver-
urteilt. Das ist auch der Grund, weshalb wir keinen ein-
heitlichen Nenner für einen gemeinsamen Antrag gefun-
den haben.

Die Ungarn fühlen sich zu Recht massiv persönlich
angegriffen. In den gemeinsamen Gesprächen ist es in-
zwischen kaum mehr möglich, über gemeinsame Pro-
jekte oder politische Herausforderungen zu reden, die
gemeinsam angegangen werden könnten. Stattdessen
sind sie infolge der Vorwürfe der Opposition fortwäh-
rend dabei, sich zu rechtfertigen, Halbwahrheiten aufzu-
klären, Falschdarstellungen zu korrigieren und sich ge-
gen die pauschalen Vorverurteilungen zu verteidigen.
Sie beklagen auch, dass ein echter Dialog mit der deut-
schen Opposition de facto nicht stattfindet, auch wenn
dieser öffentlich immer behauptet wird. Kurzum, es ist
ein Trauerspiel, was hier vonseiten der Opposition ab-
geliefert wird.

So, wie Sie mit Ungarn umgehen, wurde bislang noch
kein europäisches Land behandelt – noch nicht einmal
Österreich, als die Freiheitliche Partei von Jörg Haider
in die dortige Regierung getreten ist. Sie haben aus den

Zu Protokoll gegebene Reden





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)


damaligen Fehlern im Umgang mit Österreich offenbar
nichts gelernt, sondern satteln vielmehr noch eins oben
drauf.

Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal die
Gelegenheit nutzen, das Bild ein wenig geradezurücken.
Ja, in Ungarn regiert nach der Wahl 2010 eine Zweidrit-
telmehrheit. Mit dieser Mehrheit nimmt Ministerpräsi-
dent Viktor Orban nach jahrelangem Reformstau einen
dringend notwendigen und tiefgreifenden Umbau des
Landes mit strukturellen Reformen in der Arbeitsmarkt-,
Steuer-, Sozial- und Bildungspolitik vor. Sicher stoßen
die zahlreichen Reformen und die zügige Umsetzung bei
dem ein oder anderen auf Kritik, und sicher hat Ungarn
dabei auch Fehler gemacht. Alle jene, die sich die Kritik
zueigen machen, müssen aber doch auch zur Kenntnis
nehmen und anerkennen, dass Ungarn stets umgehend
auf alle rechtlichen Bedenken reagiert hat. Das gilt für
die Kritik der EU-Kommission am Mediengesetz ge-
nauso wie die Kritik an der Justizreform, am Notenbank-
gesetz und beim Datenschutz. Das gilt aber auch für die
Kritik der Venedig-Kommission an der Verfassung.

Beginnen wir beim Mediengesetz: Hier gehört es zu-
nächst zur richtigen Darstellung der Fakten, dass das
ungarische Verfassungsgericht selbst wesentliche Teile
des Gesetzes kassiert und damit gezeigt hat, dass das un-
garische Verfassungsgefüge durchaus intakt ist. Die un-
garische Regierung hat hierauf auch zügig reagiert, und
am 4. Juni 2012 hat das Parlament nun eine Änderung
des Gesetzes beschlossen.

Bezüglich der Justizreform, des Notenbankgesetzes
und des Datenschutzes hat die EU-Kommission Vertrags-
verletzungsverfahren eingeleitet. Ungarn ist daraufhin
der Kommission im gegenseitigen Dialog entgegenge-
kommen. Die Zusage zur Änderung des Notenbankgeset-
zes hat die Bedenken der Kommission sogar so weit
ausgeräumt, dass diesbezüglich keine weitere Eskala-
tionsstufe eingeleitet wurde. Am 29. Mai 2012 hat das
ungarische Parlament seine Zusage durch den Beschluss
eines Änderungsantrages zum Notenbankgesetz in die
Tat umgesetzt und damit die Zuverlässigkeit Ungarns in
der Europäischen Union sowie die Ernsthaftigkeit seiner
Bemühungen zu EU-konformer Rechtssetzung unter Be-
weis gestellt.

Offen sind nach wie vor Fragen im Zusammenhang
mit der Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde sowie
der Justizreform, mit denen der Europäische Gerichts-
hof nun befasst ist. Gleichwohl hat Ungarn auch hier
weiterhin Gesprächsbereitschaft signalisiert. Sollte bei
diesen Fragen keine Einigung erzielt werden, wird das
Urteil des Gerichtshofes abzuwarten sein. Für diesen
Fall hat Ungarn bereits heute zugesichert, dieses Urteil
vollumfänglich zu akzeptieren und entsprechend umzu-
setzen.

Zu der Kritik an der ungarischen Verfassung möchte
ich gern auch noch kurz etwas sagen. Zunächst einmal
ist es an der Zeit, die grundsätzliche Ausrichtung der
neuen Verfassung zu loben. Sie weist nämlich zahlreiche
Parallelen zum deutschen Grundgesetz auf. Mit Blick
auf die vielfach angesprochenen Kardinalgesetze, muss
der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass die un-

garische Verfassung solche Gesetze schon seit langem
kennt und bereits vor der Verfassungsänderung Bereiche
nur mit Zweidrittelmehrheit geregelt werden konnten,
die aus deutscher Sicht vielleicht eher einer einfachen
Mehrheit unterliegen sollten. Ungarn hat sich jedoch als
souveräner Staat schon vor 20 Jahren dafür entschie-
den, bestimmte Politikbereiche auf diese Weise zu re-
geln, und das ist zu respektieren. Sollte es dabei tatsäch-
lich einen Widerspruch zu übergeordnetem Recht geben,
wird auch hier ein entsprechendes Urteil der zuständi-
gen Instanzen abzuwarten und dann selbstverständlich
auch von Ungarn zu respektieren sein. Diese Instanz ist
aber mit Sicherheit nicht der Deutsche Bundestag.

Ein letzter Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist
das Defizitverfahren gegen Ungarn. Bekanntlich befin-
det sich Ungarn seit 2004 in diesem Verfahren und die
Vorgängerregierungen in Ungarn hatten seitdem keine
ausreichenden Maßnahmen zur Beseitigung des über-
mäßigen Defizits unternommen. Der Ecofin-Rat hat da-
her am 13. März 2012 beschlossen, einen Teil der unga-
rischen Kohäsionsfondsmittel des Jahres 2013 mit
Wirkung zum 1. Januar 2013 auszusetzen. Die Regie-
rung Orban war es nun, die die entsprechenden Maß-
nahmen zum Abbau des Defizits eingeleitet hat. Darauf-
hin hat die Europäische Kommission am 30. Mai 2012
vorgeschlagen, die geplante Mittelaussetzung wieder
aufzuheben.

Zusammenfassend kann ich also feststellen, dass man
mit Ungarn durchaus offen und ehrlich reden kann, und
ein solcher ehrlicher Dialog im Ergebnis auch zum Ziel
führt. Die Art und Weise, wie die deutsche Opposition in
den vergangenen Monaten mit Ungarn umgegangen ist,
hat hingegen nichts mit einem ehrlichen Dialog und
sachlicher Kritik gemein. Diese Art des Dialogs war
verletzend, diskriminierend und hat im deutsch-ungari-
schen Verhältnis tiefe Spuren hinterlassen. Das hat sich
während des Besuchs der ungarischen Delegation leider
deutlich gezeigt.

Ich habe mich eigentlich von Beginn der Debatte
über Ungarn an dagegen gewehrt, als Anwalt Ungarns
aufzutreten. Denn das können die Ungarn selbst viel
besser. Aber die Kampagne, die die deutsche Opposition
betreibt, zwingt mich dazu, öffentlich klarzustellen, dass
es auch noch andere Meinungen in Deutschland gibt
und Grüne, SPD und Linke nicht für ganz Deutschland
sprechen.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1718440200

Viktor Orban wurde am 29. Mai 2010 zum ungari-

schen Ministerpräsidenten gewählt. Doch nach zwei
Jahren im Amt fällt die Zwischenbilanz seiner national-
konservativen Regierung mehr als mager aus: Finan-
ziell steht Ungarn kurz vor dem Ruin. Die ungarische
Wirtschaft liegt am Boden, das Land steckt in einer
schweren Rezession mit einer hohen Arbeitslosigkeit.
Gesellschaftlich ist Ungarn tief gespalten und politisch
in der Europäischen Union weitgehend isoliert.

