Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Bevor wir uns unserer Tagesordnung widmen, möchteich gerne dem Kollegen Wolfgang Gunkel und demKollegen Dr. Egon Jüttner zu ihren Geburtstagen gra-tulieren, die sie in den letzten Tagen gefeiert haben. DerKollege Wolfgang Gunkel feierte seinen 65. Geburtstagund der Kollege Dr. Egon Jüttner seinen 70. Geburtstag.Alle guten Wünsche im Namen des Hauses!
Die CDU/CSU-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kol-lege Peter Altmaier aus bekannten Gründen aus demVermittlungsausschuss und dem Gemeinsamen Aus-schuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes ausschei-det. Sie schlägt als Nachfolger den Kollegen MichaelGrosse-Brömer für beide Gremien als ordentliches Mit-glied vor.1) – Ich stelle fest, dass niemand dagegen Ein-wände erhebt. Damit ist der Kollege Michael Grosse-Brömer als ordentliches Mitglied im Vermittlungsaus-schuss wie im Gemeinsamen Ausschuss bestimmt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Keine Vergemeinschaftung europäischerSchulden – Euro-Bonds-Pläne der SPD: Haf-tung für deutsche Steuerzahler?
ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Um-welt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 36a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 4. Oktober 2003 zurGründung des Globalen Treuhandfonds fürNutzpflanzenvielfalt– Drucksache 17/9696 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ErnstDieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, KlausBarthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDEU-Bildungsprogramme modernisieren undausbauen – Mobilität und Austausch im Le-benslangen Lernen für eine integrationsför-dernde europäische Bildungspolitik erweitern– Drucksache 17/9575 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPÜbersetzungserfordernisse der nationalenParlamente in der mehrjährigen EU-Finanz-planung 2014–2020 berücksichtigen – Überset-zungen auch im intergouvernementalen Rah-men sicherstellen– Drucksache 17/9736 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss 1) Anlage 2
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21468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWohnungspolitische Verantwortung bei Über-tragung der bundeseigenen TLG-Wohnungensichern– Drucksache 17/9737 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Federführung offene) Beratung des Antrags der Abgeordneten FritzKuhn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENTransparenz zum Bau der ICE-NeubaustreckeWendlingen–Ulm herstellen– Drucksache 17/9741 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus HaushaltsausschussZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Entlassung des Bundesumweltministers undHandlungsfähigkeit der BundesregierungZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung zudem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerantwortung für die entwicklungspolitischeDimension der EU-Fischereipolitik überneh-men– Drucksachen 17/9399, 17/9714 –Berichterstattung:Abgeordnete Helmut HeiderichDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtNiema MovassatThilo HoppeZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateKünast, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENUrsachen und Verantwortlichkeiten für dasBerliner Flughafendebakel lückenlos aufklä-ren – Chancen für besseren Lärmschutz nut-zen– Drucksache 17/9740 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus HaushaltsausschussZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Demonstrationsfreiheit sichern – Occupy-Pro-teste nicht kriminalisierenVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll,soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdemwerden die Tagesordnungspunkte 3, 16, 25 a und 25 babgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zu-satzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen desAblaufs.Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkte-liste aufmerksam:Der am 26. April 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz zur Mitberatung überwiesenwerden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuaus-
– Drucksache 17/9369 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOSind sie hiermit einverstanden? – Das ist offensicht-lich der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnung auf:Eidesleistung des Bundesministers für Um-welt, Naturschutz und ReaktorsicherheitDer Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass eram 22. Mai 2012 gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgeset-zes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlagder Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herrn
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21469
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Dr. Norbert Röttgen, aus seinem Amt als Bundesminis-ter entlassen und Herrn Peter Altmaier zum neuen Bun-desminister ernannt hat.Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet einBundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56vorgesehenen Eid.Herr Altmaier, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mirbitten.
Ich darf Sie bitten, den im Grundgesetz vorgesehenenEid zu leisten.Peter Altmaier, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetzedes Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermannüben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den in der Verfassung
vorgesehenen Eid geleistet. Ich darf Ihnen für die Über-
nahme dieses Amtes alles Gute, Erfolg, solide Nerven
und Gottes Segen wünschen.
Peter Altmaier, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit:
Das werde ich brauchen können. Vielen herzlichen
Dank.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, ich würde die Gratulationscour jetzt gerne ei-nem vorläufigen Ende zuführen. Der Minister steht auchin den künftigen Wochen für die Entgegennahme guterWünsche noch jederzeit zur Verfügung.
Nachdem wir ihn jetzt mit den guten Wünschen desHauses in sein neues Amt begleitet haben, möchte ichdie Gelegenheit nutzen, dem Kollegen Nobert Röttgenauch im Namen des ganzen Hauses herzlich für seineTätigkeit in der Bundesregierung zu danken,
verbunden mit der ausdrücklichen Hoffnung auf weitereZusammenarbeit in anderen Aufgaben und Funktionenim Deutschen Bundestag.Da wir den Kollegen Peter Altmaier im Übrigen auchim Ältestenrat vermutlich nicht mehr sehen werden– denn alles gleichzeitig kann man nicht haben, jeden-falls nicht, solange wir ein gewisses Maß an Gewalten-teilung praktizieren –, will ich ihm gerne, sicher auch imNamen aller Kolleginnen und Kollegen im Ältestenrat,herzlich für die gute, freundschaftliche und kollegialeZusammenarbeit danken, die sehr dazu beigetragen hat,dass wir das, was die Funktionsweise des Parlaments be-trifft, in den allermeisten Fällen in großem Einverneh-men regeln konnten. Vielen Dank und noch einmal alleguten Wünsche!
Nun ist wieder Alltag. Ich rufe den Tagesordnungs-punkt 9 a bis c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
– Drucksache 17/9392 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung
– Drucksache 17/9733 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas Strobl Dr. Dieter WiefelspützJörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannJerzy Montagb) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Verbesserung des Rechtsschutzes inWahlsachen– Drucksache 17/9391 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung
– Drucksache 17/9733 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas Strobl Dr. Dieter WiefelspützJörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannJerzy Montagc) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke,weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIELINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahl-recht durch Einführung der Sonneborn-Rege-lung– Drucksache 17/7848 –
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21470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/9748 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelDr. Dieter WiefelspützGisela PiltzJan KorteWolfgang WielandÜber den Gesetzentwurf zur Änderung des Grundge-setzes werden wir später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auchhierzu höre ich keinen Widerspruch. Also können wir soverfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.
Aber nicht von mir, Herr Wiefelspütz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute ist ein guter Tag für das Wahlrecht inDeutschland. Heute kommen wir nach mehreren Mona-ten zum Abschluss unserer Beratungen und sorgen fürdie Einführung – nicht für eine Verbesserung, sondernfür die Einführung – eines subjektiven Rechtsschutzes inWahlsachen. Heute ist also ein freudiger Tag.Ich möchte ganz zu Beginn allen danken, die dasmöglich gemacht haben. Wir haben in vier Fraktionendes Deutschen Bundestages sehr konstruktive Beratun-gen durchgeführt.
Das zeigt: Wenn es um das Wahlrecht geht, kann mangut zusammenarbeiten. Ich möchte mich, trotz mancherBedenken, zuerst bei Herrn Wiefelspütz bedanken, abernatürlich auch beim Kollegen Ruppert von der FDP undbeim Kollegen Montag von den Grünen.Ich will ausdrücklich anerkennen, dass auch die Lin-ken einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der in dierichtige Richtung geht. Wir sind allerdings in allen ande-ren vier Fraktionen übereinstimmend der Auffassung ge-wesen, dass er in einigen Punkten etwas unausgegorenwar. Außerdem trägt er die, wie ich finde, sehr proble-matische Überschrift „Sonneborn-Regelung“. Ich findees nicht gut, das wichtige Anliegen des Rechtsschutzesin Wahlsachen mit Herrn Sonneborn und der Partei „DiePartei“ zu flankieren, die auch im NRW-Wahlkampfwieder nichts anderes gemacht haben, als die Plakate an-derer Parteien zu überkleben und Wahlveranstaltungenzu stören. Das ist nicht Demokratie, die konstruktiv istund an guten Lösungen arbeitet. Wir sollten HerrnSonneborn zumindest nicht adeln, indem wir seinen Na-men zum Titel eines Gesetzentwurfes erheben.
Wir wollen den subjektiven Rechtsschutz in Wahlsa-chen nicht verbessern, sondern ihn überhaupt erst ein-führen. Es gab ihn bisher nämlich nicht. Es gibt dazu einBonmot des BundesverfassungsgerichtspräsidentenVoßkuhle, der einmal sagte: Der Wahlrechtsschutz istbisher konsistent. Vor der Wahl gibt es ihn nicht, undnach der Wahl gibt es ihn im subjektiven Sinne auchnicht. – Diese „Konsistenz“ wollen wir durchbrechen.Wir wollen deshalb – das ist die am höchsten aufge-hängte Regelung unseres Entwurfs – durch eine Grund-gesetzänderung dafür sorgen, dass Parteien vor demBundesverfassungsgericht ein Beschwerdeverfahren ge-gen die Nichtzulassung zu einer Wahl anstrengen kön-nen.Meine Damen und Herren, man braucht, glaube ich,nicht groß zu erklären, dass für eine Partei die Nichtzu-lassung zu einer Wahl fast ebenso einschneidend ist wieein Parteiverbot. Wenn man nicht an Wahlen teilnehmenkann, kann man nicht politisch agieren. Art. 21 desGrundgesetzes gebietet es, diesen Rechtsschutz einzu-führen. Noch einmal ganz herzlichen Dank, dass wir dasgemeinsam so hinbekommen haben!Wir gehen sogar ein Stück darüber hinaus. Es reichtnämlich nicht, die Rechtsschutzchancen nur für Parteienzu verbessern. „Das Wahlrecht ist das vornehmste Bür-gerrecht.“ Das ist ein Zitat aus dem ersten Band derSammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts. Im Kern unserer Demokratie, sozusagen an derWiege der Demokratie in der Bundesrepublik, steht dieErkenntnis: Das Wahlrecht ist das entscheidende, vor-nehmste Bürgerrecht. Auch dieses Recht muss miteinem subjektiven Rechtsschutz im Interesse des Wahl-bürgers versehen sein. Genau diesen subjektiven Rechts-schutz führen wir ein.Wir haben lange überlegt, wie man das praktikabelmachen kann. Zum Schluss haben wir auch sehr intensivmit dem Wahlprüfungs- und Geschäftsordnungsaus-schuss darüber gesprochen. Ich bedanke mich an dieserStelle noch einmal bei den Kollegen dieses Ausschussesund bei dem Vorsitzenden, dem Kollegen Strobl, die unsdabei geholfen haben, das gemeinsam so hinzubekom-men.
Wir führen den subjektiven Wahlrechtsschutz ein, in-dem wir ihn harmonisch in das Wahlprüfungsverfahrenintegrieren, das schon gut funktioniert. Dieses Verfahrensollten wir auch nicht schlechtreden. Wir erweitern esjetzt aber um dieses subjektive Element. Das bedeutet,dass der Einzelne unabhängig von einer Mandatsrele-vanz und einer Sitzverteilungsrelevanz eines Wahlfeh-lers sein Wahlrecht einfordern und einklagen kann. Wirschaffen daher beispielsweise das Erfordernis von100 Unterschriften für eine Anrufung des Bundesverfas-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21471
Dr. Günter Krings
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sungsgerichts ab. Das sind klare Signale in Richtung ei-nes subjektiven Rechtsschutzes.Ich betone es noch einmal: Das Wahlrecht ist dasRecht des Bürgers und des Wählers, aber es ist auch dasRecht des Kandidaten, der sich bei einer Wahl aufstellenlassen möchte. Deshalb ist die heutige Reform ein Mei-lenstein und die Schließung der vielleicht letzten Rechts-schutzlücke, die in unserem Staat mit seinen ansonstenumfassenden Rechtswegen noch existiert.Es gibt einen weiteren Punkt, der nicht übersehenwerden sollte. Wir ergänzen die Wahlausschüsse – denBundeswahlausschuss und die Landeswahlausschüsse –um Richterpersonen. Bei den Landeswahlausschüssengeschieht dies durch Richter an Oberverwaltungsgerich-ten, beim Bundeswahlausschuss geschieht dies durchRichter am Bundesverwaltungsgericht. Bisher waren indiesen Wahlausschüssen ausschließlich Vertreter vonParteien. Hierfür gibt es sicherlich Argumente, zum Bei-spiel dass sie besondere Sachkenntnisse besitzen. Dasbrachte jedoch gelegentlich den Vorwurf ein, dass eseine Art „Closed Shop“ gebe und dass man kartellartigversuche, Konkurrenten zu verhindern.Ich habe nicht den Eindruck, dass dies in der Vergan-genheit der Fall war, jedoch sollte schon allein diesemEindruck entgegengewirkt werden. Dies geschieht durchdie zusätzliche Kompetenz und Sachkunde, die durchdiese Richter eingebracht werden. Ich glaube, das ist eingutes Signal, was die Objektivierung und die weitereVerbesserung der Arbeit der Wahlausschüsse angeht. Sokann ein Beitrag zu einem verbesserten Rechtsschutzund zu einer verbesserten Rechtsstellung der betroffenenParteien, aber auch der Kandidaten geleistet werden.Ich möchte noch betonen: Insgesamt ist es uns inZusammenarbeit mit dem Innenministerium und demJustizministerium, deren Vertreter hier gut zugearbeitethaben, gelungen, zwei Ziele zu kombinieren. Zum einenführen wir den Rechtsschutz in Wahlsachen tatsächlichein. Der Rechtsschutz existiert künftig vor dem Wahl-prüfungsausschuss und vor dem Bundesverfassungsge-richt. Ich frage: Vor welchem höheren Gericht könntedieser Rechtsschutz wahrgenommen werden als vor demBundesverfassungsgericht? Zum anderen führen wir die-sen Rechtsschutz ein, ohne die Durchführbarkeit vonWahlen zugleich unzumutbar zu beeinträchtigen. Sowichtig der Rechtsschutz in Wahlsachen auch ist, ist esmeines Erachtens noch wichtiger, dass Wahlen über-haupt fristgerecht stattfinden können.Wenn wir einen Rechtsschutz in der Art einführenwürden, wie er teilweise vorgeschlagen wurde, dassnämlich alle Rechtsschutzmöglichkeiten schon vor derWahl genutzt werden können, dann wäre das Chaos vor-programmiert. Es ist auch keine Lösung, flächendeckendalle Verwaltungsgerichte vor oder nach der Wahl mit derWahlprüfung zu beauftragen. Dies muss ein gebündeltesVerfahren bleiben. Wir haben die Kombination ausRechtsschutz und Praktikabilität erreicht. Dafür sage ichnoch einmal allen Beteiligten einen ganz herzlichenDank.
Dieter Wiefelspütz ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In dieser Angelegenheit ist alles gesagt worden.
Es war aber Nacht, als alles gesagt wurde. Herr Kringshat heute noch einmal in vollem Sonnenlicht das Nötigegesagt. Ich möchte mich sehr herzlich für die gute undfaire Zusammenarbeit bedanken. Herr Ruppert, HerrKrings und Herr Montag, ich glaube, wir haben das ganzsolide auf die Reihe bekommen. Herr Ruppert und HerrKrings, Sie kriegen zwar sonst nichts auf die Reihe.Aber an dieser Stelle hat alles gut funktioniert, auch des-wegen, weil wir geholfen haben.
Wir haben in Deutschland ein wunderbares Wahl-recht. Es ist geprägt von Subtilität und Perfektion. Das,was wir bei unseren Bundestagswahlen auf die Reihekriegen, ist mit Blick sowohl auf die praktische Durch-führung als auch auf den rechtlichen Bereich mehr alserstaunlich. Allerdings glaube ich, dass man an be-stimmten Stellen ausgeprägte mathematische Kenntnissehaben muss, um die Fallstricke und Subtilitäten wirklichzu begreifen.Herr Krings, hier haben wir in der Tat einen Dissensin einer wichtigen Nuance, die zum Glück nie wahlent-scheidend geworden ist, es jedoch werden kann. Daherwerden wir um eine entsprechende Lösung an andererStelle ringen. Es gibt einen Dissens in Bezug auf dasnegative Stimmgewicht und die Überhangmandate. Hierhat diese Konstruktivität leider gefehlt. Deswegen tragenwir diesen Streit vor dem Bundesverfassungsgericht aus.Herr Ruppert und Herr Krings, es ist aber wie so häufigim Leben: Sie werden eine zweite Chance bekommen.Sie werden die zweite Chance bekommen, nach der Ent-scheidung des Gerichts vernünftig mit uns über dieSchaffung der letzten Perfektion im Bereich des Wahl-rechts erneut zu reden.Das, was wir heute machen, hat mit negativemStimmgewicht und mit Überhangmandaten nichts zutun, sondern wir füllen jetzt eine kleine – man könntefast „blamable“ sagen – Lücke in unserem Wahlrecht inder Tat mit Inhalt, nämlich bei der Parteienzulassung,worauf Herr Krings zu Recht hingewiesen hat. Es wareines entwickelten Verfassungsstaats im Grunde unwür-dig, dass es, wenn es um die Zulassung einer Partei ging,
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Dr. Dieter Wiefelspütz
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keinen Rechtsschutz vor einer Bundestagswahl gab. Dasbetrifft sicherlich nicht die etablierten Parteien. Aberauch die neue Konkurrenz, neue und junge Parteien,muss eine faire Chance haben, zu reagieren, wenn überihre Existenz gestritten wird, und das schaffen wir jetzt.Wir haben noch eine zweite Verbesserung eingeführt.Dabei geht es um den subjektiven Wahlrechtsschutz. Wirhaben in Deutschland ein perfektes Wahlprüfungsver-fahren. Ich will das einmal anmerken: Dinge, die in Flo-rida vor einigen Jahren passiert sind, sind in Deutschlandundenkbar, weil es bei uns an dieser Stelle perfekt funk-tioniert. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass imWahlprüfungsrecht die Tatsache berücksichtigt wird,dass es das Königsrecht der Bürger ist, zu wählen. Vondaher ist es eine gute Verbesserung, dass wir in Zukunftauch den subjektiven Wahlrechtsschutz im Wahlprü-fungsverfahren wiederfinden. So gesehen haben wir hiereine vernünftige Reform auf die Reihe gebracht.Ich bedanke mich noch einmal sehr herzlich für diekonstruktive Zusammenarbeit. Ich wünsche alles Guteund hoffe auf ein genauso vernünftiges Wiedersehen,Herr Ruppert und Herr Krings, nach der Entscheidungvon Karlsruhe zum negativen Stimmgewicht.Schönen Dank fürs Zuhören.
Stefan Ruppert von der FDP-Fraktion ist der nächste
Redner.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Wiefelspütz, ich sehe Sie immer gerne wieder,in der Sache Wahlrecht reicht die Zahl der Begegnungenjetzt allerdings. Ich glaube, wir haben an zwei Stellenordentliche Verbesserungen in Bezug auf das Wahlrechterreicht: einmal beim eigentlichen Wahlverfahren undjetzt beim subjektiven Wahlrechtsschutz. Beide Teiledieser Reform werden Bestand haben.Wenn man dieser Tage die Bilder aus Ägypten sieht,wenn man sieht, wie sich die Menschen vor Wahllokalenanstellen, wie sie warten und geduldig ausharren, um ihrvornehmstes und neues Recht, das Wahlrecht, wahrneh-men zu können, wenn man sieht, welche Begeisterungsie für neue demokratische Strukturen und Möglichkei-ten entwickeln, dann spürt man etwas vom Zauber, denDemokratie bei Menschen auslösen kann.Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg und auch amEnde der 60er- und in den 70er-Jahren ganz hohe Wahl-beteiligungen gehabt, die klar zeigten: Jeder wollte seinepolitische Überzeugung zum Ausdruck bringen und da-her sein Wahlrecht ausüben. Mittlerweile, nach 60 Jah-ren gefestigter Demokratie in Deutschland, ist klar ge-worden, dass die Menschen diesen Institutionen unddiesem Wahlsystem vertrauen und dass es sich bewährthat.Es ist ein gutes Zeichen, dass man trotzdem weiter ander Befestigung eines so guten bestehenden Systemsarbeitet, die Missstände behebt und die Teile, die nochnicht gut gelungen sind, noch weiter verbessert. Dashaben wir mit dieser Reform zum subjektiven Wahl-rechtsschutz heute getan. Ich glaube, alle Demokraten,und zwar von der Linkspartei über die SPD, die Grünenund die CDU/CSU bis hin zur FDP, können gemeinsamstolz darauf sein, dass wir ein solch gutes, funktionieren-des Wahlsystem in Deutschland haben.
