Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung ist Folgendes mitzu-
teilen: Interfraktionell ist vereinbart worden, dass der
von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf
auf Drucksache 17/9340 sowie die dazu vorliegende Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/9792 an den Ver-
teidigungsausschuss zurücküberwiesen werden. Erneute
Mitberatungen anderer Ausschüsse sind nicht vorgesehen.
Der vom Haushaltsausschuss nach § 96 der Geschäftsord-
nung abgegebene Bericht auf Drucksache 17/9793 wird
an den Haushaltsausschuss zurücküberwiesen. Damit
sind Sie einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-
schen Abkommens zwischen der internationa-
len Sicherheitspräsenz und den Re-
gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
– Drucksachen 17/9505, 17/9768 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Uta Zapf
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 17/9772 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Roland Claus
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfeh-
lung stimmen wir im Anschluss namentlich ab. Es ist
verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu
sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist auch das
so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Stinner
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Von den drei zivilen und militärischen internatio-nalen Einsätzen im Kosovo – UNMIK, EULEX undKFOR – ist nach meinem Dafürhalten der KFOR-Ein-satz bislang mit Abstand der erfolgreichste gewesen.KFOR war in der Lage, die gestellten Aufgaben überJahre hinweg zu erfüllen, nämlich Sicherheit und Stabili-tät im Kosovo herbeizuführen, und bis zum heutigenTage zu erhalten.Machen wir uns klar, dass wir bei KFOR mit über50 000 Soldaten angefangen haben, mittlerweile liegenwir bei circa 5 000 Soldaten. Wir können in den nächs-ten Jahren davon ausgehen, diese Präsenz weiter zu ver-ringern. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur Stabilitätder Region und zur Stabilität Europas. Dieser Einsatz istrichtig und wichtig.
Auch bei auftretenden Schwierigkeiten hat sichKFOR bewährt. Ich erinnere daran, dass der Einsatz desReservebataillons in diesem Jahr mehrfach erfolgreich
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Dr. Rainer Stinner
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verlaufen ist. Auch das hat gezeigt, dass wir in der Lagesind, solche komplexen Aufgaben zu bewältigen.Nach meinem Dafürhalten werden wir mit der heuti-gen Entscheidung, die mehrheitlich in diesem HohenHause getroffen werden wird, weitere eindeutige Bot-schaften senden.Die erste Botschaft lautet: Wir als Deutscher Bundes-tag erneuern unsere Bereitschaft, für die Region Verant-wortung zu übernehmen. Das ist eine wichtige Bot-schaft; denn sie besagt: Das Ganze geschieht in Europa,direkt vor unserer Haustür. Es ist unsere deutsche undauch unsere europäische Verantwortung, hier entspre-chende Maßnahmen zu treffen. Dieses Versprechen er-neuern wir hier mit klaren und deutlichen Worten.
Wir können in Deutschland stolz darauf sein – undzwar unabhängig davon, wer die Regierung gestellt hat –,dass wir diese Verantwortung über Jahrzehnte hinwegwahrgenommen haben. Wir können stolz und dankbargegenüber unseren Soldaten sein, die ihre Aufgabe imKosovo über Jahre hinweg in tadelloser Weise bewältigthaben.
Die zweite Botschaft. Wir wissen auch heute: DerEinsatz von Militär löst die Probleme nicht. Das Militärkann den Rahmen bilden, um Probleme zivil zu lösen.Deshalb ist es so wichtig, dass wir parallel zu KFOR dieMission EULEX verstärken. Wir müssen EULEX in dieLage versetzen, ihre wichtige Aufgabe weiterhin wahr-zunehmen. Im Kosovo gibt es nach wie vor Problemebeim Aufbau staatlicher Strukturen, bei der Bekämpfungder Korruption und vor allen Dingen beim Aufbau derWirtschaft. Auf diesen Gebieten muss EULEX weiterhintätig sein. Wir sind dafür, dass EULEX die Aufgaben imNorden des Kosovo intensiver als bisher wahrnimmt;denn das ist eindeutig der Schwachpunkt des bisherigenEULEX-Einsatzes.
Die dritte Botschaft. Wir appellieren weiterhin an dieInstitutionen im Kosovo, ihre Aufgabe für die Bevölke-rung energischer wahrzunehmen. Der Aufbau von staat-lichen Strukturen, die Bekämpfung von Kriminalität undder Aufbau von Wirtschaftsstrukturen sind ungeheuerwichtig. Ich sage sehr deutlich: Das Vorgehen von Präsi-dent Thaci im letzten Jahr, seine Sicherheitskräfte ohneAbsprache mit der EULEX in der Konfliktregion Nord-kosovo einzusetzen, war kein Geniestreich. Der Vertrau-ensbildung hat das nicht gedient. Wir müssen an HerrnThaci appellieren: Wenn wir unseren Beitrag leisten sol-len, dann muss auch er seinen Beitrag leisten und sichentsprechend verhalten.
Vierte Botschaft. Das Commitment der EuropäischenUnion des Jahres 2003 gilt nach wie vor: Jawohl, derWestbalkan ist Teil Europas, und wir wollen alles dafürtun, den Westbalkan schrittweise an die EuropäischeUnion heranzuführen.Die fünfte Botschaft ist klar und deutlich – der Au-ßenminister hat es im letzten Jahr in Belgrad unmissver-ständlich gesagt –: Die Grenzen auf dem Balkan sind ge-zogen.
Wir als Deutscher Bundestag – ich hoffe, ich spreche fürSie alle – sagen sehr klar und deutlich, dass wir jedwe-dem Ansinnen von welcher Seite auch immer, dieseGrenzen zu verändern – seien es albanische Träume, diemanchmal in die Welt gesetzt werden, seien es Initiati-ven von Serbien –, eine klare politische Absage erteilen.Wer an den Grenzen auf dem Balkan rüttelt, verspielt dieZukunftsfähigkeit seiner Region in Europa. Das musssehr klar sein.
Die nächste Botschaft lautet: Wir übernehmen weiter-hin Verpflichtungen in der Region. In Serbien wurde ge-rade gewählt – mit für manche von uns überraschendemAusgang. Ich bin erfreut darüber, dass bei dieser Wahl inSerbien erstmals nicht das Thema Kosovo und die Frage„Bist du pro oder gegen Europa?“ im Vordergrund ge-standen haben. Die Geschichte von Herrn Nikolic ken-nen wir. Ich plädiere dafür, dass wir ihn beim Wort neh-men. Das Entscheidende ist, was er jetzt macht. Daranwerden wir ihn messen.
Wir übernehmen weitere Aufgaben. Wir plädieren da-für, dass Mazedonien möglichst schnell in die NATOaufgenommen wird. Wir wissen, wo da die Probleme lie-gen. Was Bosnien-Herzegowina angeht: Wir sind dafür,dass wir schrittweise die Aufgaben des OHR an den eu-ropäischen Hohen Repräsentanten übergeben. So könnenwir auf europäischer Ebene Verantwortung übernehmen.Das Thema Kosovo ist eine Herausforderung für dieHandlungsfähigkeit der Gemeinsamen Außen- und Si-cherheitspolitik. Bedauerlicherweise haben erst 22 von27 europäischen Staaten den Kosovo anerkannt. Es istunsere Aufgabe auf parlamentarischer Ebene und dieAufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass wireuropaweit noch einheitlicher auftreten, um Handlungs-fähigkeit sicherzustellen. Nur so können wir dieserschwierigen Region weiterhin eine europäische Perspek-tive geben. Dafür treten wir ein. Deshalb wird meineFraktion dem Antrag der Bundesregierung klar und deut-lich zustimmen.Vielen Dank.
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Der Kollege Rainer Arnold spricht für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!13 Jahre lang haben wir regelmäßig über das ThemaKFOR debattiert. Es darf trotzdem keine Routine für unswerden. Ich habe aber manchmal das Gefühl, mankönnte die Reden vom letzten Jahr herausziehen und er-neut halten; denn darin wurde alles Richtige schon ge-sagt.Es darf deshalb keine Routine werden, weil wir schonden Eindruck haben: Manchen Akteuren auf dem Balkanist KFOR bzw. die damit verbundene Sicherheitsvor-sorge zu einem Stück Selbstverständlichkeit geworden.Manche haben gar den Eindruck: KFOR ist fast schondie Armee und die Polizei des Kosovo in einem. Das istaber falsch. Die Aufgaben, die dort zu erledigen sind– Schaffung eines sicheren Umfelds, Herstellung von Be-wegungsfreiheit und Aufbau der Sicherheitsarchitektur –,müssen zukünftig zuerst von der kosovarischen Polizei,dann erst von EULEX und, wenn dies nicht funktioniert,von KFOR geleistet werden. Hier wurde schon oft ap-pelliert bzw. die Forderung erhoben, dass es, damit diesso funktionieren kann, erhebliche Verbesserungen in derZusammenarbeit der genannten drei Akteure gebenmüsse.Eines ist in diesem Jahr trotz Routine allerdings an-ders. Im Augenblick befindet sich ein Reservebataillondeutscher Soldaten, die persönlich eine hohe Belastungauf sich genommen haben, im Kosovo. Diesen Soldatengebühren natürlich unser Dank und unser Respekt. Ichhätte mir aber gewünscht, dass das Verteidigungsminis-terium – es hat auch etwas mit falscher Planung zu tun,dass es im Augenblick eine unzumutbare Belastung fürdie jungen Frauen und Männer gibt – signalisiert hätte:Es war ein Fehler, er darf sich nicht wiederholen. DieserFehler ist zu bedauern.Ich spreche den Soldaten Anerkennung aus, die teil-weise auf Befragen gesagt haben: Ja, wir tun dies frei-willig noch einmal. – Ich sage aber aus Sicht der Politik:Auch wenn sie es freiwillig tun, entbindet uns dies nichtdavon, unsere Verantwortung wahrzunehmen und dafürzu sorgen, dass sie für eine ausreichende Zeit im sozia-len Umfeld ihrer Heimat bleiben können und nicht, wiees teilweise geschehen ist, fast 15 Monate mehr oder we-niger ununterbrochen im Einsatz sind.
Diese 13 Jahre zeigen aber auch exemplarisch, wasein Streitkräfteeinsatz bewirken kann und was Streit-kräfte nicht leisten können. Streitkräfte können Konflikt-partner auseinanderhalten. Das werden die Linken viel-leicht irgendwann auch einmal lernen. Streitkräftekönnen das Morden stoppen. Das ist ein unglaublich ho-her Wert. Deshalb ist dieser Einsatz alles Engagementund auch unsere politische Unterstützung wert.Streitkräfte können helfen, Sicherheitsstrukturen auf-zubauen. Sie können am Rande auch humanitäre Hilfeleisten. Eines können sie aber nicht tun: Sie können, vonaußen kommend, keinen Staatsaufbau voranbringen.Streitkräfte können auch keine politischen Prozesse ini-tiieren. Das ist Aufgabe der anderen Akteure, zum Bei-spiel der Diplomaten. Es ist vor allen Dingen die Auf-gabe derjenigen, die für den wirtschaftlichen Fortschrittverantwortlich sind. Man denke nur an die vielen gutausgebildeten jungen Menschen im Kosovo, die nachwie vor keine ökonomische Perspektive haben. AmEnde aber sind diese Prozesse Aufgaben der Menschenim Kosovo selbst.Ohne einen wirklichen Prozess der Aufarbeitung undohne den gleichzeitigen Willen zur Versöhnung nachdiesen langen Jahren wird es – um es deutlich zu sagen –im Kosovo kein Gelingen geben. Wir treffen im Kosovoimmer noch zu viele Menschen – ob Kosovo-Albaneroder Serben –, die sich nach einer halben Stunde Diskus-sion in ihrer langen Geschichte mit all ihren Problemenverhaken. Nein, man braucht dort eine Gesellschaft, dieeher bereit ist, in die Zukunft zu schauen und die richti-gen Lehren aus der tragischen Geschichte zu ziehen.
Dazu gehört natürlich, dass Europa weiterhin denDialog befördern und manchmal auch darauf drängenmuss, dass die kosovarische Regierung mit den serbi-schen Minderheiten im nördlichen Kosovo weiter denDialog führt. Dazu gehört auch die wiederholte Ansagean Belgrad – auch gegenüber dem neuen Präsidenten –,dass die europäische Tür einen Spalt weit geöffnet ist,dass aber, um sie ganz aufzumachen, die Grenzen unddieses Gefüge auf dem Balkan so akzeptiert werdenmüssen, wie sie im Augenblick sind. Wir laden alle ein,diese Prozesse mitzugestalten, anstatt weiterhin auf derBremse zu stehen.Wenn wir einen Blick auf die Sicherheit im Kosovowerfen, stellen wir fest: Die 13 Jahre waren nicht ver-geblich. Es hat sich eine ganze Menge verändert.Manchmal gab es Trippelschritte, und manchmal istauch eine Ungeduld da, weil es logischerweise zu lang-sam geht. Manchmal geht es zwei Schritte nach vorn undeinen zurück. Richtig ist aber auch: In weiten Teilen desKosovos können heute auch Serben sicher leben. DasSpannende und Gute ist, dass wir zunehmend serbischePolitiker als Bürgermeister bzw. als Parlamentsmitglie-der antreffen. Diese haben erkannt, dass sie im Kosovonicht einfach in einer Parallelwelt leben dürfen, sonderndass sie den Menschen dort zuliebe jetzt in eine Phaseeintreten müssen, in der sie den politischen Prozess dessouveränen Staates Kosovo aktiv mitgestalten. Das istder Weg, der in die Zukunft führen wird.Zur Sicherheitslage: Im Norden sehen wir, dassEULEX nicht so durchsetzungsfähig ist, wie wir uns dasgewünscht haben. Die Entsendung der kosovarischenPolizei in den Norden war zumindest mit Auslöser derProbleme, die in den letzten Monaten dort entstandensind. Wir reden manchmal von Parallelstrukturen im
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Rainer Arnold
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Norden des Kosovos. Wenn wir genau hinschauen, stel-len wir aber fest, dass es sich dort nicht einfach umParallelstrukturen, sondern um serbische Strukturen han-delt. Natürlich treffen wir dort auch Menschen an, dienoch nicht erkannt haben, dass die Bewahrung der kultu-rellen Identität nicht zwangsläufig damit verbunden ist,dass man den ihrer Meinung nach richtigen Pass hat.Diesen Menschen ist noch nicht klar, dass in Europa derSchutz der kulturellen Identität von der Staatsangehörig-keit unabhängig ist.
Natürlich geht es im Norden nicht nur um Nationalis-mus. Allzu viele Menschen mit krimineller Energie ha-ben sich aufgrund des Sonderstatus des Nordens desKosovos dort sehr gut eingerichtet. Diese Menschen ha-ben überhaupt kein Bedürfnis nach Veränderung. Man-che von ihnen zündeln sogar. Die serbische Politik inBelgrad muss endlich begreifen, dass sie diese Struktu-ren nicht auf Dauer materiell unterfüttern darf, zumal siein Wirklichkeit nicht den geringsten Einfluss auf dieseStrukturen hat. Dies muss in Belgrad endlich erkanntwerden.Das Kosovo ist nicht der Hinterhof Europas. DasKosovo ist vielmehr mitten in Europa. Deshalb stimmenwir dem neuen Antrag der Bundesregierung zu. DieseAufgabe bleibt auch in Zukunft für uns alle wichtig. DasKosovo und die Menschen sind uns nicht nur nah, sie ge-hen uns letztlich auch nahe.Allerdings wollen wir nicht, dass KFOR ein noch grö-ßerer Akteur wird. Deshalb können wir dem Antrag derGrünen, in dem viel Richtiges steht, auch nicht zustim-men. Es wäre falsch, KFOR weitere Aufgaben in denBereichen Grenzkontrolle und Aufbau von Rechtsstaat-lichkeit zu geben. Diese Aufgaben müssen die Men-schen im Kosovo in zunehmendem Maße selbst erledi-gen.Wir glauben, dass dieses Mandat auch in Zukunft not-wendig sein wird, allerdings mit einer Veränderung. Ichwünsche mir, dass die Bundesregierung und wir alle inZukunft bei Problemen im Kosovo immer wieder neudarüber nachdenken, ob wir die richtige Balance gefun-den haben. Es geht um die richtige Balance. Auf dereinen Seite müssen wir sagen: Ja, KFOR – vor allenDingen im Bereich der Reserve – dient der Sicherheits-vorsorge. Auf der anderen Seite dürfen wir bei Proble-men nicht allzu schnell nach KFOR rufen. Wir müssendeutlicher zum Ausdruck bringen, dass zunächst einmalaus dem Kosovo heraus mehr getan werden muss, umdie Probleme selbst zu lösen.Ich weiß, dass das an der einen oder anderen Stelleauch Risiken birgt. Man sollte vielleicht manchmal einRisiko eingehen und beispielsweise sagen: Dann bleibtdie errichtete Straßensperre halt eine Zeit lang bestehen;denn sie schädigt auch diejenigen, die sie aufgebaut ha-ben, und nicht nur die andere Seite. – Dies deutlich zumachen, ist manchmal besser, als gleich nach KFOR zurufen. Ich fürchte, wenn wir diesen Weg nicht gehen,werden wir Jahr für Jahr ein Mandat in gleichem Um-fang, mit gleichem Aufwand, mit den gleichen Aufgabenbeschließen müssen. Das kann auf lange Sicht nicht derWeg in die Zukunft sein. Das ist nur für die Übergangs-zeit der richtige Weg, damit andere im Kosovo die Ar-beit zu Ende bringen können.
Herr Kollege.
Die Menschen im Kosovo wollen in der Mehrheit
nichts anderes als die meisten Menschen auf der Welt:
eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder. Weil es
um diese Menschen geht, ist es richtig, dass wir KFOR
wieder mit einem Mandat für ein Jahr versehen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der ganzeBalkan ist nicht die Knochen eines einzigen preußischenGrenadiers wert.“ Lassen wir uns durch diesen Aus-spruch Otto von Bismarcks nicht in die Irre leiten. Es istnicht so, dass wir uns über die Situation auf dem Balkankeine Gedanken machen müssen – das wäre fatal –; denndie Geschehnisse auf dem westlichen Balkan sind inte-graler Bestandteil europäischer und damit auch unsererdeutschen Geschichte.Wir haben es mehrfach gehört: Seit nunmehr 13 Jah-ren ist KFOR im Einsatz und sorgt als sogenannte dritteSicherheitsreihe für Schutz. Deutschland hat sich an die-ser Operation von Anfang an beteiligt. Dies ist derlängste ununterbrochene Einsatz der Bundeswehr über-haupt. 29 Nationen stellen bei KFOR Truppen. Deutsch-land ist und bleibt mit rund 1 300 Soldatinnen und Sol-daten stärkster Truppensteller im Kosovo. Die deutschenFrauen und Männer im Einsatz haben einen wesentli-chen Anteil an der Stabilisierung der gesamten Region.Dafür sollten wir alle ihnen Dank zollen.
Noch vor einem Jahr hatte ich in der Debatte zur Ver-längerung dieses Mandats davon gesprochen, dass wireinen Erfolg verzeichnen können, der sich dadurch aus-drückt, dass die Truppenstärke reduziert werden konnte.Eine weitere Reduzierung der Truppenstärke zum jetzi-gen Zeitpunkt wäre indes nicht angezeigt. Denn zur Si-cherung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen inSerbien hatte der Kommandeur der NATO-geführten
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Peter Beyer
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Schutztruppe KFOR erst vor wenigen Wochen die ope-rative Einsatzreserve zur Verstärkung der KFOR-Trup-pen angefordert, woraufhin 550 plus 150 Soldatinnenund Soldaten in das Kosovo verlegt wurden, nachdemsie erst wenige Wochen zuvor abgezogen worden waren.Diese Situation zeigt sehr deutlich, dass die ethnischenSpannungen gerade im Norden des Kosovos um die ge-teilte Stadt Mitrovica herum auch viele Jahre nach Been-digung des Krieges noch lange nicht überwunden sind.Zudem kann sich die EU-RechtsstaatlichkeitsmissionEULEX noch immer nur sehr eingeschränkt bewegen.Serbien betrachtet das Kosovo nach wie vor als eineeigene abtrünnige Provinz. In der Tat leben im Kosovo,insbesondere im Norden des Landes, heute noch circa120 000 Serben. Völkerrechtlich stellt sich die Situationwie folgt dar: Circa 90 Staaten weltweit haben dasKosovo als einen eigenständigen souveränen Staat aner-kannt, dazu gehört auch Deutschland. Vor diesemHintergrund ist es unerträglich, dass fünf EU-Mitglied-staaten aus wenig substanziellen Gründen das Kosovoimmer noch nicht als einen souveränen Staat anerken-nen.Serbien und Kosovo verdienen eine Perspektive inEuropa, in der Europäischen Union, und zwar jeweils alseigenständige souveräne Staaten. Wir werden es abernicht schaffen, beide Länder an einen Tisch zu bringenund insbesondere die serbische Seite zu ernsthaften An-strengungen zu bewegen, wenn wir in der EU falsche Si-gnale aussenden. Solange wir es innerhalb der EU nichtschaffen, eine einheitliche Position in Bezug auf denvölkerrechtlichen Status des Kosovos zu finden, könnenwir wohl nicht ernsthaft daran glauben, dass BelgradEU-Forderungen umsetzt.Wenn man sich zudem vor Augen hält, dass sich in ei-nem Referendum im Januar dieses Jahres nahezu100 Prozent der im Nordkosovo lebenden Serben gegeneine Eingliederung in den jungen Staat Kosovo ausge-sprochen haben, so zeigt dies auch, dass dringend überdie punktuelle Verstärkung der Schutztruppe hinaus eingesamteuropäisches Konzept auf den Tisch muss, dasmit den Menschen einen Lösungsweg beschreitet. Dieeuropäische Position darf sich dabei nicht in der Ab-arbeitung des Kriterienkatalogs für die spätere Mitglied-schaft erschöpfen, sondern die EU muss darüber hinauseinen Plan parat haben. Dies ergibt sich aus der Verant-wortung gegenüber Europa, seiner Geschichte und demSchicksal der Völker.Es ist auch richtig, dass die Bundesregierung, allenvoran unsere Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, im-mer wieder von Belgrad die so wichtige Normalisierungdes Verhältnisses zu Pristina eingefordert hat. Bei ihremletzten Besuch Ende 2011 in Belgrad hat sie erneut ein-dringlich darauf hingewiesen. Deutschland und Europakönnen keinen EU-Beitrittskandidaten akzeptieren – siewerden dies auch nicht tun –, der die notwendige Nor-malisierung zwischen Serbien und Kosovo behindert.
Die europäischen Partner müssen da aber mitziehen.Viel zu lange schon scheint sich Europa damit abzufin-den, dass sich vor unserer Haustür, letztlich mitten inEuropa, zwei ethnische Gruppen feindselig gegenüber-stehen. Die Lage ist nach den Präsidentschaftswahlenam vergangenen Sonntag nicht einfacher; denn jetzt istein Nationalist Präsident geworden.Meine Damen und Herren, die Gespräche zwischenSerbien und Kosovo zur gegenseitigen Annährung müs-sen endlich auch andere Themen abdecken. Bislang wa-ren sie sehr technisch. Zu einer spürbaren Entspannungder Lage haben sie noch keinen nennenswerten Beitraggeleistet. Zudem wird nach unserer Überzeugung nachwie vor viel zu wenig dafür getan, ausreichende Investi-tionen in die Infrastruktur des Kosovo zu fördern. Umdie Lebensqualität der Menschen dort zu erhöhen, müs-sen die vorhandenen Defizite im Bildungssektor, beiSchulen und Hochschulen, angegangen werden. Auchdie Sicherheit gehört in diese Aufzählung mit hinein.Denn auch das Gefühl von subjektiver Sicherheit undeine gute objektive Sicherheitslage tragen zur Lebens-qualität der Bevölkerung entscheidend bei.Wir wollen, dass KFOR keine Dauerpräsenz wird.Wir dürfen uns mit dieser Situation inmitten Europasüber 20 Jahre nach der Menschenrechtskatastrophe aufdem Balkan nicht abfinden. Weitere Truppenreduzierun-gen können wir dann vornehmen, wenn das Ziel der UN-Resolution 1244, die die völkerrechtliche Grundlage desKFOR-Einsatzes bildet, wieder ein Stück weit näher ge-rückt ist. Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnungauf eine Zukunft des Kosovo in Europa. Dafür wirdKFOR gebraucht. Deswegen stimmt meine Fraktionkonstitutiv der Verlängerung des Einsatzes zu.Ich danke Ihnen.
Die Kollegin Inge Höger hat das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binam Mittwoch aus Chicago zurückgekommen.
Dort habe ich an den Protesten gegen den NATO-Gipfelteilgenommen.
Ich hoffe, Sie haben zur Kenntnis genommen, dass dort20 000 Menschen gegen die NATO-Kriegspolitik de-monstriert haben, darunter sehr viele Veteranen. Dasmacht Mut.
Der Einsatz im Kosovo wird wie viele Interventionender NATO als Menschenrechtsmission dargestellt. InWirklichkeit geht es um die militärische Absicherung
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Inge Höger
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der Machtinteressen von europäischen und nordamerika-nischen Eliten. Dazu wird die Linke immer Nein sagen.
Der KFOR-Einsatz kann nicht losgelöst von der sons-tigen Balkan-Politik der sogenannten internationalenGemeinschaft gesehen werden. Die Menschen vor Ortzweifeln an dieser Politik, und zwar quer durch alleEthnien. In Pristina hing bis vor kurzem ein Plakat derUN-Mission UNMIK, auf dem sich ein Hund und eineKatze umarmen. Darunter stand der Satz: „Wenn die daskönnen, warum könnt ihr das dann nicht?“ Die Men-schen im Kosovo möchten nicht mit Tieren verglichenwerden. Ich habe Verständnis dafür, dass sie das als ras-sistisch empfinden.Man kann den Bundeswehreinsatz auch nicht los-gelöst von der Geschichte des Kosovo-Konflikts beur-teilen. Seit Jahren zementieren NATO und EU die ethni-schen Spaltungen auf dem Balkan, auch im Kosovo. Siespielen damit – mal gewollt, mal ungewollt – den Natio-nalisten in die Hände. So haben sie eine Situationgeschaffen, die den KFOR-Einsatz nun scheinbar not-wendig macht – aber eben nur scheinbar; denn die Span-nungen im Kosovo werden ja nicht weniger. Militärschafft keinen Frieden, weder in Mitrovica noch inSrebrenica, dessen Opfer immer wieder als Rechtferti-gung für NATO-Kriege herhalten müssen.
Die Toten würden sich im Grabe umdrehen, wenn siewüssten, dass in ihrem Namen Kriege stattfinden.
Die KFOR-Mission steht außerdem in engem Zusam-menhang mit der EU-Perspektive, die das Kosovo aufWunsch der Bundesregierung erhalten soll. Die Men-schen, mit denen ich in der Region in Kontakt bin, spü-ren, dass ihre korrupten, nationalistischen Eliten und dieEuropäische Union zwei Seiten einer Medaille sind. Daswird besonders deutlich, wenn es um die Privatisierungöffentlichen Eigentums geht. Die EU fordert den Aus-verkauf staatlicher Unternehmen, und die lokalen Elitensetzen das gerne um. Die Menschen auf dem Balkan, diesich dagegen wehren, haben die Linke stets auf ihrerSeite.
Gegen Privatisierungen sind wir überall auf der Welt.Momentan ist das Kosovo de facto ein Protektorat derEU. Wenn die EU so bleibt, wie sie ist, dann wird sichbei einer EU-Mitgliedschaft für Pristina nicht viel än-dern. Das Beispiel Griechenland zeigt, wie die Troikamit der Peripherie der EU umgeht: Alles soll demokra-tisch aussehen, aber in Wahrheit bestimmen die EU undder IWF. Sie bestimmen, wie der Staatshaushalt auszuse-hen hat. Sie machen die Vorgaben für Sozialabbau undPrivatisierungen.Aber auch hier gibt es gute Nachrichten: Der Regie-rungswechsel in Frankreich und die guten Umfragewertewirklich linker Parteien in Griechenland und in den Nie-derlanden zeigen, dass ein anderes Europa möglich ist.
In diesem anderen, solidarischen Europa muss natürlichder gesamte Balkan – inklusive des Kosovo – seinenPlatz haben. Die jetzige Balkanpolitik und die KFOR-Mission führen in eine Sackgasse. In der Begründung Ih-res Antrags ist immer wieder von Stabilität die Rede.Das Einzige, was die Bundesregierung dort stabilisiert,ist die Krise. Damit muss Schluss sein. Deshalb sagt dieLinke Nein zur Bundeswehr im Kosovo.
Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Kollegin Höger, ich weiß nicht, die wievielteDebatte es ist, die wir miteinander führen. Eine Sachehabe ich noch nicht verstanden: Was ist Ihre Lösung,wenn die Gefahr besteht, dass Konflikte politische Pro-zesse torpedieren? Bisher habe ich dazu nichts gehört. Inder ersten Lesung hat ein Redner der Linken, der Kol-lege Nord, zugegeben, dass es im Norden ohne dieKFOR zu einem bewaffneten Konflikt gekommen wäre.Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass KFORnicht gebraucht wird, ist schlicht zynisch.
Es geht Ihnen überhaupt nicht um eine solidarische Vi-sion für Europa. Sie knicken vor den Nationalisten ein.Das ist nicht links, das ist schlicht zynisch.Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass wir De-batten zum Thema Europa führen. Das ist gut so. Wirführen Debatten über den Euro und über Griechenland,und es ist wichtig, dass wir hier und heute über einen derletzten nicht gelösten großen Konflikte mitten in Europasprechen. Der Sinn von KFOR kann nur sein, dass diePolitik alles daransetzt, damit diese Mission überflüssigwird. Dafür muss KFOR ein Zeitfenster schaffen. Dasgeschieht seit über zehn Jahren, und das ist gut. UnserDank geht nicht nur an das Reservebataillon, sondernauch an die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien,die dieser Belastung ausgesetzt sind.
Trotzdem muss man sehen: Das, was wir immer wie-der als Stabilität bezeichnen, wird von vielen Menschenvor Ort auch als Stagnation verstanden. Der Prozess gehtviel zu langsam voran. In Serbien gab es jetzt Wahlen.Es ist richtig gesagt worden: Die Wahlergebnisse derPräsidentschaftswahl hatten nichts mit dem Kosovo zutun. Sie hatten in erster Linie mit der wirtschaftlichen
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Omid Nouripour
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Lage in Serbien selbst zu tun. Wir sollten uns trotzdemnicht entmutigen lassen. Der Weg ist steinig, aber gang-bar.Wichtig ist nun, darauf zu drängen, dass der neue Prä-sident Serbiens Realismus walten lässt. In diesem Zu-sammenhang sollte sich die EU überlegen, welche Lehreman daraus zieht, dass man Boris Tadic seit Jahren of-fensichtlich unterstützt hat, und ob es nicht andere, bes-sere und dezentere Wege gegeben hätte.Die zentrale Frage ist, wie lange die Menschen in Ser-bien angesichts der ökonomischen Lage dort akzeptie-ren, dass quasi aus Folkloregründen 1 Milliarde Euro proJahr in den Norden des Kosovo fließt und dass das Ein-kommensniveau im Norden des Kosovo mittlerweilefünf- bis sechsmal so hoch ist wie in Serbien. Auf langeSicht wird man sich in Serbien fragen, ob dies so tragbarist.Wichtig ist deshalb, dass jetzt politische Initiativenangestoßen werden, zum Beispiel bei der AdministrativeBoundary Line. Das ist eine zentrale Frage, die zu lösenist, wenn es dazu kommen soll, dass es ein funktionie-rendes Grenzmanagement gibt, das von den Kosovarenselbst geleistet werden kann. Das ist keine militärischeFrage, das ist eine ausschließlich von der Politik zu lö-sende Frage.Ein Beispiel dafür ist die Frage der Überflüge überdas Kosovo. Das ist etwas, das die Politik lösen mussund das alles andere als unwichtig ist – auch für das Ein-kommen des Staates Kosovo.Wichtig ist auch, dass die Europäische Union erkennt,dass sie nicht mit einer so starken Stimme sprechenkann, wie sie könnte, solange es nicht 27, sondern22 EU-Staaten sind, die in dieser Sache tatsächlich einegemeinsame Sprache sprechen. Die EU schwächt sichselbst, und es wäre wichtig, dass auf europäischer Ebeneimmer wieder versucht wird, zu einer gemeinsamenLinie zu kommen. Damit würden wir eine klarere Spra-che nicht nur gegenüber Serbien, sondern auch gegen-über dem Kosovo sprechen.
Wichtig ist auch, dass die EU-Perspektive für alleLänder des Westbalkans offen bleibt. Natürlich muss esKonditionen geben, und natürlich muss das Thema Ko-sovo auch bei den Besprechungen und Verhandlungenmit Serbien eine Rolle spielen. Die Perspektive mussaber offen bleiben. Genauso muss man aber auch da-rüber nachdenken, wie lange es noch haltbar ist, dass dasKosovo als einziges Land in der Region keinerlei Er-leichterungen bei der Vergabe von Visa erhält.
Die diplomatischen Zeitfenster schafft das Militär.Das Militär ist dafür derzeit notwendig. Meine Fraktionwird diesem Mandat mit sehr großer Mehrheit zustim-men.
Florian Hahn hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol-legen! Auch nach 13 Jahren ist KFOR ein wesentlicherBestandteil der Bemühungen der internationalen Staaten-gemeinschaft, den Balkan zu stabilisieren und langfristigin Europa zu integrieren.KFOR ist und bleibt, wie der vergangene Mandats-zeitraum vor Augen führte, eine wichtige Operation, diefür die Sicherheit des Kosovo derzeit noch unerlässlichist. Daher stimmen wir heute für die Fortsetzung der Be-teiligung deutscher Soldatinnen und Soldaten an KFOR.KFOR ist eine erfolgreiche Operation, die den Wegfür wichtige Fortschritte im politischen Bereich hatebnen können. Der von der EU vermittelte bilateraleDialog zwischen Serben und Kosovaren wäre ohne diedurch KFOR gewährleisteten stabilen Rahmenbedingun-gen ebenso wenig denkbar gewesen wie die Verleihungdes Status eines Beitrittskandidaten an Serbien im Märzdieses Jahres; denn dank KFOR konnte die Sicherheits-lage in den letzten Jahren kontinuierlich stabilisiert wer-den.Im Großen und Ganzen kann man vorsichtig wiedereinen positiven Trend ausmachen. Dieser spiegelt sichauch in der Tatsache wider, dass die Wahlen erfreulicher-weise ruhig verlaufen sind. Damit haben diese Wahlendazu beigetragen, die Normalisierung der serbisch-koso-varischen Beziehungen weiter voranzutreiben. Es bleibtnun im Sinne des europafreundlichen Kurses, den Ser-bien unter Tadic eingeschlagen hatte, zu hoffen, dassdieser auch unter dem neuen Präsidenten Nicolic fortge-setzt wird. Jüngste Äußerungen von Nicolic hierzu klin-gen vielversprechend. Wir werden genau beobachten, obden Worten auch Taten folgen werden.Für die Gewährleistung friedlicher Wahlen gebührtmein Dank der OSZE, die die Wahlen bereits im Vorfeldbegleitet hat, aber auch den deutschen Soldatinnen undSoldaten, die für KFOR im Einsatz sind, um die Rah-menbedingungen für einen nachhaltigen politischen Pro-zess zu schaffen. Ich wünsche ihnen weiterhin viel Er-folg und Gottes Segen bei ihrem Einsatz.
Deutschland ist derzeit mit 1 222 Soldaten der größteTruppensteller der KFOR und stellt mit GeneralmajorDrews derzeit zum dritten Mal und ab September 2012zum vierten Mal in Folge den KFOR-Kommandeur. Ih-rem besonnenen Tun und der verantwortungsvollenWahrnehmung der Führungsaufgaben durch Generalma-jor Drews und seine Vorgänger verdanken wir nicht nur
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Florian Hahn
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einen großen Teil des Erfolgs der KFOR, sondern auchunsere angesehene Reputation unter den NATO-Partnernfür unseren Einsatz dort.Ebenso gebührt besonderer Dank den 550 deutschenSoldaten des zweiten Reservebataillons, die, nachdemsie gerade erst aus Afghanistan zurückgekommen waren,in das Kosovo aufgebrochen sind, um dort einer Eskala-tion der Lage vorzubeugen. Dies ist eine enorme Belas-tung, gar keine Frage; das wurde schon gesagt. Ursachewar eine Fehlplanung; dies ist aber eingeräumt worden.Es ist zugesagt worden, dass man aus diesem Fehler ler-nen möchte. Der Generalinspekteur wird in Bälde hierzupersönlich mit den betroffenen Soldaten sprechen. Daszeigt auch, dass ein Bewusstsein für diese doppelte Be-lastung und vor allem auch Respekt für die vorbildlicheEinsatzbereitschaft dieser Soldaten vorhanden sind.
Die Tatsache, dass das deutsch-österreichische Reserve-bataillon innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal akti-viert werden musste, zeigt allerdings auch, dass eineMandatsverlängerung für KFOR auf dem derzeitigen Ni-veau von 1 850 Soldatinnen und Soldaten weiterhin nö-tig ist. Es muss bei Bedarf kurzfristig eine Erweiterungmöglich sein, wenn die Sicherheitslage dies erfordert;denn trotz der allgemein stabilen Lage bleibt das Eskala-tionspotenzial gerade im serbisch dominierten Nordendes Landes groß.Daher ist die Präsenz der KFOR auch im kommendenJahr erforderlich; die Zahl der Soldaten kann nicht, wieursprünglich geplant, weiter reduziert werden. Je nachweiterer Entwicklung der Lage wollen wir natürlich dieAnzahl in Zukunft reduzieren. Wie das aussehen wird,kann man aber konkret nicht absehen.Nur wenn EU und NATO gemeinsam mit der interna-tionalen Staatengemeinschaft an einem Strang ziehen,rückt die Perspektive eines europäischen Kosovo ingreifbare Nähe. Diese wollen wir weiterhin aktiv unter-stützen und sollten beispielsweise unsere Bemühungenverstärken, bei den fünf fehlenden europäischen Staatenfür eine Anerkennung des Kosovo zu werben. Die Zu-kunft des Landes – davon hat mich mein Besuch im letz-ten Dezember endgültig überzeugt – liegt in Europa. Ichbitte Sie, zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses auf Drucksache 17/9768 zu dem An-trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschenBeteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz inKosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 17/9505 anzunehmen.Wir stimmen über die Beschlussempfehlung nament-lich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftfüh-rer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnenbesetzt? – Hier vorne an der Urne fehlt noch ein Schrift-führer der Opposition. Da muss sich jemand spontan be-reit erklären. – Gut. Sind jetzt alle Urnen besetzt? – Dasscheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstim-mung.Sind Kolleginnen und Kollegen anwesend, die eineStimmkarte haben und sie noch nicht einwerfen konntenund somit ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? –Dort oben gibt es noch einen Kollegen. Es gibt nochsportliche Aktionen. Dann warten wir noch einen Mo-ment.Das gibt mir Gelegenheit, eine Gruppe jungerSchweizer Nationalrätinnen und Nationalräte herz-lich zu begrüßen. Schön, dass Sie da sind.
Wir machen extra eine namentliche Abstimmung, damitSie bei uns etwas Besonderes erleben.Dann haben jetzt offensichtlich alle ihre Stimmkarteabgegeben. – Ich schließe die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später be-kannt gegeben.1)Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 17/9769. Wer stimmt für den Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmungdurch die einbringende Fraktion. Alle anderen haben da-gegen gestimmt.Jetzt würde ich gerne den nächsten Tagesordnungs-punkt aufrufen.
– Diese Formulierung deswegen, weil ich den Eindruckhabe, noch nicht alle in diesem Saal sind bereit, den Auf-ruf des nächsten Tagesordnungspunktes zu würdigen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Volker Kauder, Dr. Frank-WalterSteinmeier, Gerda Hasselfeldt, Rainer Brüderle,Dr. Gregor Gysi, Renate Künast, Jürgen Trittinsowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Regelung der Ent-scheidungslösung im Transplantationsgesetz– Drucksache 17/9030 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 17/9774 –1) Ergebnis Seite 21684 A
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21683
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Berichterstattung:Abgeordnete Jens SpahnDr. Carola ReimannGabriele MolitorDr. Martina BungeDr. Harald Terpeb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Transplantationsgesetzes– Drucksache 17/7376 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 17/9773 –Berichterstattung:Abgeordnete Stefanie VogelsangDr. Marlies VolkmerGabriele MolitorDr. Martina BungeDr. Harald TerpeZu dem erstgenannten Gesetzentwurf liegen zwei Än-derungsanträge vor: ein Änderungsantrag der Abgeord-neten Kathrin Vogler, Wolfgang Nešković, MatthiasBirkwald und weiterer Abgeordneter sowie ein Ände-rungsantrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg,Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender und weiterer Abgeord-neter.Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegenweiterhin ein Entschließungsantrag der Fraktionen derCDU/CSU, SPD und FDP sowie ein Entschließungsan-trag der Fraktion Die Linke vor.Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, eineinhalbStunden zu debattieren. Die Parlamentarischen Ge-schäftsführerinnen und Geschäftsführer haben sich da-rauf verständigt, dass die Reden der Kolleginnen undKollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt wer-den kann, zu Protokoll gegeben werden können. Sind Siemit dieser Vereinbarung einverstanden? – Das ist derFall. Dann verfahren wir so.Ich gebe das Wort dem Kollegen Volker Kauder.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Nach langen und intensiven Beratungen könnenwir heute ein Gesetzgebungsvorhaben zum Abschlussbringen, auf das viele Menschen in unserem Land war-ten. Es sind diejenigen, die auf ein Organ warten, das ih-nen das Leben retten kann. Das geltende Transplanta-tionsgesetz hat die – zu diesem Schluss kommen wir,wenn wir uns die Ergebnisse anschauen – damals in die-ses Gesetz gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen können.Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Die entscheidendeUrsache ist – so glauben Frank-Walter Steinmeier undich, die dieses Thema vorangetrieben haben –, dass wirnicht häufig und intensiv genug auf die Menschen zuge-gangen sind, um sie aufzufordern und zu motivieren,ihre Bereitschaft zu erklären, Organe zu spenden.Es war eine schwierige Abstimmung. Ich sage allenKolleginnen und Kollegen, die diese Arbeit geleistet unddie vorbereitenden Gespräche geführt haben, herzlichenDank. So kann es heute möglich werden, dass wir imDeutschen Bundestag eine breite und große Mehrheit fürdieses neue Gesetz bekommen. Diese breite und großeMehrheit ist ein erster wichtiger Schritt, um den Men-schen zu zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen ernst. Aberwir haben auch eine Lösung gefunden, wie wir denenhelfen können, die dringend auf Hilfe angewiesen sind.
Wir haben neben einer verbesserten Struktur in unse-ren Krankenhäusern – ein ganz entscheidender Punkt –die Krankenkassen bei den offenen Fragen der Finanzie-rung mit ins Boot geholt. Wir haben unsere Haushälterdafür gewinnen können, die notwendigen Mittel für dieInformation, die gegeben werden muss, zuzusagen undzur Verfügung zu stellen. So werden wir nun regelmäßigan die Menschen herantreten und sie bitten und auffor-dern, sich zu überlegen, ob sie nicht doch Organspenderwerden wollen.Wir haben uns für diese Entscheidungslösung ent-schieden, weil wir in solch hochsensiblen Fragen geradekeinen Druck ausüben wollen, weder direkt noch indi-rekt. Es gibt kein Recht darauf, von jemand anderem einOrgan zu bekommen. Wir wollten auch keine – wie inanderen Ländern üblich – Widerspruchslösung, wonachdie Menschen widersprechen müssen, wenn sie etwasnicht wollen. Wir waren uns in allen Fraktionen darübereinig: Wir wollen die Menschen motivieren. Das heißt,wir wollen sie nicht zum Widerspruch, sondern zum Ja-sagen motivieren. Dafür sollen nun die Voraussetzungenmit diesem Gesetz geschaffen werden.
Heute Morgen ist in den Zeitungen zu lesen, dass an-geblich ein großer Teil der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen gegen dieses Gesetz oder mit Enthaltung stim-men will. Dies ist nicht der Fall. Es gibt einen Punkt imzweiten Teil des Gesetzgebungsvorhabens, in dem es umdie Organisation geht – beispielsweise die DSO – und zudem es noch Fragen gibt; dazu wird der Bundesgesund-heitsminister später sicherlich noch etwas sagen. Es wur-den zwar Verbesserungen erreicht. Aber richtig ist auch,dass wir mehr Transparenz brauchen. Wir wollen in ver-stärktem Maße dafür sorgen, dass offene Fragen geklärtwerden.Ich freue mich sehr darüber, dass dieser Punkt, in demwir nicht ganz einer Meinung sind, Frau KolleginScharfenberg, nicht dazu führt, dass die große Botschaftgeschmälert wird: Jawohl, wir machen am heutigen Tageinen großen, wichtigen Schritt und kommen in der Or-ganspende auf freiwilliger Ebene motivierend voran.Das ist eine gute Botschaft für viele betroffene, krankeMenschen in unserem Land.
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21684 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Volker Kauder
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Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerin-nen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der nament-lichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung desAuswärtigen Ausschusses zur Fortsetzung der deutschenBeteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz imKosovo auf Grundlage der Resolution 1244 bekannt – esgeht um die Drucksachen 17/9505 und 17/9768 –: Eswurden 564 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt486 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein 70. 8 habensich enthalten. Damit ist die Beschlussempfehlung ange-nommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 564;davonja: 486nein: 70enthalten: 8JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Dr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzLena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid Voßhoff
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21685
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Dr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmFrank Hofmann
Christel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Steffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingAndrea NahlesManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannRené RöspelKarin Roth
Michael Roth
Axel Schäfer
Bernd ScheelenWerner Schieder
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPJens AckermannChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Gisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy Montag
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21686 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Kerstin Müller
Dr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUDr. Peter GauweilerFDPDr. h. c. Jürgen KoppelinDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostKathrin VoglerJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDKlaus BarthelPetra Hinz
Waltraud Wolff
BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENSylvia Kotting-UhlMonika LazarBeate Müller-GemmekeLisa PausDr. Harald TerpeWir kommen zurück zu unserem Tagesordnungs-punkt. Ich gebe das Wort dem Kollege Dr. Frank-WalterSteinmeier.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Wenn heute die beiden vorgelegten Gesetzent-würfe hier im Hohen Haus eine große und breite Mehr-heit finden, dann ist das in erster Linie natürlich eineZustimmung zur Organspende, aber auch ein eindeutigesJa dieses Deutschen Bundestages zu Mitmenschlichkeitund Solidarität. Daran, dass das möglich geworden ist,haben ganz viele Anteil, diejenigen, die hier debattierthaben, diejenigen, die die Gesetzentwürfe vorbereitethaben, und diejenigen, die von außen geholfen und ge-schoben haben, dass es zu Gesetzentwürfen und zu Ab-stimmungen kommt. Deshalb zuvörderst mein ganzherzliches Dankeschön, dass das möglich geworden ist.
Worum es geht – Kollege Kauder hat es eben gesagt –,ist im Grunde genommen nicht mehr und nicht weniger,als Hilfe zu organisieren für Todkranke, die ohne eineOrganspende nicht überleben können. Da können natür-lich – das wissen Sie alle; da sind unsere Möglichkeitenbeschränkt – Gesetzgebung und Recht immer nur einBeitrag sein. Den größeren Beitrag liefern ganz ohneZweifel Wissenschaft, Medizin und Pflege in den Kran-kenhäusern. Aber Gesetzgebung und Recht können klä-ren, Zweifel ausräumen und Richtung geben. Ich glaube,dabei sind wir mit diesen beiden Gesetzentwürfen jetztein großes Stück weitergekommen.Dass es in der Vergangenheit Probleme gab, wird inallen Fraktionen so gesehen. Vor 15 Jahren, im Juni1997, hat der Deutsche Bundestag – auch damals gab eseine intensive Debatte in der Öffentlichkeit und hier imBundestag – das Transplantationsgesetz beschlossen, üb-rigens auch damals in einer fraktionsübergreifenden Ini-tiative. Das war ein erster Schritt, um Rechtssicherheitzu schaffen. Aber wir wissen, dass das Gesetz, das da-mals auf den Weg gebracht worden ist, nicht alle Erwar-tungen erfüllt hat. Wenn wir so viel Leid wie möglichlindern möchten, wenn wir so vielen Menschen wiemöglich helfen wollen, auch mit neuen Organen, dannmüssen wir nachbessern, und dazu bieten die beiden Ge-setzentwürfe eine Grundlage.Eine konkrete Verbesserung, über die wir vielleicht inder Öffentlichkeit nicht so sehr gesprochen haben, aberdie ich für ganz entscheidend halte, ist zum Beispiel dieverpflichtende Bestellung von Transplantationsbeauf-tragten in den Krankenhäusern, die die Abläufe optimie-ren. Das ist ganz wichtig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21687
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Eine zweite ganz wichtige Verbesserung, über die inder Öffentlichkeit auch weniger bekannt ist, ist die Ver-besserung der Situation der Lebendspender. Ich habe inden letzten Monaten und anderthalb Jahren viele Briefemit teilweise haarsträubenden Geschichten erhalten, wieLebendspender entweder von ihren Arbeitgebern odervon ihren Krankenkassen im Regen stehen gelassen wur-den. Dass das jetzt bereinigt wird und hoffentlich in denallermeisten Fällen ein Ende findet, dazu leisten die Ge-setzentwürfe einen guten Beitrag. Auch dafür Danke-schön.
Ein weiterer Punkt ist – darüber haben wir mehr gere-det, auch in der Öffentlichkeit – unsere Suche danach,wie wir die Bereitschaft zur Organspende in Deutsch-land erhöhen können. Eigentlich ist die Bereitschaft– das haben wir uns gegenseitig oft genug versichert –gar nicht das entscheidende Problem. Wenn gefragtwird, dann sind die Menschen prinzipiell bereit, Organezur Verfügung zu stellen. Es hapert immer dann, wenn eskonkret wird, wenn die Menschen losgehen und sich ei-nen Organspendeausweis besorgen müssen, wenn siediesen ausfüllen und möglichst so bereithalten müssen,dass man ihn auch wiederfindet. Genau da setzt die Ideean, die wir in dem Gesetzgebungsvorhaben verfolgt ha-ben, nämlich die Idee der Entscheidungslösung: Es sol-len sich auf Grundlage dieses Gesetzes mehr Menschenvor dem eigenen Tod entscheiden, ob sie nach ihrem TodOrganspender sein möchten oder nicht.Wir wollen – das habe ich einmal Herrn KollegenKauder in einer der Debatten gesagt – den Menschen tat-sächlich – das darf man auch nicht bestreiten – etwasmehr auf die Pelle rücken, indem wir fragen und nach-fragen.Das leisten viele Initiativen schon heute. Sie macheneine tolle Aufklärungsarbeit, werben für die Organ-spende. Mit dem vorliegenden Gruppenantrag, den Siealle gesehen und diskutiert haben, nehmen jetzt wir, derGesetzgeber, der Deutsche Bundestag, unseren Teil derVerantwortung wahr. Wir sagen damit klipp und klar: Esist auch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Men-schen sich mit der Frage der Organspende tatsächlichauseinandersetzen.Was dieser Gesetzentwurf anbietet, was wir darin ver-ankert haben, das ist zunächst einmal eine Art zusätz-liche Serviceleistung. Krankenkassen werden sich da-rum kümmern, dass die Organspendeausweise zu denMenschen kommen. Wenn die Menschen das wünschen,werden die Krankenkassen sogar deren Entscheidungdokumentieren. Das heißt, dass man sich als Einzelnerdarum nicht mehr kümmern muss. Bevor die Debattehier wieder losgeht: Das ist das Angebot einer Service-leistung. Niemand wird verpflichtet und niemand wirdgezwungen, seine Entscheidung durch die Krankenkassedokumentieren zu lassen. Wir schaffen eine Möglichkeit.Mindestens das ist aus meiner Sicht dringend notwendig.
Ich finde, manche Debatte über die Frage, ob derStaat den Menschen eigentlich bedrängen darf, ob er ihnzu einer Entscheidung drängen darf – solche Debattensind in der Vergangenheit geführt worden und werdenvielleicht auch in der Zukunft noch geführt werden –,geht ein bisschen an der Sache vorbei. So einfach dürfenwir uns diese Entscheidung eben nicht machen.Im Kern geht es darum – das ist für den Gesetzgeberdoch nichts Ungewöhnliches –, zwischen zwei richtigenInteressensgesichtspunkten abzuwägen. Das eine ist derInteressensgesichtspunkt, vom Staat möglichst in Ruhegelassen zu werden, und das andere ist der Interessens-gesichtspunkt von Todkranken, die ohne ein Organ nichtüberleben können. In dieser Abwägung sagen wir alsGesetzgeber, der diese Gesetzentwürfe vorlegt: Es gibtkein Recht auf Gleichgültigkeit. Es gibt auch kein unver-brüchliches Recht, im Hinblick auf Fragen durch denGesetzgeber bzw. durch öffentliche Einrichtungen inRuhe gelassen zu werden. Wir halten die Frage, ob je-mand bereit ist, Organe zu spenden, und die Aufgabe,sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, für zu-mutbar. Deshalb haben wir als Gesetzgeber in dieseRichtung abgewogen.
Zum Schluss. Es geht nicht darum, dass wir alle Men-schen zu Organspendern machen wollen, sondern esgeht darum, dass wir Menschen auffordern, selbst Über-legungen anzustellen, sich selbst eine Position zu formu-lieren. Das ist hilfreich – das kann ich Ihnen versichern –,nicht nur für uns alle selbst, sondern auch, um bei einemplötzlichen Todesfall die Beantwortung der Frage nacheinem möglichen Spendewillen des Verstorbenen nichtden nahen Angehörigen zu überlassen. Um es auf denPunkt zu bringen: Es ist eine Frage der Verantwortung.Die Entscheidung über das Maß der Verantwortung, daswir zu tragen bereit sind, ist eine Frage, die ins Lebengehört und nicht über den Tod hinausgeschoben werdendarf.Vielen Dank.
Das Wort hat Bundesminister Daniel Bahr.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir an Organspenden denken, dann denken wir andie vielen Einzelschicksale und die Geschichten, die da-hinterstehen. Eine Geschichte ist die von Jens Bossers,den ich gestern Abend kennenlernen durfte, als er einen
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21688 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Bundesminister Daniel Bahr
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Preis für sein Engagement erhalten hat. Er war nochklein – er kann sich daran nicht erinnern –, als er denKampf seines Lebens bestand. Drei Wochen nach seinerGeburt wird ein schwerer Herzfehler festgestellt; er be-sitzt nur eine Herzkammer.Jens Bossers musste vier sehr schwere Herzoperatio-nen über sich ergehen lassen. Es gab immer wieder neueKomplikationen: einen Schlaganfall, Hirnhautentzün-dung, Lungenentzündung und Herzversagen. Jens hatsich immer wieder in das Leben zurückgekämpft; dochmit fünf Jahren brauchte er ein neues Herz. Nach Mona-ten des Wartens konnte ihm endlich ein Spenderorganeingepflanzt werden. Jens Bossers engagiert sich seit-dem ganz besonders, um dafür zu werben, dass sichmehr Menschen bereit erklären, einen Organspendeaus-weis auszufüllen. Das verweist auf eine der vielen Initia-tiven, mit denen bürgerschaftliches Engagement gezeigtwird; davon hat auch schon Herr Steinmeier gesprochen.Sie reichen jedoch nicht, um mehr Menschen zu über-zeugen, einen Organspendeausweis auszufüllen.Nirgends liegen das Leben und der Tod so nahe bei-einander wie bei diesem Thema; denn der Tod des einenMenschen bedeutet die Hoffnung auf ein neues Lebenfür denjenigen, der auf einer Warteliste ist. Diese Ver-knüpfung löst bei den Menschen aber auch Ängste aus.Deswegen ist es so, dass viele Menschen sich zwar daraufverlassen wollen, dass dann, wenn sie in der Situationsind, genügend Spenderorgane zur Verfügung stehen,dass aber leider noch zu wenige sich einen Ruck gebenund selbst einen Ausweis ausfüllen. Nur etwa 25 Prozentder Deutschen haben bisher einen solchen Ausweis.Weil die Organspende ein Akt der Nächstenliebe ist,auf den es keinen gesellschaftlichen oder moralischenAnspruch gibt – zu der Organspende muss man sich ak-tiv entscheiden –, sagen wir den Bürgerinnen und Bür-gern nur klipp und klar: Wenn mehr mitmachen, müssenweniger Menschen warten. Deswegen ist es ein starkesSignal, dass der Bundestag über die Parteigrenzen hin-weg gemeinsam eine Entscheidungslösung vorlegt unddie Menschen in Deutschland dazu aufruft: Beschäftigteuch mit der Organspende, mindestens einmal im Le-ben! Gebt euch einen Ruck! Entscheidet euch, am bestenfür die Organspende! Wir akzeptieren, wenn ihr euch zueinem bestimmten Zeitpunkt nicht entscheiden könnt.Aber wir werden nicht lockerlassen und werden regel-mäßig immer wieder informieren. Das sind wir denMenschen schuldig, die auf einer Warteliste sind unddringend auf ein Spenderorgan warten.
Wir sagen den Menschen auch: Jeder Organspenderist ein Lebensretter. Jeder, der sich zu Lebzeiten für odereben auch gegen die Organspende entscheidet, nimmtdiese Entscheidung den Angehörigen ab, die sonst in ei-ner ganz schwierigen Situation im Krankenhaus gefragtwerden: Wie sieht es aus? Können wir bei Ihrem Ange-hörigen mit einer Organspende rechnen? Dürfen wir diedazu notwendigen Maßnahmen ergreifen? – In einer soschwierigen Situation als Angehöriger die Entscheidungzu treffen, wenn man nicht vorher, zu Lebzeiten sich ent-schieden hat, ist – das wissen wir – schwer. Es ist gut,wenn die Menschen sich schon zu Lebzeiten entschiedenhaben, weil damit Klarheit auch für die Angehörigen inschwierigen Situationen besteht.Das ist die eine Seite der beiden Gesetzentwürfe,nämlich dass wir sehr viel dafür tun wollen, dass Men-schen besser informiert werden, aufgeklärt werden, ebenauch dadurch, dass die Krankenkassen und Krankenver-sicherungen erstmals alle Bürgerinnen und Bürger inDeutschland anschreiben und einen Organspendeaus-weis zur Verfügung stellen, damit man den einmal in derHand hat, damit man ihn am besten gleich ausfüllenkann. Das hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Dasist das, was die Entscheidungslösung impliziert.Aber nicht nur die Krankenversicherungen schreibenihre Versicherten regelmäßig an. In den Behörden wer-den Informationen ausgelegt. Wir werden eine große Öf-fentlichkeitskampagne starten, um die Menschen besseraufzuklären; denn viele haben noch offene Fragen. DieseFragen können beantwortet werden.Dazu gehört, dass wir auch die rechtlichen Rahmen-bedingungen verbessern wollen. Es ist schon angespro-chen worden: Nicht nur die Bereitschaft, einen Organ-spendeausweis auszufüllen, wollen wir steigern, sondernwir wollen auch dafür sorgen, dass die Anzahl der Organ-spenden steigt. Ich will es nicht akzeptieren – das darfuns nicht ruhen lassen –, wenn wir feststellen, dass inden Regionen und auch in einzelnen Städten die Kran-kenhäuser unterschiedlich viele potenzielle Organspen-der melden. Es ist richtig, dass wir nun endlich gesetz-lich dafür sorgen, dass in jedem Entnahmekrankenhausein Transplantationsbeauftragter zu bestellen ist, derkonkreter Ansprechpartner für den Ablauf und den Pro-zess im Krankenhaus ist, damit mehr potenzielle Organ-spender gewonnen werden, die Abläufe verbessert wer-den und in den Krankenhäusern die Zuständigkeiten klargeregelt sind.Wir brauchen daneben rechtliche Rahmenbedingun-gen für die Lebendspende. Die Lebendspende ist ein al-truistisches Handeln. Deswegen darf der, der sich für dieLebendspende entscheidet, keine Nachteile erleiden. Wirregeln jetzt endlich klar, dass die Versicherung des Emp-fängers – die Krankenversicherung im Wesentlichen –auch für die Kosten beim Lebendspender zuständig ist.Wir regeln ferner die Entgeltfortzahlung und die unfall-versicherungsrechtlichen Fragen, sodass der Lebend-spender sich auch darauf verlassen kann, dass er, wenner sich für diesen Weg entscheidet, keine Nachteile erlei-det oder keinen Ärger bekommt.
Wir sorgen insofern für mehr Transparenz, für Ver-lässlichkeit und auch für mehr Vertrauen. Bei dem sosensiblen Thema der Organspende ist es, glaube ich, dasAllerwichtigste, dass sich die Menschen auf etwas ver-lassen können.Wichtig ist aber auch die Frage des Datenschutzes.Ich will mich an die Grünen und die Linken wenden, dieeinige Fragen und auch den einen oder anderen Kritik-punkt eingebracht haben. Ich will Ihnen die Sorgen neh-men.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21689
Bundesminister Daniel Bahr
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Für mich ist völlig klar, dass weiterhin der Patient undVersicherte Herr seiner Daten bleibt. Er entscheidet, werZugang zu diesen Daten hat. Deswegen wird es auch mitdieser Gesetzesänderung kein Schreibrecht der Kranken-kassen oder auch keine Einsicht der Krankenkassen indie hochsensiblen Gesundheitsdaten geben. Aber es istin diesem Gesetzentwurf vorgesehen, dass in einer Zeit,in der das technisch möglich ist, die Erklärung zur Or-ganspende natürlich auch auf der elektronischen Gesund-heitskarte gespeichert werden kann – nicht kombiniertmit den Gesundheitsdaten, sondern in einem eigenenFach. Ich glaube, das ist sogar ein Stück mehr Daten-schutz.
Der Zugriff auf die Erklärung, die eine hochsensible undpersönliche Entscheidung ist, ist beim Organspendeaus-weis, den ich offen trage, viel einfacher als bei der elek-tronischen Gesundheitskarte, bei der ich entscheide, werdarauf zugreifen darf. Insofern ist diese Regelung einMehr und nicht ein Weniger an Datenschutz.
Von den Grünen werden insbesondere die Regelungenzur Forschung kritisiert. Ich sage klipp und klar, dass dieDatenschutzregeln bei der Forschung eingehalten wer-den. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat heute nocheinmal klipp und klar bestätigt, dass er die Regeln desDatenschutzes gewahrt sieht und deswegen keine Be-denken gegen diese Regelung hat. Wir müssen aber auchin der Forschung weiterkommen. Wir dürfen bei der Or-gantransplantationswissenschaft nicht haltmachen undauf dem Stand von vor 10 oder 20 Jahren bleiben. Wirsind den Menschen, die häufig auch Folgeschäden habenund eine medikamentöse Behandlung benötigen, ver-pflichtet, alles dafür zu tun, in der Forschung weiterzu-kommen. Deswegen sind die Daten der Person anonymi-siert. Nur wenn eine Einwilligung der Person vorliegt,können personenbezogene Daten für Forschungszweckegenutzt werden. Hier sind somit die Regeln des Daten-schutzes gewahrt. Dies hat der Bundesdatenschutzbeauf-tragte bestätigt. Auch die Organtransplantationsmedizi-ner bestätigen, wie wichtig es ist, dass wir in derForschung weiterkommen.