Neben einer Reihe von sozial- und wirtschaftspoliti-
schen Fehlentscheidungen der Regierung bereitet uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aber insbe-

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)


sondere der Umgang mit den Grund- und Freiheitsrech-
ten in Ungarn große Sorgen. Seit ihrem Antritt vor zwei
Jahren hat die Fidesz-Regierung mit ihrer Zweidrittel-
mehrheit mehr als 360 Gesetze und eine neue Verfassung
im Eiltempo durchs Parlament gepeitscht. Nicht jedes
einzelne neue Gesetz für sich ist ein Drama, aber im Sog
dieser gewaltigen Gesetzesflut sind elementare demo-
kratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien wegge-
spült worden.

„Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne“, so lautete
bislang die Antwort der ungarischen Regierung auf die
Kritik aus dem In- und Ausland. Als Leitmotiv einer par-
lamentarischen Demokratie taugt dieses Motto jedoch in
keiner Weise. Politik muss sich Zeit nehmen. Eine Zwei-
drittelmehrheit im Parlament bedeutet nicht nur legiti-
mierte Macht, sondern auch eine besondere Verantwor-
tung für eine Regierung. Der grundlegende Umbau der
staatlichen Strukturen in Ungarn mit dem Ziel, einer Re-
gierungspartei langfristig den politischen Einfluss zu si-
chern, widerspricht unserem Verständnis von Demokra-
tie und Rechtsstaatlichkeit. Auch die jüngste Initiative
der Orban-Regierung, die staatliche Parteienfinanzie-
rung wegen der schlechten Haushaltslage für zwei Jahre
komplett zu streichen, fügt sich in dieses Bild. Dahinter
verbirgt sich nicht weniger als der Versuch, die Opposi-
tionsparteien in der weiteren politischen Auseinander-
setzung empfindlich zu schwächen.

In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
und die europäischen Institutionen auf, bei den besorg-
niserregenden Entwicklungen in Ungarn nicht wegzu-
schauen. Bei Themen wie Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit darf das Prinzip der Nichteinmischung in die
inneren Angelegenheiten eines Landes nicht gelten. Im
Gegenteil: Es gibt sogar die Pflicht zur Einmischung,
gerade wenn es um unsere gemeinsamen europäischen
Werte geht. Die EU-Kommission hat – nach langem
Schweigen – mittlerweile durch die Einleitung von Ver-
tragsverletzungsverfahren gegen Ungarn gezeigt, dass
sie gewillt ist, ihre Rolle als Hüterin der europäischen
Verträge und Grundwerte entschlossen wahrzunehmen.
Wir hätten jedoch auch von Orbans konservativen Par-
teifreunden im Rat und im Europäischen Parlament,
also den Mitgliedern der Europäischen Volkspartei, er-
wartet, dass sie ebenfalls deutliche Kritik an den Ent-
wicklungen in Ungarn üben. Auch die Bundeskanzlerin
und der Außenminister haben dazu bisher leider ge-
schwiegen. Eine klare öffentliche Positionierung ist
überfällig.

Das uneinheitliche Vorgehen im Fall Ungarn zeigt
aber auch, dass die Europäische Union beim Umgang
mit Rechtspopulisten noch keine konsequente Strategie
verfolgt. Es ist verheerend, wenn der Eindruck ent-
standen ist, dass in Europa mit zweierlei Maß gemessen
wird. Es darf nicht sein, dass die EU-Partner bei
den großen Mitgliedstaaten – wie bei Italien unter
Berlusconi – beide Augen zudrücken, während die klei-
nen Mitgliedstaaten drangsaliert werden. Die Europäi-
sche Union muss kompromisslos für die Einhaltung der
europäischen Grundwerte eintreten. In dieser Frage
darf es keinerlei Rabatte geben. Für alle Mitgliedstaa-
ten – egal ob groß oder klein, egal ob neu beigetreten

oder Gründungsmitglied – gelten die demokratischen
und rechtsstaatlichen Standards gleichermaßen.


Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1718440300

Die Europäische Union, so wie wir sie sehen und ver-

standen wissen wollen, ist mehr als nur ein loser Zusam-
menschluss unterschiedlicher Nachbarstaaten, die sich
aus Effizienzgründen und wegen wirtschaftlicher Ska-
leneffekte in einer Gemeinschaft zusammenfinden. Für
uns ist die Europäische Union Ausdruck einer Wertege-
meinschaft, die auf einem gemeinsamen Verständnis von
gesellschaftlichen, politischen, rechtsstaatlichen und
ökonomischen Überzeugungen fußt. Jedes Mitglied die-
ser Gemeinschaft, egal ob alt oder neu, klein oder groß,
muss sich an diesen Kriterien messen lassen. Der Bei-
tritt zu dieser Gemeinschaft ist für jeden Staat eine dau-
erhafte Verpflichtung, gewisse Standards einzuhalten.
Gerade in einer Gemeinschaft ist es erlaubt, ja geboten,
im Falle der Nichteinhaltung dieser Standards kritische
Punkte offen anzusprechen.

Offen bleiben dabei allerdings die gewählten Kom-
munikationswege. SPD und Grüne haben sich dazu ent-
schieden, hierzu einen Antrag in den Deutschen Bundes-
tag einzubringen. Diese Herangehensweise halten wir
im Umgang mit europäischen Partnern für nicht ange-
bracht. Als FDP haben wir uns dazu entschlossen, den
ohnehin engen Kontakt zu Ungarn noch weiter zu inten-
sivieren. Im Rahmen unserer parlamentarischen Arbeit
stehen wir in regelmäßigem Austausch mit der ungari-
schen Seite, sei es mit ungarischen Parlamentariern,
Mitgliedern der Regierung oder dem ungarischen Bot-
schafter in Berlin. Hierbei äußern wir auch unmissver-
ständlich die notwendige Kritik an einzelnen Maßnah-
men der ungarischen Regierung und der sie tragenden
Parlamentsmehrheit. Im Ergebnis stellen wir fest, dass
die Sensibilität und das Verständnis für unsere Anliegen
auf der ungarischen Seite im Zuge des intensiven Dia-
logs stetig wachsen. Das merkt man auch in der öffentli-
chen Diskussion in Ungarn. Unserer Ansicht nach kann
die tiefe politische Spaltung des Landes durch offizielle
Beschlüsse und Äußerungen von außen nicht zugeschüt-
tet werden. Hier halten wir intensive Kontakte für sinn-
und wirkungsvoller.

Dabei steht fest – und das wird auch klar und deutlich
von uns kommuniziert –: Kritik an den Maßnahmen und
der Rhetorik der ungarischen Regierung ist keine Einmi-
schung in die innerstaatlichen Angelegenheiten Un-
garns oder gar eine Vorverurteilung der dort lebenden
Menschen. Es geht uns darum, Kritik nicht pauschal,
sondern in der Sache differenziert vorzubringen und
Missstände gegebenenfalls offen anzusprechen.

Genau das leistet die Europäische Kommission, in-
dem sie potenzielle Missstände in Ungarn identifiziert,
und diese werden von uns in aller Offenheit und Freund-
schaft mit unseren ungarischen Partnern thematisiert.
Die Forderung der Europäischen Kommission, gemein-
sam definierte Standards etwa im Medienrecht, der
Wahlgesetzgebung oder im Justizwesen einzuhalten, ist
legitim; wenn wir uns diesem Appell anschließen, heißt
das nicht, dass wir unseren ungarischen Freunden und

Zu Protokoll gegebene Reden





Joachim Spatz


(A) (C)



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Bündnispartnern die demokratische Gesinnung abspre-
chen, sondern einen offenen und sachlichen Dialog mit
ihnen führen, im Sinne unserer gemeinsamen demokrati-
schen Zukunft in einem vereinigten Europa.

Derzeit laufen verschiedene Verfahren, deren Aus-
gang abzuwarten bleibt, bevor man sich ein abschlie-
ßendes Urteil bilden kann. Das gilt sowohl für die Vene-
dig-Kommission als auch die derzeit laufenden Ver-
tragsverletzungsverfahren.

Wir unterstützen die Europäische Kommission als
Hüterin der europäischen Verträge ausdrücklich in ih-
rem originären Auftrag, dem gemeinsam verabschiede-
ten europäischen Recht zur Durchsetzung in der Euro-
päischen Union zu verhelfen.


Thomas Nord (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718440400

Seit 2010 hat die Regierung von Viktor Orban eine

Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament und
nutzt diese, um der Regierungspartei eine systematische
Vorrangstellung in Ungarn auch über die Wahlperiode
hinaus zu sichern. Dies muss man sicherlich eine unde-
mokratische Vorgehensweise nennen. Die Parteien CDU
und CSU sind auf europäischer Ebene Mitglied in der
Europäischen Volkspartei und haben bislang zu diesen
Thema geschwiegen. Die Tatsache, dass der ungarische
Ministerpräsident stellvertretender Vorsitzender dieser
europäischen Partei ist, wird sicher dazu beitragen,
dass sich die Regierungskoalition in der Bundesrepublik
in den Mantel des Schweigens hüllt.