Ich bin über die Änderungen froh. In Deutschlandkann man gegen die Anbringung einer Dachrinne undgegen Glühbirnen beim Nachbarn klagen. Gegen allesMögliche ist Rechtsschutz möglich. Trotzdem war es bisheute nicht möglich, dass eine Partei, die am demokrati-schen Prozess teilnehmen und sich in dieses Gemeinwe-sen einbringen wollte, gegen eine ablehnende Entschei-dung des Bundeswahlausschusses Rechtsmittel einlegenkonnte.
Das ist undenkbar. Dieser Missstand musste beseitigtwerden. Dafür war es höchste Zeit.
Der Gesetzentwurf muss die notwendige Balancezwischen den Belangen von funktionierenden Institutio-nen unserer Demokratie, der Bestandsfähigkeit und derArbeitsfähigkeit des Bundestages auf der einen Seite unddem subjektiven Wahlrechtsschutz auf der anderen Seitefinden. Deswegen haben wir gesagt: Es muss möglichsein, nach der Wahl die Feststellung treffen zu können,ob der Ausschluss von der Wahl, ob die Nichtzulassungeiner Landesliste rechtmäßig oder rechtswidrig war,ohne dass wir andererseits den Bestand und die Arbeits-fähigkeit funktionierender demokratischer Gremien wiedieses Bundestages gefährden. Diese Balance haben wirin diesem Gesetzentwurf meiner Meinung nach guterreicht.Jetzt stellt sich mir als drittem Redner an einer solchprominenten Stelle – die Kollegin Wawzyniak und derKollege Montag werden diese Erfahrung gleich nach mirmachen – die Frage: Soll man bei dieser Gelegenheit soausführlich über die Gemeinsamkeiten von Demokratenreden? Ich sage den Zuhörern und Zuschauern, aberauch allen hier im Saal: Ja, man soll, weil wir wiedereinmal bewiesen haben, dass in der repräsentativenDemokratie mittels einer Zusammenarbeit über Partei-grenzen hinweg ein Konsens gefunden werden kann undauch große praktische Probleme aus dem Weg geräumtwerden können. Gespräche führen dazu, dass dieseDemokratie wunderbare und, wie ich finde, sehr sach-gerechte Kompromisse und Ergebnisse zeitigt. Darüber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21473
Dr. Stefan Ruppert
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können wir als Demokraten alle sehr froh sein, und da-rauf können wir stolz sein.
Ich bin froh, dass jetzt nach zwei Jahren die Debattemit Fachleuten und Wissenschaftlern zu einem Ab-schluss gekommen ist. Man muss auch einmal sagen:Ein wichtiger Impuls zur Reform des Wahlrechts kamaus der Wissenschaft.
Der Kollege Heinrich Lang hat 1996 in seiner Disserta-tion einen Vorschlag gemacht, der dem, den wir heuteverwirklichen, sehr ähnlich ist. Es ist doch einmal schön,zu sehen, wie wissenschaftliche Debatten Eingang in dieArbeit des Bundestages finden. Ich bin froh, dass wirdiesen Gesetzentwurf weiterentwickelt haben.Ich danke auch Herrn Strobl, der uns zur rechten Zeitauf die notwendigen Erfordernisse der Praxis, auf dieArbeitsfähigkeit eines Wahlprüfungsausschusses unddarauf, dass wir auch in angemessener Zeit bei der Wahl-prüfung zu Ergebnissen kommen müssen, hingewiesenhat. Insofern haben wir es auch an dieser Stellegeschafft, die sehr wohlbegründeten Bedenken einzuar-beiten, und am Ende einen wunderbaren Gesetzentwurfvorgelegt. Ich empfehle Ihnen allen die Zustimmung.Ich habe auch mit der Fraktion Die Linke wiederholtGespräche geführt.
Auch ihr Gesetzentwurf enthält viele positive Elemente,denen ich zustimme. Aber beim Fristenregime und beider Frage des Rechtsschutzes hinsichtlich der Parteien-zulassung vor den Verwaltungsgerichten kommt unseransonsten robustes Wahlsystem zu leicht ins Schwanken.Deswegen folge ich Ihnen aus fachlichen Gründen andieser Stelle nicht. Aber ich erkenne an, dass meinerMeinung nach auch Sie in die richtige Richtung gedachthaben. Vielleicht schaffen wir es beim nächsten Mal,wenn wieder solche Fragen auftauchen, alle gemeinsamzusammenzuarbeiten. Darauf freue ich mich.Ich stimme unseren Gesetzentwürfen aus vollem Her-zen zu.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Wawzyniak das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich bin außerordentlich erfreut, dass alle anderen Par-teien der Linken folgen und eine Sonneborn-Regelungzum Rechtsschutz im Wahlrecht einführen wollen. Siedürfen das natürlich nicht so nennen. Die Sonneborn-Re-gelung ist bei Ihnen außerdem nur eine halbe Sonneborn-Regelung. Das werde ich Ihnen jetzt anhand der Krings-Kriterien erläutern.Herr Krings hat in der Debatte zum Gesetzentwurfder Linken Kriterien an unseren Gesetzentwurf angelegt.Diese Kriterien legen wir jetzt einmal an Ihren Gesetz-entwurf an.
Da stellen wir zunächst fest: In Ihrem Gesetzentwurfbeträgt die Frist zwischen der Entscheidung des Bundes-wahlausschusses und des Bundesverfassungsgerichts imschlimmsten Falle 16 Tage, im Gesetzentwurf der Lin-ken 18 Tage. Zudem enthält der Gesetzentwurf der ande-ren Fraktionen keinerlei Regelung, wie es in dem Fallezuzugehen hat, wenn eine vorgezogene Bundestagswahlstattfindet. Wir fanden das nicht schlimm und haben des-halb in unseren Gesetzentwurf keine Regelung dazu auf-genommen. Herr Krings fand das aber schlimm. EineRegelung dazu ist jedoch auch in Ihrem Gesetzentwurfnicht enthalten.
Wir müssen drittens feststellen, dass Sie allein denRechtsschutz für die Nichtzulassung als Partei regeln.Was Sie nicht regeln, ist der Rechtsschutz vor der Wahl,wenn eine Landesliste oder ein Kreiswahlvorschlagnicht zugelassen wird. Damit haben Sie nur die halbeSonneborn-Regelung vorgesehen.Herr Krings, man kann eine Landesliste und einenKreiswahlvorschlag selbst dann nicht zulassen, wenn dieParteieigenschaft festgestellt worden ist. Insofern ziehtIhr Argument, dass es zu widersprüchlichen Entschei-dungen kommen könnte, in keinem Fall.
Sie lösen das Problem der Wahlausschüsse aus meinerSicht etwas unbefriedigend. Wir haben das Problem– das sehen Sie offensichtlich auch so –, dass die Kon-kurrenz, nämlich die Parteien, die im Bundestag ver-treten sind, über die Zulassung der anderen Parteienentscheiden. Nun kommen Sie auf die Idee, die Wahl-ausschüsse auch mit Richterinnen und Richtern zu beset-zen. Wir haben unsere Erfahrungen mit Richterinnenund Richtern, aber das ist ein Placebo. Denn es ändertnicht wirklich etwas an dem Problem, dass die Konkur-renz über die Zulassung entscheidet.Sie haben uns vorgeworfen, dass wir in unserem Ge-setzentwurf keine Grundgesetzänderung vorsehen. Ja,wir hielten das nicht für nötig. Sie halten das für nötig.Deswegen stimmen wir auch nicht dagegen.
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21474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Halina Wawzyniak
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Sie sagen: Sie regeln in Ihrem Gesetzentwurf densubjektiven Rechtsschutz, nämlich dass sich Bürgerin-nen und Bürger, die der Meinung sind, bei der Wahl inihren Rechten eingeschränkt worden zu sein, dagegenwehren können. Sie alle haben verschwiegen, dass das,was Sie in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben,auf Anregung der Fraktion Die Linke geschehen ist. Dasist gut; es geht aber nicht weit genug. Denn am Endebleibt es nur ein nachträglicher Rechtsschutz. Auch dasgeht nicht weit genug; es schadet aber auch nicht. Des-wegen stimmen wir auch an dieser Stelle nicht dagegen.Besonders schwierig finde ich aber, dass Sie Fragenoffengelassen haben. Was passiert eigentlich, wenn dasBundesverfassungsgericht die Parteieigenschaft bejaht?Wie lange gilt das? Für vier, drei oder zwei Jahre? Waspassiert, wenn das Bundesverfassungsgericht in der vonIhnen gesetzten Frist nicht über die Parteieigenschaftentscheidet?Wir finden, dass im Zweifelsfall die Parteieigenschaftfestgestellt werden sollte. Das heißt, Sie hätten klarstel-len müssen: Wenn das Bundesverfassungsgericht nichtentscheidet, gilt eine Partei als zugelassen.Abschließend muss ich Ihnen sagen: Wir machenkeine halben Sachen.
Weil Sie nur halbe Sachen machen und nur die halbeSonneborn-Regelung aufnehmen, werden wir uns bei Ih-rem Gesetzentwurf enthalten.
Der Kollege Montag ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieRede, die wir von der Kollegin Wawzyniak gehört ha-ben, ist so ausgefallen, weil die Union sich der Linkengegenüber in einer bestimmten Art und Weise verhält.
Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir mit FrauWawzyniak verhandelt hätten, dann hätten wir guteKompromisse gefunden. Dann hätte sie keinen Grundgehabt, eine solch mäkelige Rede zu unserem Gesetzent-wurf zu halten.
Denn in der Sache sind die Kritikpunkte nicht berechtigt.Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeitin Europa, die OSZE, hat 2009 die Bundestagswahlenbeobachtet. Es ist nicht verwunderlich: Die Kommis-sion, die die Rechtmäßigkeit und demokratische Durch-führung der Wahlen in Deutschland beobachtet hat, hatuns beste Zeugnisse ausgestellt – bis auf einen Punkt:Parteien, die an Wahlen teilnehmen wollen, benötigeneine Zulassung. Eine solche Zulassung spricht nur derBundeswahlausschuss aus. Wenn er eine Zulassung ab-lehnt, kann die Partei an den Wahlen nicht teilnehmen.Obwohl es die Grundrechtsgarantie des Rechtswegs vordie ordentliche Gerichten gibt, kann die Partei bisher ihrRecht auf Teilnahme an den Wahlen nicht einklagen.Das ist ein Missstand. Das ist in einer gewachsenenDemokratie ein Fehler. Das ist auch der zentrale Punktunserer Reform.Wir benötigen eine Grundgesetzänderung, damit dasBundesverfassungsgericht in den besagten Fällen dieMöglichkeit erhält, noch vor der Wahl den betroffenenGruppierungen mitzuteilen, ob sie an den Wahlen teil-nehmen dürfen oder nicht. Dies ist der entscheidendePunkt der Reform, die wir durchführen.Der zweite genauso wichtige Punkt ist, dass Bürgerin-nen und Bürger manchmal an der Ausübung ihresRechts, sich an Wahlen zu beteiligen – entweder aktiv,indem sie wählen gehen wollen, oder passiv, indem sieüber Landeslisten oder als Direktkandidaten gewähltwerden wollen –, in dem hochkomplexen Verfahren ei-ner Bundestagswahl – ein Verfahren, das nicht fehlerlosist – gehindert werden. Einige werden nicht zur Wahl zu-gelassen. Einigen wird verwehrt, zu wählen. Es ist einManko, dass sich die betroffenen Bürgerinnen und Bür-ger – es handelt sich zum Glück nur um wenige – nurnach der Wahl beim Bundestag darüber beschweren kön-nen.Wir haben darüber nachgedacht, wie wir die Positiondieser Menschen stärken können. Unsere Lösung ist:Wir stellen die Wahl als insgesamt funktionierendes Un-ternehmen nicht infrage, bieten den betroffenen Men-schen aber ein Verfahren an, an dessen Ende ihnen ge-sagt wird, ob ihnen Unrecht geschehen ist oder nicht.Das ist subjektiver Rechtsschutz; den führen wir nunmithilfe von Wahlausschüssen, Beschwerdeinstanzenund der Entscheidung des Bundestages ein. Wir werdenin Zukunft nicht nur feststellen, ob die Wahl insgesamtordnungsgemäß durchgeführt wurde, sondern auch, obdem Einzelnen Unrecht geschehen ist oder nicht.
Alles in allem freue ich mich sehr darüber, dass ichmich an dieser Reform beteiligen konnte. Ich empfehleIhnen allen, sowohl die Grundgesetzänderung als auchdie Gesetzesänderungen anzunehmen. Ich wünsche mir,dass wir recht bald ein ähnlich hohes Maß der Zusam-menarbeit bei der Reform des Wahlrechts, das für diesesParlament notwendig ist, auch bei den strittigen Fragendes negativen Stimmgewichts erreichen werden.Danke schön.
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Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Strobl für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele, diediese Debatte in diesem Hause als Abgeordneter, als Zu-hörer oder außerhalb des Deutschen Bundstages verfol-gen, sind vielleicht etwas erstaunt über die Abstraktheitdes Themas.
Aber es geht um eine Materie, die die Wählerinnen undWähler in Deutschland ganz konkret betrifft. Es geht da-rum, wann und wie kontrolliert wird, ob eine Bundes-tagswahl ordnungsgemäß abgelaufen ist und ob die Zu-sammensetzung des Deutschen Bundestages tatsächlichdem Willen der Wählerinnen und Wähler entspricht.Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel aus der Pra-xis des Wahlprüfungsausschusses nennen, um das zuverdeutlichen. So beklagte etwa ein Einspruchsführer,dass sein Wahllokal in der Schalterhalle einer Sparkasseeingerichtet wurde, obwohl die Überwachungskamerasaus versicherungstechnischen Gründen nicht abgeschal-tet werden konnten. Er fühlte sich bei seiner Stimmab-gabe unzulässig beobachtet. Sein Gefühl täuschte ihnnicht. Er hatte freilich recht.Das Grundgesetz besagt nun, dass die WahlprüfungSache des Bundestags bzw. des Wahlprüfungsausschus-ses ist. So erreichten uns bei der letzten Bundestagswahl163 Einsprüche. Bei vorangegangenen Bundestagswah-len waren es zum Teil 500 bis 600 Einsprüche. Obwohlimmer wieder zahlreiche Wahlfehler festgestellt werden,ist noch nie eine Bundestagswahl wiederholt worden.Dies lag daran, dass sich bei der Prüfung keiner derWahlfehler als so umfassend herausgestellt hat, dass erEinfluss auf die Zusammensetzung des Bundestags ge-habt hat oder auch nur in irgendeiner Art und Weisehätte haben können. Wir untersuchen also ganz konkreteFälle. Wenn es nicht denkbar ist, dass man zu einem an-deren Ergebnis gekommen wäre, selbst wenn alle Stim-men, die in unrechtmäßiger Art und Weise nicht gezähltworden sind, dem nicht gewählten Abgeordneten zuge-fallen wären, dann wird der Einspruch abgewiesen.Nun wollen wir die Tatsache, dass ein Wahlfehlerpassiert ist, auch wenn es eine Abweisung des Ein-spruchs aufgrund mangelnder Mandatsrelevanz gibt, inder Tenorierung des Beschlusses deutlich herausstellen.Wir wollen dies nicht nur deswegen tun, damit diejeni-gen, die Einspruch erheben, etwas zufriedener sind, son-dern wir erhoffen uns dadurch eine stärkere Wirkung,dass sich solche Wahlfehler in Zukunft nicht wiederho-len.Das Wahlrecht darf nicht nur auf dem Papier gelten,sondern es muss aufmerksam und sorgfältig kontrolliertund weiterentwickelt werden. Das Wahlrecht ist ein Es-sential, ein Grundrecht unserer Demokratie, auf demletztlich alles andere aufbaut. Um es mit den Worten desBundesverfassungsgerichts zu sagen: Der permanenteProzess der Willensbildung des Volkes mündet ein inden entscheidenden Akt der Parlamentswahl. Hierdurchübt das Volk den ihm gebührenden Einfluss auf die Bil-dung des staatlichen Willens durch seine verfassten Or-gane aus.Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist derSchutz des Wahlrechts unserer Bürgerinnen und Bürgerin jedem Fall eine der vornehmsten Pflichten des Parla-ments selber.Dazu gehört auch der zweite Punkt, der heute be-schlossen werden soll. Bisher hatten insbesondere kleineund neue Parteien, denen vor der Wahl die Zulassung alsPartei versagt und damit die Chance genommen wurde,von den Wählerinnen und Wählern überhaupt gewähltwerden zu können, nur die Möglichkeit, nach einer Wahldagegen Einspruch einzulegen. Für mich persönlich wardas eine Rechtsschutzlücke, die wir heute richtigerweiseschließen.
Durch eine wirklich sehr konstruktive Zusammen-arbeit im Ausschuss ist es uns gelungen, den ursprüngli-chen Entwurfstext durch einige wenige Detailregelun-gen, die das Verfahren im Wahlprüfungsausschussbetreffen, zu konkretisieren. Wir haben Regelungengefunden, die den Wahlprüfungsausschuss und denDeutschen Bundestag nicht überfordern und den Ermitt-lungsaufwand in angemessenen Grenzen halten. DieWahlprüfungsverfahren sollen, auch wenn es mehrereHundert sind, nicht erst dann abgeschlossen werden kön-nen, wenn die nächste Bundestagswahl schon vor derTür steht. Hier war ein sorgfältiger Abwägungsprozessvorzunehmen.Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegenherzlich dafür bedanken, dass wir Regelungen gefundenund Abwägungen in einer Art und Weise vorgenommenhaben, die einerseits die nötige Schnelligkeit der Wahl-prüfung mit einem vertretbaren Aufwand ermöglichenund andererseits auch dem Interesse des Einsprechendengerecht werden, und dass wir Wahlfehler in der Tenorie-rung des Beschlusses explizit feststellen, auch wenn wirden Einspruch mangels Mandatsrelevanz abweisen müs-sen.
Herzlichen Dank insbesondere den Kollegen Dr. Krings,Dr. Wiefelspütz, Dr. Ruppert und Herrn KollegenMontag.Es ist immer wieder gut, dass die demokratischen Par-teien in diesem Hause bei allem notwendigen und lei-denschaftlich geführten Streit auch in der Lage sind,fraktionsübergreifend das zu gestalten, was gemeinsamgestaltet werden sollte. Zu dem, was gemeinsam gestal-tet werden sollte, gehört meines Erachtens auch das
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21476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Thomas Strobl
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Wahlrecht; denn das Wahlrecht gilt für alle. Insofernmöchte ich mich insgesamt bei den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/DieGrünen dafür bedanken, dass wir nun ein gemeinsamesErgebnis zur Stärkung und zum Schutz unseres Wahl-rechts gefunden haben. Ich möchte mich auch für die an-gekündigte Zustimmung bei der Schlussabstimmung zudiesen Gesetzesänderungen bedanken, die eine Weiter-entwicklung des Wahlrechts, aber auch eine Weiterent-wicklung unserer Verfassung, des Grundgesetzes derBundesrepublik Deutschland, beinhalten.Ihnen allen danke ich herzlich für das Zuhören.
Nun bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für die letzte
Rednerin, die Kollegin Steffen,
bevor wir dann zu der namentlichen Abstimmung kom-
men. Nehmen Sie doch bitte noch einen Augenblick
Platz, und sorgen Sie mindestens für die notwendige
Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kol-
lege Dr. Ruppert hat vorhin schon auf die Wahlen in
Ägypten verwiesen, die dort mit viel Begeisterung wahr-
genommen werden. Bei uns in Deutschland sieht die Si-
tuation etwas anders aus. Gerade in Zeiten der Politik-
und Parteienverdrossenheit, wie wir sie hier erleben,
können wir es uns meines Erachtens nicht leisten, im
Wahlrechtsschutz Lücken zu lassen, die das subjektive
Wahlrecht abwerten und neuen Parteien den Zugang zu
Wahlen erschweren.