Es ist insofern ein starkes Signal, dass sich der ge-samte Bundestag einig ist, dass wir die Bürgerinnen undBürger auffordern, sich mit dem Thema Organspende zubeschäftigen. Es ist auch ein starkes Signal, dass wir mitgroßer Mehrheit Veränderungen im Transplantationsge-setz vornehmen, um die konkreten Abläufe und Rah-menbedingungen für die Organspende zu verbessern.Heute ist ein guter Tag für die Menschen in Deutschland,die vom Thema Organspende betroffen sind.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Dr. Martina Bunge hat jetzt das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Seit 45 Jahren schafft der medizinischeFortschritt die Möglichkeit, bei Organversagen durchTransplantation eines Spenderorgans nicht mehr bedin-gungslos dem Tod ausgeliefert zu sein. Vor 15 Jahren hatin Deutschland der Gesetzgeber nach einer langen ge-sellschaftlichen und parlamentarischen Debatte Organ-spende und Transplantation einen gesetzlichen Rahmengegeben. Natürlich gingen ethische, werteorientierteDiskussionen weiter. Der medizinische Fortschritt hatinsbesondere durch die Computertechnik eine Dynamikbekommen, die wir alle kaum erwartet haben. Esbrauchte also eines Impulses, um das Gesetz weiterzu-entwickeln und zu verbessern.Der Impuls für das Transplantationsänderungsgesetzist durch die EU-Richtlinie über Qualitäts- und Sicher-heitsstandards gekommen. Der Gruppenantrag ist nachder bekannten Vereinbarung aller Fraktionsvorsitzendenim letzten Jahr auf den Weg gebracht worden. DieserGesetzentwurf bittet alle Bürgerinnen und Bürger, sichmit dem Thema Organspende zu beschäftigen, sich mög-lichst zu entscheiden und dies auch zu dokumentieren.
Ich sage aber auch: Für einen optimalen Rahmen fürOrganspende und Transplantation werden die vorgeleg-ten Gesetzesinitiativen allein nicht ausreichen. Organ-spende wie Transplantation brauchen zuallererst ein soli-darisches Gesundheitssystem. Das Gesundheitssystemder Bundesrepublik marschiert gerade in die andereRichtung: in die der Privatisierung und Kommerzialisie-rung.
Aufgabe eines solidarischen Gesundheitssystems undeiner gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik ist für michzuallererst, Menschen gesund zu erhalten, um einen Or-ganverlust möglichst zu vermeiden. Mir war es wichtig,dass dieser Gedanke an prononcierter Stelle in denGruppenantrag eingebracht wurde. Ich denke: Der ersteSatz ist eine solche Stelle.
Lassen Sie mich zuerst aber noch einige Dinge zumTransplantationsgesetz der Bundesrepublik sagen. Essetzt auf Selbstlosigkeit und Vertrauen der Bürgerinnenund Bürger. Dafür sind – der Minister sagte es eben –Transparenz und Kontrolle der Abläufe unerlässlich.Aufgabe der Novelle des Transplantationsgesetzes wärees gewesen, dass mehr Vertrauen geschaffen wird, indemUnsicherheiten, die in den letzten 15 Jahren zutage ge-treten sind, abgebaut werden.Leider haben die Bundesregierung und die Koalitionaber etliche Möglichkeiten, Besseres zu schaffen, ver-
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21690 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Martina Bunge
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schenkt. So bleibt es beim komplizierten Netzwerk vonKooperationsmustern und Entscheidungsprozessen. Ins-besondere halten wir die Deutsche Stiftung Organtrans-plantation vom Rechtsstatus her als Koordinierungsstellefür problematisch. Hier muss die Politik unbedingt dran-bleiben.
Handlungsbedarf sehen wir bei der Ausgestaltung derBeratungsangebote. Beratung allein über Broschürenoder andere Printmedien den Krankenkassen und derBundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu über-lassen, wird der sensiblen und ethisch geprägten Proble-matik von Organspende und Transplantation nicht ge-recht.Offene Fragen bleiben bei den Zuteilungskriterienvon Organen. Neuere wissenschaftliche Erkenntnissezum Transport von expandierten Organen werden nichthinreichend berücksichtigt. Auch neue Erkenntnissezum Hirntod wurden nicht angefasst, nicht ausdiskutiertund nicht berücksichtigt.In unserem Entschließungsantrag haben wir unsereKritik an diesem Gesetzentwurf komplex dargelegt undunsere Vorschläge fixiert. So werden wir, auch wenn dieÄnderungsanträge der Koalitionsfraktionen etliches Ver-nünftige gebracht haben – genannt sei die soziale Siche-rung bei Lebendspenden –, den Gesetzentwurf zurÄnderung des Transplantationsgesetzes insgesamt ab-lehnen.
Schade, dass die Chancen vergeben wurden!
Ich habe mich an der Erarbeitung des Gruppenantragszur Entscheidungslösung beteiligt. Der Kompromiss warnicht einfach, aber die Arbeit daran beispielhaft, denkeich. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei allen Be-teiligten aus den anderen Fraktionen und von der Bun-desregierung recht herzlich vor allen Dingen für dieFairness bedanken.
Mit dem Gesetzentwurf soll erreicht werden, dass dievorhandene Bereitschaft in der Bevölkerung zur Organ-spende umfassender bzw. häufiger dokumentiert wird.Die Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktio-nen wollten, dass diese Entscheidung auch auf der künf-tigen Generation der elektronischen Gesundheitskartegespeichert wird. Mir war wichtig, dass die bekanntePappkarte erhalten bleibt, damit jeder auch mit einemStift sein Kreuz machen kann, um zu dokumentieren, ober das will oder nicht.Obwohl meine Fraktion der elektronischen Gesund-heitskarte skeptisch gegenübersteht, trage ich den ver-einbarten Kompromiss mit und werde daher den vorlie-genden Änderungsanträgen zur Streichung dieserPassagen nicht zustimmen; denn ein Kompromiss hatimmer mehrere Bestandteile, und wenn man einen he-rausbricht, kann das ganze Gebäude zusammenfallen.
Im Ergebnis wird dieses Gesetz die Organspende unddie Transplantation hoffentlich stärker ins Bewusstseinder Menschen rücken – immer mit dem Ziel, niemandenzu einer Entscheidung zu zwingen, aber dann, wenn dieEntscheidung schon gefallen ist, sei sie nun zustimmendoder ablehnend, das auch zu dokumentieren und die Ent-scheidung wahrlich nicht – der Minister hat die Situationgeschildert – den Familienangehörigen im Fall der Fälleaufzuhalsen.Ich hoffe, dass diese Gesetzesänderungen medialnicht nur Horrorszenarien provozieren, sondern eine of-fene gesellschaftliche Diskussion entfachen werden.Mit diesem Gesetzgebungsverfahren wird der Prozessnicht abgeschlossen sein. Irgendwann werden wir wiederdarangehen müssen, vieles anders und besser zu regeln.Ich hoffe, dass das dann auch fraktionsübergreifend ge-schieht; denn Organspende und Transplantation lebenvon einem gesellschaftlichen Konsens.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Harald Terpe hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir befinden heute abschließend über zwei Gesetz-entwürfe, die sich mit dem sensiblen Thema Organ-transplantation beschäftigen – sensibel deshalb, weileinerseits viele schwer Erkrankte auf den überlebens-wichtigen Empfang eines intakten Organs hoffen undandererseits im Falle der ernstzunehmenden, zumeist an-gewandten sogenannten postmortalen Organspende zu-tiefst individuelle Fragen von Sterben, Tod und körperli-cher Integrität berührt sind. Umso beachtlicher ist es,dass nach sehr ernsthafter und konstruktiver Diskussionzwischen den Fraktionsvorsitzenden und den Fachpoliti-kern der im Bundestag vertretenen Parteien die über-große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen aus allenFraktionen des Hauses den vorliegenden Gruppenantragunterstützt.Auch ich werbe für die Unterstützung dieses Grup-penantrages. Die weitreichende Bedeutung der Regelungder Entscheidungslösung ergibt sich für mich zunächstaus ganz grundsätzlichen Erwägungen. Die Systematikdes Gesetzentwurfs verfolgt das Ziel der informiertenSelbstentscheidung bezüglich der Organspendebereit-schaft und deren Dokumentation. Hier wird also nocheinmal das Prinzip untermauert, dass Organspende nur
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21691
Dr. Harald Terpe
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nach Zustimmung erfolgen kann und nicht der Spendereine Fremdentscheidung abwehren muss.Der Gesetzentwurf stellt darüber hinaus vernünftiger-weise erstmals ausdrücklich klar, dass keine Person ver-pflichtet werden kann, eine Erklärung zur Organspendeabzugeben. Außerdem legt er fest, dass Bürgerinnen undBürger umfassend aufgeklärt und informiert werdenmüssen.
Dabei muss die gesamte Tragweite der Entscheidung zurSprache kommen, beispielsweise hinsichtlich des denBetroffenen oft nicht bekannten Einflusses, den einepostmortale Organspende auf die Verlängerung des Ster-beprozesses haben kann.Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal auf dieHirntoddiskussion eingehen. Mit dem jetzigen Gesetz-entwurf wird an der Hirntodkonzeption zunächst keineÄnderung vorgenommen. Das enthebt uns aber nicht derVerpflichtung, uns in Zukunft auch darüber Gedanken zumachen, dass unsere Techniken der Hirntoddiagnostikdazu führen müssen, zweifelsfrei den Tod des gesamtenGehirns – also des Stammhirns, des Großhirns und desKleinhirns – festzustellen.
Wir wissen, dass es Diskussionen zwischen den europäi-schen Ländern gibt. An dieser Stelle wird sicherlichnoch weiter diskutiert werden müssen.Ich möchte noch eine Anmerkung zur Patientenverfü-gung machen. Man muss darauf hinweisen, dass es indem Zusammenhang Wertungswidersprüche gebenkann. Auch hier muss eine entsprechende Information andie Versicherten erfolgen.Gleichzeitig hat die Bundesregierung einen Gesetz-entwurf vorgelegt, der die Strukturen und Abläufe in denKrankenhäusern optimieren soll und damit vermutlichebenso entscheidend für eine Verbesserung der Trans-plantationsmedizin und für die Erhöhung der Zahl derOrganempfänger ist. Dazu gehört beispielsweise die ver-pflichtende Einführung von Transplantationsbeauftrag-ten – hierzu ist schon einiges gesagt worden –; das halteich für eine sehr wichtige Maßnahme. All diese Maßnah-men werden zur Verbesserung der Situation beitragen,und zwar in der Weise, dass es mehr spendenbereitenMenschen als bisher ermöglicht wird, dies tatsächlich zutun. Das unterstütze ich ausdrücklich.Sehr wichtig ist in diesem Gesetzentwurf die deutli-che Qualitätsverbesserung, was die Lebendspende be-trifft. Das ist anzuerkennen. Ganz grundlegend für dieSpendenbereitschaft als solche und damit verbunden dieZahl der Organspenden ist allerdings das Vertrauen derBürgerinnen und Bürger darin, dass beteiligte Personenund Institutionen mit den gespendeten Organen sorgsamund redlich umgehen. Vertrauen ist ein hohes Gut, dasaber auch schnell erschüttert werden kann. Deshalbmuss Vertrauen sorgsam bewahrt bzw. wiederhergestelltwerden.Der vorliegende Gesetzentwurf zur technisch-organi-satorischen Veränderung des Transplantationsgesetzestut das nach unserer Auffassung nicht immer. Beispiels-weise soll es nun möglich sein, dass zukünftig Kranken-daten von Organspendern und -empfängern auch fürkommerzielle Forschungsvorhaben weitergegeben wer-den dürfen. Hierzu muss ich anmerken: Das ist einBruch mit der bisherigen Gesetzeslage.
Das heißt nicht, dass Bündnis 90/Die Grünen gegen jedeArt von Forschung wären. Bereits im Rahmen des jetzi-gen Gesetzes waren Forschungsvorhaben möglich. Dievorliegende Neuerung ist aber geeignet, das wichtigeVertrauen der Menschen in die altruistische Organ-spende nachhaltig zu beeinträchtigen.Ein weiterer heikler Punkt ist der Vertrauensverlustgegenüber der DSO in den letzten Wochen und Monaten.Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass eine vertrau-enswürdige und effektive, ethisch über jeden Zweifel er-habene Koordination des Organtransplantationswesenssowohl personell als auch strukturell sichergestellt wird.Deshalb ist es wichtig, jetzt Transparenz herzustellenund nachhaltige Kontrollmechanismen durchzusetzen,
zumal der Gesetzgeber aufgrund der EU-Richtlinie Qua-lität und Sicherheit sicherzustellen hat. Eine Organisa-tionsstruktur, in der beteiligte Organisationen und Perso-nen zugleich Nutznießer und Kontrolleure sein können– das ist kein Vorwurf –, erzeugt zwangsläufig Miss-trauen in der Bevölkerung. Meiner Meinung nach schaf-fen weder Gesetzentwurf noch Entschließungsantragvon Koalition und SPD diesbezüglich ausreichend Ab-hilfe. Ich konstatiere, dass etwas gemacht worden ist,aber das geht meiner Meinung nach nicht weit genug.
Ich verspreche Ihnen, dass wir von Bündnis 90/DieGrünen dieses Thema weiterverfolgen werden, um dannmöglichst einvernehmliche Lösungen zu erzielen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Jens Spahn hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In Deutschland warten derzeit 12 000 Menschen auf einSpenderorgan. Jeden Tag sterben drei Menschen, weil
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21692 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Jens Spahn
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sie kein Spenderorgan erhalten haben. Sie warteten ver-geblich. Jeder, der schon einmal mit Wartenden gespro-chen hat, etwa mit jemandem, der regelmäßig zur Dia-lyse muss und auf eine Niere wartet, weiß, was das jedenTag an Einschränkungen für die Lebensqualität bedeutet,und wie groß die Hoffnung ist, dass endlich der erlö-sende Anruf kommt, dass es einen Spender gibt. Erweiß, dass wir sowohl im Deutschen Bundestag als auchin der Gesellschaft die Verpflichtung haben, uns intensivmit der Frage zu beschäftigen, wie wir die Zahl derjeni-gen erhöhen könnten, die bereit sind, ein Organ zu spen-den.Es gibt aber noch einen anderen Aspekt. Wir wissenaus vielen Gesprächen, dass sich die Menschen in Bezugauf das Thema Organspende Sorgen machen. Diese Sor-gen müssen wir ernst nehmen. Sie fragen sich: Wenn ichals Organspender in ein Krankenhaus eingeliefert werde,wird dann wirklich alles für mich getan? Wird man sichwirklich um mich kümmern, oder werde ich schon alspotenzieller Organspender behandelt? Die Debatte inden letzten Monaten hat gezeigt, dass wir uns sehr diffe-renziert, sehr sachlich und tiefgehend mit diesem Themaauseinandersetzen und die Ängste und Sorgen auf beidenSeiten ernst nehmen.Um es klar festzuhalten: Es gibt kein Recht auf eineSpende, aber wir alle haben gegenüber denjenigen, diewarten, die Verpflichtung, dass wir uns mit diesemThema auseinandersetzen. Jeder Einzelne hat die Pflicht– zumindest eine moralische –, für sich zu überlegen,wie er sich zum Thema Organspende verhalten will. Istman im Fall der Fälle bereit, zu sagen: „Ja, ich bin Or-ganspender“? Oder sagt man – was genauso legitim ist –:„Nein, ich möchte aus verschiedenen, persönlichenGründen keine Organe spenden“? Diese Verpflichtunghat man im Übrigen auch gegenüber den eigenen Ange-hörigen – das wurde eben schon erwähnt –; denn wennman sich nicht zu Lebzeiten entscheidet, dann müssenim Regelfall die Angehörigen für einen entscheiden, fürdie das eine wahnsinnig schwierig Situation ist; denn siemüssen ermessen, was der Angehörige gewollt habenkönnte.Ich bin dankbar, dass wir in den vergangenen Mona-ten fraktionsübergreifend und umfassend über diesesThema diskutiert haben, und heute über zwei Gesetzent-würfe zur Verbesserung des Transplantationsgesetzesbeschließen können. Dazu gehört zum einen, dass wirdie Abläufe in den Krankenhäusern verbessern. Dasklingt zunächst banal und sehr technisch, es ist aber fürdie konkrete Situation wichtig. Es geht beispielsweiseum die Fragen: Wer spricht mit den Angehörigen, nach-dem der Hirntod festgestellt wurde? Wer hat im Kran-kenhaus, wo es manchmal hektisch zugeht, den Über-blick, überhaupt das Thema Organspende im Blick? Werachtet darauf, ob ein Patient auf der Intensivstation miteiner entsprechenden Diagnostik einen Organspendeaus-weis hat oder nicht? Es stellt sich auch die Frage: Wiewird eine Organentnahme vergütet? Für Krankenhäuserist es eine Herausforderung, wenn der Operationssaalplötzlich stundenlang wegen einer Organentnahme be-legt ist. Man muss auch darauf achten, dass niemandfinanzielle Nachteile hat und dadurch falsche Anreizeentstehen. Insofern regeln wir zum Teil sehr Techni-sches, was aber für die konkreten Abläufe in den Kran-kenhäusern sehr wichtig ist, um auch die Bereitschaftzur Organspende derjenigen zu erhöhen, die sie am Endeumsetzen müssen.Zweitens komme ich zum Thema der Lebendspende,das schon angesprochen worden ist. Bisher war es einunhaltbarer Zustand, dass diejenigen, die zu Lebzeitenbereit waren, zu spenden, sich in einer sozialrechtlichunsicheren Situation befanden, wenn es um Folgeerkran-kungen, Verdienstausfall und vieles andere mehr ging.Das wollten wir jetzt endlich regeln.Drittens geht es um die gerade angesprochene Ent-scheidungslösung. Wir wollen mehr Informationen nichtnur auf Plakatwände, sondern in die Familien bringen. InZukunft werden regelmäßig alle Versicherten – gesetz-lich wie privat Versicherte – in Deutschland angeschrie-ben. Ich stelle mir schon ganz lebenspraktisch vor, dasses Diskussionen am Frühstückstisch, am Mittagstischoder abends in der Familie bzw. im Freundeskreis gebenwird: Wie hältst du es denn eigentlich mit der Organ-spende? Weiter stelle ich mir vor, dass sich nach dieserDiskussion miteinander in der Familie jeder besser alsbisher in der Lage sieht, eine Entscheidung zu treffen.Deswegen wollen wir – manche empfinden übrigensschon das als Zumutung – durch das Anschreiben eineetwas regelmäßigere und ein wenig individuellere Kon-frontation mit dem Thema Organspende erreichen, damitdie Menschen sich mit der, wie ich sie gerade nannte,moralischen Verpflichtung auch gegenüber denjenigen,die warten, auseinandersetzen. Wir wollen aber – das istder großen Mehrheit von uns hier wichtig – keinenZwang zur Entscheidung oder gar zur Organspende aus-üben.Das vierte wichtige Thema, das wir regeln, betrifft dieNachsorge für Organspender. Hier gibt es heute zum TeilDefizite. Es geht darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen,die Organe spendeten, und diejenigen, die die Organebekamen – manchmal gibt es ja Abwehrreaktionen desKörpers –, eine gute Nachsorgebehandlung bzw. Unter-stützung erhalten. Diese sollte spezialfachärztlich mitentsprechenden Qualitätsstrukturen stattfinden.Dazu gehört – ich möchte abschließend gerne nochetwas zur problematischen Debatte der letzten Tage sa-gen – auch das Thema der Forschung in der Zukunft. Ichwar schon etwas überrascht, als aufseiten der Grünen dasThema Datenschutz bei den Forschungsdaten gesternnoch einmal grundsätzlich, ohne dass es im Ausschussoder in den vorherigen Gesprächen noch einmal so in-tensiv thematisiert worden wäre, hochkam. Wir sehennatürlich, was Ihr Punkt ist. Dazu haben wir auch in denentsprechenden Anträgen etwas gesagt. Es geht da amEnde um einen Spagat zwischen den individuellen Datenund dem Interesse an Forschungsergebnissen. Das Pro-blem ist nun einmal, dass die Zahl derjenigen, an denengeforscht bzw. beobachtet werden kann, was eigentlichnach einer Organspende passiert, welche entsprechendenFolgeerkrankungen es gibt und wie bestimmte Medika-mente wirken, ziemlich klein ist. Es gibt im Land imVergleich zu anderen Erkrankungen relativ wenige Fälle.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21693
Jens Spahn
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Deswegen ist es nicht immer möglich, bis hinauf zurhöchsten Ebene alles zu anonymisieren.Dazu hat auch der Datenschutzbeauftragte hier ge-sagt: Angesichts des legitimen Interesses im Sinne derje-nigen, die Hilfe brauchen, nach vorn zu kommen und da-bei neue Forschungserkenntnisse zu gewinnen – dabeigeht es auch darum, wie entsprechende Arzneimittelwirken –, ist es wichtig, diese Daten zu ermitteln. Des-wegen glaube ich schon, dass das, was wir hier regeln,unterm Strich vertretbar ist.Abschließend will ich noch kurz etwas zur DeutschenStiftung Organtransplantation, DSO, sagen. Leider ist esso, dass die Strukturen in dieser Organisation, die wirdamit beauftragt haben, die Organspenden in Deutsch-land abzuwickeln, die Abläufe zu organisieren und fürStrukturen zu sorgen, nicht so sind, wie sie sein sollten.Zunächst einmal sind sie nicht transparent und nachvoll-ziehbar. Da hat es – auch im Umgang mit Geld – Fehl-verhalten gegeben. Es gibt nicht wenige, die sagen: Werschon mit Geld so schludrig umgeht, ist es dann viel-leicht – und hier geht es ja um Leben und Tod – auch inanderen Fällen. Deswegen müssen wir diese Debattesehr ernst nehmen. Wir müssen aufpassen, dass die De-batte über die DSO bzw. die Missstände, die es dort gibtoder zumindest gab – wie weit sie abgestellt sind, müs-sen wir jetzt noch einmal nachvollziehen –, nicht dieOrganspendebereitschaft zu reduzieren droht; denn dieMenschen sind natürlich zu Recht verunsichert und fra-gen sich, ob die Abläufe so in Ordnung sind. Deswegenhaben wir in der Koalition gesagt: Gemeinsam mit derSPD wollen wir in einem ersten Schritt – durch diesenÄnderungsantrag – im Transplantationsgesetz mehrTransparenz schaffen, zum Beispiel, indem wir dafürsorgen, dass der Geschäftsbericht veröffentlicht werdenmuss, und indem die Aufsichtsgremien dieser Stiftungund die Auftraggeber noch stärker verpflichtet werden,auf die Strukturen zu achten. Wir verpflichten uns dazu– das steht im Entschließungsantrag –, die bei der DSOfür Organspende Verantwortlichen regelmäßig in denGesundheitsausschuss einzuladen und zu fragen, wie siedafür sorgen, dass die Strukturen besser werden, damitFälle wie die, über die in den Medien berichtet wordenist, nicht wieder vorkommen können.Ich bitte Sie, dass wir das gemeinsam angehen. Beialler Kritik, die wir hier gehört haben, sollten wir dasGanze differenziert und nüchtern betrachten und nicht inAbrede stellen, dass das, was wir heute gemeinsam be-schließen wollen, ein Erfolg ist. Ich glaube, das Schlech-teste, was passieren könnte, wäre, dass die Debatte überdie DSO – diese Debatte müssen wir führen, und wir ha-ben uns vorgenommen, diese Debatte zu führen – dieDebatte über die Erfolge für die Menschen, die inDeutschland auf ein Organ warten, und für die Men-schen, die bereit sind, Organe zu spenden, überlagernwürde. Unterm Strich ist es doch eigentlich ein schönesZeichen, dass wir heute mit so großer Mehrheit etwasGutes für viele Menschen in Deutschland tun.
Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Beide Gesetzentwürfe, dieuns heute vorliegen, sowohl der Gesetzentwurf zur Re-gelung der Entscheidungslösung als auch der Gesetzent-wurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes, sindim Rahmen einer intensiven interfraktionellen Zusam-menarbeit entstanden. Uns eint der Wille, dass schwer-kranke Menschen, die auf ein Organ warten, eine deut-liche Verbesserung erfahren.In der ersten Lesung habe ich davon gesprochen, dasses dringend notwendig ist, die Situation von Lebend-spendern, also von Menschen, die zum Beispiel einemAngehörigen eine Niere gespendet haben, zu verbessern.In der ersten Lesung haben wir auch über einen anderenPunkt gesprochen. Wir haben gesagt: Wir müssen die or-ganisatorischen Abläufe in den Krankenhäusern bei ei-ner möglichen Organspende optimieren, und wir müssensie vereinheitlichen. All das erreichen wir mit der Neu-fassung des Transplantationsgesetzes.Der Bundesregierung ging es ursprünglich darum,eine europäische Richtlinie in deutsches Recht umzuset-zen. Doch was uns jetzt vorliegt, ist viel mehr. Durch ge-meinsam von CDU/CSU, FDP und SPD eingebrachteÄnderungsanträge regeln wir im Gesetzentwurf nun zumBeispiel die Lohnfortzahlung und die Krankengeldleis-tung für die Lebendspender, verbessern wir die Nachbe-handlung für Lebendspender, und wir schaffen Klarheitbeim Versicherungsschutz, und das war dringend not-wendig.Im Gesetzentwurf steht, dass in den Krankenhäusernkünftig Transplantationsbeauftragte verbindlich vorgese-hen sind. Auch ihre Kompetenzen und Aufgaben werdenbeschrieben. Ziel ist es, dass potenzielle Organspenderbesser identifiziert werden als heute und alle Mitarbeiterim Krankenhaus für die Belange der Organspende sensi-bilisiert werden; denn es ist ganz entscheidend, welchesKlima in einem Krankenhaus herrscht. Wir können unsnicht damit zufriedengeben, dass nur ungefähr die Hälftealler Krankenhäuser, die über Intensivstationen verfü-gen, potenzielle Organspender meldet.Die Transplantationsbeauftragten haben auch dieAufgabe, die Zusammenarbeit mit der Deutschen Stif-tung Organtransplantation zu koordinieren. Diese Stif-tung organisiert alle Schritte des Organspendeprozessesrund um die Uhr, einschließlich des Transports der Or-gane zu den Transplantationszentren, sodass eine Organ-entnahme in jedem Krankenhaus möglich ist. Für dieVermittlung der Organe ist die DSO allerdings nicht zu-ständig. Dafür ist die gemeinnützige europäische Stif-tung Eurotransplant zuständig, an der acht europäischeLänder beteiligt sind. Uns als Parlamentarierinnen undParlamentariern ist sehr daran gelegen, dass die Men-schen Vertrauen in diese Organisation haben können.Dies ist mir auch ganz persönlich wichtig; denn ich habe
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21694 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Marlies Volkmer
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schon lange einen Organspenderausweis und möchte,dass im Fall der Fälle mit mir bzw. meinen Organen gutund verantwortlich umgegangen wird.Nun ist dieses Vertrauen in der letzten Zeit durch Vor-würfe in den Medien gegen die DSO belastet worden.Wir haben uns im Gesundheitsausschuss mit diesen Fra-gen beschäftigt. Dabei ging es nicht um die eigentlicheArbeit der DSO, also die Koordination der Organspende,sondern um Ungereimtheiten in internen Abläufen. Vondaher ist es richtig, dass sich die DSO jetzt eine Struktur-reform verordnet hat, um Mängel in der Geschäftsfüh-rung zu beseitigen und für mehr Transparenz zu sorgen.Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundes-tages wird diesen Reformprozess kritisch begleiten. Wirwerden uns regelmäßig Bericht erstatten lassen, welcheSatzungsänderungen vorgenommen werden und welcheFortschritte es zu dem jeweiligen Zeitpunkt gibt. Das ha-ben wir im Entschließungsantrag bekräftigt, der heutezur Abstimmung vorliegt. Uns als SPD war es wichtig,dass wir darüber hinaus auch im Gesetz die Kontrolleder Stiftung verschärfen. Von der Verpflichtung, den Ge-schäftsbericht zu veröffentlichen, erwarten wir, dass dieArbeit transparenter wird.Wir verabschieden heute beide Gesetzentwürfe miteiner breiten Mehrheit. Die Gesetze müssen dann mitLeben erfüllt werden. Die Aufgabe, die Menschen zu ei-ner informierten Entscheidung für die Organspende zumotivieren, obliegt nicht allein den Krankenkassen undauch nicht allein der Bundeszentrale für gesundheitlicheAufklärung, die künftig verstärkt zum Thema Organ-spende informiert und die entsprechende finanzielleAusstattung dafür erhalten wird. Auch Ärztinnen undÄrzte sowie Apothekerinnen und Apotheker haben sichselbst verpflichtet, über die Organspende aufzuklären.Ich denke, auch wir sind gefragt. Bei unseren Veran-staltungen und Gesprächen können wir als Multiplikato-ren wirken. Wir können die Menschen informieren, undwir können mit ihnen diskutieren. Wir müssen ihre Be-denken ernst nehmen, aber ich denke, wir können auchviele ihrer Bedenken ausräumen. Viele von uns sindschon lange Zeit in diesem Bereich engagiert. Ich appel-liere an die Übrigen, es uns gleichzutun.
Michael Kauch hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-raten heute zwei Gesetzentwürfe. Der Gruppenantrag,der fraktionsübergreifend erarbeitet wurde, zielt auf dieerhöhte Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod.Ein großer Knackpunkt im Transplantationswesen inDeutschland ist aber auch die Umsetzung von Organ-spenden in den Krankenhäusern. Deshalb hat der Bun-desgesundheitsminister dankenswerterweise nicht nurdie EU-Richtlinie zu Qualitäts- und Sicherheitsstandardsvon Organspenden umgesetzt, sondern auch Anforde-rungen an die Organisation in den Krankenhäusern inseinen Gesetzentwurf aufgenommen.Durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktio-nen und der SPD sollen auch die Fragen der versiche-rungsrechtlichen Behandlung von Lebendspenden gere-gelt werden. Die Enquete-Kommission „Ethik und Rechtder modernen Medizin“ hatte bereits im Jahr 2005 einenZwischenbericht zur Lebendspende an den DeutschenBundestag abgegeben, in dem ein zentraler Punkt dieVerbesserung der versicherungsrechtlichen Regelungenwar. Es ist richtig: Immer noch sind Menschen, die ihrenAngehörigen oder engen Freunden aus Nächstenliebeeine Niere oder einen Teil ihrer Leber spenden, sozialunzureichend abgesichert. Ich glaube, es ist ein Gebotder Fairness, dies zu ändern. Dieses Parlament sollte mitseiner heutigen Entscheidung dafür sorgen, dass im Hin-blick auf die Lebendspender Fairness in das Versiche-rungsrecht Einzug hält.
Meine Damen und Herren, ich danke insbesondereDaniel Bahr, dass er an dieser Stelle sehr hartnäckig warund mit seinem Ministerium sehr viel Unterstützunggleistet hat. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidthatte seinerzeit dieses Thema nämlich leider vier Jahreschleifen lassen, obwohl wir auch damals hier im Parla-ment entsprechende Debatten geführt haben.Was wird geändert? Entgeltfortzahlung und Kranken-geld gibt es künftig in voller Höhe, und zwar auf Kostender Krankenkasse des Empfängers. Wir werden denStreit über den Umfang der Leistungen im Bereich vonRehabilitation und Nachsorge beenden. Wir glauben, dieMenschen müssen wissen, dass sie die bestmöglicheReha und die bestmögliche Nachsorge bekommen unddass hinterher kein Streit über die Kostenübernahme ent-steht.
Generell ist es wichtig, dass der immer wieder aufge-tretene Streit zwischen der gesetzlichen Unfallversiche-rung und den Krankenkassen über die Frage, ob eine Er-krankung Spätfolge einer Transplantation ist, beendetwird. Bei gesetzlich Versicherten kann man sagen: Siebekommen die Leistung, und die Krankenkasse streitetsich hinterher mit der Unfallversicherung, wer sie be-zahlt. – Bei Privatversicherten ist das heute anders.Wenn die Krankenkasse sagt: „Die Unfallversicherungist zuständig“, dann muss ein Privatversicherter erst ein-mal in Vorleistung treten, wenn die Unfallversicherungnicht zahlt. Es kann nicht sein, dass Menschen, die ausNächstenliebe gehandelt haben, dann vor Gericht die Er-stattung ihrer Kosten einklagen müssen. Das ist ein ganzzentraler Punkt, den wir mit dem Gesetzentwurf, den wirheute beschließen, regeln.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21695
Michael Kauch
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Meine Damen und Herren, in der Debatte um die Le-bendspende gibt es natürlich weitere Fragen, die wirheute nicht regeln. In der Schweiz ist der Anteil der Le-bendspender an der Gesamtzahl der Transplantationensignifikant höher als in Deutschland. Das liegt natürlichauch an den Regelungen des Transplantationsgesetzes.So haben wir es beispielsweise immer noch mit einerrechtlichen Grauzone zu tun, wenn Paare über Kreuz Or-gane spenden, weil beim eigenen Partner eine Blutgrup-penunverträglichkeit vorliegt. Dafür finden Ärzte heuteLösungen. Aber das ist immer noch eine Grauzone, dieman aus meiner Sicht rechtlich klären müsste.Das Prinzip der Nachrangigkeit der Lebendspende imdeutschen Transplantationsrecht führt dazu, dass Men-schen, die einen Angehörigen haben, der beispielsweiseeine Niere spenden will, bei Verfügbarkeit eines post-mortal gespendeten Organs das medizinisch schlechterepostmortal gespendete Organ nehmen müssen. Ichglaube, es ist an der Zeit, auf die Mündigkeit der Bürge-rinnen und Bürger zu vertrauen und eine persönlicheEntscheidung über den eigenen Körper zuzulassen. Diessollte aus meiner Sicht in einem weiteren Schritt geprüftwerden.Wir konfrontieren die Bürger mit unserem Gruppen-antrag zur Regelung der Organspende intensiver mitdem Thema „Organspende nach dem Tod“. Dabei istzweierlei sehr zentral:Erstens haben wir uns klar für das Prinzip der Freiwil-ligkeit entschieden. Wir wollen keine Widerspruchslö-sung, und wir wollen auch nicht, dass man Menschenquasi zur Organspende zwingt. Es wurde ja unter ande-rem vorgeschlagen, dass Menschen, die sich in dieserFrage nicht entscheiden, keine elektronische Gesund-heitskarte bekommen sollen. Solche Regelungen warenmit uns, waren mit der Koalition nicht zu machen. Ichglaube, es war eine richtige Entscheidung, die wir hiergetroffen haben.
Zweitens ging es uns um den Datenschutz. Es mussklar sein, dass es, was höchstpersönliche Entscheidun-gen betrifft, keine zentralen Datensammelstellen gibt. Esist richtig und wichtig, dass wir entschieden haben: Andie entsprechenden Daten kommt nur das medizinischePersonal. Herr über die Daten ist der Bürger und nichtdie Krankenkasse. Kein Mitarbeiter einer Verwaltung,sondern nur der einzelne Bürger und die Ärzte seinesVertrauens, die die medizinischen Entscheidungen tref-fen, sollen Zugang zu den Daten haben.
Schließlich: Ich finde es gut, dass durch den flächen-deckenden Einsatz von Transplantationsbeauftragten mitdem föderalen Flickenteppich Schluss gemacht wird.Die Bundesländer haben sehr unterschiedliche Erfolgemit ihren regionalen Lösungen. Mecklenburg-Vorpom-mern war jahrelang Spitzenreiter. Dort gibt es etwa34 Transplantationen pro 1 Million Einwohner. In Ba-den-Württemberg gibt es etwa zehn Transplantationen.Das ist die föderale Spannweite. Bevor in NRW dasTransplantationsgesetz geändert wurde, gab es dort so-gar nur etwa acht Transplantationen pro 1 Million Ein-wohner. Das zeigt: Es macht einen Unterschied, wie mandie Krankenhäuser organisiert. Deshalb haben wir vonden besten Ländern gelernt und deren Regelungen in dasBundesgesetz eingebracht, damit die Situation bundes-weit besser wird und nicht nur in den Ländern, die be-reits vorn liegen.Vielen Dank.
Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte über die Organspende, die wir heute führen,ist wichtig und notwendig. Viel Richtiges wurde dazuschon gesagt. Ich möchte einige kritische Fragen auch anunsere eigene Adresse richten.Viele Kolleginnen und Kollegen haben es schon ge-sagt: Wir wissen, dass viele Menschen bei Umfragenihre Bereitschaft angeben, nach ihrem Tod Organe fürTransplantationen zu spenden. Die Frage, warum diesesehr hohe Bereitschaft nicht die Konsequenz hat, dassdiese Menschen sich auch einen Organspendeausweis indie Brieftasche stecken, haben wir meines Erachtens bis-her zu oberflächlich betrachtet.Den Menschen wird unterstellt, sie seien schlicht zubequem, sie verdrängten die unangenehme Auseinander-setzung mit dem eigenen Tod und mit dem Leiden ande-rer. Ich bin aber überzeugt, dass dies nur die halbe Wahr-heit ist. In Wirklichkeit ist es doch so, dass dieMenschen viele Fragen haben, dass sie verunsichert sindund dass sie deswegen nicht die Entscheidung für odergegen eine Organspende treffen. Wir sollten diese Ver-unsicherung ernst nehmen und alle Maßnahmen zur Er-höhung der Spendenbereitschaft daran messen, ob siegeeignet sind, die berechtigten Sorgen und Fragen derMenschen angemessen zu beantworten.Eine Bürgerin hat mich zum Beispiel gefragt: Wennich Organspenderin bin, kann ich dann trotzdem sichersein, dass im Fall der Fälle alles getan wird, um meinLeben zu retten? – Umgekehrt gab es diese Frage: Mussich im Sterbeprozess durch die nötigen intensivmedizini-schen Maßnahmen vielleicht zusätzlich leiden? – Ein an-derer fragte mich, ob seine Organe wirklich diejenigenbekommen, die sie am dringendsten benötigen, oder obda nicht auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle spie-len. Auch ethische, moralische und religiöse Vorstellun-gen sowie familiäre Beziehungen und Wertesysteme be-einflussen die Entscheidung.Was versucht der hier vorliegende Gesetzentwurf dage-genzusetzen? – Moralische Appelle, Werbekampagnen
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Kathrin Vogler
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oder rein technische Lösungen. Ich fürchte, das reichtnicht, um diese Fragen zu beantworten.Ich spüre in dieser Debatte immer wieder eine großeAngst davor, dass Menschen von einer Organspende ab-gehalten werden könnten, wenn wir diese Fragen undZweifel zuließen. Ich meine, das ist genau der falscheAnsatz. Wenn wir Menschen überzeugen und gewinnenwollen, dann müssen wir ihre Sorgen und Zweifel ernstnehmen. Wir müssen uns darum kümmern. Wir brau-chen nicht nur eine qualifizierte und unabhängige Bera-tung für die Versicherten, sondern auch eine vollkom-mene Offenheit und Transparenz bei jeder Stelle, diedamit zu tun hat.
Ich finde, der Entschließungsantrag der Linken zumTransplantationsgesetz gibt eine gute Richtung vor, undich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen.Keine Transparenz darf über die ganz persönlicheEntscheidung des Bürgers oder der Bürgerin zur Organ-spende hergestellt werden. Darin sind wir uns hier hof-fentlich alle einig. Darum habe ich gemeinsam mit Kol-leginnen und Kollegen einen Änderungsantrag zumGruppenantrag für die Entscheidungslösung vorgelegt.Wir wollen, dass sämtliche Regelungen zur elektroni-schen Gesundheitskarte aus diesem Gesetz gestrichenwerden,
denn das würde uns die Möglichkeit geben, uns aus-schließlich für die Entscheidungslösung zu entscheiden.Wir wollen die Entscheidungslösung pur.Worum geht es uns? – Die öffentlichen Debatten undauch die heutige Debatte haben den Menschen deutlichgemacht, was von ihnen erwartet wird, nämlich die Be-reitschaft zur Organspende. Selbst wenn wir mit diesemGesetz keine weiteren Kontroll- oder Sanktionsmecha-nismen installieren, kann bei dem Einzelnen der Ein-druck entstehen, dass andere – Krankenkassen, der Staat,medizinisches Personal – kontrollieren könnten, ob undwie er sich entschieden hat. Die individuelle Entschei-dungsfreiheit wird bereits durch diese Vermutung, magsie noch so weit hergeholt sein, beeinträchtigt.Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen:Wenn Sie in einem Raum sind, in dem eine Videokamerainstalliert ist, dann werden Sie sich so verhalten, als obsie eingeschaltet wäre und Sie beobachtet würden. Selbstwenn ich Ihnen sage, die Kamera sei gar nicht einge-schaltet, können Sie sich nie ganz sicher sein, ob ichnicht doch vom Nebenraum aus zusehe, wie Sie sich inder Nase bohren. Das heißt, Ihre Privatsphäre und Ihrepersönliche Freiheit werden durch das bloße Vorhanden-sein einer solchen technischen Einrichtung einge-schränkt.
Die Möglichkeit, die Entscheidung zur Organspendein einer Datenbank zu speichern, installiert ein Kontroll-regime, auch wenn Sie alle – und das glaube ich Ihnen –das vielleicht gar nicht wollen.Die Kolleginnen und Kollegen, die mit mir diesenÄnderungsantrag gestellt haben, und ich möchten gerneden Gruppenantrag zur Einführung der Entscheidungslö-sung unterstützen, solange die Entscheidung definitivund unumstößlich freiwillig bleibt. Das wäre gegeben,wenn Sie unserem Änderungsantrag zustimmen und dieE-Card aus dem Gesetzentwurf streichen würden. DieMillionen Euro, die wir dadurch einsparen, könnten etwafür eine qualifizierte und unabhängige Beratung ausge-geben werden, um den Menschen zu helfen, ihre berech-tigten Fragen zu beantworten.Ich bitte Sie daher um Unterstützung für den Ände-rungsantrag. Damit würden Sie uns eine Zustimmung zudem Gruppenantrag ermöglichen.
Elisabeth Scharfenberg hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Wir verabschieden heute neben einem Gesetz-entwurf zur strukturellen Verbesserung auch einenGesetzentwurf zur Entscheidungslösung. In diesem Ge-setzentwurf sind für mich zwei zentrale Punkte veran-kert:Erstens. Die Erklärung zur Organspende bleibt frei-willig. Niemand darf zu einer Entscheidung gezwungenwerden. Das war uns Grünen angesichts der hohen ethi-schen und auch persönlichen Bedeutung dieses Themassehr wichtig.
Zweitens. Die Aufklärung der Bürgerinnen und Bür-ger wird ernst genommen und konsequent umgesetzt.Das Thema Organspende wird in die Gesellschaft und indie Familien getragen. Genau dort, in die Familien, ge-hört es hin.Diese Aufklärung – das war uns sehr wichtig – mussergebnisoffen sein. Sie darf nicht beeinflussen.
Aufklärung bedeutet nicht, die Menschen zur Zustim-mung zur Organspende zu drängen. Aufklärung bedeutetnicht: Nur ein Ja zur Organspende ist eine richtige Ent-scheidung.Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich über alleAspekte der Organspende informieren können. Nur soist eine bewusste Entscheidung für oder auch gegen eineSpende möglich. Wie läuft eine Organspende oder aucheine Organentnahme ab? Was bedeutet der Hirntod ge-nau? Werde ich überhaupt noch ordentlich versorgt,wenn bekannt ist, dass ich Organspender bin? Das sinddoch die Fragen, die uns allen durch den Kopf gehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21697
Elisabeth Scharfenberg
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Der eingetretene Hirntod und die Bereitschaft zur Or-ganspende verändern den Sterbeprozess und den Ab-schied von dem Verstorbenen. Das müssen die Men-schen auch wissen – diejenigen, die vielleicht einmalOrgane spenden, und auch diejenigen, die Menschenverlieren.
Meine Damen und Herren, die Freiwilligkeit der Er-klärung und die Ergebnisoffenheit der Aufklärung sindwichtige Erfolge. Dennoch haben einige Mitglieder die-ses Hauses in einigen Punkten erhebliche Bedenken.Es ist geplant, dass die Krankenkassen ab 2016 dieOrganspendeerklärung der Versicherten auf der elektro-nischen Gesundheitskarte speichern und löschen kön-nen. Eine Mehrheit der Abgeordneten der Bündnisgrü-nen lehnt diese Regelung ab.Meine Bedenken dazu sind nicht neu. Ich habe sie be-reits in der ersten Lesung hier geäußert und auch einenÄnderungsantrag angekündigt. Dieser Änderungsantragist Ihnen allen im März zugegangen, und meine Mei-nung hat sich nicht geändert: Die geplante Neuregelungstellt eine Verletzung der bisherigen strengen Daten-schutzregeln für die elektronische Gesundheitskarte dar.Für uns gilt der Grundsatz: Die Kassen haben keiner-lei Zugriff auf sensible Versichertendaten – auch nichtals Serviceleistung.
Das darf sich nicht ändern.Das sehen andere übrigens genauso. Der Daten-schutzbeauftragte Peter Schaar, die Bundesärztekammer,die Verbraucherzentralen: Alle haben zum Ausdruck ge-bracht, dass sie diese Neuregelung nicht für gelungenhalten.Wir haben deshalb den Änderungsantrag auf derDrucksache 17/9776 eingebracht, mit dem diese Rege-lung wieder gestrichen werden soll. Ich bitte Sie, diesemÄnderungsantrag zuzustimmen.
Das Schreibrecht der Kassen zu streichen, schadetdem Anliegen der Entscheidungslösung überhaupt nicht;das Gegenteil ist der Fall. Mit einem Schreibrecht laufenwir Gefahr, das Vertrauen der Bevölkerung in die Ge-sundheitskarte und womöglich auch das Vertrauen in dieOrganspende zu beschädigen. Aber – das möchte ichganz deutlich sagen – dieser Änderungsantrag stellt fürmich persönlich nicht den gesamten Gesetzentwurf zurEntscheidungslösung infrage; dafür ist das Thema Or-ganspende in der Gesamtschau zu wichtig. Deshalbwerde ich dem Gesetzentwurf zur Entscheidungslösungunabhängig vom Ausgang der Abstimmung zu unseremÄnderungsantrag zustimmen.
Mit der heutigen Diskussion über die Organspende istdas Thema längst nicht beendet. Wir gehen einen erstenund einen wichtigen Schritt. Aber die ethischen Grenz-fragen werden uns weiter beschäftigen. Ich meine hieretwa den Umgang mit den Hirntodkriterien oder ebenauch die Struktur der Deutschen Stiftung Organtrans-plantation, der DSO. Wir werden aber auch akzeptierenmüssen, dass wir nie eine ausreichende Anzahl an Spende-organen haben werden. Wartelisten und Wartezeitenwird es auch weiterhin geben. Die heutige Verabschie-dung der Gesetzentwürfe geschieht aber mit der Hoff-nung, die Wartelisten erheblich zu verkürzen.Vielen Dank.
Die Kollegin Widmann-Mauz hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Dass es Menschen gibt, die sich nicht gerne mitdem Thema Organspende befassen – manche tun es garnicht, andere verdrängen es –, das kann ich durchausnachvollziehen, löst es doch Empfindungen und Gefühlein den Menschen aus, die höchst persönlich sind und imwahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen.Das Aus-dem-Weg-Gehen, das Wegschieben, dasIgnorieren ist eine allzu menschliche Verhaltensweise.Auch wenn es mir angesichts Tausender von Menschen,die auf die Spendebereitschaft von anderen hoffen,schwerfällt, dieses Verhalten zu akzeptieren, so ist esdoch Ausdruck persönlicher Handlungsfreiheit, die es zurespektieren gilt;
denn selten ist es die ganz bewusste Ablehnung der Organ-spende an sich. Vielmehr ist es allzu oft ein persönlicherSchutz als Reaktion auf Unbehagen, auf Unsicherheit,Ängste und Misstrauen, so etwas wie ein individuellerFluchtweg.Manchem gelingt es nicht, diesem Thema aus demWeg zu gehen! Menschen, die als Schwerkranke selbstbetroffen sind und auf ein Spendeorgan warten oder dieals Angehörige konkret vor die Frage gestellt sind, Spen-der für einen nächsten Angehörigen zu sein oder denmutmaßlichen Willen eines verstorbenen Angehörigenzu erklären. Und wieder andere haben ein hörendes Herzfür die Not anderer, ganz unabhängig von einer persön-lichen Betroffenheit.Allen Gruppen gegenüber stehen wir in der Verant-wortung. Es ist unsere Aufgabe, durch umfassende unddurch ergebnisoffene Information und Aufklärung in-formierte, selbstbestimmte Entscheidungen zu ermög-lichen und Vertrauen in den gesamten Organspende-prozess und in die daran Beteiligten zu schaffen. Genaudas tun wir mit den beiden Gesetzentwürfen, über diewir heute abstimmen.
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Annette Widmann-Mauz
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Das Vertrauen der Bevölkerung ist ganz entscheidend,wenn die Anstrengungen für eine Erhöhung der Organ-spendebereitschaft Erfolg haben sollen. Das geltendeTransplantationsgesetz gibt bereits einen sicheren ge-setzlichen Rahmen für die Anforderungen an die Organi-sation und an den Ablauf einer Organspende. Mit denÄnderungen zum Transplantationsgesetz, die wir jetztvornehmen, wird dieser Rahmen ausgebaut und gestärkt,die Strukturen werden verbessert und die Transparenzerhöht.Die beauftragte Koordinierungsstelle nimmt in die-sem Prozess eine ganz zentrale Aufgabe wahr, bis hineinin die einzelnen Krankenhäuser. Das hat sich – dasmöchte ich bei dieser Gelegenheit durchaus einmal er-wähnen – in den vergangenen zehn Jahren grundsätzlichbewährt. Es ist aus meiner Sicht nicht von vornherein er-kennbar und nachvollziehbar, dass für eine ordnungs-gemäße Aufgabenerfüllung im Bereich der Organtrans-plantation zwingend eine andere Organisationsstrukturoder gar eine Behörde erforderlich sein soll.Die zentrale Rolle der Koordinierungsstelle wird auchdaran erkennbar, dass in der EU-Richtlinie wesentlicheAufgaben für sie festgelegt werden, und wir setzen dieseRichtlinie ja um. Im Übrigen ist es allein dieser Umset-zung geschuldet, dass der Gesetzentwurf zusätzlicheKompetenzen für die Koordinierungsstelle vorsieht.Gerade wegen dieser grundsätzlichen Bedeutung derKoordinierungsstelle verstärken wir auch die Kontrolle.Bereits in dem von uns eingebrachten Regierungsentwurfhaben wir die Überwachungskommission und die Aus-kunftspflicht der Koordinierungsstelle gegenüber derÜberwachungskommission gesetzlich verankert. Stelltdie Überwachungskommission in Zukunft Rechtsver-stöße fest, ist sie verpflichtet, die zuständigen Behördender Länder zu informieren, damit alle notwendigen Kon-sequenzen eingeleitet werden können.Auch im Hinblick auf die Geschäftsführung werdenmit dem Gesetzentwurf die Kontrollrechte und Kontroll-pflichten der Auftraggeber über die Koordinierungsstelledeutlich gestärkt. Neben der Kontrolle ist in diesemhöchst sensiblen Bereich aber auch die Schaffung vonmehr Transparenz wesentlich. Insbesondere möchte ichin diesem Zusammenhang auf die Vorlagepflicht der Ko-ordinierungsstelle gegenüber ihren Auftraggebern zumBeispiel im Falle von grundsätzlichen finanziellen undorganisatorischen Entscheidungen hinweisen, aber auchauf die Verpflichtung, in Zukunft den Geschäftsberichtzu veröffentlichen.Der Gesetzgeber hat also die Weichen in die richtigeRichtung gestellt. Darüber hinaus ist es dennoch erfor-derlich, dass sich die Akteure, also diejenigen, die wir indie Verantwortung nehmen, auch zu ihrer Verantwortungbekennen und entsprechend handeln.Deshalb ist der sogenannte Masterplan des Stiftungs-rats der DSO ein wichtiger und richtiger Schritt. Er warim Übrigen notwendig, und ich erwarte jetzt von den Be-teiligten, dass die sich daraus ergebenden Maßnahmenvon ihnen zügig umgesetzt und vor allen Dingen auchtransparent gemacht werden. Aber ich plädiere an dieserStelle auch dafür, dass wir dem Stiftungsrat die Chancegeben, die von ihm selbst aufgezeigten Maßnahmen indie Tat umzusetzen, bevor wir über andere Alternativenoder Rechtsformen diskutieren.In dieser Debatte sind mehrere Aspekte angesprochenworden, in denen Zweifel geäußert wurden, zum Bei-spiel zum Stichwort „Warteliste“ und zu der Frage, ob esdabei immer richtig zugeht. Die Richtlinien wurden undwerden durch die Ständige Kommission Organtransplan-tation bei der Bundesärztekammer erstellt. Dort ist dermedizinische Fachverstand vorhanden. Das ist die rich-tige Stelle, um diese weiter dem wissenschaftlichen Er-kenntnisstand anzupassen, wenn es erforderlich ist. Siewerden veröffentlicht und sind damit transparent.Das ist der richtige Weg. Wegen der grundlegendenBedeutung dieser Richtlinien haben wir zudem die Bun-desärztekammer verpflichtet, klare Regeln für die Erar-beitung der Richtlinien und für ihre Beschlussfassungfestzulegen.Auch die Geschäftsordnung wird in Zukunft Regelun-gen zu den Einzelheiten der personellen und der verfah-rensmäßigen Anforderungen enthalten. Das ist wichtigund trägt zu mehr Vertrauen bei.Sie haben das Thema Hirntod angesprochen. Auchhierzu hat die Bundesärztekammer Richtlinien erarbeitet,die im Falle eines neuen wissenschaftlichen Erkenntnis-stands entsprechend angepasst werden. Aber wir im Par-lament sollten dieser wissenschaftlichen Debatte nichtvorgreifen; wir sollten vielmehr die Möglichkeit schaf-fen, dass sie stattfinden kann.Genauso verhält es sich bei der Frage des Transportsder Organe. Auch hier ist es richtig, die wissenschaft-lichen und technischen Fragen durch die Fachleute klä-ren zu lassen. Was die von Ihnen angesprochene Wider-sprüchlichkeit bei einer Patientenverfügung angeht: Wirwerden sicherlich nicht jede persönliche Festlegung fürverschiedene Lebenssituationen gesetzlich regeln kön-nen. Aber es kommt darauf an, dass die Menschen aufgute Art und Weise aufgeklärt und informiert werden, siesich dieser Widersprüche bewusst sind und wissen, dasswir ihnen Hilfestellungen anbieten.Ich bin sehr froh, dass wir im Bereich der Le-bendspende zu deutlichen Verbesserungen in den ver-schiedensten Sozialgesetzbüchern gekommen sind undes auch geschafft haben, eine Altfallregelung im Bereichder Unfallversicherung zu etablieren. Das sind wichtigeFortschritte, die helfen, die Organspendebereitschaft zufördern. Eine Organspende ist ein Geschenk des Lebens.Niemand kann sie verlangen oder sie erzwingen. Und:Sie ist und bleibt eine Sache des Vertrauens.Ich bin sehr zufrieden, dass es in den Beratungen zwi-schen den Fraktionen, im Parlament und mit der Bundes-regierung gelungen ist, diese beiden Grundsätze zu stär-ken und damit die Voraussetzungen dafür zu schaffen,dass mehr Menschen in unserem Land nicht Fluchtwegesuchen müssen, sondern neue Wege in Richtung Nächs-tenliebe gehen können.Herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin ist Dr. Carola Reimann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was lange währt, wird endlich gut. Mit der heutigenBeratung der beiden Gesetzentwürfe zur Reform desTransplantationsgesetzes führen wir einen langen, einenumfassenden Diskussionsprozess zu einem erfolgreichenEnde. Nach zwei großen Anhörungen im letzten Sommer,nach vielen fraktionsübergreifenden Fachgesprächen,nach Ausschussberatungen und einem zusätzlichen Ex-pertengespräch mit dem Datenschutzbeauftragten imAusschuss haben wir eine gute, eine tragfähige Lösunggefunden.
Ich bin mir sicher, dass dieser breite, überparteilicheDiskussionsprozess dazu beiträgt, dass die Neuregelun-gen auch auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz sto-ßen werden. Unser Ziel muss sein, das Vertrauen und diepositive Haltung der Bevölkerung zur Organspende wei-ter zu stärken. Ich denke, hier sind wir einen gutenSchritt vorangekommen.Weil es sich bei der Organspende um einen so sensiblenBereich handelt, bei dem Vertrauen die unverzichtbareGrundlage ist, haben wir uns bewusst gegen weiter-gehende, radikalere Lösungen entschieden. Natürlichverbindet uns mit den Befürwortern der Widerspruchs-regelung der Wunsch, dass den vielen Menschen, diezurzeit auf ein passendes Spenderorgan warten, geholfenwerden kann. Doch wir können und dürfen in diesemHaus nicht außer Acht lassen, dass dieses Thema auchmit Ängsten besetzt ist, weil es mit dem eigenen Lebens-ende zu tun hat, dass für viele Menschen die Frage, obsie Organe spenden wollen, den intimsten Bereich ihrerpersönlichen, menschlichen Selbstbestimmung berührt.Nichtbefassung mit dem Thema dabei billigend als Zu-stimmung in Kauf zu nehmen, halte ich deshalb für denfalschen Weg. Wir wollen eine eigene, eine informierteEntscheidung. Wir wollen vor allen Dingen eine freieEntscheidung.
Ich bin davon überzeugt, dass wir so unser Ziel, die För-derung der Organspende, besser erreichen, als dies beiden vermeintlich einfacheren Lösungen der Fall ist.Wir wollen keinen gesetzgeberischen Zwang. Aberwir wollen mit der nachdrücklichen Aufforderung zurEntscheidung die Menschen ermutigen, sich mit demThema auseinanderzusetzen. Denn jedem sollte klarsein: Sich mit dem Thema nicht zu befassen, heißt nichtunbedingt, dass man die Entscheidung umgehen kann.Im Falle des Todes trifft die Last der Entscheidung danndie Angehörigen umso härter. Sie müssen dann im Mo-ment der Trauer für den Verstorbenen entscheiden. Siesollen es in seinem Sinne entscheiden, aber nicht seltenmüssen sie das ohne Kenntnis seiner Haltung zur Organ-spende tun. Deshalb ist es gut, die Entscheidung zur Or-ganspende ins Leben zu holen.Wir setzen mit dieser Reform auf Information, aufAufklärung und auch auf einen gewissen Nachdruck.Aber wir setzen weiterhin auf Freiwilligkeit. Wir wollenMenschen mit guten Argumenten davon überzeugen,eine Entscheidung zu treffen und sie zu dokumentieren.Aber wir werden niemanden dazu zwingen. Wir überlas-sen den Bürgerinnen und Bürgern auch die Wahl, aufwelchem Medium sie ihre Haltung dokumentieren wol-len. Wer die Dokumentation auf dem herkömmlichenPapierausweis, den wir alle haben, favorisiert, kannseine Haltung dort festhalten. Wer künftig keinen weite-ren Ausweis mit sich herumtragen will, hat die elektroni-sche Versichertenkarte als neue weitere Option, wennmit der nächsten Kartengeneration die technischen Vo-raussetzungen geschaffen sind. Auch hier bleibt es denVersicherten überlassen, ob sie ihre Haltung selbst aufder Karte speichern oder hierfür die Hilfe ihrer Kasse,ihres Arztes oder ihres Apothekers in Anspruch nehmen.Ziel dieser Regelung ist es nämlich, neben der Ent-scheidungsfindung auch die Dokumentation so leichtwie möglich zu machen und jedem Versicherten mög-lichst viele und einfache Wege der Dokumentation anzu-bieten. Strenge Datenschutzstandards, mit dem Daten-schutzbeauftragten abgestimmt, und die ausdrücklicheZustimmung und Freiwilligkeit des Versicherten sind imGruppenantrag hierfür vorgesehen. Die vorliegendenÄnderungsanträge von Scharfenberg/Terpe und auchvon Vogler/Nešković ändern nichts am ohnehin hohenDatenschutzstandard.
Letztlich schränken sie aber die Dokumentationsmög-lichkeiten für die Versicherten ein. Aus diesem Grundhalte ich diese beiden Anträge für nicht zielführend.Ich habe zu Beginn meiner Rede von Vertrauen alsunverzichtbarer Grundlage für diesen sensiblen Bereichgesprochen. Dazu gehört auch eine transparente und ver-antwortungsvolle Arbeitsweise der Deutschen StiftungOrgantransplantation. Die berechtigte Kritik an der DSOwird nun zu einer Neuausrichtung führen. Mit dem vonder SPD-Fraktion unterstützten Entschließungsantragunterstreichen wir die Forderung nach einer Neuausrich-tung und machen deutlich, dass wir diesen Prozess imGesundheitsausschuss intensiv begleiten werden. Ab-hängig davon wird zu entscheiden sein, ob weitere Maß-nahmen zur Reform der DSO in die Wege geleitet wer-den müssen.Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Gruppen-antrag zur Entscheidungslösung eine gute, eine tragfä-hige Lösung gefunden haben. Sie wird unser Ziel, dieEntscheidung zur Organspende zu erleichtern, erreichen.Zusammen mit dem Gesetzentwurf zu den technisch-or-ganisatorischen Fragen der Organspende, der hier schonangesprochen wurde, bringen wir ein gutes Paket aufden Weg. Dazu zählen nicht nur die Verbesserung derAbläufe in und zwischen den Krankenhäusern sowie die
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21700 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Carola Reimann
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verbindliche Einführung von Transplantationsbeauftrag-ten in den Kliniken – die Kollegen haben darüber berich-tet – sondern auch die bessere Absicherung von Le-bendspendern, was ein wirklich großer und guter Schrittist. Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung für beide Ge-setzentwürfe.Danke schön.
Jetzt hat Stefanie Vogelsang das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Sicherlich, wirhaben über die Entscheidungslösung und auch über dasTransplantationsgesetz im Vorfeld eine lange Zeit debat-tiert. Die erste Lesung beider Gesetzentwürfe hatten wirhier aber erst kurz vor Ostern. Ich glaube, es war EndeMärz, als wir uns hier zusammengesetzt und darüber ge-sprochen haben. Wir waren froh darüber und stolz da-rauf, dass unsere Fraktionsvorsitzenden eine geeintePosition zur Entscheidungslösung gefunden hatten.Gleichzeitig beraten wir ein Gesetz, das Transplanta-tionsgesetz, das sich mit den Einzelheiten – der Teufelliegt bekanntlich im Detail – beschäftigt. Wir haben unsim Ausschuss – die Kollegin Ausschussvorsitzende,Frau Reimann, hat darüber berichtet – intensiv in Anhö-rungen mit Expertenmeinungen und unterschiedlichenAspekten des Gesetzes auseinandergesetzt.