Die Linke begrüßt und unterstützt den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen zur politischen Lage in Ungarn.
Allerdings können wir dem Antrag in der vorliegenden
Form nicht zustimmen, da er sich an der normativen
Ebene festhält und die praktischen, realen Gegebenhei-
ten in Ungarn ausklammert. Wenn man einen Antrag zu
europäischen Grundwerten und Grundrechten formu-
liert, dann gehört eben auch dazu, eine europäische Per-
spektive einzunehmen und eine klare Kritik an gesell-
schaftlichen und staatlichen Zuständen innerhalb der
EU zu formulieren, wenn diese so weit von den demokra-
tischen und rechtlichen Standards abweichen, wie dies
in Ungarn der Fall ist. Wenn in einem Mitgliedsland der
EU rassistische und faschistoide Tendenzen sichtbar
werden, reichen diplomatische Formulierungen aus un-
serer Sicht nicht mehr aus.

Der Haushaltsrat wurde abgeschafft, das Verfas-
sungsgericht in seinen Kompetenzen beschnitten. Die
Versammlungsfreiheit wurde eingeschränkt. Es wurden
menschenverachtende Maßnahmen zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit entwickelt. Arbeitslose, die länger als
90 Tage arbeitslos gemeldet sind, werden unter Polizei-
bewachung zu Hilfsarbeiten auf Baustellen verschickt
und vor Ort in Containern gehalten. Während Orban
versucht, mit scheinheiligen Maßnahmen wie beispiels-
weise der sogenannten nationalen Roma-Strategie die
EU zufriedenzustellen, werden Roma zunehmend diskri-
miniert und kriminalisiert. So wurden beispielsweise
Stiftungen, die sich um Arbeits-, Bildungs- und Kultur-
projekte der Roma kümmerten, wegen „Ineffizienz“ auf-

gelöst, um sie in ein „neues System“ zu überführen bzw.
die staatliche Kontrolle zu zementieren.

Unabhängige Richter werden durch regimetreue er-
setzt. Obdachlosigkeit wird verboten und mit Geld- und
Gefängnisstrafen belegt. Antisemitische Äußerungen in
der ungarischen Medienlandschaft werden unkritisch
hingenommen. Der gesamte Kulturbereich wird um-
strukturiert. Während Filmförderung in Ungarn als In-
strument der Zensur genutzt wird, wird der Chef der
rechtsradikalen MIEP-Partei, Istvan Csurka, in einem
völlig undemokratischen Auswahlprozess Theaterinten-
dant des Neuen Theaters in Budapest, ein Mann, der im-
mer wieder mit antisemitischen und radikal national-
konservativen Äußerungen auffällt.

In Gyöngyöspata wurden Ostern 2011 die Roma
durch das Rote Kreuz evakuiert, nachdem eine neo-
faschistische Bürgerwehrgruppe wochenlang den Ort
belagert hatte. Die Regierung stellte dies später als
„lange geplanten Osterausflug“ dar und setzte einen
Untersuchungsausschuss ein, der klären sollte, „wer
Ungarn diffamiert“ hat. Unter dem Schutz der Jobbik
können sich die rechtsradikalen „Bürgerwehren“ orga-
nisieren und Roma bedrohen und terrorisieren. Medien
zufolge versehen heute einige „Bürgerwächter“ aus Gy-
öngyöspata, die zum eingeführten staatlichen Arbeits-
beschaffungsprogramm abkommandiert wurden, Auf-
sichtsarbeiten in Bezug auf Roma.

Wie „Pester Lloyd“, die Tageszeitung für Ungarn und
Osteuropa, in dieser Woche berichtet, hat sich ein Par-
lamentsabgeordneter der neofaschistischen Partei Job-
bik vor der Kommunalwahl 2010 gegenüber seinen po-
tenziellen Wählern besonders empfehlen wollen und in
einem medizinischen Labor sein Blut auf „genetische
Rassenreinheit“ untersuchen lassen. Dies hat ihm ein
Zertifikat ausgestellt, in dem bestätigt wird, dass er „we-
der Roma noch Juden als Vorfahren“ hat. Der Skandal
ist dabei nicht einmal, dass der Abgeordnete der Jobbik
auf eine solche Idee kam, sondern dass ein zertifiziertes
medizinisches Labor in Ungarn sich zu solcher „Ana-
lyse“ bereitfand – als ob es ein „Roma-“ oder ein „Ju-
den-Gen“ gäbe.

Am 4. Juni beging Ungarn auf Anordnung der Regie-
rung wieder den „Trianon-Gedenktag“. Dieser war
auch Hauptthema einer „Festsitzung“ im Parlament.
Der neue Staatspräsident Janos Ader, Fidesz, sprach
vom „ungerechten Frieden“ von Trianon, der eine „be-
schämende Situation, sogar für die Menschen der Sie-
germächte“ produziere. Das wäre ja in etwa so, als
würde in Deutschland ein Versailles-Gedenktag einge-
führt. Aus meiner Sicht ist das unerträglicher Revan-
chismus. Ungarn beschädigt die nachbarschaftlichen
Beziehungen zu Rumänien und der Slowakei systema-
tisch und produziert dadurch in hohem Maße ethnisch
motivierte politische Spannungen in Osteuropa, die auf
eine territoriale Neuordnung in Richtung „Groß-Un-
garn“ ausgerichtet sind.

Warum führten die enorme Gefährdung von Freiheit,
Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die
Missachtung der Menschrechte in Ungarn bisher zu kei-
nem einzigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Un-

Zu Protokoll gegebene Reden





Thomas Nord


(A) (C)



(D)(B)


garn? Es ist beschämend, dass erst die Bedrohung der
Unabhängigkeit der Zentralbank durch die neue ungari-
sche Verfassung zum Handeln auf europäischer Ebene
führte. Die Linke ist der Meinung, in Europa sollten
mehr Grundwerte und mehr Grundrechte zählen als die
Kapitalfreiheiten. Weil wir das grundlegende Ansinnen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen begrüßenswert
finden, aber im Antrag selber die gesellschaftlichen
Realitäten mit keinem Wort erwähnt sind, stimmen wir
hier mit Enthaltung.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718440500

Ich habe bereits in der letzten Debatte gesagt: Es geht

hier nicht darum, Ungarn von außen Regeln aufzudrän-
gen. Es geht um Verpflichtungen, die Ungarn sich selbst
auferlegt hat, um Verpflichtungen, die Ungarn mit dem
Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 eingegan-
gen ist. Dazu gehören die Grundwerte und Grundrechte,
die in den Verträgen festgehalten sind. Wer behauptet,
eine solche Debatte – eine Debatte über die Grundwerte
und Grundrechte – gehöre nicht in den Deutschen
Bundestag, der liegt falsch. Auch wir sind Teil dieser
Europäischen Union. Uns darf die Einhaltung der
Grundwerte und Grundrechte in den anderen Mitglied-
staaten nicht egal sein. Die EU ist eine Gemeinschaft,
die auf gemeinsamen Werten beruht – nicht nur ein ein-
facher Verbund souveräner Nationalstaaten. Zu den ge-
meinsamen Werten gehört die Demokratie. Und zur
Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratie ge-
hört, dass die Demokratien in den Mitgliedstaaten funk-
tionieren. Mit Blick auf Ungarn haben wir die Sorge,
dass diese Funktionsfähigkeit heute und vor allem in Zu-
kunft eingeschränkt sein könnte.

Mit dieser Einschätzung stehen wir nicht alleine da.
Sie wird bekanntlich von der Bundesregierung geteilt.
I
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1718440600
„Unsere im Zusammenhang
mit den Mediengesetzen aufgekommene Befürchtungen
werden mit der heute verabschiedeten Verfassung – und
in ihrem Zustandekommen – bestärkt statt bekräftigt.“
In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage hat die Bun-
desregierung im Februar 2012 diese Haltung bestätigt;
sie habe sich nicht grundsätzlich verändert.

Warum machen wir uns um die Funktionsfähigkeit
der Demokratie in Ungarn Sorgen? Die ungarische
Regierung unter Viktor Orban verfügt über eine Zwei-
drittelmehrheit. Sie trägt damit eine besondere Verant-
wortung. Anstatt mit ihrer Mehrheit maßvoll und verant-
wortungsvoll umzugehen, verfestigt sich unser
Eindruck, dass politischer Einfluss langfristig gesichert
werden soll. Wir haben in diesem Haus schon so viele
Beispiele gehört, daher will ich es bei drei weiteren be-
lassen. Die Kardinalsgesetze, die nur mit einer Zweidrit-
telmehrheit geändert werden können. Prominentestes
Beispiel: der Einkommensteuersatz. Die Zweidrittel-
hürde sollte grundsätzlich nur zur Änderung der Verfas-
sung oder ähnlich weitreichender Regelungen notwen-
dig sein, nicht für Bereiche, die vernünftigerweise der
einfachen Mehrheitsbildung unterliegen sollten. Wenn
einer gewählten Parlamentsmehrheit die Verfügung
über das Budget nicht mehr gewährleistet ist, weil ein

wesentlicher Teil der Einnahmeseite seiner Kontrolle
entzogen ist, dann ist das ein Demokratieproblem.