Als Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion im Aus-
schuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord-
nung war ich erst gegen Ende der parlamentarischen Be-
ratungen einbezogen. Auch ich möchte an dieser Stelle
meinen Kollegen danken, die über viele Monate – wir
haben vorhin gehört, dass es zwei Jahre waren – die Be-
ratungen geführt und die Ausarbeitung des Gesetzent-
wurfs vorangetrieben haben. Sie sind zu einem guten Er-
gebnis gekommen – auch durch die Erkenntnis, dass der
Geschäftsordnungsausschuss hier mit einbezogen wer-
den muss.
Auf Vorschlag des 1. Ausschusses – der Kollege
Strobl hat es bereits gesagt – sind nun noch einige Präzi-
sierungen vorgenommen worden. Letztendlich wird sich
erst in der Praxis zeigen, ob wir Regelungen gefunden
haben, die einen ausgewogenen Kompromiss zwischen
der Stärkung des subjektiven Wahlrechts einerseits und
der Praktikabilität andererseits darstellen.
Es gibt unzählige Beispiele – einige davon sind schon
genannt worden –, wie das Wahlrecht verletzt werden
kann.
Einen Augenblick, bitte. – Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich darf Sie nun wirklich bitten, noch einen
Augenblick zuzuhören und mit der gebotenen Aufmerk-
samkeit diese Debatte – wir ändern gleich das Grundge-
setz – zu einem angemessenen Abschluss zu führen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Es ist tatsächlich etwasschwierig, gegen die Geräuschkulisse anzureden.Um welche Beispiele geht es? Zu nennen sind unteranderem die fehlende Prüfung der Ausweispflicht imWahllokal, nicht vorhandene Briefmarken für die Brief-wahl, der verspätete Erhalt der Briefwahlunterlagen undWahlwerbung unmittelbar vor dem Wahllokal. Es gibtunzählige Beispiele. Viele der Kolleginnen und Kolle-gen, die heute hier sitzen, dürften schon ähnliche Fälleerlebt haben oder während Bürgersprechstunden vorge-tragen bekommen haben.Natürlich ist es nicht Sache des Wahlprüfungsaus-schusses, jede gefühlte Verletzung des Wahlrechts zu-künftig kleinteilig zu prüfen. Hier muss der Ausschusseine Möglichkeit haben, ein gewisses Ermittlungsermes-sen auszuüben. Das haben wir in dem Entwurf auch sovorgesehen.Schade ist – das hat der Kollege Montag vorhin schongesagt –, dass bei dem wichtigen Thema Wahlrechts-schutz, das alle Parlamentarier betrifft und eigentlichüberparteilich gelöst werden müsste, immer wieder Aus-grenzereien stattfinden. Ich würde mir wünschen, meineDamen und Herren von der Regierungskoalition, dassSie zukünftig alle Fraktionen mit einbeziehen, also auchdie der Linken – wobei ich mir nach Ihrer Rede, FrauWawzyniak, allerdings nicht sicher bin, inwieweit IhreFraktion tatsächlich zu einer konstruktiven Mitarbeit be-reit gewesen wäre.
Meine Damen und Herren, der Präsident hat schondarauf hingewiesen, dass wir heute das Grundgesetz än-dern. Gerade meine Kolleginnen und Kollegen aus demRechtsausschuss werden mir zustimmen, dass wir es unsmit Änderungen des Grundgesetzes nie einfach machen.Neben der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Parla-ment bedürfen Grundgesetzerweiterungen einer ganz be-sonderen Bedeutung.Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen stärken wirunsere parlamentarische Demokratie und das Wahlrechtals ihren fundamentalsten Bestandteil.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21477
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Ich schließe die Aussprache.Bevor wir zur Abstimmung über den von den Fraktio-nen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grüneneingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desGrundgesetzes kommen, möchte ich mich auch persön-lich noch einmal bei allen beteiligten Kolleginnen undKollegen aus allen Fraktionen für die Regelung bedan-ken, die sie mit großer Übereinstimmung gefunden ha-ben. Der eine oder andere mag sich daran erinnern, dassich zu Beginn dieser Legislaturperiode an dieser Stelleausdrücklich Regelungsbedarf angemeldet habe. Denngerade mit Blick auf das auch international hochge-schätzte deutsche Wahlrecht war das Thema, das wirheute regeln, mehr als ein Schönheitsfehler. Sosehr unsdiese Regelung abstrakt vorkommen mag, im konkretenFall hätte sie handfeste Folgen für unser eigenes Ver-ständnis von der Legitimität von Wahlen. Insofern findetheute eine scheinbar unauffällige, aber wesentliche Aus-besserung einer ärgerlichen Lücke statt. Deswegen nocheinmal herzlichen Dank an alle, die diese einvernehmli-che Regelung ermöglicht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ausschuss fürWahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung emp-fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufder Drucksache 17/9733, den Gesetzentwurf auf derDrucksache 17/9392 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist der Gesetzentwurf mit breiter Mehrheitbei Enthaltung der Fraktion Die Linke in zweiter Bera-tung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass zurAnnahme des Gesetzentwurfs die Mehrheit von zweiDritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich ist;das sind mindestens 414 Stimmen.Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlichab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind von denSchriftführern alle Plätze an den Abstimmungsurnen be-setzt? – Das sieht so aus. Dann eröffne ich hiermit dieAbstimmung.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist noch einMitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nichtabgegeben hat? – Dann empfehle ich den Schriftführe-rinnen und Schriftführern, ihre Stimmkarte einzuwerfen,schließe damit die Abstimmung und bitte, mit der Aus-zählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichenAbstimmung teilen wir wie immer während der weiterenSitzung mit.1)Wir setzen die Abstimmungen fort. Tagesordnungs-punkt 9 b. Hier geht es um die Abstimmung über denvon den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd-nis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zurVerbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen. DerAusschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-ordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-empfehlung auf der schon zitierten Drucksache 17/9733,den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache17/9391 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzent-wurf in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzenzu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Gesetzentwurf mit der großen Mehrheitdes Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linkeangenommen.Wir kommen nun unter dem Tagesordnungspunkt 9 czur Abstimmung über den Gesetzentwurf der FraktionDie Linke zur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahl-recht durch Einführung der sogenannten Sonneborn-Re-gelung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf der Drucksache 17/9748, denGesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf der Druck-sache 17/7848 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist in zweiter Beratung mit den vorhin genann-ten Mehrheiten abgelehnt. Damit entfällt nach unsererGeschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:Beratung des Antrags der Abgeordneten AnetteKramme, Gabriele Lösekrug-Möller, HubertusHeil , weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDChancen eröffnen und Fachkräfte sichern– Drucksache 17/9725 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
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21478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
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Die größte Ressource – auch das sagt die Bundes-agentur für Arbeit – für die Fachkräftesicherung in unse-rem Land sind neben den jungen Menschen mit den Be-reichen der schulischen Bildung, der Ausbildung unddes Hochschulzugangs die Frauen in Deutschland.
In diesem Land haben wir eine Generation von gut aus-gebildeten jungen Frauen, besser denn je. Wenn mansich aber die Chancen für den beruflichen Einstieg undAufstieg von Frauen ansieht, stellt man fest: Das ist un-möglich und nicht mehr zeitgemäß. Im Bereich der Er-höhung der Frauenerwerbsquote in diesem Land und desArbeitsvolumens von Frauen, die unfreiwillig in derTeilzeitfalle stecken, liegt ein Riesenpotenzial. Und wasmacht diese Bundesregierung? Anstatt Mittel zur Verfü-gung zu stellen, um die Vereinbarkeit von Familie undBeruf im Interesse von Männern und Frauen zu verbes-sern, wollen Sie ein unsinniges Betreuungsgeld, eineFernhalteprämie einführen, um Frauen vom Arbeits-markt und Kinder von der frühkindlichen Förderungfernzuhalten.
Das ist das Gegenteil von Fachkräftesicherung.Sie haben nicht begriffen, dass man gerade in gutenZeiten – in Deutschland sind wir in wirtschaftlich gutenZeiten – in die Zukunft investieren, dass man säen muss,um ernten zu können. Sie haben das nicht begriffen. Dasbetrifft vor allem die Chancen der Jugendlichen und dieChancen von Frauen.Was ist das dritte große Potenzial? Es steckt in derFrage, ob wir es schaffen, dass die Menschen beschäfti-gungsfähig bleiben, dass Menschen über 55 Jahren nichtzum alten Eisen gehören und dass sie eine Chance zumArbeiten haben. Wenn man das will, dann muss man ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21479
Hubertus Heil
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gen unwürdige, prekäre Arbeitsverhältnisse in diesemLand vorgehen,
dann muss man den Gesundheitsschutz fördern und Wei-terbildung betreiben. Auch da gibt es nur schöne Bro-schüren, warme Worte und keine konkreten Maßnahmendieser Bundesregierung.Wir schlagen Ihnen vor, mit diesem Thema andersumzugehen. Wir wissen, dass es vor allen Dingen dieAufgabe der Wirtschaft und der Unternehmen selbst ist,sich diesem Thema zu widmen, weil sie dringend quali-fizierte Fachkräfte suchen. Viele kluge Unternehmen ha-ben das schon begriffen und stellen sich darauf ein. Ei-nige Unternehmen müssen in diesem Bereich noch vielnachholen. Wir müssen uns aber auch als Staat zusam-men mit der Wirtschaft, den Tarifparteien, der Bundes-agentur für Arbeit, den Wohlfahrtsverbänden und denkommunalen Spitzenverbänden diesem Thema zuwen-den. Nach meiner festen Überzeugung wird nach wie vorunterschätzt, was in den nächsten Jahren an Risiken undChancen auf uns zukommt. Um die Chancen zu nutzenund den Risiken entgegenzuwirken reicht es jedoch nichtaus, unverbindliche Gipfeltreffen zu organisieren, aufdenen man über dieses Thema nach dem Motto „Es istwichtig, dass man darüber geredet hat“ spricht. Wir wer-den zu konkreten Vereinbarungen kommen müssen.Bundesarbeitsminister Olaf Scholz hat im Jahr 2009dazu die ersten Schritte getan. Die Allianz für Fach-kräfte, die er auf den Weg gebracht hat, war der ersteSchritt hin zu einer besseren Koordinierung zwischenden verschiedenen Akteuren.Wir schlagen vor, dass wir einen Schritt weiter gehen.Wir wollen mit Ihnen darüber diskutieren, ob es nichtsinnvoll ist, in diesem Land einen „Rat für Fachkräftesi-cherung“ einzuführen. Dieser sollte hochkarätig angesie-delt sein, damit die Kompetenzen in den Ministeriennicht weiter verstreut sind, sich diese nicht weiter wech-selseitig blockieren, lediglich Broschüren produzierenund am Ende des Tages unverbindliche Gespräche füh-ren.
Damit können wir die Potenziale in diesem Land tat-sächlich mobilisieren.Noch etwas: Wenn ich die Verlautbarungen der Bun-desregierung zum Thema Fachkräftesicherung lese,dann fällt mir auf, dass – zu Recht, gar keine Frage –sehr viel davon die Rede ist, dass wir mehr hochqualifi-zierte Akademikerinnen und Akademiker in diesemLande brauchen. Dazu braucht man übrigens erheblicheAnstrengungen zwischen Bund und Ländern, was denAusbau von Studienplätzen betrifft. Es müssen auchmehr Möglichkeiten geschaffen werden, dass Menschenauch ohne allgemeine Hochschulreife die Chance haben,aufsteigen zu können.Ein Thema jedoch spielt bei Ihnen fast keine Rolle,nämlich die Notwendigkeit, in der Breite der Qualifika-tion, im Bereich der dualen Berufsausbildung voranzu-kommen. Sie unterschätzen diesen Standortvorteil. Auchhier gibt es keine Initiativen. Wir sagen Ihnen: Wir müs-sen umkehren und dafür sorgen, dass diese Fragen wie-der zu einem großen Thema in der Politik werden, undzwar nicht nur im Hinblick auf das Reden, sondern vorallem im Hinblick auf das Handeln.
Herr Kollege.
Ich will Ihnen abschließend sagen: Es sind die zentra-
len Fragen unserer Zeit, die sich beim Thema Fachkräf-
tesicherung bündeln. Es geht um die Fragen, ob wir wirt-
schaftlich erfolgreich bleiben, ob wir Vollbeschäftigung
erreichen, ob wir es schaffen, dass die Generationen in
diesem Lande, die sich im Altersaufbau verändern wer-
den, gut zusammenleben, ob gleiche Bildungschancen
für alle möglich sind, ob wir die Gleichstellung von
Männern und Frauen durchsetzen und ob wir eine welt-
offene, integrationsfähige Gesellschaft bleiben.
Das sind die Fragen, die sich in diesem Thema wie in
einem Brennglas bündeln. Ich kann nur sagen: Es ist
sträflich, dass die Bundesregierung diese wichtigen Fra-
gen – wie bei der Energiewende, wie bei der Krise in
Europa – derart vernachlässigt.
Wir setzen Konzepte dagegen, wir machen Vorschläge.
Bewegen Sie sich auf uns zu. Das wäre gut für Deutsch-
land.
Herzlichen Dank.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,möchte ich das von den Schriftführern und Schriftführe-rinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den Gesetzentwurf der Fraktionen zur Ände-rung des Grundgesetzes mitteilen: abgegebene Stimmen576. Für die Annahme ist nach den Regelungen unsererVerfassung die Zustimmung von zwei Dritteln der Mit-glieder des Bundestages erforderlich, das sind 414 Stim-men. Enthalten haben sich 66 Kolleginnen undKollegen, mit Ja gestimmt haben 510. Es hat keine Nein-stimmen gegeben. Damit ist der Gesetzentwurf mit dererforderlichen Mehrheit angenommen.
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21480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 576;davonja: 510enthalten: 66JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWilli ZylajewSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian Edathy
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21481
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ingo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Michael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Steffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPJens AckermannChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerWolfgang WielandJosef Philip Winkler
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21482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
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EnthaltenDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn Wunderlich
Wir setzen die Aussprache fort. Ich erteile das Wortdem Kollegen Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-grüße es, dass die SPD-Fraktion sich des Problems desFachkräftemangels annimmt. Die Bundesregierung hatdas schon lange getan.
Am 22. Juni 2011 wurde ein Konzept im Kabinettverabschiedet. Dieses Konzept sieht als notwendige Vo-raussetzung vor, auf allen Ebenen und in allen Bereichenzusammenzuarbeiten, weil man das Problem alleinenicht gelöst bekommt. Hier sind neben dem Bund auchdie Länder, die Kommunen, die Innungen und die So-zialpartner gefordert. Außerdem sind diejenigen gefor-dert, die im dualen System aktiv tätig sind.Ich habe nicht den Eindruck, dass in der Industrieoder in der Wirtschaft das Problem des Fachkräfteman-gels nicht angekommen sei. Dort hat man das Problemsehr wohl erkannt, man ist zur Kooperation bereit. DieBundesregierung koordiniert schon seit längerer Zeitsehr zielgerichtet Maßnahmen in diesen Bereichen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Bei über41 Millionen Erwerbstätigen und einer Arbeitslosenzahlvon unter 3 Millionen rede ich bei einem dank der dua-len Ausbildung niedrigen Stand der Jugendarbeitslosig-keit – mit die niedrigste in Europa – im Rahmen einerinsgesamt guten wirtschaftlichen Entwicklung lieberüber Fachkräftemangel als über 5 Millionen Arbeitslose.
In der Tat: Es kommen einige Entwicklungen zusam-men, die man zusammen betrachten muss. Vor dem Hin-tergrund der guten konjunkturellen Entwicklung und derwirtschaftlichen Erfolge, die auf einer guten und weit-sichtigen Wirtschaftspolitik sowie entsprechenden Rah-menbedingungen basieren, reden wir auch über die Pro-blematik der demografischen Entwicklung. Wir redenüber Fachkräfte, weil wir sie brauchen und weil wir wis-sen, dass wir im Jahr 2030 aufgrund der demografischenEntwicklung nur noch 79 Millionen Einwohner und6,5 Millionen Arbeitskräfte weniger haben werden, diedem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es ist dahernotwendig, die Problematik konsequent anzugehen.Der Jobmonitor des Bundesarbeitsministeriums lie-fert präzise Informationen darüber, in welchen Regionenwie viele Fachkräfte für welche Branchen gesucht wer-den. Das ist ein zentraler Punkt; denn wir dürfen nichtversuchen, diese Problematik von oben herab zu lösen,indem wir die Situation pauschal betrachten. Vielmehrist es wichtig, sowohl die regionale Situation als auchdie Situation in den entsprechenden Branchen differen-ziert zu betrachten, um differenzierte Lösungen findenzu können.
Das Bundesarbeitsministerium hat ein Innovations-büro „Fachkräfte für die Region“ eingerichtet, um dieunterschiedlich handelnden Partner vor Ort zu vernet-zen, damit sie sich auf ein gemeinsames Vorgehen kon-zentrieren können. Im Mittelpunkt steht die Frage, wiewir das inländische Arbeitskräftepotenzial heben undnutzen können. Unsere Aufgabe ist es, diejenigen, diearbeitslos sind, zu qualifizieren, sie an die Hand zu neh-men und ihnen Hilfestellung zu geben, damit sie denWeg in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Dass das sogarbei Langzeitarbeitslosen gelingt – zwar nicht in dem um-fänglichen Maße, wie wir das gerne hätten, aber es ge-lingt –, sehen wir daran, dass die Zahl der Langzeit-arbeitslosen seit 2006 um 1 Million gesunken ist.
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Karl Schiewerling
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Im Bereich der Aktivierung und Beschäftigungssiche-rung Älterer bleibt es spannend. Wir haben zurzeit500 000 offene Stellen. Es kommt jetzt darauf an, durchentsprechende Qualifizierungsmaßnahmen dafür zu sor-gen, dass diejenigen, die einen Arbeitsplatz suchen, aucheinen Arbeitsplatz bekommen. Dem diente übrigensauch die Instrumentenreform, die wir im letzten Jahr aufden Weg gebracht haben. Es war unser erklärtes Ziel, fürmehr Entscheidungsfreiheit vor Ort zu sorgen. Dazu istes notwendig, den Markt und die Situation der einzelnenMenschen genau zu beobachten.Es stehen ausreichend Mittel zur Verfügung. Es berei-tet mir große Sorge, dass jetzt im Mai die Mittel, die fürentsprechende Maßnahmen vorgesehen waren, nochlängst nicht ausgeschöpft sind. So viel steht fest: An denMitteln liegt es nicht. Offensichtlich liegen die Problemewoanders. Wir müssen dafür sorgen, die Voraussetzun-gen dafür zu schaffen, dass die Instrumente ihre Wir-kung entfalten.
Es stimmt mich positiv, dass sich die Zahl der Ar-beitslosen über 55 halbiert hat, dass sich die Zahl der Er-werbstätigen zwischen 55 und 65 deutlich erhöht hat unddass sich die Erwerbsquote der 60- bis 65-Jährigen inden letzten Jahren verdoppelt hat und jetzt bei rund40 Prozent liegt. Wir haben also die richtigen Entschei-dungen getroffen, um dem Problem Fachkräftemangelentgegenzutreten. Wir sind auf einem guten Weg. DieBevölkerung spürt, dass die Menschen gebraucht wer-den.
Herr Heil, Sie haben einen ausreichenden Gesund-heitsschutz gefordert. Für den Bereich der über 55-Jähri-gen haben wir das längst angepackt und auf den Weg ge-bracht. Als Beispiel ist das wichtige Projekt INQA zunennen, das vom Bundesarbeitsministerium auf den Weggebracht wurde,
um in den Betrieben für gesundheitlichen Schutz zu sor-gen und mehr Bewusstsein für das Thema „Gesundheitam Arbeitsplatz“ zu schaffen.