Wir haben hier heute in der Debatte die unterschiedli-chen Schwerpunkte und Positionen gehört.Deswegen möchte ich jetzt, gegen Ende der Debatte,deutlich machen, worauf es mir ankommt und was fürmich wichtig ist. Für mich ist zum Ersten wichtig, dasssich jeder freiwillig entscheiden kann, ob er Organe undGewebe spendet oder ob er das nicht möchte. Jeder kannsagen, dass er sich beispielsweise jetzt noch nicht ent-scheiden kann, und jeder kann sich entscheiden, zwar ei-nige Organe zu spenden, andere aber von der Spendeauszunehmen. Also kann jeder für sich eine differen-zierte Position beziehen und im Falle seines Todes ganzfrei über seinen Körper, seine Organe entscheiden. Dasfinde ich ganz wichtig.Wichtig finde ich aber auch, dass sich jeder nach demGebot der Menschlichkeit entscheiden sollte und dassder sanfte Druck erhöht wird, dass sich die Menschenmit diesem Thema beschäftigen. Viele von uns habenden Organspendeausweis. Viele von uns erklären in Um-fragen, dass sie bereit sind, ein Organ zu spenden; aberdie wenigsten diskutieren im Familienkreis darüber. Beiden wenigsten Menschen ist es so, dass die Angehörigenwissen, welchen Umgang mit seinen Organen derjenige,den man lieb hat und für den man im Zweifel derRechtsnachfolger bei der Entscheidung im Krankenhausist, wünscht. Werbung für Organtransplantation und Or-ganspende, etwa mit großen Plakaten an Wänden, istzweifellos wichtig. Aber über dieses Thema muss auchin den Familien, am Küchentisch, intensiv debattiertwerden, damit die Angehörigen Bescheid wissen.Mich freut, dass wir noch einmal in die Tiefe gegan-gen sind, uns mit den Details beschäftigt haben, dass wirdie Abläufe in den Krankenhäusern klargestellt haben,dass wir die Schaffung von Transplantationsbeauftragtenvereinbart haben. Im gesamten Gesetzentwurf ist immerwieder von Organen und Geweben die Rede. Wir sehenalso nicht nur Herz und Niere, sondern auch die vielfachbenötigte Aorta, die Herzklappe oder die Hornhaut fürdas Auge. Darüber wird wenig geredet, aber es ist fürviele Menschen genauso wichtig.Mir persönlich ist außerdem wichtig – ich habe das inder ersten Lesung gesagt –, dass wir uns mit dem ThemaNachsorge beschäftigt haben. Wir erhöhen die Organ-spendebereitschaft. Wir erhöhen die Zahl von Organ-transplantationen. Aber wir kümmern uns bisher zu we-nig um qualitätsbezogene Richtlinien, die klären, wieman eine einheitliche Qualitätssicherung auf dem Gebietder Nachsorge bei Empfängern und auch bei Le-bendspendern gewährleisten kann. Die Verbesserung derNachsorge, die neuen Richtlinien, die Möglichkeit derBundesärztekammer, Richtlinien zur Qualitätssicherungzu verabschieden, sind etwas Bedeutungsvolles. Das ha-ben wir gemeinsam in der Diskussion erreicht.Wir kennen die Realitäten in unseren Krankenhäu-sern. Wir wissen, dass sich die Einnahmesituation derKrankenhäuser und das Leid der Patienten immer wiedergegenüberstehen. Angesichts dessen muss sichergestelltsein, dass die Aufwendungen der Krankenhäuser für dieTransplantation von Organen von den Krankenkassen re-finanziert werden.
Auch die Verwaltungsleiter der Krankenhäuser solltenohne schlechtes Gewissen beim Blick auf ihr Budget dieMöglichkeit haben, ihre Mitarbeiter anzuhalten, sich umdieses ethisch so wichtige Thema zu kümmern.Ich glaube, dass wir mit dem Entwurf eines Gesetzeszur Regelung der Entscheidungslösung, mit der Freiwil-ligkeit, aber auch mit dem sanften Druck zur Entschei-dung auf der einen Seite und mit den Transplantations-beauftragten, mit der Bezahlung und mit derHervorhebung von Gewebespenden auf der anderenSeite einen großen Schritt in die richtige Richtung ge-gangen sind.Nächste Woche Samstag, am 2. Juni, ist der Tag derOrganspende. Ich glaube, dass dann unser Gesetzent-wurf in Kraft getreten sein wird, wenn wir ihn heute hierverabschieden. Ich denke, dass wir uns vielleicht nächs-tes Jahr am Tag der Organspende darüber unterhaltenkönnen werden, dass wir eine Erhöhung der Anzahl derin Deutschland gespendeten Organe verzeichnen kön-nen. Das würde uns alle sehr freuen.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21701
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Jetzt hat der Kollege Stephan Stracke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Die Entscheidung für eine Organ- oder
Gewebespende ist ein Geschenk. Sie ist ein Akt der
Nächstenliebe. Den Empfängern ermöglicht sie das Wei-
terleben oder eine deutliche Verbesserung der Lebens-
qualität. Viele empfinden sie als ein zweites Leben, das
einem geschenkt wird.
In Deutschland warten derzeit rund 12 000 Menschen
auf Spenderorgane. Demgegenüber konnten im letzten
Jahr nur rund 5 000 Organe transplantiert werden.
Seit dem 1. Dezember 1997 bildet das deutsche
Transplantationsgesetz einen sicheren Rechtsrahmen für
Organspenden. Es regelt die Spende, Entnahme, Vermitt-
lung und Übertragung von Organen, die nach dem Tod
oder zu Lebzeiten gespendet werden. Mit den vorliegen-
den Gesetzentwürfen, dem fraktionsübergreifenden und
dem der Bundesregierung, wollen wir zwei wesentliche
Verbesserungen erreichen: Wir wollen erstens den Or-
ganspendeprozess als solchen verbessern und zweitens
die Spendebereitschaft als solche erhöhen.
Zum ersten Punkt. Der Verbesserung des Organspen-
deprozesses kommt eine ganz zentrale Bedeutung zu.
Allein die Einsetzung von qualifizierten und professio-
nellen Transplantationsbeauftragten kann nach Schät-
zungen zu einer Verbesserung der Situation um bis zu
80 Prozent beitragen. Im Vordergrund steht dabei eine
vernünftige und sensible Gesprächsführung.
Dabei ist auch ein Blick ins Ausland hilfreich. In der
Diskussion wird immer wieder das spanische Modell an-
geführt. Man stellt fest: Entscheidend für den Erfolg der
Organspende in Spanien sind vor allem eine flächende-
ckende Versorgung mit qualifizierten und geschulten
Transplantationsbeauftragten und eine effektive Organi-
sation des Organspendeprozesses.
Deswegen gehen wir das an. Eine bessere Organisa-
tion der Organspende und der Organtransplantation wird
sicherlich auch in Deutschland zu einem verantwor-
tungsvollen Umgang mit diesen ebenso seltenen wie
sensiblen Ressourcen beitragen.
Ein Zweites ist wichtig, nämlich die Erhöhung der
Spendebereitschaft. Der Erfolg der Organspende in
Deutschland hängt auch von der Spendebereitschaft ab.
Rund 75 Prozent der Befragten – das wurde hier schon
öfter angeführt – stehen der Organspende grundsätzlich
positiv gegenüber, aber nur 25 Prozent haben tatsächlich
einen Organspendeausweis. Das liegt daran, dass man
sich mit dem Tod eigentlich nicht auseinandersetzen
will, dass man Angst hat, dass beispielsweise Ärzte sich
nicht mehr entsprechend kümmern könnten, oder dass
man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entschei-
den kann oder will.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe zielen daher darauf
ab, die Lücke zwischen der potenziellen und der tatsäch-
lichen Bereitschaft zur Organspende und zu der entspre-
chenden Erklärung zu verringern. Im Mittelpunkt steht
dabei das Leitbild des verantwortlich handelnden, weil
informierten und aufgeklärten Bürgers. Das Selbstbe-
stimmungsrecht tasten wir nicht an. Dies ermöglicht
denjenigen, die durch eine Spende anderen helfen möch-
ten, dies zu tun. Wir billigen aber in gleicher Weise,
wenn jemand kein Spender sein will; denn wir wissen:
Freiwilligkeit und der Respekt vor dem Willen des Ein-
zelnen, das ist einer der wichtigsten Punkte, wenn es um
die Akzeptanz der Organspende geht.
Dabei nehmen wir drei Dinge in den Blick: erstens in-
formieren, zweitens entscheiden und drittens dokumen-
tieren.
Erstens. Die Menschen sollen sich mit dem Thema
Organspende befassen. In regelmäßigen Abständen wol-
len wir sie darüber informieren. Ich weiß, diese Kon-
frontation ist etwas, das nicht von allen in der Bevölke-
rung gewünscht ist, aber sie ist hier ganz bewusst
gewollt. Es ist gewollt, dass man sich damit auseinander-
setzt, dass man sich im Familienkreis mit diesem Thema
befasst.
Zweitens wollen wir die Versicherten auffordern, sich
auch tatsächlich zu entscheiden – für sich selber, für den
Organspendeempfänger und nicht zuletzt für die Ange-
hörigen; denn wir wissen: In dem Moment, wo jemand
beispielsweise einen plötzlichen Hirntod erleidet, be-
steht eine emotionale Ausnahmesituation vor allem für
die nächsten Angehörigen. Deshalb ist es auch wichtig,
dass man sich entschieden hat, dass man im Familien-
kreis darüber gesprochen hat.
Drittens. Das Allerbeste ist, dies dann auch entspre-
chend dokumentiert zu haben. Deswegen wollen wir – es
gibt ja schon den Organspendeausweis in Papierform –
mit der elektronischen Gesundheitskarte Verbesserungen
erreichen. Dann ist der Wille dokumentiert, und es be-
darf nicht der Nachfragen bei anderen, um die Informa-
tion zu bekommen.
Zusammen mit den aus meiner Sicht wichtigen Ver-
besserungen bei der Organisation der Organspende und
der Infrastruktur kann es gelingen, die Situation bei der
Organspende spürbar zu verbessern, ohne dass massiv in
die Freiheit des Menschen eingegriffen wird.
Ich denke, die vorliegenden Gesetzentwürfe bringen
das Thema Organspende deutlich voran. Ich bitte Sie
herzlich um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Es wurden die Reden von den Kollegen Molitor,Seifert und Behm sowie Erklärungen gemäß § 31 unse-rer Geschäftsordnung1) der Kollegen Dittrich undSharma zu Protokoll gegeben2).1) Anlage 22) Anlage 3
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21702 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Wir kommen zur Abstimmung über den von den Ab-geordneten Volker Kauder, Frank-Walter Steinmeier,Gerda Hasselfeldt, Gregor Gysi, Renate Künast, JürgenTrittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslö-sung im Transplantationsgesetz. Der Ausschuss für Ge-sundheit hat in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/9774 empfohlen, über diesen Gesetzent-wurf einen Beschluss herbeizuführen. Eine darüber hi-nausgehende Beschlussempfehlung hat der Ausschussnicht abgegeben. Zu diesem Gesetzentwurf liegen zweiÄnderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Än-derungsantrag der Abgeordneten Kathrin Vogler,Wolfgang Nešković, Matthias Birkwald sowie weitererAbgeordneter auf Drucksache 17/9775. Wer stimmt fürdiesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen und einigenStimmen aus der Fraktion Die Linke gegen viele Stim-men aus der Fraktion Die Linke abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungs-antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, HaraldTerpe, Birgitt Bender sowie weiterer Abgeordneter aufDrucksache 17/9776. Wer stimmt für diesen Änderungs-antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,SPD, FDP und jeweils Stimmen aus der Fraktion DieLinke und der Grünen abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit sehr großer Mehrheit bei einigenGegenstimmen aus der Fraktion Die Linke und den Grü-nen und einigen Enthaltungen bei den Linken angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDPund der Mehrheit der Fraktion Die Linke und der Grünenbei jeweils einigen Gegenstimmen und einigen Enthal-tungen aus der Fraktion der Linken und jeweils einerEnthaltung bei den Grünen und der FDP angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Transplantationsgesetzes. Der Ausschussfür Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 17/9773, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 17/7376 in der Ausschuss-fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDPgegen die Stimmen der Linksfraktion bei Enthaltung derGrünen und einer Enthaltung aus den Reihen der FDPangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf istdamit in dritter Beratung mit den gleichen Mehrheitsver-hältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU,SPD und FDP auf Drucksache 17/9777. Wer stimmt fürdiesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit dengleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/9778. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen vonCDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Lin-ken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 32 a und b so-wie Zusatzpunkt 6 auf:32 a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenDr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Herbert Behrens,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFlughafen Berlin Brandenburg: Flugrouten,Lärmauswirkungen– Drucksachen 17/6942, 17/8514 –b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Kirsten Tackmann, Herbert Behrens,Thomas Nord, weiteren Abgeordneten und derFraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrs-gesetzes– Drucksache 17/8129 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/9452 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter WichtelZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateKünast, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUrsachen und Verantwortlichkeiten für das Ber-liner Flughafendebakel lückenlos aufklären –Chancen für besseren Lärmschutz nutzen– Drucksache 17/9740 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21703
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Die Fraktion Die Linke hat zu der Antwort der Bun-desregierung auf ihre Große Anfrage einen Entschlie-ßungsantrag eingebracht.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Gregor Gysifür die Fraktion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heu-
tige Debatte findet statt, weil die Bundesregierung auf
eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke geantwortet
hat. Es geht um eines der berühmten Großprojekte in
Deutschland. Aber egal, welches Großprojekt ich
nehme, ob ich an den Flughafen in Frankfurt oder an
Stuttgart 21 denke: Es ist noch nie gelungen, die Bevöl-
kerung so einzubeziehen, dass solche Großprojekte wi-
derspruchsfrei realisiert werden konnten. Immer wurden
Auseinandersetzungen in Kauf genommen. Genau so ist
es beim Flughafen Berlin Brandenburg, der wohl den
Namen Willy Brandt tragen soll.
Was ist das Problem? Wenn man Großprojekte in ei-
ner Gesellschaft wie unserer startet, wird die Demokratie
nur dann gewahrt, wenn man die Bürgerinnen und Bür-
ger rechtzeitig und umfassend einbezieht.
Man wird nie alle Widersprüche auflösen können; aber
man muss das Gespräch suchen. Hier ist nun etwas ganz
Groteskes passiert: Man hat sich bestimmte Flugrouten
ausgedacht. Auf dieser Grundlage wurden Gespräche
geführt und Lärmschutzmaßnahmen durchgeführt. Dann
meinte das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung beim
Bundesverkehrsministerium: Wir nehmen ganz andere
Routen. – Diese Routen waren bis dahin überhaupt noch
nicht diskutiert worden und wurden ziemlich willkürlich
gewählt, sodass mit denen, die jetzt betroffen sind, nie
gesprochen worden ist. Die Betroffenen haben also kei-
nen Lärmschutz, und diejenigen, die welchen haben,
brauchen ihn gar nicht mehr. Ich muss sagen: Etwas Irre-
res habe ich überhaupt noch nicht erlebt, auch was die
Kosten anbetrifft.
Das Nächste ist, dass zwei Seen betroffen sein sollten:
der Wannsee und der Müggelsee. Bei beiden Seen gibt
es auch Naturschutzgebiete. Da ist mir eines aufgefallen
– das bin ich seit so vielen Jahren leid –: Wo geht Klaus
Wowereit hin? Er protestiert dagegen, dass der Wannsee
belastet wird; beim Müggelsee war er nie. Kann das
nicht einmal aufhören?
Ist es nicht unsere Pflicht, beide Seen zu schützen, das
heißt den Müggelsee und den Wannsee?
Das ist wirklich grotesk.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wellmann?
Ja, gerne.
Kollege Gysi, sind Sie denn bereit, sich daran zu erin-
nern, dass Sie von der Linken in Berlin zehn Jahre lang
Regierungsverantwortung getragen haben
und dass es Ihr Parteifreund Wolf war, der als Wirt-
schaftssenator für den Flughafen zuständig war?
Letzteres ist leider ein Irrtum; aber es ist wahr, dasswir in der Zeit in der Regierung waren. Es ist auch wahr,dass die besten Maßnahmen von uns gekommen sind.
– Passen Sie auf; ich werde Ihnen das gleich belegen. –Dass Wowereit als Aufsichtsratsvorsitzender bei demTermin derartig versagt hat, liegt nur daran, dass er jetztmit der CDU und nicht mehr mit den Linken regiert. Daswäre bei uns gar nicht möglich gewesen.
Abgesehen davon tragen wir eine große Verantwor-tung. Mir geht es jetzt aber gar nicht um Parteien, son-dern um die Betroffenen.
Ich weiß schon, wer die Verantwortung auf Bundesebenetrug; ich komme noch zu Herrn Wissmann und den an-deren.
Ich werde Ihnen darauf noch Antworten geben.Die ganze Lärmproblematik gäbe es gar nicht, wennman sich damals für Sperenberg entschieden hätte.
Wer war gegen Sperenberg? Die Bundesregierung, mitWissmann an der Spitze.
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21704 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Gregor Gysi
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Und warum? Weil Wissmann eine Konkurrenz zu denFlughäfen München und vor allen Dingen Frankfurt amMain verhindern wollte. Das steckte dahinter.Warum war Diepgen, der damalige Regierende Bür-germeister von Berlin – übrigens in Koalition mit derSPD, nicht mit uns, wie Sie ja wissen –, gegen Speren-berg? Er hat erklärt, dass den Westberlinerinnen undWestberlinern eine Reise bis Sperenberg nicht zuzumu-ten sei, sondern maximal bis Schönefeld. Etwas Kleinka-rierteres habe ich nach Herstellung der deutschen Einheitüberhaupt noch nicht gehört.
Herr Stolpe war der Einzige, der für Sperenberg war.Aber der ist, wie es bei Sozialdemokraten üblich ist, um-gefallen. Das ist die Wahrheit. Sonst hätten wir die Pro-bleme, mit denen wir uns jetzt auseinandersetzen müs-sen, überhaupt nicht.
Ich sage Ihnen noch etwas: Das Bundesverwaltungs-gericht hat das Nachtflugverbot in seiner Entscheidungleider nur von 0 Uhr bis 5 Uhr erteilt. Dagegen richtetsich eine Verfassungsbeschwerde. Wir werden abwarten,wie das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet.Möglicherweise muss sogar der Europäische Gerichts-hof darüber entscheiden. Das lasse ich aber offen, weiles eine generelle Frage gibt: Was hat eigentlich Vorrang,wenn man einen Flughafen unmittelbar an der Grenze zueiner Hauptstadt baut? Ist es wirklich so, dass die Wirt-schaftlichkeit Vorrang hat vor der Gesundheit Hundert-tausender Bürgerinnen und Bürger?
Der Maßstab, der dort angelegt wurde, ist überhauptnicht vertretbar.Wie hat das Bundesverwaltungsgericht seine Ent-scheidung begründet? Es hat unter anderem gesagt, dassbei einer Überschreitung von 55 Dezibel bei geschlosse-nen Fenstern Lärmschutz gewährt werden muss. Ichhabe mich dann in einem Brief an die Bundeskanzlerin– Sie tun immer so, als ob der Bund nicht zuständig sei;der Bund ist auch Eigner, das muss man hier einmal ganzklar sagen –, an den Regierenden Bürgermeister vonBerlin und an den Ministerpräsidenten von Brandenburggewandt und aufgezeigt, welche Probleme die Bürgerin-nen und Bürger bei der Gewährung von Lärmschutz ha-ben. Denn wenn man schon ein derart enges Nachtflug-verbot hat und wenn man schon Schönefeld stattSperenberg genommen hat, dann könnte man doch we-nigstens im Hinblick auf die Gewährung von Lärm-schutz großzügig sein. Es ging darum, dass es keinenLärmschutz für Wintergärten gibt und dass gesagtwurde, manche Räume seien zu niedrig, es seien garkeine Räume im baurechtlichen Sinne. Das ist grotesk.Da wohnt eine Frau seit 40 Jahren in ihrem Haus, unddann wird ihr der Lärmschutz mit dieser Begründungverweigert. Das ist doch kleinkarierter Mist.Jetzt haben Sie ihre Haltung allerdings – das muss ichzugeben – ein wenig geändert. Nun wurde entschieden,in all diesen Fällen die Lärmschutzmaßnahmen zu über-nehmen. Durch den Druck der Bürgerinnen und Bürgerund übrigens auch durch unseren Druck ist es erreichtworden, dass sich der Flughafenbetreiber zumindestdiesbezüglich bewegt hat.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage des Kollegen Wellmann?
Ja.
Herr Kollege Gysi, ist Ihnen bekannt, dass Ihre Partei
im Land Brandenburg mitregiert und dass das Land
Brandenburg im Verhältnis der drei Eigentümer die Fe-
derführung bei der Errichtung des Flughafens hat?
Mir war sehr wohl bereits bekannt – aber ich dankeIhnen für den Hinweis –, dass die Linke in Brandenburgregiert,
allerdings erst seit kurzer Zeit. Sie hat bereits einigesdurchgesetzt.
– Hören Sie mal zu! – Sie hat durchgesetzt, dass jetztauch für Wintergärten und für niedrige Räume Lärm-schutz gewährt wird. Das ist das Verdienst der Linken inBrandenburg.
– Das ist nicht Ihre Sorge. Sie wohnen ja auch nicht dort,Herr Trittin. Dann kann man immer eine große Klappehaben. Aber wenn man dort wohnt und derartig belastetwird, dann sieht man die Situation ganz anders.
– Ich wusste, dass Sie sich so aufregen. Ich habe michdeshalb schon auf diese Debatte gefreut.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21705
Dr. Gregor Gysi
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Nun hat der Betreiber bei der Planfeststellungskom-mission in Brandenburg, die leider unabhängig ist, einenAntrag gestellt. Trotzdem kann und muss die RegierungEinfluss nehmen. Man will, dass festgestellt wird, dasstäglich sechsmal die Marke von 55 Dezibel im geschlos-senen Raum überschritten werden darf, bevor überhauptLärmschutzmaßnahmen greifen. Das widerspricht dembisherigen Planfeststellungsbeschluss und vor allem– darauf wird viel zu wenig eingegangen – dem Urteildes Bundesverwaltungsgerichts. Das Bundesverwaltungs-gericht führt auf Seite 122 seines Urteils aus: Dürfte esmehr als sechs Überschreitungen geben, dann würde einsolcher Umstand „jeder inneren Rechtfertigung entbehren“.Sollte die Planfeststellungskommission wirklich derMeinung sein, dass die sechsmalige Überschreitung von55 Dezibel bei geschlossenen Räumen zulässig ist, dannhieße das, dass die Rechtsgrundlage für die Entschei-dung des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben ist.Das geht überhaupt nicht. Die Planfeststellungskommis-sion muss sagen: Es bleibt dabei. Wenn einmal dieMarke von 55 Dezibel überschritten ist, dann gibt es ei-nen Rechtsanspruch auf Lärmschutz.
Jetzt zum Thema Verschiebung.
Herr Kollege, Sie wissen, dass Sie Ihre Redezeit über-
schritten haben?
Wissen Sie, wenn ich die ganze Zeit unterbrochen
werde, dann kann ich keine klaren Ausführungen ma-
chen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz Folgendes
sagen: Das ist eine Blamage. Das hat Provinzniveau.
Klaus Wowereit ist immerhin der Vorsitzende des Auf-
sichtsrats.
Die Kontrolle hat vollständig versagt. Um diese Tat-
sache kommen Sie alle nicht herum. Wir können uns ent-
scheiden: Blamieren wir uns weiterhin
oder machen es endlich vernünftig, nämlich mit den
Bürgerinnen und Bürgern unter Gewährung eines groß-
zügigen Lärmschutzes.
Das Wort hat nun Peter Wichtel für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den An-trag der Grünen und den Gesetzentwurf der Linksparteigelesen habe, dachte ich, dass wir uns heute mit wich-tigen Themen wie Luftverkehr und Lärmschutz beschäf-tigen. Die Ausführungen meines Vorredners haben abergezeigt, dass es ihm gar nicht so sehr um die Sache geht,
sondern mehr um Polemik.
Hier sollen die Bürgerinnen und Bürger gegeneinanderausgespielt werden.Zum Verfahren. Es ist meiner Meinung nach sehr be-dauerlich, dass in den Anträgen keinerlei Verbesserungs-vorschläge gemacht worden sind, über die man hier ge-meinsam diskutieren könnte.
Die Problematik ist einfach: Wir haben ein Luftver-kehrsgesetz und internationale Vorschriften. Im Rahmender internationalen Vorschriften und des Gesetzes wird– das wird schlichtweg unterschlagen – bei der Planungvon An- und Abflugverfahren dem Lärmschutzinteresseder Menschen in der unmittelbaren Umgebung von Flug-häfen Rechnung getragen. Natürlich haben die direkt be-troffenen Anwohner immer ein besonderes Interesse; dasist doch vollkommen klar. Wir müssen aber insgesamtzwischen den Interessen der Wirtschaft, des Luftver-kehrs, unserer eigenen Import- und Exportwirtschaft undden Interessen der Reisenden weltweit und auch in unse-rem Land abwägen. Ganz so einfach, wie Sie es sich hiermachen, ist es also nicht.Im Planungsverfahren gelten andere Handlungsspiel-räume; das habe ich bereits bei Einbringung der Vorlageder Linken festgestellt. Im Planfeststellungsverfahrenwird untersucht: Mit welchen An- und Abflugverfahrenkann die entsprechende Kapazität erreicht werden? Daswird dann auch im Rahmen des Planfeststellungsverfah-rens festgelegt. Wenn später die Flugrouten geplantwerden – das genau ist der Punkt, über den wir heutestreiten –, kommen natürlich auf einmal Betroffenheiten
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21706 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Peter Wichtel
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zustande, die man während des Planfeststellungsverfah-rens zum Teil gar nicht erkennen konnte.Ich will, um es ganz deutlich zu machen, ein Beispielnennen: Sie werden von keinem Bürger, der entlastetwird, ein Lob erhalten; aber ein anderer, der belastetwird, wird sich mit Sicherheit bei Ihnen melden und sichdarüber beschweren. Mein Beispiel ist der Anflug Ber-lin.
Dabei wird die Stadt Erkner belastet. Sie wird ein zwei-tes Mal im Abflugverfahren belastet. Die Bürger hattensich beschwert; erst danach haben sich die Flugsiche-rung und die Fluglärmkommission damit noch einmalbefasst. Eigentlich sollte die Fluglärmkommission eineArt Bürgerbeteiligung sein; denn in ihr sind Landräte,Bürgermeister und Erste Stadträte vertreten. Man erwar-tet eigentlich, dass dort dementsprechend auch Bürger-interesse eingebracht wird.
Wenn entschieden wird, dass das Abflugverfahrenüber dem Bereich des Müggelsees stattfindet, wird esvonseiten der Bürger in Erkner keinen Applaus geben.Die werden das genüsslich zur Kenntnis nehmen, wäh-rend sich die Bürger von Müggelsee bei uns beschwerenwerden. Deswegen muss man, wenn man sich über dieseThemen unterhält, nüchtern und trocken darauf schauen:Wo können wir mit welchen An- und Abflugverfahrendie Menschen am besten berücksichtigen? Wo könnenwir ihnen am besten entgegenkommen?Ich weise noch einmal darauf hin, dass dies das Anlie-gen jeder Frau und jeden Mannes hier ist. Im DeutschenBundestag befindet sich, glaube ich, niemand, der Flug-routen bzw. An- und Abflugverfahren will, durch welcheMenschen mutwillig belastet werden.
Deswegen halte ich das Theaterstück, das hier teilweiseaufgeführt wird, für mehr als bedenklich.Ich finde es kritikwürdig, wenn nicht sogar beschä-mend, was hinsichtlich der ersten und der zweiten Ver-schiebung bei der Inbetriebnahme des Flughafens ge-schehen ist. Die Geschäftsführung hat hier, denke ich,ein besonderes Problem, nämlich ein Informationspro-blem.
Sie hat aus meiner Sicht nicht nur ein Problem gegen-über der Bevölkerung, sondern auch in Bezug darauf,wie sie mit ihrem eigenen Kontrollorgan umgeht. ImAusschuss hat uns ein Aufsichtsratsmitglied mitgeteilt,dass seit dem 20. April ein Controlling-Bericht für daserste Quartal 2012 vorliegt und dass mit der Vorlagedieses Controlling-Berichts erstmals klar wurde, dass dieInbetriebnahme gefährdet ist.
Danach fand keine weitere Information bis zu dem Tagstatt, an dem gesagt wurde: Es geht jetzt wirklichnicht. – Das halte ich schon für mehr als bedenklich.Wenn behauptet wird, die Geschäftsführung der FBB,welche die hauptsächliche Verantwortung für die un-mögliche Situation trägt, habe auf ganzer Linie versagt,ist das noch gelinde ausgedrückt, meine sehr verehrtenDamen und Herren.Es ist allerdings besonders ärgerlich, wenn hier insbe-sondere im Zuge der nun geführten Debatte versuchtwird, die Bundesregierung massiv anzugreifen und indie Verantwortung zu bringen. Hierzu ist festzuhalten,dass die beiden Landesregierungen hauptsächlich Ver-antwortung im Bereich des Prozesses tragen.
Ich stelle fest, dass Genehmigung und Abnahme in denLändern Brandenburg und Berlin stattfinden müssen.Für mehr als unglaubwürdig halte ich es, wenn hier sogetan wird, als habe der Regierende Bürgermeister vonBerlin, Herr Wowereit – er ist Aufsichtsratsvorsitzen-der –, oder Herr Platzeck als Ministerpräsident keinerleiAhnung, was ihre Verwaltungen machen.
Sie seien erst bei der Aufsichtsratssitzung am 20. Aprilinformiert worden. Das kann doch nicht stimmen. InZeitungsberichten, die jetzt auftauchen, wurde das deut-lich. Da ist von internem Schriftverkehr – dabei geht esum E-Mails zwischen der Staatskanzlei in Brandenburgund anderen – die Rede.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Ja.
Entschuldigen Sie, Herr Kollege, ich habe nur eine
Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Verträge für das Bo-
denpersonal in Tegel, die ursprünglich nur bis Ende Juni
gingen, schon Anfang März bis September verlängert
wurden? Wie ist das zu erklären, wenn man erst Ende
April davon erfahren haben will? Das ist mir unerklär-
lich.
Herr Gysi, ich kann Ihnen nur das sagen, was ich ge-rade vorgetragen habe. Dass ich das, was uns im Aus-schuss vorgetragen worden ist, nicht glaube, habe ich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21707
Peter Wichtel
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wohl zum Ausdruck gebracht. Diese Zwischenfrage wareigentlich überflüssig.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass hierendlich eine lückenlose und transparente Aufarbeitungerfolgen muss. Diese Aufarbeitung ist notwendig. Dabeiist die Geschäftsführung besonders gefordert. Deswegenerwarte ich, dass dem Verkehrsausschuss des DeutschenBundestages der Controlling-Bericht 1/2012 ungekürztvorgelegt wird.
Ich erwarte, dass wir ihn einsehen können, und zwar un-geschwärzt.
Im Gegensatz zu Herrn Trittin erwarten wir, dass HerrWowereit, nachdem er auch die zweite Einladung abge-lehnt hat, die dritte annimmt. Wir erwarten, dass er nachder Aufsichtsratssitzung am 22. Juni 2012 in den Aus-schuss kommt und dort Rede und Antwort steht zurFinanzierungsthematik – dieses Thema ist noch offen;das wird zurzeit geprüft –
und zu möglichen Regressansprüchen der Flughafenbe-treiber gegenüber den Mitbauern und Kontrolleuren. Wirerwarten aber auch, dass er aufzeigt, welche Regressan-sprüche die betroffenen Firmen gegen die Flughafen-betreiber erheben können, damit wir ein abgerundetesBild von dem bekommen, was dort passiert. Wir von derKoalition erwarten, dass die Beteiligten die notwendigenAuskünfte erteilen und zur Aufklärung beitragen.Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung befasst sich mit dem Thema. Dieser Vorlagen hättees nicht bedurft. Ich denke, es ist gut, dass wir das hiereinmal deutlich machen konnten.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Zuschauer, die eigentliche Debatte findet ge-
rade in den Abgeordnetenreihen statt. Es ist schade, dass
man das nicht live verfolgen kann. Es ist schon span-
nend, worüber hier gerade diskutiert wird.
Eigentlich wollten wir heute sachlich und entspannt
über die Frage reden, wie man den Lärmschutz für An-
wohnerinnen und Anwohner von Flughäfen, insbeson-
dere in Berlin, verbessern kann. So habe ich die Vorlagen,
über die wir heute beraten, verstanden. Aber ich ver-
stehe, warum das nicht so einfach ist, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Die einen haben ihre Wahlniederlage
noch nicht verarbeitet – das sind die Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen –,
und die anderen sind die Kollegen von den Linken. Der
Kollege Gysi taucht immer dann ab, wenn er die Mög-
lichkeit hat, etwas mitzugestalten. Ich erinnere Sie ein-
mal daran: Wer war denn Kurzzeitsenator in Berlin?
Wer hatte denn die Möglichkeit, mitzugestalten? Immer
wenn ihr die Möglichkeit habt, mitzugestalten, dann
macht ihr euch ganz schnell vom Acker.
Lieber Herr Gysi, Fahnenflucht ist etwas, was Sie kön-
nen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Enkelmann?
Wenn die Uhr angehalten wird, gerne.
Herr Präsident, ich möchte gerne eine Zwischenbe-merkung machen.Herr Kollege, ich gehe davon aus, dass Ihnen bekanntist, dass die Entscheidung über den Standort des Flug-hafens lange vor der Zeit gefallen ist, als die damaligePDS in Berlin Regierungsverantwortung übernommenhat, und erst recht lange vor der Zeit, als sie in Branden-burg Regierungsverantwortung übernommen hat.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen auch bekannt ist, dassdie zuständigen Entscheidungsträger – das waren HerrStolpe, Herr Diepgen und Herr Bundeskanzler Kohl –SPD und CDU angehören. Ihnen ist sicher auch bekannt,dass dieser Flughafen seitdem ein Pleiten-Pech-und-Pannen-Flughafen ist. Die Entscheidung über den Stand-ort, die Entscheidung über das Drehkreuz und diefehlende Entscheidung über ein nationales Luftverkehrs-konzeptes – für all das sind Regierungen verantwortlich,an denen die Linke nicht beteiligt war. Ich gehe davon
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21708 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Dagmar Enkelmann
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aus, dass Ihnen das bekannt ist. Ich finde, das sollte hierauch gesagt werden.
Ich nehme mir die Zeit und antworte auf Ihre Zwi-
schenbemerkung. Ich frage mich: Was ist die Essenz
dessen, was Sie uns jetzt hier gesagt haben? Ist die Es-
senz, dass wir immer dann, wenn eine Entscheidung ge-
troffen wurde, sozusagen jegliche parlamentarische Ar-
beit einstellen? Ist die Essenz, dass man –
– jetzt hören Sie bitte zu –, wenn man in Regierungsver-
antwortung kommt, immer sagt: „Wir waren es ja nicht,
das waren die anderen“, und dann am besten noch wie
Kollege Gysi nach ein paar Wochen alles wieder hin-
wirft?
Frau Enkelmann, Sie müssen auch zuhören können.
Das muss man sich überlegen. Aber das ist wahr-
scheinlich genau die Art und Weise, wie man als Funda-
mentalopposition im Deutschen Bundestag arbeitet.
Mit dem Thema Lärmschutz, um das es heute eigent-
lich gehen soll, hat das alles nur in einer Hinsicht etwas
zu tun: Die Verschiebung der Flughafeneröffnung bietet
nun die Möglichkeit, die baulichen Maßnahmen zum
Lärmschutz rechtzeitig vor der Eröffnung des Flugha-
fens zu beenden und damit die Anwohnerinnen und An-
wohner besser vor den Folgen des Fluglärms zu schüt-
zen. Das ist vielleicht der einzige positive Aspekt dieses
zu Recht sogenannten Dramas hier in Berlin.
Lärmschutz ist ohne jeden Zweifel eine der ganz
drängenden Aufgaben der Verkehrspolitik. Wenn es hier
nicht deutlich vorangeht, dann werden wir erleben, dass
die Akzeptanz für große Infrastrukturvorhaben weiter
sinkt. Lärmschutz lässt sich aber nicht isoliert betrach-
ten. Flughäfen haben eine enorme wirtschaftliche Be-
deutung. Fliegen ist heute kein Luxusgut begüterter
Schichten mehr, sondern Bestandteil der Mobilität und
Lebensqualität großer Teile der Bevölkerung. Lärm-
schutz muss daher mit dem Mobilitätsbedürfnis der
Menschen und mit den Erfordernissen der Wirtschaft
und den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in Einklang gebracht werden.
Wir sind der festen Überzeugung, dass dies nur mög-
lich ist, wenn die Politik alle Beteiligten an einen Tisch
bringt. Wir brauchen deshalb eine Bürgerbeteiligung, die
diesen Namen verdient. Ich finde, es ist beschämend,
wenn die Bundesregierung auf all die Bürgerproteste,
die wir erleben, als Reaktion nun solch einen Gesetzent-
wurf vorlegt; jetzt muss ich auch einmal etwas in diese
Richtung sagen.
Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischen-
frage des Kollegen Gysi?
Ja.
Herr Kollege, ich wollte aufgrund Ihrer Ausführun-
gen nur eine Frage an Sie stellen. Sie haben gesagt, dass
man abwägen muss. Was hat denn dagegen gesprochen,
dass die Flugzeuge die verlängerte Autobahn für Abflug
und Anflug – das würde dann etwa den Bedingungen
von Sperenberg entsprechen – entlangfliegen? Es wäre
ein kleiner Umweg gewesen. Das einzige Gegenargu-
ment, das ich gehört habe, ist, dass es teurer wäre. Aber
100 000 Menschen wären dadurch entlastet worden.
Wäre es denn so schlimm, einen kleinen Umweg in Kauf
zu nehmen, durch den 100 000 Menschen entlastet wer-
den würden, nur weil es dann etwas teurer wird? Ich
kann das wirklich nicht verstehen.
Herr Gysi, darauf antworte ich Ihnen sehr gerne. Ichwollte in meiner Rede gleich noch etwas dazu sagen. Ichglaube, dass wir uns in Zukunft genau überlegen müs-sen, wie wir mit der Festlegung der An- und Abflugver-fahren umgehen. Ich glaube, dass dort auch technischnoch einiges an Spielraum vorhanden ist. Wir müssenvielleicht auch bei der Lösung der einen oder anderenFrage den Fokus ein Stück verschieben in Richtung: Waskostet es, und was bringt es? Aber wir haben natürlichimmer auch – dazu sage ich gleich noch etwas – Ziel-konflikte. Jedes veränderte Anflugverfahren bedeutetmeistens, dass man mehr Kerosin verbraucht. Dadurchbekommt man zum Beispiel Probleme bei der Errei-chung von Klimaschutzzielen. Die Festlegung von Flug-routen ist eine der komplexesten Aufgaben überhaupt.Ich betone noch etwas, damit es nicht untergeht: Die Si-cherheit darf man in dieser Sache niemals vernachlässi-gen. Wenn man etwas isoliert betrachtet, denkt man oft,dass man es besser weiß; aber es handelt sich um einsehr schwieriges Verfahren.
Ich war bei dem, was die Bundesregierung uns vorge-legt hat. Ich sage Ihnen: Das ist zu wenig. Laut Ihnen
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Sören Bartol
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soll die zuständige Behörde künftig, so ist es in dem Ent-wurf zu lesen, „darauf hinwirken“, dass der Vorhabenträ-ger die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig unterrichtet.Man findet kein Wort von verbindlicher Beteiligung.Stattdessen stellen Sie die Einbeziehung der Bürgerin-nen und Bürger in das Belieben von Behörden und Pla-nungsträgern. Das ist Beteiligung nach Gutsherrenart:Wenn es mir passt, dann beteilige ich, wenn nicht, dannlasse ich es sein.Es ist beschämend, dass die Bundesregierung bisheute keinen Finger rührt, um die Flughafenanwohnerendlich frühzeitig bei der Festlegung der Flugrouten zubeteiligen. So werden Sie die Akzeptanzprobleme vonFlughäfen und das Lärmproblem nicht lösen. Grundvo-raussetzung für den Lärmschutz der Anwohner ist, dasssie frühzeitig eingebunden werden, und zwar sowohl beiBauvorhaben als auch bei der Festlegung von Flugrou-ten. Wir haben relativ detaillierte Vorschläge dazu vorge-legt. Sie sind gerne eingeladen, liebe Kolleginnen undKollegen aus der Koalition – aber auch die anderen –,sich daran zu beteiligen, damit wir vielleicht einen ver-nünftigen Konsens in diesem Hause hinbekommen.Wenn wir unser Land als Wirtschaftsstandort sichernwollen, dann brauchen wir einen gesellschaftlichen Kon-sens über die dafür notwendige Infrastruktur. Wir brau-chen zugleich einen Konsens darüber, wie wir die Belas-tungen, die von dieser Infrastruktur ausgehen, möglichstgering halten, wie wir also zum Beispiel Fluglärm redu-zieren, ohne Arbeitsplätze in Berlin oder anderswo aufsSpiel zu setzen. Wir als Fraktion werden dazu imSommer ein detailliertes Papier vorlegen. Wir laden alleBeteiligten, alle Betroffenen ein, mit uns vorurteilsfreiund intensiv über dieses Papier zu diskutieren.
Wir sind davon überzeugt: Einen Kompromiss be-kommt man nicht durch schnell gestrickte Anträge hin,sondern nur, indem man mit allen Betroffenen intensiveGespräche führt. Wir werden dabei auch offen darüberdiskutieren, ob es Sinn macht, die Rangfolge der Krite-rien bei der Festlegung der Flugrouten zu ändern. Natür-lich hört es sich erst einmal gut an, dass der Lärmschutzkünftig vor wirtschaftlichen Belangen rangieren soll.Aber ich frage mich, ob es wirklich mehr für die Umweltbringt, wenn wir Flugzeuge aus Lärmschutzgründenzum Beispiel weitere Umwege fliegen lassen, sodass siemehr CO2 ausstoßen. Ich sagte gerade in meiner Antwortauf Ihre Frage: Genau das ist der Zielkonflikt, in demwir uns – das kann man nicht wegreden – befinden.Diese Balance ist aus unserer Sicht nicht gewahrt,wenn man pauschal für alle Flughäfen ein Nachtflugver-bot fordert. Selbstverständlich müssen Nachtflüge aufdas absolute Mindestmaß begrenzt und mit möglichstleisen Maschinen durchgeführt werden. Ich bezweifleaber, dass wir als weltweit führender Logistikstandortganz auf Nachtflüge verzichten können. Jedenfalls wol-len wir dies zuvor mit allen Beteiligten klären.
Dazu gehören auch diejenigen, die auf den Flughäfen ihrtägliches Brot verdienen. Wir dürfen, wenn wir überdiese Frage diskutieren, die Interessen der dort Beschäf-tigten und der Unternehmen, die diese Beschäftigungs-verhältnisse sichern, nicht einfach außen vor lassen.
Offen gestanden sind mir insbesondere die Linken mitihrem Antrag um einiges zu kurz gesprungen. Wenn manden Fluglärm reduzieren will, dann reicht es eben nicht,nur die Grenzwerte herabzusetzen und Nachtflüge zuverbieten. Wir brauchen einen Ansatz, der alle verfügba-ren Mittel zur Lärmreduzierung miteinander verknüpft.Dazu gehören die Durchsetzung lärmarmer An- und Ab-flugverfahren. Dazu gehören vernünftige Start- und Lan-degebühren, die noch stärker als bisher Anreize zur Ver-wendung lärmarmer Flugzeuge setzen. Dazu gehörtnatürlich auch, dass wir uns vor allen Dingen auf inter-nationaler Ebene für strengere Lärmgrenzwerte einset-zen. Das ist, glaube ich, eine große Aufgabe. Jeder, derdas schon einmal gemacht hat, weiß, wie schwierig dasist.Vor allen Dingen eines dürfen wir nicht tun – ichhoffe, das bessert sich im Laufe dieser Debatte noch einbisschen –: die Interessen der Anwohner und der Be-schäftigten gegeneinander ausspielen. Es ist wohlfeil, je-der Gruppe das zu versprechen, was sie in diesem Au-genblick gerade hören will. Natürlich macht es sich gut,die verschobene Flughafeneröffnung zum Anlass zunehmen, Maximalforderungen im Hinblick auf denLärmschutz zu erheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Konsens siehtganz anders aus. Ein Konsens setzt einen Dialog mit al-len Betroffenen und nicht nur mit isolierten Gruppen vo-raus. Genau das vermisse ich in Ihren Anträgen.Danke schön.
Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-schätzter Kollege Bartol, was ich vermisst habe, war einWort der Sozialdemokraten zur Verantwortung der Re-gierungen der Länder Berlin und Brandenburg in dieserAngelegenheit.
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21710 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Patrick Döring
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Auch dazu kann man hier etwas sagen. Denn der Auf-sichtsratsvorsitzende der Berliner Flughafen-Gesell-schaft ist der Regierende Bürgermeister von Berlin,
und derjenige, der für die Bauaufsicht zuständig ist, istder Ministerpräsident von Brandenburg.
Die Sozialdemokraten können gerne noch mehrereAnhörungen durchführen, in denen es um die Frage geht,ob die Lärmschutzmaßnahmen zu verbessern sind odernicht. Irgendwann müssen Sie aber auch einmal sagen,was Sie wollen.
Wollen Sie eine generelle Einschränkung des Nachtflug-verkehrs, wie es sie am Flughafen Köln/Bonn gibt, oderwollen Sie sie nicht? Auch dazu muss man hier Auskunftgeben.
Es reicht nicht, zu sagen, man müsse mit allen Betroffe-nen sprechen.
Was ist am Ende wichtiger? Darum geht es, liebe Freun-dinnen und Freunde.
So einfach wie Sie kann man es sich nicht machen.Geschätzter Herr Kollege Gysi, ich sage Ihnen eines:Ihre Rede stand ein bisschen unter dem Motto „Vor-wärts, Genossen, wir wollen zurück!“.
Wir können die Debatte um die Standortauswahl gernenoch einmal führen. Nur: Das bringt die Menschen, dieam BBI wohnen, keinen Millimeter weiter. Es nützt nie-mandem, wenn wir diese Debatte noch einmal führen.Insofern ist es völlig egal, wer wann wo eine falscheStandortentscheidung getroffen hat.
Wir müssen die Probleme der Menschen, die am Flugha-fen Berlin Brandenburg International wohnen, lösen.Das ist Aufgabe der Verkehrspolitik, die wir im Deut-schen Bundestag machen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Gerne.
Sie haben recht, dass das nicht zurückzudrehen ist;
das weiß ich. Aber ich will daran erinnern: Man hat sich
damals nicht für den Standort Sperenberg entschieden.
Man wollte den Flughafen in der Nähe der Hauptstadt
bauen. Dann muss man in Sachen Lärmschutz allerdings
besonders großzügige Regelungen treffen. Für den
Lärmschutz sind bisher 144 Millionen Euro vorgesehen,
während für den gesamten Flughafen weit über 2 Mil-
liarden Euro vorgesehen waren.
Was wäre denn so schlimm daran, zu sagen: Wir treffen
im Sinne der Betroffenen großzügige Lärmschutzrege-
lungen?
Herr Kollege Gysi, Sie müssen zumindest versuchen,die Sache richtig darzustellen. Derzeit haben 13 000Menschen einen Kostenübernahmebescheid der Flugha-fengesellschaft für Lärmschutzmaßnahmen an ihren Ge-bäuden. Das ist die Hälfte derjenigen, die derzeit an-spruchsberechtigt sind. Dass die meisten dieserMenschen, über 90 Prozent dieser 13 000 Menschen,derzeit diese Baumaßnahmen noch nicht durchgeführthaben, obwohl die Kosten vom Flughafen übernommenwürden, kann man nicht der Flughafengesellschaft vor-werfen. Es ist aber auch logisch: Wenn der Flugbetrieberst im März 2013 aufgenommen wird, dann muss maneine Entscheidung für neue Lärmschutzfenster nicht imMai dieses Jahres treffen. Das ist der Punkt.
Es gibt die Bereitschaft, die Anspruchsberechtigtenzu befriedigen. Ich bin bereit, parlamentarisch darüberzu reden, ob wir den Kreis der Anspruchsberechtigtenim Rahmen einer Änderung des Luftverkehrsgesetzes er-weitern müssen
und wer die Kosten zu tragen hat. Dazu steht in den vor-liegenden Anträgen oder in der Großen Anfrage jedochkein Wort. Wir müssen uns dann noch einmal mit der Sa-che befassen. Das können wir gern tun. Wir müssen aber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21711
Patrick Döring
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aufpassen, dass am Ende nicht jeder, der irgendwannüber seinem Garten in 4 000 oder 5 000 Fuß Höhe einFlugzeug sieht, Lärmschutzansprüche hat. Das ist näm-lich unbezahlbar, das wissen wir, liebe Kolleginnen undKollegen.
In dieser Sache geht es darum: Wer hat wann was ge-wusst, und wer hat wann was falsch gemacht? Mirkommt das Verhalten der Geschäftsführung so vor: Manhat bis zuletzt geglaubt, dass die brandenburgische Lan-desregierung als ein wichtiger Aktionär diesen Wahn-sinn, die Brandmeldeanlage dieser Infrastruktur perHand oder – wie es so schön heißt – halbautomatisch zubetreiben, am Ende doch genehmigen wird. Dass dieBauordnungsbehörde im zuständigen Landkreis den Muthatte, dagegenzuhalten, spricht für die dort Tätigen. Eswar falsch, so lange zu warten und mit einer halbauto-matischen Lösung in das Verfahren zu gehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darum gehtes. Herr Gysi hat danach gefragt: Was hat eigentlich Vor-rang? – Ich sage Ihnen: Vorrang vor den Lärmschutzinte-ressen und den Wirtschaftsinteressen hat die Sicherheit.Gerade nach den Erfahrungen in Düsseldorf war es vonden Betreibern unverantwortlich, überhaupt eine halbau-tomatische Brandmeldeanlage für diesen Flughafen vor-zusehen.
Daran wird sich die Frage entscheiden, wer wann waswusste. Der Kollege Wichtel hat es gesagt: Ich bin derfesten Überzeugung, dass an dieser Stelle ein Transpa-renzproblem zwischen den Aufsichtsbehörden und demAufsichtsrat besteht, denn ganz offensichtlich gibt esControlling-Berichte, die sorgfältig erstellt wurden, beidenen jedoch diejenigen, die innerhalb der Gesellschaftfür das Controlling zuständig sind, darauf angewiesenwaren, dass die Daten, die ihnen von ihren Kollegen zu-geleitet werden, auch stimmen. Daher war es von An-fang an ein Fehler, kein externes Controlling für dieseGesellschaft vorzusehen, sondern Erfahrungen im Kolle-genkreis auszutauschen. Jetzt muss man die Chance er-greifen, von außen in alles hineinzuleuchten, denn mitei-nander hat es ganz offensichtlich nicht funktioniert. Dassind wir auch denjenigen schuldig, die einen besonderenwirtschaftlichen Schaden erlitten haben, nämlich denGewerbetreibenden, den Anwohnerinnen und Anwoh-nern und den Beschäftigten der Flughafengesellschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegt einAntrag vom Bündnis 90/Die Grünen zu Veränderungenvor. In diesem Antrag steht viel Kluges. Dort steht auchein Punkt, der hier in den Debatten eine Rolle spielt,nämlich die Frage, wie Flugrouten festgelegt werdenund ob diese zukünftig bereits im Planfeststellungsver-fahren erörtert werden sollen. Diese Diskussion kannman gern führen, und sie ist im Lichte der Erfahrungenmit dem BBI sicher neu zu bewerten. Meine Sorge istaber, dass wir ein gewisses Maß an Flexibilität verlieren,wenn wir die Frage, welche Arten oder Klassen vonFlugzeugen – Langstrecken- oder Kurzstreckenflug-zeuge – wie den Flughafen anfliegen, im Planfeststel-lungsverfahren festlegen. Das Problem ist, dass Sie dieseFlugrouten dann während des Betriebs des Flughafens,der einen Zeitraum von 20, 30 oder 40 Jahren umfassenkann, nicht mehr ändern können, obwohl es vielleichtlärmmindernder oder ökologischer wäre, sie zu ändern,wenn es eine neue Generation von Flugzeugen gibt. Da-her bin ich sehr skeptisch, ob dies die richtige Lösungist.Klar ist aber auch, dass sich die Fluglärmkommission,die die Große Koalition im Rahmen der Novelle desLuftverkehrsgesetzes und des Fluglärmgesetzes einge-führt hat, ganz offensichtlich nicht bewährt hat. Sie wirdnicht als ordentliche Bürgerbeteiligung wahrgenommen.Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, deshalb finde iches gut, wenn wir auf der Fachebene noch einmal darübersprechen, ob man an dieser Stelle nicht bessere undtransparentere Bürgerbeteiligungsverfahren einführenkann.
Bei dieser Debatte geht es nicht nur um die Frage,was hier in Berlin passiert, auch wenn uns selbst, vieleBürgerinnen und Bürger und viele, die die Bundesrepu-blik Deutschland betrachten, das bewegt. Letztendlichhat sich Deutschland unfassbar blamiert. Wir erweckenim Ausland nämlich den Eindruck, als wären wir beson-ders gut im Bau von Infrastrukturen. Wenn man dannhierherkommt, dann sieht man, dass wir, die bundesre-publikanische Gesellschaft, ganz offenbar nicht in derLage sind – sowohl aufgrund der Verwaltungsverfahrenals auch bedingt durch die durchführende Gesellschaftund, ganz offen, vielleicht auch aufgrund mancher politi-schen Fehlentscheidung –, Flughäfen neu zu errichten,Bahnhöfe neu zu errichten und überhaupt Infrastrukturenzur Verfügung zu stellen, die einer Industrienation wür-dig sind.Deshalb lohnt es sich, unsere Planfeststellungsverfah-ren zu überprüfen. Es geht nicht nur um mehr Bürgerbe-teiligung – dafür sind wir auch –, sondern auch um mehrEffizienz und mehr Schnelligkeit, damit wir Infrastruk-turen bekommen, die leistungsfähig sind. Das brauchtnämlich die Bundesrepublik Deutschland, und im Ge-gensatz zu anderen hier bekennen wir uns auch dazu.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich willeinmal eines klarstellen: Bei der Kontrolle der Vorgänge
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21712 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Renate Künast
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rund um den BBI Willy Brandt – so heißt der Flughafen;wahrscheinlich ärgert sich Willy Brandt in diesen Tagen,wenn er hört, was über den Flughafen erzählt wird – gehtes um drei Gesellschafter, die tätig geworden sind bzw.untätig waren. Wir stellen fest: Eines der vielleicht be-kanntesten Infrastrukturprojekte in Deutschland ist rich-tig versemmelt worden.
Ich stelle jetzt nicht die Frage, die Gregor Gysi viel-leicht gerne stellen würde, ob der Standort richtig ist,weil ich glaube, am heutigen Tag geht es um etwas ande-res, nämlich um aus dem Ruder laufende Kosten, sehen-den Auges der Geschäftsführung und aller Mitglieder imAufsichtsrat.
Das Ding sollte einmal weniger als halb so viel kos-ten.
Wer bezahlt das? Offenbar hat kaum einer der Verant-wortlichen einen Überblick über die Art und Weise desBaus. Die Öffnung wurde schon einmal verschoben.Was haben wir jetzt? Jetzt haben wir die Situation,dass sich die Airlines und auch der Non-Aviation-Be-reich, also das Gewerbe dort, fragen, ob sie aufgrund dererneuten Verschiebung überhaupt Schadensersatz be-kommen. Verträge wurden abgeschlossen, die besagen,dass eine Verschiebung von 18 Monaten hinzunehmenist. Dahinter stecken bis zu 400 Menschen, die jetztKündigungen erhalten. Dahinter stecken Azubis, diedachten, am 1. September 2012 könnten sie mit einerAusbildung anfangen. Dahinter steckt, dass der Steuer-zahler nicht weiß, wie viel er am Ende auf allen dreiEbenen – in Berlin, in Brandenburg und im Bund – füreklatantes Missmanagement zuschießen muss.
Das ist das Thema des heutigen Tages.Herr Ramsauer hüllt sich ja in Schweigen und bietetuns eine Ersatz-Soko an. An dieser Stelle kann ich Ihnennur sagen: Nehmen Sie uns als Haushaltsgesetzgeberund als Kontrolleur ernst! Wir können es uns nämlichgar nicht gefallen lassen, dass es plötzlich doppelt soteuer wird und dass aufgrund der ganzen Hektik der letz-ten Monate noch mehr Kosten entstehen.In den letzten Monaten ist man, nur um den Termin3. Juni 2012 politisch zu halten, damit man sich nichtblamiert, so weit gegangen, osteuropäische Tagelöhnermit dem mündlichen Versprechen von 5 Euro die Stundevom S-Bahnhof Grünau ohne Sicherheitskontrolle inBussen auf den Flughafen zu karren. Auch hier fragenwir: Was war da? Wer wusste davon? Wer musste davonwissen? Diese Fragen stelle ich an alle drei Gesellschaf-ter.
Wir lassen uns nicht mit dem lapidaren Satz abspei-sen, Sie hätten es nicht gewusst und irgendjemand ausder Planungsabteilung hätte nicht genug gesagt, und wirlassen uns auch nicht mit dem lapidaren Satz abspeisen:Dann müssen jetzt all die Menschen, die in der Einflug-schneise in Tegel leben, den Lärm vermehrt hinnehmen.Dazu sagen wir ein ganz klares Nein. Herr Ramsauer,Sie werden das Problem schon anders lösen müssen.
Jetzt brauchen wir eine tabulose Aufklärung. Wirwerden uns nicht mit dem Bauernopfer Körtgen zufrie-dengeben, der mal eben weggeschoben wurde. Ichglaube nicht – davon bin ich nicht zu überzeugen –, dass2010 ein Eröffnungstermin verschoben wird und mandanach als Geschäftsführung und als Aufsichtsratsmit-glied nicht erkennt, dass man jetzt einmal die Zügel einbisschen anziehen und sich um diese Baustelle wöchent-lich kümmern muss. Das verstehe ich nicht. Ich kanndieses Konstrukt nicht akzeptieren, dass Planung undControlling zusammengehören. Das macht doch keinMensch mehr, das macht auch kein Unternehmen mehr.
Sie hatten recht, Herr Döring: Das ist nicht nur altmo-disch, das ist gaga.Ich kann nicht akzeptieren, dass angeblich der Brand-schutz der einzige heikle Punkt sein soll. Ich habe ebenvon den Tagelöhnern gesprochen. Mir wird von Hand-werksfirmen erzählt: Da haben wir schnell Wände hoch-gezogen, die wir eine Woche später wieder abgerissenhaben, weil wir gemerkt haben, dass da ein bisschen wasfehlt. – So nicht.Auch beim Brandschutz sage ich: Ich lasse mir nichtunterschieben – ich denke, die Mehrheit des Hausesauch nicht –, der Aufsichtsrat habe erst mit Datum vom20. April 2012 davon erfahren.
No way. Es kann mir keiner erzählen, dass die Entfer-nung zu groß war. Der zu bauende Flughafen ist ja nicht3 000 Kilometer weit von Berlin entfernt. Die Verant-wortlichen begegnen sich doch ständig alle paar Tageund Wochen. Und dabei sollen die Aufsichtsratsmitglie-der und ein Herr Schwarz nicht miteinander geredet ha-ben? Es wäre noch aufzuklären, ob dem wirklich so ist.Ich habe da so meine Zweifel.Ich kann mir schon gar nicht vorstellen, dass das Pro-blem erst im Dezember 2011 aufgefallen ist. Vorher hatman Herrn Körtgen geholt, weil dieser den Umbau amDüsseldorfer Flughafen geleitet hat, nachdem dort beieinem Brand Menschen ums Leben gekommen sind.Man hat gesagt: Hierher kommt die modernste Technik.Dabei merkt man nicht, dass man das zielgenau führen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21713
Renate Künast
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muss? Das glaubt doch kein Mensch. Dann setzen Sie imFebruar eine Taskforce Brandschutz ein. Davon soll derAufsichtsrat nichts gewusst haben? Dafür bieten Sie unsjetzt Herrn Körtgen als Bauernopfer. No way.Dann gibt es eine Interimslösung. Man will die Ent-rauchungsanlagen und die Feuertüren im Handbetriebbedienen. Handbetrieb statt Hightech auf dem größteninternationalen Flughafen! Ich sage Ihnen ehrlich: Daslasse ich mir von niemandem bieten: nicht von HerrnWowereit, nicht von Herrn Platzeck und auch nicht vonHerrn Ramsauer.
Dann pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass dieAufsichtsbehörden in Dahme-Spreewald animiert wer-den sollten, die Erlaubnis für die Anlagen im Handbe-trieb zu geben. Aber der Witz ist: Diese wissen, dass sieals kleine Mitarbeiter dafür persönlich haften – ichmöchte wissen, was hier Brandenburg gemacht hat –, so-dass sie nachts nicht mehr schlafen könnten, wenn einerauf dem Flughafen sterben würde. Aber die Aufsichts-ratsmitglieder dachten: Wir werden uns schon raus-reden. – Das kann ich nicht akzeptieren.
Ich will Ihnen als letzten Satz eines sagen. Ich akzep-tiere nach all diesen Vorfällen nicht, dass man sagt: Wirhaben nichts gewusst. – Schauen Sie in die Kommentarezum Aktiengesetz. Dort steht: Zu den Aufgaben einesAufsichtsrats gehört Verschaffen und Behalten einesÜberblicks über die wesentlichen wichtigen Geschäfts-vorfälle.
Frau Kollegin, Sie wollten doch nur noch einen Satz
sagen. Ihre Redezeit ist überschritten.
Sofort, danke. Ich mache den Satz jetzt wirklich zu
Ende. – Weiter heißt es: Bestehen Anzeichen auf eine
ungünstige Geschäftsentwicklung, dann intensiviert sich
die Pflicht der Aufsichtsräte.
Auf dieser Basis kann ich nur sagen: tabulose Aufklä-
rung! Alles muss auf den Tisch und nichts in die Ge-
heimschutzräume. Wir müssen die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass notfalls die Verantwortlichen per-
sönlich in Regress genommen werden. Das ist die Auf-
gabe der Parlamente.
Frau Kollegin.
Wir werden sie wahrnehmen.
Das Wort hat nun Jan-Marco Luczak für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Frau Künast, das Leben könnte ja so ein-fach sein! Wenn wir Ihren Vorschlägen gefolgt wären,dann hätten wir bloß einen Regionalflughafen gehabt,dann hätten wir all diese Probleme nicht. Aber das Le-ben ist nun einmal nicht schwarz oder weiß. Sie sind mitIhrer Kritik alles andere als glaubwürdig. Das, was Sieheute hier vortragen, ist heuchlerisch.