Weiteres Beispiel, Nationale Justizbehörde: Der Prä-
sident bzw. die Präsidentin dieser Behörde wird für neun
Jahre vom Parlament ernannt. Nach diesen neun Jahren
muss das Parlament einen Nachfolger oder eine Nach-
folgerin wählen – und das mit zwei Dritteln der Stim-
men. Kommt eine Zweidrittelmehrheit nicht zustande,
bleibt die bisherige Leitung weiter im Amt. Hinzu kommt
die Fülle an Kompetenzen in einer Hand und die man-
gelnde Möglichkeit, den Präsidenten bzw. die Präsiden-
tin für ihr Tun zur Rechenschaft ziehen zu können. Alles
nachzulesen im entsprechenden Bericht der Venedig-
Kommission.

Auch über die Frage der Herabsetzung des Renten-
eintrittsalters für Richter unter anderem von 70 auf
62 Jahre haben wir schon gesprochen. Hier wird das
Renteneintrittsalter herabgesetzt, ohne Übergangs-
phase. Das hat zur Folge, dass in kürzester Zeit 274
neue Richterinnen und Richter ernannt werden können.
Auch hier spielt der Präsident der Nationalen Justizbe-
hörde übrigens eine entscheidende Rolle. Er entscheidet
letztendlich, welcher der ersten drei Kandidaten auf der
Shortlist dem Präsidenten Ungarns zur Ernennung vor-
geschlagen wird. Es ist gut und richtig, dass über die
Frage der Herabsetzung des Renteneintrittsalters der
Europäische Gerichtshof entscheidet.

Wir kennen das aus jedem Lehrbuch: Demokratie ist
Macht auf Zeit. Diese Zeit darf aber nicht dazu benutzt
werden, die Macht zu zementieren. Wir haben diesen An-
trag zusammen mit der SPD gemacht, da wir uns eine
Versachlichung der Debatte wünschen. Unterschiedli-
che Informationen, fehlerhafte Berichterstattung und
auch Unkenntnis führen in dieser Debatte immer wieder
zu Missverständnissen. Für einen fairen Dialog über die
Vereinbarkeit der gesamten geänderten ungarischen
Rechtsordnung mit den Grundwerten der EU brauchen
wir einen umfassenden Bericht, der die geänderten Be-
reiche des ungarischen Rechtssystems betrachtet.

Inzwischen hat die Venedig-Kommission des Europa-
rats bereits Berichte zu einzelnen Fragen vorgelegt.
Diese Berichte haben der Debatte gut getan. Teilweise
sind diese Berichte auf Wunsch der ungarischen Regie-
rung erstellt worden. Diese Bereitschaft begrüßen wir.
Ich möchte hier auch noch mal ganz deutlich betonen:
Der ungarischen Regierung ist konstruktive Kritik nicht
egal. Sie hat sie sich in vielen Fällen zu Herzen genom-
men, Änderungen geprüft und auch mehrere Gesetze ge-
ändert. Diese Bereitschaft zu mehr Beweglichkeit nehme
ich auch in meinen zahlreichen Gesprächen wahr.

Es gibt aber nach wie vor Bereiche, zu denen keine
Berichte vorliegen. Die Opposition beklagt sich zum
Beispiel regelmäßig, dass sie nicht ausreichend Zeit be-
komme, um sich mit Gesetzesvorlagen zu befassen. Die
ungarische Regierung habe ein Gesetz durchgebracht,
das es ihr 24-mal im Jahr erlaube, die Zeitspanne zwi-
schen der Einbringung und der Verabschiedung von Ge-
setzen auf 24 Stunden zu verkürzen! Aus unserer Sicht ist
das eine ganz klare Beschneidung der Rechte der Oppo-
sition. Auch für diesen und andere Bereiche wünschen

Zu Protokoll gegebene Reden





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)


wir uns eine Übersicht der Veränderungen und eine ob-
jektive Einschätzung. Daher halten wir einen umfassen-
den Bericht der Venedig-Kommission noch immer für
notwendig.

Vonseiten der Koalition wird uns vorgeworfen, dass
wir zu viel über Ungarn und nicht mit Ungarn reden.
Wenn sie denn stimmen würde, wäre die Kritik ange-
bracht. Sie stimmt aber nicht. Wir stehen in regelmäßi-
gem Dialog mit allen demokratischen Kräften und der
Zivilgesellschaft in Ungarn. Ungarn ist für uns ein guter
und verlässlicher Freund. Wir blicken inzwischen auf
eine 20-jährige Freundschaft zurück. Ich habe in den
letzten Monaten schätzen gelernt, dass die ungarische
Seite sich auch kritischen Debattenbeiträgen nicht ver-
schließt. Wir müssen diesen offenen Dialog weiter füh-
ren. Zu dieser Offenheit gehören aber auch mitunter
Kritik und ehrliche Worte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718440700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die

Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10004,
den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9032 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Die Koalitionsfraktionen waren dafür,
Bündnis 90/Die Grünen und SPD dagegen. Die Linke
hat sich enthalten.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 45 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika
Krüger-Leißner, Anette Kramme, Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversi-
cherung stärken – Rahmenfrist verlängern –
Regelung für kurz befristet Beschäftigte
weiterentwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia
Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Arbeitslosengeld statt Hartz IV – Zugang
zur Arbeitslosenversicherung erleichtern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Agnes Krumwiede, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenver-
sicherung besser absichern

– Drucksachen 17/8574, 17/8586, 17/8579,
17/9612 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder

Die Reden sind hier ebenfalls zu Protokoll genom-
men.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1718440800

Es ist schon erstaunlich: In Deutschland brummt der

Arbeitsmarkt – weniger Arbeitslose, mehr sozialversi-
cherungspflichtig Beschäftigte, mehr offene Stellen. Job-
motor in Deutschland – diese Bemerkung muss mir als
CSU-Abgeordnetem in diesem Zusammenhang erlaubt
sein – ist und bleibt Bayern: niedrigste Arbeitslosenzahl
seit 20 Jahren, Rekordwert bei der Beschäftigung seit
1974. Aber auch in den übrigen Bundesländern in
Deutschland – auch in SPD-geführten Ländern – sieht
es blendend aus: Die Zahl der Arbeitslosen ist auf 2,855
Millionen gesunken, die der sozialversicherungspflichti-
gen Beschäftigungsverhältnisse auf 28,76 Millionen an-
gestiegen. Der deutsche Arbeitsmarkt ist robust, auch in
Zeiten der Schuldenkrise. Die Bundesregierung ist er-
folgreich.

Und was macht die Opposition? Sie überbieten sich
gegenseitig in Forderungen, wie man den Zugang zum
Arbeitslosengeld erleichtern kann. Ihre Anträge passen
in die Welt wie der Weihnachtsmann in den Sommer!
Das war auch das zentrale Ergebnis der Expertenanhö-
rung von Ende April 2012. Die Sachverständigen haben
es Ihnen ins Stammbuch geschrieben: teuer und an der
Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei, so das ganz
überwiegende Fazit.

„Es stellt sich die Frage, ob anstelle der Diskussion
des Zugangs in die Arbeitslosenversicherung nicht viel
stärker eine Diskussion geführt werden müsste über den
Zugang zu Qualifizierung, Qualifizierungsmöglichkei-
ten und Ähnliches.“ Das war der Befund des Vertreters
der Bundesagentur für Arbeit. Diese Aussage kann ich
voll und ganz unterschreiben. Um es politisch zu über-
setzen: Was Sie vorschlagen und was so sozial daher-
kommt, ist in der Wirkung eine Stillhalteprämie ganz
überwiegend für Personen ohne Berufsabschluss. Denn
circa 50 Prozent aller Zugänge in die Grundsicherung
für Arbeitsuchende sind Personen ohne Berufs-
abschluss. Diese Menschen müssen wir in den Blick
nehmen, keine Frage. Aber wir dürfen sie nicht mit Geld
abspeisen. Unser Ziel muss es sein, in ihre Vermittlung
zu investieren und sie wieder in Arbeit zu bringen, ihre
Beschäftigung zu verstetigen und zu stabilisieren. Wir
dürfen keine Anreize setzen, wie man nach Kurzzeit-
beschäftigung auch wieder schnell zu Entgeltersatzleis-
tungen kommen kann. Genau das tun Sie aber mit Ihren
Anträgen.