In den Bereichen, in denen wir gerade Älteren einePerspektive aufzeigen, können wir eine gute Entwick-lung beobachten. Aber ich gestehe zu, dass vieleBetriebe erst noch begreifen müssen, dass ältere Arbeits-lose sehr wohl qualifiziert sind und auf dem Arbeits-markt gebraucht werden. Ich bin der Überzeugung: Jeweniger Chancen für Betriebe bestehen, die von ihnen sosehnlichst gewünschten jüngeren Mitarbeiter zu bekom-men – weil die einfach nicht mehr da sind –, desto mehrwerden die Betriebe auf ältere Arbeitnehmer zurückgrei-fen.In Bezug auf die Erwerbstätigkeit von Frauen gibt esgroßes Potenzial, das ist gar keine Frage. 6,3 MillionenFrauen im erwerbsfähigen Alter sind nicht berufstätig.Ich glaube, dass hier alle Wege gegangen werden müs-sen, um denjenigen, die erwerbstätig sein wollen, denWeg entsprechend zu ebnen und ihnen die entsprechen-den Perspektiven zu eröffnen.Lassen Sie mich an dieser Stelle einen anderen Punkteinfügen, weil Sie, Herr Kollege Heil, auf das Betreu-ungsgeld eingegangen sind. Ich kann uns nur davor war-nen, weiterhin gemeinsam so zu tun, als sei Familien-politik ein Anhängsel der Arbeitsmarktpolitik oder derWirtschaftspolitik.
Meine Damen und Herren, es gibt zwei existenzielleBereiche im Leben eines Menschen: den Bereich Fami-lie, in dem Leben entsteht, und den Bereich Betrieb, wodie Wertschöpfung geschieht.
Beide Bereiche sind aufeinander angewiesen. Ich sageIhnen aber in aller Klarheit: Art. 6 Abs. 2 der Verfassungregelt, dass die Eltern die Verantwortung für die Erzie-hung der Kinder tragen. Der Staat hat lediglich die Auf-gabe, darauf zu achten, dass das Kindeswohl beachtetwird. Und ich sage Ihnen: Der Staat hat nicht vorzu-schreiben, wie die Eltern die Kinder erziehen.
Deswegen bin ich vom Grundsatz her anderer Auffas-sung und sage aus tiefer Überzeugung und mit großerSorge: Wenn wir Familienpolitik weiterhin als Teil derArbeitsmarktpolitik betrachten, wenn weiterhin vonbestimmten Kräften – auch aus dem Arbeitgeberlager –Familienpolitik als Baustein einer nachgelagerten Wirt-schaftspolitik betrachtet wird,
werden wir den Menschen in diesem Land und der Er-ziehungsverantwortung, die die Familien tragen, nichtgerecht.
Herr Kollege Schiewerling, darf der Kollege Heilkurz vor dem Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischen-frage stellen?
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Ja, der Kollege Heil immer gern. – Hoffentlich.
Lieber Kollege Schiewerling, als Vertreter zweier
Volksparteien und auch, weil wir beide Christen sind,
teilen wir die Auffassung, dass man Familien nicht öko-
nomistisch oder ökonomisch betrachten darf.
Das gilt übrigens auch für Bildung. Bildung hat etwas
mit Persönlichkeitsentwicklung zu tun. Sie wissen aber
auch, dass beides miteinander zu tun hat. Der Haupt-
fokus von Familienpolitik muss darauf gelegt werden,
dafür zu sorgen, dass Kinder – gar keine Frage – in die-
ser Gesellschaft gut aufwachsen können. Es gibt aber
doch einen Zusammenhang zwischen Bildung, Erzie-
hung, Familienpolitik, Gleichstellung und der Lage am
Arbeitsmarkt. Das ist doch nicht zu leugnen.
Deshalb habe ich eine Frage an Sie. Sie müssen nicht
auf die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft hören,
die allesamt dieses Betreuungsgeld ablehnen. Sie müs-
sen nicht auf die Wissenschaft hören, die dieses Betreu-
ungsgeld insgesamt ablehnt. Sie müssen nicht auf die
Gewerkschaften hören, die dieses unsinnige Betreuungs-
geld ablehnen.
Können Sie aber vielleicht einmal auf diejenigen hö-
ren, die sich gerade um Kinder kümmern, denen es nicht
so gut geht? Das sind die Wohlfahrtsverbände in diesem
Land. Die sagen: Nehmt das Geld besser in die Hand,
um in die Bildung der Kinder zu investieren, aber nicht
dafür, um aus ideologischen Gründen oder um Herrn
Seehofer zu gefallen, die Kinder von der frühkindlichen
Förderung und die Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhal-
ten. Das ist das Argument gegen das Betreuungsgeld.
Meine Bitte ist, uns nicht zu unterstellen, Kinder ver-
staatlichen zu wollen. Das ist albern. Es entspricht nicht
der Lebensrealität der Menschen in diesem Land. Wir
wollen gleiche Chancen.
Meine Bitte ist, dass Sie da keinen Popanz aufbauen.
Ich will Sie fragen: Wie bewerten Sie es, dass die frü-
here Familienministerin Ursula von der Leyen, die jetzt
Arbeitsministerin ist und von Ihrer Seite so viel Lobhu-
delei erfährt, in diesem Punkt einmal recht hat? Sie hält
dieses Betreuungsgeld eigentlich für Unsinn; aber sie
traut sich nicht mehr, das öffentlich zu sagen. Ich kann
mich aber gut an eine Fernsehsendung aus dem Jahr
2010 erinnern, wo sie diesen Unsinn abgelehnt hat. Sind
Sie nicht der Meinung, dass Frau von der Leyen zumin-
dest in diesem Punkt recht hat?
Erstens. Frau von der Leyen hat in vielen Fragenrecht. Wir haben eine äußerst tüchtige Familienministe-rin in ihr gehabt und haben jetzt eine äußerst tüchtigeund erfolgreiche Arbeits- und Sozialministerin.
Ich bin froh – das habe ich Ihnen schon einmal gesagt –,dass sie bei uns ist. Sie würden sich freuen, wenn sie beiIhnen wäre.
Zweitens. Ich will auf die Inhalte zu sprechen kom-men. In der Tat habe ich auf die anderen nicht gehört.Wissen Sie, auf wen ich gehört habe? Auf die Bürgerin-nen und Bürger in meinem ländlichen Wahlkreis imMünsterland habe ich gehört. Ich habe junge Familieneingeladen und denen gesagt: Wir diskutieren im Augen-blick das Betreuungsgeld. Was ist denn eure Meinungdazu? Es sind zahlreiche junge Familien aus unter-schiedlichen Bereichen gekommen. Sie haben mir ge-sagt: „Wir freuen uns, wenn der Ausbau der U-3-Betreu-ung weiter voranschreitet; aber wir haben uns bewusstdafür entschieden, in den ersten drei Jahren zur Erzie-hung unserer Kinder zu Hause zu bleiben. Wir wollen,dass uns das niemand vorschreibt.
Wir freuen uns, wenn wir dabei Unterstützung bekom-men.“ – Sie haben das sehr differenziert beobachtet.Eines meiner großen Anliegen ist, dass wir aus dieserDebatte die Ideologisierung herausbekommen.
Ja, ich weiß, was ich da sage. Ich möchte, dass wir unsendlich auf den vorhin von mir zitierten Art. 6 Abs. 2 derVerfassung besinnen: Die Eltern tragen Verantwortungfür die Erziehung der Kinder.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Man kann unter-schiedlicher Meinung sein, wie man dieses Ziel amleichtesten erreicht, wie man das eine oder das andeream besten organisiert. Darüber kann man diskutieren.Wenn aber nur noch das eine als gut und das andere alsschlecht beurteilt wird, dann entmündigt man die Eltern,die zum allergrößten Teil Ihrer Verantwortung gerechtwerden.
Zum Schluss möchte ich noch auf drei Punkte hinweisen:Der erste Punkt: Wir werden dem Fachkräftemangelohne eine Verbesserung in den Bereichen Qualifizierungund Bildung nicht erfolgreich begegnen können.
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Karl Schiewerling
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Zweitens. Wir werden – das ist völlig klar – demFachkräftemangel nicht erfolgreich begegnen, wenn wirunser einheimisches Potenzial nicht wecken und fördern.
Drittens. Wir werden das Problem des Fachkräfte-mangels nicht lösen können, wenn wir den jungen Men-schen aus Europa, die zu uns ziehen, keine gute Perspek-tive bei uns bieten. Das heißt, wir müssen darauf achten,dass sie bei uns gut leben können. Sie müssen bei unswillkommen sein und angenommen werden. Deswegenmüssen wir Instrumente wie das Jugendwohnen, die wirgeschaffen haben, offensiv und vernünftig nutzen.
Außerdem haben wir entschieden, dass wir mit derBluecard die Möglichkeit eröffnen, dass man Topqualifi-zierte aus anderen Ländern der Welt unter bestimmtenBedingungen zu uns holen kann.Ich warne aber davor, die Frage des Fachkräfteman-gels auf die Universitäten zu reduzieren.
Ich bitte, die Augen zu öffnen, um zu sehen, an welchenStellen uns gute Handwerker fehlen.
Gut ausgebildete Fachkräfte fehlen nicht nur im Bereichdes Handwerks, sondern auch im Bereich der Industrie.Das hat etwas mit Wertschätzung der Menschen zu tun.
In der Bildungspolitik haben wir manchmal einen Zun-genschlag – ich sage das nicht bezogen auf eine Partei –,als sei nur die Bildung gut, die über Abitur zum Studiumführt.
Es ist langsam an der Zeit, dass wir den Blick wieder denMenschen zuwenden, die eine Ausbildung im dualenSystem absolviert haben und dafür sorgen, dass unsertägliches Leben seinen geordneten Gang nimmt.
Herr Kollege Schiewerling!
Wenn der Müll in Berlin fünf Tage nicht abgeholt
wird, stinkt es zum Himmel. Wenn an der Humboldt-
Universität drei Monate gestreikt wird, merkt das kein
Mensch.
Ich danke Ihnen herzlich.
Nun erhält die Kollegin Jutta Krellmann das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Wie Sie wissen, bin ich mit Leib und SeeleGewerkschafterin.
Ich habe es bedauert, dass Sie unserem Antrag „Fach-kräftepotenzial nutzen – Gute Arbeit schaffen“ im Aprildes letzten Jahres nicht zugestimmt haben. Zum Glückist es nie zu spät, das Richtige zu tun, und heute tun wires.In dieser Woche ist ein neuer DIW-Wochenberichtmit dem Titel „Geringe Stundenlöhne, lange Arbeitszei-ten“ erschienen. Über 900 000 Geringverdienerinnenund Geringverdiener schuften mehr als 50 Stunden proWoche. Insgesamt erhielten 2010 rund 22 Prozent allerBeschäftigten einen Niedriglohn. Mehr als die Hälftehabe eine Tätigkeit ausgeübt, für die eine Lehre oder einHochschulabschluss nötig sei, so das DIW. Zu diesenBeschäftigten gehören zum Beispiel Verkäufer und Ver-käuferinnen, Arzthelfer und -helferinnen, Bäcker undBäckerinnen, Beschäftigte, die Berufen im Gastgewerbenachgehen, Friseure und Friseusen und Angestellte inPflegeberufen. Dies sind alles qualifizierte Berufe miteiner drei- oder dreieinhalbjährigen Berufsausbildung.Wer über Fachkräftemangel redet, kann das Thema „guteArbeit“ nicht außen vor lassen.
Niedriglohn heißt: weniger als 9,25 Euro pro Stunde.Bei einer 50-Stunden-Woche sind das 2 011 Euro bruttopro Monat und etwa 1 341 Euro netto für Alleinste-hende. Damit macht man – trotz Ausbildung und trotzFachkräftemangel – keine großen Sprünge. Das sindZweit- oder Drittjobs. Diese hat man aber nicht, um sichzu bereichern, sondern um zu existieren. Auf die Dauer50 Stunden und mehr pro Woche für diesen Lohn zu ar-beiten, das ist Ausbeutung, macht krank und führt zupsychischen Belastungen. Gerade in den Pflegeberufenist das dramatisch. Was nutzen der Blick auf die Demo-grafie und das Wissen, dass alle älter werden – nach demMotto „Schön, dass wir darüber geredet haben“ –, wennsich nichts tut?Wenn wir möchten, dass sich mehr Menschen als bis-her in diesen Bereichen qualifizieren, müssen wir dafürsorgen, dass Qualifizierungsangebote zur Verfügung ste-hen.
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Jutta Krellmann
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Die Menschen müssen entsprechend ihrer Qualifikationentlohnt werden. Ich sage: Mit Niedriglohn bei normalerVollzeit darf niemand nach Hause gehen.
In meiner Region Hameln-Pyrmont gehören Zerspa-nungsmechaniker und Zerspanungsmechanikerinnen zuden Mangelberufen. Das ist eine dreieinhalbjährigebetriebliche Berufsausbildung im Maschinenbau. DieArbeitgeber, die Fachkräftemangel beklagen, bietennicht genügend Ausbildungsplätze an. Ich sage: Wernicht ausbildet, muss zahlen.
Wir brauchen endlich ein entsprechendes Gesetz. DieBerufe in der Metallindustrie sind – anders als die imDIW-Bericht genannten – gut bezahlt. Ein gelernterFacharbeiter geht mit einem Stundenlohn nicht unter18,10 Euro brutto nach Hause, und das bei einer Arbeits-zeit von 35 Stunden pro Woche. Die Arbeitgeber, dieFachkräftemangel beklagen, müssen eigentlich ein Inte-resse daran haben, dafür zu sorgen, dass solche Leute anBord gehalten werden. Das tun sie aber nicht freiwillig.Darum musste meine Gewerkschaft, die IG Metall, inder aktuellen Tarifrunde kämpfen. Sie hat es zum Glückgeschafft. Die Übernahme der Auszubildenden in derMetall- und Elektroindustrie ist gesichert. Solche Tarif-verträge bekommt man aber nur in starken Branchen hin.Damit alle Auszubildenden ein Recht auf Übernahmehaben, brauchen wir ein entsprechendes Gesetz. In derVergangenheit gab es schon öfter Phasen mit Fachkräfte-mangel. Als ich meine Ausbildung als Chemielaborantinbei der Hoechst AG begonnen habe, hat man den jungenLeuten, die sich beworben haben, ein Moped geschenkt.Es gab zusätzliche Ausbilder und Werksunterricht. Auchdamals schon gab es sogenannte lernschwache jungeMenschen mit großen Problemen in Mathematik oderRechtschreibung. Der Antrag der SPD heißt „Chanceneröffnen und Fachkräfte sichern“. Das kann ich mir vor-stellen, aber nicht ohne gute Arbeit.
– Dann sagen und tun Sie es auch.Tausende junge Menschen haben keine Ausbildungoder sind arbeitslos. Tausende ältere Menschen sinderwerbslos und ohne Qualifikation. Sie brauchen Sicher-heit und eine Perspektive. Das Recht auf Arbeit und freieWahl des Berufes steht in unserem Grundgesetz. Ichzitiere Art. 12: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf,Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ DasBundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das ein-gehalten ist, wenn das Angebot an Ausbildungsplätzendie Nachfrage um 12,5 Prozent übersteigt. Davon sindwir weit entfernt.Die Linke bleibt dabei: Alle Menschen brauchen einRecht auf Ausbildung, ein Recht auf Arbeit, ein Rechtauf Würde bei der Arbeit und ein Recht auf Gesundheits-schutz. Perspektivlosigkeit zerstört die Demokratie.
Johannes Vogel ist der nächste Redner für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ineinem Punkt hinsichtlich Ihres Antrags, lieber KollegeHeil – er befindet sich offensichtlich gerade in einemGespräch –, liebe Kolleginnen und Kollegen von derSPD, sind wir uns ja einig: Der Fachkräftemangel ist inder Tat eine zentrale Herausforderung, nicht nur für diedeutsche Wirtschaft, nicht nur für die deutschen Unter-nehmen, sondern auch für diejenigen, die auf dem Ar-beitsmarkt erst noch eine Chance bekommen müssenund bekommen sollen. Denn wenn in einem Unterneh-men eine Fachkräftestelle unbesetzt bleibt, zum Beispieldie Stelle eines Ingenieurs in einem Unternehmen derMetall- und Elektroindustrie, gefährdet das eben auchdie Arbeitsplätze in der Produktion. Umgekehrt: Wenndie Stelle des Ingenieurs bzw. der Ingenieurin mit einemguten, klugen Kopf besetzt wird, dann werden zukünftigauch neue Arbeitsplätze geschaffen. Insofern ist derFachkräftemangel eine zentrale Herausforderung. Soweit haben Sie recht, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SPD.Aber danach bröckelt es deutlich. Zu behaupten, dieBundesregierung, diese Koalition würde hier nichts tun,lieber Hubertus, ist einfach nur abstrus. Schauen wir unseinmal die Themenfelder an, die du selber genannt hastund die von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, in Ihrem Antrag aufgeführt werden. Da geht esum Chancen für Menschen, die arbeitslos sind, geradefür diejenigen, die langzeitarbeitslos sind. Der KollegeSchiewerling hat schon gesagt, in welcher Situation wiruns befinden: Unter dieser Koalition haben wir die nied-rigste Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren, wir haben die nied-rigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa,
und wir haben neue Rekorde bei der Schaffung neuerStellen und sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-gungsverhältnisse aufgestellt.Es geht natürlich nicht nur um den Einstieg. Als Libe-raler sage ich ganz bewusst: Der Einstieg kann nichtalles sein. Es muss am Arbeitsmarkt auch um eine Auf-stiegsperspektive für diejenigen gehen, die den Einstieggeschafft haben. Hier sind wir beim Thema Qualifi-kation. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,schauen wir uns die Zahlen doch einmal an. Obwohl wirden Haushalt konsolidieren,
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Johannes Vogel
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geben wir für Qualifikationsmaßnahmen nach dem So-zialgesetzbuch II und III 50 Prozent mehr aus, als Sie es2005 getan haben. Ich wiederhole: Wir stellen dafür50 Prozent mehr Geld zur Verfügung, und das, obwohlSie damals eine um 40 Prozent höhere Arbeitslosen-quote zu bewältigen hatten, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der SPD. Wer setzt denn hier einen Schwer-punkt bei der Qualifikation? Doch wohl diese Koalitionund niemand sonst.
Bei der Instrumentenreform haben wir ein Umdenkeneingeleitet. Dies war ein Vorhaben dieser Koalition imBereich der Arbeitsmarktpolitik, dem Sie leider nichtzugestimmt haben.
– Nein, zu Unrecht.
Wir haben die Möglichkeiten ausgebaut, Qualifikations-maßnahmen für Beschäftigte kozufinanzieren. Dies istim Interesse der Menschen, die schon einen Arbeitsplatzhaben, der Beschäftigten, die dann einen besserenArbeitsplatz bekommen, befördert werden, mehr verdie-nen und einen beruflichen Aufstieg schaffen wollen.Hier haben wir einen Systemwechsel eingeleitet und dieentsprechenden Möglichkeiten ausgebaut.
Sie haben dem leider nicht zugestimmt. Also: SpielenSie sich hier nicht als die Anwälte der Qualifikation auf!Ihre Taten sprechen dagegen, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD.
Ich komme zu einem zweiten Themenfeld. Was bie-ten wir denjenigen, die sich derzeit auf dem Arbeits-markt in Deutschland befinden? Hier geht es neben dengenannten Themen um die Vereinbarkeit von Familieund Beruf für Frauen, aber auch um die Situation vonÄlteren am Arbeitsmarkt. Ich sage Ihnen: Aber auchdann, wenn wir alle erforderlichen Maßnahmen einleiten– wir als Koalition sind da auf einem guten Weg –, wirddas nicht reichen, um die Fachkräftelücke von 6,5 Mil-lionen Personen bis 2025 zu schließen.
Herr Kollege Vogel, darf der Kollege Seifert Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, das darf er gern.
Lieber Herr Kollege Vogel, wir debattieren dieses
Thema ja schon eine ganze Weile. Leider wird in dieser
Debatte vermutlich niemand vonseiten der Bundesregie-
rung das Wort ergreifen. Deswegen frage ich Sie als Ver-
treter der Koalitionsfraktionen: Wenn wir über den Fach-
kräftemangel sprechen und ihn immer wieder beklagen,
wieso spricht niemand von Ihnen davon, dass es jede
Menge Menschen mit Behinderungen gibt, die sehr gut
ausgebildet sind, aber keine Chance haben, in die
Betriebe hineinzukommen? Wenn sie in Betrieben sind,
ist das okay; dann gibt es ein betriebliches Eingliede-
rungsmanagement. Aber wenn Menschen mit Behinde-
rungen, die eine hervorragende Ausbildung haben – sei
sie beruflich, sei sie akademisch –, in die Betriebe hi-
neinkommen wollen, haben sie keine Chance. Wieso
kommt dieses Thema in Ihren Reden und in Ihrem Han-
deln in diesem Zusammenhang nicht einmal vor?