Aber richtig ist: Es ist kein schöner Anlass, dass wiruns heute über dieses Thema unterhalten müssen. DieVerschiebung der Eröffnung des Flughafens BER ist tat-sächlich ein Desaster. Das ist ein großer Imageschadenfür Berlin. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Deswe-gen ist es richtig: Die Ursachen müssen jetzt aufgeklärtwerden. Nichts darf unter den Tisch gekehrt werden. Wirmüssen uns überlegen: Wo gab es Fehler im Control-ling? Wo gab es Fehler im Risikomanagement? Wer sinddie Verantwortlichen in der Geschäftsführung? All dasmuss rückhaltlos aufgeklärt werden.Aber so wichtig das auch ist: Mich interessiert vor al-len Dingen, wie es in der Zukunft weitergeht. Ich findees gut und richtig, dass der Bundesverkehrsminister eineSonderkommission im Verkehrsministerium eingesetzthat, die eine enge Zusammenarbeit zwischen Berlin,Brandenburg und dem Bund sicherstellt
und genau prüft, welche Fragen noch offen sind. Das istdas Entscheidende: dass wir vor allen Dingen in denkommenden Monaten erst einmal den Flugverkehr in derRegion Berlin und Brandenburg über den FlughafenTegel sicherstellen können.
Das ist nicht einfach. Der Flughafen Tegel arbeitetschon jetzt an der Belastungsgrenze. Deswegen wird esfür uns erst einmal darauf ankommen, dass wir dieMehrbelastungen, zu denen es für die Menschen um denFlughafen Tegel herum kommen wird – das wird wohlunvermeidbar sein –, auf das absolut notwendige Mini-mum reduzieren. Das ist jetzt die Aufgabe des Senats ge-meinsam mit den Airlines und dem Flughafen.Wichtig ist mir: Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln,dass der feststehende Termin im März des kommendenJahres tatsächlich unumstößlich eingehalten wird. Dennbei aller berechtigten Kritik muss klar sein, dass derBER das größte und wichtigste Infrastrukturprojekt fürdie Entwicklung und die Zukunft der Region Berlin-Brandenburg ist.
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21714 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Jan-Marco Luczak
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Der Flughafen ist für diese Region der Anschluss andie Welt. Er wird pro Jahr 25 Millionen Fluggäste undmehr zählen. Er hilft uns, die großen Potenziale, die Ber-lin hat, für die Berliner Wirtschaft zu heben. Nicht zu-letzt ist er der Jobmotor für die Region. Über 40 000 Ar-beitsplätze werden hier entstehen. Das ist gut für dieBerlinerinnen und Berliner und auch für die Brandenbur-ger.
Deswegen bin ich überzeugt, dass dieser Flughafenein großartiger Erfolg für die Menschen in dieser Regionwerden muss und wird. Wir stehen auch eindeutig undklar hinter dieser Entscheidung und setzen sie um.Aber natürlich hat ein solches Projekt auch Kritiker.Wenn man will, dass solch ein großes Projekt Erfolg hat,dann muss man die Kritik auch ernst nehmen. Nur dannwird der Flughafen akzeptiert werden.Lassen Sie mich vielleicht zuerst einmal zu den Flug-routen kommen. Ich bin Abgeordneter aus Tempelhof-Schöneberg. Mein Wahlkreis, insbesondere der StadtteilLichtenrade, wäre von den Flugrouten, wie sie die DFSim September 2010 vorgeschlagen hat, erheblich betrof-fen worden. Ich war mit den Menschen in meinem Wahl-kreis, in Steglitz-Zehlendorf und auch in den BerlinerUmlandgemeinden entsetzt, als diese Flugrouten vorge-stellt worden sind. Denn sie hatten mit dem, was überJahre diskutiert und auch im Planfeststellungsbeschlussangesprochen worden ist, nichts, aber auch gar nichtsmehr zu tun.Nach diesen Vorschlägen wären die Menschen, diedarauf vertraut haben, dass die Flugrouten so verlaufen,wie sie diskutiert und im Planfeststellungsbeschluss an-gesprochen worden sind, in ihrem Vertrauen enttäuschtworden. Diese Menschen haben auf der Grundlage die-ses Vertrauens Entscheidungen getroffen. Sie haben zumBeispiel in einer bestimmten Region ein Haus gekauftund dort eine Familie gegründet. Ich finde, dieses Ver-trauen durften wir nicht enttäuschen.Deswegen habe ich mich mit vielen anderen gemein-sam mit den Menschen vor Ort, den Bürgerinitiativenund der lokalen Politik dafür eingesetzt, dass dieseneuen Flugrouten nicht Wirklichkeit werden, sonderndie langjährig diskutierten Flugrouten die Grundlage fürden BER bleiben. Es gab dann ein sehr intensives Zu-sammenwirken zwischen den Bürgerinitiativen, der Ver-waltung und der Politik. Es gab sehr viele gemeinsameSitzungen im Verkehrsministerium, in denen man dieBürger in die weiteren Überlegungen und auch in die Su-che nach Lösungen eingebunden hat. Das Wichtigste,was man gemacht hat, war: Man hat einander zugehört.Die Betroffenen sind hier im besten Sinne zu Beteiligtengemacht worden. Das sollte auch Vorbild für andere Be-reiche werden.
Auch Bundeskanzlerin Merkel und VerkehrsministerRamsauer haben sich in der Diskussion klar und ohneWenn und Aber festgelegt, dass die Menschen sich da-rauf verlassen können müssen, was ihnen Politik undVerwaltung jahrelang gesagt haben. Diesen beiden undinsbesondere auch Staatssekretär Scheurle im BMVBSmöchte ich an dieser Stelle persönlich und auch im Na-men der Bürgerinitiativen noch einmal ganz herzlichdanken. Das war ein vorbildliches Verfahren, das bei denMenschen wieder Vertrauen zurückgeholt hat. VielenDank an dieser Stelle.
Dieses Verfahren hat dann auch Erfolg gehabt. Es gabdann auch deutliche Verbesserungen bei den Flugrouten.
– Sie sprechen die Situation am Müggelsee an. Da musses tatsächlich noch Optimierungen und Verbesserungengeben. – Aber unter dem Strich steht: Die Politik hat zu-gehört. Die Politik hat sich bewegt, und sie hat auch et-was geändert. Das ist gut und richtig.
Aber welche Lehren ziehen wir jetzt daraus? Kannman sagen: „Ende gut, alles gut“? Ich finde, das wäre einbisschen zu einfach. Ich glaube, dass es richtig undwichtig ist, die Betroffenen früher und intensiver in diePlanungen einzubeziehen. Dazu müssen wir jetzt geeig-nete Verfahren finden.Meine Damen und Herren, ich bin der festen Über-zeugung, dass wir auch mehr Verbindlichkeit bei derFestlegung der Flugrouten brauchen. Es ist eine größereRechts- und Planungssicherheit für alle Betroffenen, fürdie Bürger, aber auch für die Airlines und die Flughafen-betreiber, notwendig. Deswegen sollten wir noch einmalprüfen – der Kollege Döring hat das bereits angespro-chen –, ob sich im Rahmen des Planfeststellungsverfah-rens möglicherweise Instrumente finden lassen, die einestärkere Verankerung der frühen Beteiligung bei derFestlegung von Flugrouten ermöglichen und trotzdemdie notwendige Flexibilität gewährleisten.Es gibt noch einen Punkt, bei dem ich mir mehr Ver-bindlichkeit wünsche, nämlich bei der Umsetzung derfestgelegten Flugrouten. Es kann ja nicht sein, dass mansich monatelang über die Festlegung der Flugroutenstreitet und dass Tausende Menschen monatelang auf dieStraße gehen, dann aber die gemeinsam mit der Politikentwickelten Lösungen ausgehöhlt werden. Zum Teilpassiert das aber momentan. In der Praxis kann die DFSPiloten eine Einzelfreigabe erteilen, wenn sie eine solcheverlangen. In Einzelfällen kommt man daran auch nichtvorbei, wenn es beispielsweise darum geht, einem Ge-witter auszuweichen. Aber es kann nicht sein, dass Ein-zelfreigaben zum Regelfall werden und man so dauer-haft von den festgelegten Flugrouten abweicht.Nun stellt sich die Frage, wie wir eine größere Ver-bindlichkeit erreichen können. Die DFS ist eine Behördeund ist an Gesetze gebunden. Das maßgebliche Gesetzist das Luftverkehrsgesetz. Danach muss der Luftver-kehr „sicher, geordnet und flüssig“ abgewickelt werden.Das lässt viel Interpretationsspielraum. Deswegen soll-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21715
Dr. Jan-Marco Luczak
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ten wir uns genau anschauen, ob wir möglicherweise dieBestimmungen des Luftverkehrsgesetzes präzisierenkönnen. Natürlich – das ist hier schon gesagt worden –:An erster Stelle steht hier immer die Sicherheit; dasmuss auch so bleiben. Aber dann gibt es noch die be-trieblichen, die wirtschaftlichen Interessen, und es gibtden Aspekt des Lärmschutzes. Diese Interessen stehenmeistens in einem Gegensatz zueinander.Ich finde, wir müssen hier schon darüber nachdenken,ob wir den Lärmschutz nicht stärker betonen können;denn in den letzten Jahren ist die Tendenz zu beobach-ten, dass die Gerichte den Gesundheitsschutz in den Vor-dergrund stellen. Mir ist es auch wichtig, im Zusammen-hang mit dem Lärmschutz zu betonen: Hier geht es nichtum Befindlichkeiten, sondern wirklich um die Gesund-heit der Menschen.
Denn alle nationalen und internationalen Studien zeigen:Eine Beschallung mit Lärm kann erhebliche Gesund-heitsstörungen hervorrufen. Das Risiko von Herz-Kreis-lauf-Erkrankungen steigt dann dramatisch. Da der Flug-lärm ständig zunimmt, müssen wir uns unserempolitischen Gestaltungsauftrag, den wir im DeutschenBundestag haben, stellen. Wir dürfen uns das nicht vonden Gerichten aus der Hand nehmen lassen. Ich begrüßesehr, dass die Gerichte mehr Gesundheitsschutz fordern.Aber wir sollten sehr genau darüber nachdenken –
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
– einen kleinen Augenblick; den Satz möchte ich
noch zu Ende führen –, ob es im Rahmen eines Abwä-
gungsprozesses möglich ist, den Gesundheitsschutz im
Luftverkehrsgesetz stärker zu berücksichtigen.
Ich gestatte nun die Zwischenfrage, Herr Präsident.
Aber bitte halten Sie die Uhr an.
Sie können Ihre Redezeit nur verlängern; denn sie ist
eigentlich abgelaufen.
Dann verlängere ich sie mit einem letzten Satz.
Nein, das können Sie nur, indem Sie auf die Zwi-
schenfrage eingehen.
Lassen Sie mich zum Schluss betonen: Ich möchte,
dass der BER ein Erfolg wird. Wir müssen daher die Kri-
tik, die geäußert wurde, sehr ernst nehmen und darüber
nachdenken, was wir bei der Verbindlichkeit der Festle-
gung von Flugrouten und bei der Verbesserung des
Lärm- und Gesundheitsschutzes machen können. Nur
das schafft Akzeptanz und damit die Voraussetzung für
den wirtschaftlichen Erfolg dieses Großflughafens. Das
alles wollen wir.
Herr Kollege, wollen Sie jetzt noch eine Nachfrage
gestatten?
Das können wir sehr gerne machen.
Herr Liebich, bitte.
Herr Kollege Luczak, Ihre Partei ist in Berlin in der
Landesregierung. Die unglückliche Situation, in die wir
nun geraten sind, hat zur Folge, dass die geplanten zu-
sätzlichen Flüge weiter über Tegel abgewickelt werden.
Das trifft viele Anwohnerinnen und Anwohner in Reini-
ckendorf und in Pankow. Es gibt nun den Vorschlag,
dass noch früher am Morgen losgeflogen und noch län-
ger in der Nacht geflogen werden soll. Was sagen Sie als
Vertreter einer in Berlin regierenden Partei zu diesen
Vorschlägen?
Sehr geehrter Herr Kollege Liebich, in der Tat ist dieCDU seit einigen Monaten in Berlin in der Regierungs-verantwortung. Ich finde es gut, dass wir Sie nach zehnJahren abgelöst haben; das will ich gleich am Anfangfeststellen.
Natürlich müssen wir – das habe ich in meiner Redeauch gesagt – jetzt erst einmal darüber nachdenken, wiewir gerade in den Sommermonaten, wenn viele Berline-rinnen und Berliner in den Urlaub fliegen möchten, denFlugbetrieb in dieser Region sicherstellen können.Es wird – auch das habe ich ausgedrückt – natürlichzu einer Mehrbelastung für die Menschen kommen. Unsliegen momentan die Anträge der Airlines vor. Es gehtum etwa 130 Flüge in den Tagesrandzeiten. Es geht alsonicht um die Kernzeit. Wir reden von Flügen bis23.15 Uhr und ab 5.20 Uhr früh am Morgen. Das wirdjetzt sehr genau geprüft werden. Für uns ist das Ent-scheidende, dass so weit wie möglich an den Kern- undTagesrandzeiten festgehalten wird. Wir müssen also ein
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21716 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Jan-Marco Luczak
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Verfahren finden, das die Mehrbelastung so gering wiemöglich hält. Das werden wir auch finden; darauf kön-nen Sie sich verlassen.
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Hier sind schon einige sehr emotionale Reden ge-halten worden, die sicherlich die verschiedensten Moti-vationen hatten. Das Thema, um das wir uns hier heutezu kümmern haben, nämlich den Luftverkehr inDeutschland zu gestalten, ist gleichwohl eine sehr we-sentliche Aufgabe.Es ist zunächst einmal wichtig, dass auch wir im Par-lament das Signal aussenden, dass Deutschland Luftver-kehr braucht, und zwar an verschiedenen Standorten,weil in einer Industrienation wie der unseren Menschenauf Mobilität und damit auch auf Luftverkehr angewie-sen sind. Dazu müssen wir uns eindeutig bekennen.
Weiterhin – da ist unsere Gestaltungskraft gefragt –geht es um die Frage, ob wir als Gesetzgeber gehaltensind, das bisher gültige Luftverkehrsgesetz zu überarbei-ten und, wenn ja, in welcher Form. Dabei geht es auchdarum, wie wir den von Lärm Betroffenen besser helfenund mehr Akzeptanz für den Flugverkehr erreichen kön-nen. Dazu gibt es Vorschläge. Hier gilt es nun, in klugerArt und Weise die verschiedenen Aspekte abzuwägen,über die wir zu reden haben, nämlich den Luftverkehrund die Gesundheitsvorsorge für Menschen.Ein dritter Punkt, über den wir debattieren, ist diePanne beim BER und der damit verbundene Imagescha-den. Das ist sehr ernst zu nehmen, weil das nicht nur denBerliner Raum betrifft, sondern die BundesrepublikDeutschland insgesamt. Solche Pannen sollten bei Groß-projekten in Deutschland nicht so häufig vorkommen,weil wir uns das international nicht leisten können.
Das, was beim Planfeststellungsverfahren und dann inBezug auf die Flugrouten zwischen der Deutschen Flug-sicherung und dem Bundesaufsichtsamt für Flugsiche-rung abgelaufen ist, entsprach den gültigen Gesetzenund war, so denke ich, nachvollziehbar. Das ist nicht zukritisieren. Die Frage ist, ob wir daraus Lehren ziehenmüssen, wenn bestimmte Ergebnisse – Kollege Gysi undandere haben das ja vorhin anhand praktischer Beispieledargestellt – uns nachdenklich stimmen, weil sie gewisseEffekte nach sich ziehen. Ich spreche hier von der Stim-mung der Bevölkerung, die sagt: „Das kann ja wohlnicht wahr sein“, und deren Akzeptanz durch die Ereig-nisse zerstört worden ist. An diesem Punkt ist die Politikgefordert. Jetzt müssen Minister und Parlamentarier baldmit der Bevölkerung ins Gespräch kommen, um die Ak-zeptanz zu erhöhen.Gestatten Sie mir auch ein Wort zu den Investitionenund zu der Pannenserie. Nach den Anhörungen, die wirim Verkehrsausschuss gehabt haben, habe ich den Ein-druck, dass dieser Flughafen zum Juni dieses Jahresnicht fertig geworden wäre, auch wenn, wie es geplantwar, zusätzliche 700 Studenten oder Hilfskräfte fürirgendwelche Schließvorgänge eingesetzt worden wären.Der Lufthansa-Chef zum Beispiel hat darauf hingewie-sen, dass die gesamte IT und das Brandschutzsystemnicht in Ordnung waren, die Lounges nicht fertiggestelltwaren und die Zahl der Abfertigungsschalter unzurei-chend gewesen wäre. Das zeigt doch, dass zwischendem, was hätte fertiggestellt sein sollen, und dem, wastatsächlich fertiggestellt war, eine Riesenlücke klaffte.Das ist dem Umstand geschuldet – das darf man nichtvergessen –, dass in den letzten Jahren immer wiederBeschlüsse gefasst wurden, den Flughafen zu erweitern.Das hatte auch Auswirkungen auf die Kosten. Währendder Planungs- und Bauphase ist der Flughafen faktischum 50 Prozent erweitert worden.
Das hat das Controlling möglicherweise sehr kräftig be-einträchtigt und das Ganze teilweise unüberschaubar ge-macht. Ich will da niemanden entschuldigen.Stichwort „Entschuldigung“: Ich finde es gut, dasssich Wowereit und Platzeck vor ihren jeweiligen Landta-gen gegenüber der Öffentlichkeit entschuldigt haben.
Dieses Thema ist, denke ich, auch richtig von ihnen be-urteilt worden.Wichtig ist aus meiner Sicht, dass sich die Geschäfts-führung und auch der Aufsichtsrat – darüber haben wiruns im Ausschuss unterhalten – beim Thema Transpa-renz bewegen: Controlling-Berichte müssen für die Par-lamentarier transparent sein und in den parlamentari-schen Gesprächen genutzt werden können.
Uns hilft es nichts, dass die entsprechenden Berichte inder Geheimschutzstelle liegen und dort möglicherweisevon keinem eingesehen werden können. Controlling-Be-richte sind vielmehr dazu da, nachvollziehbar zu ma-chen, was misslich und was gut gelaufen ist.
Zum Thema „Schaden und Regress“. Ich bin einerderjenigen gewesen, die im Ausschuss danach sehr pro-nonciert gefragt haben. Ich kann mir durchaus vorstel-len, dass Schaden und Regress nicht nur einen Ge-schäftsführer und vielleicht zwei oder drei Firmenbetreffen. Dieses Thema hat einen besonderen Tiefgang.Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland Gesetze,um dem gerecht zu werden. Es gab auch in der Vergan-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21717
Uwe Beckmeyer
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genheit schon richterliche Entscheidungen bezüglichdieser Fragen. Dieses Thema wird eine Eigendynamikbekommen; da bin ich mir sicher. Es wird nicht nur diePolitik, sondern auch Gerichte beschäftigen – und das istauch gut so.Zum Thema Mehr- und Minderkosten. Natürlich wirddas gesamte Thema, das wir hier behandeln, uns, die Ge-sellschaften und die sie tragenden Gesellschafter belas-ten. Natürlich bedarf der Flughafenfertigstellungspro-zess weiteren Kapitals. Zurzeit werden, glaube ich,insgesamt 3,4 Milliarden Euro aufgewendet, teilweisedurch Kredite, teilweise durch Einlagen der Gesellschaf-ter, aber auch durch Eigenmittel der Gesellschaft. Nunstellt sich die Frage, ob weiteres Geld benötigt wird. Esist davon die Rede, dass monatlich aufgrund von Min-dereinnahmen bei Landegebühren usw. Kosten in Höhevon 15 Millionen Euro entstehen. Ich als Sozialdemokratsage an dieser Stelle aber auch: Vergessen wir dabei bittenicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die in dieser Angelegenheit die A-Karte haben; denn siebekommen entweder keinen oder nur verspätet einenJob. Wenn wir uns über Entschädigungen, über Mehr-und Minderkosten unterhalten, dann müssen wir unsauch bewusst machen, dass es dabei nicht nur um dieCompanys geht, sondern auch um die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter, die hier ganz schön gebeutelt sind undblöd dastehen.
Zum letzten Punkt. Was muss die Politik, Bund undLand, eigentlich leisten? Sie muss dafür sorgen, dassdieser bisherige Pannenflughafen endlich zu einer Er-folgsstory wird. Das ist die einzige konsequente Antwortauf die Fragen, die sich uns jetzt stellen. Der FlughafenBerlin Brandenburg „Willy Brandt“
muss eine Erfolgsstory werden. Das ist unsere Aufgabe,an der wir jetzt alle zusammen arbeiten müssen. Der
„Berliner Flug-
hafen ist keine ,Pommes-Bude‘“, stimme ich ausdrück-
lich zu.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!Beim Flughafen BER in Schönefeld handelt es sich jaum eines der größten Infrastrukturvorhaben der Region.Er ist für die deutsche Hauptstadt Berlin von zentralerBedeutung. Ich sage an dieser Stelle klar: Ich glaube, esgibt kaum ein größeres Infrastrukturprojekt in Deutsch-land oder sonst wo, bei dem es nicht zu Verzögerungenkommt. Das ist nicht der springende Punkt.Wir, die FDP, hatten uns aus diesem Grund übrigensimmer für die Offenhaltung des Flughafens Tempelhofbis zur Inbetriebnahme dieses Flughafens eingesetzt.
Es ging darum, die Kapazitäten des Flughafens Tempel-hof nicht vorfristig aufzugeben. Aber der RegierendeBürgermeister hat deutlich mehr Energie in die Schlie-ßung dieses Flughafens als in die Eröffnung des neuenFlughafens gelegt. Das ist der springende Punkt.
Hinzu kommt das Problem des Zeitpunkts, zu dem dieVerzögerung mitgeteilt wurde. Gleichzeitig Einladungs-karten zu verschicken und drei Tage später die Absagemitzuteilen, das ist schlichtweg unseriös und ein Aus-weis des Versagens von Management und von KlausWowereit in Berlin.
Jetzt wissen Sie, jetzt weiß die ganze Republik, wasWowereit in Berlin unter „Chefsache“ versteht. Hätte eres lieber gelassen! Hätte er es gelassen, wären, glaubeich, die Chancen größer gewesen und wäre es zur recht-zeitigen Eröffnung dieses Flughafens gekommen.
Dieser Regierende Bürgermeister hat vollkommenversagt. Er ist ein glänzender Repräsentant der deut-schen Hauptstadt bei der Berlinale und anderen Veran-staltungen. Aber Voraussetzung ist, dass der rote Teppichschon liegt. Alles, was vor dem roten Teppich kommt,kann er nicht. Das ist eine Nummer zu groß gewesen.
Daraus leiten sich auch meine Forderungen ab:Erstens muss dieser Regierende Bürgermeister, derdas zur Chefsache gemacht hat, der Vorsitzender desAufsichtsrats ist, unverzüglich vom Aufsichtsratsvorsitzder Flughafengesellschaft zurücktreten.
Zweitens. Ich begrüße es außerordentlich, dass MinisterRamsauer die Sonderkommission eingesetzt hat. Aber es
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21718 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Martin Lindner
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muss dann konsequenterweise darum gehen – das sageich auch als Landesvorsitzender meiner Partei inBerlin –, dass bis zur Inbetriebnahme von BBI der Auf-sichtsratsvorsitz von einem Vertreter des Bundes über-nommen wird.
Wowereit kann es nicht, und die Brandenburger könnenes auch nicht.
Die Frau Künast möchte eine Frage stellen. Ich würdesie auch beantworten.
Herr Kollege, gestatten Sie die Zwischenfrage?
Selbstverständlich gern.
Herr Kollege, wo wir schon über den Aufsichtsrat re-
den: Was würden Sie denn davon halten, wenn einmal
einer oder eine in den Aufsichtsrat ginge, der oder die
Ahnung hat,
mal einen Flughafen betrieben oder gebaut hat und des-
halb auf Augenhöhe, fachlich und beruflich kompetent
Fragen stellen kann?
Das würde ich noch für viel wichtiger halten, als noch
jemanden aus dem Ministerium von Herrn Ramsauer,
der keine Ahnung hat, in den Aufsichtsrat zu schicken.
Frau Kollegin Künast, ich glaube schon, dass es indiesem Aufsichtsgremium nicht darauf ankommt, dassdie Mitglieder selbst Baufachmann oder Flughafenbe-treiber sind.
Im Aufsichtsrat, egal welcher Gesellschaft, kommt es inerster Linie darauf an, dass man sich für seine Control-ling-Rechte starkmacht, insbesondere dann, wenn manden Aufsichtsratsvorsitz hat; ich glaube, da stimmen Siemir auch zu, Frau Kollegin Künast.
Wir beide hätten in einer solchen Position deutlich mehrEngagement gezeigt, zumindest dann, wenn wir das alsChefsache deklariert hätten, als dieser Partymeister vonBerlin. Ich glaube, da kommen wir zusammen.
Ich schließe die dritte Forderung an. Der neue Auf-sichtsratsvorsitzende hat eine Sonderprüfung vorzuneh-men bzw. in Auftrag zu geben. Ziel muss es sein, den fi-nanziellen Schaden zeitnah zu erfassen und alleVerantwortlichen im Management, aber auch in denAufsichtsgremien, in den Kontrollgremien, unter den be-auftragten Dritten und Behörden festzustellen.Viertens sind natürlich auch Schadenersatzansprüchezu prüfen. Es kann nicht sein, dass der Steuerzahler, egalwo, ob in Berlin, in Brandenburg oder im gesamten Bun-desgebiet, am Ende für diese Pfuscherei geradestehenmuss, ohne dass die Verantwortlichen in Regress genom-men werden.Ich sage Ihnen weiter: Der Bundestag muss hierzu bisspätestens Ende September einen Bericht vorgelegt be-kommen. Natürlich muss der Bundestag auch viel stär-ker involviert werden; denn im Abgeordnetenhaus vonBerlin gibt es im Moment keine Opposition, die am Er-öffnen von Flughäfen wirklich interessiert ist.
– Nein, gibt es nicht, Frau Künast.
Mit der einen Oppositionsfraktion kann man vielleichteinen Froschtunnel unter der Runway betreiben, diezweite Oppositionsfraktion mutmaßt hinter jeder Halleein böses kapitalistisches Interesse.
– Mit Ihnen gibt es vielleicht ein Nachtflugverbot von13 Uhr nachmittags bis 11 Uhr vormittags, um Werk-tätige und Hartz-IV-Empfänger zu schützen, aber Flug-häfen kann man mit Ihnen jedenfalls nicht betreiben.
Die einzige Ausnahme gibt es vielleicht, wenn Sie Bun-desparteitag haben und die Massen von saarländischenDelegierten nach Berlin eingeflogen werden müssen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21719
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Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage, und zwar des Kollegen Liebich?
Aber selbstverständlich.
Meine Kollegen sind traurig, dass ich Ihre Redezeit
verlängere, aber die Frage muss sein. Sie erinnern sich
vielleicht noch, dass Sie für den Wahlkreis Pankow für
den Deutschen Bundestag, wenn auch erfolglos, kandi-
diert haben.
So ganz erfolglos kann es nicht gewesen sein.
Was sagen Sie den Menschen in Pankow, die die
halbe Nacht nicht mehr schlafen können, mal abgesehen
von solchen Sprüchen wie „Nachtflugzeiten ab 13 Uhr“?
Was erzählen Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Pan-
kow und Reinickendorf nun? Diese müssen ja die Suppe
auslöffeln.
Ich sage Ihnen das, Herr Liebich, was ich überall
sage. Wenn man Großprojekte, Infrastrukturprojekte, die
das Land braucht, betreibt, ist das immer mit Ärger und
Belästigungen für andere Menschen verbunden. Eine
populistische Partei wie Ihre drückt sich um diese Ver-
antwortung. Sie verlangt zwar Infrastruktur, damit Men-
schen mit einem schmalen Geldbeutel überall hinkommen,
in den Urlaub fliegen können, sich bewegen können,
mobil sein können.
Wenn es aber darum geht, Verantwortung zu überneh-
men, drückt sich eine linkspopulistische Partei wie Ihre
weg. Dann kann man mit ihr nicht rechnen. Deswegen
sitzen Sie zu Recht in der Opposition im Deutschen
Bundestag, in Berlin, und zukünftig sitzen Sie überhaupt
nicht mehr in den Parlamenten. Das kann ich Ihnen an
dieser Stelle auch sagen.
Ich sage auch ganz klar: Wenn der Regierende Bürger-
meister weiter meint, er brauche Einladungen des Ver-
kehrsausschusses und anderer Ausschüsse des Deut-
schen Bundestages nur anzunehmen, wenn er gar nichts
anderes zu tun hat, und nur dann sein Gläschen oder
seine Tasse zwischendurch einmal abstellt,
dann muss sich dieses Haus im eigenen Interesse überle-
gen, ob es nicht sinnvoll wäre, eine andere Form von
Ausschuss einzurichten, hinter dessen Einladungen ein
Ausrufezeichen steht.
Ich glaube, die Zeit des Pfuschens und Vertuschens ist
vorbei. Vor allen Dingen für diese Stadt, für diese Regie-
rung in Berlin, für diesen Senat ist das Rumgetrödel und
Rumgepfusche vorbei.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Herr Wowereit
sollte sich einmal daran erinnern, wie er 2001 ins Amt
kam. Zu dieser Zeit ging es darum, dass in einer großen
Gesellschaft Berlins, die dem Staat gehörte, zulasten der
Steuerzahler gepfuscht wurde. Als er noch Fraktionsvor-
sitzender war, hat er auf eine andere Partei mit dem Fin-
ger gedeutet
und hat an ihre Verantwortung in den Aufsichtsgremien
erinnert. Das war der Grund, warum es Neuwahlen gab
und warum der alte Senat zusammengebrochen ist. Ich
prophezeie diesem Regierenden Bürgermeister: Wenn
sich dies so weiter entwickelt, wird er ein ähnliches
Schicksal erleiden wie sein Vorgänger vor zehn Jahren.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vielleicht ist es doch notwendig, dass ich zu Beginnmeines Beitrags einige Dinge klarstelle, über die wir ge-rade reden. Es geht um Menschen, die heute beispiels-weise in Schönefeld 210-mal am Tag davon betroffensind, dass Düsenjets über ihre Köpfe hinwegbrausen. Siewissen, dass es nicht am 3. Juni, sondern wohl erst in ei-nem Jahr so weit sein wird, dass sie 780 Flugbewegun-gen ertragen müssen. Das ist der Kern der Debatte. Dasist der Grund, warum wir unsere Große Anfrage gestelltund nachgefragt haben, welche Alternativen es für dieseunzumutbare Belastung der Menschen in Berlin undauch anderswo gibt.
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21720 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Herbert Behrens
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Wenn angesichts des Desasters der Flughafeneröff-nung darüber nachgedacht wird, wo die Verantwortlich-keiten liegen, wer wo zu welchem Zeitpunkt Informa-tionen unterdrückt, nicht wahrgenommen und nicht zurKenntnis genommen hat, dann muss auch diskutiert wer-den, ob man nicht doch über die Einrichtung eines Un-tersuchungsausschusses nachdenken sollte, um dieseFragen grundlegend bewerten zu können.
Ich will noch einmal auf den Kern der Debatte zu-rückkommen. Das Desaster, das uns in den letzten Tagenbeschäftigt hat, wird sehr stark betont. Ich meine, einStück zu Unrecht; denn die Probleme der Menschen inder Nähe des Flughafen sind noch in einem Jahr zu spü-ren und insbesondere auch zu hören.Der Flugverkehr soll weiter wachsen. Das wird vonden anderen Fraktionen offenbar nicht infrage gestellt.Hier in Berlin, in der Bundesrepublik Deutschland undin Europa soll der Flugverkehr wachsen. Bis 2025 sollsich der Flugverkehr insgesamt verdoppeln. Das ist eineVision, die uns nicht wirklich zufriedenstellen sollte, dieuns eher Angst machen kann. Für die Gesundheit derMenschen an den Flughäfen, aber auch für die Umweltist das eine enorme Belastung. Die Linke will aber Ent-lastung. Die Menschen an Flughäfen hier in Berlin, inBrandenburg und anderswo haben ein Recht darauf, dassan ihrem Wohnort ein lebenswertes Leben möglich ist,dass ihre Gesundheit im Vordergrund aller Entscheidun-gen steht.
Unsere Ziele einer vernünftigen Verkehrspolitik lau-ten Vermeiden – dieser Begriff wurde hier überhauptnoch nicht angesprochen –, Verlagern und Verbessern.Wir haben herausgefunden – die Bundesregierung hatentsprechend geantwortet –: Rund 67 000 Inlandsflügestarteten und landeten 2010 in Tegel; rund 50 000 dieserFlüge steuerten Ziele an bzw. waren an Orten gestartet,die mit der Bahn in maximal sechs Stunden erreichbarsind. Fast 75 Prozent aller Flüge sind also offenbar ver-meidbar. Diese Zahlen beweisen auch – das wurde ange-sprochen –, dass es gar nicht nötig ist, jetzt darübernachzudenken, in Tegel noch einmal die Randzeiten an-zugreifen und 120 Flüge weiter in die Nacht hinein zuverschieben. Das ist nicht nötig.
Aber auch der verbleibende Flugverkehr kann viel er-träglicher gestaltet werden, wenn wirklich die richtigenPrioritäten gesetzt werden. Dazu gehören Nachtflugver-bote, verringerte Lärmpegel und geeignete Flugrouten;das wurde hier schon ausführlich gewürdigt.Dass es möglich ist, die Nachtflugzeiten – nicht in derWeise, wie es gerade von Herrn Lindner ein bisschen sa-lopp dargestellt worden ist – auszuweiten, zeigt ein Bei-spiel – Sie haben es vielleicht in unserer Großen Anfragenachgelesen –: Die Anwohnerinnen und Anwohner aufder deutschen Seite der Anflugschneise des ZüricherFlughafens haben werktags zwischen 21 und 6 Uhr, amSonntag sogar zwischen 20 und 9 Uhr Ruhe am Himmel.Es ist möglich. Das haben deutsche Behörden gegen denProtest der Züricher Flughafengesellschaft durchge-setzt. Wo es einen politischen Willen gibt, gibt es offen-sichtlich auch einen entsprechenden Weg, und den wol-len wir gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon vor demFlughafeneröffnungsdesaster hat es das Desaster mit denFlugrouten gegeben: Mit einem Mal waren 620 000Menschen mehr betroffen, als ursprünglich geplant war.Das darf uns in Zukunft nicht wieder passieren. Wir wol-len konkret etwas verändern, um das künftig zu vermei-den. Die Bürgerinnen und Bürger sind von Anfang an zubeteiligen und müssen das Planungsverfahren bis zumEnde begleiten können. Wenn sich irgendwann heraus-stellt, dass andere Flugrouten nötig sind, dann muss dasBeteiligungsverfahren wieder aufleben. Darum ist derVorschlag im Antrag der Grünen, das in das Planfeststel-lungsverfahren aufzunehmen, nicht unbedingt tragfähig.Da muss es ein anderes Verfahren geben.Wir müssen hier im Bundestag unserer Verantwor-tung für die Gesundheit und Lebensqualität der Men-schen gerecht werden. Darum haben wir diesen Antraggestellt; davon ist unsere Große Anfrage geprägt. Wirfinden es wichtig, dass dieses Signal auch von anderenmitgetragen wird.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Daniela Ludwig für die CDU/CSU-
Fraktion.
– Entschuldigung, ich habe eine Übersprunghandlung
vorgenommen. – Das Wort hat Stephan Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je mehrDetails man in der Angelegenheit BER erfährt, umsodeutlicher wird: Es galt das Prinzip Hoffnung. Die Ge-schäftsführung hat die Brandschutzprobleme am neuenHauptstadtflughafen massiv unterschätzt. Wir wissen nun,dass bereits im Dezember das Problem bekannt war, dassder vollautomatische Betrieb der Entrauchungsanlagenicht bis zum Eröffnungstermin möglich sein wird. Erstim Februar, also Monate später, hat man dann eine soge-nannte Taskforce Brandschutz eingerichtet, um mit derzuständigen Baugenehmigungsbehörde zu klären, obeine teilautomatische Lösung, die sogenannte Mensch-Maschine-Lösung, überhaupt genehmigungsfähig wäre.Im April hat man dann den Aufsichtsrat über diesenSachverhalt informiert.Stichwort Aufsichtsrat. Ich denke, es ist notwendig,sich genauer anzugucken, wer da was wusste, wer dawas überprüft und wo nachgefragt hat. Denn in derTaskforce Brandschutz, die ab Februar fünfmal getagt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21721
Stephan Kühn
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hat, waren natürlich auch zuständige Landesbehördeninvolviert. Da frage ich mich, ob im Zeitraum von Fe-bruar bis April nicht auch einmal Berichte nach oben ge-geben wurden, an die Institutionen und die Personen, dieim Aufsichtsrat vertreten sind.
Wir reden heute leider in Abwesenheit von Staatsse-kretär Gatzer und Staatssekretär Bomba. Es ist dannauch die Frage zu stellen, ob die beiden Herren denn dieUnterlagen, die dem Aufsichtsrat zur Verfügung gestelltwurden, ganz allein im stillen Kämmerlein lesen muss-ten oder ob sie nicht ein Ministerium hinter sich haben,das fachlich beurteilen kann, ob diese Information unddie Einschätzung der Sachverhalte, die dort enthaltensind, tatsächlich hieb- und stichfest sind. Gerade dieFrage der Brandschutzanlage hätte einige Nachfragenhervorrufen müssen, wenn man denn hört, wie seitensder Flughafengeschäftsführung damit umgegangenwurde.Wir haben am Mittwoch erlebt, wie ProfessorSchwarz diese Frage ein Stück weit beiseitegewischt hat,indem er gesagt hat, es sei nicht unüblich, dass teilauto-matische Lösungen genutzt würden, zum Beispiel beider O2 World hier in Berlin. Das macht deutlich, dassman die Dimensionen überhaupt nicht erkannt hat. Wiekann man eine Veranstaltungshalle mit ein paar TausendBesuchern, die nur stundenweise in Betrieb ist, mit ei-nem Airport, der mehrere Hunderttausend Besucher amTag hat, und mit einem Gebäudekomplex, der angeblichzu den größten in Europa zählen soll, vergleichen? DieseDimensionen sind offenbar völlig unterschätzt worden.Es wäre wichtig gewesen, im Aufsichtsrat zusammenmit den Fachleuten aus dem BMVBS eine Bewertungvorzunehmen, ob diese Brandschutzanlage überhauptgenehmigungsfähig hätte sein können, wenn sie nur teil-automatisch betrieben werden kann.
Dass die Reißleine viel zu spät gezogen wurde, istjetzt bekannt. Es gab keine Rückfallebene. Das ist nichtnur ein riesiger Imageschaden, sondern auch ein finan-zielles Desaster. Für viele Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer sowie kleine und mittelständische Unterneh-men und nicht zuletzt für die Bürgerinnen und Bürgerführt das Ganze zu erheblichen Problemen. Das betrifftdie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen in Te-gel zum Juni dieses Jahres gekündigt wurde. Das betrifftdiejenigen, die im Juni in Schönefeld ihre Geschäfte er-öffnen wollten. Das betrifft die kleinen und mittelständi-schen Unternehmen, die jetzt teilweise 17 Monate langwarten müssen – wir reden bereits von der zweiten Ver-zögerung –, bis sie ihre Einrichtungen im Non-Aviation-Bereich vielleicht im März 2013 eröffnen können. Die-sen Unternehmen muss jetzt unbürokratisch geholfenwerden. Wir schlagen einen Entschädigungsfonds vor.Es müssen Überbrückungskredite bereitgestellt werden;Schadenersatzansprüche müssen zügig bearbeitet wer-den.Betroffen sind aber auch die Menschen in den Stadt-teilen Pankow, Reinickendorf, Spandau sowie die Men-schen im Berliner Umland, die jetzt länger dem Flug-lärm ausgesetzt werden. An dieser Stelle frage ich nachder Rolle des Senats. Der Senat hat angekündigt, An-träge der Airlines zu genehmigen, in Tegel nach 23 Uhrstarten und landen zu dürfen, obwohl in Schönefeld aus-reichend Kapazitäten vorhanden wären, um diejenigenFlüge dorthin zu verlegen, die jetzt am Hauptstadtflug-hafen nicht möglich sind. Es ist aus unserer Sicht nichthinnehmbar, dass das Desaster beim BER dazu führt,dass die Menschen im Berliner Norden jetzt stärkerdurch Fluglärm belastet werden.
Deshalb: Keine Ausweitung der Betriebszeiten, sondernNutzung der Kapazitäten in Schönefeld.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Mein letzter Punkt ist das Thema Schallschutzpro-
gramm beim BER. Ich kann nur an die Verantwortlichen
appellieren, jetzt dafür zu sorgen, dass das Schall-
schutzprogramm für alle Anspruchsberechtigten bis
Ende März nächsten Jahres endlich umgesetzt wird. Bis-
her sind erst 5 Prozent der betroffenen Haushalte mit
entsprechenden Schallschutzfenstern ausgestattet wor-
den. Ziehen Sie den Klarstellungsantrag zur Frage, ob
sechsmal am Tag die 55 dB überschritten werden dürfen,
zurück.
Das muss endlich auch im Aufsichtsrat zum Thema wer-
den. Dann müssen die Betroffenen den Schallschutz
zeitnah erhalten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Daniela Ludwig für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Das vermeintliche Pa-radeprojekt von Klaus Wowereit und Matthias Platzeckist von Meisterhand geplant, meisterlich ausgeführt undmeisterlich überwacht. – So viel zum Wunsch von unsallen hier.
Die Realität – in der sind wir krachend aufgeschlagen –sieht bedauerlicherweise anders aus. Wir erleben sowohlein Planungs- wie auch ein Baudesaster.
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21722 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Daniela Ludwig
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Dieses sehr teure und größte Infrastrukturprojekt Ost-deutschlands sollte den Ruf Berlins wiederherstellenoder vielmehr überhaupt erst einmal einen Ruf Berlinsbegründen. Man wollte zeigen, dass man hier in derLage ist, Infrastruktur ordentlich zu planen, zu bauenund pünktlich fertigzustellen.Das Ziel war, einen einer Hauptstadt würdigen Flug-hafen zu bauen. Ich glaube, es war absolut angemessen,dieses Projekt anzugehen. Nun müssen wir aber leiderfeststellen, dass alle Beteiligten auf höchster Ebene ver-sagt haben,
insbesondere die nunmehr Gott sei Dank entlassene Pla-nungsgruppe, aber auch die gesamte Geschäftsführungdes Flughafens.
Man wollte einen modernen Flughafen, und dafür hatman Tempelhof und Tegel geopfert, wenn Sie mir diesenAusdruck gestatten.
Man wollte einen Flughafen bauen mit bester und auchfunktionierender Technik – darauf komme ich gleich –,nach den neuesten und besten Sicherheitsstandards– auch dazu ist einiges zu sagen –, also einen Flughafen,den man gerne mit dem Etikett „Made in Germany“ ver-sehen hätte, weil das für gute Qualität steht. Leider mussich immer den Konjunktiv verwenden. Nun kann mansagen: Gut Ding will Weile haben, das kann auch einmaletwas länger dauern. Man kann aber auch sagen: Ist derRuf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert.
In einer Sitzung des Verkehrsausschusses des Bundes-tages am Mittwochmorgen konnten uns Herr Platzeck undHerr Wowereit keine zufriedenstellenden Antworten ge-ben; denn sie waren schlicht und einfach nicht anwe-send. Herr Wowereit hat uns mitteilen lassen, er habekeine Zeit. Wir konnten der Presse entnehmen, dass erlieber einen Staatsgast aus Costa Rica empfangen hat.Ich glaube, der eine oder andere hätte sich – um es ganzvorsichtig zu formulieren – eine andere Prioritätenset-zung des Regierenden Bürgermeisters vorstellen können.
Jeden Tag erfahren wir aus der Presse neue Detailsüber den Bauverlauf. Es sei dahingestellt, ob die Schuld-zuweisungen berechtigt sind oder nicht. Wir müssen unsaber jetzt dringend mit folgenden Fragen auseinanderset-zen: Was ist mit den Kosten passiert? Warum laufen siederart aus dem Ruder, und zwar schon vor der Verschie-bung der Eröffnung? Was ist mit den zusätzlichen Kos-ten, die durch die Verschiebung entstehen, StichwortLärmschutz und Schadenersatzforderungen? Wie wirktsich das alles auf unseren Haushalt aus bzw. welcheHaushalte müssen dafür geradestehen? Welche Personenmüssen dafür geradestehen? Diese Fragen werden wirsehr intensiv zu prüfen haben.Der Bundesminister hat ein Machtwort gesprochenund die Soko „BER“ eingerichtet. Das war das einzigRichtige, was er an dieser Stelle tun konnte. Diese Sokowird sich mit den Auswirkungen der Verschiebung derInbetriebnahme intensiv auseinandersetzen. Tegel undSchönefeld müssen jetzt weiter betrieben werden, mit al-len Belastungen. Bezüglich der Sicherheit stellt sich dieFrage: Was passiert, wenn die Flughäfen an die Grenzenihrer Kapazität kommen? Das muss man einkalkulieren.Ich wünsche den Beteiligten wirklich ein gutes Händ-chen für die jetzt anstehenden Entscheidungen; denn ichglaube, dass sie das gut brauchen können.Mir geht es wie Ihnen auch um die Unternehmen, diejetzt unter den Tisch zu fallen drohen. Wir werden poli-tisch Sorge dafür zu tragen haben, dass das nicht pas-siert. Es geht nicht nur um Unternehmen, die ihr Ge-schäft gerne schon jetzt auf dem Flughafengeländeeröffnet hätten, sondern es geht auch um ihre Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer, die sich am Ende der Kettebefinden und sehr stark unter den massiven Fehlern ins-besondere der Flughafengesellschaft zu leiden haben.Um die tut es mir wirklich leid. Wir haben eine großepolitische Verpflichtung, die durch die Verschiebungentstandenen Probleme zu lösen.
Bitter ist auch,
dass sich alle über die bei diesem Großprojekt entstande-nen Kosten streiten. Sind wir schon bei den 3 MilliardenEuro angelangt? Werden wir sie deutlich überschreiten?Das ist alles ziemlich katastrophal. Der Bürger draußenim Land versteht die Welt nicht mehr, wenn er beobach-tet, was hier abläuft. Dieses Gefühl teilen wir mit ihm.Es ist ebenfalls bitter, dass bei einem so großen Projektdie Planung und die Überwachung nicht unabhängigvoneinander durchgeführt wurden. Sie kennen das Prin-zip mit der einen Krähe und der anderen. Es ist schon ir-gendwie logisch, dass man immer wieder versucht hat,sich gegenseitig den Flughafen gesundzubeten und zuhoffen, dass man doch noch den 3. Juni einhaltenkönnte.Nun kommt die ganze Geschichte mit der Vollauto-matik beim Brandschutz hinzu. Schon im Dezemberwusste die Geschäftsführung, dass das nicht funktionie-ren wird. Trotz der Erfahrungen mit dem Brand am Düs-seldorfer Flughafen kommt man jetzt auf die krude Idee,Studenten an die Türen zu stellen, die die Türen auf- undzumachen können, wenn es brennt.
Ich frage: Was ist denn, wenn es brennt? Holen die danndie Freiwilligen Feuerwehren aus dem Umland, oderwas?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21723
Daniela Ludwig
(C)
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Es ist ausgesprochen schwierig, sich das Ganze zu er-klären. Deswegen sage ich: Herr Schwarz muss nochsehr viel mehr Antworten liefern als bisher,
um überhaupt noch den Anschein von Glaubwürdigkeitzu behalten. Das ist bitter genug.
Ich möchte ganz kurz – weil schon sehr viel dazu ge-sagt wurde – zu dem extrem wichtigen Thema Flugrou-ten Stellung nehmen. Ich kann mich dem KollegenLuczak nur anschließen, der das alles aus unmittelbarerNähe mitverfolgt hat. Ich bin ausgesprochen froh, dassman hier im wahrsten Sinne des Wortes noch die richtigeKurve gekriegt hat. Es kann nicht sein, dass man Bürgerüber Monate einbindet, ihnen Dinge zusagt, dann öffent-lich etwas völlig anderes erklärt, und es erst quasi einesMachtworts von ganz oben bedurfte, um auch dieseFehlentwicklung wieder einzufangen.Ich sage ehrlich, dass ich nicht ganz einverstandenmit dem im Luftverkehrsgesetz angelegten Weg bin,ganz allgemein etwas anderes zu regeln. Der Ansatz-punkt muss, glaube ich, zunächst einmal sein, an dieFluglärmkommission heranzugehen. Es war sicherlichgut gemeint und auch gut überlegt, als wir sie gemein-sam auf den Weg gebracht haben. Wenn es aber tatsäch-lich so ist, dass bei den Bürgern nicht unbedingt das an-kommt, was wir wollten – nämlich dass sie ordentlichvertreten werden; vielleicht hängt das, so ist das nunmal, auch manchmal mit den Personen zusammen, diedarin sitzen –, müssen wir uns auch in Bezug auf dieFluglärmkommission noch einmal wesentlich intensiverGedanken darüber machen, wie wir hier Bürgerbeteili-gung verlässlich institutionalisieren. Wir sollten Rege-lungen nicht von Einzelfällen abhängig machen, sondernfestschreiben, wie die Bürgerbeteiligung künftig auszu-sehen hat. Ich bin ganz beim Kollegen Bartol, der gesagthat, dass Flugrouten vermutlich das Komplexeste sind,was wir zu regeln haben. Ich traue mir da keine endgül-tige Beurteilung zu. Wir brauchen dafür viel Fachver-stand.Fachverstand schließt aber bekanntlich Bürgerbeteili-gung nicht aus. Im Rahmen eines Planungsdialogs inmeinem Wahlkreis habe ich die Erfahrung sammeln dür-fen, dass die Bürger manchmal recht gute Ideen haben,die weit über das hinausgehen, was die eine oder andereAutobahndirektion oftmals vorschlägt. Man muss zuge-ben, dass es sich lohnt, über Ideen der Bürger nachzu-denken. Das wäre für mich der Weg, den wir gehen müs-sen. Da müssen wir uns politisch bewegen; aber auch dieVerwaltungen und die Behörden vor Ort müssen sich be-wegen. Nur so werden wir mehr Akzeptanz für Großpro-jekte – so sie denn irgendwann ihren Betrieb aufnehmensollten – wie diesen Flughafen bekommen.Ich stimme mit Ihnen überein: Das wird für uns dieZukunftsaufgabe sein, was große Infrastrukturprojekteund überhaupt die gesamte Infrastrukturpolitik betrifft.Wir können, glaube ich, vom Berliner Beispiel ganz viellernen. Das wollen wir auch gerne tun. Wir sind für alleVorschläge offen, die dann endlich auf den Tisch gelegtwerden. Ich bin wirklich sehr dafür, Bürger angemessenund auch institutionalisiert verlässlich einzubinden.Ein Letztes: Wir alle hoffen, dass dieser Flughafentatsächlich im März eröffnet wird. Die Region hätte esabsolut verdient. Da Herr Körtgen mittlerweile mit sei-ner Doktorarbeit fertig geworden ist, kann er sich nundamit beschäftigen, wie es vor 20 Jahren in München ge-laufen ist. Auch da gab es immer mal wieder Probleme.Aber wir haben es hinbekommen. Es gab einen general-stabsmäßig geplanten Umzug in einer Nacht. Ganz Bay-ern saß am Fernseher und hat das beobachtet. Jetzt habenwir den Flughafen München Franz Josef Strauß, und erläuft ganz hervorragend.Vielen Dank.
Das Wort hat Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich habe jetzt über eine Stunde dieser Debattegelauscht und dabei festgestellt, dass viele Verdächti-gungen ausgesprochen worden sind. Viele haben gesagt,wer alles Schuld hatte und wer etwas hätte machen sol-len. Ich fand aber – um der Reihe nach vorzugehen –ganz besonders erstaunlich, dass sich die Linke hierohne Ende über den Aufsichtsrat, der angeblich versagthabe, ereifert hat. In diesem Aufsichtsrat sitzen zweiMinister der Linken. Herr Gysi, Sie hätten sich die Zu-sammensetzung des Aufsichtsrats vielleicht vorher ein-mal angucken sollen, dann wäre das, was Sie hier gesagthaben, nicht ganz so peinlich gewesen.
Zum anderen kann man natürlich – das hat meineVorrednerin, die Kollegin Ludwig, in ihrer Rede geradegetan – diesen Aufsichtsrat angreifen. Dass sie damitgleichzeitig ihren eigenen Minister angegriffen hat, fandich schon ganz erstaunlich.
Wenn jemand aus der CSU einen Kollegen aus der eige-nen Partei angreift, dann ist das zumindest bemerkens-wert, zeugt aber auch davon, dass vielleicht in den Rei-hen der Koalition nicht ganz so viel Klarheit herrscht,wie man sich das vorstellt.Wenn wir uns das hier heute angehört haben werden,werden wir am Ende nicht ernsthaft viel schlauer sein.Wir alle wissen, dass es Probleme gegeben hat. Der Re-gierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, und auch Mi-nisterpräsident Platzeck haben zu dem Thema sehr deut-lich etwas gesagt. Sie haben sich entschuldigt.
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21724 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Johannes Kahrs
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– Natürlich haben die auch etwas gemacht. Wenn Siesich ansehen, wie sich dieser Flughafen in den letztenJahren verändert hat, werden Sie das zugeben müssen.Leider haben wir heute überhaupt nichts von dem zu-ständigen Bundesminister Ramsauer gehört.
Er saß hier einsam auf seinem Stuhl. Eckart von Klaedenwar inzwischen so nett, dazuzukommen.
Abgesehen von der einen oder anderen verständnislosenHandbewegung, während seine Kollegin von der CSUgesprochen hat, hat man von ihm nichts mitbekommen.
Genauso ist es in den letzten Jahren bei diesem Flugha-fen gewesen.Wir haben auch mitbekommen, wie diejenigen, diedie letzte Berlin-Wahl verloren haben, reagieren.
Man kann den Frust darüber ruhig hier abladen. Daskann man alles tun.Ich glaube, dass man diesen Vorgang in den nächstenMonaten aufklären wird. Dafür hätte es dieser Debattenicht bedurft. Natürlich ist es so, dass solche Vorgängesachlich aufgeklärt gehören, und dann muss man etwasdaraus lernen. Ich glaube allerdings auch, dass man amEnde hier einen Flughafen haben wird, auf den die Re-gion stolz sein kann. Sie hat einen solchen Flughafen nö-tig. Die Entscheidung für diesen Flughafen war richtig,wichtig und gut. Es ist auch gut für die Region, dass derFlughafen vergrößert worden ist.Ich glaube, dass man am Ende dieser Debatte, sofernman sie überlebt hat, feststellen kann, dass hier zwar vielgeredet, aber wenig gesagt worden ist.
Man wird den Vorgang untersuchen. So ist das.All die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt langsamaus ihrem Tiefschlaf erwachen, können ihren Senf gernedazugeben. Das wird aber nicht zur Aufklärung beitra-gen. Die Aufklärung wird durch die zuständigen Gre-mien erfolgen. Ich verstehe nicht, warum die Linksparteidieses Thema hier heute angemeldet hat. Sie war selberdabei. Ihr eigenes Versagen hat sie hervorragend doku-mentiert. Alle zuständigen Wahlkreisabgeordneten ha-ben sich hier äußern können. Das war wie immer ganzgroßartig.
Das hat dem Sachverhalt aber nicht gedient und hat unsalle nicht weitergebracht.Die zuständigen Parlamente sind informiert worden;sie machen eine gute Arbeit. Wenn man sich vor Augenführt, wie die zuständige Kollegin von der CSU hier ih-ren eigenen Minister runtermacht,
dann fragt man sich, ob das in der Landesgruppe einNachspiel haben wird. Außerdem kann man sich überle-gen, ob die FDP, die in Berlin 1,8 Prozent erreicht hat,glücklicher wird.
Auch die Linkspartei hat hier heute ihren Beitrag geleis-tet.Erlauben Sie mir, meine Rede jetzt zu beenden
und zu hoffen, dass der Sachverhalt irgendwann einmalaufgeklärt wird; denn solche Debatten braucht der Bun-destag garantiert nicht, und schon gar nicht, wenn sie an-derthalb Stunden dauern.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Zusammenfassung dieser Debattemöchte ich mit Erlaubnis der Grünen mit einem Zitat ausihrem Antrag beginnen. Ich stimme ja nicht immer mitIhnen überein, aber das trifft es wirklich eins zu eins.Das finde ich wirklich sehr gut. Deswegen darf ich zitie-ren:Der Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg
ist zu einer Provinzposse geworden, über den diegesamte Welt lacht. Der Imageschaden für dieHauptstadtregion, aber auch für Deutschland insge-samt ist groß. Die Absage der Eröffnung … ist …eine Notbremse für offensichtliche Schlampereigroßen Stils bei Planung, Bau und vor allem auchControlling der Maßnahmen durch das Manage-ment und den Aufsichtsrat.Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Das ist schlimm fürDeutschland, für Berlin und auch für mein HeimatlandBrandenburg.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21725
Jens Koeppen
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Berlin wirkt oft zweitklassig. Leider gibt es auch Pa-rallelen zum Abstieg von Hertha BSC, den ich persön-lich sehr bedauere.
Hertha hat immer gesagt: Wir schaffen das noch in denletzten Spielen. Wir werden das noch irgendwie hinkrie-gen. – Letztlich haben sie es einschließlich des letztenSpiels versemmelt.Beim BER ist das ganz genauso gewesen. Der BER-Geschäftsführer und der Aufsichtsrat haben gesagt:Keine Sorge, wir schaffen das schon. Es könnte zwar einbisschen schwierig werden, aber der 3. Juni steht. – Dasist nicht nur arm und sexy. Das ist arm, sexy und ziem-lich unfähig. Da kann man die Landesregierung Bran-denburg gleich mit einbeziehen.
Wir haben in dieser Stunde gehört, was bei dem größ-ten Infrastrukturprojekt in meiner Heimatregion allesschiefgelaufen ist. Das ist nicht nur verdammt peinlich,sondern – das müssen wir sagen – das wird auch ver-dammt teuer werden.Die Verzögerung bei der Fertigstellung von Großpro-jekten ist in Deutschland inzwischen eher die Regel alsdie Ausnahme. Das ist leider nicht immer zu verhindern.Es ist aber zu verhindern, dass der Aufsichtsrat und dieGeschäftsführung in dreister Art und Weise Bürger, An-wohner, Betreiber, Pächter, Airlines und Abgeordneteaus Bund, Ländern und Kommunen hinter die Fichteführen. Das ist unakzeptabel!
Herr Kahrs, so wird man keine Akzeptanz für diesesGroßprojekt erhalten. Es gibt schon genügend Akzep-tanzprobleme bei diesem Flughafen, und zwar wegender nachträglichen Flugroutenfestlegungen, wegen desmiesen Lärmschutzmanagements,
und jetzt auch noch wegen der Kostenexplosion. Manspricht von 15 Millionen Euro monatlich;
dieser Betrag umfasst übrigens keine etwaigen Schaden-ersatzzahlungen. Gleichzeitig wird bei den Lärmschutz-maßnahmen um jeden einzelnen Cent gefeilscht. DieMenschen werden hier mit – Kollege Danckert hat es sogenannt – Billigschallschutz abgespeist. Das ist unge-heuerlich.Mir scheint, dass die Geschäftsführung mit den Auf-gaben überfordert ist. Die Ausführungen von HerrnSchwarz im Verkehrsausschuss am vergangenen Mitt-woch haben mich nicht vom Gegenteil überzeugen kön-nen. Herr Schwarz sprach von üblichen Lösungen beiGroßprojekten
– Herr Kahrs, hören Sie zu –, zum Beispiel von Interims-Check-in-Hallen; damit meint er Zelte, die dort aufge-stellt und in denen die Passagiere abgefertigt werden sol-len.
Er sprach von halbautomatischen Brandschutzanlagen.Ich weiß nicht, ob er sich dort hinstellen und die Sprink-leranlage per Hand aufdrehen möchte.Er sprach auch von der Mensch-Maschine-Lösung beiden Brandschutztüren. Er hat allerdings nicht gesagt, wieer das machen will, ob mit der Freiwilligen Feuerwehr,mit 1-Euro-Jobbern oder sonstigen Freiwilligen, die,wenn alle das Gebäude verlassen haben, die Türenschließen. Ich glaube nicht, dass das übliche Lösungensind. Jede Firma wäre achtkantig von der Baustelle ge-flogen, wenn sie nur ansatzweise solche Vorschläge ge-macht hätte. Vor allen Dingen gäbe es niemals eine Ge-nehmigung dafür. Dieses Versagen des Managementssollte jetzt schöngeredet werden.Da hilft auch kein Versprechen für mehr Transparenz,wenn gleichzeitig die Aushändigung der bereits zuge-sagten Controlling-Berichte von der Geschäftsführungmit dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse verweigertwird.Ganz schlimm ist: Herr Schwarz hat sich erfreut ge-zeigt, dass Regressforderungen von mittelständischenUnternehmen, die sich dort ansiedeln wollen, abgewehrtwerden können, weil in den Verträgen eine Verzöge-rungsklausel von 18 Monaten verankert ist. Im Klartextbedeutet das: Die Unternehmen bleiben auf ihren Kredi-ten sitzen, bleiben auf ihren Waren sitzen und bleibenauf den Arbeitsverträgen mit den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern sitzen. Das finde ich schäbig und un-verantwortlich.
Was macht jetzt der Regierende Bürgermeister vonBerlin, also der Aufsichtsratsvorsitzende, und was machtMinisterpräsident Platzeck, der Aufsichtsratsvize?
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21726 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Jens Koeppen
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Beide haben in den jeweiligen Parlamenten berichtet.Wowereit war bemüht, gute Laune zu verbreiten.
Arm, aber sexy – das ist seine Art. Von Selbstzweifelnist nichts zu sehen.
Ministerpräsident Platzeck wiederum wollte ein Wir-Ge-fühl verbreiten, nach dem Motto: Wir sind quasi irgend-wie alle daran schuld. Er versuchte also eine Kollektivie-rung der Verantwortung. Das ist wiederum seine Art.Selbstzweifel? Fehlanzeige.
Platzeck hat allerdings verschwiegen, dass die Behördenfür alle Genehmigungen rund um dieses Flughafenpro-jekt nicht Bundesbehörden, sondern brandenburgischeLandesbehörden sind.Ich finde es abenteuerlich, wenn der Infrastrukturmi-nister oder das Infrastrukturministerium
– Herr Kahrs, Sie können gerne eine Zwischenfrage stel-len –
seit Februar in der Taskforce zur Lösung der Flughafen-probleme sitzt, und der Ministerpräsident dann völligüberrascht ist, dass der Flughafen nicht eröffnet werdenkann, nachdem er bereits 40 000 Einladungen unter-schrieben hat.