Für viele Menschen sind Ihre Forderungen auch nur
Scheinlösungen. Nehmen Sie die alleinstehende Kassie-
rerin, die zu ihrem geringen Verdienst aufstockend Ar-
beitslosengeld II bezieht. Wird sie arbeitslos und hätte
künftig leichter einen Anspruch auf Arbeitslosengeld,
würde diese Leistung komplett auf ihr Arbeitslosengeld II
angerechnet. Sie hätte unter dem Strich keinen Cent
mehr in der Tasche als heute. Fazit: Diejenigen, die es
am schwersten haben und denen ich persönlich eine





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


finanzielle Verbesserung von Herzen gönnen würde, fal-
len bei Ihren Anträgen hinten herunter. Durchdacht ist
das nicht und sozial gerecht erst recht nicht.

Wer Forderungen aufstellt, die Geld kosten, muss
auch sagen, woher er das Geld nehmen will. Der Kol-
lege Paul Lehrieder hat darauf bereits Anfang Februar
2012 in der ersten Lesung der Vorlagen völlig zu Recht
hingewiesen. In Ihren Anträgen sucht man dazu aber
vergebens nach Antworten. Was haben die Sachverstän-
digen in der Anhörung gesagt? „Der Antrag von SPD
und Linken würde 1,4 bis 1,7 Milliarden Euro zusätzli-
che Leistungsausgaben kosten. Wenn man das in Bei-
tragssatzpunkte übersetzt, wären das 0,2 Prozent.“

Ich stelle fest: Die SPD steht für höhere Sozialab-
gaben! Die SPD will weniger Netto vom Brutto! Herr
Gabriel hat letzte Woche eine Anhebung des Beitrags
zur Pflegeversicherung auf 2,5 Prozent in die Diskus-
sion gebracht. Elke Ferner möchte Entlastungen beim
Rentenbeitrag nicht an die Beitragszahler weitergeben.
Und nun nehmen Sie einen Anstieg des Beitrags zur Ar-
beitslosenversicherung billigend in Kauf. Das ist Politik
auf dem Rücken der Beitragszahler!

Es reicht nicht, soziale Gerechtigkeit nur auf Fahnen
oder Plakate zu schreiben; man muss soziale Gerechtig-
keit auch inhaltlich unterfüttern. Die Kassiererin bei
Aldi oder den mittelständischen Betrieb mit steigenden
Lohnnebenkosten zu belasten, ist nicht sozial gerecht.
Dazu bekommen Sie nicht die Stimmen der Union. Wir
wollen mehr Netto vom Brutto für die Beitragszahler, die
Monat für Monat mit ihren Beiträgen die solidarische
Absicherung in Deutschland finanzieren. Deshalb leh-
nen wir Ihren Antrag ab.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
Sie wissen es doch besser. Sie waren es doch, die zusam-
men mit den Grünen im Jahr 2003 im Rahmen der soge-
nannten Hartz-Reformen die Rahmenfrist für den An-
spruch auf Arbeitslosengeld von drei Jahren auf zwei
Jahre gesenkt und damit den Zugang zum Arbeitslosen-
geld erschwert haben. Was damals in Zeiten, in denen
Deutschland wirtschaftlich am Boden lag, richtig war,
soll heute in Zeiten, in denen unser Land trotz Schulden-
krise prima dasteht, falsch sein? Diesen Sinneswandel
müssen Sie den Menschen erklären; das versteht doch
niemand!

Richtig ist, dass die Anpassungslasten des Arbeits-
markts in den letzten Jahren vor allem von bestimmten
Beschäftigungsgruppen getragen worden sind, zum Bei-
spiel Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte und Niedrig-
lohnverdiener. Die Diagnose mag richtig sein, aber Ihre
Medizin ist falsch. Denn eher als an der Rahmenfrist für
das Arbeitslosengeld zu drehen, sollten wir für diese Be-
schäftigtengruppen die Brückenfunktion für höherwer-
tige Beschäftigungen stärken und versuchen, nachhal-
tige Beschäftigungsverhältnisse hinzubekommen. Wir
wollen nicht die Arbeitslosigkeit der Betroffenen finan-
zieren, sondern sie in Beschäftigung bringen.

Auch bei der sogenannten Anwartschaftszeit sehen
wir keinen Änderungsbedarf. Heute muss innerhalb von
zwei Jahren mindestens zwölf Monate ein sogenanntes

Versicherungspflichtverhältnis bestanden haben, um ei-
nen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erwerben. Was
steckt hinter dieser Regelung? Bei kurzfristiger Beschäf-
tigung soll kein Anspruch auf Arbeitslosengeld beste-
hen. Und was wollen die Antragsteller? Sie möchten
diese Anwartschaftszeit auf sechs bzw. vier Monate ver-
kürzen. Künftig soll sich nach viermonatiger Beitrags-
zahlung ein zweimonatiger Anspruch auf Arbeitslosen-
geld ergeben, so heißt es im Antrag der Grünen.

Auf den ersten Blick mag das populär klingen. Motto:
Wer in die Arbeitslosenversicherung einzahlt, möchte
auch Leistungen bekommen und seine Beiträge nicht
umsonst eingezahlt haben. Allerdings ist die Arbeits-
losenversicherung keine Sparkasse. Sie ist eine Versi-
cherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit. Solche
Risikoversicherungen verlangen typischerweise eine be-
stimmte Vorversicherungszeit. Der Gesetzgeber hat sich
für zwölf Monate entschieden. Ich halte diese Grenze für
richtig. In keinem Fall trägt das Argument, man habe
seine Beiträge umsonst gezahlt, wenn man kürzer als ein
Jahr Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einge-
zahlt habe. Denn was sagen wir dann umgekehrt demje-
nigen, der 45 Jahre durchgehend gearbeitet, Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat und nie ar-
beitslos geworden ist? Pech gehabt, alle Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung umsonst gezahlt? Wohl kaum.
Daran wird deutlich, dass eine Verkürzung der Anwart-
schaftszeit weder sozialpolitisch notwendig noch sach-
lich begründbar ist. Aus diesem Grunde lehnen wir Ihre
entsprechenden Forderungen ab.

Am Ende meiner Rede möchte ich dann doch noch
versöhnlich werden. Denn in einem Punkt sehe ich
durchaus Überschneidungen zwischen Ihren Forderun-
gen und den Vorstellungen innerhalb der Koalition, und
zwar bei der Schaffung einer Sonderregelung in der Ar-
beitslosenversicherung zur verkürzten Anwartschafts-
zeit für unstetig Erwerbstätige, die wechselnde Anstel-
lungen von bis zu zehn Wochen haben. Bisher durften
solche Kurzanstellungen nicht länger als jeweils sechs
Wochen dauern. Von dieser Änderung profitieren in ers-
ter Linie Kunst- und Kulturschaffende. Uns als CDU/
CSU-Fraktion war das Anliegen der Betroffenen schon
immer sehr wichtig. Wir haben keine Nachhilfe vonsei-
ten der Opposition nötig. Ihre Schaufensteranträge
– Anfang Februar 2012 pünktlich zum Auftakt der
62. Berlinale gestellt – hätten Sie sich schenken können.
Die Änderung war zu diesem Zeitpunkt längst verabre-
det und in trockenen Tüchern. Sie waren damals zu spät
dran, genauso wie Sie jetzt der Zeit hinterherhinken.
Während wir hier heute debattieren, hat die Koalition
längst gehandelt und heute im Rahmen des sogenannten
Psych-Entgeltgesetzes die Änderung zugunsten der Be-
schäftigten im Künstlerbereich – zeitlich begrenzt zu-
nächst bis Ende 2014 – verabschiedet. Das zeigt: Die
Koalition ist handlungs- und entscheidungsstark.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1718440900

Noch vor wenigen Jahren war es eine Selbstverständ-

lichkeit: Wer arbeitslos wurde, nachdem er mindestens
ein Jahr lang beschäftigt war, hatte Anspruch auf Ar-
beitslosengeld. Dafür hat er schließlich Beiträge abge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)


führt. Mit dem Arbeitslosengeld soll die Zeit überbrückt
werden, bis wieder eine Anstellung gefunden ist. Das ist
die zentrale Schutzfunktion der Arbeitslosenversiche-
rung. Dafür haben wir sie geschaffen. Aber heute sieht
das ganz anders aus: Jeder Vierte, der arbeitslos wird,
bekommt kein Arbeitslosengeld – und das, obwohl er re-
gelmäßig Sozialbeiträge gezahlt hat. Stattdessen ist er
gleich auf die Grundsicherung angewiesen. Für jeden
vierten Arbeitnehmer kann die Arbeitslosenversiche-
rung also keinen Schutz mehr bieten – und die Tendenz
ist steigend. Das ist ein alarmierender Befund für unser
Sozialversicherungssystem als Ganzes. Das können wir
nicht hinnehmen. Wir können nicht zulassen, dass immer
mehr Menschen gleich auf das Grundsicherungsniveau
absinken. Und wir können nicht zulassen, dass Beiträge
eingezogen werden, ohne dass die Beschäftigten eine
realistische Chance auf Leistungen haben. Hier ist et-
was faul im System, und das muss behoben werden.
Sonst geht das Vertrauen in unsere Sozialversicherung
weiter verloren.