Lieber Kollege Seifert, ich bitte um Verständnis: Siehaben völlig recht.
Auch die Frage der Integration bzw. der Inklusion vonMenschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarktmuss hier eine Rolle spielen.
Ich habe die fünf Minuten meiner Redezeit nutzen wol-len, mich an den Themen abzuarbeiten, die der KollegeHeil in seiner Rede vorgegeben hat. Ich stimme Ihnenaber völlig zu: Das muss eine Rolle in unserem Handelnspielen. Es spielt auch eine Rolle in unserem Handeln.Wir können dieses Thema gerne in der nächsten Aus-schusssitzung vertiefen, Herr Kollege.
Ich will jetzt auf einen Aspekt eingehen, dem Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, meinerMeinung nach zu wenig Beachtung schenken. All das,was vorgetragen wurde – mehr für die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf zu tun, mehr für Ältere auf demArbeitsmarkt zu tun, mehr für Menschen, die arbeitslossind und Chancen auf Einstieg und Aufstieg brauchen,zu tun –, wird nicht reichen. Wir werden um mehrZuwanderung nicht herumkommen. Das Wort „Zuwan-derung“, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,taucht in Ihrem Antrag aber nicht ein einziges Mal auf.Wahrscheinlich aus gutem Grund: Bei diesem Themahätten Sie sich nämlich erst recht nicht getraut, zubehaupten, diese Koalition würde nichts tun. Die Blue-card-Regelung wurde beispielsweise vom KollegenSchulz explizit gelobt.
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Johannes Vogel
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Lieber Kollege Hubertus Heil, vielleicht solltest du dei-nen Kollegen aus den anderen Fachbereichen einmalzuhören. Dann könntest du an dieser Stelle etwas lernen.Wir haben einen wesentlichen Paradigmenwechsel ge-schafft. Diese Koalition gibt dem EinwanderungslandDeutschland endlich ein modernes Zuwanderungs-system,
durch das sich das Einwanderungsland Deutschlandauch dazu bekennt und erfolgreicher bei der Werbungum die klugen Köpfe auf dem globalen Arbeitsmarktsein kann.
– Herr Präsident, hier gibt es den Wunsch nach einerZwischenfrage der Kollegin, den ich gern aufnehme,wenn Sie es wollen.
Das Interesse des Redners an einer Verlängerung sei-
ner Redezeit ist nachvollziehbar. – Bitte schön, Frau
Kollegin.
Herr Präsident! Herr Kollege Vogel, offenkundig ken-
nen Sie unseren Antrag zu aufenthaltsrechtlicher Fort-
entwicklung nicht. Bevor Sie hier so dicke Backen
machen, sollten Sie sich fachkundig machen. Dieser
Antrag wurde mit sehr guten Vorschlägen zur konkreten
Einwanderungsgestaltung eingebracht. Er beinhaltet
zum Beispiel den Versuch, ein Punktesystem zu etablie-
ren, das darauf abzielt, dass wir besser mit den Auslän-
dern umgehen müssen, die einen unsicheren Status
haben. All das scheint Ihnen entgangen zu sein. Ich schi-
cke Ihnen diesen Antrag noch einmal zu, damit Sie sich
kundig machen können.
Zu Ihrer Feststellung, dass dies in diesem Antrag
nicht erwähnt werde, möchte ich Ihnen sagen: Auch das
stimmt nicht. Sie werden eine Passage dazu finden.
Bevor Sie eine so massive Kritik äußern, rate ich Ihnen
dringend, so gut zu sein, sich vorher kundig zu machen;
denn Sie stehen hier für Ihre Fraktion insgesamt.
Liebe Frau Kollegin, das habe ich getan. Wenn Sie für
ein Punktesystem sind, dann sollten Sie in Ihrem Fach-
kräfteantrag, über den wir heute diskutieren, nicht nur
von Integration reden, sondern auch über die Notwen-
digkeit von mehr Zuwanderung. Das tun Sie nicht, liebe
Frau Kollegin. Wenn Sie – wie wir – für ein Punktesys-
tem sind, dann hätten Sie die Anhörung zum Bluecard-
Gesetz verfolgen sollen. Im Rahmen der Anhörung
haben Sachverständige gesagt, dass das, was wir neben
realistischen Einkommensgrenzen bei der Zuwanderung,
neben einem vernünftigen Umgang mit der Vorrangprü-
fung und neben besseren Möglichkeiten für Menschen,
die aus dem Ausland kamen und hier studiert haben,
geschaffen haben, auch insofern ein Paradigmenwechsel
ist, als dass Menschen erstmals zur Arbeitsuche nach
Deutschland kommen können und nicht bereits vorher
ein Arbeitsplatzangebot haben müssen.
Bei der Anhörung zum Bluecard-Gesetz haben die
Sachverständigen gesagt, dass sich dieses System vom
Punktesystem nur noch graduell unterscheide. Wenn Sie
für das Punktesystem sind, dann frage ich mich: Warum
stimmen Sie unserer Bluecard-Regelung nicht zu, liebe
Kollegin?
Insofern führt Ihr Handeln Ihr Reden ein Stück weit ad
absurdum.
Wir widmen uns der Herausforderung des Fachkräfte-
mangels auf allen vier Feldern. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, ich freue mich, wenn Sie uns
dabei konstruktiv begleiten. Leider leisten Ihr Handeln
und Ihr Antrag hierzu keinen Beitrag. In Ihrem Aufruf
zum 1. Mai 2011 zur Frage der EU-Osterweiterung und
der Möglichkeit, dass Arbeitnehmer aus östlichen EU-
Mitgliedsländern nach Deutschland kommen können,
wird das Thema Zuwanderung zum Beispiel in einem
Atemzug mit dem Thema Lohndumping genannt. So
schaffen wir keine Willkommenskultur, liebe Kollegin-
nen und Kollegen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe,
mit einem modernen Zuwanderungssystem konkret um
die klugen Köpfe zu werben und ihnen zu signalisieren,
dass sie in Deutschland willkommen sind. Hier würde
ich mir auch von Ihnen mehr Unterstützung wünschen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
In diesem Sinne freue ich mich darüber, dass Sie sich
dieses Themas annehmen. Die Behauptung, die Koali-
tion würde dies nicht tun, führt sich aber selbst ad absur-
dum. Rüsten Sie rhetorisch ein wenig ab, und begleiten
Sie uns konstruktiv bei der Herausforderung, den Fach-
kräftemangel zu beseitigen, und somit auf dem Weg, den
wir schon eingeschlagen haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrSchiewerling, während ich Ihnen zuhörte, beschlichmich das Gefühl, dass die Dimension des Problems inkeiner Weise bei Ihnen angekommen ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21489
Brigitte Pothmer
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Ich sage Ihnen: Sie bekämpfen das Problem nicht nurnicht, Sie sorgen auch dafür, dass das Problem des Fach-kräftemangels immer größer wird. Sie sind nicht Teil derLösung, Sie sind Teil des Problems.
Das will ich Ihnen an drei Beispielen zeigen:Erstes Beispiel: Die Frauen. Ich glaube, es ist unum-stritten, dass die Frauen das höchste Potenzial zurBekämpfung des Fachkräftemangels bergen. Das betrifftsowohl den Zugang zum Arbeitsmarkt als auch die Aus-weitung des Erwerbsarbeitsvolumens. Beides muss bes-ser werden.
Statt dieses Potenzial zu heben, nehmen Sie 1,2 Milliar-den Euro in die Hand, um diese Frauen in ihre vierWände zu verbannen.
Lieber Herr Schiewerling, seien Sie jetzt doch einmalehrlich! Beim Betreuungsgeld geht es doch gar nichtmehr um die Mütter und die Kinder, sondern beimBetreuungsgeld geht es allein um die Frage, ob HerrSeehofer noch immer so viel Macht hat, auch etwas voll-kommen Unsinniges ohne Rücksicht auf Verluste durch-setzen zu können.
Nein, Herr Schiewerling, das Betreuungsgeld ist eineWachstumsstrategie für den Fachkräftemangel.Es mangelt in Deutschland nun wahrlich nicht anAnreizen dafür, dass Kinder zu Hause erzogen werden.Es mangelt an Betreuungsplätzen. Die Wahlfreiheit istnicht gegeben. Es sind doch besonders die Mütter, diedarunter leiden, die ihren Berufseinstieg verschiebenund ihr Arbeitsvolumen reduzieren. Darin liegt doch dasProblem.
Die erwerbstätigen Frauen in Deutschland sind dieTeilzeitköniginnen von Europa, und zwar im doppeltenSinne: Sie sind überdurchschnittlich häufig teilzeitbe-schäftigt, und die Teilzeit, die sie ausfüllen, hat das ge-ringste Stundenvolumen in ganz Europa. Schade nur, dasssich diese Frauen nicht als Königinnen fühlen. HerrSchiewerling, diese Frauen arbeiten unfreiwillig so wenig.
– Dazu gibt es doch nun wirklich genug Befragungen.Ein anderes Problem sind die Minijobs, in denen dieFrauen mit ihren Qualifikationen versauern. Statt aberdiese vielen persönlichen kleinen Katastrophen und diegroße volkswirtschaftliche Fehlentwicklung miteinanderzu verbinden und die Zahl der Minijobs zu reduzierenbzw. die Minijobs abzuschaffen, bauen Sie die Minijobsweiter aus. Das ist Anstiftung zur fortgesetzten Dequali-fizierung.
Zweites Beispiel: Die Arbeitslosen. In einem Jahr sollder Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kin-der ab dem ersten Lebensjahr umgesetzt sein. DieserUmsetzung mangelt es nicht nur an den fehlenden Kita-plätzen, sondern es mangelt auch an Fachkräften, diediese Kinder dann betreuen können. Herr Vogel, stattdiesen Mangel an Fachkräften in Chancen für Arbeits-lose umzumünzen, kürzen Sie bei Qualifizierung undUmschulung.
Diese Kürzungspolitik ist eine Politik zur Fachkräftever-hinderung.Ich will Ihnen einmal sagen, was das zum Beispiel inmeinem Bundesland Niedersachsen bedeutet: Von 2008bis 2011 haben dort genau 44 Arbeitslose eine Qualifi-zierung im Bereich Betreuung und Erziehung gemacht –in Worten: vierundvierzig! In Niedersachsen fehlen aber2 100 Erzieherinnen und Erzieher, und es gibt dortdurchschnittlich 300 000 Arbeitslose. Es ist doch wirk-lich nicht vorstellbar, dass von dieser großen Zahl anArbeitslosen in vier Jahren lediglich 44 eine neue Per-spektive in diesem Bereich gesucht haben. Nein, dasliegt allein daran, dass diese Qualifizierung nicht mehrfinanziert wird.Mit dieser Kürzungspolitik verhindern Sie beruflichePerspektiven, neue Fachkräfte und neue Betreuungs-chancen für Kinder. Ich finde, das ist ein Desaster.
Drittes Beispiel: Zuwanderung. Herr Vogel, Sie habenja so viel Wert darauf gelegt, dass diese Politik so erfolg-reich ist. Ja, es stimmt, die Zuwanderung hat im letztenJahr zugenommen. Das waren im Wesentlichen Grie-chen und Spanier. Sie tun jetzt so, als hätte das mit einererfolgreichen Einwanderungspolitik zu tun, die Siegestalten. Das trifft nun wahrlich überhaupt nicht zu,
ganz abgesehen davon, dass die Dimension des Pro-blems und die Dimension der Zuwanderung überhauptnicht zueinander passen.Wir brauchen in Deutschland ein klares und transpa-rentes Zuwanderungsrecht. Wir brauchen eine Willkom-menskultur in Deutschland.
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Brigitte Pothmer
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Aber wir haben nur ein intransparentes und bürokrati-sches Monster, vor dem selbst die Experten die Waffenstrecken.
– Ja, allerdings.
Genau das ist dabei herausgekommen. Das ist eine Zu-wanderungsverhinderungspolitik auf einem hohen büro-kratischen Niveau.Diese drei Beispiele – ich könnte noch weitere anfüh-ren – zeigen, dass Sie in Ihrer Bundesregierung viele Ar-beitsgruppen und viele Ministerien haben, die sich mitZuwanderung und Fachkräftepolitik beschäftigen. WasSie nicht haben, ist ein Konzept! Was Sie nicht haben, isteine Strategie! Das bestätigt mich in der Auffassung:Der Fachkräftemangel fängt vor allen Dingen in dieserRegierung an!Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält nun der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Pothmer, ich möchte Ihre Rede mit derÜberschrift abtun: Thema verfehlt!
Wir diskutieren weder über das Betreuungsgeld nochüber frauenpolitische Fragen, sondern wir sind uns indiesem Hause darüber einig – das zeigt auch der Antragder SPD –, dass wir den Bedarf an Fachkräften, die un-sere Wirtschaft so dringend braucht, sichern müssen,
damit Deutschland weiterhin die KonjunkturlokomotiveEuropas bleibt.Eines haben wir in dieser Bundesregierunggeschafft – Herr Heil, ich weiß, Sie hören es nicht gerne,aber ich möchte trotzdem kurz darauf eingehen –: DieArbeitslosenquote von 12 Prozent bei Antritt der Regie-rung Merkel ist auf heute 7 Prozent gesunken. Das hatdiese Regierung geschafft. Deswegen stehen wir erst vordem Problem des Fachkräftemangels, über das wir unsunterhalten dürfen und müssen.Unser vordringliches Augenmerk liegt natürlich da-rauf, das Fachkräftepotenzial in Deutschland zu heben.Auch wenn ich nachher noch kurz auf die Bluecard ein-gehe, möchte ich schon jetzt eines klarstellen: Heimi-sches Potenzial geht immer vor Zuwanderung. Wir ha-ben die Verantwortung, erst die Menschen hier, die eineAusbildung benötigen, zu qualifizieren und dann überdie Bluecard in einem zweiten wichtigen Schritt die Zu-wanderung zu ermöglichen, die wir brauchen. Wir wis-sen, dass wir allein mit Qualifizierung das Problem nichtlösen können.
Mit der Bluecard haben wir die richtigen Akzente ge-setzt.
– Das habe ich gesagt. Sie müssen mir eben genau zuhö-ren, Herr Heil, und nicht nebenbei lesen.
– Das ist hervorragend, das bewundere ich. – Eine Dau-eraufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte, eine Er-laubnis zur Niederlassung für die Dauer von drei Jahren,für die Arbeitsplatzsuche gibt es einen neuen Aufent-haltstitel und vieles mehr – das haben wir diskutiert. Dassind die richtigen Schritte und die richtigen Rahmenbe-dingungen im Zusammenhang mit der Zuwanderung.Kollege Schiewerling hat eben das Handwerk so hochgelobt, lassen Sie mich daher kurz auf die Hochschulenund die Wichtigkeit der hochqualifizierten Spitzenkräfteeingehen. Die SPD schreibt in ihrem Antrag so schön:Die Hochschulen sind zu öffnen. – Ich darf auf den Bun-desbericht „Forschung und Innovation 2012“ mit beein-druckenden Zahlen verweisen. Seit 2005 haben wir hierdie Ausgaben für Forschung und Wissenschaft von9 Milliarden Euro auf fast 14 Milliarden Euro gesteigert.Das sind mehr als 50 Prozent. In Deutschland geben wirinzwischen 2,82 Prozent des BIP für Forschung und Ent-wicklung aus. Der EU-Durchschnitt liegt bei 1,9 Pro-zent. Die Verantwortlichen für die Forschungs- undHochschulflaute bis 2005 sitzen nicht bei uns, sondernlinks in diesem Haus.
Lassen Sie mich noch die drei Reforminitiativen vonBund und Ländern für den Wissenschaftsstandort nen-nen: Exzellenzinitiative, Hochschulpakt
und außeruniversitäre Forschung. Circa 30 Prozent einesAltersjahrgangs erreichen derzeit in Deutschland denHochschulabschluss. Ich glaube, dass wir sehr wohl aufeinem richtigen Weg sind und dass wir die Herausforde-rung der Fachkräftesicherung rechtzeitig und zum richti-gen Zeitpunkt angegangen sind.Lieber Kollege Heil, dafür brauchen wir keinen neuenArbeitskreis. Wir brauchen auch keinen neuen Rat oderein Grüppchen, das sich zusammensetzt, um Konzeptezu entwickeln. Unsere Arbeits- und Sozialministerin hatnämlich schon Konzepte vorgelegt. Wir haben Konzepte
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21491
Ulrich Lange
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für lebenslanges Lernen, für die bessere Integration vonFrauen – darin sind wir sehr wohl beisammen, FrauPothmer –, für die Beschäftigungssicherung älterer Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natürlich für dieVerbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Selbstverständlich gehört auch die Aufgabe dazu, aus-ländische Studentinnen und Studenten, die bei uns stu-diert haben, in Deutschland zu halten.Ich glaube sehr wohl, dass der Weg, den wir einge-schlagen haben, richtig ist. Ich bin auch davon über-zeugt, dass wir mit diesen Ansätzen eine Chance haben,die Herausforderung zu meistern.Weitere Punkte sind die Erhöhung der Erwerbstäti-genquote älterer Beschäftigter. Was die alleinerziehen-den SGB-II-Bezieherinnen angeht, brauchen wir natür-lich auch deren Qualifikationen. Aber, lieber KollegeHeil und liebe Kollegin Pothmer, ich bin gerne zu einerWeiterbildungsveranstaltung zum Thema Betreuungs-geld bereit. Betreuungsgeld hält nicht davon ab, einenBeruf auszuüben. Das möchte ich an dieser Stelle nocheinmal deutlich unterstreichen.
Wir brauchen eine Erhöhung des Anteils der Frauenin MINT-Berufen. Wir sind natürlich gefordert, die hoheQuote der Schulabbrecher und derjenigen, die keinenBerufsschulabschluss schaffen, zu reduzieren. Ichglaube, dass auch die von uns gewählten Ansätze in die-sem Bereich richtig sind. Ihr Lob im Antrag, lieber Kol-lege Heil, dass wir mit der BAföG-Novelle einen richti-gen Weg eingeschlagen haben, habe ich gerne gelesen.All das zusammen sind richtige und wichtige An-sätze. Aber ich glaube, dass es vor allem um eines geht,nämlich um einen Wandel im Bewusstsein der Gesell-schaft hin zu lebenslangem Lernen, zu einer Willkom-mens- und Akzeptanzkultur, aber auch dahin, dass wirjede Form der Arbeit anerkennen und wertschätzen. Esgibt heute leider viele Berufe gerade dort, wo es beson-dere Defizite an Arbeitskräften gibt, zum Beispiel imPflegebereich, denen nicht immer Wertschätzung durchdie Öffentlichkeit entgegengebracht wird. Deswegenglaube ich, dass wir alle in diesem Hause aufgefordertsind, allen Berufen und jeder Branche unsere Wertschät-zung entgegenzubringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um ein exis-tenzielles Thema für den Wirtschaftsstandort und unsereGesellschaft. Aber ich bin sicher, dass wir, wenn wir ge-meinsam um gute Ideen ringen, den WirtschaftsstandortDeutschland und damit unseren Wohlstand sichern.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habemich zu Wort gemeldet, weil ich es unfassbar finde, mitwelcher Leichtigkeit die Einwände der KolleginPothmer und des Kollegen Heil hier abgetan wurden. Ichsage Ihnen einmal, warum ich glaube, dass der Fachkräf-temangel in unserem Land noch gar nicht groß genugsein kann. 60 000 Schülerinnen und Schüler ohne an-ständige Schulausbildung werden jedes Jahr auf den Ar-beitsmarkt entlassen. 1,5 Millionen jungen Leuten unter30 Jahre, die arbeiten gehen könnten, bieten wir keineausreichende Schulausbildung oder Weiterqualifikationan. Hunderttausende hochqualifizierte junge Frauenmüssen sich für die Arbeitslosigkeit entscheiden, weilfür ihre Kinder keine ausreichenden Betreuungsmöglich-keiten da sind. Noch immer werden jedes Jahr ältere Ar-beitnehmer aufgrund ihres Alters entlassen, obwohl siehochqualifiziert sind. Ein Drittel der Jugendlichen mitMigrationshintergrund absolviert keine Berufsausbil-dung in Deutschland. Nur 25 Prozent der deutschen Be-triebe und Unternehmen bilden aus. Die Antwort, die Siehaben, lautet: Wir machen ein paar Büros auf und disku-tieren über Zuwanderung. – Auch ich weiß, dass wir Zu-wanderung brauchen, keine Frage. Aber es kann dochnicht wahr sein, dass wir in Deutschland nicht bereitsind, über die eben genannten Potenziale in unseremLand zu reden und diese Menschen weiterhin in die Ar-beitslosigkeit schicken. Das darf nicht wahr sein.