Am Montag sagte er dann, er sei stocksauer, dass es zudieser Verspätung kommt. Das ist völlig abenteuerlich.Herr Platzeck selbst sagt ja, dass er kein Fan von Ak-tenlesen ist.
Das ist vielleicht auch für den Ministerpräsidenten vonBrandenburg nicht notwendig. Aber er könnte ja uns dasAktenlesen überlassen, indem er als Aufsichtsratsvizedie Controlling-Berichte zur Verfügung stellt oder dafürsorgt, dass sie zur Verfügung gestellt werden.
Ich schlage heute vor, dass wir Herrn Platzeck das Lesenabnehmen. Das würde die Transparenz in diesem Fallwesentlich nach vorne bringen.
Ich komme zum Fazit. Sie können noch so sehr trö-ten, auch nach dieser Debatte bleibt vieles ungeklärt:Der Lärmschutz bleibt ungeklärt, der Brandschutz bleibtungeklärt, die Flugrouten bleiben ungeklärt, die Kosten-frage sowieso, die Schadenersatzforderungen – dazu ha-ben Sie nichts gesagt – und die Regressforderungen blei-ben ungeklärt,
Transparenz und Akteneinsicht bleiben ungeklärt, undder endgültige Eröffnungstermin bleibt ebenfalls unge-klärt.
Ich finde, dass auch die Frage nach persönlichen Konse-quenzen von Geschäftsführung und Aufsichtsrat unge-klärt ist.
Über all das muss jetzt konsequenterweise gespro-chen werden. Die zeitnahe Realisierung der Lärmschutz-maßnahmen ist für den Erfolg des Projekts wichtiger alsder Verbleib von Herrn Schwarz in der Geschäftsfüh-rung.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/9750. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPDund FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen ab-gelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Luftver-kehrsgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/9452, den Gesetzentwurf derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/8129 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionengegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthal-tung der SPD abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21727
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Zusatzpunkt 6. Interfraktionell wird Überweisung derVorlage auf Drucksache 17/9740 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Ta-gesordnungspunkt 33 a bis c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarleneMortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer,Jens Ackermann, Helga Daub, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPTourismus in ländlichen Räumen – Potenzialeerkennen, Chancen nutzen– Drucksache 17/9570 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPaula, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-JoachimHacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDTourismus in ländlichen Räumen durch schlüs-siges Gesamtkonzept stärken– Drucksache 17/9571 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medienc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungFortschrittsbericht der Bundesregierung zurEntwicklung ländlicher Räume– Drucksache 17/8499 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-nen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Ernst Burgbacher das Wort.
E
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seitder Vorstellung des Gutachtens „Wirtschaftsfaktor Tou-rismus Deutschland“, das unser Ministerium initiiert undder Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaftals Projektträger durchgeführt hat, haben viele Men-schen in Deutschland erkannt, welch wichtiger Jobmotorund Wachstumsfaktor der Tourismus ist.Nur ganz wenige Zahlen. 7 Prozent der Erwerbstäti-gen, nämlich 2,9 Millionen, sind direkt im Tourismus inDeutschland beschäftigt. Wenn wir die indirekten und in-duzierten Arbeitsplätze hinzurechnen, sind es 4,9 Millio-nen bzw. 12 Prozent. 4,4 Prozent der Bruttowertschöp-fung werden im Tourismus erzeugt; das entspricht einemBetrag von fast 100 Milliarden Euro. Meine Damen undHerren, wir sind stolz darauf, dass Deutschland ein Indus-trieland geblieben ist; überhaupt keine Frage. Aber wirsollten endlich erkennen: Deutschland ist auch zu einemTourismusland geworden, und zwar zu einem ganz wich-tigen. Der Tourismus ist Jobmotor und Wachstumsfaktor.Das muss endlich in die Köpfe der Menschen.
Wir hatten 2011 in Deutschland 394 Millionen Über-nachtungen und 64 Millionen ausländische Gäste. Wirdenken, dass wir dieses Jahr die Schallmauer von400 Millionen Übernachtungen durchbrechen. Dies wie-derum schafft neue Arbeitsplätze, übrigens zum größtenTeil solche, die nicht exportierbar sind. Diese Arbeits-plätze entstehen im gesamten Spektrum der Qualifikatio-nen. Davon profitieren also auch die Menschen, die amArbeitsmarkt sonst geringe Chancen haben. Auch das istein äußerst positives Signal.
Aber, meine Damen und Herren, bei genauerer Be-trachtung müssen wir erkennen: Das eigentliche Wachs-tum findet vor allem in den Städten statt. Es findet ge-rade hier in Berlin statt, aber auch in vielen anderenStädten. Viele profitieren davon. Das ist im ländlichenRaum erheblich schwieriger. Deshalb begrüße ich esausdrücklich, dass das Thema heute auf der Tagesord-nung des Deutschen Bundestages steht.Wir haben einiges getan. Mit unseren Handlungsemp-fehlungen zum Gesundheitstourismus und mit dem Mar-ketingkonzept Wassertourismus haben wir Weichen fürein Wachstum in diesen Bereichen gestellt. Gerade heuteMorgen konnte ich im Verkehrsministerium mit meinemdortigen Staatssekretärskollegen die D-Route 3 vorstel-len. Das ist eine Fahrradroute, die über fast 1 000 Kilo-meter von der holländischen Grenze über Berlin bis an
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21728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Ernst Burgbacher
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die Oder reicht. Es gibt tolle Projekte, die dem Touris-mus im ländlichen Raum erheblich nützen werden.In der Landwirtschaft haben wir gute Ansätze. DasThema Urlaub auf dem Bauernhof ist für viele Land-wirte unverzichtbar. Es trägt dazu bei, die Kulturland-schaft zu erhalten und den ländlichen Raum lebenswer-ter für die Menschen zu machen. Genau hier wollen wirweitermachen. Deshalb wurde in unserem Haus, demWirtschaftsministerium, die Studie „Tourismusperspek-tiven in ländlichen Räumen“ gestartet. Dabei stehen wirin einem ganz engen Schulterschluss mit dem Landwirt-schaftsministerium und mit dem Deutschen Reisever-band als Projektträger. Wir wollen kein Tourismus-konzept erstellen, sondern wir wollen Anfang 2013Handlungsempfehlungen, Praxisleitfäden und gute Pra-xisbeispiele vorlegen. Darum haben uns die Fachleutegebeten. Von dem, was wir hier machen, kann der Tou-rismus im ländlichen Raum wirklich profitieren, undzwar in jedem Bundesland, in vielen Kreisen und Ge-meinden. Das bringt den Deutschlandtourismus tatsäch-lich weiter.
Wir starten jetzt mit vier Regionalkonferenzen. Wirwerden sehr zügig vorangehen, und ich bin ganz sicher,dass hier neue Ansätze sichtbar werden.Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit ganz kurz aufzwei Themen der Anträge eingehen. Das erste ist dasThema Breitband. Die Breitbandversorgung im ländli-chen Raum ist eminent wichtig. Wir haben aber auchschon viel erreicht. Ende des ersten Quartals 2012 habenwir eine Abdeckung von 99,2 Prozent der Haushalte mitmindestens 1 Megabit und von über 50 Prozent derHaushalte mit mindestens 50 Megabit erreicht. Wir wer-den mit LTE und Satellitennutzung erhebliche Fort-schritte machen. Wir erreichen auch in diesem Bereichüber 10 Megabit. Hier ist also einiges geschehen, wasfür den Tourismus im ländlichen Raum sehr wichtig ist.Ein zweites Thema. Wir müssen erreichen, dass dieLänder ihre Sommerferienregelung ändern.
Wir waren einmal bei einem Gesamtzeitraum von über90 Tagen. Jetzt sind es nur noch etwas mehr als 80 Tage.Das kann nicht sein. Deshalb habe ich alle Ministerpräsi-denten angeschrieben und noch einmal darum gebeten,hier tätig zu werden. Ich wäre Ihnen für Ihre Unterstüt-zung sehr dankbar.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher: Heutesenden wir für den Tourismus im ländlichen Raum eingutes Zeichen aus. Wir haben enorme Potenziale, wir ha-ben enorme Wachstumschancen und auch die Chanceauf mehr Arbeitsplätze. Der Tourismus ist ein Jobmotor,und er ist ein Wachstumsmotor. Unser tolles Land hat eswirklich verdient, dass noch viel mehr Menschen zu unskommen und bei uns Urlaub machen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Heinz Paula für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Burgbacher, Sie wissen, dass ich Sie persönlichsehr schätze. Ich erkenne auch Ihre Bemühungen an. AlsSie vorhin allerdings ausführten, dass Sie so weiter-machen wie bisher, konnte ich nur sagen: Um Gotteswillen, bewahren Sie uns davor.Sie haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass imBereich des ländlichen Tourismus enorme Potenziale zufinden sind, die bei weitem noch nicht ausgeschöpftsind. Es gibt enorme Potenziale für die Gastronomie, denEinzelhandel, das Handwerk usw. und so für die Arbeits-plätze vor Ort. In der Großen Koalition wurde von unsgemeinsam, also sowohl seitens der CDU/CSU als auchseitens der SPD, ein weitreichender Antrag eingebracht,der im Grunde genommen darauf wartet, endlich inhalt-lich umgesetzt zu werden. Schon damals war nämlichklar, dass vor dem Hintergrund des demografischenWandels und landwirtschaftlicher Strukturveränderun-gen sowie unter Klimaschutzaspekten mehr getan wer-den muss.Ich darf Sie als Bundesregierung auch daran erinnern,dass Sie selber in Ihren Koalitionsvertrag explizit aufge-nommen haben, eine Gesamtkonzeption für den ländli-chen Raum zu entwickeln. Tja, wie weit sind Sie hier ge-kommen? Sie haben ein paar Einzelbeispiele aufgezeigt:Wassertourismus, Kulturtourismus. Das alles kann ichunterstreichen; das ist eine sehr gute Sache. Entschei-dend ist aber: Es gibt keinerlei Ansatz für ein Gesamt-konzept. Mit Verlaub: Das ist mager!
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU undder FDP, Sie selber haben ja erkannt, wie dünn dasGanze ist, was bisher geschehen ist; denn nicht umsonstbringen auch Sie einen Antrag ein. Man höre und staune!Gut so!In einigen Punkten sind unsere Forderungen nahezuidentisch. Ich darf nur ein paar Punkte auflisten:Ein klares Ja auch von unserer Seite: Die DeutscheZentrale für Tourismus muss den ländlichen Tourismuszusammen mit den Akteuren besser vermarkten. Das un-terstreichen wir.Herr Kollege Burgbacher, den Gesamtferienzeitraummüssen wir in der Tat deutlich fixieren. Sie nennen zwardas Problem, aber wir waren bereits 2008 so weit, dasswir 90 Tage gefordert haben. Das wäre konkret. Wie ge-sagt, in Ihrem Antrag fehlt das leider.Sie sprechen die Breitbandversorgung an. Das ist her-vorragend. Ich muss Sie aber ganz ehrlich fragen: Wassoll das, 99 Prozent der Betroffenen mit einer Magerst-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21729
Heinz Paula
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geschwindigkeit anzubinden? Das ist doch schlicht undergreifend dünn. So kann es wohl nicht laufen, wennman den ländlichen Tourismus fördern möchte.
Ich komme zurück auf den Antrag von 2008. Es stel-len sich doch folgende Fragen: Warum haben Sie nochnicht mehr umgesetzt? Wo ist das Konzept, das die Hete-rogenität, die Vielfalt unserer Regionen berücksichtigt?Wo ist ein integriertes Konzept, das dem Tourismus inseiner Querschnittsfunktion gerecht wird, ihn in den ver-schiedenen Ressorts besser verankert und ihm in der in-terministeriellen Zusammenarbeit und in der Zusam-menarbeit zwischen Bund und Ländern endlich einenhöheren Stellenwert einräumt, schlicht und ergreifendein umfassendes Gesamtkonzept, das alle ökonomi-schen, sozialen und ökologischen Dimensionen berück-sichtigt? Genau dies wollen wir mit unserem Antragnämlich erreichen.Wir wollen zum Beispiel endlich eine bundesweiteGrundlagenuntersuchung fördern, die wirklich belast-bare Daten zum Tourismus in den ländlichen Räumenliefert. Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU undder FDP, es ist sehr spannend, wenn man sich Ihren An-trag genauer ansieht. Sie arbeiten mit Zahlen, allerdingsfür den Gesamtbereich des Tourismus. Warum Sie dastun, ist klar: Sie haben
keine exakten Daten für den Tourismus in den ländlichenRegionen. Das wird überdeutlich; das unterstreichen Siedurch Ihre Form der Darstellung.Sie haben kein Konzept und sagen in Ihrem Antragkein Wort zur Grundlagenuntersuchung. Wir waren 2008schon weiter. Damals stand es nämlich explizit in unse-rem Antrag.Wir fordern, dass attraktive und vitale Natur- undKulturlandschaften erhalten und gepflegt werden; dennsie sind das Lebenselixier des Tourismus im ländlichenRaum. Die Schönheit und die Vielfalt der Natur in Ver-bindung mit historisch gewachsenen Ortschaften undKulturstätten ziehen die Menschen an. Sie alle kennendie ADAC-Untersuchung, die vor kurzem vorgestelltwurde. An erster Stelle stehen intakte Landschaften. Dasist der Wunsch der Besucherinnen und Besucher.
Tourismus und Umweltschutz dürfen sich nicht aus-schließen, sondern bedingen einander. Eine intakte Naturist Magnet für die Touristen. Einnahmen aus dem Touris-mus können in Projekte für den Umweltschutz investiertwerden. Der Kreis schließt sich. Hier hätte ich schon er-wartet, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,dass Sie die Natur- und Nationalparke und die Biosphä-renreservate mit den touristischen Leistungsträgern vorOrt weiter ausbauen wollen. In Ihrem Antrag steht dazuallerdings kein Wort.
Lassen Sie mich zu einem anderen Punkt kommen.Bauernhöfe sowie Natur- und Nationalparke sollen nochstärker als außerschulische Lernorte ins Schulleben inte-griert werden; denn so kann man bei Jugendlichen dasBewusstsein für ihre Umwelt, für nachhaltige Landwirt-schaft, Nahrungsmittelherstellung und gesunde Ernäh-rung entsprechend fördern. Was machen Sie? Sie begrü-ßen die Initiativen des Deutschen Bauernverbandesdazu, aber zu konkreten Maßnahmen höre ich kein einzi-ges Wort.Für uns Sozialdemokraten ist es besonders wichtig,Menschen mit geringem Einkommen Urlaub in ländli-chen Räumen zu ermöglichen, zum Beispiel in Jugend-herbergen und Jugendfreizeitstätten. Bei Ihnen finde ichkein einziges Wort dazu. Das ist erbärmlich.
Lassen Sie mich kurz die Infrastruktur ansprechen.Auch hier muss man feststellen, dass es dringend neuerWege bedarf; denn die traditionellen Wege, Schiene oderStraße, sind in dieser Form im Grunde genommen nichtmehr ausreichend. Wo sind hier bei Ihnen kreative An-sätze?Lassen Sie mich kurz etwas zum Stichwort „Barriere-freiheit“ sagen. Das ist ein unwahrscheinlich wichtigesQualitätskriterium für die An- und Abreise und bei denUnterkünften. Wir wollen, dass alle Menschen in dieländlichen Regionen reisen können. Wir brauchen mehrKomfort für Reisende mit eingeschränkter Mobilität.Die Anbieter müssen durch Aufklärung und geeigneteFördermaßnahmen unterstützt werden. Ich erinnere anunseren hervorragenden Antrag zum barrierefreien Tou-rismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, halten Sie sichfest: Wenn Sie den Antrag der CDU/CSU nehmen, dannkönnen Sie so lange blättern und lesen, wie Sie wollen –mit keinem einzigen Wort wird der barrierefreie Touris-mus erwähnt. Mit Verlaub: Erbärmlich!
Wir wollen, dass das bürgerschaftliche Engagementund das Vereinswesen gestärkt werden. Wir kennen dochalle die tollen Traditionen, Frau Mortler, zum Beispiel inBayern. Diese gibt es aber nicht nur in Bayern, sonderneigentlich in allen Bundesländern. Tja, in Ihrem Antrag– das vermuten wir schon – findet sich dazu kein ein-ziges Wort. Das ist genauso schwach.Der Tourismus in ländlichen Regionen verdient end-lich ein Gesamtkonzept auf der Grundlage einer inno-vativen, ressourcenschonenden, umwelt- und sozial-verträglichen Politik für die ländlichen Räume. DieMenschen vor Ort profitieren vom Tourismus. Im Ge-genzug profitiert der Tourismus von der Besonderheitd
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Tourismus ist in den ländlichen Regio-nen ein Jobmotor, den es entsprechend zu stärken gilt.
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Heinz Paula
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Immer wieder wird auf das Best-Practice-Modell hin-gewiesen. Interessant! Aber, bei Gott, das kann es dochin Anbetracht der Chancen, die der ländliche Tourismusbietet, nicht sein. Sie bieten ein durchaus löbliches, abernicht im Ansatz den Herausforderungen gerecht werden-des System an. Das könnte ein Baustein in einem Ge-samtkonzept sein. Fakt ist: Die Bundesregierung hat esbisher nicht im Ansatz geschafft – Herr Staatssekretär,Sie haben das leider bestätigt –, ein schlüssiges Gesamt-konzept für den Tourismus in den ländlichen Regionenzu erarbeiten. Nicht einmal der Wunsch ist mehr da, hierauf die Koalitionsvereinbarungen einzugehen.
Lassen Sie mich Ihnen, Kolleginnen und Kollegen,schlicht und ergreifend anbieten, Ihren zwar bemühten,aber doch in weiten Bereichen vollkommen ungenügen-den Antrag zu einem wirklich guten Antrag zu entwi-ckeln. Ich möchte vorschlagen: Lassen Sie uns versu-chen, in den anschließenden Beratungen zu einemgemeinsamen Antrag zu kommen. Der ländliche Touris-mus, alle Beteiligten hätten es verdient, dass wir etwasrundum Gutes auf den Weg bringen.Ich bedanke mich sehr herzlich.
Die Kollegin Marlene Mortler hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gleich zu Ihnen, Herr Paula: Wenn unserKonzept dünn ist, dann sind Ihr Konzept und Ihr Vortragso dünn, dass man sogar durchschauen kann.
Natürlich konnten wir in diesen speziellen Antrag, indem es darum geht, Potenziale und Chancen des Touris-mus im ländlichen Raum zu erkennen, nicht alles hinein-packen.
Das gilt zum Beispiel für das Thema barrierefreier Tou-rismus.
Auch das Thema Landschaftspflege kann natürlich mitdem Thema Tourismus im ländlichen Raum verknüpftwerden. Zu all diesen Themen haben wir Anträge ge-stellt und längst Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wirhaben heute aber ganz bewusst den Tourismus im ländli-chen Raum im Fokus.Wer sich in der Medienlandschaft aufmerksam um-schaut, der hat festgestellt, dass die Frankfurter Allge-meine Sonntagszeitung am 20. Mai 2012 dem ländlichenRaum sechs Seiten gewidmet hat, sozusagen ein sechs-seitiges Wirtschaft Spezial. Dort hieß es unter anderem:„Die Sehnsucht nach dem Echten: Die Deutschen entde-cken ihre Liebe zur Provinz.“ Das ist im positiven Sinnedie neue Landlust.
Selbst Magazinmacher wie beim Spiegel verfolgenseit einiger Zeit verblüfft den Höhenflug der ZeitschriftLandlust. Sie knackte nämlich die Millionenauflage, in-dem sie die Sehnsucht nach Echtem und Urigem mitHochglanzbildern stillt. Damit trifft sie offenbar denNerv der Zeit.„Lust auf Land“, liebe Kollegen von der Opposition,war für mich schon im letzten Jahr ein Thema. Ich hatteLandfrauen in die Bayerische Landesvertretung eingela-den. Dabei handelte es sich um eine Initiative, die denländlichen Raum eindrucksvoll in Szene setzt. Die Land-frauen haben engagiert gezeigt, wie sie dem Struktur-wandel trotzen und den ländlichen Raum vital halten,kurz: wie sie Lust auf Land machen.Unseren Antrag haben wir nicht nur deshalb vorge-legt, weil das Thema im Koalitionsvertrag steht,
sondern er ist auch mir persönlich eine Herzensangele-genheit, weil ich vom Land komme und auch auf demLand arbeite, wenn ich nicht in Berlin bin.
Ich bin stolz auf die Vielfalt unserer ländlichenRäume. Sie sind es wert, dass wir alle verfügbaren Hebelin Bewegung setzen, um sie vital zu halten.
Tourismus ist ein zentraler Hebel. Er ist ein Jobmotor.Herr Staatssekretär Burgbacher, ich kann Ihre Zahlen– 2,9 Millionen Arbeitsplätze und 100 Milliarden EuroWertschöpfung – nur bestätigen.Aber das Geschäft mit der Reiselust ist kein Selbst-läufer. Die Konkurrenz ist über alle Zeitzonen rund umden Erdball unterwegs und gut aufgestellt. Auch wir sindderzeit gut aufgestellt. Mit nahezu 394 Millionen Gäste-übernachtungen haben wir einen absoluten Rekord,
von dem allerdings mehr die Städte profitieren als derländliche Raum.Gerade in unserem Antrag richten wir den Blick da-rauf, wie wir ländliche Räume und den Tourismus stär-ken können. Denn er schafft Jobs und Einkommengerade in strukturschwachen Regionen. Mehr Lebens-qualität hilft, qualifizierte Arbeitsplätze im ländlichenRaum zu erhalten.
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Marlene Mortler
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Welche Hebel haben wir auf Bundesebene? Damitkomme ich zu Ihrem Antrag zurück. Was nützt es, etwasin den Antrag zu schreiben, das nicht der Realität ent-spricht? Für den Tourismus sind nun einmal in erster Li-nie die Bundesländer zuständig.
Die Frage ist: Was können wir in diesem Haus realistischbewegen?
Erstens. Ein wichtiger Punkt ist für uns, dass die Bun-desregierung die Deutsche Zentrale für Tourismus auf-fordert, noch intensiver mit den Akteuren des ländlichenTourismus ins Gespräch zu kommen und das Themaländlicher Tourismus noch stärker in den Fokus zu neh-men und noch professioneller zu vermarkten.Zweitens. Fördermittel sind nicht immer wichtig undrichtig, aber wir brauchen gerade auch im Bereich derGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstrukturund des Küstenschutzes“ verlässliche Fördermittel. Da-für setzen wir uns ein.Das gilt drittens selbstverständlich auch für EFRE,den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Wirsind hier ständig im Gespräch.Viertens muss es, so wie es die Bund-Länder-Arbeits-gruppe gibt, sehr geehrter Herr Staatssekretär, in Zukunfteine Arbeitsgruppe mit den landtouristischen Akteurenaus allen Bundesländern geben, bei der die Bundesregie-rung eine wichtige Hilfestellung leistet, um die Arbeitder Landestourismus- bzw. Marketingorganisationenbesser zu koordinieren.Der Staatssekretär hat das neue Projekt „Tourismus-perspektiven in ländlichen Räumen“ angesprochen. Die-ses Projekt soll 2013 zu Ende gebracht und im Rahmender Internationalen Grünen Woche mit Handlungsemp-fehlungen und Praxisleitfäden vorgestellt werden. UnserAntrag soll mit dazu beitragen, dass dieses Projekt auchnach der Beendigung anhaltend positiv wirken kann.Unterschätzen wir nicht die Best-Practice-Beispiele.Es gibt viel mehr, als wir glauben. Erste Einblicke, Ana-lysen und Bewertungen zeigen, dass es viele nachah-menswerte Beispiele für Unternehmergeist, Ideenreich-tum und nachhaltiges Wachstum gibt. Ich empfehle,einen Blick auf die Internetplattform www.tourismus-fuers-land.de zu werfen, die seit Februar einsehbar ist.Gerade diese Plattform soll über das genannte Projekthinaus als Forum zu Information, Kommunikation undVernetzung dienen. Sie soll bestehen bleiben; denn diedort genannten guten Beispiele müssen in Zukunft ver-stärkt Schule machen.Nicht alles ist rosig. Sonst wäre unser Antrag nichtnötig. Aber ein Blick in die Regionen lohnt sich allemal.Ich weiß nicht, ob der Kollege Hochbaum anwesend ist,aber in seiner Heimat habe ich kürzlich die ErlebnisweltMusikinstrumentenbau besucht. Weil dort der Musik-instrumentenbau so gut in Szene gesetzt wird, dirigiertdiese Erlebniswelt Musikfreunde aus ganz Deutschlandals Touristen ins Vogtland.Ich darf an dieser Stelle auf die Bundesarbeitsgemein-schaft für Urlaub auf dem Bauernhof und Landtourismusin Deutschland verweisen. Vor einem Jahr wurde imRahmen meiner Veranstaltung in der Bayerischen Lan-desvertretung das Landsichten-Portal eröffnet. DieseBuchungsplattform ist ein ganz wichtiges Instrument,um touristische Angebote im ländlichen Raum zu koor-dinieren.Bei mir zu Hause läuft seit heute das erste Kletter-festival im Pegnitztal. Zehntausend Besucherinnen undBesucher werden erwartet. In meinem Landkreis zumBeispiel stehen Radfahren, Kanutourismus und Wander-tourismus sehr hoch im Kurs.Ich komme zum Schluss. Natürlich möchten wir – daswäre ideal – ein Gesamtkonzept auf den Weg bringen.Wir orientieren uns aber einfach an der Realität. Es istbesser, zu koordinieren und vom Einzelnen zu lernen,und zwar unter starker Begleitung der Bundesregierungbzw. des zuständigen Wirtschaftsministeriums. Wennwir das Gros der Hebel, die eigentlich in der Hand derLänder liegen, entsprechend umlegen, dann sind wir aufeinem guten Weg und gar nicht so weit voneinander ent-fernt, lieber Herr Paula, wie Sie dem Publikum weisma-chen wollen.
Kollegin Mortler, Sie müssen jetzt wirklich zum
Schluss kommen. Sonst hat das Konsequenzen für die
anderen Redner.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich bin im Grunde ge-
nommen fertig.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesungüber zwei Anträge zum Tourismus im ländlichen Raumund einen Bericht der Bundesregierung. Ich möchte mitdem Bericht der Regierung beginnen und hier zweiPunkte aufgreifen.Das Erste ist das Aktionsprogramm regionale Da-seinsvorsorge für jene ländlich strukturierten Regionen,„in denen die Grundversorgung mit kommunalen Leis-tungsangeboten wie Schulen, Kindergärten, Gesund-heits- und Beratungseinrichtungen, ÖPNV, Straßen und
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21732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Alexander Süßmair
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technischer Ver- und Entsorgung gefährdet ist“. Was sollman dazu sagen? Da werden seit Jahren öffentliches Ei-gentum und Daseinsvorsorge privatisiert und zerstört,den Kommunen werden die finanziellen Mittel abge-graben – unter maßgeblicher Beteiligung von CDU/CSUund FDP –, und dann empfiehlt die schwarz-gelbe Re-gierung ein Programm zu deren Wiederaufbau. Das istabsoluter Hohn.
Der zweite Punkt betrifft die Vergabe von Mikrokre-diten für Kleinunternehmen im ländlichen Raum. DerBericht der Bundesregierung zeigt auf, wie sinnvolldiese Kredite sind. Doch warum brauchen denn Selbst-ständige oder kleine Unternehmen Mikrokredite? Wa-rum bekommen sie keine normalen Kredite? Das kannich Ihnen sagen: Die Kaufkraft ist nicht da. Die Kundenhaben kein Geld und die Urlauber auch nicht. Das liegtan der Niedriglohnpolitik und der Zerstörung unseresSozialstaats seit Jahren durch leider alle Bundesregie-rungen.
CDU/CSU und FDP setzen auf den Export und nicht aufden Binnenmarkt. Das trifft gerade die Tourismus-branche im ländlichen Raum besonders hart.Nun komme ich zu dem Antrag von CDU/CSU undFDP mit dem Titel „Tourismus in ländlichen Räumen –Potenziale erkennen, Chancen nutzen“. Im Rahmen desProjektes „Tourismusperspektiven in ländlichen Räu-men“ wollen Sie Handlungsempfehlungen entwickeln.Dieses Projekt wird von einem Projektbeirat unterstützt.Aber in diesem Beirat sitzen keine Gewerkschafter, alsokeine Vertreter von Beschäftigten, und es gibt keineFachleute für sozialen Tourismus oder für Tourismusvon Kindern und Jugendlichen. Das hätten Sie in IhremAntrag nachbessern können, aber anscheinend wollenSie das nicht. Das kritisieren wir ausdrücklich.
Die soziale Dimension des ländlichen Tourismuskommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor. Dabei sindbesonders im ländlichen Raum die Löhne am niedrigstenund die Arbeitsbedingungen in Hotels und Gaststättenhäufig am schlechtesten. Wir von der Linken sagen, wasder ländliche Raum dringend braucht:Erstens: keine weitere Intensivierung der Landwirt-schaft. Wenn keine Kühe auf der Weide stehen und rie-sige Monokulturen die Felder beherrschen, dann wirdTourismus auf dem Lande immer weniger attraktiv.
Es ist aber genau diese Bundesregierung, die auf EU-Ebene den Umweltschutz und die naturnahe Bewirt-schaftung im Rahmen der Reformen zur EU-Agrar-politik von Anfang an blockieren wollte. Der ländlicheRaum braucht aber biologische Vielfalt, um touristischinteressant und erholsam zu sein.
Zweitens. Sie beklagen, dass der öffentliche Personen-nahverkehr zu wenig auf den Tourismus abgestimmt sei.Aber genau das ist das Ergebnis einer falschen Verkehrs-politik von CDU/CSU und FDP. Gerade in den Bal-lungsgebieten gibt es immer mehr Menschen, die keinAuto haben. Deshalb brauchen wir einen flächendecken-den, attraktiven und bezahlbaren öffentlichen Nahver-kehr, damit die Menschen aufs Land kommen können.
Drittens. Sie beklagen in Ihrem Antrag die rückläu-figen Besucherzahlen in den Kurorten aufgrund der Ge-sundheitsreform. Wer ist denn dafür verantwortlich,wenn nicht Sie? Mit Haushaltssanierungen auf Kostenvon Kurgästen haben Sie schon 1996 unter Ihrem ehe-maligen Gesundheitsminister Seehofer begonnen. Des-halb brauchen wir endlich wieder eine umfassende sozialeGesundheitsversorgung.
Viertens. Wir brauchen endlich Barrierefreiheit imländlichen Tourismus. Aber Menschen mit Behinderungund Familien mit kleinen Kindern und mit Kinderwagen– das hat auch der Kollege Paula schon angesprochen –kommen in Ihrem Antrag leider gar nicht vor. Da möchteich Ihnen, Frau Mortler, widersprechen. Das ist ein sehrwichtiges Thema. Die UN-Konvention über die Rechtevon Menschen mit Behinderungen hat uns mit auf denWeg gegeben, dass dieses Thema in jedem Antrag undbei jedem Aspekt berücksichtigt werden sollte.
Fünftens. Wir brauchen endlich eine ausreichendefinanzielle Ausstattung für die Kommunen. Dann ent-steht Kaufkraft, und die Kommunen können selbst denTourismus ausbauen und fördern.
Sechstens. Alle Menschen müssen es sich leisten kön-nen, überhaupt Urlaub zu machen. Gerade für die länd-lichen Räume wäre die Einführung eines flächendecken-den gesetzlichen Mindestlohns überlebenswichtig.
Wir brauchen auch Angebote für Kinder, Jugendlicheund Familien mit geringen Einkommen. Mehr noch: Ins-besondere Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger können sich Urlaub selbst in ihrer näherenUmgebung nicht leisten. Deshalb muss Hartz IV endlichweg und durch eine bedarfsdeckende, sanktionsfreie, so-ziale Mindestsicherung ersetzt werden. Dies fordert dieLinke schon lange.
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Alexander Süßmair
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Was ist das Fazit? Die schwarz-gelbe Regierung hatkein nachhaltiges Konzept für den ländlichen Raum alsGanzes. Das haben Sie selbst gerade zugegeben. Auchim Bereich des ländlichen Tourismus sehe ich nur heißeLuft. Sie halten es hier wie mit vielen anderen Politikbe-reichen auch: Aus einer durchaus kritischen Analyse ineinem Bericht leiten Sie eine Politik des Weiter-so ab;das wurde schon angesprochen. Das ist für die Linkenicht akzeptabel. Wir brauchen einen ländlichen Raum,in dem die Menschen gern leben und Urlaub machen.Dafür setzen wir von der Linken uns ein.Wenn ich noch kurz zum Antrag der SPD kommendarf. Sie kommen diesem Anliegen deutlich näher alsdie Koalitionsfraktionen.
Allerdings hätte ich mir von der SPD noch gewünscht,dass sie die Situation der Beschäftigten in der Touris-musbranche in ihrem Antrag wenigstens streift.
Ich denke, da können wir bei den Beratungen in denAusschüssen noch nachbessern.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Markus Tressel für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Touristische Entwicklungen in ländlichen Regionen, dasist eine klassische Querschnittsaufgabe. Frau KolleginMortler, auch ich muss Ihnen widersprechen: DasThema Barrierefreiheit wird in Ihrem Antrag nicht ein-mal gestreift. Das halte ich für absolut nicht sachgerecht.
Was wir brauchen, sind übergreifende Konzepte fürtouristische Entwicklungen. Wir müssen über demogra-fischen Wandel, über Verkehrspolitik, über Klimapolitik,über Energiepolitik und über viele weitere Bereiche re-den.
– Lassen Sie mich doch erst einmal weitermachen. Siebrauchen mich doch nicht schon nach 30 Sekunden zuunterbrechen.
In den Anträgen ist immer wieder, was ich sehr befür-worte, von Urlaub auf dem Bauernhof die Rede. Ichhalte das für ein ganz wichtiges Segment. Da gibt esgroße Potenziale. Ich habe jedoch die große Besorgnis,dass wir dieses umfangreiche Thema auf Urlaub auf demBauernhof verengen.
Wir haben in den ländlichen Räumen große Herausfor-derungen in unterschiedlichem Ausmaß zu bewältigen:Kaufkraftverlust, demografischer Wandel, Misere derkommunalen Haushalte und Klimaveränderung, die wirin den Mittel- und Hochgebirgen schon heute zu spürenbekommen. Angesichts dessen ist ein Weiter-so, wie espropagiert wird, nicht sinnvoll.Wir müssen uns folgende Leitfrage stellen, wenn wireine wirklich nachhaltige Entwicklung in den Destina-tionen wollen: Wie können wir über den Tourismus dieregionalen Wirtschaftsstrukturen nachhaltig verbessern?Wir haben im Moment einen sehr geringen Nettodevi-senzufluss: Von 100 umgesetzten Euro bleiben nur rund36 Euro in der Region. Das ist viel zu wenig. Deswegenmüssen wir an dieser Stelle deutlich nachlegen.Wir müssen uns weiterhin fragen: Wie wird Mobilitätnachhaltig? Die Kollegen haben es vorhin angesprochen:Die Gesellschaft wird immer älter. Wir haben auch an-dere Probleme, was die Mobilität anbelangt. Nur dort,wo Menschen auch unter den Bedingungen verändertenMobilitätsverhaltens gut hinkommen und wo sie auchwährend des Urlaubs mobil sein können, kann Touris-mus wachsen.
Im Zusammenhang mit dem Thema Entwicklung desländlichen Tourismus müssen wir auch über die Fragensprechen: Wie stellen wir den Schienenfernverkehr inder Fläche sicher? Wie können vor Ort Elektromobili-tätskonzepte entwickelt werden? Dafür gibt es gute Bei-spiele, Stichwort Best-Practice-Beispiele. Ich glaube,dass es nicht ausreicht, solche Beispiele zu sammeln.Wir müssen auch in diesem Bereich für Weiterentwick-lungen sorgen.Außerdem müssen wir über die Energiepolitik spre-chen. Landauf, landab wird über die Energiewende dis-kutiert. Ich glaube, dass das Ganze auch für die Entwick-lung des ländlichen Raumes von großer Bedeutung ist,vor allem für die – dabei habe ich jetzt nicht nur ökologi-sche, sondern auch ökonomische Aspekte im Blick –Tourismusunternehmer vor Ort; für diese Unternehmerist die Energiefrage eine besondere. Wir brauchen Kon-zepte, wie wir die Energieeffizienz voranbringen undwie wir dafür sorgen, dass ländliche Betriebe energieef-fizient aufgestellt sind, um bei steigenden Preisen imEnergiebereich wettbewerbsfähig zu bleiben.Außerdem müssen wir etwas gegen den Investitions-stau in diesem Bereich tun. In fast 80 Prozent der Land-kreise wurde ein Investitionsstau im Beherbergungsge-werbe und in mehr als 60 Prozent in der Gastronomiefestgestellt. Das alles ist verbunden mit einer Eigenkapi-talquote von 2,8 Prozent, während die Eigenkapitalquoteim Dienstleistungssektor bei knapp 20 Prozent liegt. Dabraucht es Lösungen, und dazu habe ich in den vorlie-
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Markus Tressel
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genden Anträgen wenig bis gar nichts Konkretes gele-sen. Gute Worte und Prüfaufträge helfen da nicht weiter.Auch eine Sammlung von Best-Practice-Beispielen hilftda nicht weiter, Herr Burgbacher.
Wir stehen noch vor weiteren Herausforderungen; ichhabe es vorhin angesprochen. Ich verweise auf die Mi-sere in den kommunalen Haushalten, Stichwort Betten-steuer. Die Kommunen müssen sich natürlich refinanzie-ren, wenn sie vor Ort investieren wollen – und siemüssen vor Ort investieren.Wenn wir über die Entwicklung der ländlichen Regio-nen sprechen, müssen wir uns auch mit der Frage befas-sen: Wie überwinden wir das Kirchturmdenken? Nichtjede Destination endet an den Grenzen des Landkreises.Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten.Ein weiteres Problem – das hat der Kollege Süßmairschon angesprochen – ist das Personal. Ohne Fachperso-nal wird es im ländlichen Raum keine Entwicklung ge-ben. Deswegen muss man sich die Frage stellen: Wiesieht es denn mit den Arbeitsbedingungen aus, und wiekönnen wir dem Fachkräftemangel in der Branche imländlichen Raum wirksam begegnen? Ich glaube, dasswir dazu neue Lösungen im Rahmen eines Gesamtkon-zepts entwickeln müssen.Ein Punkt, der ganz wichtig ist, ist das Marketing.Dazu ist in allen Anträgen immer die DZT angespro-chen. Ich glaube aber, dass es zu kurz gesprungen ist,stets die DZT aufzufordern, im Marketing neue Anstren-gungen zu unternehmen. Wir müssen vielmehr darübernachdenken, welche Institutionen bei der Vermarktung,etwa im Ausland, noch genutzt werden können. Da gibtes eine breite Palette. Ich glaube, es wäre auch der DZTgegenüber nur fair, nicht alles immer bei ihr abzuladen.Da sind kreative Lösungen gefragt.Sie haben landsichten.de angesprochen. Ich bin froh,dass es das in Deutschland endlich gibt, und danke denMachern außerordentlich herzlich dafür. Aber im Ge-gensatz zu dem Pendant in Österreich war es für unseredeutschen Kollegen nicht möglich, EU-Fördermittel zubekommen. Auch das ist ein Problem. Auch hier müssenwir etwas ändern.Was wir zunächst brauchen, ist eine ehrliche Be-standsanalyse. Ich glaube, das ist die Grundlage für allesdas, was wir in der Folge konzeptionell erarbeiten. Wirmüssen Hemmnisse beseitigen und den Weg für Chan-cen freimachen, bevor wir die Chancen in einem Kon-zept skizzieren. Eine Bundesstudie zu den Tourismuspo-tenzialen im ländlichen Raum kann hier wesentlicheGrundlagen legen. Deswegen befürworten wir das, wasdie SPD in ihrem Antrag gefordert hat.
Aber eines muss man an dieser Stelle auch sagen: Esist nicht überall sinnvoll, in die Förderung von Touris-mus zu investieren. Wir sprechen hier auch über Nach-haltigkeit. Da muss man sehr genau hinschauen: Wo istdas Investieren überhaupt sinnvoll? Dort, wo es sinnvollist, müssen wir vor allem über Ansätze zur Verbesserungvon Wertschöpfungsketten sprechen; denn nur dann,wenn mehr Geld in der Region bleibt, ist die Entwick-lung im ländlichen Raum nachhaltig.Wir haben als Grüne im Januar einen Fraktionsbe-schluss gefasst, in dem wir verschiedene Vorschläge ma-chen. Ich würde gern daran mitarbeiten, dass wir ent-sprechend dem Vorschlag von Herrn Paula zu eineminterfraktionellen Antrag kommen, wie es auch bei ande-ren Themen im Tourismusbereich schon gute Sitte war.Wir sollten gemeinsam versuchen, unsere Vorschlägezusammenzuführen und dann im Interesse der ländlichenRegionen in Deutschland eine gute Lösung zu finden.
Unsere Prämisse: Es muss nachhaltig sein; es musszukunftsgerichtet sein. Wenn das gegeben ist, dann se-hen Sie uns an Ihrer Seite. Das ist im Moment noch nichtgegeben. Wenn wir einen gemeinsamen Antrag hinbe-kommen, ist das umso besser.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Edmund Geisen hat nun für die FDP-
Fraktion das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen undHerren! „Das Gute bewahren und mit neuen Ideen ineine ökologisch orientierte Zukunft gehen“, das warmein Slogan seit Jahrzehnten, und er bleibt es auch.
Dieser Slogan passt auch zum Thema Ländliche Räume.Ich freue mich sehr darüber, dass die Bedeutung derländlichen Räume von der christlich-liberalen Koalitionso stark in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt wordenist. Das zeigt der aktuelle Fortschrittsbericht in seinenHandlungsschwerpunkten. Das zeigen aber auch dieEinsetzung der koalitionsübergreifenden Arbeitsgruppe„Ländliche Räume“ und die Durchführung des Kongres-ses „Ländliche Räume, regionale Vielfalt – wie gestaltenwir Zukunft?“ am 11. Juni dieses Jahres. Verehrter HerrPaula, es gibt übrigens ein Tourismuskonzept. Das wirdin vier Konferenzen vorgestellt. Ich wiederhole damit,was Staatssekretär Burgbacher eben ausgeführt hat.Unsere ländlichen Räume sind die Stützpfeiler unddas Rückgrat unserer Gesellschaft. Hier existieren nochBürgergesellschaften. Hier kann man noch von „intakterGesellschaft“ sprechen. Hier übernehmen die Bürgerin-nen und Bürger noch Verantwortung. Kurz: Die sozialenProbleme sind gering. Es gibt keine sozialen Brenn-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21735
Dr. Edmund Peter Geisen
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punkte und wenige Arbeitslose. Die Sozialbudgets wer-den am geringsten belastet.Diese Stabilität hat sehr viel mit Multifunktionalitätzu tun. Die attraktiven Kulturlandschaften sind zu be-liebten Reisezielen vieler Erholungsuchender gewordenund haben zum Auf- und Ausbau des Tourismus beige-tragen. Aber: ohne gute Landwirtschaft keine prosperie-renden ländliche Räume.
Für mich ist eine gute Infrastruktur die Voraussetzungfür florierende ländliche Räume. Diese Infrastruktur istvergleichbar mit dem Blutkreislauf des Körpers. DerKreislauf muss geschlossen sein. Lücken sind schädlichfür den gesamten Organismus.Unverantwortlich ist es deshalb für mich, dass rot-grüne Regierungen zum Beispiel in NRW und Rhein-land-Pfalz wichtige Infrastrukturmaßnahmen wie denLückenschluss der A 1 in meiner schönen Heimat, derEifel, zum Nachteil der Menschen und der Umwelt aus-bremsen.
– Nein, Sie haben durch 36 immer wieder neu geforderteGutachten die Schließung der Lücke ausgebremst. Dortbesteht eine offene Wunde an der Hauptschlagader. Dasmuss endlich aufhören.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, schnelle Lü-ckenschlüsse und notwendige Umgehungsstraßen, ver-nünftige Bahnanbindungen und schneller Breitbandaus-bau sind unabdingbare Voraussetzungen für eine guteEntwicklung,
und dafür müssen wir sorgen, wenn uns die ländlichenRäume wirklich am Herzen liegen und der Gesellschaftso wichtig sind, wie es hier zum Ausdruck kommt. Hierdrückt die christlich-liberale Koalition endlich aufsTempo wie nie zuvor. Nur so geht Zukunft.
Für einen zukunftsträchtigen ländlichen Raum kämp-fen heißt: Landwirtschaft, Tourismus und Mittelstand er-halten und stärken sowie Multifunktionalität und Da-seinsvorsorge attraktiv gestalten. Dazu gehören auchKultur- und Traditionspflege. Dafür steht ganz beson-ders die Zukunftspolitik unserer christlich-liberalen Ko-alition.Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören und wünsche Ihnenfrohe Pfingsttage. Alles Gute!
Das Wort hat der Kollege Willi Brase für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren überden Tourismus, aber auch über den Fortschrittsbericht derBundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume.Dieser Bericht enthält viele Bilder, Modelle, Projekte,Best-Practice-Beispiele. Wenn wir uns Teilbereiche derländlichen Regionen anschauen, dann finden wir diesenicht wieder.
Für das Minimodellprojekt „LandZukunft“ werden ins-gesamt 9 Millionen Euro für den Zeitraum 2011 bis 2014angesetzt. Auf der anderen Seite werden die Haushalts-mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung derAgrarstruktur und des Küstenschutzes“ um 100 Millio-nen Euro gekürzt.
– Nicht nur unerhört, Herr Kollege. So kann man keinevernünftige Entwicklung der ländlichen Räume voran-bringen.Wir erfahren von der EU, dass die unterschiedlichenFördertöpfe nebeneinander herlaufen und dass es keineintegrierte, aufeinander abgestimmte Politik gibt. Dasmuss man kritisieren. Auch die Perspektive „Europa2020“ sieht als Ziel vor, die Weiterentwicklung einer in-tegrierten gemeinsamen regionalen Politik auf den Wegzu bringen. Das halte ich für richtig und notwendig.
In meiner Fraktion hatten wir kürzlich eine Debatteüber die Situation im Bereich der Intensivtierhaltung.Mittlerweile muss man in Deutschland von Schlachttou-rismus reden. Dänische Unternehmen bringen ihreSchweine nach Deutschland, weil Deutschland in die-sem Bereich ein absolutes Billiglohnland ist.
Ich sage deutlich: Es ist eine Schande, dass in unseremLand rumänische Werkvertragsarbeitnehmer für 2,78 Euroin der Stunde arbeiten müssen. Sie bekommen 3 EuroAuslöse pro Tag und müssen davon Ernährung, Klei-dung und Unterkunft bezahlen. Es ist eine Schande fürdieses Land. Das gehört endlich geändert, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Es wird Sie nicht verwundern, wenn ich sage, dass dortder Mindestlohn notwendig und richtig wäre; das brau-che ich gar nicht zu erklären. Er würde den Menschen
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21736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Willi Brase
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helfen, und wir könnten tatsächlich von einer sozialenMarktwirtschaft reden.
Gehen wir zum Tourismus im Hotel- und Gaststätten-bereich über. Es klang eben ein bisschen an: Alle Statis-tiken weisen heute aus, dass die Hälfte aller Beschäftig-ten im DEHOGA-Bereich auf der Basis von Minijobsarbeiten. Was sind das für Zukunftsperspektiven? DieseMenschen kommen später an und brauchen die Grund-sicherung, die wir alle bezahlen müssen. Das ist der fal-sche Weg. Hier müssen dringend Änderungen her.
Gehen wir weiter: Im Fortschrittsbericht wurde auchausgeführt, dass es einen Nationalen Pakt für Ausbil-dung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland gibt.Das ist richtig. Die Ausbildungsplatzzahlen – das kannich als Berichterstatter eindeutig bewerten – haben sichverbessert. Aber in den ländlichen Regionen sind immernoch gut 300 000 junge Leute in Übergangsmaßnahmen.Wo ist eigentlich das Konzept der Bundesregierung fürdie jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren, diekeinen Berufsabschluss haben? Sie haben das Problemim Pakt selber beschrieben und schreiben: Wir wollendiesen Pakt weiterentwickeln. Wo ist das Konzept, damitdiese jungen Leute endlich qualifiziert werden, damitwir im Fachkräftebereich auch im ländlichen Raum end-lich nach vorne kommen?
Der Bund der Deutschen Landjugend ist mittlerweileauf dem Weg und sagt: Wir stehen im ländlichen Bereichin Konkurrenz zu industriellen gewerblichen Strukturen,und wir möchten, dass ein Qualifizierungsfonds aufge-legt wird; wir wollen also Angebote für junge Menschenauf hohem qualifikatorischem Niveau auf den Weg brin-gen. – Das halten wir für gut. Es gibt das schon inSchleswig-Holstein, im Baubereich – das ist bekannt –und im Gerüstbaubereich. Es wäre gut, wenn die Bun-desregierung dies ein Stück weit aufgreifen würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns dieSituation der jungen Frauen im ländlichen Bereich an.Da gibt es drei Aspekte, die man beachten muss:Erstens. Die Entgeltlücke zwischen Männern undFrauen beträgt grundsätzlich im Durchschnitt immernoch 23 Prozent zulasten der Frauen. Im ländlichen Be-reich ist die Lücke teilweise um 10 Prozentpunkte grö-ßer.Zweitens. Wir wissen, dass wir auch im ländlichenBereich Kinderbetreuungseinrichtungen brauchen; dorthaben wir Defizite. Ich kann es Ihnen heute hier nicht er-sparen: Es ist der völlig falsche Weg, dann das Betreu-ungsgeld auf den Weg zu bringen, um Partikularinteres-sen der CSU zu befriedigen; er führt in die Irre.
Die jungen Frauen haben etwas anderes, etwas Besseresverdient.Drittens. Wir haben die Abwanderung der jungenMenschen aus den ländlichen Räumen. Teilweise istdiese sehr groß. Nur noch 80 junge Frauen kommen auf100 junge Männer: Vor allem in Ostdeutschland erlebenwir solche Verwerfungen. Auch hier entdecke ich wenigbis gar nichts Konzeptionelles.Was ist zu tun? Ich glaube, dass wir Entwicklungs-konzepte entwickeln und auf den Weg bringen müssen.Wir haben dazu in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass wirso etwas wie regionale Strukturpolitik brauchen. Es gibtländliche Räume, die sehr stark industrialisiert sind, indenen es sowohl Landwirtschaft – Grünland – und Tou-rismus als auch starke industrielle mittelständische Un-ternehmen gibt. Ich verweise auf Südwestfalen. DerHinweis im Fortschrittsbericht, dass das überwiegend inSüddeutschland der Fall ist, ist nicht ganz richtig.Schauen Sie sich die deutsche Landkarte an: Die Situa-tion hat sich verbessert; das Phänomen hat sich verbrei-tert. Es hat sich deshalb verbessert und verbreitert, weilwir mit der regionalen Strukturpolitik alle Aspekte länd-licher Entwicklung ins Visier nehmen. Es fängt an beiTourismusprojekten; es hört auf bei der Qualifizierungder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist gut,dass es immer wieder Bundesländer gibt, die neue Fach-oberschulen gründen, um einen vernünftigen Wissens-transfer auf den Weg zu bringen.Es gibt also eine Menge zu tun. Die Daseinsvorsorgeund die Infrastruktur sind angesprochen worden. Das istwichtig; da müssen wir den Kommunen helfen. Ich sagehier: Es ist gut, dass die Gemeindefinanzreform schei-terte, dass die Gewerbesteuer bleibt. Gerade jetzt, inwirtschaftlich guten Zeiten, erweist sie sich als eine guteSache.
Also: Weniger Hochglanz, mehr tun!Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Christoph Poland hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wird jetztetwas weniger gewerkschaftlich. Die Bundeskanzlerin
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Christoph Poland
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hat 2007 erkannt, welche politische und ökonomischeBedeutung dem ländlichen Raum zukommt. In Deutsch-land lebt rund die Hälfte aller Menschen in ländlichenRäumen. Die demografische Entwicklung zwingt uns, zuhandeln.Die Bundesregierung hat mit der Arbeitsgruppe„Ländliche Räume“ richtig reagiert. Vorrangiges Ziel derArbeitsgruppe ist die Stärkung des ländlichen Raums alseigenständiger Wirtschafts- und Lebensraum. Er leisteteinen wichtigen Beitrag zur Erhaltung gleichwertigerLebensverhältnisse in Deutschland. Die Bundesregie-rung hat drei Handlungsfelder identifiziert: Wirtschaftund Arbeit, Daseinsvorsorge und ländliche Infrastruktu-ren sowie Natur und Umwelt. Diese übergreifende Stra-tegie stärkt die ländliche Region als lebenswerte Räume.Ein Schwerpunkt liegt auf der Bildung und Ausbil-dung von Fachkräften. Im Zusammenhang mit der Wirt-schaftsförderung und mit besseren Finanzierungsmög-lichkeiten für Gewerbetreibende ergibt sich der Ausbauvon Tourismuspotenzialen. Gerade Bildung muss sichregional und arbeitsmarktorientiert entfalten. Mit neuenFinanzierungsinstrumenten ist sie das Fundament für dieStabilisierung von Wirtschaft, Kultur und Tourismus.
Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zeigt,dass die formulierten Ziele bereits umgesetzt werdenund die ländlichen Räume davon profitieren. Ein Bei-spiel ist das Konjunkturpaket II, mit dem Finanzhilfenfür Investitionen der Kommunen und der Länder bereit-gestellt wurden. Außerdem wurden die Gemeinschafts-aufgaben „Verbesserung der regionalen Wirtschafts-struktur“ und „Verbesserung der Agrarstruktur und desKüstenschutzes“ ausgebaut.Ein weiteres Beispiel ist das Modellprojekt „LandZu-kunft“. Dieses Projekt fördert regionale Unternehmen inperipheren Regionen mit einer ungünstigen Alters- undWirtschaftsstruktur und ist ein erster Schritt zur wirt-schaftlichen Stabilisierung. Kleinunternehmer und Exis-tenzgründer im ländlichen Raum können über einenMikrokreditfonds Kredite bis zu einer Höhe von20 000 Euro aufnehmen. Auf diese Weise haben Unter-nehmen und Existenzgründer bereits mehr als1 800 Klein- und Kleinstkredite erhalten. Das ist ein Vo-lumen von über 10 Millionen Euro Kreditsumme.Die Bemühungen der Bundesregierung zeigen Wir-kung. Die Zahl der Breitbandanschlüsse wurde seit 2003vervierfacht. Damit liegt Deutschland um 42 Prozentüber dem europäischen Durchschnitt, wenn wir auchnoch nicht in jedem Bereich zufrieden sind.Seit 1. Januar 2012 ist das Versorgungsstrukturgesetzin Kraft. Zu Beginn dieses Monats meldete die Kassen-ärztliche Vereinigung den erfolgreichen Stopp des Ärzte-schwunds auf dem Land.
Als Grund gibt die Vereinigung die Aufhebung der Al-tersgrenzen an sowie bessere Möglichkeiten, Mitarbeitereinzustellen. Das ist ein wirklicher Erfolg für die Land-bevölkerung.Auch die Energiewende vollzieht sich auf dem Land.Erneuerbare Energien sind Landenergien. Ein großerBeitrag wird dezentral im ländlichen Raum geleistet. So-wohl Bioenergie als auch Sonnen- und Windenergie, da-rüber hinaus Geothermie beanspruchen Fläche – Flächender Landwirte und Waldbesitzer. Problematisch ist derdamit verbundene Ausbau der Energieleitungen, die denFlächenverzehr anheizen. Deshalb muss man sich derKampagne „Stoppt Landfraß“ des Bauernverbandes an-schließen. Der Verlust von wertvollem Ackerland, einerunserer wertvollsten Ressourcen, muss eingedämmtwerden, denn der Landwirt ist zugleich Landschaftspfle-ger. Damit schützt er die Natur und pflegt sie auch fürdie Touristen. Die Landwirtschaft ist die tragende Säuleder ländlichen Räume. 50 Prozent der Flächen sind land-wirtschaftliche Flächen.In Verbindung mit Kultur auf dem Land und Touris-mus auf dem Land ergibt sich ein attraktiver ländlicherRaum. Ich selbst stehe als ein beredtes Beispiel dafür.Seitdem mein „LandKulturHof“ funktioniert, kennenviele Leute in der Umgebung das Dorf; die Touristenkommen von weit her. Es ist wichtig, dass Landwirte ler-nen, ihre Höfe zu vermarkten, jedoch nicht nur im Be-reich „Ferien auf dem Bauernhof“ oder als Kuschelzoosmit Kühen zum Anfassen.
Vielmehr sollen die Menschen reale Landwirtschaft erle-ben.Zur Kampagne „Stoppt Landfraß“. Wir müssen alleVerantwortlichen – BVVG, Landgesellschaften undLandräte – aufrufen, darauf zu achten, dass möglichstnur tätige Landwirte Land erwerben können. Bodenspe-kulationen schaden der Landwirtschaft. Wir brauchen le-bensfähige Hofstrukturen.Ebenso wichtig ist das Thema Hochkultur im ländli-chen Raum. Sie ist unverzichtbar. Weiche Standortfakto-ren ziehen Touristen und Bürger an. Der Wirtschafts-journalist Ralph Bollmann schreibt in seinem BuchWalküre in Detmold über die kleinen Theater im ländli-chen Raum. Er stellt fest, dass Deutschlands Musik-theater doppelt so viele Besucher haben wie die Bundes-liga. Das muss man sich einmal vorstellen: 20 Millionenverkaufte Tickets in den kleinen Theatern im ländlichenRaum, die wir aus der absolutistischen Zeit geerbt ha-ben.
Die Bundesregierung hat mit der Arbeitsgruppe„Ländliche Räume“ den Grundstein für die Zukunfts-fähigkeit der Region außerhalb der Ballungszentren ge-legt. Die Probleme wurden identifiziert und Lösungenerarbeitet. Durch die Umsetzung der genannten Maßnah-men wird der ländliche Raum bereits heute gefördert.Wir arbeiten daran, dass er kulturell und ökonomisch at-traktiver wird und jungen Menschen auch in Zukunfteine Perspektive bietet.Herzlichen Dank.
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Der Kollege Ingbert Liebing hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Fraktionskollegin Marlene Mortler hatte eingangsgeschildert, welch positiven Beitrag die Tourismuswirt-schaft für die Entwicklung der ländlichen Räume leistet.Sie hat die positiven Ansätze, die vielen Initiativen dervergangenen Jahre geschildert, die dazu beigetragen ha-ben, diesem touristischen Segment zu einer Erfolgs-geschichte zu verhelfen.
Es wurde deutlich, dass wir in Bezug auf die touristischeEntwicklung schon sehr weit fortgeschritten sind. Aberder Tourismus in den ländlichen Räumen hat über denBeitrag zur Tourismusentwicklung hinaus noch beson-dere Bedeutung für die Entwicklung der ländlichenRäume insgesamt.
Die ländlichen Räume stehen jetzt und in den nächs-ten Jahren noch viel mehr vor besonderen Herausforde-rungen. Wir kennen die Entwicklung der Demografie:die Bevölkerung schrumpft, sie wird älter. Es lebenimmer weniger Menschen in den ländlichen Räumen.Die Gesichter unserer Dörfer verändern sich: DemKaufmann fehlen die Kunden, dem Arzt fehlen die Pa-tienten und den Schulen fehlen die Kinder. Junge Fami-lien, die sich nach einer neuen Heimat umsehen, sagen:Da ziehen wir doch nicht hin! Sie verlassen die ländli-chen Räume, und der ländliche Raum dünnt dadurch zu-nehmend aus. Das ist sicherlich nicht überall der Fall.Die ländlichen Räume sind vielfältig, aber im Osten fin-det diese Entwicklung schon viel früher und heftigerstatt als anderswo. So entwickelt sich eine Teufels-spirale, die Entwicklung geht nach unten.Früher hatten wir eine gegenteilige Entwicklung. Manhat eher von der Flucht aus den Städten auf das Land ge-sprochen. In den Dörfern wurden Neubaugebiete fürjunge Familien ausgewiesen, heute haben wir eine um-gekehrte Entwicklung. Die Auswirkungen des demogra-fischen Wandels sind angekommen. Wir werden ihnnicht aufhalten und erst recht nicht umkehren können.Angesichts dieser Entwicklung müssen wir stabilisie-rend auf die ländlichen Räume wirken, indem wir neueEntwicklungen anregen und neue Anreize setzen. Wirmüssen aber auch dort Anpassungen vornehmen, wo wirbestimmte Entwicklungen nicht verändern können.Im „Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Ent-wicklung ländlicher Räume“ wird auf die genanntenEntwicklungen Bezug genommen und deutlich gemacht,in welchen Bereichen sich die Bundesregierung den an-stehenden Aufgaben stellt und handelt. Mein Fraktions-kollege Christoph Poland hat dies eben herausgearbeitet.Wir als Koalitionsfraktionen nehmen diese Aufgabesehr ernst. Die Tatsache, dass die Führungen der Koali-tionsfraktionen eine gemeinsame Koalitionsarbeits-gruppe eingesetzt haben, zeigt, dass wir diesem Themaeine besonders hohe Bedeutung beimessen.
Die heutige Debatte ist ebenfalls ein Beitrag dafür. DerKoalitionsantrag zum Tourismus in den ländlichen Räu-men zeigt auch, dass wir gerade diesem Aspekt eine be-sondere Bedeutung beimessen und Aufmerksamkeitwidmen. Wenn wir nicht nur reagieren, sondern selberhandeln, steuern und gestalten wollen, müssen wir – dasvor allem ist unser übergeordnetes Ziel – Gleichwertig-keit von Lebensverhältnissen in Stadt und Land errei-chen. Dabei setzen wir darauf, die Potenziale der Regio-nen, die wir nutzen wollen, anzureizen und zu wecken.Wir wollen die eigenen Kräfte in den Regionen unter-stützen, damit sie ihre Möglichkeiten zum Ausdruckbringen können. Auch da wiederum spielt der Tourismuseine entscheidende Rolle. Dies macht unser Antrag mitseinen Inhalten deutlich. Auch der Kongress, der in we-nigen Wochen hier in diesem Hause durch die Koali-tionsfraktionen veranstaltet wird, macht das deutlich.Dabei ist der Tourismus in den ländlichen Räumen einervon drei Schwerpunktbereichen.Mir liegt aber auch sehr daran, aufzuzeigen, dass dieskein Gegensatz zu einem städtischen Tourismus seinmuss. Wir wissen, dass der städtische Tourismus in denletzten Jahren einer der Wachstumsmotoren gewesen ist.Es geht aber nicht um ein Gegeneinander und auch nichtum ein Entweder-oder in Bezug auf die Frage, was wirstärker fördern müssen, sondern es geht um beides. Wirmüssen alle Regionen, Ansätze und Segmente ihrenPotenzialen entsprechend fördern und unterstützen.