Betroffen sind zum einen die prekär Beschäftigten.
Bei ihren Niedriglöhnen fällt das Arbeitslosengeld so
gering aus, dass es unterhalb der Grundsicherung liegt.
Die andere Gruppe sind die immer wieder kurz befristet
Beschäftigten. Das sind die Saisonbeschäftigten, die
Leiharbeitnehmer oder diejenigen, die immer wieder
projektgebunden arbeiten. Vor allem in der Kultur- und
Kreativwirtschaft breiten sich diese Anstellungsverhält-
nisse aus. Aufgrund der vielen Unterbrechungen können
diese Beschäftigtengruppen die Anwartschaft innerhalb
der zweijährigen Rahmenfrist nicht erfüllen. Festzuhal-
ten bleibt: Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jah-
ren rasant verändert, und unsere Sozialversicherung hat
damit nicht Schritt gehalten. Das müssen wir ändern.
Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wir for-
dern die Verlängerung der Rahmenfrist auf drei Jahre
und den Wegfall der bisher geltenden komplizierten Vo-
raussetzungen für die Inanspruchnahme der kleinen An-
wartschaft. Die Experten der Anhörung im Ausschuss
haben unsere Forderungen breit unterstützt. Wir wollen
die Frist, innerhalb der die Anwartschaft nachgewiesen
werden muss, ausweiten: von jetzt zwei auf künftig drei
Jahre. In diesem Zeitraum haben die kurz befristet Be-
schäftigten dann die realistische Chance, dass sich ihre
einzelnen Arbeitsverhältnisse auf die erforderliche An-
wartschaft addieren.

Der Antrag der Grünen geht einen anderen Weg,
kommt aber mit der weiteren Verkürzung der Anwart-
schaft bei gleicher Rahmenfrist zum gleichen Effekt. Alle
Sachverständigen haben bestätigt, dass die Verlänge-
rung der Rahmenfrist mehr Versicherte in den Versiche-
rungsschutz einbeziehen würde. Bedenken wurden hin-
sichtlich der damit verbundenen Kosten geäußert.

Allerdings stehen die entsprechenden Schätzungen
des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung,
IAB, auf äußerst wackeligen Füßen. Das haben einzelne
Sachverständige herausgestellt. Nicht nur, dass bishe-
rige Schätzungen extreme Abweichungen aufweisen.
Auch wurde kritisiert, dass keine Gesamtbilanz aufge-
macht wurde. Die Einsparungen bei der Grundsiche-
rung und bei den Kosten der Unterkunft aufseiten der

Kommunen gingen nicht in die Rechnung ein. Und ich
möchte daran erinnern, dass das IAB schon einmal kräf-
tig daneben gegriffen hat, als die Kosten für die Inan-
spruchnahme der Sonderregelung für die kurze Anwart-
schaft viel zu hoch angesetzt wurden. Prognostiziert
waren jährlich 50 Millionen Euro. Tatsächlich aber hat
die Bundesagentur einschließlich Sozialabgaben nur 1,7
Millionen Euro ausgeben müssen. Diese Milchmädchen-
rechnungen sollen uns immer nur davon abhalten, sinn-
volle Entscheidungen für die Arbeitnehmer zu treffen.

Mit einer weiteren Maßnahme wollen wir die Schutz-
funktion der Arbeitslosenversicherung stärken. Die seit
knapp drei Jahren geltende Sonderregelung für kurz be-
fristet Beschäftigte hat ihr Ziel klar verfehlt. Der Grund:
Die Hürden für die Inanspruchnahme der kurzen An-
wartschaft von sechs Monaten sind viel zu hoch gesetzt.
Die Anhörung hat das eindrucksvoll bestätigt. Derzeit
werden für die Klärung des Arbeitslosengeldanspruchs
aufgrund der kurzen Anwartschaft nur Beschäftigungs-
verhältnisse von bis zu sechs Wochen berücksichtigt. Die
Koalition will das nun auf zehn Wochen erhöhen.

Die Experten der Anhörung haben anschaulich ge-
schildert, dass auch das an den Beschäftigungsrealitä-
ten, zum Beispiel in der Filmbranche, vorbeigeht. Selbst
der von der Unionsfraktion benannte Sachverständige
vom Bundesverband der Film- und Fernsehschauspieler,
BFFS, hat eine Mindestdauer von drei Monaten gefor-
dert und dem Wegfall jeder Befristung den Vorzug gege-
ben. Genau das entspricht unserer Forderung an die
Bundesregierung: Wegfall der Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme der kurzen Anwartschaft.

Auch nach der Anhörung hält die Koalition wider
besseres Wissen an ihrem Vorschlag fest. Das zeugt von
erschreckender Ignoranz gegenüber dem Rat der Exper-
ten und vor allem gegenüber den Betroffenen. Aber es ist
nicht nur die Wirkungslosigkeit des Koalitionsvor-
schlags, auch die bürokratisch komplizierte Regelung
stand bei der Anhörung in der Kritik. Auch dem Bundes-
rechnungshof war das aufgefallen. Er empfiehlt der
Bundesagentur für Arbeit, besonders qualifizierte Spe-
zialisten für die Bearbeitung der Anträge einzusetzen,
weil die Sachbearbeiter in den Jobcentern damit über-
fordert sind. Das kann es ja wohl nicht sein. Vielmehr
brauchen wir eine einfache und für alle nachvollzieh-
bare Regelung. Unser Vorschlag trägt dem umfassend
Rechnung. Damit wollen wir uns nicht auf ein ungewis-
ses Abenteuer einlassen, sondern wir befristen das
Ganze auf drei Jahre und begleiten es durch eine wissen-
schaftliche Evaluation. Dadurch haben wir laufend Er-
kenntnisse über die Auswirkungen, übrigens auch in fi-
nanzieller Hinsicht. Und wir können entsprechend
nachsteuern.

Lassen Sie mich noch einmal auf die Anhörung zu-
rückkommen. Da wurde vonseiten der Arbeitgeberver-
bände als Reaktion auf den veränderten Arbeitsmarkt
doch tatsächlich gefordert, dass die Politik wieder für
mehr feste Beschäftigungsverhältnisse sorgen soll. Und
das wurde von den Kollegen der Koalitionsfraktionen
mit Zustimmung quittiert. Ich halte das für geradezu zy-
nisch. Wollen Sie denn angesichts der faktischen Ent-

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)


wicklungen auf dem Arbeitsmarkt den Kopf in den Sand
stecken? Gerade in der Kulturwirtschaft ist der Trend zu
projektgebundener Arbeit unumkehrbar. Hier wird krea-
tiv, effizient und innovativ, aber eben häufig befristet im
Rahmen von Projekten gearbeitet. Sagen Sie mir bitte:
Wie wollen Sie diese Arbeit in Dauerarbeitsverhältnisse
überführen, ohne die Dynamik eines ganzen Wirtschafts-
sektors zu gefährden? Die Kultur- und Kreativwirtschaft
ist eine Branche, die eine gewisse Leitfunktion für den
gesamten Arbeitsmarkt hat. Vielfach wird sie als Hoff-
nungsträger für Wachstum und Beschäftigung präsen-
tiert. Die Kennziffern sprechen für sich. Hier arbeiten
hochmotivierte Menschen mit großem Einsatz und per-
sönlichem Risiko. Ideenreichtum, Innovation und Krea-
tivität lassen sich nicht in Dauerarbeitsverhältnisse
zwängen. Wir brauchen andere Antworten. Wir müssen
die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass diese
Menschen sich auf ein Mindestmaß an sozialer Sicher-
heit verlassen können. Und dazu gehört es ganz zentral,
dass sie wieder Schutz in der Arbeitslosenversicherung
finden. Dabei soll unser Antrag helfen. Wenn wir heute
keine Mehrheit finden, dann kann ich den betroffenen
Beschäftigten zusichern, dass unsere Forderungen Ein-
gang in unser Wahlprogramm finden werden.