Ich sage Ihnen konkret: Sie müssen das Geld dort ein-setzen, wo es am nötigsten gebraucht wird, das heißt fürKindertagesstätten, Familienbildungszentren und Ganz-tagsschulen und nicht für das Betreuungsgeld. So ein-fach ist das.
Wir reden doch gerade über die Tatsache, dass man denEuro nur einmal ausgeben kann. Da können Sie dochnicht Wolkenkuckucksheime für die Menschen bauen.Sie müssen vielmehr dafür sorgen, dass die Potenziale indiesem Land gehoben werden. Es bedarf eines Pro-gramms der zweiten Chance für diejenigen, die dem Ar-beitsmarkt zur Verfügung stehen, sich deshalb nicht qua-lifizieren können und zu alt für das BAföG sind. Abernichts von dem machen Sie!
Nun zum Thema Pflege. Hier fehlen die meistenFachkräfte. Worüber reden wir denn? Wir reden hierüber harte Arbeit, Schichtarbeit und schlechte Bezah-lung. Manche müssen sogar noch Geld für die Ausbil-dung zahlen. Wenn Sie wollen, dass in Zukunft eine aus-
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Sigmar Gabriel
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reichende Zahl an Pflegekräften in den Krankenhäusern,der Altenhilfe und der Altenpflege zur Verfügung steht,dann müssen Sie für eine bessere Bezahlung, eine bes-sere Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen sor-gen. Geld statt Schulgeld, das ist die Antwort.
Davor drücken Sie sich. Da machen Sie kein einzigesAngebot, weil das ein bisschen schwieriger ist, als wieFrau von der Leyen zu sagen: Wer in Spanien arbeitslosist, der kann zu uns kommen. – Sie wollen sozusagen Ju-gendliche importieren, anstatt dafür zu sorgen, dass inSpanien Wachstum entsteht.
– Darüber verhandelt jetzt Ihre Kanzlerin mit dem spani-schen Ministerpräsidenten. Aber darüber will ich garnicht reden.Tun Sie etwas für die Menschen, die hier leben undarbeiten wollen und arbeiten können! Das bedeutet bes-sere Bildung, bessere Ausbildung, Abschaffung der Stu-diengebühren und der Kindertagesstättengebühren sowieden Ausbau der Ganztagsschulen. Das Geld darf nichtfür das Betreuungsgeld verplempert werden.
Das Wort erhält nun der Kollege Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Kollege Gabriel, Ihre Rede war ein be-redtes Zeugnis für den Fachkräftemangel bei der SPD.Das will ich zunächst einmal sehr deutlich festhalten.
Es ist ein Armutszeugnis, wenn der Vorsitzende dergrößten Oppositionsfraktion glaubt, sich mit einer derartschmalen und flachen Argumentation in die Diskussioneinschalten zu müssen.
Dass es dem Kollegen Vogel gelungen ist, Sie zu dieser„Attacke“ zu verleiten, verbuche ich immerhin als Er-folg der FDP in dieser Debatte.
Nun zur Sache, Herr Kollege Gabriel. Es ist unglaub-lich, dass Sie sagen, der Fachkräftemangel in diesemLand sei noch nicht groß genug. Das letzte Mal, dass icheine solche Sonthofen-Strategie der verbrannten Erdenach dem Motto „Es muss alles noch viel schlimmerkommen“ vernommen habe, liegt Jahrzehnte zurück. Ichdachte, wir wären weiter und würden uns in dieser De-batte konstruktiv auseinandersetzen.
Ich will Sie darauf hinweisen: Die Jugendarbeitslo-sigkeit in Deutschland gehört zu den geringsten inEuropa. Sie liegt unter 7 Prozent.
Das ist ein Riesenerfolg, und das ist das Ergebnis derPolitik dieser schwarz-gelben Bundesregierung,
die mit vielen Maßnahmen dafür sorgt, dass Jugendlichein diesem Land eine Chance haben.Sie beklagen, dass es zu viele Schulabbrecher gebe.Ich wage die Prognose: Die Schulabbrecherquote in ei-nem Bundesland ist umso höher, je länger die SPD dortan der Regierung ist.
Das hat auch etwas damit zu tun, wie man Schulpolitikgestaltet. Man muss nämlich dafür sorgen, dass jungeMenschen von der ersten Klasse an ihre Chancen aufBildung haben, damit sie später am Erwerbsleben teilha-ben können.Der größte Teil der Ausgaben der Bundesagentur fürArbeit wird für die Qualifikation von jungen Menschenaufgewendet.
– Nein, das ist so. – Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern,dass das Nachholen eines Schulabschlusses eine Pflicht-leistung werden müsse, dann will ich Sie auf den § 53SGB III hinweisen, nach dem die Möglichkeit, einensolchen Hauptschulabschluss zu fördern, heute schonbesteht. Es ist Rechtslage, was Sie, Herr Gabriel, in Ih-rem Beitrag – aus meiner Sicht: unnötigerweise – einfor-dern.
Ich fasse zusammen. Dieses Land ist in einer wirt-schaftlich sehr starken Position. Wir haben Riesenfort-schritte bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-gung gemacht. Wir haben deutliche Rückgänge bei derArbeitslosigkeit in beiden Rechtskreisen, SGB II undSGB III.
Davon profitieren Langzeitarbeitslose, davon profitie-ren vor allen Dingen aber auch junge Menschen, die denÜbergang von der Ausbildung in eine dauerhafte Be-
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Dr. Heinrich L. Kolb
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schäftigung schaffen wollen. Sie, Herr Gabriel, sind imvollkommen falschen Film. Das hängt vielleicht damitzusammen, dass Sie zurzeit ein bisschen mehr in Europaunterwegs sind, weil Sie etwas in Sachen Euro-Bondsorganisieren wollen. Es wäre besser, Sie würden sich in-formieren und in der Tagespolitik mitmischen und sichvor allen Dingen schlaumachen, wie gut wir in Deutsch-land aufgestellt sind, gerade was die Möglichkeiten jun-ger Menschen anbelangt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Agnes Alpers für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Das Bundesinsti-tut für Berufsbildung stellt fest: Für Menschen inDeutschland ohne abgeschlossene Berufsausbildungwerden sich die Beschäftigungschancen durch die demo-grafische Entwicklung nicht verbessern. – Das betrifft inDeutschland 1,5 Millionen junge Leute zwischen 20 und29 Jahren ohne Berufsabschluss. Wenn wir noch dieMenschen bis 35 Jahre hinzuzählen, sind es zusätzliche750 000 Leute. Insgesamt hat in Deutschland etwa jedersiebte Erwerbstätige keinen Berufsabschluss. Vor alldem verschließt diese Bundesregierung die Augen. Daskann doch einfach nicht wahr sein.
In meinem Heimatland Bremen sind es sogar insgesamtüber 23 Prozent der Menschen, die keinen Berufsab-schluss haben. Deshalb fordern wir die Regierung auf:Schaffen Sie Perspektiven für all diese Menschen! Ga-rantieren Sie ihnen einen Berufsabschluss, und sichernSie dadurch die Fachkräfte für morgen!Hierfür müssen wir endlich die Betriebe in die Ver-antwortung nehmen, und zwar durch gesetzliche Maß-nahmen. Der Ausbildungspakt setzt nur auf die Selbst-verpflichtung der Betriebe. Das hat dazu geführt, dassdie Betriebe im Jahr 2011 120 000 Ausbildungsplätzeweniger als 1992 angeboten haben. Insgesamt bilden nur23 Prozent der Betriebe aus. Nicht die Menschen ohneBerufsabschluss, sondern die Betriebe sind nicht ausbil-dungswillig.
Die Selbstverpflichtung der Betriebe hat versagt. Des-halb fordern wir Sie auf: Nehmen Sie die Betriebe end-lich in die Pflicht, und führen Sie die Ausbildungsum-lage ein!
Nur so können wir uns auf den Weg machen, allen einequalifizierte Ausbildung anzubieten und die Zukunft zugestalten.Wir stehen heute aber nicht nur vor der Herausforde-rung, allen eine Ausbildung zu garantieren. Wir brau-chen auch eine hohe Qualität in der Ausbildung. Wir ha-ben im Land Bremen eine Untersuchung zur Qualität derAusbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe durchge-führt. Die Umfrageergebnisse haben gezeigt, dass Über-stunden, ausbildungsfremde Tätigkeiten und die geringeQualität der Ausbildung häufig zu Abbrüchen führen.Deutschlandweit brechen 48 Prozent der Restaurant-fachkräfte ihre Ausbildung ab. Nicht die jungen Men-schen, sondern die Betriebe sind hier nicht ausbildungs-reif.
Deshalb gilt: Wer heute die Fachkräfte sichern will, dersorgt für eine gute Ausbildungsvergütung und eine hoheQualität in der Ausbildung und sichert die Übernahmeund eine gute Bezahlung der Fachkräfte.
Dies, meine Damen und Herren, gilt auch für denPflegebereich. In den letzten Monaten habe ich michmehrere Male in Bremen mit Frauen getroffen, die sichin der Ausbildung oder Umschulung zur Altenpflegerinoder in einer entsprechenden Qualifizierungsmaßnahmebefanden. In den Klassen waren hauptsächlich Frauen,die nach Erziehungsjahren, nach jahrelanger Arbeitslo-sigkeit oder auch nach mehreren Übergangsmaßnahmendiese Ausbildung zur Altenpflegerin machen wollten.Themen waren immer wieder die körperliche und psy-chische Belastung, die geringe gesellschaftliche Aner-kennung und die schlechte Bezahlung der Altenpflege-rinnen.
Bei den letzten Gesprächen stellten die Frauen immerwieder die Frage, warum denn die Bundesregierung dieFörderung des dritten Jahres der Ausbildung nicht mehrfinanzieren will.
Man könne doch den Fachkräftemangel nicht dadurchbeseitigen, dass man die Mittel für die Qualifizierungzusammenstreicht bzw. die Kosten einfach auf andereverlagert.
Die Frauen sagten, sie selbst würden noch weniger Gelderhalten, wenn sie die Maßnahme nach zwei Jahren alsAltenpflegehelferinnen verlassen müssten.Meine Damen und Herren, das Handeln dieser Regie-rung ist einfach nur unverschämt und verantwortungslos.
Sie tragen die Kürzung der Mittel für arbeitsmarktpoliti-sche Instrumente auf dem Rücken dieser Frauen aus.
Sie entlassen die Frauen in prekäre Arbeit, und zur Krö-nung lassen Sie im Berufsbildungsbericht 2012 auchnoch verlautbaren, dass Sie „eine neue Ausbildungs- und
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Agnes Alpers
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Qualifizierungsoffensive in der Altenpflege erarbeitet“haben. Das ist doch der blanke Hohn.Meine Damen und Herren, wir haben keinen Mangelan Menschen, die sich fachlich qualifizieren und ihreKenntnisse einbringen wollen; aber wir haben einen gro-ßen Bedarf an einer Regierung, die verantwortungsvollund nachhaltig handelt.
Sichern Sie die Fachkräfte! Schaffen Sie eine voll quali-fizierende Ausbildung für alle! Führen Sie die Ausbil-dungsumlage ein! Sichern Sie die Qualität von Aus- undWeiterbildung! Und nehmen Sie endlich die Kürzungender Mittel für arbeitsmarktpolitische Instrumente zu-rück!Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Herr Wunderlich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Kolb, Sie mokieren sich darüber, dassHerr Gabriel sich in die Debatte einbringt. Wissen Sie,was das Problem ist? Immerhin machen Herr Gabrielund meine Partei dieses Thema zum Chefthema; aber Sieignorieren das Thema schlicht und einfach. Das ist dasProblem, das wir haben.
Es ist gut, dass Herr Gabriel sich in der Debatte zu Wortmeldet, das Thema aufwertet und ihm die notwendigeAufmerksamkeit verschafft. Wenn Sie sich entsprechenddes Themas annehmen würden, würden wir solche De-batten hier nicht für notwendig halten.
Zu einem weiteren Punkt. Es kam immer wieder dasArgument: Wir haben kaum Jugendarbeitslosigkeit; wirkönnen uns damit rühmen. –
Ich sage Ihnen einmal etwas zu meiner Region; ichkomme aus dem Allgäu. Das, was die Arbeitslosigkeit inder jungen Generation betrifft, ist in der Tat richtig. Esist aber nicht unbedingt Ihr Erfolg, sondern eine Folgedes demografischen Wandels. Wir werden demnächstSchulen schließen oder zusammenlegen müssen, weilwir zu wenig Kinder haben, um alle Schulen behalten zukönnen. Ich habe von Ihnen noch keine einzige anstän-dige Antwort auf die Frage gehört, wie wir mit diesemProblem umgehen sollen und was wir vor allem mit denJugendlichen machen, die bis jetzt auf der Schattenseitedes Lebens stehen, die von einer Maßnahme der Arbeits-agentur zur anderen geschickt werden. Diese Jugendli-chen werden am Ende auf der Straße stehen. Sie habendarauf keine Antworten; Sie haben keine Lösung für die-ses Problem. Aber genau das ist die Herausforderung:dass wir wirklich jedem Kind, unabhängig von der Her-kunft, eine Chance geben.
Die Antworten, die wir geben müssen, müssen viel-fältig sein: Ja, wir brauchen Migration von Arbeitskräf-ten, wir brauchen gute Qualifikation, und wir brauchenFrauen auf dem Arbeitsmarkt – ob es Ihnen gefällt odernicht.Für Ihr Nichtstun gebe ich Ihnen einmal ein Beispiel.Wir wissen seit Jahren, dass uns 40 000 Erzieherinnenim U-3-Bereich fehlen werden. Mit Inkrafttreten desRechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Klein-kinder wird dieses Problem noch deutlicher werden. DieGrünen bringen dieses Thema Woche für Woche, Monatfür Monat in die Debatte, in die Ausschüsse, in die Öf-fentlichkeit. Wissen Sie, was die Antwort Ihrer Regie-rung ist? Sie lautet: Wir überlegen uns einmal, ob wireine Onlineplattform hierzu schaffen. – Eine Online-plattform! Dadurch wird keine einzige Person zur Erzie-herin qualifiziert. Das ist also Ihre Antwort. Vielen Dankaber auch!Ich will auch auf die anderen Bereiche eingehen. Ja,wir brauchen die frühkindliche Bildung in Krippen, inGanztagsschulen. Wir wissen, dass wir mit DualPlusechte Chancen schaffen können, auch für benachteiligteJugendliche, die ohne einen Abschluss die Schule ver-lassen müssen. Was genau machen Sie denn in diesemBereich?Wir wissen, dass wir mehr Studierende bekommen:750 000 zusätzliche Erstsemester. Anstatt dafür zu sor-gen, dass die KMK eine entsprechende Debatte führt,dass der Hochschulpakt ausgeweitet wird, hören wir vonIhnen wenig, wenn nicht gar nichts. Wir wissen: Wirbrauchen ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.Wir wissen: Wir müssen Erwachsene qualifizieren. Wirwissen noch mehr: Wir müssen endlich das Koopera-tionsverbot überwinden. Was ist Ihre Antwort? Bishernichts!Kommen wir zu den Frauen. Lassen wir einmal dieIdeologiedebatte hinter uns. Wir brauchen qualifizierteFrauen an den Universitäten, auf dem Arbeitsmarkt, indieser Gesellschaft. Wo sind Ihre Maßnahmen zur Ver-einbarkeit von Beruf und Familie in der Ausbildung anden Universitäten? Was machen Sie da? Sie machennichts!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21495
Ekin Deligöz
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Da es gerade Mode ist, hier das Grundgesetz zu zitie-ren, zitiere auch ich einen Grundgesetzartikel, Art. 3Abs. 2:Männer und Frauen sind gleichberechtigt. DerStaat … wirkt auf die Beseitigung bestehenderNachteile hin.Auch das ist unser Auftrag: Wir müssen endlich ein-mal etwas dagegen tun, dass Frauen in diesem Land imSchnitt immer noch 23 Prozent weniger verdienen. Wasmachen Sie dagegen? Wo sind Ihre Konzepte zur Ent-geltgleichheit? Wo ist Ihr Gesetz zur Förderung derGleichstellung in den Unternehmen? Wo sind Ihre Maß-nahmen zur Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeits-markt?
Sie machen nichts, gar nichts! Stattdessen konzentrierenSie sich auf eine Ideologiedebatte, Stichwort Betreu-ungsgeld. Sie blockieren diese Gesellschaft. Sie blockie-ren die Frauen. Sie blockieren den Fortschritt. Das istIhre bisherige Antwort, und das ist zu wenig.
Das Wort hat nun Matthias Zimmer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An-lass unserer heutigen Debatte ist ein Antrag der SPD mitdem Titel „Chancen eröffnen und Fachkräfte sichern“.Herr Gabriel, der Anlass dieser Debatte ist nicht eineEntschuldigung für Ihren missglückten Auftritt auf derBundeskonferenz des Arbeitskreises Sozialdemokrati-scher Frauen.
Der Antrag der SPD ist von einer Sorge um die Aus-wirkung des demografischen Wandels auf dem Arbeits-markt getrieben. Diese Sorge teilen wir. Davon zeugteine Reihe von Gesetzesinitiativen, die wir umgesetzthaben. So hat diese Koalition die Voraussetzungen dafürgeschaffen, die Anerkennung ausländischer Bildungsab-schlüsse zu erleichtern. Das bietet vielen Menschen inDeutschland neue Chancen, in ihrem erlernten Beruf zuarbeiten. Sie müssen nicht mehr als Ingenieure Taxi fah-ren oder als Ärzte in der Krankenpflege arbeiten.
Wir haben vor wenigen Wochen durch die Umsetzungder Hochqualifizierten-Richtlinie die Chancen erheblichverbessert, dass ausländische Studierende an deutschenHochschulen nach ihrem Abschluss in Deutschland eineArbeitsstelle finden. Wir haben die Möglichkeiten fürdie Anwerbung von qualifizierten Fachkräften aus demAusland deutlich verbessert, etwa durch die Senkung derGehaltsschwelle oder durch den Wegfall der bürokrati-schen Vorrangprüfung in vielen Bereichen. Ich könnteviele weitere Punkte aufzählen – aus dem Bereich Arbeitund Soziales ebenso wie aus dem Ressort Bildung undForschung. Wir sind also in dieser Koalition nicht erstheute dabei, Chancen zu eröffnen und Fachkräfte zu si-chern.
Meine Damen und Herren, umso gespannter war ichauf den Antrag der SPD, der am Dienstagnachmittagvorgelegt wurde. Ich will hier nur eine erste Bewertungvornehmen. Ich glaube, einiges Tiefergehende werdenwir im Ausschuss erörtern.Ihr Antrag enthält einiges Bedenkenswerte, leideraber auch vieles, das sich mir überhaupt nicht erschließt.Ich will nur zwei Beispiele anführen, bei denen ich denEindruck hatte, das Stricken mit heißer Nadel könntedazu geführt haben, mit den Fakten etwas zu schludern.So wollen Sie das Aufstockungs- und Umgehungs-verbot in § 16 f SGB II für Langzeitarbeitslose aufhe-ben. Da habe ich mir ein wenig die Augen gerieben;denn in der Instrumentenreform im letzten Jahr habenwir genau das getan. Die Verbesserung der Freien Förde-rung und die Aufhebung des Aufstockungs- und Umge-hungsverbots für Langzeitarbeitslose, das war einer derwichtigsten Bestandteile der Instrumentenreform.