Was für den Tourismus gilt – sowohl der ländlicheTourismus als auch der städtische Tourismus sollen imRahmen ihrer Möglichkeiten unterstützt werden –, dasgilt für die Regionalentwicklung gleichermaßen. Wennwir für eine Unterstützung, eine Förderung der ländli-chen Regionen werben, heißt das nicht, dass das zulastender Städte gehen muss, sondern es geht um einen fairenInteressenausgleich und, wie ich eingangs sagte, darum,die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in städti-schen und in ländlichen Regionen sicherzustellen. Wirmüssen uns aber darum kümmern, dass es auch im länd-lichen Raum funktioniert. Deshalb müssen die Voraus-setzungen bzw. die Rahmenbedingungen für den Touris-mus geschaffen werden. Dazu will ich drei von vielenStichworten nennen.Das Stichwort Mobilität ist mir – gerade im Hinblickauf den Tourismus in den ländlichen Regionen – wich-tig; denn die Gäste müssen auch in die ländlichen Regio-nen hinkommen. Die Verkehrsanbindung ist wichtig.Das gilt für Straße wie für Schiene, aber auch für dieMobilität innerhalb der ländlichen Räume selbst; denndie Gäste wollen sich bewegen und die Gegend erkun-
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Ingbert Liebing
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den. Deswegen reicht es nicht – das sage ich ausdrück-lich an die Adresse der Grünen –, hier nur Mobilität zufordern, sondern man muss konkret werden, wenn es umdie einzelnen Projekte geht. Dann darf man nicht einfachimmer nur dagegen sein.
Als zweites Stichwort nenne ich die Breitbandversor-gung. Ich möchte ausdrücklich das loben, was die Bun-desregierung mit ihren Initiativen dazu auf den Weg ge-bracht hat. Wir als Koalitionsfraktionen werden dazu inKürze noch weitere Vorschläge vorlegen. Breitbandver-sorgung bzw. schnelles Internet ist das A und O für dieEntwicklung in den ländlichen Regionen. Das gilt ge-rade auch für den Tourismus. Darauf sind die Vermieterangewiesen, die wie selbstverständlich ihre Angeboteins Internet einstellen. Onlinebuchbarkeit ist heute zwin-gende Voraussetzung. Das gilt aber auch für die Gäste.Natürlich wollen die Gäste auch im Urlaub chatten, sky-pen und ihre E-Mails empfangen. Wenn es die Elternnicht wollen, dann erwarten es mindestens die Kinder.Wir wissen doch selber, wie es ist: Am Ende bestimmenoft genug die Kinder die Urlaubsplanung der Familie.Breitbandausbau ist zwingende Voraussetzung. Dafürtun wir viel über die GAK und das Telekommunikations-gesetz.
Unser Ziel ist es, bis 2018 eine flächendeckende Versor-gung mit mindestens 50 MBits zu erreichen. Das werdenwir auch schaffen.Ich nenne als drittes Stichwort die Infrastrukturförde-rung auch für den Tourismus. Zurzeit werden die Wei-chen auf europäischer Ebene neu gestellt. MarleneMortler hat bereits das Stichwort EFRE genannt. Geradein den ländlichen Räumen brauchen wir eine gute Infra-struktur, um qualitativ hochwertige Standards zugewährleisten und immer wieder neue Angebote zuschaffen. Dabei ist gerade das Element der investivenTourismusförderung über EFRE von Bedeutung. DieBundesregierung setzt sich dafür ein. Wir unterstützensie dabei.Meine Damen und Herren, unser Ziel ist es, Men-schen in den ländlichen Räumen zu halten, ihnen Le-bens- und Zukunftsperspektiven zu bieten. Dafür brau-chen sie Arbeitsplätze. Der Tourismus in den ländlichenRäumen kann diesbezüglich einen wichtigen Beitragleisten.Die Menschen brauchen aber mehr als Arbeit. Sie fra-gen nach Lebensqualität, auch nach Möglichkeiten zurVerbindung von Arbeit und Familie. Das, was wir früherals weiche Standortfaktoren bezeichnet haben, Bildung,Kindergarten, Schule, soziale Infrastruktur und kultu-relle Angebote, wird zunehmend zu harten Standortfak-toren im Wettbewerb. Die ländlichen Regionen müssenversuchen, Schritt zu halten. Das ist bei einer zurückge-henden Bevölkerungsdichte nicht einfach. Aber es sindgenau diese Faktoren, nach denen die Menschen ent-scheiden, wo sie Zukunftsperspektiven für sich und ihreFamilien sehen.Wenn wir den Menschen in den ländlichen RäumenZukunftsperspektiven bieten wollen, dann müssen wirdie regionale Entwicklung im Zusammenhang sehen.Das ist die Voraussetzung für eine gute touristische Ent-wicklung in den ländlichen Regionen. Wenn Sie von derOpposition dies einfordern, dann kann ich Ihnen nur denRat geben: Schauen Sie sich die Papiere genau an. So-wohl in unserem Antrag als auch in dem Bericht, den dieBundesregierung vorlegt, steht genau das. Darin wirdaufgezeigt, dass wir die integrierte Regionalentwicklungzum Schwerpunkt unserer Arbeit machen.
Das, was Sie heute lautstark einfordern, tun wir bereits.Wir handeln.
Wir widmen uns dem ländlichen Raum, damit dieMenschen eine Zukunftsperspektive in ihrer Heimat undfür ihre Heimat bekommen. Dafür arbeiten wir.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/9570, 17/9571 und 17/8499 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten GarreltDuin, Hubertus Heil , Rolf Hempelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFür ein konzeptionelles Vorgehen der Bundes-regierung bei der Energiewende – MasterplanEnergiewende– Drucksache 17/9729 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht der Bundesregierung über die Umset-zung des 10-Punkte-Sofortprogramms zumEnergiekonzept– Drucksache 17/9262 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
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Vizepräsidentin Petra Pau
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c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu demAntrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, SylviaKotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENEin Jahr Fukushima – Die Energiewende mussweitergehen– Drucksachen 17/8898, 17/9779 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Georg NüßleinMarco BülowMichael KauchDorothée MenznerBärbel HöhnNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeGarrelt Duin für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben das Thema Energiewende heute auf die Ta-gesordnung gesetzt, weil wir der festen Überzeugungsind, dass es in politischer und handwerklicher Hinsichtdringend an der Zeit ist, einen Masterplan für die Ener-giewende vorzulegen.Ich will zu Beginn in Erinnerung rufen, dass wir nichterst vor einem Jahr mit der Energiewende in Deutsch-land angefangen haben. Vor mehr als zehn Jahren hat diedamalige Bundesregierung die Maßnahmen ergriffen,die notwendig sind,
um aus der Nutzung der Atomkraft auszusteigen unddem Bereich der erneuerbaren Energien in Deutschlandeine wirkliche Chance zu geben.
Das war der richtige Weg.
Diese Entwicklung haben Sie von der Koalition durcheine Pirouette vorübergehend zum Stillstand gebracht.Der damalige Energiekonsens wurde nicht von denHerren Röttgen, Rösler und Pofalla erarbeitet, sondern vondem damaligen Wirtschaftsminister Müller, dem damali-gen Umweltminister Trittin und vor allen Dingen dem da-maligen Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier.
Damals wurde nicht in Ethikkommissionen oder aufGipfeln irgendetwas gemacht, sondern – das ist der Un-terschied zu heute – es wurde wirkliche Kärrnerarbeitgeleistet. Es wurde detailliert geschaut, was zu machenist, und genau daran mangelt es im Jahr 2012 bei dieserBundesregierung.
Vor wenigen Wochen, Ende April, hat MatthiasKurth, der ehemalige Chef der Bundesnetzagentur, inder Süddeutschen Zeitung einen Namensartikel veröf-fentlicht. Er begann mit einem Bonmot. Das darf ichnoch einmal in Erinnerung rufen – ich darf zitieren –: Ersagte, jedes Projekt bestehe aus fünf Phasen – dieserWitz kursiere unter den Planern –, „erstens der Begeiste-rung, zweitens der Verwirrung, drittens der Ernüchte-rung; dann folge viertens die Suche nach Schuldigen undfünftens die Bestrafung von Unschuldigen sowie die Be-lobigung von Unbeteiligten.“ Als Matthias Kurth diesam 27. April 2012 schrieb, dachte er, wir seien in Phasedrei. Inzwischen sind wir, wie wir seit den Ereignissen inden letzten Tagen alle wissen, in Phase fünf angekom-men. Das ist aber kein gutes Zeichen; ich möchte wiederetwas Ernst in diese Debatte zurückbringen. Es zeigt,dass Sie nicht handwerklich ordentlich diese Kärrnerar-beit leisten. Sie machen nur Showveranstaltungen, zumBeispiel Gipfel, und sagen dann: Oh, wir treffen uns ineinem halben Jahr wieder. – Dadurch geht viel zu vielZeit ins Land. Es ist jetzt notwendig, einen Masterplanfür die Energiewende in Deutschland und in Europa vor-zulegen.
Sie beklagen das ja selbst. Herr Kauder sagte in dieserWoche: „Wir brauchen jetzt eine Regierung, die starkund handlungsfähig ist.“ Das wünschen wir uns schonseit einiger Zeit. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Er-kenntnis. Sie kommt ein bisschen spät. Ich möchte Ihnenan einigen Punkten deutlich machen, worum es bei ei-nem solchen Masterplan, wie wir ihn fordern, geht.Es geht erstens um die Koordinierung der Energie-wende. Eine bessere Koordination der federführendenRessorts Wirtschaft und Umwelt ist dabei dringend not-wendig. Nicht nur wir kritisieren die bisherige Koordi-nation. Auch Ihr stellvertretender FraktionsvorsitzenderMichael Fuchs sagte vor einer Woche, die Zusammenar-beit beider Häuser sei zuletzt nicht optimal gewesen.Das ist weit untertrieben. Um es auf den Punkt zu brin-gen: Es knackt doch an jeder Stelle.Zweitens geht es um die Bund-Länder-Koordinie-rung. Herr Oettinger sagte: Die Energieversorgungskon-zepte der 16 Bundesländer und des Bundes sind nichtaufeinander abgestimmt. Hinzu kommen tausend kom-munale Energieversorgungspläne. Da geht zu viel durch-einander. Selbst Herr Rösler sagt, es sei nicht hilfreich,wenn 16 einzelne Länder eigene Konzepte vorlegen. Wirbräuchten eine bessere Synchronisation. Jetzt hören wiraus Bayern, dass ein noch zu gründendes Bayernwerk inZukunft eine ganz wichtige Rolle spielen könnte. Aberes ist doch die Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers,
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Garrelt Duin
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des Bundesumweltministers und des Kanzleramtsminis-ters – mindestens diese drei sind dafür verantwortlich –,diese Koordinierung in die Hand zu nehmen und nichtdarauf zu warten, dass sie irgendwann vom Himmelfällt.
Genauso wichtig ist die Einbettung in den europäi-schen Kontext. Die Einbettung unseres nationalen Ener-giekonzeptes in den europäischen Kontext ist doch über-fällig. Auch daran fehlt es. Ich bin mir gar nicht sicher,ob Herr Rösler in den letzten Monaten überhaupt einmalin Brüssel gewesen ist, um dort zielführende Gesprächezu diesem Thema zu führen. Jeder, der sich mit demThema auseinandersetzt, weiß, wie wichtig es wäre, aufder europäischen Ebene zu agieren.Das Dritte, das wir einfordern und das in einem sol-chen Energiemasterplan enthalten sein sollte, ist ein Mo-nitoring. VCI-Präsident Klaus Engel hat diese Konzept-losigkeit bei der Energiewende mehrfach angeprangert,zuletzt im April. Er sagte – ich zitiere wörtlich –: „Dasvon der Bundesregierung beschlossene Monitoring eig-net sich zwar gut als Fahrtenschreiber, aber als Naviga-tionssystem taugt es nicht.“ Wozu hat man denn einMonitoring? Man hat es doch, um die nächsten Schritteaus den daraus resultierenden Ergebnissen abzuleiten.Wir brauchen ein Navigationssystem. Bei dem von unsgeforderten Masterplan geht es darum, ein Projekt-management aufzusetzen, um die Dinge, die so vielfältigsind – das wissen wir alle –, miteinander zu verknüpfenund auf die geeignete Bahn zu setzen.Viertens geht es um Kommunikation. Auch diesenPunkt beginne ich mit einem Zitat, in diesem Fall vomDIHK-Präsidenten Driftmann vom 14. Mai. Er sagte:Die Kommunikation ist hundsmiserabel. Wenn maneine solche radikale Idee– er meint die Energiewende –umsetzen will, muss man dafür vor Ort intensivwerben.Ich erlebe viele Kollegen von CDU, CSU und FDPvor Ort und auch auf verschiedenen Podiumsdiskussio-nen, die genau das Gegenteil tun, indem sie immer nochzum Ausdruck bringen, dass sie die Energiewende ei-gentlich von Herzen bedauern und dass sie im Grundegar nicht so gut finden, was hier gemeinsam beschlossenworden ist. Mit einer solchen Haltung kommt man nichtvoran. Wenn Sie sich selbst und Ihre Vorschläge diskre-ditieren, werden Sie die Akzeptanz in der Bevölkerungnicht erreichen. Sie müssen anders agieren.
Ich sage zum Schluss: Wir brauchen Planungssicher-heit für die Unternehmen. Wir brauchen Sicherheit fürdie Bürgerinnen und Bürger, sie müssen wissen, dassdiese Energiewende funktioniert. Das muss man mit ei-ner entsprechenden Haltung verkörpern. Man muss sa-gen: Es ist politisch, administrativ und auch technischmachbar. Wir wollen die nächsten Schritte gehen. Manmuss den Leuten und auch den Unternehmen inDeutschland klar sagen, wohin die nächsten Schritte füh-ren. Daran mangelt es absolut in dieser Bundesregie-rung. Sie haben noch kein Konzept. Herr Seehofer hatdas im Übrigen erkannt. Er hat nämlich gesagt: Wirbrauchen einen Plan für die Energiewende. – HerrSeehofer würde unserem Antrag, in dem wir einen Mas-terplan von Ihnen fordern, hier und heute also zustim-men. Ich hoffe, Sie, liebe Mitglieder der Koalition, wer-den das auch tun.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Duin, Sie haben in gewisser Weise ein Ei-gentor geschossen, als Sie darauf hingewiesen haben,dass die Energiewende schon vor zehn Jahren eingeleitetworden ist.
Ich kann mich erinnern, dass Rot-Grün kein Energiekon-zept zustande gebracht hat.
Sie sprachen von einem Energiekonsens. Es gab damalszwar viel beschriebenes Papier. Daraus ist aber nichtsentstanden.
Das Konzept für eine wirkliche Energiewende habenwir letztes Jahr hier im Deutschen Bundestag beschlos-sen.
An dieser Diskussion haben auch Sie sich lange betei-ligt. Insofern: Wenn Sie im Hinblick auf die Energie-wende auf Rot-Grün hinweisen, zeigen Sie aus meinerSicht in die falsche Richtung.
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21742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Andreas G. Lämmel
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In der Überschrift des Antrags der Grünen heißt es:„Die Energiewende muss weitergehen“.
Ich würde Ihnen empfehlen, diesen Saal und Ihre Bürosgelegentlich einmal zu verlassen und sich die Situationin unserem Land anzusehen. Was heißt „weitergehen“?Die Energiewende ist in vollem Gange.
Wenn Sie das nicht wahrnehmen wollen, dann kann ichIhnen nicht helfen.
Ich will Ihnen dennoch einige Fakten nennen, umdeutlich zu machen, welche Prozesse gerade stattfinden,damit Sie sehen, was für ein Bündel von Maßnahmenbereits eingeleitet worden ist, um die Energiewende – sieist ja eines der größten Projekte der neueren deutschenGeschichte – voranzutreiben.
– Ja, ja. Sie lachen. Sie wissen aber ganz genau, dass esso ist, Herr Hempelmann. Es ist ja nicht so, dass man einAtomkraftwerk ausschaltet, ein paar Solarzellen ansNetz bringt, und schon ist die Welt heil.
Die Umstellung eines Energiesystems, das über Jahrhun-derte gewachsen ist, ist mehr als das, was Rot-Grün vorzehn Jahren zu Papier gebracht hat.
Meine Damen und Herren, ein Schlüssel zur Energie-wende ist die Energieeffizienz. 40 Prozent des Energie-bedarfs entfallen auf Wohngebäude. Die christlich-libe-rale Koalition will diesen sogenannten schlafendenRiesen natürlich wecken, und zwar durch Anreize undnicht durch Zwang, so wie es die linke Seite dieses Hau-ses immer wieder propagiert. Zur Hebung der Energieef-fizienz verfolgen wir den Dreiklang aus CO2-Gebäudes-anierung, Mietrechtsänderungsgesetz und steuerlicherFörderung, die ich im Übrigen für enorm wichtig halte.Wenn man sich das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm ansieht, stellt man fest: Es ist eine wirtschafts-politische und eine klimapolitische Erfolgsgeschichte.Von 2006 bis 2010 wurden seitens der Kreditanstalt fürWiederaufbau über 900 000 Kredite bewilligt. Damitkonnten 2,4 Millionen Wohnungen in Deutschland ener-gieeffizient umgebaut werden.
Durch dieses Programm konnten 340 000 Arbeitsplätzein Deutschland gesichert oder neu geschaffen werden –alles Arbeitsplätze, die nicht exportiert werden können.Die Mietrechtsnovelle ist vom Bundeskabinett be-schlossen worden.
Sie wird den Bundestag in den nächsten Tagen errei-chen. Dann werden wir sicherlich auch hier darüber dis-kutieren. Die Mietrechtsnovelle ist notwendig, um dasEnergieeffizienzprogramm umsetzen zu können.Das dritte Element ist die steuerliche Förderung vonenergetischen Sanierungsmaßnahmen. An dieser Stellekann man deutlich sehen, wie ernst Sie es mit der Unter-stützung der Energiewende wirklich meinen. Denn die-ses Gesetz, hier im Deutschen Bundestag beschlossen,liegt beim Bundesrat – es liegt und liegt und liegt –,
weil rot-grün regierte Bundesländer nicht bereit sind, ei-nen eigenen Beitrag zu leisten, um das Energieeffizienz-programm zum Erfolg zu führen. Das ist Ihre Politik,meine Damen und Herren.
So versuchen Sie, die Energiewende mit kleinen Nadel-stichen zu behindern. Herr Duin, ich wäre an Ihrer Stelleetwas vorsichtiger. Schauen Sie erst einmal in Ihre Rich-tung, bevor Sie in die Richtung der Bundesregierungschauen.Der zweite große Baustein ist der Ausbau der erneu-erbaren Energien. Keiner kann in Zweifel ziehen, dassdieser in den letzten vier bis fünf Jahren ein großer Er-folg war. Man braucht sich bloß umzugucken. In der So-larindustrie sind jetzt Anlagen mit 21 Gigawatt am Netz.Heute scheint die Sonne. Im Moment braucht zwar nie-mand den Strom, aber der Strom wird erzeugt. Das warin den letzten drei Jahren ein gigantisches Zubaupro-gramm.
Natürlich haben wir auch die Kehrseite zu betrachten,denn der gigantische Zubau im Bereich der Solarindus-trie führt auch zu gigantischen Belastungen der Strom-kunden.
Wir werden es sehen. Im Herbst dieses Jahres werdendie neuen Zahlen im Zusammenhang mit der EEG-Um-lage vorgelegt. Wir werden dann sehen, was die Kehr-seite der Medaille ist. Daher haben wir uns entschlossen,das Erneuerbare-Energien-Gesetz zu novellieren. Auch
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Andreas G. Lämmel
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hier kann man sagen: Von Ihrer Seite kam nichts Kon-struktives. Im Gegenteil, Sie wollten das Erneuerbare-Energien-Gesetz noch ausweiten. Auch das steht völligim Widerspruch zu dem, was Sie sonst erzählen.
Meine Damen und Herren, ich könnte noch vieleDinge erwähnen. Sie alle kennen das Thema Kraft-werksbau. Es ist in aller Munde. Der Kraftwerksbau istnatürlich eine wichtige Angelegenheit. In dieser Wochehaben wir hier im Bundestag Änderungen im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz beschlossen. Es ist ein sehrwichtiger Baustein, um diesen Technologien zumDurchbruch zu verhelfen; denn die Kraft-Wärme-Kopp-lung kann einen wichtigen Beitrag leisten, um die Ener-giewende zu einem Erfolg zu bringen.
Das Thema Netzausbau ist ein weiterer Punkt, beidem ich in die Richtung von Rot-Grün schaue; denn ge-nau dort liegt im Prinzip das Problem. Auf den Ebenender Länder und der Kommunen sind Sie diejenigen, dieden Netzausbau blockieren, und zwar seit Jahren.
Der Ausbau der Offshorewindenergie kommt zum Bei-spiel nicht voran, weil ganz einfach die Netze fehlen.
– Ich würde mich an meine eigene Nase fassen.Wenn wir die Energiewende gemeinsam zu einem Er-folg bringen wollen, dann sollten Sie sich an die Spitzeder Bewegung setzen und nicht den Leuten erzählen,dass sie gegen Projekte auf die Straße gehen sollen. Siesollten mit dafür kämpfen, dass in Deutschland über-haupt noch Projekte umgesetzt werden können.
Herr Duin hat einen Bereich angesprochen, in demwir keine abweichende Meinung haben. Er betrifft dasProjektmanagement dieser Energiewende. Hier sehenwir noch Optimierungsbedarf, und hier sind wir im Ge-spräch.
Sie wissen, dass die Monitoringkommission einge-richtet wurde. Das Monitoring funktioniert also. Als In-genieur bin ich der Auffassung, dass man ein so großesProjekt wie die Energiewende außerhalb des bürokrati-schen Apparats managen muss. Die politischen Ent-scheidungen fallen letztlich hier im Deutschen Bundes-tag bzw. bei der Bundesregierung. Ich denke, dieseFrage muss man noch einmal diskutieren. Man muss dieBundesregierung fragen, welche Pläne sie in diesem Be-reich hat.Zusammenfassend ein letzter Satz: Wir stehen mittenim Prozess.
Die Energiewende läuft auch ohne Ihre Anträge, und sieläuft immer schneller.
Vielleicht hätten Sie uns heute eine Stunde Zeit erspa-ren können, dann hätten wir draußen die Sonne genießenkönnen.Vielen Dank dafür, dass Sie so aufmerksam waren.
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner von der
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Kollege Lämmel, beim Thema Energiekonzept kannman nach Ihrer Rede, aber auch nach den sonstigen Ver-lautbarungen der Koalition, den Eindruck gewinnen,dass es richtig vorangeht. Vorgestern trafen sich die Mi-nisterpräsidenten mit der Bundesregierung im Kanzler-amt zu einem gemeinsamen Aufbruch zur Energie-wende. Die anschließende Pressekonferenz vermitteltemir – und ich vermute, nicht nur mir – folgende Bot-schaft: Wir halten an den Verlautbarungen fest, die wirbereits seit Jahren formulieren. Um uns dieser Verlautba-rungen weiterhin gemeinsam versichern zu können, wer-den wir uns weiter jedes halbe Jahr treffen. Vermeintlichwurde es dann sogar konkreter:
Die Kanzlerin kündigte einen Netzausbauplan an – dies-mal bis Ende 2012. Die Welt ist ja schnelllebig, und wirsind manchmal vergesslich. Deswegen möchte ich an IhrEnergiekonzept erinnern, das Sie 2010 vorgelegt haben.Den peinlichen Punkt über die Wichtigkeit der Atom-technik lasse ich jetzt einmal weg. Ich zitiere aus diesemEnergiekonzept von 2010:Die Bundesregierung wird 2011 … ein Konzept fürein „Zielnetz 2050“ entwickeln, um daraus den Be-darf für die zukünftig erforderliche Infrastruktur ab-zuleiten.
– Ja, aber Sie haben es für 2011 angekündigt.
Vorgestern haben Sie so getan, als ob das ein ganz neuerAufbruch wäre, und jetzt kündigen Sie es für Ende desJahres an.
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21744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dorothée Menzner
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Nächstes Beispiel. Die Kanzlerin betonte in dieserWoche ausdrücklich, den Ausgleich für die fluktuierendeEinspeisung durch erneuerbare Energien über Kapazi-tätsmärkte regeln und darüber nachdenken zu wollen,wie das geschehen könne. Klasse! Wir freuen uns, wennMenschen denken. Aber auch hier möchte ich an IhrEnergiekonzept von 2010 erinnern, wo zu lesen ist:Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob und wie inZukunft die Bereitstellung von Kapazitäten behan-delt wird .Ich frage Sie: Wo war in dieser Woche das Innovative,das Neue? Was ist in den letzten zwei Jahren vorwärts-gegangen? Wo ist konkretes Handeln?Es ist doch bemerkenswert, dass es immer nur dannkonkretes Handeln gibt, wenn es beispielsweise um dieKürzung der Solareinspeisevergütung geht oder wennOffshorewindkraft gefördert werden soll, um den großenEnergiekonzernen ein Investitionsfeld in Bezug auf er-neuerbare Energien zu eröffnen, was für kleine und mitt-lere Unternehmen eher nicht gewollt ist.Hier wird deutlich, dass Sie weiterhin auf ein Konzeptmit vier großen Konzernen und eher nicht mit kleinenund mittleren kommunalen Unternehmen sowie Unter-nehmen in Bürgerhand setzen. Das zeigt auch klar auf,dass unter den gegenwärtigen Wettbewerbsbedingungen,die diese Regierung fördert, keine wirkliche Energie-wende möglich ist; denn die Linke sagt ganz klar unddeutlich: Die Energiewende muss nicht nur einen ökolo-gischen Nutzen haben, sondern zwingend auch sozialgerecht vonstattengehen.
Mit einer auf Profite ausgerichteten Energiewirt-schaft, seien es die großen Energieversorger oder seienes die großen Übertragungsnetzbetreiber, wird sozialeGerechtigkeit im Energiesektor nicht zu machen sein,
und es wird auch nicht möglich sein, die komplexen, drin-gend notwendigen planerischen Prozesse zu verwirkli-chen, mit denen die Netz- und Kraftwerksinfrastrukturumgebaut werden muss. Wie auch? Das Übertragungsnetzin Deutschland ist in vier Gebiete aufgeteilt, in denen dieNetzbetreiber ähnlich wie Landgrafen ihre Strukturenhaben und darüber wachen.
Die Bundesrepublik hätte schon mehrfach die Chancegehabt, diese Netze durch eigene Netzgesellschaftenaufzukaufen. Die Politik hätte dann jetzt einen direktenZugriff auf Netzbestandteile. Die Wähler könnten mitihrer Wahlentscheidung Einfluss darauf nehmen, in wel-che Richtung und mit welcher Geschwindigkeit sich derUmbau der Energiewirtschaft vollzieht.
Die Politik müsste dann nicht mit MarktmechanismenUnternehmen anreizen, damit sie die notwendigen In-vestitionen vornehmen. Nein, sie könnte es selber tun.Der Souverän hätte die direkte Kontrolle darüber, dassdie Netzentgelte der Verbraucher direkt ins Netz inves-tiert werden und zurückfließen. Überschüsse könntenentweder in den Staatshaushalt oder zu den Bürgerinnenund Bürgern fließen – und nicht in Investmentfonds bei-spielsweise in Australien.
Nein, stattdessen gehören die Netze in Niedersachsen,Hessen und Bayern jetzt einem niederländischen Staats-konzern. Ich habe die Zwischenrufe sehr wohl gehört.Ein niederländischer Staatskonzern! Ein staatliches Un-ternehmen! Die Niederlande stehen nicht richtig im Ver-dacht, dass dort kommunistische Planwirtschaft herrscht.Es geht in anderen europäischen Ländern also durchaus.
Die Linke hält es für kontraproduktiv und unsozial,den Energiesektor, diesen Bereich der öffentlichen Da-seinsvorsorge, allein dem Markt zu überlassen. Damitdie Energiewende überhaupt konsequent beginnen kann,müssen sich die Bundesregierung und der Bundestagmehr Zugriffsmöglichkeiten verschaffen.
Zuletzt möchte ich auf den hier vorliegenden Antragder Grünen kurz eingehen. Sie legen ein Jahr nach Fuku-shima eine Zwischenbewertung vor und führen aus, wasdemnach jetzt möglich wäre. Vieles von dem, was dieGrünen vorschlagen, ist sinnvoll, notwendig und auchzwangsläufig.
Aber bei drei Punkten können wir als Linke nicht mit-gehen. Ich möchte sie benennen.Erstens. Sie ignorieren vollständig das Versagen derStrombörse angesichts eines stetig steigenden Anteils er-neuerbarer Energien. Sie machen sich noch nicht einmalim Ansatz Gedanken darüber, wie wir zukünftig eine Re-gulierung erreichen, wie eine Preisbildung funktionierenkann, gerade wenn wir nicht mehr mit schwerfälligenGrundlastkraftwerken, also nicht mehr mit Kohle- undAtomkraftwerken, arbeiten wollen, sondern mit schnellzuschaltbaren Gaskraftwerken.Zweitens. Sie schlagen zwar eine Deutsche Netz AGfür die Anbindung der Offshorewindparks vor. So weit,so gut. Aber heißt das, die öffentliche Hand soll da ein-springen, wo die privaten Investoren nicht wollen, aberden privaten Investoren bleibt weiterhin der Bereich
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Dorothée Menzner
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überlassen, wo sie weiter nach Lust und Laune Gewinnemachen können? Das greift zu kurz.
Drittens. Sie loben – diese Kritik müssen Sie sich ge-fallen lassen – den Merkel’schen Atomausstieg. Es wirdnicht deutlich, dass dieser Automausstieg weder ein so-fortiger noch ein schnellstmöglicher war und dass er vorallem nicht unumkehrbar ist. Aus Fukushima ist das et-was wenig gelernt. Wir glauben, dass da sehr viel mehrnotwendig und möglich gewesen wäre.Ich danke.
Der Kollege Michael Kauch hat nun für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-
ben es gerade wieder gehört: Der Staat ist für die Linke
immer die Lösung. Ich kann mich nicht daran erinnern,
dass die Stromwirtschaft in der DDR besonders effektiv
gewesen wäre.
Ich glaube auch nicht, dass sich die Struktur des Energie-
marktes der 90er-Jahre, vor der Liberalisierung, in der
Bundesrepublik dazu geeignet hätte, erneuerbare Ener-
gien in den Markt zu bringen. Im Gegenteil: Staatliche
Monopole schaden dem Wettbewerb, schaden den erneuer-
baren Energien und schaden der dezentralen Energiever-
sorgung.
Deshalb stehen wir Liberalen nicht für die Rückkehr
zur Staatswirtschaft. Wir stehen auch nicht für ein
Bayernwerk. Wir stehen auch nicht dafür, dass man Un-
ternehmen zwingt, unwirtschaftliche Kraftwerke
zwangsweise weiter zu betreiben.
Kollege Kauch, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Duin?
Nein. – Wir setzen sowohl beim Strom als auch beider Gebäudesanierung auf eine klare Leitlinie. Dieseheißt: Anreize statt Zwang. Das muss auch für das Ener-giesystem gelten.
Wenn wir über Anreize sprechen, dann müssen wiruns über die richtigen Marktinstrumente Gedanken ma-chen. Da gilt es, auch das Thema Kapazitätsmärkte zuprüfen, um Anreize für Reservekraftwerke zu setzen, diebeispielsweise schwankende Windenergieeinspeisung ab-puffern können. Aber das Ganze darf nicht so weit ge-hen, dass am Schluss der Verbraucher wieder derjenigeist, der die Hauptzeche zahlt.
Wir müssen schauen, dass wir Anreize nur dort setzen,wo wir in regionalen Problemzonen wirklich keine an-dere Lösung finden. Diese Debatte müssen wir in dennächsten Monaten in der Tat führen.Die Kraftwerkswirtschaft macht sich Gedanken überihren übernächsten Investitionszyklus: Was passiert inder Zeit nach 2022? Die Energiewirtschaft sagt, siebraucht Planungssicherheit. Das sehe ich auch so. Des-halb finde ich den Beitrag des Vorsitzenden des Vorstan-des von Eon spannend, über ein Klimaziel für 2030nachzudenken, damit auch langfristige Perspektiven ge-geben sind.
Hier gilt es wiederum, die Interessen unterschied-licher Unternehmen der deutschen Wirtschaft zusam-menzubringen: auf der einen Seite der Energiewirtschaft,die gerne langfristige Rahmenbedingungen hat, und aufder anderen Seite der energieintensiven Unternehmen,die in den nächsten Jahren nicht übermäßig belastet wer-den dürfen. Vor dieser Aufgabe steht die Politik heute.Man kann es sich nicht so einfach machen wie die Grünenin ihrem Antrag: Man muss nur das EU-Klimaziel bis2020 auf 30 Prozent anheben, und alles wird gut. Gleich-zeitig werden in den Klimaschutzgesetzen der Bundes-länder die Klimaziele gesenkt.Wir müssen uns auch die Frage stellen, welchen Sinnes macht, dass Bundesländer eigene Energiekonzepteund Klimaschutzgesetze vorlegen, angesichts unsererWirtschaft, die deutschlandweit, europäisch und zumTeil auch global vernetzt ist, und angesichts eines Ener-gieversorgungssystems, das beispielsweise nicht an derbaden-württembergischen Landesgrenze endet, sondernoffene Märkte hat. Deswegen ist es, glaube ich, richtig,dass die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung und derBundeswirtschaftsminister auf dem Energiegipfel mitden Ländern zusammen vereinbart haben, dass mankünftig gemeinsam die Strategien entwickelt – gemein-sam im Bund und gemeinsam zwischen Bund und Län-dern –; denn nur so werden wir angesichts der unter-schiedlichen Kompetenzen der staatlichen Ebenen zueinem guten Management der Energiewende kommen.Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! In ihrer Regierungserklärung zum Atomausstieg er-klärte Kanzlerin Merkel im Juni 2011 an diesem Redner-pult:Wir können als erstes Industrieland der Welt dieWende zum Zukunftsstrom schaffen.Recht hat sie: Das kann Deutschland schaffen. Nur, ein Jahrspäter bietet sich ein trostloses Bild der Merkel’schenEnergiewende.Die Insolvenzwelle der Solarwirtschaft rast immerweiter. Den Niedergang der Biokraftstoffbranche habenSie ebenfalls weiter beschleunigt. Damit liefern Sie dieAutofahrer schutzlos den Interessen der Mineralölkon-zerne aus. Eine Unterstützung des Speicherausbaus ha-ben Sie bis heute nicht hinbekommen. Ausgerechnet derdeutsche Wirtschaftsminister blockiert die Umsetzungder EU-Effizienzrichtlinie, und die Gebäudesanierungstagniert auf niedrigem Niveau.Stattdessen wollen Sie jetzt große wärmevernichtendeklimaschädliche Kohle- und Erdgaskraftwerke subven-tionieren, die in kalten Winterzeiten die Stromversor-gung sichern sollen, genau dann, wenn es besorgniserre-gende Erdgasengpässe gibt und Präsident Putin wiedermal mit Abschaltungen drohen könnte.
Statt den Atomausstieg selbst richtig zu organisieren,haben Sie ihn in vielen Politikbereichen noch gar nichtdurchgezogen. Die Bundesregierung finanziert immernoch die Atomwirtschaft über Euratombeiträge und stelltsogar Forschungsgelder und Hermesbürgschaften fürden Neubau von Atomreaktoren zur Verfügung.
Es ist unglaublich, aber diese Energiewendearbeit vonFrau Merkel ist schlicht mangelhaft.
Es scheint im Kabinett Merkel und insgesamt beiSchwarz-Gelb fast einen Wettbewerb zu geben, wer dieerneuerbaren Energien besser deckeln, abschaffen undausbremsen kann.
Herrn Altmaier gestehe ich zu, dass er im Amt desUmweltministers noch neu ist. Doch seine Äußerungenkürzlich lassen mich aufhorchen. Er hatte behauptet, derAusbau der Photovoltaik könne mit der Netzintegrationnicht Schritt halten. Das ist in der Realität längst wider-legt.In Bayern, wo Herr Seehofer dasselbe behauptet, gibtes mit Abstand den stärksten Zubau der Photovoltaik.Eon Netz hat vor kurzem die Erfolgsmeldung gebracht,dass sie bereits 8 Prozent Solarstrom in die Netze inte-griert haben. Es geht also. Was Eon Netz in Bayernkann, können auch alle anderen Netzbetreiber inDeutschland.
Sie müssen den Ausbau der Photovoltaik nicht brem-sen. Hören Sie lieber auf die Kritik Ihrer eigenen Bun-desländer, und achten Sie im Vermittlungsausschuss da-rauf, dass wir wirklich eine gute Solarpolitik machen!Dann gibt es noch eine andere Behauptung – der Kol-lege Lämmel hat sie eben wieder vorgebracht –: DerAusbau der Photovoltaik sei zu teuer und für die steigen-den Strompreise verantwortlich. Tatsache ist: Bei einerdurchschnittlichen Strompreiserhöhung von rund 1 Centpro Kilowattstunde zum Jahresanfang lag der Anteil fürden Zubau aller erneuerbaren Energien inklusive derPhotovoltaik lediglich bei 0,02 Cent.
Es muss also andere Gründe für die Strompreiserhöhunggeben. Die erneuerbaren Energien sind es nicht. Was dieEEG-Umlage wirklich teuer macht, ist nicht der Ausbauder erneuerbaren Energien, sondern es sind Ihre falschenSonderposten, die Sie eingebaut haben: die weiterhinuferlose Privilegierung bestimmter Industriezweige unddie nutzlose Aufblähung der Marktprämie. ReduzierenSie endlich die Erleichterungen für die Industrie auf dasnotwendige Maß – das gibt es –, und schaffen Sie dieMarktprämie ab! Dann wird die EEG-Umlage mit demweiteren Ausbau der Erneuerbaren sogar sinken.
Dann hören wir von Ihnen oft das Argument mit demBlackout, dass also die Lichter ausgehen, wenn dieSonne nicht scheint und der Wind nicht weht, und dasswir französischen Atomstrom brauchen. Nun sind achtAtomkraftwerke abgeschaltet, und Deutschland hat mitSolarstrom- und Windstromexporten die Atomstrom-franzosen vor einem Blackout im kalten Februar geret-tet. Die deutschen Börsenstrompreise sind in den letzten
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Hans-Josef Fell
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sieben Monaten sogar niedriger gewesen als die imAtomland Frankreich. Ökostrom, meine Damen undHerren von Schwarz-Gelb, senkt die Strompreise und er-höht sie nicht.
Nun warnen viele – ich höre das immer wieder aufPodiumsdiskussionen –, dass die Energiewende sogar zueiner Deindustrialisierung in Deutschland führen könnte.Dabei haben wir in Teilen Europas schon eine Deindus-trialisierung durch die Euro-Krise. Vielfach wird über-sehen, dass hierfür die europäische Abhängigkeit vonEnergierohstoffen eine entscheidende Rolle spielt.Schauen Sie sich doch einmal die Studie aus dem Euro-paparlament im Auftrag von Sven Giegold an. Dort wirdakribisch nachgewiesen, dass die Außenhandelsdefizitevieler europäischer Länder exakt von den Importen vonErdöl, Kohle und Erdgas abhängen. Alleine von Oktober2010 bis Oktober 2011 betrug diese Importabhängigkeitder 27 EU-Länder 408 Milliarden Euro. Im gleichenZeitraum war das europäische Leistungsbilanzdefizitaber 119 Milliarden Euro. Gäbe es nicht diese riesigeAbhängigkeit vom Import dieser konventionellen Roh-stoffe, gäbe es Leistungsbilanzüberschüsse. Die Leis-tungsbilanzdefizite in den EU-Ländern steigen mit demÖl- und Gaspreis weiter. Es wird nun versucht, diese De-fizite mit zunehmender Staatsverschuldung auszuglei-chen. Die Euro-Krise ist also eng verknüpft mit den stei-genden Rohstoffpreisen. Daher leistet eine schnelleUmstellung auf erneuerbare Energien in Verbindung mitEffizienzsteigerung auch einen unverzichtbaren Beitragzur Bekämpfung der Euro-Krise und stellt eben keineBelastung für die Wirtschaft dar, wie Sie immer wiederbehaupten.
Trotz der Notwendigkeit der Umstellung auf erneuer-bare Energien und anderer ökologischer Maßnahmentäuschen Sie noch immer die Öffentlichkeit mit der Be-hauptung über die billige Stromerzeugung der konventio-nellen Energiewirtschaft. Beispiel Braunkohle: Geradeerst hat der Chef des Bergbausanierers in der Lausitzverkündet, dass er schon wieder 1 Milliarde Euro Steuer-gelder für die Rekultivierung der Braunkohlegrubenbraucht. Dann sind es schon 10 Milliarden Euro. Schaf-fen Sie doch lieber eine Braunkohleumlage, und erhöhenSie den Strompreis entsprechend! Berücksichtigen Sieauch die Sanierungskosten, die fehlende Förderabgabefür die Braunkohle, die fehlende Grundwasserabgabeund vieles andere mehr! Dann werden Sie sehen, dassBraunkohlestrom viel teuer ist.
Schaffen Sie auch eine Atomstromumlage, bei der Sieauch die Sanierungskosten der Asse, die bereits unnötiggeflossenen Steuergelder und die fehlende Haftung be-rücksichtigen. Dann werden Sie sehen, dass das Geredevom teuren Ökostrom nichts anderes als eine Propagan-dalüge für die Interessen der Atom- und Kohlekonzerneist, der Sie auf den Leim gehen.
Kollege Fell!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich bitte darum.
Wann endlich ziehen Sie die Lehren aus Ihren Wahl-
niederlagen? Baden-Württemberg haben Sie wegen Ihrer
Proatompolitik und Nordrhein-Westfalen wegen Ihrer
Antisolarpolitik schon verloren.
Die Wählerinnen und Wähler wollen eine echte Energie-
wende und keine à la Schwarz-Gelb.
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat nun für die
Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! WeilPfingsten vor der Tür steht und vielleicht bei dem einenoder anderen der Heilige Geist anklopfen könnte, versu-che ich es einmal mit zwei freundlichen Bitten zu Be-ginn meiner Rede.Die erste Bitte ist: Ich würde mich freuen, wenn Sieauf der linken Seite aufhören würden, uns krampfhaftnachzusagen, wir würden der alten Welt der Kernenergienachtrauern. Ich verstehe das politische Kalkül, ich ver-stehe, dass Sie sich Relikte aus alten Kernkraftdebattenerhalten wollen, weil Ihnen offenkundig zu diesemThema nichts Besseres einfällt, als eben diesen Punktimmer wieder aufzuwärmen.
Die Grünen fühlen an der Stelle offenbar schon einenPhantomschmerz, weil ihnen das Thema abhanden ge-kommen ist.
Meine zweite Bitte richtet sich speziell an den Kolle-gen Fell: Hören Sie auf, die Energiewende als Trivialitätdarzustellen,
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21748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Georg Nüßlein
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als wäre sie so einfach zu erreichen und als ob schonmorgen aller Strom zu 100 Prozent aus erneuerbarenEnergien kommen könnte.
Das erinnert mich an Vertreter von Eon, die vor etlichenJahren die Gezeitenkraftwerke beworben haben, die esnoch gar nicht gab. Damit führen Sie die Leute in dieIrre.
Wir müssen doch den Leuten offen und ehrlich sagen,dass das, was wir tun, ein schwieriger Prozess ist, dernicht in einem Jahr beendet sein wird, sondern der einigeLegislaturperioden dauern wird. Man wird sich immerwieder neu orientieren müssen. Technische Neuerungenund neue Forschungs- und Entwicklungsergebnisse wer-den uns hoffentlich neue Wege weisen, was dringendnotwendig ist.Es kann sein, dass der eine oder andere auf der linkenSeite des Hauses in Zukunft wieder an einer Regierungbeteiligt ist. Dann ist es ganz gut, wenn man sich nichtzu weit aus dem Fenster gelehnt und so getan hat, als obdie Energiewende schon morgen zu schaffen wäre, son-dern wenn man ein realistischeres Bild gezeichnet hat.
Wenn man hier die Frage diskutieren will, wer denFortschritt behindert, dann muss man an vorderer Stelleden Bundesrat erwähnen. Die steuerliche Sanierungsför-derung wurde bereits von der FDP angesprochen. Offen-bar hört bei einigen Bundesländern der Klima- und Um-weltschutz beim Geldbeutel auf. Wenn es aber um dasGeld der Bürgerinnen und Bürger geht – StichwortPhotovoltaik –, verhält sich der Bundesrat genau umge-kehrt.
Auch das ist spannend. Genau da verhält sich der Bun-desrat anders und sagt: Wenn die Bürgerinnen und Bür-ger zahlen müssen, dann können wir großzügiger sein. –Auch da sollten Sie sich an unsere Seite stellen; denndas, was wir ins EEG geschrieben haben, ist doch derAusweis dafür, dass die Stromgewinnung durch Photo-voltaik funktioniert. Das ist doch das, was man sagenmuss.
Jetzt, nach zwölf Jahren Förderung, sind wir an einemPunkt, wo wir feststellen müssen: Strom vom Dach ist soteuer wie der Strom des Energieversorgers. Irgendwanneinmal ist doch der Punkt erreicht, an dem man denStrom, den man selber produziert, auch selber ver-braucht, anstatt diesen Strom teuer zu verkaufen undkonventionellen Strom, womöglich Atomstrom, KollegeFell, billig einzukaufen.
Darin müssten Sie sich doch eigentlich wiederfinden.Sie müssten doch sagen: Jawohl, das machen Sie richtig,da sind wir auf einem guten Weg. – Sie sollten nicht ver-breiten, dass die Produzenten von Photovoltaikanlagenin Deutschland an der EEG-Vergütung scheitern würden.Das ist nicht der Fall. Selbst wenn man sie verdoppelnwürde, wenn die Einspeisevergütung also steigen würde,würden für die Investoren billige chinesische Moduleimmer noch Rendite bringen. Alle Hersteller von Modu-len müssen sich fragen lassen, warum sie nicht bessersind als die chinesischen Hersteller. Die zu hohe Ein-speisevergütung könnte vielleicht dabei eine Rolle ge-spielt haben, dass die deutschen Hersteller sich zurück-gelehnt haben, weil sie geglaubt haben, es gehe immerweiter so. Das muss man in der Deutlichkeit einmal an-sprechen. Ich bitte auch in dieser Hinsicht, die Leutenicht für dumm zu verkaufen.Ich will das unterstreichen, was zu Baden-Württem-berg gesagt wurde; ich fand das nämlich spannend. Diegrün-rote Regierung in Baden-Württemberg hat dasCO2-Ziel so korrigiert, dass es niedriger als das derCDU-FDP-Vorgängerregierung ist.
Daher muss man sich doch fragen: Was wollen sie denneigentlich? Wofür stehen sie? Die grün-rote Landes-regierung will bis 2020 eine Reduzierung des CO2-Aus-stoßes gegenüber 1990 um 25 Prozent herbeiführen,während die schwarz-gelbe Vorgängerregierung 30 Pro-zent erreichen wollte; die Bundesregierung hat das Zielvon 40 Prozent vorgegeben. Die Politik der grün-rotenLandesregierung von Baden-Württemberg ist ein auf-schlussreicher Hinweis auf das, was man dort letztend-lich denkt.
Ich habe vor kurzem in Baden-Württemberg eine Ver-anstaltung abgehalten. Da ging es um den Ausbau erneu-erbarer Energien. Eine Menge Menschen waren da. Siehaben alle gesagt: Wir würden gern investieren, wir wür-den vieles machen; aber wir sehen jetzt schon: Es gibteinen engen Schulterschluss zwischen den Grünen undden üblichen Verdächtigen aus den Naturschutzverbän-den; sie werden das alles zunichtemachen. – Die Leutesehen jetzt schon, dass da etliches klemmt.Ich erinnere mich, dass Herr Trittin seinerzeit dazuaufgerufen hat, gegen Castortransporte weder singendnoch tanzend noch sitzend noch stehend zu demonstrie-ren.
Ich warte darauf, dass die Grünen einmal dazu aufrufen,nicht gegen den Ausbau der Erneuerbaren und nicht ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21749
Dr. Georg Nüßlein
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gen den Ausbau der Netze zu demonstrieren, wenn eskonkret wird. Das wäre doch einmal ein spannenderAufruf, den Trittin und andere an dieser Stelle machenkönnten.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die RolleEuropas eingehen. Uns wird vielfach vorgehalten, wirseien bezüglich der EU-Energieeffizienzrichtlinie nichtso kooperativ, wie es sich der eine oder andere vorstellt.Wir akzeptieren verbindliche Zielvereinbarungen füralle; das ist wichtig. Aber Brüssel sollte aufhören, unsbei der Umsetzung bis ins Detail hineinzuregieren. Dassdas aufhört, das ist an dieser Stelle ganz entscheidend.Ich wünsche mir, dass die Grünen dabei fest an unsererSeite stehen.Die Geschichte geht ja weiter. Heute verlangt man1,5 Prozent Energieeinsparung pro Jahr pro Unterneh-men. Morgen versucht man womöglich, eine ähnlicheHarmonisierung bei den erneuerbaren Energien vorzu-nehmen. Man braucht eine Übereinstimmung bei denZielen; das ist absolut richtig. Aber die Vorgehensweise,die Instrumente dürfen wir uns doch nicht von Brüsseldiktieren lassen; sonst ist das EEG irgendwann weg, undwir bekommen Zielvereinbarungen und letztendlichQuotenmodelle. Das würde ich für problematisch halten,weil ich weiß, was das heißt: dass sich die großen Kon-zerne auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen unddass sich Mittelstand und ländliche Räume nicht beteili-gen können. Ich möchte zu all dem ganz klar sagen:Wehret den Anfängen!Ich glaube, dass wir insgesamt auf einem Weg sind,der sehr gut ist. Ich bin der Überzeugung, dass wir mitdem Netzausbauplan ebenfalls einen sehr guten Pfad be-schreiten. Allerdings müssen wir noch etwas ergänzen,nämlich die Antwort auf die Frage: Wer macht das? Inunserem Koalitionsvertrag steht: Wir wollen eine Netz-gesellschaft Deutschland gründen. Ich glaube, dass wirüber diesen Punkt noch einmal offensiv nachdenkenmüssen. Es geht dabei nicht um die Frage, wie man diebestehenden Netze in den Netzausbauplan integriert,sondern darum, dass wir festlegen müssen, wer die gro-ßen Übertragungsnetze mit welchem Interesse baut. ImHinblick auf die Bereiche, in denen, volkwirtschaftlichsinnvoll, natürliche Monopole entstehen müssen, sollman sich noch einmal dringend Gedanken darüber ma-chen, ob es sinnvoll ist, eine solche NetzgesellschaftDeutschland zu gründen.Wir müssen, was die fossilen Ersatzkapazitäten an-geht, ehrlich sein: Wir brauchen sie – grüne Träumereihilft nichts, Kollege Fell –, weil nachts keine Sonnescheint und weil auch Wind nicht immer weht.
Wir werden deshalb noch einmal über Kapazitätsmärktediskutieren müssen.Ich hoffe, Sie wollen das Ganze auch an anderen Stel-len konstruktiv begleiten. Ich habe noch eine Bitte anSie. Bei dem Thema Endlagersuche waren wir vor kur-zem ganz nahe an einem Kompromiss, weil sich dierechte Seite dieses Hauses massiv bewegt hatte, in derfesten Überzeugung, dass diese Generation, die dieKernenergie genutzt hat, es schaffen muss, die Endlage-rungsproblematik zu lösen. Ich wünsche mir, dass Sieuns offensiv entgegenkommen und uns auch an diesemPunkt der Energiepolitik entsprechend unterstützen.Vielen herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rolf
Hempelmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Lieber Dr. Nüßlein, Sie haben die Bitte geäußert,wir mögen aufhören, Ihnen zu unterstellen, dass Sie nachwie vor der Atomtechnologie anhängen. Ich glaube, da-rin liegt gar nicht so sehr das Problem. Herr Kurth – erwurde eben zitiert – hat gesagt, womit eigentlich jedeserfolgreiche Projekt beginnen muss: mit der Phase derBegeisterung. Die Phase haben Sie übersprungen. Dieerste Phase Ihres Projekts Energiewende war Ernüchte-rung, vielleicht sogar Erschrecken nach Fukushima. DasUmsteuern war dadurch bedingt, dass Sie erkannt haben,dass anders ein Machterhalt mittel- und langfristig garnicht möglich sein würde. Ich glaube, das eigentlicheProblem ist: Das, was „Energiewende“ bedeutet, erfor-dert Begeisterung, und die ist auf Ihrer Seite leider nichtgegeben.
Die Behauptung, die Energiewende habe im letztenJahr begonnen, ist – Sie wissen das doch selbst – purerUnsinn. Sie versuchen, uns sozusagen in die Schuhe zukippen: Ihr habt da im Jahr 2000 so einen Atomausstiegbeschlossen, habt auch ein bisschen für die erneuerbarenEnergien gemacht, aber sonst nichts. – Wahr ist doch: ImJahr 2000 hat erstens genau dieser Atomausstieg begon-nen, hat zweitens ein offensiver Zubau der Erneuerbarenbegonnen und hat es drittens eine Ankündigung vonSchwarz-Gelb gegeben: Wenn wir wieder die Bundes-regierung stellen, dann gibt es eine Laufzeitverlänge-rung. – Welche Motivation sollten denn die integriertenKonzerne, die Kraftwerke und auch Netze besitzen, ha-ben, um in Netze zu investieren, wenn sie damit letztlichihre Kraftwerke entwerten? Welche Motivation solltensie haben, in Speicher, also in Flexibilität, zu investieren,wenn sie doch ihre Kraftwerke dauernd am Laufen hal-ten wollen? Diejenigen, die dafür gesorgt haben, dasswir nicht schon im Jahr 2000 eine komplette, das Systemumbauende Energiewende bekommen haben, waren Siemit Ihrer Ankündigung.
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21750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Rolf Hempelmann
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Das hat mir in dieser Woche bei einer Veranstaltunghier in Berlin mit Vertretern der Stadtwerken ein renom-miertes ehemaliges Mitglied Ihrer Fraktion ausdrücklichbestätigt. Er hat gesagt: Es war ein fataler Fehler, dassSchwarz-Gelb im Jahr 2000 nicht erklärt hat: Wir sindmit dem, was ihr da macht, nicht wirklich glücklich, aberwir stehen dazu; wir gehen den Weg mit, damit wir fürdiesen Schlüsselsektor klare, verlässliche, auf Dauer an-gelegte Rahmenbedingungen haben, über die Legislatur-perioden hinaus. – Das haben Sie nicht gemacht, und dasist nach wie vor Ihre Verantwortung.
Was heißt denn „Energiewende“? Was heißt es, wennwir aus den konventionellen Energien herausgehen,nicht nur aus Atom, sondern sukzessive natürlich auchaus Kohle, und Erneuerbare – das sind in Deutschlandim Wesentlichen Wind und Sonne – ausbauen? Das heißtletztlich, dass Erzeugung volatiler wird und dass die Ein-speisungen von Elektrizität weniger verlässlich werden.Die Folge ist: Wir brauchen den Netzausbau. DieFolge ist: Wir brauchen den Speicherausbau. Die Folgeist: Wir brauchen mehr Flexibilität auf der Nachfra-geseite, also beispielsweise auch Lösungen zum Thema„zu- und abschaltbare Last aufseiten der Industrie“ undvieles andere mehr.Die Dinge gehören in einen Zusammenhang. Was wirbemängeln, ist, dass Sie immer nur an Einzelbaustellenarbeiten, aber den Menschen nie diesen Zusammenhangerklären, dass Sie kein Konzept entwickelt haben, indem deutlich wird, welchen Mix von Maßnahmen wirbrauchen für eine vernünftige, auch kostenorientierteund an den Zielen der Versorgungssicherheit und Sau-berkeit ausgerichtete Energiepolitik. Das ist Ihr Ver-säumnis. Das bemängeln wir. All das fordern wir ein.
Es ist doch nicht nur die Meinung der SPD-Bundes-tagsfraktion oder der Opposition hier im Hause, dass esbei der Energiewende an jeder Ecke und an jedem Endehakt. Das kommt doch aus Ihren eigenen Reihen; HerrSeehofer ist zitiert worden, auch Herr Oettinger. Sie ha-ben die schärfsten Kritiker in Ihren eigenen Reihen. Siebrauchen uns nicht zu unterstellen, wir würden Sie nichtunterstützen; Sie haben doch schon längst die Unterstüt-zung Ihrer eigenen Leute verloren. Niemand in Ihren ei-genen Reihen ist wirklich voll zufrieden; viele sind nochunzufriedener, als wir es sind.Wir haben heute die Forderung aufgestellt: MachenSie so etwas wie einen Masterplan, und sorgen Sie fürein vernünftiges Projektmanagement! Dazu habe ichheute von Ihnen gehört: Darüber müssen wir mal offen-siv nachdenken.
Das ist natürlich eine interessante Äußerung. Ich könntesagen: Das ist ermutigend; wir sind damit schon ziem-lich zufrieden. – Aber ich mache darauf aufmerksam: Esist seit unseren Beschlüssen zur Energiewende ein Jahrvergangen. Jetzt wollen Sie offensiv über Projektma-nagement nachdenken. Diesen Vorschlag haben wirschon vor einem Jahr gemacht. Nicht nur wir im Parla-ment, sondern auch viele Beteiligte in der Öffentlichkeit,aus dem Energiesektor und andere Betroffene sowie dievon Ihnen installierte Ethik-Kommission haben Ihnendas gesagt. Trotzdem ist seit einem Jahr nichts passiert.Sie wollen offensiv nachdenken. Gratulation!
Es ist schon gesagt worden, dass zwischen dem Wirt-schaftsminister und dem Umweltminister Blockadeherrscht, mehr als das jemals in der Vergangenheit vor-gekommen ist. Man kann nur hoffen, dass sich mit demjetzt wieder einmal erfolgten Personalwechsel daran et-was ändert. Wir gewöhnen uns immer wieder an neueGesichter auf den Kabinettsbänken. Jetzt ist es also HerrAltmaier. Ich habe ihn noch nicht so sehr wahrgenom-men
im Zusammenhang mit der Umwelt- und Energiepolitik;aber er soll seine Chance bekommen. Ich wünsche ihmim Interesse der Sache viel Erfolg. Es kommt darauf an,dass diese beiden Minister endlich zusammenarbeiten.Wenn das immer noch nicht funktioniert, dann trägt dasKanzleramt hier die Verantwortung. In der Vergangen-heit war es durchaus so, dass ein KanzleramtsministerSteinmeier mit den Ministern gesprochen und dafür ge-sorgt hat, dass sie schneller zu Entscheidungen gekommensind. Hier versagt Frau Merkel. Das ist nicht zu ersetzendurch hektisch einberufene Gipfel, im Zweifelsfall ohnedie Minister. Das ist das Gegenteil von Koordination;das ist Show. Davon hatten wir genug.
Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie können unsnicht absprechen, dass wir bereit sind, mit Ihnen konstruk-tiv zusammenzuarbeiten; das beweisen wir jeden Tagmit unseren Vorschlägen. Wir haben Sie gestern dafürgelobt, dass Sie, wenn auch mit zweieinhalb Jahren Ver-zögerung, unsere Vorschläge zum Thema Kraft-Wärme-Kopplung weitgehend übernommen haben – leider nichtweitgehend genug, sonst hätten wir Ihnen gestern sogarzugestimmt.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die SPD fordert einen Masterplan zur Energie-wende. Sie bekommt heute den Bericht zur Umsetzungdes Zehn-Punkte-Sofortprogramms zum Energiekon-zept, also einen Zwischenbericht unseres Konzepts.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21751
Klaus Breil
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Dazu wurde gestern – Sie haben es erwähnt, HerrHempelmann – unser KWK-Gesetz auf einem silbernenTablett serviert. Vielen Dank für Ihre lobenden Wortedazu.Das erste Energiepaket, das im letzten Sommer be-schlossen wurde, beginnt Wirkung zu entfalten: fach-licher Beirat für die Netzplattform, 5 Milliarden Euro fürOffshorewindparks, erweiterte Befreiung der Speicher-kraftwerke von den Netzentgelten usw. Die Weiterent-wicklung der Rahmenbedingungen für eine zukünftigeNetzinfrastruktur ist in vollem Gange. Die planbare Re-finanzierung der künftigen Netzinfrastruktur, der Über-gang zu intelligenten Netzen, die gerechte Verteilung deranstehenden Lasten und vieles mehr sind gerade in Ar-beit.Leider helfen unsere guten Ideen und Gesetze nurmittelbar, wenn sie im Bundesrat oder vor Ort blockiertwerden. Dies gilt für die energetische Gebäudesanierungoder die Förderung der Photovoltaik. Gleiches gilt fürden heftigen Widerstand beim Bau von Übertragungs-netzen. Ich nenne beispielsweise das Ausbremsen dersogenannten Thüringer Strombrücke, die für die Versor-gungssicherheit von Bayern, Baden-Württemberg undganz Deutschland von zentraler Bedeutung ist,
dies vor allem vor dem Hintergrund, dass nach der fürEnde 2015 vorgesehenen Abschaltung des Kernkraft-werks Grafenrheinfeld 1 300 Megawatt fehlen. Alleindas Verzögern einer solchen Maßnahme ist schlichtwegverantwortungslos.Sie werfen uns in Ihrem Antrag Konzeptlosigkeit vor,doch Sie beschreiben damit Ihr eigenes Doppelspiel
– hören Sie doch zu; hier können Sie etwas lernen –: ImBundestag fordern, im Bundesrat blockieren und, wenndas scheitert, vor Ort bremsen.
Das ist Teil Ihrer Strategie, die ich als betrüblich emp-finde. Wenigstens kann ich Ihre Motivation zu dieserStrategie noch irgendwie nachvollziehen: Es ist derNeid, weil nicht Sie es sind, die die Wende bewirken;
genug Zeit dafür hatten Sie ja. Den unglaublichen Scha-den, den Sie damit anrichten, kann ich Ihnen allerdingsnicht durchgehen lassen.
Schon deshalb setzen wir nicht auf starre Strukturenwie den von Ihnen geforderten Masterplan. Mit unseremEnergiekonzept bauen wir bis in das Jahr 2050 auf einenflexiblen Entwicklungspfad. Basis dafür sind die wissen-schaftlichen Gutachten, die dem Energiekonzept derBundesregierung zugrunde liegen. So gestalten wir dieEnergiewende dynamisch und gehen auf die sich ständigverändernden Umstände ein, wissenschaftlich, tech-nisch, gesellschaftlich.
Vor allem aber haben wir das wirtschaftliche Umfeld imBlick. So werden wir natürlich auch Kapazitätsmärkteprüfen müssen.
Selbstverständlich spielen unsere europäischen Partnerdabei eine ebenso bedeutsame Rolle.Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm zum Energiekon-zept ist Teil dieser sinnvollen Strategie. Ihm folgt Endedes Jahres der erste Bericht zur Umsetzung der Energie-wende, der anschließend jährlich erscheint. Zudem er-scheint ab 2014 alle drei Jahre ein umfassender Monito-ringbericht. Er bringt eine solide Datenbasis und aufGrundlage mehrjähriger Erfahrungen einen vernünftigenÜberblick über vorhandene Trends.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, hervorra-gendes Beispiel für das Funktionieren unseres Konzeptsist die anstehende Veröffentlichung des Entwurfs desNetzentwicklungsplans am kommenden Mittwoch.