Ich freue mich, dass die Anträge der Fraktionen von
Grünen und Linken in dieselbe Richtung gehen. Der
Vorschlag der Regierungskoalition wird sich ganz
schnell als ebenso wirkungslos erweisen wie die gel-
tende Regelung.

Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1718441000

Also meine sehr verehrten Damen und Herren Kolle-

gen, weil es so viel Spaß macht, wiederhole ich erst ein-
mal die Ergebnisse der Sachverständigenanhörung: Von
zwei eingeladenen Forschungsinstituten hielten genau
wie viele noch einmal ihre Vorschläge für gut? Richtig,
keines der beiden Forschungsinstitute konnte ihren Vor-
schlägen etwas abgewinnen. Dann war natürlich auch
die zuständige Behörde eingeladen. Und wie votierte die
Bundesagentur für Arbeit? Ablehnend, auch richtig. Bei
den restlichen Verbänden und Einzelsachverständigen
gingen die Meinungen dann auseinander, wobei sämt-
liche Arbeitgebervertreter ihre Vorstellungen ablehnten,
die Gewerkschaften ihnen hingegen folgten. Bleibt also
im Resultat, dass diejenigen, die sich wissenschaftlich
mit der Sache beschäftigen – das IW und auch den
von ihnen benannten Einzelsachverständigen, Professor
Bosch, lasse ich hier einmal außen vor, auch wenn Letz-
terer sicherlich durch seine ehemalige, über zehnjährige
Tätigkeit für den Deutschen Gewerkschaftsbund seine
Kompetenz gestählt haben dürfte –, und diejenigen, die
ihre Ideen praktisch umsetzen müssen, davon also schon
einmal nichts halten.

So, und jetzt sage noch einmal einer, Politiker würden
nicht nach ihren Überzeugungen handeln. Im Gegenteil,
geradezu blinde Hingabe findet man bisweilen etwa
dann, wenn die SPD glaubt, sie hätte einen guten Antrag
zur Rahmenfrist geschrieben; denn nach der Anhörung
stellen oder vielmehr setzen Sie, liebe Kolleginnen und

Kollegen, sich im Ausschuss hin und sagen, dass die Ex-
perten ihre Vorschläge begrüßen würden. Unbeirrbar,
kann ich da nur sagen. Allerdings nicht alleine; denn
auch die Linke und die Grünen hatten ja nichts übrig für
die Ergebnisse der Anhörung. Darüber hinaus ist es na-
türlich etwas zweifelhaft, wenn man großzügige Verspre-
chen – ja, wir dehnen die Rahmenfrist aus – dann vorge-
rechnet bekommt, wie viel das ungefähr kosten würde
– immerhin bis zu 1,7 Milliarden Euro pro Jahr – und
dann nirgendwo ein Sterbenswörtchen zur Finanzie-
rungsfrage verliert. Wie vertragen sich etwa die Mehr-
kosten, die hier bei den passiven Leistungen zu erbrin-
gen wären, mit unserer Leistungsfähigkeit in der aktiven
Arbeitsmarktpolitik? Ist nicht Weiterbildung wichtiger
als eine eventuell verlängerte Bezugszeit? Und wie sähe
es eigentlich mit dem Beitragssatz aus? Warum sagen
Sie den Menschen denn nicht rundheraus, das ihre Vor-
schläge nicht nur dazu führen würden, dass manche län-
ger etwas kriegen, sondern das alle vorab dafür zahlen
müssten, was bei einer Beitragssatzsteigerung ja der
Fall wäre?

Abgesehen davon, dass Sie uns Antworten auf alle
diese Fragen schuldig bleiben, sind Sie auch nicht auf
die konkreten Probleme bei der Sonderregelung für
überwiegend kurz befristet Beschäftigte eingegangen.
Die Verdienstgrenze abzuschaffen, ist und bleibt Unsinn.
Ich habe es bei der ersten Lesung getan und tue es jetzt
gerne wieder, nämlich den Staatssekretär im Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales in der letzten Legis-
laturperiode zu zitieren, den geschätzten SPD-Kollegen,
Klaus Brandner. Er schrieb am 15. Mai 2009 in einem
Brief an die Koalitionsfraktionen, also auch an Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Folgendes:

„Die Sonderregelung greift nur zugunsten von Perso-
nen, die zuletzt ein Jahresentgelt erzielt haben, das nicht
über dem Durchschnitt aller Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer liegt. Damit vermeiden wir, dass Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, die … ein überdurch-
schnittlich hohes Jahreseinkommen erzielen, in ihren
beschäftigungsfreien Zeiten zusätzlich Arbeitslosengeld
erhalten. Dieses müsste durch die übrigen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer, die zum Teil mit einem ge-
ringen Jahreslohn auskommen müssen, sowie durch de-
ren Arbeitgeber finanziert werden.“

Das ist einfach korrekt. Da muss man nichts weiter zu
sagen. Gleichzeitig ist es richtig, bei der Sonderrege-
lung für überwiegend kurz befristet Beschäftigte beson-
nen zu handeln. Wir haben bisher nur Sachstandsbe-
richte, die uns die Zahlen nennen, und keine umfassende
Evaluation durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Be-
rufsforschung. Solange diese Evaluation, die ja gerade
läuft, noch aussteht, sollte man nicht das große Rad dre-
hen. Dass wir jetzt also die Regelung erst einmal verlän-
gern und die zulässige Beschäftigungsdauer von sechs
auf zehn Wochen verlängern, hat den meisten Sinn. Die
sechswöchige Frist kann man durchaus als zu kurz be-
messen einstufen, auch ohne Evaluation, aber alles was
drüber hinausgeht, sollte auf einer soliden empirischen
Grundlage stehen. Die ausufernden, teuren und arbeits-
marktpolitisch problematischen Änderungen an der
Rahmenfrist, die Sie vorschlagen, sind jedoch der fal-

Zu Protokoll gegebene Reden





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


sche Weg. Unsere Bedenken konnten Sie leider zu keiner
Zeit ausräumen. Daher lehnen wir Ihre Anträge ab.


Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1718441100

Seit der Einführung der Hartz-Gesetze vor knapp

zehn Jahren hat die Arbeitslosenversicherung einen gro-
ßen Teil ihrer Schutzfunktion eingebüßt. Nach Angaben
der Bundesagentur für Arbeit rutscht inzwischen jeder
vierte Erwerbslose direkt in Hartz IV. Besonders betrof-
fen sind Beschäftigte mit kurzen, befristeten Arbeitsver-
hältnissen.

Die Ursachen dafür liegen einerseits in der Zunahme
der Zahl von prekären Jobs. Für prekär Beschäftigte ist
es oft schwer, die erforderlichen Versicherungszeiten zu
erwerben. Oft zahlen sie so in die Arbeitslosenversiche-
rung ein, erhalten aber im Falle des Jobverlusts kein Ar-
beitslosengeld.

Verschärft wird diese Problematik durch Einschnitte
in der Arbeitslosenversicherung, die ebenfalls mit den
Hartz-Gesetzen vorgenommen wurden. So wurde der
Zeitraum verringert, in dem Beschäftigte Ansprüche auf
Arbeitslosengeld I erwerben können. Die sogenannte
Rahmenfrist sank von drei auf zwei Jahre.

Zugleich schaffen es viele Beschäftigte nicht, die er-
forderlichen zwölf Monate sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung zusammenzubekommen, die für den Be-
zug des regulären Arbeitslosengelds I nötig sind.

Wegen dieses Problems wurde schon unter der Gro-
ßen Koalition eine Sonderregelung für kurzzeitig Be-
schäftigte eingeführt. Sie sollte es den Betroffenen er-
möglichen, unter bestimmten Voraussetzungen bereits
mit einer Versicherungszeit von sechs Monaten bzw. 180
Tagen Ansprüche auf das Arbeitslosengeld I zu erwer-
ben. Diese Regelung hat sich aber als unzureichend er-
wiesen. Von den aufgrund dieser Sonderregelung ge-
stellten Anträgen wurde in den zurückliegenden Jahren
nur etwa jeder dritte genehmigt. Denn die Zugangsbe-
dingungen bei dieser Sonderregelung sind sehr restrik-
tiv. So dürfen die Beschäftigten überwiegend nur Jobs
ausüben, die sechs Wochen oder weniger dauern. Zudem
dürfen sie nicht mehr als 2 625 Euro brutto im Monat
verdienen.