Es freut mich aber zumindest, dass wir in der Lagewaren, eine Forderung von Ihnen zu erfüllen, noch ehesie bei Ihnen zum Gedanken geronnen und zu Papiergebracht worden ist.
Erstaunt hat mich auch die Forderung, dass Men-schen, die neben ALG I zusätzlich ALG II beziehen,weiterhin von der Arbeitsagentur beraten werden sollten,eben solange sie ALG I beziehen.
Das werden sie. Ich habe mich in diesem Punkt auchnoch einmal rückversichert. Das steht im Übrigen auchin Form eines Verweises im Gesetz. Vielleicht haben Sieden Verweis nicht gelesen. Im Ergebnis zeigen Sie einenerheblichen Mangel an, der keiner ist. Aber vielleichtwar das ja der Eile geschuldet, in der der Antraggeschrieben wurde. Kann ja mal passieren.
Mein Haupteinwand gegen Ihren Antrag ist allerdingsein ordnungspolitischer. Über weite Strecken wird man
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Dr. Matthias Zimmer
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bei Ihnen den Eindruck nicht los: Alles muss der Staatmachen – durch Gesetze und durch mehr Geld. – Ichglaube dies nicht. Im Übrigen glaubt dies auch die Bun-desagentur für Arbeit nicht, deren Bericht über denFachkräftemangel Sie zustimmend zitieren. Die Bundes-agentur sagt sehr deutlich, dass in der Mehrzahl der zehnzentralen Handlungsfelder zur Überwindung des Fach-kräftemangels die Unternehmen gefordert sind. Das istauch einleuchtend.Der Fachkräftemangel führt dazu, dass Firmen eingesundes Eigeninteresse bekommen, Fachkräfte heran-zuziehen und auszubilden. Dort, wo sie das tun, solltesich der Staat zurückziehen und nicht noch durch beson-dere Förderungen die Arbeitgeber subventionieren. Fürmich ist das nicht nur ein Erfordernis einer sparsamenHaushaltsführung, sondern auch ein Erfordernis derSubsidiarität. Wenn andere wie etwa die ArbeitgeberDinge genauso gut oder besser erledigen können,braucht man dafür keine Steuergelder einzusetzen.
Ich würde eine Ausnahme machen. Ich fände es gut,wenn wir mehr Mittel für die steuerliche Förderung vonMitarbeiterbeteiligungen bereitstellen könnten. Geradedieser Bereich ist noch entwicklungsfähig und für diedauerhafte Bindung der Mitarbeiter an die Firmen vonbesonderer Bedeutung. Die Mitarbeiterbeteiligungkönnte auch ein zusätzlicher Anreiz sein, wenn es darumgeht, qualifiziertes Personal aus dem Ausland nachDeutschland zu locken. Dazu findet sich in Ihrem Antragaber kein Wort. Schade!Ihr Wunsch nach mehr Geld wird auch thematisiertbei den von uns vorgenommenen Anpassungen im Ein-gliederungstitel für Langzeitarbeitslose. Dieser Wunschgewinnt durch ständige Wiederholung nicht an Plausibi-lität. Um nur einmal die Zahlen zu nennen: Der Einglie-derungstitel enthielt 2007 4,8 Milliarden Euro, 2011,nach einem vorübergehenden Hoch, 4,66 MilliardenEuro. Im gleichen Zeitraum ist allerdings die Anzahl derLangzeitarbeitslosen deutlich zurückgegangen: von1,7 Millionen auf etwas mehr als 1 Million. Das bedeu-tet: Standen 2007 pro Langzeitarbeitslosen rechnerisch2 438 Euro aus dem Eingliederungstitel zur Verfügung,waren es 2011 4 431 Euro.
Wie man hier auf die Idee kommen kann, von Kürzun-gen zu sprechen, ist mir schleierhaft. Es ist doch ganzklar: Je weniger Arbeitslose ich habe, desto wenigerGeld muss ich für deren Betreuung und Vermittlung auf-wenden. Genau nach dieser Logik handeln wir. BeiIhnen habe ich manchmal den Eindruck: Egal, ob wirmehr oder weniger Arbeitslose haben, es wird immermehr Geld gebraucht. Diese Logik kann ich überhauptnicht nachvollziehen.
Unverständlich ist aus meiner Sicht auch Ihre Forde-rung, mehr Geld dafür auszugeben, die Kontaktdichtezwischen Arbeitsuchenden und Vermittlungsfachkräftenzu verändern. Auch hier habe ich mir einmal die Zahlender Betreuungsrelationen in der Grundsicherung an-geschaut. Diese liegen vielfach in der Nähe der selbstgesetzten Ziele; in einigen Fällen sind sie deutlich bes-ser. In Gesprächen erhalte ich häufig die Rückmeldung:Es liegt nicht daran, dass mehr Geld gebraucht wird;eher ist das Problem eine Fluktuation beim Personal, dieeine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Arbeit-suchenden und Vermittlungskräften erschwert.Es ärgert mich Ihr Vorschlag, das Recht auf die finan-zielle Förderung beim Nachholen eines Schulabschlus-ses als Pflichtleistung auszugestalten. Es ärgert michweniger, dass Sie den Vorschlag gemacht haben – damitwir uns richtig verstehen –, vielmehr ärgert mich – derKollege Gabriel hat das ja auch angesprochen –, dassden Versicherten ein Versagen der Schulpolitik vor dieFüße gekehrt wird. Ich finde, wir sollten die Bundeslän-der für jeden, der keinen Schulabschluss erworben hat,finanziell mit einem Aussteuerungsbeitrag an die Bun-desagentur zur Verantwortung ziehen. Ich vermute, dasssich die Länder dann ganz anders aufstellen würden, umsicherzustellen, dass alle einen Abschluss bekommen.
Auf einen Aspekt, der die Differenz zwischen IhremPolitikverständnis und unserem besonders markiert, willich noch aufmerksam machen. Sie lehnen das Betreu-ungsgeld aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ab.
Ich will einmal davon absehen, dass Sie mit uns in derGroßen Koalition das Betreuungsgeld vereinbart haben.Es steht seither in § 16 des SGB VIII.
Aber mir scheint doch, dass das dahinterliegende Kon-zept Frauen als industrielle Reservearmee sieht.
Warum aber sollten Frauen ebenso unbarmherzig wieMänner der Verwertungsrationalität unseres wirtschaft-lichen Systems unterworfen werden?
Ist Wahlfreiheit nicht auch eine Möglichkeit, FrauKramme, dies nicht tun zu müssen? Ich weiß, das istnicht bei allen möglich. Karl Schiewerling hat ausge-führt, dass er in seinem Wahlkreis Menschen befragt hat,wie sie das mit dem Betreuungsgeld sehen. Das habe ichauch in meinem Wahlkreis getan. Ich komme aus Frank-furt, einem städtischen Wahlkreis. Dort ist die Situationvielleicht etwas anders.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21497
Dr. Matthias Zimmer
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Ich muss doch zur Kenntnis nehmen, und zwar mit gro-ßem Bedauern, dass Frankfurt nicht der Nabel der Weltist und dass es andere Betreuungsmodelle gibt, die auchinteressant sind und die gelebt werden wollen.
Wollen Sie Ihre Redezeit verlängern und eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Dittrich zulassen?
Aber ja.
Schönen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. –
Ich möchte fragen, ob Sie erkennen können, dass die
Nichtbereitstellung von Betreuungsplätzen für Kinder
unter drei Jahren verhindert, dass Frauen die Funktion
des Ernährers wahrnehmen können; denn sie können nur
einige Stunden arbeiten.
Zweitens. Den größten Fachkräftemangel – das haben
Sie selbst gesagt; Sie sprachen davon, dass das nicht der
Verwertungslogik der Industrie unterliegen soll; das kam
von Ihnen – gibt es in den Dienstleistungsbereichen, bei
den Erzieherinnen und den Altenpflegerinnen. Die Kom-
munen haben kein Geld, um die Erzieherinnen auszubil-
den. Erzieherinnen fehlen am meisten. Das, würde ich
sagen, ist auf Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik zurückzu-
führen: Indem Sie die Banken finanzieren, machen Sie
die Kommunen arm. Deshalb gibt es einen Fachkräfte-
mangel vor Ort. Diesen Mangel gibt es auch bei den
Altenpflegerinnen. Kann Ihre Regierung ein Programm
auflegen, um in diesen Frauenberufen erstens mehr und
bessere Ausbildung zu ermöglichen und zweitens mehr
Geld bereitzustellen? Dann haben Sie mehr Personal mit
einer besseren Ausbildung vor Ort. Das nützt allen: Qua-
lifizierten Frauen wird ein Ausbildungsplatz verschafft,
sie werden besser bezahlt, die Kinder werden besser
betreut, die in der Kita etwas lernen sollen, und bei der
Altenpflege werden die Älteren qualifiziert betreut. Das
sind Tätigkeiten, die Frauen privat zu Hause erledigen,
indem sie ihre Arbeitszeit reduzieren. Dafür wurde ihnen
von Ihnen ein unsinniges Pflegezeitgesetz angeboten.
Verehrte Frau Kollegin, es fällt mir ein bisschen
schwer, dieser Argumentation intellektuell zu folgen.
Ich halte es für ein ausgesprochen mutiges Unterfangen,
unserer Wirtschaftspolitik ein Scheitern zu unterstellen
angesichts dessen, dass wir nahezu Vollbeschäftigung
haben.
Frau Kollegin, andere Bundeskanzler hätten da den Köl-
ner Dom tagelang läuten lassen, um das zu feiern.
Ich glaube, dass im Rahmen der Diskussion über
Fachkräftemangel und über das Eröffnen von Chancen
die heutige Debatte sicherlich nicht die letzte war. Die
SPD hat mit ihrem Antrag einen Aufschlag gemacht.
Über diesen Antrag werden wir im Ausschuss weiter
debattieren. Ohne ein Prophet zu sein, vermute ich, dass
wir uns Ihrem Antrag nicht anschließen können. Das
wird uns jedoch nicht daran hindern, Chancen zu eröff-
nen und Fachkräfte zu sichern.
Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich darf damit anfangen, dass die Reden vonHerrn Schiewerling, aber auch von Herrn Zimmer gro-ßes Entsetzen bei mir ausgelöst haben.
Ist das der Umgang mit Fachkräftemangel in der Bun-desrepublik Deutschland? Dann kann ich nur sagen:Diese Bundesregierung und diese Ministerin vernachläs-sigen das Thema brutal und gehen unverantwortlich mitden Menschen in diesem Lande um.
Aber schauen wir uns genauer an, was die Bundesre-gierung macht: ein bisschen Zuwanderung, ohne posi-tive Rahmenbedingungen für die Zuwanderung zu set-zen; ein bisschen Anerkennung von Berufsabschlüssenvon Migranten,
ohne entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen,damit Migranten tatsächlich neue Rechte effektiv inAnspruch nehmen können – nicht einmal die Kosten-frage der Anerkennung von Abschlüssen ist geklärt –;ein bisschen Copy & Paste bei der Bundesagentur fürArbeit, die dankenswerterweise mögliche Handlungsan-sätze zur Systematisierung beim Fachkräftemangel for-muliert hat.An dieser Stelle sei angemerkt: Wenn Sie nur dasübernehmen würden, was die BA vorschlägt, wären wirin diesem Land ein ganzes Stück weiter. Tatsächlich istes aber so, dass Sie jede Menge Optionen ungenutzt las-sen. Bei der Bundesagentur für Arbeit streichen Sie denHaushalt zusammen, statt Mittel umzuschichten, hineinin die langfristige Qualifizierung von Arbeitslosen einer-seits und von Erwerbstätigen andererseits. In der Demo-grafiestrategie findet sich praktisch nichts zum Bereich
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Anette Kramme
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Fachkräftesicherung. Zum Papier „Fachkräftesiche-rung“, auf das Sie so stolz sind, ich kann Ihnen nursagen: Das ist es wert, dass man es in den Mülleinerschmeißt, aber auch kein bisschen mehr.
Lassen Sie mich auf die heldenhaften Äußerungenvon Herrn Schiewerling zum Betreuungsgeld eingehen.Das hat mich ja emotional richtig angerührt. Natürlichführt das Betreuungsgeld dazu, dass Frauen zu Hausebleiben; denn das Geld, das für diese Maßnahme zurVerfügung steht, wird nicht für den Ausbau der Kinder-betreuung verwendet. Mit diesem Geld könnten bis zu220 000 Kinderbetreuungsmöglichkeiten in der Bundes-republik Deutschland geschaffen werden.
Es gibt eine verdammt große Menge Frauen in diesemLand, die gerne arbeiten würden. Dabei geht es nicht umdie „ökonomische Verwertung“ von Frauen, sondern esgeht darum, dass Frauen ein eigenes Leben verwirk-lichen wollen, und darum, dass sie manchmal sogar ar-beiten müssen, damit hinreichend Geld im Haushalt vor-handen ist.
Die Folgen Ihrer Politik sind fatal. Stellen wir uns einLand vor, in dem es viel zu wenig Ingenieure gibt. Wiesoll in diesem Land noch Innovation stattfinden? Wiesoll Produktivität stattfinden? Stellen wir uns ein Landvor, in dem es fast keine Altenpfleger mehr gibt. Wersoll die Menschen in den Altenheimen und sonstigenEinrichtungen betreuen? Und was ist mit dem erwähntenHandwerker? Wenn es den nicht mehr gibt, dann fehlt esan dem, was ich „volkswirtschaftliche Produktivität“nenne.Wir werden in diesem Land auf Einnahmen verzich-ten müssen, weil Sie drei Regierungsjahre haben ver-streichen lassen und in dieser Zeit nichts unternommenhaben, obwohl wir alle wissen, dass sich Fachkräftenicht in 14 Tagen ausbilden lassen.
Wir Sozialdemokraten wollen das Thema Fachkräfte-sicherung ein wenig anders angehen als andere. Wir sindder Überzeugung: Das ist eine wunderbare Gelegenheit,den Menschen in unserem Land neue Qualifikationenund damit den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. Wirmöchten, dass der Gelernte zum Meister werden kann,indem er die Technikerschule oder auch die Universitätbesucht.
Das sind ganz neue Möglichkeiten.
– Ja,
aber die Frage ist doch: Welcher Berufstätige kann essich finanziell leisten – gerade wenn Familie vorhandenist –, aus dem Beruf auszusteigen, um sich weiterzubil-den? Das wird in unserem Land nur funktionieren, wennes ausreichend finanzielle Unterstützung gibt. Das zeigt,dass wir beispielsweise das Thema Arbeitsversicherungangehen müssen.
Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Fakt ist, dass fürdie Weiterbildung in unserem Land die Unternehmen zu-ständig sind. Hier müssen wir Umstrukturierungen vor-nehmen; wir können das nicht mehr so angehen wie inder Vergangenheit. Es ist wichtig, dass Unternehmen So-zialpläne finanzieren; aber es ist für die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer mindestens genauso wichtig, dasssie sich ein Leben lang weiterbilden können. Wir wollendeshalb ein neues Mitbestimmungsrecht einführen, einInitiativrecht, das Unternehmen im Rahmen ihrer finan-ziellen Möglichkeiten verpflichtet, Mittel für die Weiter-bildung zur Verfügung zu stellen. Dadurch wird sich ei-niges ändern.
Ungedeckter Fachkräftebedarf ist eine Hypothek aufdie Zukunft, ist ein Vergehen an der Zukunft unseresLandes. Drei Jahre Regierungshandeln in Untätigkeit –das ist eine Schande für unser Land.In dem Sinne: Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, bei al-ler Freude über die politische Debatte dürfen wir nichtvergessen – das muss man in dieser Debatte betonen –,dass der Fachkräftemangel eine gesamtgesellschaftlicheHerausforderung darstellt. Natürlich gibt es eine Verant-wortung der Politik, aber auch viele andere Bereiche derGesellschaft tragen Verantwortung.Ich denke beispielsweise an die Betriebe, die vor derHerausforderung stehen, gute Angebote zu unterbreiten,um Fachkräfte zu finden, aber gleichzeitig dafür sorgenmüssen, ihre Belegschaften zu qualifizieren und auf dieHerausforderungen der Zukunft vorzubereiten. DerFachkräftemangel ist eine Herausforderung für die Ver-bände und für die Gewerkschaften, die bei der Gestal-tung von Rahmenbedingungen ihrer Verantwortung fürdie Zukunft gerecht werden müssen; denn nicht nur dasgegenwärtige Interesse steht im Mittelpunkt, sondernauch die Interessen zukünftiger Generationen. Er ist eine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21499
Pascal Kober
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Herausforderung für die Bundesagentur für Arbeit, diepassgenau qualifizieren und vermitteln muss. Er ist eineHerausforderung für die Gesellschaft – darauf hat meinKollege Johannes Vogel schon hingewiesen –, die eineWillkommenskultur leben muss, damit sich Menschenaus dem Ausland bei uns wohlfühlen. Er ist aber aucheine Herausforderung für den Einzelnen, der die Bereit-schaft haben muss, seine eigenen Potenziale zu entde-cken, um sie dann mit oder auch ohne Unterstützung zuentwickeln.Es gibt natürlich auch eine Verantwortung der Politik.Liebe Frau Kramme, Sie können das Fachkräftekonzeptder Bundesregierung nicht einfach so abtun und behaup-ten, es sei nur für den Abfalleimer; denn in diesem Pa-pier wird eine Fülle von Maßnahmen beschrieben, diedie Bundesregierung mit großem finanziellen Aufwandauf den Weg bringt.
Das Konzept der Bundesregierung zur Sicherung desFachkräftebedarfs sieht fünf Schwerpunkte vor. Auf denSchwerpunkt „Integration und qualifizierte Zuwande-rung“ ist mein Kollege Johannes Vogel bereits eingegan-gen. Ich möchte zwei weitere Schwerpunkte nennen.Wir müssen die Potenziale älterer Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer entdecken, erhalten und fördern. Esist ein Glück, dass die Gesellschaft insgesamt – die ein-zelnen Menschen und die Betriebe – umdenkt und dassder Prozess in Gang gekommen ist, dass die Menschenlänger arbeiten wollen und sollen. Die Zahl älterer Er-werbstätiger im Alter von 55 bis unter 65 Jahren ist inden Jahren 2005 bis 2009 um mehr als 1 Million ange-stiegen, und die Tendenz ist weiter steigend. Das ist eingutes Signal. Die Zahl der Arbeitslosen im Alter vonüber 55 Jahren hat sich in den letzten zehn Jahren na-hezu halbiert. Weiter ist es gut, festzustellen, dass dieBundesregierung auch Initiativen fördert wie beispiels-weise das Demografienetzwerk, in dem sich Unterneh-men zusammenschließen, um den Know-how-Transferzu leisten und um sich gegenseitig dabei zu unterstützen,dass die Erwerbstätigkeit auch im hohen Alter erhaltenbleiben kann. Die Bundesregierung geht als Arbeitgebermit gutem Beispiel voran. Ich erinnere an das ModellFalter, mit dem die Bundesregierung im Bereich des öf-fentlichen Dienstes ein innovatives Konzept mit flexi-blen Arbeitszeiten für ältere Beschäftigte, die in der Ver-waltung des Bundes arbeiten, vorgelegt hat. Dazu gehörtaber auch, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten fürRentnerinnen und Rentner verbessern und flexibilisie-ren. Weiter gehört dazu, liebe Kolleginnen und Kollegender SPD, dass wir an der Rente mit 67 uneingeschränktfesthalten müssen.Darüber hinaus möchte ich daran erinnern, dass wirauch im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit nicht nurErfolge zu verzeichnen haben, sondern dass wir da auchneue Maßnahmen in Gang gesetzt haben. Fachkräfte-mangel – der Kollege Gabriel ist gerade weg – ist offen-sichtlich auch ein Problem in der SPD-Fraktion; über dievielen Fehler hinaus, die meine Kollegen Kolb undZimmer schon erwähnt haben, möchte ich Sie, was denBereich der Langzeitarbeitslosigkeit angeht, nur auf ei-nen Punkt in Ihrem Antrag hinweisen. Sie fordern, dasswir das Aufstockungs- und Umgehungsverbot in § 16SGB II – freie Förderung – abschaffen. Ich möchte Siedaran erinnern, dass wir das schon im September desvergangenen Jahres beschlossen haben und dass das seitdem 1. April wirksam ist.Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,bitte ich Sie, in Zukunft etwas mehr Mühe darauf zu ver-wenden, wenn Sie Anträge in den Bundestag einbringen.Sonst entsteht bei der Bevölkerung tatsächlich der Ein-druck, dass Fachkräftemangel ein Problem Ihrer Frak-tion ist.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Axel Knoerig für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die SPD-Fraktion hat einen Antrag mit dem Titel„Chancen eröffnen und Fachkräfte sichern“ vorgelegt;das sind beachtliche zwölf Seiten. Darin sind umfangrei-che Maßnahmen für alle Bereiche der Arbeits-, Sozial-und Bildungspolitik vorgeschlagen worden. Den Kolle-gen von der Opposition ist bisher anscheinend Folgendesnicht aufgefallen, Frau Kramme: Viele dieser Vorschlägehat die Regierungskoalition in den vergangenen Jahrenbereits umgesetzt. Ich möchte hier heute als Vorstands-mitglied der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU und alsMitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung die neuesten Fakten zu die-sem Thema zusammenfassen.Wir sind uns, denke ich, darin einig: Arbeitsmarkt-politische Programme können nur greifen, wenn die bil-dungspolitischen Voraussetzungen stimmen.