Dem folgt dann der Entwurf des Bundesbedarfsplans.Ein weiteres Beispiel für zielführendes und schnellesHandeln ist die geplante Absicherung bei der Offshore-netzanbindung.
Hier meine ich speziell die Beschränkung des Haftungs-risikos. Die Haftung soll auf Fälle von vorsätzlichemoder grob fahrlässigem Handeln beschränkt werden. Zu-dem soll eine Haftungshöchstgrenze eingeführt werden.Das macht die unternehmerischen Risiken bei den not-wendigen Investitionen überhaupt erst vorhersehbar. Au-ßerdem senkt diese Haftungsbeschränkung die Kostenfür den Verbraucher; denn andernfalls müsste er für einezweite Anbindung aufkommen, die unabdingbar wäre.Dieses Modell wäre erheblich teurer.Vielen Dank.
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21752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
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Nächster Redner ist Jens Koeppen für die CDU/CSU-
Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Wir haben hier vor einem Jahr den Umbau derEnergieversorgung in Deutschland in einem gesamtge-sellschaftlichen Konsens beschlossen.
– Ist es so, oder ist es nicht so, Rolf Hempelmann?
Es ist doch so. – Wir treiben den Umbau der Energiever-sorgung unbeirrt voran, zwar nicht immer zu Ihren Kon-ditionen, aber im Rahmen des Zieldreiecks aus Versor-gungssicherheit, Umweltverträglichkeit und vor allenDingen Bezahlbarkeit. Wir müssen die Energiepreise inDeutschland im Auge behalten. Unzumutbare Energie-preiserhöhungen lassen die Akzeptanz des Umbaus inden privaten Haushalten und der deutschen Wirtschaftsinken.
Die hier beschlossenen Maßnahmen zur Modernisie-rung der Energieversorgung in Deutschland lassen sichleider nicht kurzfristig umsetzen. Es handelt sich umschrittweise, langfristig angelegte Prozesse. Der teil-weise von Ihnen an den Tag gelegte Aktionismus, derneue, zum Teil unrealistische Ziele und Forderungen, na-tionale Alleingänge und egoistische Länderinteressenumfasst, bremst das Projekt.Um die ambitionierten Ziele, die wir uns gesetzt ha-ben, zu erreichen, brauchen wir Maßnahmen, die umge-setzt werden können. Ich werde Ihnen einige der Maß-nahmen aufzeigen, die wir in einem Jahr umgesetzthaben; dazu würden Sie wahrscheinlich zwei Legislatur-perioden brauchen.
Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm zum Energiekon-zept – Klaus Breil hat es eben angeführt – ist zum größ-ten Teil umgesetzt; der Bericht liegt vor. Von den 180Einzelmaßnahmen des Energiekonzepts ist etwa einViertel umgesetzt. Das Monitoring zum Energiekonzeptist eingeleitet; der erste Bericht kommt Ende des Jahres.Eine Steuerungsgruppe auf der Ebene der Staatssekre-täre unter Führung von BMU und Wirtschaftsministe-rium ist eingerichtet. Die Ressorts berichten, und dieVorgehensweisen werden gemeinsam abgestimmt.Die Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz istverabschiedet. Die Novelle zum EEG ist im März verab-schiedet worden, liegt jetzt allerdings im Bundesrat aufEis. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist ebensowie das CCS-Gesetz verabschiedet; beide liegen imBundesrat. Das Netzausbaubeschleunigungsgesetz istbeschlossen. Man muss hier allerdings beachten, dassdie Planungsbehörden bei den Ländern angesiedelt sindund dass es dort nicht vorwärtsgeht; das ist also keineBundessache. An dieser Stelle könnte man durchaus dieÜberlegung anstellen, ob der Bund hier härter gegen dieLänder vorgehen sollte.Das Energiewirtschaftsgesetz ist beschlossen, ebensodas Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“. DasPlanungsrecht ist verändert worden. Vergabeordnungund Biokraftstoffquote sind auf den Weg gebracht. Vorallen Dingen gibt es einen Dialog mit den Akteuren derEnergiewende, also mit Fachleuten, Verbänden, demMinisterium und Ingenieuren. Es gibt ein Forum „Zu-kunftsfähige Netze“, ein Forum „Erneuerbare Energien“und ein Kraftwerksforum. Dort werden Handlungsemp-fehlungen erarbeitet. Diese Handlungsempfehlungensind dann Grundlage unseres Masterplans.
Genau das ist die konzeptionelle Umsetzung desEnergiekonzepts und der Energiewende. Sie könnennicht jeden Tag mit neuen Koordinaten und immer neuenZielrichtungen kommen, immer mit der Maschine aufvolle Kraft voraus und immer auf einem neuen Kurs. Siemüssen das Schiff endlich einmal in ruhiges Fahrwasserbringen, und zwar mit klarem Kurs. Mir ist natürlichklar, dass wir Ihnen ein Thema weggenommen haben,das Sie gerne besetzen möchten.
Sie kommen nicht mit an Bord, Sie stehen an Land. Esist ja klar: Die größten Kapitäne stehen immer an Landund machen die besten Vorschläge. Ich lade Sie ein:Kommen Sie an Bord, und gestalten Sie mit.
Als Brandenburger möchte ich Ihnen einige Punkteaufzeigen, wie auch Länder und Landesregierungen aufder Bremse stehen können. Die Landesregierung Bran-denburg hat beinahe alles, was hier beschlossen wurde,abgelehnt, fordert aber gleichzeitig – wie Sie – einenMasterplan. Vorgestern hat Ministerpräsident MatthiasPlatzeck gefordert, es müsse einen Masterplan geben –gerade der Platzeck, der im Land Brandenburg ein Groß-projekt nach dem anderen versemmelt hat, jetzt erst wie-der den BER.
Genau der Platzeck sagt auch Ja zum Atomausstieg.Wenn es aber darum geht, dass von Vattenfall nicht mehrMillionen in die Kassen Brandenburgs gespült werden,weil Vattenfall aus der Atomenergie ausgestiegen ist,dann ist das auch nicht genehm.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21753
Jens Koeppen
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Gerade dieser Platzeck hat auch ein Junktim zwischenKohleverstromung und CCS errichtet. Wenn es aber da-rum geht, dass CCS benötigt wird, dann verteufelt er dasGanze vor Ort.
Das können wir nicht dulden.Genau diese Landesregierung fordert Energieeinspa-rungen. Wenn es aber um das CO2-Gebäudesanierungs-programm geht, dann wird es aus steuerlichen Gründenabgelehnt.
Genau diese Landesregierung ist es, die faire Energie-preise fordert, dann aber die Anpassung der Solarstrom-vergütung ablehnt. Das ist partikularer Egoismus, derendgültig überwunden werden muss.
– Ich weiß, dass das wehtut.
Wenn jeder nur damit beschäftigt ist, lieber HerrHempelmann, die Fackel ins andere Feld zu werfen,dann werden wir mit der Modernisierung der Energie-versorgung nicht vorankommen – also weg mit Ihren re-gionalen Befindlichkeiten. Das Ganze wird uns einigeskosten – das werden wir den Menschen sagen müssen –,dem Bund, den Ländern, den Kommunen, den privatenHaushalten und natürlich der deutschen Wirtschaft. Indiesem Zusammenhang sind Kostentransparenz undEhrlichkeit angesagt. Sie können nicht einfach sagen, dieEnergiewende sei zur Flatrate zu haben. Das wird Ihnenniemand glauben.Wir müssen – davon bin ich fest überzeugt – im Rah-men der Energiepolitik europäisch denken und sie euro-päisch vernetzen. Wir müssen die Förderkriterien anpas-sen. Zugleich müssen wir die Förderung deckeln; dasheißt, wir brauchen Obergrenzen für subventioniertenStrom. Daran werden wir uns in Zukunft gewöhnenmüssen. Wir brauchen kluge statt blinder Einspeisung.Das bedeutet, dass wir einen Systemwechsel im EEGbrauchen. Es geht nicht darum, die cleversten Kaufleutezu honorieren, sondern darum, auf eine smarte Energie-versorgung hinzuwirken und Innovationen zu belohnen.Wenn wir zu kühn an die Sache herangehen, werdenwir uns vor Übereifer verschlucken. Die Energieversor-gung ist – dabei bleibe ich – eine gesamtgesellschaft-liche Aufgabe, und das auf Jahrzehnte hinweg, egal werdereinst in diesem Hause sitzen wird. Bei diesem Themakönnen wir nur gemeinsam gewinnen oder gemeinsamverlieren. Ich lade Sie ein: Kommen Sie mit auf die Ge-winnerseite.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/9729 und 17/9262 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu dem Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ein Jahr Fuku-shima – Die Energiewende muss weitergehen“. Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/9779, den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8898 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltungvon SPD und Linken angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 35 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Volker Beck ,Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
– Drucksache 17/9724 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss SportausschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Konstantin vonNotz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Der Bundesbeauftragte für den Da-tenschutz und die Informationsfreiheit fordert es, dieKonferenz der Informationsbeauftragten in Deutschlandfordert es, und manche Länder haben es bereits seit dem18. Jahrhundert: ein Grundrecht auf Informationsfrei-heit. Bei uns in Deutschland biss man bei dem Themapolitisch lange Zeit auf Granit; doch nach zähem Ringengelang es im Jahr 2005, wenigstens ein erstes Informa-tionsfreiheitsgesetz zu verabschieden. Das war ein gutererster Schritt.
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Dr. Konstantin von Notz
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Damit zog der Bund insbesondere gegenüber den neuenBundesländern spät nach, die unter dem frischen Ein-druck der gerade überwundenen DDR nicht nur Gesetzezur Informationsfreiheit, sondern zugleich moderneGrundrechtsformulierungen in ihre Landesverfassungenaufnahmen. Bis heute fehlt ein solches Grundrecht imGrundgesetz.
Handelt es sich hierbei um eine Petitesse, um ein reinsymbolisches Anliegen? Mitnichten! Es handelt sich umein für die Praxis hochrelevantes Problem. Nach einerStudie von Professor Kloepfer scheitert die Durchset-zung der Informationsfreiheit in der konkreten Abwä-gung regelmäßig und vor allem an den allgegenwärtigangeführten Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen; denndiese sind gemäß Art. 14 GG abgesichert und setzen sichso viel zu oft gegen den Informationsanspruch der Bür-gerinnen und Bürger durch. Die Studie zeigt glasklar:Hier sind wir – auch als Verfassungsgesetzgeber – in derPflicht.
Diese Verpflichtung bezieht sich natürlich auch aufden Datenschutz, den wir in gesonderten Vorschlägen alseigenes Grundrecht eingefordert haben und weiter ein-fordern werden; denn die Digitalisierung der Grund-rechte – so hat es einmal der schleswig-holsteinischeDatenschutzbeauftragte ausgedrückt – ist eine eigeneAufgabe in Zeiten der digitalen Revolution. Deshalbbrauchen wir eine Verfassung der Bürgerinnen und Bür-ger: einfach, verständlich, hinreichend konkret und mo-dern.Grundsätzlich richtet sich der Auskunftsanspruch zu-nächst und zuvorderst gegen die Verwaltung. Der inno-vative Kern unseres Antrags aber ist der Auskunftsan-spruch gegenüber Privaten. Jetzt kommen Sie nicht mitder ausschließlichen Abwehrdimension gegenüber demStaat. Seit Lüth sind die Urteile nicht nur zur mittelbarenDrittwirkung, sondern auch zu den Schutzpflichten einetragende Säule unseres Grundrechtsverständnisses.
– Herr Kollege Wiefelspütz! –
Wir wollen die einfachgesetzlichen Ansprüche, wie wirsie bereits aus dem UIG und dem VIG kennen, verfas-sungsrechtlich untermauern;
denn Transparenz und Informationsfreiheit sind Grund-voraussetzungen einer modernen, vitalen Demokratie,die auch die neuen technischen Möglichkeiten undChancen für sich nutzt. Bürgerinnen und Bürger wollensich informieren; sie wollen partizipieren. Darauf solltenwir dringend eingehen, meine Damen und Herren.Informationsfreiheit und Transparenz sind also unab-dingbar. Sie sind aber eben auch nicht alles. Sie ersetzennicht politische Standpunkte und Konzepte, auch wennmanche das glauben. Es geht auch nicht darum, dass alleseinfach gut wird, wenn wir nur möglichst viel ins Netzstellen. Es ist also klar und Teil unserer Überzeugung,dass der Gesetzgeber das Informationszugangsgrund-recht beschränken muss, solange und soweit gewichtigeprivate und öffentliche Interessen entgegenstehen. Insge-samt fügt sich unser Verständnis von Transparenz in die-ser Frage an unser grünes Grundverständnis von Basisde-mokratie, Demokratiepolitik und Bürgerrechten nahtlosan.
Die Informationsfreiheit muss insgesamt weiterentwi-ckelt werden. Das zeigt auch der aktuelle Tätigkeitsbe-richt des Bundesbeauftragten für den Datenschutz unddie Informationsfreiheit. Einerseits nehmen die Men-schen zwar ihre neuen Rechte zunehmend in Anspruch,andererseits aber ist der eigentlich gewollte Paradigmen-wechsel offensichtlich noch nicht vollzogen; denn dieAusnahmevorschriften verhindern regelmäßig eine tat-sächliche Umsetzung des gewollten Freiheitsanspruchs.Bei der Weiterentwicklung der Informationsfreiheitmüssen wir den Gedanken von Open Data mit dem Zieleiner proaktiven Veröffentlichungspflicht aufnehmen.Hierzu werden wir nach der Sommerpause eine eigeneInitiative einbringen.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Mittlerweilesollten wir alle das Vertrauen in die angemessene undsachgerechte Nutzung dieses Instruments durch die Bür-gerinnen und Bürger haben. Dieses Vertrauen könnenwir uns nicht nur leisten, wir sollten es uns leisten. Dennich bin davon überzeugt, dass politische Entscheidungenbesser werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger infor-miert sind und daran mitwirken können.Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!Sehr geehrte Kollegen! Der von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen vorgelegte Gesetzentwurf ist die voll-kommen überflüssige Wiederholung der Vorlage, die Sieschon in der letzten Legislaturperiode eingebracht haben
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Stephan Mayer
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und die schon damals mit einer klaren Mehrheit in die-sem Hohen Hause abgelehnt wurde.
Man kann dazu also nur sagen: alter Wein in neuenSchläuchen. Vielleicht ist es aber nicht ganz so. Viel-leicht ist es so, meine werten Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen, dass Ihnen die Piraten so sehr im Na-cken sitzen, dass Sie Angst haben, nervös sind und des-halb jetzt versuchen, mit diesem Gesetzentwurf ver-meintlich verlorenen Boden gegenüber den Piratengutzumachen.
Wenn man Ihren Gesetzentwurf liest, kann man sichnicht des Eindrucks erwehren, dass es einen inflationä-ren Gebrauch von Begriffen wie Transparenz, Mitbe-stimmung und Teilhabe gibt. Selbstverständlich fördertauch die christlich-liberale Koalition Transparenz in derVerwaltung sowie eine größere Teilhabe der Bürgerin-nen und Bürger an und in politischen Entscheidungspro-zessen. Als jüngste Beispiele hierfür seien die geplantenÄnderungen für eine frühere Bürgerbeteiligung beiGroßvorhaben oder aber der von Bundesverkehrsminis-ter Dr. Ramsauer am 1. Mai dieses Jahres eröffnete Kon-sultationsprozess zur Neuregelung des Punktesystemsund des Verkehrszentralregisters in Flensburg genannt.Wohlgemerkt: Die von uns in diesem Bereich durchge-führten Maßnahmen sind bereits alle nach dem gelten-den Recht möglich und auch zulässig. Einer Änderungdes Grundgesetzes bedarf es hierfür nicht.Darüber hinaus wirft der von Ihnen, meine wertenKolleginnen und Kollegen von den Grünen, vorgelegteGesetzentwurf eher neue Fragen auf, als dass er ver-meintlich bestehende Schwierigkeiten rund um den Zu-gang zu öffentlichen Informationen beseitigt. So werdennach dem Wortlaut der Ergänzung zusätzlich zu den In-teressen der Allgemeinheit der Verbraucherschutz undder Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als beson-ders vorrangige Güter von Verfassungsrang hervorgeho-ben. Diese Hervorhebung ist allerdings aufgrund der be-reits existierenden Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz undArt. 20 a Grundgesetz verfassungsrechtlich nicht gebo-ten. Sie wirft in dieser Form eher neue verfassungsrecht-liche Fragen insbesondere in Bezug auf das Verhältnisder einzelnen Normen zueinander auf, als dass verfas-sungsrechtliche Fragen gelöst werden. Aber auch dievon Ihnen vorgelegte Begründung für die Erforderlich-keit einer Ergänzung des Grundgesetzes vermag nicht zuüberzeugen.Wir haben gestern den Evaluationsbericht des Insti-tuts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation inSpeyer zum Informationsfreiheitsgesetz bekommen. Erumfasst insgesamt über 560 Seiten.
– Ich muss gestehen: Ich habe ihn noch nicht ganz gele-sen,
aber schon einmal durchgeblättert. Mir fiel auf, dass das,was auf Seite 345 aufgeführt wird,
den Schluss zulässt, dass Ihre Einschätzung nicht zu-trifft. Das Institut kommt nämlich zu dem Ergebnis, dassdie Gerichte sehr zurückhaltend und restriktiv vorgehen,wenn es um die Definition der von Ihnen angeführtenBetriebs- und Geschäftsgeheimnisse geht. Das Gegenteilvon dem, was Sie gesagt haben, ist also der Fall. Die Ge-richte sind sehr zurückhaltend, wenn behauptet wird,dass dem Auskunftsanspruch Geschäfts- und Betriebsge-heimnisse entgegenstehen. Insoweit ist die von Ihnen be-schriebene Konstellation, dass der einfachgesetzlicheAnspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz auf-grund der Normenhierarchie häufig hinter möglichenRechten mit Verfassungsrang zurücktritt, in der Praxisnicht relevant.
Hinzu kommt, dass viele Behörden ihre Informations-politik bereits verändert haben und von sich aus eineVielzahl von Daten und Informationen in entsprechen-den Internetportalen zur Verfügung stellen. Dass diesbe-züglich noch Verbesserungspotenzial besteht, ist unbe-stritten.
Entsprechende Initiativen des Bundesinnenministeriumssowie der Innenministerien der Länder zu Open Datawurden schon gestartet.Fakt ist auch, dass die Erhebungen im Zusammen-hang mit dem Evaluationsbericht ergeben haben, dass inden letzten Jahren keine besondere Zunahme der Anfra-gen auf Zugang zu Informationen nach dem Informa-tionsfreiheitsgesetz verzeichnet werden konnte. Ziehtman einzelne Massenabfragen, querulatorische Abfra-gen ab, erhält man nahezu stagnierende Zahlen.
Auch andere Untersuchungen, zum Beispiel die Stu-die „Bürger online“ vom September 2011, kommen zudem Ergebnis, dass sich durch die neuen Möglichkeitendes Internets und durch die Digitalisierung die partizipa-
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Stephan Mayer
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tiven Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger – insge-samt betrachtet – keinesfalls verstärkt haben.Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse der Evaluation,dass sich hinter den meisten Anfragen nach dem Informa-tionsfreiheitsgesetz, über die vor Gericht entschiedenwerden musste, gerade nicht partizipationswillige Bürge-rinnen und Bürger verbergen, sondern ungefähr zur HälfteLobbyisten, Rechtsanwälte, Anleger, Insolvenzverwalterund Pressevertreter, also durch die Bank Personen bzw.Berufsgruppen, die schon unter den vorhandenen rechtli-chen Gegebenheiten und aufgrund spezialrechtlicher Vor-schriften über umfangreiche Auskunftsrechte verfügen,zum Beispiel nach dem Aktiengesetz oder den Pressege-setzen der Länder. Daher sollte man auch über Fragen desMissbrauchs und nicht nur über eine Erweiterung desRechts auf Informationszugang sprechen.Ich finde es zum Beispiel sehr interessant, dass in derAbteilung Sport des Bundesinnenministeriums derzeitzehn Mitarbeiter damit beschäftigt sind, 66 Anfragenvon nur zwei Journalisten zu bearbeiten. Diese Anfragenführen dazu, dass Tausende von Seiten gewälzt werdenmüssen.
Man muss sich die Frage stellen, ob hier wirklich das In-formationsinteresse im Vordergrund steht oder ob es da-rum geht, Recherchearbeiten, die ansonsten von Journa-listen zu leisten sind, auf die Verwaltung zu verlagern.Um die Effektivität der Verwaltung zu sichern, müssenwir uns, glaube ich, intensiv damit beschäftigen, ob eshier nicht zu einer übermäßigen und überzogenen Bin-dung von wichtigen personellen Kapazitäten kommt,insbesondere in den Bundesministerien.Die von den Grünen vorgeschlagenen Änderungendes Grundgesetzes sind weder in der Sache erforderlichnoch, wie von mir ausgeführt, rechtlich ausgereift. Siewürden vor allem neue und überflüssige Rechtsfragenaufwerfen. Ich glaube, wir sind gut beraten, den sehrumfangreichen Evaluationsbericht des Instituts ausSpeyer zu lesen und auszuwerten. Wir sollten nicht vor-schnell Hand an unser wichtigstes Gesetz legen, an unserGrundgesetz. Vor diesem Hintergrund kann man IhremGesetzentwurf nur eine klare Absage erteilen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren!
Der Kollege von Notz ist ein netter Mensch. Er ist einguter Mensch. Er meint es gut. Er ist ein netter Gut-mensch.
Aber reicht das aus, wenn es darum geht, unser wunder-bares Grundgesetz zu ändern? Ich glaube, dass das ehernicht ausreicht. Das sage ich einmal ganz zurückhaltend,Herr von Notz.Ich habe mir den von Ihnen vorgeschlagenen Geset-zestext angeschaut. Ich will jetzt gar nicht so sehr insDetail gehen. In das Grundgesetz das Wort „insbeson-dere“ hineinzuschreiben, da bekomme ich Frostbeulen.
Das ist nicht nur sprachlich falsch. Was wollen Sie damiteigentlich zum Ausdruck bringen? Was sonst ist damitgemeint? Herr von Notz, das geht so gar nicht. Ichglaube, dass das, was Sie vorschlagen, gut gemeint ist,aber es ist leider nicht gut gemacht.Damit will ich meinen Redebeitrag nicht unbedingtschon beenden; denn das wäre, glaube ich, ein bisschenunfair. Es ist in der Tat so: Wir haben in Deutschland inunseren Regierungen und in unseren Behörden nach wievor ein exklusives Informationsverständnis. Wir brau-chen aber ein inklusives Informationsverständnis undInformationsverhalten, zumal wir im digitalen Informa-tionszeitalter angekommen sind und ganz andere Mög-lichkeiten als früher haben.
Ich will jetzt nicht über vergangene Kriege reden,aber doch den kurzen Hinweis geben – das Wort istschon mehrfach gefallen –, dass es auf der Ebene desBundestages ein ganz mühevoller Prozess war, dasInformationsfreiheitsgesetz zu verabschieden. Das warin rot-grüner Zeit ein ziemlich genau siebenjährigerKampf gegen die rot-grüne Bundesregierung.
Wir waren umzingelt von Bedenkenträgern, die sagten:Das haben wir noch nie so gemacht,
wo kommen wir da hin. Es gab Bedenkenträger unab-hängig vom Parteibuch, selbstverständlich auch bei So-zialdemokraten und bei Grünen. In den Ämtern und inden Regierungen, überall sind wir auf Mauern gestoßen.
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Dr. Dieter Wiefelspütz
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Wir haben zum Schluss nach langem Kampf mit etwasGlück und mithilfe der FDP im Bundesrat
die Mehrheit gefunden; sonst wäre es gescheitert.Jetzt haben wir dieses Gesetz seit fünf Jahren, und,Herr Geis, die Bundesrepublik Deutschland ist nochnicht untergegangen.
Sie lebt weiterhin und blüht. Es mag sein, dass die eineoder andere Erwartung nicht so eingetreten ist, wie esbefürchtet oder auch erhofft worden ist, aber das Infor-mationsfreiheitsgesetz, mit dem wir jetzt fünf Jahre langErfahrung haben, ist eine Errungenschaft. Ich bedauresehr, dass es in einigen Bundesländern noch nicht exis-tiert.Dieses Gesetz müssen wir nicht nur verteidigen, Herrvon Notz, sondern wir müssen jetzt auch sozusagen dienächste Rakete starten.
Der nächste Schritt muss gemacht werden. Wir brauchenaber keine beliebigen Verfassungsänderungen, die nichtdurchdacht sind, sondern eine kluge Weiterentwicklungbestehender Gesetze,
Herr Wieland, um aus einem exklusiven Informations-verständnis ein inklusives zu machen.Herr von Notz, das Wissen unserer Regierungen – esist ja unglaublich, was in Berlin und Bonn und sogar beiIhnen, Herr Stadler, an Wissen angesammelt worden ist –
ist nicht das Wissen von Mandarinen, von Herrschafts-technikern. Das ist Wissen für das Volk und nicht Wissenohne oder gegen das Volk.
Ich glaube, wir haben heute im digitalen Zeitalter, inZeiten des Internets unglaubliche Möglichkeiten, diesesWissen an das Volk heranzutragen.
Wir sollten uns nicht ablenken lassen, lieber Herr vonNotz, von Debatten über Grundgesetzänderungen, son-dern wir sollten die praktischen Möglichkeiten, die esschon heute gibt, endlich ergreifen und weiterentwi-ckeln. Ich glaube, es gibt auf der Ebene der Bundesregie-rung, auf der Ebene der Landesregierungen, auf derEbene vieler Ämter und auf der Ebene der Gemeindenjede Menge Möglichkeiten. Da und dort werden dieseauch schon genutzt. Ich glaube, dass wir deutlich hinterden Möglichkeiten zurückbleiben, die es schon heutegibt.Davor muss man keine Angst haben. Wir sollten diesnicht als Bedenkenträger angehen, sondern wir solltengemeinsam die Initiative ergreifen, um hier voranzu-kommen.
– Stellen Sie mir bitte mehrere Fragen, lieber HerrWieland!
Herr Kollege, Sie gestatten also die Zwischenfrage? –
Bitte schön, Kollege Wieland.
Herr Kollege Dr. Wiefelspütz, Sie haben sich gerade
so furchtbar über das Wort „insbesondere“ ereifert und
gesagt, dieses dürfe man nicht ins Grundgesetz schrei-
ben. Sie haben gesagt, davon würden Sie Frostbeulen be-
kommen. Wie können Sie mir erklären, dass es in
Art. 13 Abs. 7 unserer Verfassung heißt – dies wurde
von Ihnen mit formuliert, mein lieber Herr Professor –:
… dringender Gefahren für die öffentliche Sicher-
heit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der
Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder
zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenom-
men werden.
Hat Ihr Körper da als Warnsignal versagt?
Zunächst muss ich Ihnen widersprechen: Ich bin keinProfessor, lieber Herr Wieland,
sondern bestenfalls ein gefühlter Professor.
Herr Wieland, schlecht bleibt schlecht, selbst wenn ichunter Umständen an der einen oder anderen Sache betei-ligt gewesen sein sollte.
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21758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Dieter Wiefelspütz
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Das Wort „insbesondere“ gehört nicht ins Grundgesetz,Herr Wieland.
Setzen Sie sich bitte.
Letzten Endes bin ich bei aller Freude über die De-batte ganz ernsthaft der Auffassung, dass wir, Herr vonNotz – das ist mir vielleicht sogar wieder etwas unange-nehm –,
in der Sache ganz nah beieinander sind. Lassen Sie unsdie Sache vorantreiben und nicht Scheindebatten überschlechte Formulierungen im Grundgesetz führen! Las-sen Sie uns unser Grundgesetz lieber vor Verunstaltun-gen, insbesondere vor Verunstaltungen, schützen!
Herzlichen Dank für das Zuhören.
Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist kurz vor Pfings-ten, und ich habe soeben ein Wunder erlebt.
Dass der Kollege Wiefelspütz immer unterhaltsam ist,würde ich nicht abstreiten. Aber dass ich einmal bei ei-ner Rede von Ihnen, Herr Wiefelspütz, klatschen würde,weil ich mit Ihnen einer Meinung bin: Wow! Ich finde,jetzt können wir Pfingsten feiern. Respekt!
Man muss auch einmal fraktionsübergreifend Zustim-mung signalisieren können.Im Hinblick auf die Fraktion, die den vorliegendenGesetzentwurf eingebracht hat, fällt mir das allerdingsschwer. Als ich den ersten Absatz der Problembeschrei-bung im Gesetzentwurf der Grünen gelesen habe, ist mireine Anekdote eingefallen, die ich über die neu in einenLandtag gewählte Fraktion der Piraten gehört habe.
Da kam einer der neuen Abgeordneten der Piraten – deraus Ihrer Sicht sicherlich zu der Spezies kompetenterDemokraten gehört – voll von berechtigter Wut, wie Siees beschreiben, in seinen neuen Ausschuss und fordertedie umgehende Herausgabe der Geheimdokumente. DieVerwunderung war sehr groß, als er feststellen musste,dass alle Dokumente, die im Parlament beraten werden,ganz offiziell im Internet, nämlich auf der Webseite desLandtages – also nicht etwa bei WikiLeaks oder ir-gendwo anders, sondern ganz offiziell auf der Homepagedes Landtages –, abrufbar sind und jedem Menschen freizur Verfügung stehen.
Ob daraufhin seine „berechtigte Wut“ verpuffte oder obdiese Erkenntnis seine Kompetenz als Bürger steigerte,ist nicht überliefert. Aber das zeigt, dass vieles gar nichtbekannt ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,über eines muss ich mich schon sehr wundern, nämlichüber Ihr Parlamentsverständnis. Ich muss Sie wirklichganz ernsthaft fragen, wie Sie als verantwortungsvolleParlamentarier in Ihrer Problembeschreibung darlegenkönnen, es entstünde berechtigte Wut, wenn gewählteVolksvertreter über den Kopf der Bürgerinnen und Bür-ger hinweg intransparente Entscheidungen träfen. Wasist das eigentlich für ein Verständnis? Auch Sie sitzennämlich hier und machen Gesetze. Ich kann das nichtverstehen. Ich finde, Sie sollten sich noch einmal überle-gen, ob das so richtig ist. Selbstverständlich kann manauch auf der Internetseite des Bundestages – das sage ichfür alle, die uns zuhören und zuschauen –, unterwww.bundestag.de, alle Entscheidungen nachvollziehen.Von intransparenten Entscheidungen kann man da,glaube ich, überhaupt nicht sprechen.
Man sollte meinen, dass auch die Grünen das eigentlichwissen könnten.Ich kann dem Kollegen Wiefelspütz insoweit folgen,als wir, was das Informationsfreiheitsgesetz betrifft, garnicht so weit voneinander entfernt sind. Sie haben netter-weise darauf hingewiesen, dass wir dieses Vorhaben mitbefördert haben. Wir sind darauf auch sehr stolz. Wirsind auch sehr stolz darauf, dass wir jetzt, nach fünf Jah-ren, eine Evaluierung auf den Weg gebracht haben. Ichglaube, hier kann man sicherlich noch an der einen oderanderen Stellschraube drehen.Die Grünen allerdings schüren Ressentiments gegenden Parlamentarismus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21759
Gisela Piltz
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Nachdem ich mir genau durchgelesen habe, was Sie inIhrem Gesetzentwurf schreiben, muss ich sagen:
Aus meiner Sicht leisten Sie dem wichtigen und gemein-samen Anliegen der Stärkung der Informationsfreiheiteigentlich einen Bärendienst. Sie müssen sich wirklichfragen lassen, ob das im Sinne der Informationsfreiheitist.
– Ja, gerne, Herr Präsident.
Also, bitte schön.
Vielen Dank. – Frau Kollegin Piltz, auch weil der
Kollege Schulz bei der Beschreibung des erfreulichen
Status quo so intensiv klatscht: Können Sie vielleicht er-
klären, warum die Bundestagsdokumente, die wir haben,
bei uns eben nicht alle wie im Europäischen Parlament
online zugänglich sind? Warum sagen auch Vertreter Ih-
rer Fraktion und Ihre Sachverständigen in der Enquete-
Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ selbst-
verständlich, dass wir auch im Bereich des Parlamenta-
rismus eine Verbesserung der Transparenz brauchen? Ich
wehre mich stark gegen den Vorwurf, ich würde den Par-
lamentarismus madig machen. Es geht darum, ihn wei-
terzubringen und offener zu gestalten. Bisher habe ich es
immer so verstanden, dass das auch die Linie von ande-
ren ist. Sie können aber jetzt gern davon Abstand neh-
men und sagen, dass Sie das nicht wünschen und das
nicht wollen.
Herr Kollege von Notz, selbstverständlich ist es dasAnliegen von allen hier, so offen und so transparent wiemöglich mit dem, was wir hier tun, umzugehen. Ichglaube, hier gibt es überhaupt keinen Streitpunkt.Sie sagen hier zum einen über sich und den Parlamen-tarismus: Wir sind nicht transparent. Das ist schon heuteUnsinn. Zum anderen hat das, was Sie mit Ihrem Antragbeabsichtigen, nur begrenzt mit dem Parlamentarismuszu tun. Das geht darüber hinaus.Wenn Sie mögen, können Sie sich setzen. Ich glaube,dann haben Sie mehr Spaß. Wenn Ihnen meine Antwortnicht gefällt: Da müssen Sie durch.Ich glaube, Sie irren auch, wenn Sie meinen, dass eszur Verwirklichung der Informationsfreiheit einer Ände-rung des Grundgesetzes bedürfe. Ich habe für den Fall,dass Sie mir nicht glauben, extra das Grundgesetz mitge-bracht. Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz desGrundgesetzes hat jeder das Recht, „sich aus allgemeinzugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“.All denjenigen, die vielleicht nicht jeden Tag so ge-nau ins Grundgesetz schauen, sage ich: Es gibt auch einGrundrecht auf Datenschutz. Das ist vom Verfassungs-gericht fortentwickelt worden. Es ist nicht so, dass dasalles nicht existent wäre, nur weil es nicht im Grundge-setz steht. Das gibt es alles. Sie erwecken hier einen Ein-druck, der am Ende nicht richtig ist. Ich glaube, das hilftunserem gemeinsamen Anliegen am Ende überhauptnicht.Das Informationsfreiheitsgesetz bestimmt die Zu-gänglichkeit von Informationen der Verwaltung undmacht diese dadurch zu allgemein zugänglichen Infor-mationen, indem sie nur ausnahmsweise zurückgehaltenwerden dürfen. Damit unterliegen sie schon heute dembestehenden Grundrecht auf Informationsfreiheit.Die weitere Frage, ob die im Informationsfreiheitsge-setz bestimmten Ausnahmen zu weit gehen und mithinden Anspruch der Bürger zu sehr einschränken, ist hierund heute nicht zu debattieren, auch wenn das heute einespannende Debatte wäre.
Es ist aber falsch, dass sich die im Informationsfreiheits-gesetz normierten Grenzen durch die hier vorgelegteGrundgesetzänderung verschieben würden. Dazu be-dürfte es aus meiner Sicht schlicht einer Änderung deseinfachen Rechts – eines Rechts, dem die Grünen selbstdiese Grenzen auferlegt haben – und nicht einer Ände-rung der Verfassung. Das möchte ich hier betonen. Wärees anders, dann hätten Sie das schon damals in dem vonHerrn Wiefelspütz korrekt beschriebenen Kampf – ichkann mich gut daran erinnern – gegen die rot-grüne Bun-desregierung durchgesetzt.Sie haben es so gewollt. Wahrscheinlich waren Sie inder Vorlesung „Grundrechte Teil I“ oder so ähnlich, alswir das Informationsfreiheitsgesetz auf den Weg ge-bracht haben.
– Entschuldigung, das musste sein.Sie verkennen immer noch den Charakter der Grund-rechte. Sie schlagen hier ein Informationszugangsgrund-recht vor, das sich auch auf Private erstreckt, also aufUnternehmen. Auch gegenüber diesen soll das Grund-recht gelten. Ich weiß, Sie protestieren jetzt. Sie wollendieser Problematik begegnen, indem Sie eine Gewähr-leistungspflicht des Gesetzgebers einführen wollen, alsoein Grundrecht auf eine ganz bestimmte und schon kon-kret vorgegebene Gesetzgebung nach dem Motto: Um-weltschutz ist immer wichtiger. Das funktioniert nicht,wenn man die Grundrechte kennt. Das kann das Grund-gesetz auch nicht leisten. Deshalb sind Sie hier auf ei-nem Holzweg.Ich will das Thema Status positivus zur Norm machennicht vertiefen. Sie wissen das alles. Sie tun so, als obdies kein Problem wäre. Selbstverständlich ist das einProblem. Auch das Wirtschaftsverständnis der Grünen,
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Gisela Piltz
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das hinter diesem Vorschlag steckt, finde ich erstaunlich,denn es ist aus meiner Sicht mit der sozialen Marktwirt-schaft unvereinbar. Die Verbraucherinformation ist fürunsere Marktwirtschaft ein zentraler Punkt, das ist unbe-stritten. Wir waren am Verbraucherinformationsgesetzbeteiligt. Wir hätten es uns vielleicht sogar anders ge-wünscht, aber nur mündige Verbraucher können ihreMarktmacht entsprechend ausüben. Mündige Verbrau-cher sind notwendigerweise informierte Verbraucher.
Ebenso haben aber Unternehmen in der Marktwirtschaftselbstverständlich das Recht, ihre Betriebs- und Ge-schäftsgeheimnisse vor ihren Mitbewerbern zu bewah-ren.Das spiegelt sich auch in der geltenden Rechtslagewider.
In den Fällen, in denen bereits Umwelt- oder Gesund-heitsgefahren bestehen, geht es bei Verbraucherinforma-tionen gerade nicht um Ansprüche gegen die Unterneh-men, sondern um Informationen, die von Behördenweitergegeben worden sind. Der Gesetzentwurf würdealso bedeuten, dass Umweltschutz und Verbraucher-schutz quasi über allen anderen Grundrechten schweben.Wie eben gesagt: Umweltschutz ist besser als alles an-dere. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfallwürde gar nicht mehr stattfinden.Das ist etwas, was wir Liberale, die sich jeden Tagmit Grundrechten beschäftigen und damit sehr gut aus-kennen, nicht mitmachen können.
– Ich weiß, Sie glauben das nicht.
– Nein, ich will auch keine Professorin sein, niemalsnicht. Das unterscheidet mich von Herrn Wiefelspütz.Damit bin ich wieder am Anfang. Es ist schön, dasswir eine gemeinsame Meinung dazu haben. ÜberlegenSie sich gut, ob Sie die Grundrechte so ändern wollen.Sie sind damit ziemlich alleine im Parlament, und dasist, ehrlich gesagt, auch gut so.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen möchte das Recht auf Zu-gang zu öffentlichen Informationen im Grundgesetz ver-ankern. Das ist selbstverständlich zu begrüßen. Eineinformierte und aktive Zivilgesellschaft ist die Voraus-setzung für unsere Demokratie, und dazu braucht esselbstverständlich auch ein Zugangsrecht zu Informatio-nen.
Man könnte natürlich darüber streiten, ob dies einerGrundgesetzänderung bedarf und ob nicht auch die In-formationsfreiheitsgesetze der Länder und des Bundespräzisiert werden sollten. Eine Festschreibung diesesRechts auch im Grundgesetz ist aber richtig und kannnicht schaden.Zu einer aktiven demokratischen Gesellschaft gehörtaber auch und vor allem – da werden Sie mir sicher zu-stimmen – das Recht, seine Meinung ungehindert aus-drücken zu dürfen. Die Grünen wollen mit ihrem Ge-setzentwurf den Art. 5 des Grundgesetzes erweitern. Wiebeginnt dieser Artikel? Er beginnt mit den Worten: „Je-der hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift undBild frei zu äußern und zu verbreiten“.Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Ihr Vor-stoß ist richtig und wichtig. Es ist richtig, sich um die Er-weiterung und Präzisierung unserer Rechte zu kümmern.Es ist aber ebenso wichtig, für die Einhaltung undDurchsetzung der Grundrechte zu sorgen. Da erstaunt esschon, dass die Grünen hier mit dem Gestus einer Voll-blutbürgerrechtspartei auftreten. Sie machen sich hierund heute zwar stark für die Erweiterung des Art. 5 desGrundgesetzes, letzte Woche in Frankfurt haben Sie sichaber ganz anders verhalten. Da haben Sie mitgeholfen,die grundgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit einzu-schränken.
– Es war genau so. Danke für den Zwischenruf aus derKoalition.
Vergangene Woche wollten sich Menschen in Frank-furt am Main versammeln, um ihre Meinung zu demSpardiktat von Troika und Regierung und zu dem unde-mokratischen EU-Fiskalpakt kundzutun.
– Ja, ich bin mir sicher, dass ich zum richtigen Tagesord-nungspunkt rede. Es geht ja um die Erweiterung desArt. 5 des Grundgesetzes. Es geht um die Erweiterungder Meinungsfreiheit, und in diesem Zusammenhang
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Nicole Gohlke
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kann man doch auch über die aktuelle Gewährleistungdieses Artikels reden und debattieren.
Es sollten drei aktionsreiche und lebendige Tage inFrankfurt werden, Tage der direkten und demokratischenMeinungsäußerung.
Zelten auf öffentlichen Plätzen, Kundgebungen undKonzerte an verschiedenen Orten der Stadt und eine De-monstration als Abschluss waren geplant. Schon im Vor-feld hatte die Stadt Frankfurt aber angekündigt, dasVersammlungsrecht massiv einzuschränken, und dieschwarz-grün geführte Stadtregierung hat diese Ein-schränkung der Meinungsfreiheit wirklich knallhart um-gesetzt.
17 Kundgebungen und Aktionen wurden verboten. Vonden geplanten 73 inhaltlichen Veranstaltungen konntenlediglich 8 an Ausweichorten stattfinden. Die Innenstadtwurde abgeriegelt. 5 000 Polizistinnen und Polizistenwaren im Einsatz. Ein derartig umfassendes Demonstra-tionsverbot hat es in der Geschichte der Bundesrepublikbisher nicht gegeben.
– Das ist aber so. – Dass das ausgerechnet von den Grü-nen in Regierungsverantwortung verordnet und exeku-tiert wurde, ist ein politischer Skandal, und auch dasmüssen Sie sich anhören.
Ich war von Mittwoch bis Samstag als Beobachterinin Frankfurt und habe selbst erfahren, wie die Demokra-tie durch diese Verbotspraxis mit Füßen getreten wurde.Drei Busse aus Berlin wurden noch auf der Autobahnzur Rückkehr nach Berlin aufgefordert. AnreisendeMenschen erhielten für drei Tage Platzverweise für dieStadt Frankfurt, übrigens auch für den Zeitraum der ge-nehmigten Demonstration. Junge Menschen wurdenstundenlang in Polizeikesseln festgehalten. Insgesamtwurden 1 430 Personen in Gewahrsam genommen. Auchdie Presse – wenn wir über Art. 5 des Grundgesetzes re-den, dann reden wir auch über die Gewährleistung derPressefreiheit – wurde immer wieder daran gehindert, zuberichten.Von den Frankfurter Grünen kam keinerlei Wider-stand gegen diese Einschränkungen der Meinungs- undVersammlungsfreiheit. Stattdessen bezeichnet der Frak-tionsvorsitzende Manuel Stock die Verbote als „Verwal-tungsakt“.
Die Durchsetzung von Verboten und Verwaltungsakten,das ist kein Bürgerrechtsverständnis.
Die gute Nachricht ist: Trotz aller Verbote lassen sichProtest und das Recht auf freie Meinungsäußerung nichtverbieten. Tausende von Menschen folgten dem Aufrufdes Bündnisses. An der Demonstration am Samstag be-teiligten sich knapp 30 000 Menschen. Das war diegrößte Demonstration in Frankfurt seit mindestens zehnJahren.Wenn also die Grünen heute nach diesen Vorkomm-nissen einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des Art. 5Grundgesetz auf freie Meinungsäußerung einbringen,dann sage ich Ihnen: Sorgen Sie dafür, dass dort, wo SieVerantwortung wie in Frankfurt tragen, das Recht aufMeinungsfreiheit gewährleistet wird.
Vielen Dank.
Das Wort zum Tagesordnungspunkt 35 hat jetzt Kol-
lege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, es gibt selten ein Land in Europaoder vielleicht sogar weltweit, das das Recht auf Mei-nungsfreiheit in einem solchen Maße achtet, wie das beiuns der Fall ist, und zwar von der Verwaltung her undvon der Polizei her, aber auch das Recht der Meinungs-freiheit im privaten Bereich. Das sollten Sie hier nichtanzweifeln. Die Vorfälle von Frankfurt müssen Sie sicherst einmal genau ansehen.
Dann werden Sie vielleicht zu dem Schluss kommen –ich weiß es nicht –, dass die dort beschlossenen Ein-schränkungen mit Recht geschehen sind.
Es gibt kein absolut freies Recht auf Meinungsäuße-rung. Es geht aber hier im Augenblick nicht so sehr umdie Meinungsfreiheit, sondern um die Informationsfrei-heit. Das ist das Anliegen der Grünen. Der Parlamentari-sche Rat hat in der Tat die Meinungsfreiheit und die In-formationsfreiheit in einem Atemzug genannt und sie inArt. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes niedergeschrie-ben. Das ist richtig. Das heißt aber nicht, dass die Infor-mationsfreiheit, weil in der öffentlichen Meinung – dashaben wir eben wieder gehört – meistens das ThemaMeinungsfreiheit dominiert, weniger ein Grundrechtwäre. Beides gehört zusammen. Es ist auch sinnvoll, bei-des zusammen zu erwähnen, weil man keine Meinung
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Norbert Geis
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haben kann, ohne sich vorher informiert haben zu kön-nen.Die Informationsfreiheit gehört zur Meinungsfreiheitgenau so wie die Meinungsfreiheit umgekehrt zur Infor-mationsfreiheit gehört. Trotzdem sind es zwei verschie-dene Rechtspositionen. Beide haben einen besonderenSchutzbereich. Es ist nicht so, dass bei einer Einschrän-kung der Meinungsfreiheit zugleich auch die Informations-freiheit einzuschränken ist. Das haben wir in Frankfurt ge-sehen. Es ist auch so: Wenn die Informationsfreiheiteingeschränkt wird, wird nicht gleichzeitig die Mei-nungsfreiheit eingeschränkt. Beide Rechte stehen neben-einander. Beide haben einen eigenen Schutzbereich.Beide können selbstständig bedroht werden.Nachdem wir diese beiden Rechte im Grundgesetzbereits verankert haben, und zwar seit Bestehen desGrundgesetzes, ist die Frage, ob es notwendig ist, dasRecht auf Informationsfreiheit noch einmal eigens in ei-nem neuen Art. 5 Abs. 2 a zu betonen. Dies weisen wirzurück. Das, glauben wir, ist nicht notwendig. Wir habenbereits gesetzliche Regelungen, die sich gerade aufArt. 5 des Grundgesetzes beziehen – sie sind hier ge-nannt worden –, das Recht auf Informationsfreiheit, dasvon Rot-Grün geschaffen wurde; das ist richtig. Es gibtauch entsprechende Rechte in den Ländern.Es gibt in den verschiedenen Rechtsgebieten bzw. Po-litikbereichen eigene Informationsrechte, wie im Um-weltbereich, wie im Verbraucherschutz. Beispielsweiseist auch das Stasi-Unterlagen-Gesetz ein solches Infor-mationsfreiheitsgesetz. In vielen anderen Gesetzen, bei-spielsweise im Verwaltungsverfahrensgesetz, gibt es dasRecht auf Information. Es gibt in der Strafprozessord-nung das Recht des Betroffenen auf Information.Dieses Recht auf Information, das ganz stark nebendem Recht auf Meinungsfreiheit steht und nicht wenigergeachtet wird, haben wir bereits. Wir glauben nicht, dasses unbedingt notwendig ist, dieses eine Recht auf Infor-mation noch einmal eigens zu betonen.
Wir meinen sogar, das könnte unter Umständen zu einerMissdeutung führen. Es könnte vielleicht sogar zu einerungewollten Überbetonung des Informationsrechts bei-spielsweise gegenüber dem Recht auf informationelleSelbstbestimmung führen, das auch ein Grundrecht ist.Denn wenn der Einzelne Zugang zu den Akten hat – hierwird die Transparenz der Verwaltung gefordert – und da-rin nachlesen kann, dann kommt er auch immer an Datender einzelnen Bürger, die ihre Daten der Verwaltung an-vertraut haben, in der Hoffnung, dass die Verwaltungsorgsam mit diesen Daten umgeht.Wie kann aber die Verwaltung sorgsam mit diesenDaten, auch wenn es nicht immer ganz persönliche Da-ten sind, umgehen? Stellen Sie sich zum Beispiel vor,dass jemand einen Bauplan vorlegt, in dem aufgezeich-net ist, wo er sein Wohnzimmer, sein Schlafzimmer undseine Küche hat. Was geht das einen Dritten an? Aberder Dritte hätte dann nach Ihrer Auffassung ein Grund-recht darauf. Es könnte so ausgelegt werden. Der Ge-setzgeber könnte es so auslegen, lieber Herr von Notz,und die Gerichte könnten es so auslegen.Deshalb glauben wir, dass dadurch die Ermessensfrei-heit, die die Verwaltung bisher in der Frage hat, ob demeinzelnen Bürger ein Akt gezeigt werden kann, einge-schränkt würde. Sie würde durch den Gesetzgeber oderdie Gerichte unter Umständen zu einem Befehl ausge-staltet werden. Wir meinen, dadurch käme ein anderesGewicht hinein. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dassdie Verwaltung weiter frei entscheiden kann, ob sie demEinzelnen Einblick in die Akten gewährt.Es kommt ein Weiteres hinzu – das möchte ich ab-schließend erwähnen –: Darin ist unter Umständen auchein Eingriff in den Kernbereich der Exekutive zu sehen.Denn es ist immer die Frage, ob es notwendig ist, einenbestimmten Verwaltungsvorgang transparent zu machen,und ob dadurch der Entscheidungsprozess offenbartwird. Ich halte das nicht unbedingt für notwendig.Deswegen meinen wir, dass das Grundrecht auf Infor-mation, wie es jetzt im Grundgesetz niedergelegt ist,nicht durch das vorliegende Gesetzesvorhaben geändertwerden muss.Danke schön.
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Diepolitische Absicht der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,die Informationszugangsrechte zu erweitern, ist grund-sätzlich begrüßenswert, Herr von Notz, oder um es mitProfessor h. c. Wiefelspütz zu sagen: Es ist gut gemeint.Herr Wiefelspütz hat aber zum Schluss auch gesagt: Wirsind in der Sache nicht weit auseinander. Das stimmt.Denn Meinungsbildung geht nur über Informationsmög-lichkeiten und Informationsrechte. Letztlich geht es nurüber Rechte gegenüber dem Staat und vor allen Dingenauch gegenüber den Kommunen.Ich gebe Ihnen auch in einem weiteren Punkt recht.Der Begriff Amtsgeheimnis ist ein Begriff aus vordemo-kratischer Zeit. Er ist ein Relikt der Vergangenheit. Ichhabe auch gerade mit dem Kollegen Wiefelspütz darübergesprochen: Bevor ich Abgeordneter war, habe ichschon einmal gearbeitet.
Ich war nämlich Bürgermeister. Insofern weiß ich: In ei-ner modernen Verwaltung gibt es Portale, und moderneVerwaltungen öffnen sich. Moderne Verwaltungen sindauch immer Ansprechpartner für ihre Bürger, und sieverstehen Transparenz in der Praxis.Die Frage ist nur, Herr von Notz: Brauchen wir überdie bestehenden Gesetze hinaus eine Verfassungsände-rung? Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir
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Dr. Edgar Franke
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2005 das sogenannte Informationsfreiheitsgesetz ge-schaffen haben, das 2006 wirksam geworden ist. HerrWiefelspütz hat es schon gesagt: Es war damals gar nichtso einfach, das politisch durchzusetzen. Es ist auch da-mals erheblich diskutiert worden, was Transparenz vonVerwaltungs- und Regierungsentscheidungen heißt undwas das in der Praxis bedeutet.Herr Wiefelspütz hat auch gesagt: Die FDP hat imBundesrat ein bisschen geholfen. Aber es gibt immernoch fünf schwarze Länder. Ich sehe gerade den neuenPGF, Herrn Grosse-Brömer. Niedersachsen hat, glaubeich, auch noch kein Landesgesetz erlassen.
Vielleicht könnten wir dort auch noch ein bisschen mehrTransparenz schaffen, Herr Grosse-Brömer. Aber mirleuchtet die Begründung nicht ein, Herr von Notz – da-rüber habe ich schon mit dem geschätzten KollegenMontag diskutiert –, dass, um die Länder zu bewegen,entsprechende Gesetze zu erlassen, grundgesetzlicheÄnderungen vorgenommen werden müssen. Ich glaube,hier hat der Föderalismus Vorrang. Sie müssen Mehrhei-ten in den Ländern gewinnen, um das, was Sie wollen,politisch durchzusetzen.Bei Grundgesetzänderungen sollte man grundsätzlichvorsichtig sein. Wir haben in letzter Zeit sowohl im In-nenausschuss als auch im Rechtsausschuss oft über dieVerankerung neuer Staatsziele in der Verfassung disku-tiert. Nach meiner Meinung führt die Aufnahme zusätz-licher Staatsziele, etwa das des Tierschutzes in Art. 20 ades Grundgesetzes, eher dazu, dass wichtige Grund-rechte wie das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaats-prinzip in Art. 20 entwertet werden.Zum Gesetzentwurf noch zwei Anmerkungen – esist das eine oder andere ja schon im Detail angemerktworden –: Sie wollen ein schrankenloses Informations-zugangsgrundrecht gegenüber öffentlichen Stellen ge-währleisten. Herr von Notz, wenn Sie sich die Verwal-tungspraxis anschauen – darauf hat Herr Geis eben auchverwiesen –, dann stellen Sie fest, dass es manchmalwirklich gute Gründe gibt, die rechtfertigen, Vertraulich-keit zu wahren und bestimmte Informationen aus demöffentlichen Bereich und insbesondere aus dem kommu-nalen Bereich nicht schrankenlos nach außen zu geben.Wenn Ihr Vorschlag Gesetz würde, gäbe es ein aus demGrundgesetz abgeleitetes schrankenloses subjektiv-öf-fentliches Informationszugangsrecht. Das könnte manjedoch meiner Meinung nach nicht gewährleisten.Des Weiteren wird vorgeschlagen, ein verfassungs-rechtlich determiniertes Recht auf Information gegen-über Privaten zu gewährleisten. Es wurde, aus meinerSicht jedenfalls zu Recht, schon darauf hingewiesen,was passieren würde, wenn es ein solches Recht gäbe.Letztlich gelten Rechte aus Art. 12 und Art. 14 desGrundgesetzes für Private oder Dritte. Insofern gäbe eseine Schranke. Aus meiner Sicht liefe auch diese zweiteKonstellation in der Praxis weitgehend ins Leere.Man sollte sich eher bemühen, sowohl auf Bundes-ebene als auch auf Landesebene Mehrheiten zu gewin-nen, um die Rechte auf einfachgesetzlicher Grundlage,zum Beispiel im Rahmen des Verbraucherinformations-gesetzes, zu erweitern. Genauso wie gegenüber der Ein-führung von neuen Staatszielen sollte man gerade auchhinsichtlich subjektiv-öffentlicher Rechte Vorsicht wal-ten lassen und das Grundgesetz nur ausnahmsweise än-dern. Ich glaube, hier sollte man politisch eher das Au-genmerk auf die Erweiterung von Spezialgesetzen legen.Auf dieser Ebene sollten die Rechte der Bürger gegen-über staatlichen und insbesondere kommunalen Institu-tionen erweitert werden.Danke schön.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Patrick Sensburg das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Gleich zu Beginn eine Anregung andie Adresse der Fraktion Die Linke: Da Sie, Frau Kolle-gin Gohlke, in Ihrer kämpferischen Rede den letzten Ta-gesordnungspunkt schon vorgezogen haben und ichnicht erwarten kann, dass die Kollegen Buchholz undMaurer dezidiert Tiefgründigeres liefern: Überlegen Siedoch einmal, ob es nicht möglich ist, die Aktuelle Stundeabzusetzen. Schließlich haben Sie schon alles gesagt,was man von Ihnen erwarten kann.
Zur Sache. Beim Gesetzentwurf von Bündnis 90/DieGrünen ist mir zuallererst das Gleiche aufgefallen wieder Kollegin Piltz.
Als ich den Gesetzentwurf und insbesondere die Pro-blembeschreibung gelesen hatte, habe ich zuerst ge-dacht: Was haben Sie bloß für ein Bild von der Tätigkeiteines Abgeordneten und des demokratischen Alltags derPolitik in Deutschland! Als ob die Politik nur aus Filz,Kumpanei, Regieren über die Köpfe der Menschen hin-weg und Korruption bestünde!
– Wer hat da „sehr richtig“ gesagt? Liebe Damen undHerren von der Linken, da sagen Sie „sehr richtig“? Dasist das Bild, das man von der Politik in Deutschland ma-len sollte? Es ist extrem erschreckend, was Sie gerademachen. Ich glaube auch nicht, dass Kollege von Notzdas so meint.
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Dr. Patrick Sensburg
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Ich möchte nur, dass der Antrag nicht falsch verstandenwird. Aber Sie scheinen es wirklich so zu meinen. Siesollten Ihr Politikverständnis einmal überdenken.
Es ist eben nicht so, dass die vielen Kreistagsmitglie-der und die vielen Ratsmitglieder, die sich ehrenamtlichin der Kommunalpolitik engagieren, oder auch die Mit-glieder in den Landtagen und im Bundestag diesem Bildentsprechen. Nein, es ist anders. Die Kollegen vomBündnis 90/Die Grünen leisten exzellente Arbeit; dastun sie ganz offen und ganz transparent. So ist es auchbei den anderen Fraktionen, anscheinend mit Ausnahmeder Linken. Daher liefert die Begründung zur Einleitungdoch ein etwas falsches Bild.In der Sache ist der Gesetzentwurf genauso erschre-ckend, nämlich erschreckend bezüglich der Unkenntnisder Bürgerrechte. Wenn man einmal genauer hinschaut,fragt man sich unwillkürlich: Wissen Sie es nicht besser,oder wollen Sie die Bürger für dumm verkaufen? Sieschreiben in Ihrer Begründung – ich zitiere –:Denn bei der im Einzelfall zu treffenden Abwägungsteht regelmäßig ein grundrechtlich geschütztes In-teresse … dem einfachgesetzlichen Informationsan-spruch der Bürgerinnen und Bürger gegenüber.Sie zitierten dazu eben den Kollegen Kloepfer und be-haupteten, er habe gesagt, dieses grundrechtlich ge-schützte Interesse überwiege.Erstens hat Kloepfer das gar nicht gesagt. Ich emp-fehle Ihnen zur Lektüre das Handbuch des Staatsrechtsvon Kloepfer. Im zweiten Band aus dem Jahre 2010 stehteindeutig, dass man eine Einzelabwägung im konkretenFall vornehmen muss. Nur dann kann man schauen, wel-ches Recht überwiegt. Nicht Normenhierarchie, Grund-recht über einfachem Gesetz. Das ist völlig falsch.
Zweitens muss man ganz deutlich sagen: Es geht umindividuelle Rechte, auf der einen Seite vielleicht dieeines Unternehmers, auf der anderen Seite vielleicht des-jenigen, der einen Anspruch auf Umweltinformationengeltend machen will. Da müssen Sie genau hinschauen,welches Recht überwiegt.
Dabei geht es nicht um die Frage, ob es ein Recht ausArt. 12 oder Art. 14 ist, oder ob es sich um Umwelt-rechte handelt. Hier muss eine Einzelfallabwägung vor-genommen werden.
Deswegen ist die Begründung Ihres Antrags in sich nichtstimmig.
Einen absoluten Bruch – auch das haben wir ebenschon gesehen – stellt Ihr Formulierungsvorschlag fürArt. 5 Abs. 2 a dar: Hier fordern Sie einmal einenGrundrechtsanspruch gegenüber öffentlichen Einrich-tungen und dann einen bundesgesetzlich ausgestaltetenAnspruch gegenüber Privaten. Das ist ein Bruch in sich:Einmal wollen Sie es einfachgesetzlich ausgestaltet ha-ben; zugleich sagen Sie, dass wegen der Normenhierar-chie eine einzelgesetzliche Regelung nicht ausreicht. Siewidersprechen sich also in einem Absatz selber. Daszeigt im Grunde, dass Sie rein darauf aus sind, ideologi-sche Gräben aufzureißen.
Schauen Sie doch einmal – Frau Piltz hat es schon ge-sagt – in das Grundgesetz. Wir haben die grundgesetzli-che Ausgestaltung im Art. 5. Wir haben das Grundrechtauf informationelle Selbstbestimmung. Wir haben dieVerbindung von Art. 5 und dem Demokratie- undRechtsstaatsprinzip.
All das haben wir. Durch Ihre Regelung, gemäß der ausdem Grundgesetz einfache Ansprüche abgeleitet werdensollen, würden Sie das Grundgesetz im Grunde zu einemVerwaltungsverfahrensgesetz degradieren.
Das ist nicht angezeigt.Ich empfehle Ihnen – da komme ich auf das zurück,was auch der Kollege Wiefelspütz angesprochen hat, dereine Rakete starten wollte – in Nordrhein-Westfalen, woSPD und Grüne demnächst wieder regieren wollen,
doch einmal das zu machen, was wir von CDU und FDPin der Legislaturperiode, in der wir regiert haben, be-schlossen haben. Wir haben uns die einfachgesetzlicheSituation angeschaut:
Circa 50 einfachgesetzlich ausgestaltete Informationsan-sprüche haben wir in NRW in den verschiedensten Ge-setzen ausgemacht: Straßenwegegesetz, Gesetz über denZugang zu digitalen Geodaten, Bodenschutzgesetz, Ge-meindeordnung, IFG. Wir haben dann ein Projekt aufden Weg gebracht und gesagt: All das könnte man in ei-nem Gesetz, in einem allgemeinen Informationsgesetz,bündeln. Das war der Vorschlag, den wir erarbeitet ha-ben. Ich empfehle Ihnen das aktuelle Heft des Verwal-tungsarchivs. Da habe ich mit zwei Kollegen, die dasProjekt durchgeführt haben, genau dieses Thema be-schrieben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21765
Dr. Patrick Sensburg
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– So ein Heftchen kostet gar nicht so viel.