Diese restriktiven Sonderregelungen führen dazu,
dass viele Beschäftigte zu kurz beschäftigt sind, um re-
guläres Arbeitslosengeld I zu beziehen, aber zu lang be-
schäftigt sind, um das Arbeitslosengeld I nach der Son-
derregelung zu beziehen. Sie fallen durch diese Lücke.
Der Verband der Film- und Fernsehregisseure machte
vor einiger Zeit darauf aufmerksam, dass es in dieser
Branche jeden dritten Beschäftigten betrifft, der seine
Anstellung verliert.

Es geht hier aber nicht um eine spezielle Berufs-
gruppe, sondern um ein generelles Problem, ein Pro-
blem, das durch die Zunahme prekärer Beschäftigung
insgesamt an Bedeutung gewonnen hat. Nehmen wir das
Beispiel der Leiharbeitskräfte. Die Hälfte von ihnen ist
weniger als sechs Monate beschäftigt. War zum Beispiel
ein Leiharbeiter in den zurückliegenden zwei Jahren
einmal vier Monate und einmal sechs Monate beschäf-

tigt, fällt er im Falle der Arbeitslosigkeit sofort in
Hartz IV. Er hat insgesamt keine zwölf Monate Versiche-
rungszeit für das reguläre Arbeitslosengeld erworben,
war aber mit mehrmonatigen Arbeitsverträgen zu lange
beschäftigt, um das Arbeitslosengeld für kurzzeitig Be-
schäftigte zu erhalten.

Dieser Zustand ist nicht zu akzeptieren. Die Änderun-
gen, die die Regierung jetzt anstrebt, sind nur Flick-
schusterei.

Die Linke will die Schutzfunktion der Arbeitslosen-
versicherung wieder stärken. Dazu ist die Rahmenfrist
zum Erwerb von Arbeitslosengeld-I-Ansprüchen wieder
auf drei Jahre zu verlängern. Für Beschäftigte mit über-
wiegend kurzen Beschäftigungsverhältnissen sind die
Zugangsbedingungen zum Arbeitslosengeld I darüber
hinaus in der Art zu erleichtern, dass die im § 123 SGB
III enthaltene Beschäftigungsbedingung gestrichen und
die Verdienstgrenze abgeschafft wird.

SPD und zum Teil auch Grüne haben ähnlich lau-
tende Anträge vorgelegt. Es freut uns, dass hier die Feh-
ler korrigiert werden sollen, die von Rot-Grün mit den
Hartz-Gesetzen begangen wurden. Leider kommt dieser
Wandel zu spät. Denn nun haben wir für diese richtigen
und notwendigen Korrekturen keine parlamentarische
Mehrheit.

Die Zukunft wird zeigen, ob es uns gelingt, dies zu än-
dern, und ob SPD und Grüne dann ebenfalls noch zu ih-
rem Wort stehen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718441200

Die Regelungen der Arbeitslosenversicherung sind

nicht mehr zeitgemäß, denn sie grenzen immer mehr
Menschen vom Arbeitslosengeldbezug aus. Zunehmend
fallen befristet Beschäftigte, die ihren Job verlieren,
durchs Raster: Sie haben zwar Beiträge eingezahlt, aber
weil sie nicht lange genug beschäftigt waren, haben sie
im Falle von Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf Ar-
beitslosengeld. Inzwischen ist jeder vierte Erwerbstätige
beim Verlust seines Arbeitsplatzes sofort auf Hartz-IV-
Leistungen angewiesen, Tendenz steigend – da kann von
Gerechtigkeit keine Rede mehr sein.

Der Arbeitsmarkt wird zunehmend flexibler. Diejeni-
gen, die die hohen Anpassungslasten dieser Entwicklung
tragen müssen, sollten gut abgesichert sein. Aber genau
das ist nicht der Fall. Für sie gibt es kein Netz und kei-
nen doppelten Boden, denn sie schaffen es nicht, inner-
halb von zwei Jahren zwölf Monate Beiträge in die
Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Das aber sind
zurzeit die Voraussetzungen, um einen Anspruch auf Ar-
beitslosengeld zu erwirken. Betroffen sind nicht nur Kul-
turschaffende und Beschäftigte in der Wissenschaft, die
schon lange mit kurzen Engagements oder befristeten
Verträgen arbeiten, sondern auch viele Leiharbeitneh-
merinnen und Leiharbeitnehmer und die meisten Be-
schäftigten im Niedriglohnsektor. Insbesondere diejeni-
gen, die es nach langer Zeit und mit viel Mühe geschafft
haben, aus dem Grundsicherungsbezug heraus einen
neuen Arbeitsplatz zu finden, landen bei einem Jobver-
lust sofort wieder im Hartz-IV-System. Denn es gelingt

Zu Protokoll gegebene Reden





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


bisher kaum, sie nachhaltig in Arbeit zu integrieren. Ihre
Beschäftigung bleibt oft nur ein kurzes Intermezzo ohne
langfristige berufliche Perspektive.

Für diese Menschen brauchen wir eine wirksame
Doppelstrategie: Zum einen geht es darum, ihnen über
gute Qualifizierung einen besseren Start in eine neue be-
rufliche Zukunft zu ermöglichen; zum anderen brauchen
wir für sie einen besseren Schutz durch die Arbeitslosen-
versicherung, um den sofortigen Rückfall in die Grund-
sicherung zu vermeiden, wenn sie wieder arbeitslos wer-
den. Beides wird es aber mit Arbeitsministerin von der
Leyen nicht geben. Sie kürzt bei der Weiterbildung und
zeigt null Engagement für eine Neuregelung der Arbeits-
losenversicherung.

Dabei sind die Probleme seit langem bekannt. Schon
2009 hatte die damalige Große Koalition einen halbher-
zigen Versuch unternommen, über eine Sonderregelung
in der Arbeitslosenversicherung kurz befristet Beschäf-
tigte besser abzusichern. Aber diese bürokratische, vo-
raussetzungsvolle und bis Ende Juli 2012 befristete Re-
gelung ist kläglich gescheitert. Lediglich 242 Personen
konnten im vergangenen Jahr von ihr profitieren. Das ist
eine beschämende und ernüchternde Bilanz. Darum
wäre es das Gebot der Stunde gewesen, das Auslaufen
dieser Sonderregelung zum Anlass zu nehmen, die Ar-
beitslosenversicherung zu einem echten Schutzschirm
für flexibel Beschäftigte auszubauen. Diese Chance hat
Arbeitsministerin von der Leyen vertan. Es gibt aus ih-
rem Haus dazu keinerlei Initiative. Stattdessen sind die
Regierungsfraktionen in die Bresche gesprungen, um zu
verhindern, dass auch noch die schmalspurige Sonder-
regelung ersatzlos wegfällt. Aber das, was jetzt dazu als
Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und
FDP auf den letzten Drücker eingebracht wurde, ist lä-
cherlich. Denn die alte Sonderregelung wurde lediglich
etwas aufgehübscht, ist aber im Kern unverändert ge-
blieben. Es bleibt bei bürokratischen Einkommens- und
Beschäftigungsdauerobergrenzen, und ich prophezeie
schon jetzt, dass auch zukünftig davon nahezu niemand
profitieren wird.

Gerechtigkeit muss die oberste Messlatte für die Ar-
beitslosenversicherung sein. Sie muss daher auch all
denjenigen im Falle von Arbeitslosigkeit Schutz gewäh-
ren, deren Erwerbsleben durch kurzfristige, befristete
und unterbrochene Beschäftigung gekennzeichnet ist.
Auch sie zahlen Beiträge und sind somit Teil der Versi-
chertengemeinschaft. Wir haben unsere Vorschläge dazu
vorgelegt. Wir fordern, dass zukünftig schon dann Ar-

beitslosengeld gezahlt wird, wenn für mindestens vier
Monate innerhalb von zwei Jahren Beiträge eingezahlt
wurden. So könnten nahezu 300 000 Menschen vor dem
Abrutschen in die Grundsicherung geschützt werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1718441300

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/9612.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8574 mit dem Titel
„Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stär-
ken – Rahmenfrist verlängern – Regelung für kurz be-
fristet Beschäftigte weiterentwickeln“. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen. SPD
und Linke waren dagegen, CDU/CSU und FDP dafür.

Buchstabe b. Hier empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/8586 mit dem Titel „Arbeitslosengeld statt
Hartz IV – Zugang zur Arbeitslosenversicherung er-
leichtern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen angenommen. Die Linke war dagegen.
SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/8579 mit dem Titel „Flexibel Be-
schäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser
absichern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Enthaltung durch SPD und
Linke angenommen. Dagegen waren Bündnis 90/Die
Grünen, die Koalitionsfraktionen hingegen dafür.

Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.

Sie genießen bitte den restlichen Abend und die ge-
wonnenen Einsichten.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 15. Juni 2012, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.