Wenn Sie es ernst meinen würden, dann würden Siedie Sache da anpacken, wo Sie regieren. Dann würdenSie die Informationsrechte dort so ausgestalten, dass dieBürger sie in einem Gesetz finden. Dann würden Sienicht fordern, das Grundgesetz zu ändern, sondern dasmachen, was den Menschen etwas bringt, nämlich einenzentralen Anspruch für alle Informationsrechte. Sie aberhandeln doppelzüngig: Wenn Sie in der Opposition sind,dann fordern Sie, aber wenn Sie an der Regierung sind,machen Sie nichts. Wir können Ihrem Gesetzentwurfdeshalb mit Sicherheit nicht zustimmen.Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Wenn Sie dann auchnoch das Heft kaufen, bin ich noch glücklicher.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9724 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die
Federführung beim Innenausschuss liegen soll. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Demonstrationsfreiheit sichern – Occupy-Pro-
teste nicht kriminalisieren
Ich eröffne die Aussprache und erteile Christine
Buchholz für die Fraktion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Derschwarz-grüne Magistrat der Stadt Frankfurt und dasLand Hessen haben Frankfurt zur verbotenen Stadt ge-macht.
Sie haben die europaweiten Aktionstage des Bündnisses„Blockupy Frankfurt“ über vier Tage untersagt. Dochdie Demonstranten haben sich das Recht auf Versamm-lungsfreiheit nicht nehmen lassen.
Frankfurt hat einen bunten und friedlichen Protest gegenKapitalismus und Bankenmacht erlebt. Von den Demon-stranten ging keine Gefahr aus.5 000 Polizisten, teilweise in martialischem Aufzug,haben die Innenstadt abgeriegelt und somit effektiv dasBankenviertel blockiert. Ich selbst war die ganze Zeitanwesend, also auch am 17. Mai auf dem historischenPaulsplatz.
Dort hatte das Komitee für Grundrechte und Demokratieaus Protest gegen das Demonstrationsverbot eine Kund-gebung für Versammlungsfreiheit angemeldet, die eben-falls verboten wurde.Mein Dank gilt den Demonstrantinnen und Demon-stranten auf dem Paulsplatz, die trotzdem gekommensind und Versammlungsfreiheit über mehrere Stundenim Kessel der Polizei verteidigt haben.
Ihr Einsatz war entscheidend dafür, dass die Tage so er-folgreich und friedlich verlaufen sind.Die Polizei hat insgesamt 1 430 Menschen in Ge-wahrsam genommen – nur weil sie sich versammelt ha-ben.
Mehreren Hundert Menschen hat die Polizei die Einreisenach Frankfurt versagt. Diese Platzverweise hat die Poli-zei auch dann noch ausgesprochen, als sie vom Gerichtals unrechtmäßig eingestuft wurden. In einem Polizeibe-richt steht als Grund der Festnahme: „Antikapitalismus“.
Wo bleibt hier die Meinungsfreiheit?
Es ist die bittere Ironie der Geschichte, dass BorisRhein, der heutige hessische Innenminister, mit demhohen Stellenwert des Grundrechts auf Versammlungs-freiheit 2007 den polizeilichen Großeinsatz zum Schutzeiner Nazidemonstration mit 1 500 gewalttätigen Neo-nazis gerechtfertigt hat. Das ist Versammlungsfreiheit,wie sie die hessische CDU versteht.
Folgenden Bericht einer 60-jährigen Stuttgarterinhabe ich erhalten:Wir nahmen trotz Verbot das Recht auf freie Mei-nungsäußerung in Anspruch. … Unsere Gruppewurde umgehend von Polizeitrupps flankiert, be-sprungen,
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Christine Buchholz
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gestoppt, gekesselt, abtransportiert ins Polizeiprä-sidium, dort erst mal im Käfig gehalten, dann wie-derholte zähe, schwerfällige Personalienkontrolle,danach der Höhepunkt der Demütigung: Nacktkon-trolle mit der Drohung: „Wenn Sie sich nicht selbstausziehen, tun wir das für Sie“. Von der Käfighal-tung bis zur Entlassung vergingen circa 4,5 Stun-den.Auch ich habe selbst mehrfach Provokationen vonPolizisten erlebt. Es ist ein Hohn, wenn die Oberbürger-meisterin Roth den Polizeieinsatz im Nachhinein als„besonnen“ rechtfertigt. Die Einzigen, die an diesen Ta-gen wirklich besonnen waren, waren die Demonstranten,die auf diese Provokationen nicht reagiert haben.
Das Demonstrationsverbot war rein politisch moti-viert. Der Protest gegen das Spardiktat der Troika wurdebewusst diffamiert und kriminalisiert. Ich frage Sie: Wa-rum haben Sie so viel Angst vor den Protesten im Frank-furter Bankenviertel? Weil die Kritik der Demonstrantenins Schwarze trifft. Weil Sie eine Politik für das reichsteProzent der Bevölkerung machen. Weil Sie die Profiteder Banken und Konzerne sichern und mit dem Fiskal-pakt einen europaweiten Sozialkahlschlag erzwingenwollen. Ihre Sparauflagen sind Verarmungsprogrammefür die arbeitende Bevölkerung in Europa. Sie habenAngst, dass diese sich gegen Ihre Politik wehrt.
Um das zu verhindern, hebeln Sie demokratische Rechteaus. Das ist ein Skandal.
– Sie zum Beispiel. Die Regierung.
Da machen wir nicht mit. Die Unterstützung, die wir vonder Bevölkerung in Frankfurt erfahren haben zeigt, dasswir damit nicht alleine stehen.Wir fordern die rückhaltlose Aufklärung über diePolizeiübergriffe in Frankfurt, und wir unterstützen dasBündnis „Blockupy Frankfurt“ in seiner Klage gegendas Versammlungsverbot.
Wir versprechen Ihnen: Wir kommen wieder.
Die Linke ist die einzige im Bundestag vertretenePartei, die an den Protesten von Anfang an beteiligt war.Ich sage: Ich hätte mir gewünscht, dass sich Grüne undSPD stärker in diesen Prozess eingebracht hätten.
Wir stehen mit unserem Protest an der Seite der Grie-chinnen und Griechen, die den Angriff auf ihre Lebens-grundlagen ablehnen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich wargerade in Griechenland
und habe die Angst und die Wut der Menschen gespürt,die wissen, dass dann, wenn nicht eine linke Antwortkommt, eine Regierung an die Macht kommt, die bereitsim Juni 12 Milliarden Euro bei den Renten und im Ge-sundheitsbereich kürzen wird – und das, obwohl schonjetzt nicht genug Spritzen und Handschuhe da sind, umalle lebensnotwendigen Operationen durchführen zukönnen.Ihre Freiheit ist nicht die Demonstrationsfreiheit, son-dern die Freiheit der Banken.
Wir stehen für ein Europa von unten – gegen ein Europader Banken und Konzerne! Und das können Sie unsnicht verbieten.
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Frau Buchholz, wo leben Sie eigentlich? Siesind Realitätsverweigerin.
Die Stadt Frankfurt am Main und alle Gerichte habendie Demonstrationsfreiheit gesichert. Es gab eine Groß-veranstaltung am 19. Mai im Frankfurter Bankenviertel.
Das ermöglichte fast 20 000 Menschen – 20 000 Men-schen! –, quer durch die Stadt zu demonstrieren.
– Nein, das wurde genehmigt, auch von der Stadt Frank-furt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21767
Erika Steinbach
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Eine Dauerblockade der gesamten Frankfurter Innen-stadt über vier ganze Tage war nicht zu verantworten.Das wäre zudem, wie deutlich wurde, rechtswidrig ge-wesen. Alle Sicherheitsaspekte, aber natürlich auch dieGrundrechte der in diesem Bereich lebenden und arbei-tenden Menschen waren gute Gründe für dieses Verbot.Für die Feuerwehren und für die Rettungswagen wäreüberhaupt kein Durchkommen mehr gewesen, wennman all das zugelassen hätte, was angemeldet wordenist.
Man muss wissen: Blockupy hatte dazu aufgerufen, alsBlockadehilfsmittel – das hören Sie sich einmal an! –Krankenhausbetten auf die Straße zu stellen,
Einkaufswagen,
Leitern, Schlauchboote, Einrichtungsgegenstände undTransparente mitzubringen,
um ein Durchkommen völlig unmöglich zu machen. Eswurde dazu aufgerufen, das Polizeiaufgebot durch dieMasse der Demonstranten zu „fluten“.
Die Gerichte haben dazu festgestellt:Selbst wenn solche gezielten Blockaden noch unterden Schutz der Versammlungsfreiheit fallen sollten,weil sie nur „demonstrativ“ gemeint seien und nichtmit Gewalttätigkeiten einhergingen, seien sie jeden-falls deswegen rechtswidrig, weil den damit ver-bundenen Grundrechtsbeeinträchtigungen der indiesem Bereich wohnenden Frankfurter Bürger …und der Vielzahl der sonst von derartigen AktionenBetroffenen … größeres Gewichteinzuräumen ist. Blockupy ist nicht allein auf der Welt.Es gibt auch noch andere Menschen.
Zudem war bekannt, dass Gruppierungen mobilisierthatten – da sind Sie aktiv, die Hauptinitiatoren –,
die bereits am 31. März 2012 in Frankfurt am Main fürhöchst gewalttätige Ausschreitungen verantwortlich wa-ren.
Das Gericht und die Stadt Frankfurt sahen in diesen Ak-tionen mit gutem Grund am Ende eine massive Störungder öffentlichen Sicherheit
und bewerteten sie als Straftaten, zumindest aber alsstrafbare Nötigung der davon betroffenen Bürger.Paramilitärische Vokabeln der Blockupy-Aufrufe– Sie haben die Vokabeln selber gewählt – wie „Belage-rung“, „Besetzung“, „Eroberung“, „Verpfropfen von Zu-fahrtswegen“, „Wegspülen von Polizeikräften“ habenganz ungeniert Gewaltbereitschaft signalisiert und ange-kündigt.
– Es war zu lesen im Internet, in Aufrufen, in Flugblät-tern. – Die Organisatoren der Aktion – das finde ich be-denklich – reklamierten für sich ein schrankenlosesSelbstbestimmungsrecht, auch mit illegalen Aktionenzulasten anderer. Eine Originalaussage lautete: „UnsereAktionsplanung ist nicht abhängig davon, ob Gerichtemeinen, dass wir das dürfen oder nicht. Rechte leben da-von, dass man sie sich nimmt.“ – Wir leben hier dochnicht im Wilden Westen!
Wir leben in einem Rechtsstaat. Da kann sich nicht jedernehmen, was er gerade möchte.
Diese Aussage spricht Bände. Sie haben ein feinesRechtsverständnis, wenn Sie darauf beharren.
Blockupy reklamiert für sich einen ganz eigenenrechtsfreien Raum als persönliches Recht.
Gesetze lassen Sie nicht gelten.Deshalb ist für die Beurteilung der Aktionen, wie derHessische Verwaltungsgerichtshof ja feststellte, von Be-deutung, dass die Organisatoren der Blockupy-Frank-furt-Tage offenbar gar nicht daran denken, sich an ge-richtlich bestätigte Versammlungsverbote zu halten. DieLinkspartei war federführende Antragstellerin für diesesAktionsbündnis. Aber selbstverständlich waren vieleeinschlägig bekannte Gewaltgruppen dabei.Mich erschreckt die Tatsache, liebe Kolleginnen undKollegen von den Sozialdemokraten – das will ich ganzoffen sagen –,
dass sich die Jungsozialisten an die Seite dieser rechts-widrigen Aktionen gestellt haben.
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21768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Erika Steinbach
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Die Jungsozialisten haben sich damit ganz offen mit demgewalttätigen Aktionsbündnis solidarisiert.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben damitein Problem mit einer Scharnierfunktion in den Links-extremismus. Darüber sollten Sie schon einmal nachden-ken.
Ein Wort zu den Banken: Wir sind in einer schwieri-gen Situation, was die Schuldenkrise angeht. Ich kannnur eines sagen: Ein Mensch, der keine Schulden macht,eine Stadt, die keine Schulden macht, ein Land, daskeine Schulden macht – über all die hat die Bank keineMacht. Wenn alle Schulden machen, dann geben wir denBanken Macht in die Hand.
Deshalb ist es richtig, eine Schuldenbremse einzuziehenund künftig keine Schulden mehr zu machen.
Der Kollege Rüdiger Veit hat nun für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal an Ihre Adresse, Frau Buchholz: Esgibt durchaus einige Sozialdemokraten, die sich mit demKernanliegen der Occupy-Bewegung identifizierenkönnten und womöglich an der Demonstration hättenteilnehmen können.
– Ist ja in Ordnung. Ich persönlich wollte Ihnen geradesagen, warum ich nicht dort war: Zur gleichen Zeit fandin Berlin ein Familienfest statt. Ansonsten hätte ich in-haltlich keine Probleme gehabt, an einer Demonstrationteilzunehmen.
Kollegin Steinbach muss ich allerdings in einigenPunkten widersprechen. Zunächst einmal ist es schön,dass Sie sich um unsere Jusos in Frankfurt Gedankenmachen.
– Das tun wir manchmal auch, vielleicht aus anderenGründen. – In diesem Punkt kann ich es aber nicht bean-standen, wenn sie sich mit den Inhalten und den Zielender Demonstration identifizieren und sich mit anderenSozialdemokraten gegebenenfalls daran beteiligt ha-ben – ganz im Gegenteil.Um es einmal überspitzt zu formulieren: Es warenIhre Parteifreundinnen und -freunde, Frau KolleginSteinbach – der hessische Innenminister Rhein, dieOberbürgermeisterin Roth und der OrdnungsdezernentFrank –, die die Stadt Frankfurt und damit auch das LandHessen in, wie ich finde, ziemlich unerträglicher Weisein ihrem Image geschädigt und ihren Ruf ausgesprochenblamiert haben.
Frankfurt bezeichnet sich gerne als die Hauptstadt deseuropäischen Kapitals. Deswegen waren die Occupy-Aktivisten durchaus an der richtigen Adresse. Wo andersals im Bankenviertel hätte man gegen das, was vielleichtnicht alle hier im Hause, aber einige Sozialdemokratenund auch andere beklagen, demonstrieren sollen, wosonst hätte man die Verursacher der Finanzkrise in dieVerantwortung nehmen sollen und dafür kämpfen sollen,dass diejenigen nicht davonkommen, die die Finanz- undEuro-Krise mit verursacht haben bzw. mit falschen Mit-teln bekämpfen wollen? Aber diese Diskussion würdejetzt hier im Plenum zu weit führen.Es verhielt sich vielmehr umgekehrt: Die, gegen diedemonstriert werden sollte, waren diejenigen, die esnicht ausgehalten haben; man könnte fast sagen: Dasgroße Kapital hatte große Angst
vor Krankenhausbetten und Einkaufswagen. Man glaubtes kaum!Frau Kollegin Steinbach, Ihre Ausführungen habenmich nicht überzeugt. Denn ich meine, man muss nachvier Tagen der Blockupy-Aktivität bzw. Nichtaktivität,weil viele Aktionen nicht stattfinden konnten, sagen:Das Bündnis der Demonstranten, die friedlich waren, hatgewonnen, die Stadt, ein Stück weit auch das Land Hes-sen haben sich blamiert. Ich bleibe dabei.
Ich habe jetzt keine große Lust – das wird vielleichtein Kollege von mir noch machen –, Ausführungen dazuzu machen, warum die rechtliche Erwägung seitens derStadt, seitens des Verwaltungsgerichts Frankfurt und sei-tens des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vielleichtrichtig gewesen sein könnte, dass man eine dreitägige,dauerhafte Blockade mit vielen Tausend Menschen in-nerhalb eines Innenstadtkerns selbst bei Beachtung desRechts der Versammlungsfreiheit und der Meinungs-äußerung kritisch sehen muss, wenn es um die Fragegeht, ob dadurch andere Grundrechtsträger hätten beein-trächtigt werden können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21769
Rüdiger Veit
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Es ist doch eines festzuhalten – das ist das Blamable –:Frankfurt wollte das Ganze völlig plattmachen. Erst dasVerwaltungsgericht Frankfurt und der Hessische Verwal-tungsgerichtshof mussten entscheiden: Die Demonstra-tion jedenfalls darf stattfinden. Es war die Stadt, die imÜbrigen gegen den entsprechenden Beschluss des Ver-waltungsgerichts Frankfurt dann auch noch in die zweiteInstanz gegangen ist, um es dort verbieten zu lassen.Deswegen ist es richtig, wenn ich vorhin gesagt habe:Die Stadt hat sich blamiert; das Bündnis und die Idee,die es vertreten hat, haben im Grunde genommen ge-wonnen.
Ich sprach von der Angst. Da würde ich gerne mit ei-nem Zitat aus der FAZ schließen:Solch große Angst kann nur einem schlechten Ge-wissen entspringen. Man denkt an die hübsche Ma-xime von Georges Pompidou, nach der eine Revo-lution dann gesiegt hat, wenn sich die Idee ihrerUnvermeidlichkeit in den Köpfen ihrer Gegner fest-gesetzt hat. Und wenn eine ganze Stadt, eine ganzeBranche sich aus lauter Angst tot stellt, so sieht dasschon sehr eingeschüchtert aus.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Gewährung der Versammlungsfreiheit undder Demonstration derer, die genau gegen das demons-trieren, was man vielleicht selbst für richtig und wichtigerachtet, beweist oft ein wirklich liberales Grundrechts-verständnis. Insofern war ich durchaus erleichtert, als ichgelesen habe – ich kann es nicht beurteilen –, dass dieHauptdemonstration von Occupy weitgehend friedlichverlaufen ist.
Auf der anderen Seite sind Sie es sehr häufig, diedann, wenn Menschen demonstrieren, die nicht IhrerMeinung und auch nicht unserer Meinung sind – Men-schen von pro NRW und anderen Gruppierungen –, da-nach rufen, ebendiese Versammlungsfreiheit einzu-schränken.
Glauben Sie mir: Bei all diesen Demonstrationen be-schleicht mich oft das Gefühl, dass die Demonstrantengenau das Gegenteil dessen sagen, was ich persönlichdenke, und trotzdem setze ich mich dafür ein, dass dieDemonstrationsfreiheit und die Versammlungsfreiheitgeschützt werden.Nur, im Fall von Occupy gingen die Dinge etwas wei-ter. Glauben Sie mir: Beim Bundesverfassungsgerichtgibt es seit vielen Jahren eine gefestigte Rechtsprechung,die sich regelmäßig pro Versammlungsfreiheit aus-spricht. Ich habe schon ein Zutrauen in unsere Gerichte,dass das Verbot einer Versammlung, das hier ausgespro-chen und von allen Instanzen bestätigt worden ist – auchvor dem Bundesverfassungsgericht hatte das Verbot Be-stand –, nicht einer Willkür entsprang, sondern sehrwohl begründet war.
Sie tun ja so, als ob Sie einzelne schwer vermögendeBanker sozusagen daran gehindert hätten, ihren ver-meintlichen „Untaten“ nachzugehen.
Nein, dieses Bündnis hatte zum Ziel, Teile der gesamtenStadt sozusagen in Geiselhaft zu nehmen.
Ich weiß, wovon ich spreche: Ich wohne da und wolltean dem Tag mit dem Zug nach Karlsruhe bzw. Mann-heim fahren. Das war nicht zielgenau, sondern das wäreeine Zumutung für viele Bürger dieser Stadt gewesen,wenn Sie die Dinge hätten so durchziehen können, wiedas damals intendiert war.
Grundsätzlich halte ich es für gut, dass eine Demons-tration stattgefunden hat, wenn ich auch deren Inhaltenicht teile. Ich bin aber zugleich froh, dass es nicht mög-lich war, die gesamte Stadt Frankfurt und all diejenigensozusagen in Geiselhaft zu nehmen, die überhaupt nichtsmit den Banken zu tun haben, nämlich Menschen, dieeinfach nur dort leben und ihrer Arbeit nachgehen.
Insofern war das Ganze absolut verhältnismäßig.
Ich will jetzt nicht zu sehr ins Parteipolitische abglei-ten, möchte aber Folgendes feststellen: Sie haben zu die-ser Frage eine ganz klare Meinung, ebenso wie CDU/CSU und FDP. Diese Meinungen sind diametral entge-gengesetzt. Ganz interessant in diesem Zusammenhangist die Haltung der Frankfurter Grünen dazu. Auf der ei-nen Seite bilden sie mit den Magistrat – wobei der Ord-nungsdezernent nur ein Teil der ganzen Veranstaltung ist– und tragen somit politische Verantwortung für dieseStadt, auf der anderen Seite kritisieren sie in der Persondes Fraktionsvorsitzenden vehement, dass so viel unter-
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21770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Dr. Stefan Ruppert
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sagt worden ist. Ich bewundere oft diese Taktik der Grü-nen, sowohl für das eine als auch für das andere zu sein.Als überzeugter Demokrat jedoch müsste man sich ir-gendwann doch einmal für eine Meinung entscheiden.Dafür kann ich nur plädieren.
Sie haben das auch bei der Frankfurter Oberbürger-meisterwahl sehr geschickt gemacht – hier könnte manin eine genauere Exegese gehen –, indem Sie nämlich sogetan haben, als ob Sie eigentlich für die Veranstaltungseien,
dann aber daran mitgewirkt haben, diese Veranstaltungzu verbieten.Am Ende bleibt: Wir müssen auch die Versammlun-gen aushalten, die uns von den Inhalten her nicht gefal-len. Das tun wir. Wir müssen uns aber nicht gefallen las-sen, dass eine Versammlung eine gesamte Stadt inGeiselhaft nimmt. Das ist in Frankfurt zum Glück unter-blieben. Dafür bin ich ausgesprochen dankbar.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das istalles nett, was hier gesagt wird. Ja, ich bin demonstra-tionserfahren und auch schon ein paar Jahre älter als dieKollegin Gohlke, die vorhin geredet hat und meinte, dassei das erste Totalverbot für eine Demonstration in einerStadt gewesen. Das war es beileibe nicht. Ich habe das inBerlin-West erlebt, ich habe das in Dortmund und in vie-len anderen Orten erlebt.
– Lassen Sie mich das doch klarstellen. Ich muss auchsagen: Wenn ich Sie hier so sitzen sehe, dann sehe ich alldiejenigen, denen in dieser Woche Oskar Lafontaine ab-handen gekommen ist.
Das ist ein richtiger Ausschnitt aus der Fraktion derLinkspartei. So waren auch Ihre bisherigen Redebei-träge.
Ich habe mich wirklich gefragt: Was soll denn dieseDebatte am Freitag vor Pfingsten um 16 Uhr? Das isteine Debatte, die eigentlich in die Stadtverordnetenver-sammlung von Frankfurt am Main oder in den Hessi-schen Landtag gehört, aber wahrlich nicht in den Bun-destag.
– Liebe Freundinnen und Freunde, ich genieße ja diesenAgit-Prop-Auftritt, also weiter so. Aber einige Wahrhei-ten wird man doch sagen dürfen.Wir finden die Ziele der Occupy-Bewegung sogarrichtig. Solange die Finanzmärkte die Politik bestimmenund nicht die Politik die Finanzmärkte, gibt es Hand-lungsbedarf und Grund für Proteste. Aber man mussdoch auch berücksichtigen, dass diese Proteste in Frank-furt am Main schon seit Monaten stattfinden. Dort gibtes ein Camp in der Taunusanlage, in das die Banker so-gar hineingegangen sind. Ich selber habe mir das schonim November vergangenen Jahres angesehen. Sie ver-weisen jetzt so gerne auf den schwarz-grünen Magistratin Frankfurt. Als hier in Berlin noch Rot-Rot regierte,wurde ein solches Camp nicht einen Tag lang vom Senatgeduldet.
Es musste auf Privatgelände gezeltet werden. In Frank-furt hingegen darf jetzt wieder in der Taunusanlage kam-piert werden, auch weil sich die Grünen dafür eingesetzthaben. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.Wir sind uns alle einig: Art. 8 des Grundgesetzes istein essenzielles Grundrecht. Insbesondere wir als Parla-ment müssen es zu schätzen wissen. Adolf Arndt hat eseinmal als Stachel im Fleisch der repräsentativen Demo-kratie bezeichnet. Wir respektieren es. Ich stelle fest,dass Frau Steinbach in diesem Zusammenhang recht hat.
– Ja, sie kann auch einmal recht haben.
– Lieber Kollege Wiefelspütz, Sie haben fast jeden Tagrecht und Frau Steinbach einmal im Jahr.
In dieser Relation werden wir uns doch näherkommenkönnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21771
Wolfgang Wieland
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Das Recht, eine ganze Innenstadt lahmzulegen, wie esin den Aufrufen stand, ist aus Art. 8 nicht abzuleiten, dabeißt die Maus keinen Faden ab.
Lieber Herr Kollege Veit, wenn es um Entscheidun-gen des Verwaltungsgerichtshofs oder des Bundesverfas-sungsgerichts geht, bin ich als Teil der Legislative etwaszurückhaltend und sage nicht: Das sind falsche Urteile,das hätten sie anders machen müssen.
Wir hätten uns gemäß der Brokdorf-Entscheidung desBundesverfassungsgerichts wirklich ein anderes Verhält-nis zwischen Veranstaltern und Versammlungsbehördegewünscht. Wir hätten uns Abrüstung gewünscht, keineParanoia, keine Banker in Kapuzenpulli etc., sondern eindifferenziertes Vorgehen.
– Lieber Kollege Ruppert, was Sie hier alles sagen, ge-hört in die Stadtverordnetenversammlung. Wir könnenuns nur fragen: Was geht das den Bundestag an? AlsBundestag können wir nicht einfach sagen: Diese abwä-genden Entscheidungen der Justiz waren falsch.
– Sie können das Grundgesetz offenbar besser auslegenals das Bundesverfassungsgericht; das sehe ich. GlaubenSie wirklich, dass Sie als Linkspartei uns belehren kön-nen, wie man das Demonstrationsrecht wahrt? Da sindSie genau die Richtigen. Als Sie noch SED hießen, gin-gen Sie mit Panzern gegen demonstrierende Arbeitervor. Das haben wir nicht vergessen.
Eine Belehrung von Ihnen über Demonstrationsrechtverbitten wir uns.Angesichts der bevorstehenden Feiertage will ich ver-söhnlich enden. Ich wünsche uns allen Erleuchtung, ins-besondere der Linkspartei.
Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die
Unionsfraktion.
– Kollege Wiefelspütz, zurzeit hat Kollege Schuster das
Wort.
Man hat Ihnen doch Redezeit gegeben; Sie sind gleich
dran.
Zügeln Sie Ihre Ungeduld, und hören Sie erst einmal
dem Kollegen Schuster zu.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Wiefelspütz, ich möchte Ihnen recht geben.
Ich habe soeben den gesamten verfassungsrechtlichenTeil aus meinem Manuskript gestrichen, weil ich derschwarz-grünen Erklärung vom Abgeordneten Wielandinhaltlich vollständig folge. Das hätte ich mir vor eini-gen Jahren noch nicht vorstellen können, vor allen Din-gen dann, wenn es um das Versammlungsrecht geht.Herr Wieland, herzlichen Dank.
Lebensqualität in einem demokratischen Rechtsstaatbedeutet für mich, mit Freude und mit Freunden fried-lich zu demonstrieren, seine politischen und gesell-schaftlichen Überzeugungen zeigen zu können: Jung undAlt auf der Straße, bunte Plakate und keine schwarzenvermummten Blocks, sondern witzige Aktionen, aberauch ernste Töne und starke Aussagen.
Lebensqualität bedeutet für die allermeisten von unsnicht, Innenstädte zu blockieren, Angst haben zu müs-sen, von Steinen getroffen zu werden, abgefackelte Au-tos, spießrutenlaufende Bankangestellte und Rauch-schwaden. Das sind Bilder, die wir aus mancherGroßstadt kennen und die für uns nichts mit Versamm-lungsfreiheit zu tun haben.Jetzt überspringe ich den Teil über das Verfassungs-recht, verweise auf den Abgeordneten Wieland undkomme direkt zum Bundesverfassungsgerichtsurteil.
Das Bundesverfassungsgericht hat letztlich auf derGrundlage einer polizeilichen Gefahrenprognose derStadt Frankfurt recht gegeben. Wie kommt die Polizeieigentlich zu einer Gefahrenprognose? Da hilft ein Blickins Einsatztagebuch:
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21772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
Armin Schuster
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31. März 2012: Ausschreitungen bei einer kapitalis-muskritischen Demo in Frankfurt am Main. Farbbeutelgegen die EZB. Pflastersteine gegen Schaufensterschei-ben. 15 Beamte wurden verletzt.
Wie richtig die Prognose war, zeigen die Eintragun-gen vom 17. Mai 2012: Polizei löst eine nicht geneh-migte, aber stundenlang tolerierte Demo am FrankfurterRathausplatz auf. Es kommt zu Rangeleien bei der Räu-mung des Zeltlagers.18. Mai 2012: Aktivisten versuchen trotz Verbots,verschiedene Plätze in der Frankfurter City zu besetzen.
Die Polizei soll geflutet werden.19. Mai 2012: Es wurden 600 Personen in Gewahr-sam genommen.Vorkontrollstellen sind ein sehr bewährtes Mittel, diewirklich Demonstrationswilligen durchzulassen, ihnenihr Recht zu geben und die anderen ein wenig zu be-schäftigen.Meine Damen und Herren, in Frankfurt am Mainwurde am 19. Mai die Versammlungsfreiheit durch dasbesonnene Vorgehen der Behörden und der Oberbürger-meisterin Petra Roth auf kluge Art und Weise bewahrt.
Die Blockupy-Aktivisten – immerhin 20 000 – durftendemonstrieren. Das geschah, obwohl vor Ort 2 000 ge-waltbereite Randalierer – Demonstranten nenne ich diejetzt nicht – bereit waren, ihr Unwesen zu treiben. Mas-sive Polizeipräsenz schirmte diesen schwarzen Block abund gewährleistete so den wirklichen Versammlungsteil-nehmern, dass sie für ihre Anliegen friedlich werbenkonnten.
– Ich werte das gar nicht, aber ich finde gut, dass sie da-für werben konnten. So sieht Versammlungsfreiheit imRechtsstaat aus.Apropos Rechtsstaat: Ihnen, meine Damen und Her-ren, müssen wir diese Aktuelle Stunde zugestehen, ganzsicher aber nicht die Kompetenz, Entscheidungen desBundesverfassungsgerichts zur Diskussion zu stellen.
Eine größere Legitimation hätte die Stadt Frankfurt fürihr Vorgehen gar nicht erhalten können.
Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass wir sodie Gelegenheit haben, das Vorgehen der Stadt, der hes-sischen Landesregierung und der Polizeieinsatzleitungausdrücklich zu loben.Wir, die christlich-liberale Koalition, freuen uns rich-tig über jede deutsche Stadt, der es gelingt, den Men-schen mit einer friedlichen Versammlungskultur einStück mehr Lebensqualität zu bieten und gleichzeitigChaotenstadl als Dauerevent gar nicht erst entstehen zulassen. Das hat Frankfurt sehr wirkungsvoll geschafft.
Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, aufdie eingesetzten Polizeibeamtinnen und -beamten hinzu-weisen.
Die Einsatzstrategie hat dafür gesorgt, dass eines unsererKernprobleme zurzeit, nämlich steigende Gewalt gegenPolizeibeamte, jedenfalls am 19. Mai nicht zum Tragenkam. Wer als Politiker in Reden die deutlich steigendeGewalt gegen Polizisten ehrlich bedauert – wie zum Bei-spiel die Gewalt gegen die 15 verletzten Beamten am31. März –, der hat in Debatten wie heute die Chance,Farbe zu bekennen, Herr Veit. Es geht – da haben Sierecht – nicht um die Krankenhausbetten, aber um 15 ver-letzte Beamte. Heute können Sie die Verantwortlichenfür deren Strategie loben, dass es zu einer ähnlichen Si-tuation nicht gekommen ist. Oder vielleicht geben Siedoch nur Lippenbekenntnisse ab, und ein paar verletzteBeamte müssen quasi als Bauernopfer herhalten. Ent-scheiden Sie sich! – Sie haben sich entschieden, Ihre Li-nie ist mir klar. Das kann ich nur kritisieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von denLinken, jetzt bin ich gut zwei Jahre hier und habe michgerade an Ihre Anwesenheit gewöhnt. Wenn Sie sichdiese Aktuelle Stunde vor Pfingsten gespart und stattdes-sen Ihre parteiinternen Auflösungserscheinungen be-kämpft hätten, dann wäre das mit Sicherheit wesentlichsinnvoller gewesen.
In Frankfurt jedenfalls wurde die Demonstrationsfreiheiteindrucksvoll gesichert und die Kriminalisierung vonTeilnehmern verhindert. Dafür herzlichen Dank an dieHessen.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Dieter Wiefelspütz für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit istkonstitutiv für unsere Demokratie.
Es hat einen überragend hohen Rang. Die Versamm-lungsfreiheit ist das Recht, sich zu versammeln – fried-lich und ohne Waffen. Das heißt: Auf dieses Grundrechtkann ich mich nur dann berufen, wenn ich friedlich bin
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21773
Dr. Dieter Wiefelspütz
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und wenn ich nicht bewaffnet bin. Wer nicht friedlich istund wer bewaffnet ist, der kann das Versammlungsrechtnicht in Anspruch nehmen. Das gilt für uns alle, vonlinks bis rechts.
Das ist die Grundlage unserer Verfassung.Ich bin der festen Überzeugung, dass es selbstver-ständlich das gute Recht von vielen Menschen ist, sichheute, morgen oder übermorgen in Frankfurt zu versam-meln und gegen einen Turbokapitalismus zu demonstrie-ren – fantasievoll, wie auch immer, auch in ungewöhnli-chen, neuen Formen des Protestes. Das ist das guteRecht der Menschen. Ich kann das gut nachvollziehen.Dieses Recht nehmen unter Umständen Zehntausendevon Menschen wahr.Herr Ruppert hat sicherlich recht. – Es kommt seltenvor, dass ich Ihnen recht gebe, Herr Ruppert, aber wennSie recht haben, haben Sie recht. – Herr Ruppert möchtenicht, dass ganze Stadteile sozusagen in Geiselhaft ge-nommen werden – das ist etwas militant ausgedrückt –,wenn ein Grundrecht wahrgenommen wird. Umgekehrtwill ich aber auch sagen: Es darf nicht sein, dass diegroße Mehrheit von Menschen, die friedlich demonstrie-ren wollen, in Geiselhaft genommen wird, weil einige,vielleicht auch einige wenige Hundert, gewaltbereit sind.Das ist, glaube ich, das schwierige Problem, das man inFrankfurt hat lösen müssen. Das ist möglicherweise– ich sage das mit aller Vorsicht, weil ich ungern Ferndi-agnosen stelle – nicht ganz optimal gelöst worden.Dass gegen Finanzkapitalismus, Turbokapitalismusund so etwas friedlich demonstriert werden kann, ist eineSelbstverständlichkeit. Wir alle müssen, auch wenn wirnicht dabei sind, mit Leidenschaft für dieses Recht ein-treten, selbst wenn man in der Sache anderer Auffassungist.
Das ist konstitutiv für unseren Verfassungsstaat. Wasaber nicht geht, ist, dass ein ganzer Stadtteil durch De-monstrationen sozusagen abgesperrt wird und – ich sagees einmal ganz drastisch – Arbeitnehmer nicht zu ihrerArbeit gehen können. Das geht nicht.Ich fliege hin und wieder in die USA. Ich fliege wieSie von Frankfurt aus. Wenn ich montags fliege, erkun-dige ich mich vorher, ob dort eine Demonstration statt-findet. Ich finde es völlig richtig, dass Menschen gegenLärm im Terminal des Flughafens Frankfurt demonstrie-ren können. Dass ich als Nichtdemonstrant dadurch be-hindert werde, ist auch eine Selbstverständlichkeit. Dasmuss ich ertragen. Deswegen fahre ich dann einen Zugfrüher und bin eine oder zwei Stunden früher am Flugha-fen. Was aber nicht geht, ist, dass der ganze Flughafendichtgemacht wird und Zehntausende von Menschen da-ran gehindert werden, zu fliegen.Überträgt man dieses Beispiel auf die aktuellen Vor-kommnisse in Frankfurt, heißt das: Es muss möglichsein, diesen friedlichen Anspruch realisieren zu können.Das ist eine große Verantwortung. Es kommt selten vor,dass dieser schwarz-grüne Wieland einen richtigen Ge-danken hat, aber an dieser Stelle hatte er ihn. Ich will dasjetzt nicht oberlehrerhaft und besserwisserisch sagen,was ich am liebsten tue
– an dieser Stelle aber nicht –: Ich glaube, dass manjetzt, im Nachhinein, darüber nachdenken muss, ob inFrankfurt die Veranstalter der Versammlung und die Be-hörde optimal miteinander umgegangen sind. Hier habenalle eine große Verantwortung, die Behörde, aber auchdie Veranstalter.Ich will keine Leute vorführen. Ich will in diesem Zu-sammenhang nur darauf hinweisen, dass in einem Urteildes Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel – dasist immerhin ein hohes Gericht –, bestätigt durch dasBundesverfassungsgericht, gesagt worden ist, dass dieVeranstalter, die über das Internet kommuniziert haben,durch Verwendung geradezu paramilitärischer Sprach-hülsen – Besetzung, Belagerung, Eroberung, Verpfrop-fung von Zufahrtswegen zur Zentralbank, Wegspülenvon Polizeikräften – vor allem Gruppen und Personenansprechen, die vor Gewalttaten nicht zurückschreckenund sie für ein legitimes Mittel zur Störung des öffentli-chen Lebens halten.Ich unterstelle Ihnen von der Linkspartei nicht, dassSie sich das zu eigen gemacht haben. Aber es ist natür-lich ein Problem, wenn in dieser Art die Stimmung auf-geheizt wird und nur noch gegeneinander und nicht mit-einander agiert wird. Das Versammlungsrecht mussgemeinsam hergestellt werden, sowohl von den Ord-nungsbehörden wie auch von den Veranstaltern.
Da haben wir alle große Verantwortung. Herr Wielandhat recht – das ist jetzt aber das letzte Mal, dass ich ihmrecht gebe –, wenn er sagt: Der Geist von Brokdorf, derGeist dieser wunderbaren großartigen Entscheidung desBundesverfassungsgerichts, bedeutet „zusammenwir-ken“. Wir haben es leider als Gesetzgeber versäumt, diesrechtzeitig zusammenzuführen.Wir alle haben bei vielen Demonstrationen mitge-macht,
wir haben eine große Verantwortung dafür, dass die De-monstrationen friedlich ablaufen. Deswegen glaube ich,dass man in Frankfurt Grund hat, nachzuarbeiten; dennsolche Dinge können sich wiederholen. Es darf nichtsein, dass wir solche Bilder erneut im Fernsehen sehen.Letztlich verliert die Demokratie, wenn friedliches De-monstrieren nicht möglich ist. Das ist das Bedauerliche.95 Prozent oder 98 Prozent der Menschen dort wurdenan diesen Tagen gehindert, ihren Demokratieanspruchfriedlich zu verwirklichen. Ich denke, dieses Problemmüssen wir gemeinsam lösen. Deswegen glaube ich,dass wir hier darüber diskutieren müssen. Das geht nichtmit Konfrontation, sondern nur im Miteinander.
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21774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012
(C)
(B)
Kollege Wiefelspütz, ich bin ein geduldiger Mensch,
aber Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin am Ende meiner Rede, Frau Präsidentin, und
bedanke mich dafür, dass Sie mich heute zum zweiten
Mal ertragen haben.
Ich unterbreche ja ungern den Disput, aber wir haben
uns hier Regeln gegeben und müssen diese Regeln ge-
meinsam einhalten.
– Und friedlich; das ist richtig. – Das Wort hat der Kol-
lege Marco Buschmann für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Demonstrationen – das ist, glaube ich, Konsens indiesem Haus – finden wir alle gut. Uns allen hier ist je-der friedliche Demonstrant lieber als der heimlicheNörgler, der zu Hause auf dem Sofa sitzt und auf denstarken Mann oder die starke Frau wartet, der oder diedann die Verhältnisse mit Gewalt ändert. Das ist selbst-verständlich.Selbstverständlich weiß auch jeder hier den Grundge-danken der Brokdorf-Entscheidung zu schätzen, dassnämlich durch die gemeinsame Willensbekundung inVersammlungen erreicht werden kann, gerade in unsererMediendemokratie Aufmerksamkeit auf Probleme zuwenden, die in der Öffentlichkeit möglicherweise nochnicht entsprechend stark Anklang finden. Deshalb ist esrichtig, dass in unserer Rechtsordnung die Versamm-lungsfreiheit eine so wichtige Stellung hat und grund-rechtlich geschützt ist.Das gilt selbstverständlich auch für die friedlichenDemonstranten in Frankfurt, und das gilt auch geradedann, wenn man anderer Meinung ist als die Demon-stranten; da schließe ich mich ausdrücklich den Ausfüh-rungen des Kollegen Ruppert an. Die Stärke der Ver-sammlungsfreiheit wird bewiesen, wenn man das Rechtzu demonstrieren auch für diejenigen verteidigt, die an-derer Meinung sind als man selber.Ich möchte hier klarstellen: Ich halte das, wofür dademonstriert wird, für falsch. Ich glaube, dass uns Glo-balisierung und Freihandel nicht geschwächt haben. Ichglaube, dass der ärmste Teil der Weltbevölkerung davonprofitiert hat.
Das kann man auch belegen. Die ärmsten 20 Prozent derWeltbevölkerung haben in den letzten Jahrzehnten ihrenLebensstandard – diese Berechnung ist inflations- undkaufkraftbereinigt – verdoppeln können. Das hat denMenschen also geholfen. Da bin ich anderer Meinung alsdie Demonstranten in Frankfurt. Aber das ist egal; siesollen trotzdem demonstrieren können.
Ich bin auch nicht der Meinung, dass allein in Frank-furt die Ursachen für die Finanzkrise zu finden sind;denn wenn wir diese riesigen Schuldenberge nicht auf-getürmt hätten, dann könnten sie uns heute nicht bedro-hen.
Zum Schuldenmachen gehört nicht nur jemand, der Kre-dite ausreicht, sondern auch jemand, der sie abruft. Daswar die Politik. Über Jahrzehnte wurde eine hemmungs-lose Verschuldungspolitik betrieben.
Da bin ich ausdrücklich anderer Meinung als die De-monstranten in Frankfurt. Trotzdem sollen sie ihre Mei-nung sagen können; das gehört selbstverständlich dazu.Aber: Niemandes Recht ist es, den freiheitlichen Rah-men, den unser Grundgesetz zu genau diesem Zweckbietet – darüber ist hier schon viel gesprochen worden –,gezielt zu missachten. Insofern ist die Grundthese derLinken in dieser Aktuellen Stunde – hier wird von Kri-minalisierung gesprochen – grundfalsch. Das Grundge-setz sieht nämlich Schranken der Versammlungsfreiheitvor. Dadurch soll der schwierige Ausgleich zwischenden verschiedenen Grundrechtsträgern, von dem auchHerr Kollege Wiefelspütz gerade gesprochen hat, herge-stellt werden. Es ist richtig – auch das ist hier schon vor-getragen worden –, dass Polizei und Gerichte die Ver-sammlungsfreiheit nicht als schrankenlos ansehen undsie nur kontemplativ betrachten sollen, sondern dass siedie Grenzen der Versammlungsfreiheit konkretisierenmüssen.
Über Monate hinweg ist in Frankfurt bereits demon-striert worden. Über Monate hinweg haben dort Aktio-nen stattgefunden. Man kann nicht ernsthaft behaupten,dass dieses Anliegen in Frankfurt nicht in die Öffentlich-keit getragen werden konnte.
Was war denn der Grund, weshalb die Gerichte, diePolizei und der Magistrat dort eingeschritten sind? Esging nicht nur um die Rhetorik im Internet, auf die HerrKollege Wiefelspütz hingewiesen hat, sondern es spielteauch eine Rolle, dass am 31. März dieses Jahres wirklichschlimme Zustände in Frankfurt geherrscht haben.Schuld daran war natürlich nicht das Gros der Demon-stranten. Aber Sie wissen, dass der schwarze Block ei-
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Marco Buschmann
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nen Polizisten lebensgefährlich zusammengetreten hat,einem anderen Polizisten ätzende Chemikalien ins Ge-sicht gesprüht hat und dass weitere Polizisten verletztworden sind. Sie wissen auch: Wenn erst einmal Gewaltin der Luft liegt, ist die Situation gefährlich, weil sichdie Gewalt schnell ausbreitet. Auch das gehört zum Bilddazu.Wenn man angesichts einer konkreten Gefahr für diePolizisten versucht, die Gewalt einzudämmen und un-sere Polizisten, die jeden Tag für friedliche Verhältnisseeintreten und ihren Kopf hinhalten müssen, vor solchenAngriffen zu schützen – ich füge hinzu: vor solchen fei-gen Angriffen zu schützen; denn Menschen, die amBoden liegen, lebensgefährlich zusammenzutreten, istfeige –, dann hat das nichts damit zu tun, dass eine Mei-nung unterdrückt werden soll.
Vielmehr wird auf diese Weise gegen eine Haltung derRücksichtslosigkeit vorgegangen. Meine Damen undHerren, gegen den Geist der Rücksichtslosigkeit vorzu-gehen, hat nichts mit der Unterdrückung der Meinungs-freiheit und der Versammlungsfreiheit zu tun. GegenRücksichtslosigkeit vorzugehen, ist Rechtsstaatlichkeit.
Es wäre schön, wenn Sie lernen würden, wo die Grenzezwischen Rücksichtslosigkeit und Rechtsstaat zu ziehenist.
Das Wort hat der Kollege Ulrich Maurer für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Buschmann, zunächst will ich ganz deutlich sa-gen: Wenn es jemanden gibt, der Gewalt ablehnt, dannsind wir das.
– Was gibt es denn da zu lachen? – Allerdings: In derLogik dessen, was Sie gerade gesagt haben, müssten Siesämtliche Spiele der ersten Fußball-Bundesliga untersa-gen, weil dort gewaltbereite Chaoten auf der Tribüne sit-zen oder stehen. Das ist Ihre Logik.
Frau Kollegin Steinbach, wenn Sie sagen, Begriffewie Blockade, Belagerung und Besetzung zu verwenden,sei die Aufforderung zur Gewaltbereitschaft, dann sageich Ihnen: Nach Ihrer Logik war Mahatma Gandhi eingefährlicher Gewalttäter. Das ist Ihre Logik.
Sie sind nicht in der Lage, die Grenzen, die hier gezogenwerden müssen, vernünftig zu ziehen.
Jetzt komme ich zu den Gerichtsentscheidungen;auch ich bin ja Jurist.
Die Hessische Landesregierung, die Polizeiführung undder Frankfurter Magistrat haben von dem, was da angeb-lich bevorstand, ein Horrorszenario gemalt. Natürlichkann man auch Gerichte beeindrucken und zu falschenEntscheidungen führen. Sie haben es sogar geschafft, einInformationszelt unserer Fraktion, in dem wir über un-sere politischen Vorschläge zur Bewältigung der Finanz-marktkrise informieren wollten, zu verbieten.
Auch das wird übrigens noch ein juristisches Nachspielhaben.
– Kollege Wieland, auf Sie möchte ich wirklich nichteingehen.
Wie oft müssen Sie Ihre maoistische Vergangenheit dennnoch unter dem Beifall der Union abarbeiten?
– Ja, das hat er verdient, nachdem er anlässlich dieserVeranstaltung sogar den Geist von Lafontaine über dasWasser hat schweben lassen.
Jetzt komme ich auf den Kern zu sprechen. LiebeKolleginnen und Kollegen von der CDU, ich zitiere ein-mal ihren ehemaligen Generalsekretär Heiner Geißler.Unter der Überschrift „Der Kapitalismus zeigte wiedermal seine Krallen“ äußerte er sich folgendermaßen:Genau gegen diesen Stillstand und Reformstauwollte die Blockupy-Bewegung am Wochenende inFrankfurt demonstrieren, wurde aber von der deut-schen und hessischen Obrigkeit in massiver Weisebehindert. Wieder einmal hatten sich hier die Inte-ressen der Finanzmärkte als stärker erwiesen als dieBürgerrechte des Grundgesetzes.
Heiner Geißler – Wort für Wort wahr.Was wir aus Frankfurt lernen, ist Folgendes: Wennman in einer der Zentralen des Raubtierkapitalismus de-
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Ulrich Maurer
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monstriert, dann kriegt man eine militarisierte Antwort,wie es sie in den letzten Jahren nicht gegeben hat.
Das zeigt mir etwas über die Machtverhältnisse inDeutschland.
Der nächste Schritt ist wahrscheinlich, dass Sie um dasBankenviertel eine Bannmeile ziehen wie um den Deut-schen Bundestag.
Auch das würde eine hervorragende Darstellung derMachtverhältnisse sein, die hier ausgeübt werden.Sie reden hier über Gewalt. Das ist übrigens das, waseinen Mann wie Heiner Geißler treibt. Ich empfehle Ih-nen, in Zukunft über die mörderische Gewalt nachzu-denken, die von den Spekulationen auf Nahrungsmittelausgeht.
Das läuft an Ihnen herunter wie an irgendwelchen lackier-ten Anzügen. Ich empfehle Ihnen, über die mörderischeGewalt nachzudenken, die dadurch ausgeübt wird, dassMenschen in Griechenland, die Diabetes haben, kein In-sulin mehr bekommen, und über die mörderische Ge-walt, die sich dadurch zeigt, dass Operationen nichtdurchgeführt werden.Wenn sich zum Beispiel eine 60-jährige Schwäbin,die sich unter der Androhung, es werde ihr sonst dabeigeholfen, nackt ausziehen muss, darüber empört, dann,so muss ich sagen, liegen da unsere Sympathien undnicht bei Ihnen.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Sensburg
das Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! VerehrteFrau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren von der Linken, wenn Sie mehr Zeit mit den Bürgernverbringen und ihnen zuhören würden,
wenn Sie mehr Zeit im Parlament verbringen würdenstatt in der außerparlamentarischen Opposition und imStraßenkampf, dann würden Sie vielleicht wissen, dassdemokratische Rechte und Grundfreiheiten etwas ande-res bedeuten, als zu Gewalttätigkeiten aufzurufen undmit martialischen Begriffen um sich zu werfen.
Ich habe es schon im Rahmen eines anderen Tages-ordnungspunkts gesagt: Welches Demokratieverständ-nis haben Sie, wenn in einer freiheitlichen Gesellschaftsolche Begrifflichkeiten genannt werden? Ich mache mirgroße Sorgen, wenn Sie als Mitorganisator dieser Veran-staltung jedwede Verantwortung für die Gewalttaten vonsich weisen.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sind ver-antwortlich für Gewalttaten und für Ausschreitungen ge-gen die Polizei. Das können Sie nicht abschütteln.
Vielleicht müssen Sie sich einfach einmal ein wenigdarüber informieren, was das Grundrecht auf Versamm-lungsfreiheit beinhaltet. Ich schließe mich den professo-ralen Ausführungen des Kollegen Wiefelspütz völlig an,der zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es um fried-liche Versammlungen ohne Waffen geht.
Auf diesen hat man das Recht, jede Meinung zu sagen,Plakate hochzuhalten, sich in Gruppen zu versammelnund sich laut oder leise zu äußern.
Man hat aber nicht das Recht, bewaffnet, in Uniform,in einheitlicher Kleidung, aufzutreten.
Man hat nicht das Recht, zu prügeln, Ausschreitungen zubegehen, zu schlagen, zu beleidigen, zu verletzen, zu nö-tigen und zu treten.
Zu alldem gibt Art. 8 des Grundgesetzes kein Recht,auch wenn Sie es scheinbar immer noch anders meinen.
Der Kollege Wiefelspütz hat schon versucht, IhnenArt. 8 näherzubringen.
Ich versuche es mit § 3 des Versammlungsgesetzes. DieserParagraf sieht das Verbot der Uniformierung, also desTragens der gleichen Kleidung, vor. All das hat seinenSinn. Es hat auch nach der schlimmen nationalsozialis-
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Dr. Patrick Sensburg
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tischen Vergangenheit seinen Sinn, dass man so nichtauftritt.Es ist wichtig, dass wir ein zentrales Recht der Demo-kratie nicht mit Füßen treten und es schützen. Es istwichtig, dass wir Demonstrationen schützen. Das be-zieht sich auf all das, was Sie machen, auch verbal. DieKollegin Buchholz sprach davon, Sie hätten den Kesselverteidigt. Wo leben Sie denn? Was machen Sie mit die-sem zentralen Grundrecht der Demokratie? Dadurchdass wir Straftäter verfolgen, schützen wir das Demon-strationsrecht und die Versammlungsfreiheit.
Aber Sie wollen das ja vielleicht gar nicht.
Sie wollen anscheinend Ausschreitungen fördern, unddann übernehmen Sie noch nicht einmal die Verantwor-tung. Ich finde das schändlich und traurig.
Der Kollege Schuster hat Ihnen berichtet, was passiertist. Ich weiß nicht, ob Ihnen das alles nichts ausmacht.Polizisten wurden verletzt.
Sind das für Sie keine Menschen mit Familien? Dass15 Polizisten teilweise schwer verletzt worden sind, dassAutonome einen Vermittler der Polizei geschlagen, zuBoden getreten und dann auf ihn eingeprügelt und ihnmit Reizgas besprüht haben, welches sie vorher mit Che-mikalien vermischt haben, scheint Ihnen egal zu sein.
Meine Damen und Herren von der Linken, wichtig istfür uns, dass das Demonstrationsrecht nicht missbrauchtwird und dass diejenigen, die demonstrieren wollen,auch demonstrieren können.
Das muss gesichert werden, weil es bei Demonstrationenanscheinend immer wieder eine Gruppe gibt, die die je-weilige Demonstration nutzt und Gewalttaten begeht.Wir setzen uns auf der einen Seite für das Demonstra-tionsrecht
und auf der anderen Seite für den Schutz der Demonstra-tion und die Verfolgung der Straftaten ein. Das ist wich-tig; denn das eine geht nur, wenn das andere auch ge-währleistet ist.
Meine Damen und Herren von der Linken, diese Ak-tuelle Stunde ist nach meiner Meinung unsinnig undüberflüssig. Sie zeigt, dass Sie versuchen, mit dem De-monstrationsrecht zu spielen, und dass Sie Bürgerrechtemit Rechten von Gewalttätern vermischen.
Das sind zwei Paar Schuhe, und ich hoffe, das werdenauch Sie irgendwann lernen.Was Sie anscheinend nicht lernen, ist, dass man, wennman innerparteiliche Schwierigkeiten hat und die Um-fragewerte heruntergehen, nicht versucht, diese mit ei-nem zentralen Recht der Demokratie wieder aufzupu-schen. Anscheinend ist es bei Ihnen schon so weit, dassSie Stimmen von Gewalttätern brauchen. An denenscheinen Sie Ihre Politik inzwischen auszurichten. Dasfinde ich traurig.Sie sind die Spalter der Demokratie. Ich glaube, hierhilft auch nicht der Heilige Geist von Pfingsten. Auf Siewird er wohl nicht niederkommen.Ich wünsche Ihnen einen schönen Feiertag.
Der Kollege Sebastian Edathy hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Lieber Kollege Sensburg, als gelernter Protestant undSohn eines langjährigen Pastors kann ich Ihnen sagen:Der Heilige Geist ist für uns alle da.
Davon wollen wir auch die Linkspartei nicht ausneh-men.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,die Tatsache, dass Sie uns hier an einem sonnigen Frei-tagnachmittag in der Aktuellen Stunde mit einem Themabehelligen, das von der Materie her eher in den Stadtratvon Frankfurt gehört, macht, glaube ich, deutlich, dassSie mittlerweile gar keine Freunde mehr haben, mit de-nen Sie etwas anderes machen könnten, als uns hier auf-zuhalten.
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Sebastian Edathy
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Ich muss jetzt nicht redundant werden und werdemeine Redezeit von fünf Minuten auch nicht ausschöp-fen. Eigentlich ist schon alles, was man sagen musste,von vielen vernünftigen Kollegen gesagt worden.Es gibt ein Recht auf Versammlungsfreiheit, und esgibt auch ein Demonstrationsrecht, aber es gibt ebenkein Besetzungsrecht, und es gibt auch kein Blockade-recht.
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wenn Siedas anders sehen, dann legen Sie doch einen Gesetzent-wurf vor – das wäre übrigens auch ein Anlass, uns hierdamit zu beschäftigen –, der das beinhaltet. Wenn wiraber über das geltende Recht sprechen, dann bin ichnicht bereit, mich hier kritisch über eine Genehmigungs-behörde zu äußern – das war nicht der Deutsche Bundes-tag, das war die Stadt Frankfurt –, und dann habe ichauch nicht die Absicht, mich als Teil des Bundestageskommentierend zu gerichtlichen Entscheidungen bis hinzu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zuäußern.
Was soll also die Debatte an dieser Stelle? Das istnach meinem Dafürhalten ein reiner Profilierungsver-such.Herr Maurer hat hier mit viel Verve vorgetragen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der ganz linkenSeite des Hauses, wenn Sie sich im Rahmen Ihrer gutenKontakte zu Kuba ähnlich intensiv für die Gewährungvon prokapitalistischen Demonstrationen in Havanna
wie für antikapitalistische in Frankfurt einsetzen wür-den, dann wäre uns allen mehr gedient.
Wir hier brauchen in Sachen Demokratie und in SachenGrundrechte keine Belehrungen, jedenfalls nicht von Ih-nen.Vielen Dank. Schönes Wochenende!
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am ver-gangenen Freitag kam ich an einer gesperrten Straße inFrankfurt mit einem Polizisten ins Gespräch. Er kam ausNordrhein-Westfalen und war wie viele seiner Kollegin-nen und Kollegen für die Dauer der Proteste nach Frank-furt beordert worden. Vermutlich hätte er wie seine Kol-leginnen und Kollegen auch viel lieber Zeit mit seinenKindern, mit Freunden verbracht, den Feiertag mit ei-nem anschließenden Brückentag ins Wochenende genos-sen, wie etwa der Kollege Veit.Stattdessen haben die Polizistinnen und Polizisten dasDemonstrationsrecht geschützt, aber auch Leben und Ei-gentum der Menschen in Frankfurt. Sie haben sich ange-sichts der Drohungen gewaltbereiter Randalierer im In-ternet Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. DieSorgen der Angehörigen dieser Polizistinnen und Poli-zisten, ihrer Kinder, ihrer Eltern, ihrer Freunde warendurchaus berechtigt.
Ich bin froh, dass alle Polizistinnen und Polizisten wie-der gesund und wohlbehalten nach Hause gekommensind. Ihnen gilt unser besonderer Dank.
Unser Dank gilt auch der Polizeiführung und den Si-cherheitsbehörden in Frankfurt am Main und Hessen, diedafür gesorgt haben, dass es in Frankfurt nicht zu Ge-waltexzessen wie im März gekommen ist. Der hessischeInnenminister Boris Rhein und der Frankfurter Ord-nungsdezernent Markus Frank haben umsichtig und kluggehandelt. Umso erstaunter war ich, von der SPD-Gene-ralsekretärin zu lesen, die Stadt Frankfurt habe den Sinnder Versammlungsfreiheit nicht verstanden.
Es ist schon mutig, aus der beschaulichen Idylle der Ei-fel die Sachlage in einer Stadt beurteilen zu wollen, dieeine lange Tradition der Liberalität hat und mit Grund-rechten nicht leichtfertig umgeht.
Deswegen sei zur Vorgeschichte Folgendes ange-merkt: Für den Zeitraum von Mittwoch bis Samstag wa-ren insgesamt 20 Veranstaltungen angemeldet, 17 davonsollten zentrale Punkte der Stadt blockieren, dazu eineKundgebung und ein Rave-Event am Mittwoch und eineDemonstration am Samstag. Die Sicherheitsbehördenhaben früh darauf hingewiesen: Es gibt hier kein Sicher-heitskonzept. In einem Notfall kann für Leib und Lebender Menschen nicht garantiert werden. – Die Stadt hat inGesprächen mit den Veranstaltern alternative Standortevorgeschlagen,
die aber nicht angenommen worden sind. Überdies wa-ren die Veranstalter selbst in der gerichtlichen Anhörung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 182. Sitzung. Berlin, Freitag, den 25. Mai 2012 21779
Dr. Matthias Zimmer
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nicht bereit, sich von den Gewaltaufrufen zu distanzie-ren. Daraufhin hat die Stadt die Veranstaltungen verbo-ten.Das Verwaltungsgericht hat dann die Verbote derStadt weitgehend bestätigt. In der nächsten Instanz, dievon den Aktivisten angerufen worden ist, wurde das Ver-bot dann noch erweitert. Es ist also alles mit rechtenDingen zugegangen,
und die Verantwortlichen hatten gute Gründe für ihreEntscheidungen. Es gibt kein schrankenloses Selbstbe-stimmungsrecht der Veranstaltungsform, vor allen Din-gen dann nicht, wenn andere Grundrechte damit verletztwerden.
Man wünscht sich deshalb, dass Frau Nahles ge-schwiegen hätte. Umgekehrt hätte ich mir gewünscht,dass der neue designierte Frankfurter SPD-Oberbürger-meister etwas gesagt hätte.
Mich interessiert schon, welchen Stellenwert in einersolchen Situation für ihn die berechtigten Interessen derFrankfurterinnen und Frankfurter haben, die er dem-nächst als Oberbürgermeister vertreten soll. Diese ersteChance, deutlich Farbe zu bekennen, hat er leider ver-passt.Im Vorfeld der genehmigten Demonstration am Sams-tag hat die Polizei dann feststellen müssen, dass ihre Be-fürchtungen nicht unzutreffend waren. Es wurden über20 Depots mit Steinen, Latten, Flaschen und Böllern amRande des genehmigten Demonstrationswegs gefunden.Das spricht ebenso für den Willen zur Randale wie etwadie Aufrufe im Internet, in Frankfurts Geschäften zuchaotisieren, um Polizeikräfte zu binden. Dass bis aufwenige Sachschäden nicht mehr passiert ist, kann nurdem klugen Einsatzverhalten der Polizei zugeschriebenwerden.
In einem Nebensatz möchte ich auch noch erwähnen,dass der Frankfurter Einzelhandel alleine für den Sams-tag Umsatzeinbußen von 10 Millionen Euro beklagt.Demonstrieren leitet sich aus dem Lateinischen ab. Esbedeutet, dass man etwas zeigt, dass man etwas deutlichmachen will. Ich fand es bedauerlich, dass das inhaltli-che Anliegen der Demonstranten von dem Willen weni-ger zur Randale in den Schatten gestellt wurde.
Denn in Frankfurt schätzen wir das offene Wort, die De-batte, die kritische Auseinandersetzung. Wir tun dies inder Tradition der Liberalität einer stolzen freien Stadtund der Wiege der deutschen Demokratie. Aber wir ver-teidigen diese Liberalität auch gegen zugereiste Chaotenund ihre politischen Stichwortgeber.
Wir werden uns von ihnen unsere Stadt nicht wegneh-men lassen. Das ist die politische Botschaft der vergan-genen Woche, auch wenn diese Aktuelle Stunde ein Zei-chen dafür zu sein scheint, dass dies noch nicht jederverstanden hat.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 13. Juni 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, über die Feiertage gute Erho-
lung und uns allen vielleicht auch manch neue Einsicht.