Ein erfolgreicher Schulabschluss, ein abgeschlossenesHochschulstudium sowie berufliche Qualifikation undPraxis sind, denke ich, die Voraussetzungen für Beschäf-tigung in unserem Land. Im Rahmen der Fachkräftesi-cherung müssen deshalb Qualifikationen kontinuierlichverbessert werden. Weiterbildung und lebenslanges Ler-nen gehören heute zu den wichtigsten Erfahrungen impersönlichen Lebenslauf.In Deutschland arbeiten rund 60 Prozent der Beschäf-tigten in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Inmeinem Bundesland Niedersachsen beispielsweise be-steht die Branche der Automobilzulieferer zum Teil aussehr kleinen Unternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern.Die Mitarbeiter dieser Kleinstbetriebe sind hochqualifi-ziert und spezialisiert, und das vor allem in der For-schungs- und Entwicklungsarbeit. Wir konnten feststel-
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Axel Knoerig
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len, dass gerade auch mit den Konjunkturprogrammen Iund II während der Wirtschaftskrise ein entscheidenderBeitrag geleistet wurde, um unser Fachkräftepotenzialzu sichern. Ohne diese Maßnahmen der Bundesregie-rung hätten viele Firmen ihr Fachpersonal nicht haltenkönnen. Ich denke, wir können heute sagen: Sie sindweiterhin in ihren Betrieben beschäftigt. Wenn man vorOrt konkret nachfragt, wo diese Fördermittel hingeflos-sen sind, erhält man immer dieselbe Antwort. Auch inmeinem Wahlkreis wurde vorwiegend in die Bildungsin-frastruktur investiert, allem voran in die energetische Sa-nierung von Schulen und Turnhallen.Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatein Konzept zur Fachkräftesicherung entwickelt. Ein Be-standteil ist das neu eingerichtete Kompetenzzentrum fürFachkräftesicherung. Mittelständische Betriebe könnensich dort kostenlos informieren und beraten lassen. Siewerden individuell unterstützt mit passend zugeschnitte-nen Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel. DiesesKompetenzzentrum ist ein hervorragendes Beispiel fürdie verantwortungsvolle Politik der Bundesregierung zurSicherung des Fachkräftebedarfs.
Grundsätzlich ist der Fachkräftemangel schwer zuquantifizieren. Es steht aber fest, dass er nicht flächende-ckend ist. Er kann deshalb nur regional beurteilt werden.Wir müssen die Instrumente zur Fachkräftesicherung vorallem an den betroffenen Berufsgruppen, den Alters-gruppen, den Branchen, den Arbeitsmarktstrukturen undder Bildungsinfrastruktur vor Ort ausrichten.An Ihrem überfrachteten Antrag fällt mir eines auf:Ihr Hauptanliegen, die Fachkräftesicherung, verschwin-det an vielen Stellen völlig aus dem Blick. Ich denke,man kann es so formulieren: Der SPD-Antrag ist von ei-ner wirtschaftsfernen Einstellung geprägt, die einige Ar-beitsmarktexperten sprachlos macht.
Die SPD trennt zwischen Ausbildung und Arbeit. Fürdie Union gehört beides zusammen.
Der Auszubildende soll nicht nur kosten, sondern sichauch lohnen: Der Auszubildende profitiert von seinerLehrzeit, aber auch der Handwerksbetrieb profitiert vonder Leistung des Lehrlings.Was die SPD hier im Einzelnen fordert, ist unverant-wortlich, weil in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht nichtzu Ende gedacht wird. Es sollen neue staatlich-bürokra-tische Strukturen geschaffen werden, um eine Berufsaus-bildung zu garantieren. Aber die spätere Vermittlung aufdem Arbeitsmarkt wird nicht berücksichtigt. An keinerStelle des Antrags wird von Kooperationsstrukturen zwi-schen Schule, Berufsausbildung und Wirtschaft gespro-chen. Können Sie Ihren Antrag nicht guten Gewissensmit berufsbegleitenden Maßnahmen in der Praxis, kom-munaler Wirtschaftsförderung und einer vorausschauen-den Ausbildungsplanung der Firmen in Abstimmung mitden Landkreisen anreichern?
Unser Erfolgsmodell der dualen Ausbildung zeichnetsich genau dadurch aus. Somit liegt diesem Antrag das-selbe Fehlverständnis zugrunde wie dem Antrag, den dieGrünen vor zwei Jahren zu dem Programm „DualPlus“eingebracht haben. Neben Berufsschule und Ausbildungsollte eine dritte Säule staatlicher Ausbildung etabliertwerden. 240 Millionen Euro Haushaltsmittel wurden da-für eingefordert. Wir haben ganz klar Nein gesagt. Daswar mit uns nicht zu machen. Können Sie mit Ihrer Wirt-schaftsferne und einer Bildungsplanung jenseits der Er-fordernisse des Arbeitsmarktes dieses Modell wirklichverantworten? Diesen Vorschlägen fehlen essenzielleGrundlagen wie Anreize, Verantwortung und Vertrau-ensbildung; darauf beruhen unsere erfolgreichen Kon-zepte. Es fehlt eine weitere entscheidende Komponente,die Förderung von Allianzen zwischen Sozialpartnern,Berufsverbänden, regionaler Wirtschaft und Politik, diezu einer vorausschauenden Qualifizierung und Beschäf-tigung immens viel beitragen können.In meinem Bundesland Niedersachsen ist der Fach-kräftemangel bereits zunehmend spürbar. So ist die Zahlder Bewerber um Ausbildungsplätze schon um 25 Pro-zent zurückgegangen. Ich möchte Ihnen eine Initiativeaus meinem Wahlkreis kurz vorstellen, die zeigt, wieman dieser Herausforderung begegnen kann. Die vo-rausschauende Kooperation zwischen kommunaler Wirt-schaftsförderung, Berufsverbänden und Firmen wirktdem Fachkräftemangel effektiv entgegen. Im LandkreisDiepholz zeichnet sich seit einiger Zeit ein Mangel anBerufskraftfahrern ab. Neun Unternehmen haben sichnun zusammengeschlossen und einen Ausbildungsver-bund für Berufskraftfahrer gegründet. Ziel ist es, bei derAusbildung zu kooperieren und den Auszubildendendurch die Arbeit in verschiedenen Speditionen ein um-fassendes und flexibles Berufsbild zu vermitteln. Da-durch werden die Absolventen zukünftig bessere Chan-cen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Die Komplexität und der Wandel dieses Berufsbildeswerden berücksichtigt. In der dreijährigen Ausbildungwird umfangreiches Theoriewissen vermittelt, von derLkw-Technik über Straßenverkehrs- und Zollvorschrif-ten bis hin zu Elektrotechnik und Hydraulik. Das sindVerbünde, die wir vor Ort, in unseren Landkreisen benö-tigen.Warum werden in dem SPD-Antrag zur Fachkräftesi-cherung die zahlreichen Maßnahmen der Bundesregie-rung in diesem Bereich ignoriert?
In Ergänzung zu den bereits genannten Maßnahmen ausdem Bereich Arbeit und Soziales möchte ich abschließendkurz einige Maßnahmen aus dem Bildungsbereich nen-
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nen. Der neue Ausbildungspakt weist erfolgreiche Ergeb-nisse auf: Trotz doppelter Abiturjahrgänge und Ausset-zung der Wehrpflicht ist die Zahl der abgeschlossenenVerträge über eine betriebliche Ausbildung im vergange-nen Jahr weiter gestiegen. 2011 sind 570 000 Ausbil-dungsverträge geschlossen worden.
Jetzt zu den zahlreichen Maßnahmen, die zu denneuen Vereinbarungen des Ausbildungspaktes gehören:Einen verbesserten Übergang von der Schule in die be-rufliche Ausbildung wird durch die BMBF-InitiativeBildungsketten gewährleistet, Herr Gabriel. Dafür wur-den vom Bundesbildungsministerium 360 MillionenEuro bereitgestellt. Die Wirtschaft bietet im Rahmen desProgramms EQ Plus pro Jahr 10 000 betrieblich durch-geführte Einstiegsqualifizierungen speziell für leistungs-schwächere Jugendliche an. Mit dem Hochschulpakt2020 und mit dem Qualitätspakt Lehre haben wir er-reicht, dass jeder Bewerber in der Bundesrepublik einenStudienplatz erhalten hat.
Nur wenn es uns nicht gelingt – das ist ganz wichtig –,Fachkräfte auf dem hiesigen Arbeitsmarkt zu finden,wird für hochqualifizierte Ausländer der Zugang mit dersogenannten Bluecard erleichtert.Wir sind mit großem Ernst dabei, erfolgreiche Instru-mente zur Fachkräftesicherung und damit zur Stärkungvon Bildung und Beschäftigung in Deutschland zu posi-tionieren. Mein Fazit lautet: Der SPD-Antrag ist über-flüssig.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Gabriele Lösekrug-Möller für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! WerterHerr Kollege Knoerig, wenn man Sie so hört, dannwollte man meinen: Vielleicht ist nicht ganz Niedersach-sen ein Paradies, aber der Landkreis Diepholz ist es aufjeden Fall.
Unterhalten Sie sich doch einmal mit Ihrem KollegenZimmer über den Vorschlag einer – ich nenne es einmalso – Vertragsstrafe für die Bundesländer, in denen es soviele Schulabbrecher gibt. Dieses Problem scheint es inIhrem Landkreis ja nicht zu geben, bundesweit bestehtdieses Problem jedoch. Leider hat Sigmar Gabriel recht:Es gibt jedes Jahr mehr als 50 000 Schulabbrecher. Dazukommen diejenigen – über diese haben wir noch nichtgesprochen –, die ihre Ausbildung im dualen Systemhinschmeißen, und diejenigen, die mit dem Studiumnicht zurechtkommen.
Das heißt, es gibt viele junge Menschen ohne ausrei-chende Qualifikationen. Diese brauchen sie aber, wennwir den Fachkräftebedarf für die Zukunft sichern wollen.Ich stelle fest, dass eine Hochglanzbroschüre, in der fünfPfade beschrieben werden, nicht ausreicht. Unser Antragist deshalb bitter nötig.
Kollege Kolb sagte, Herr Gabriel sei im falschenFilm.
– Ja, klatschen Sie ruhig weiter. – Das, was wir hierheute von Ihnen erlebt haben, ist schlechtes Theater.
Ich frage mich: Wie sehen das eigentlich die Altenpfle-gerinnen in Deutschland, die einen harten Job machenund alleingelassen werden? Wie sehen das diejenigen,die diese Ausbildung machen wollen, aber alleingelas-sen werden, weil das dritte Ausbildungsjahr nicht finan-ziert wird? Wie sehen das all die potenziellen Pflege-kräfte, die wir so gerne hätten, die wir aber nichtbekommen, weil es nicht gelingt, die Ausbildung so zugestalten, dass sie für junge Leute attraktiv ist? Warumgelingt es in Deutschland trotz dieser offenkundig blen-denden Regierung immer noch nicht, jungen Leutenklarzumachen, dass der Beruf des Erziehers erstrebens-wert ist? Schauen Sie doch einmal genauer hin, wenn SieKrippen und Kitas besuchen. Diese klagen darüber, dasssie nicht genügend Fachpersonal haben.Nun kommen wir zu den Frauen. Herr KollegeZimmer, Frauen als industrielle Reservearmee? Ich bitteSie! Ich glaube, Sie sollten sich diese Formulierung nocheinmal überlegen. Ich kann in unserem Antrag keineSilbe finden, die diese Argumentation rechtfertigenwürde.
Die Frauen von heute sagen, dass das von vorgestern ist.
Das ist genauso von vorgestern wie diese Brandrede fürdas Betreuungsgeld. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Esgibt viele hochqualifizierte junge Frauen, die gernezeigen würden, was sie können. Wissen Sie was? Man-gelnde Betreuungsangebote, mangelnde Kita- und Krip-penplätze hindern sie daran. Sie sind unter ihrem Quali-fizierungsniveau beschäftigt und in Teilzeit angestellt.Sie haben gar nicht die Chance, in Vollzeit unter Beweiszu stellen, was sie können. Das ist die Situation inDeutschland. Deshalb ist unser Antrag wichtig.Sie scheinen ja die eine oder andere Kleinigkeit ge-funden zu haben, die Sie kritisieren können. Ich drehe
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21502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Gabriele Lösekrug-Möller
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das einmal um: Im Großen und Ganzen scheinen Sie un-seren Antrag zu begrüßen. Wir würden uns freuen, wennSie darin viele Anregungen finden, die Sie dann endlichaufnehmen. Denn wir stellen fest, dass wir in den nächs-ten 15 Jahren einen Rückgang des Erwerbspersonen-potenzials um mehr als 3 Millionen Menschen habenwerden. Sie liefern keine Antworten auf die Frage, mitwelchen Strategien wir dann unsere Fachkräftebasissichern können. Dazu kommt gar nichts von Ihnen. Des-halb ist unser Antrag bitter nötig. Ich freue mich schonauf die Diskussionen im Ausschuss darüber. Später wer-den wir wie immer feststellen, dass Sie unsere Vor-schläge übernehmen und sich mit fremden Federnschmücken; aber das kennen wir ja schon.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9725 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a bis k sowieden Zusatzpunkt 3 a bis e auf:36 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines … Gesetzes zur Änderung desStrafgesetzbuchs – Aufnahme menschenver-achtender Tatmotive als besondere Umständeder Strafzumessung
– Drucksache 17/9345 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-trag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordi-nierung und Steuerung in der Wirtschafts-und Währungsunion– Drucksache 17/9667 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 7. Dezember 2011 zwischender Bundesrepublik Deutschland und demVereinigten Königreich Großbritannien undNordirland zur Vermeidung der Doppelbelas-tung bei der Bankenabgabe– Drucksache 17/9688 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 7. Oktober 2011 zwischen derBundesrepublik Deutschland und der Repu-blik Mauritius zur Vermeidung der Doppel-besteuerung und der Steuerverkürzung aufdem Gebiet der Steuern vom Einkommen– Drucksache 17/9689 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ab-kommen vom 19. und 28. Dezember 2011 zwi-schen dem Deutschen Institut in Taipeh undder Taipeh-Vertretung in der BundesrepublikDeutschland zur Vermeidung der Doppel-besteuerung und zur Verhinderung der Steu-erverkürzung hinsichtlich der Steuern vomEinkommen und vom Vermögen– Drucksache 17/9690 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussf) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demMarkenrechtsvertrag von Singapur vom27. März 2006– Drucksache 17/9691 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussg) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zurÄnderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften– Drucksache 17/9692 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOh) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 9. Dezember 2011 überden Internationalen Suchdienst– Drucksache 17/9693 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medieni) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausRiegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub,Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Joachim Günther
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDPSelbstbestimmtes Leben von Menschen mitBehinderung – Grundsatz der deutschen Ent-wicklungspolitik– Drucksache 17/9730 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21503
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Auswärtiger Ausschuss Sportausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfej) Beratung des Antrags der Abgeordneten MartinGerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDDie Rolle des Sports in der Auswärtigen Kul-tur- und Bildungspolitik– Drucksache 17/9731 –Überweisungsvorschlag:Sportausschuss Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussk) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Eva Bulling-Schröter, Ulla Lötzer, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKERio+20 – Globale Gerechtigkeit statt grünerKapitalismus– Drucksache 17/9732 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 3 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 4. Oktober 2003 zurGründung des Globalen Treuhandfonds fürNutzpflanzenvielfalt– Drucksache 17/9696 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ErnstDieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, KlausBarthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDEU-Bildungsprogramme modernisieren undausbauen – Mobilität und Austausch im Le-benslangen Lernen für eine integrationsför-dernde europäische Bildungspolitik erweitern– Drucksache 17/9575 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPÜbersetzungserfordernisse der nationalenParlamente in der mehrjährigen EU-Finanz-planung 2014–2020 berücksichtigen – Überset-zungen auch im intergouvernementalen Rah-men sicherstellen– Drucksache 17/9736 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWohnungspolitische Verantwortung bei Über-tragung der bundeseigenen TLG-Wohnungensichern– Drucksache 17/9737 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten FritzKuhn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENTransparenz zum Bau der ICE-NeubaustreckeWendlingen–Ulm herstellen– Drucksache 17/9741 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus HaushaltsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
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21504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 a bis e auf. Eshandelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 37 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-päischen Parlaments und des Rates über straf-rechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfteund MarktmanipulationKOM(2011) 654 endg.; Ratsdok. 16000/11– Drucksachen 17/7918 Nr. A.3, 17/9770 –Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingBurkhard LischkaMarco BuschmannRaju SharmaJerzy MontagDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/9770, in Kenntnis der Unterrich-tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 37 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 433 zu Petitionen– Drucksache 17/9588 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 433 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 37 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 434 zu Petitionen– Drucksache 17/9589 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 434 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmenvon Linken und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 435 zu Petitionen– Drucksache 17/9590 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 435 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-men von SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 436 zu Petitionen– Drucksache 17/9591 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 436 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEntlassung des Bundesumweltministers undHandlungsfähigkeit der BundesregierungIch eröffne die Aussprache und erteile das WortJürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächstan dieser Stelle noch einmal herzlichen Glückwunsch anHerrn Altmaier! Ich wünsche Ihnen eine glücklicheHand. Ich wünsche dem Bundesumweltministerium ei-nen Minister, der die Umwelt zu seinem Herzensanlie-gen macht.
Unabhängig vom Wettstreit der Parteien braucht diesesLand nämlich ein starkes Umweltministerium.
Ich sage das gerade vor dem Hintergrund der Entlas-sung von Herrn Röttgen. Er sollte – wir haben ja ebeneinen Vorgeschmack auf den Parteitag der NRW-CDUerlebt – für Frau Merkels elfte Wahlniederlage in Seriegeopfert werden. Man muss sich das vor Augen halten:Frau Merkel hat zum zweiten Mal innerhalb von 20 Mo-naten eine Wahl im bevölkerungsstärksten Land derBundesrepublik Deutschland verloren. Mit dem Raus-wurf Ihres vormals Klügsten wollten Sie eine Brand-mauer ziehen. Aber genau dadurch haben Sie den Um-stand, dass das Ihre Niederlage ist und dass Sie dieWahlverliererin sind, unübersehbar gemacht.
Wir haben keine Begründung dafür gehört, warumHerr Röttgen gefeuert worden ist. Das macht die Kanzle-rin nicht selbst. Herr Gröhe attestiert ihm lieber per FAZ
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21505
Jürgen Trittin
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fehlende Durchsetzungskraft, und Herr Strobl sagt, HerrRöttgen hätte nicht mehr die Autorität gehabt, um dieEnergiewende durchzusetzen. Meine Damen und Her-ren, ich frage: Autorität im Kabinett Merkel? SchauenSie sich das Kabinett doch einmal an!Herr Westerwelle fliegt nach seinem Amtsantritt indie Türkei und sagt dort, er wolle den Beitrittsprozessfortsetzen. Das sage er nicht als seine eigene Meinung,sondern für die ganze Regierung, ansonsten käme er inkurzen Hosen daher. Daraufhin erklären Frau Merkelund Herr Seehofer: Das gibt es nicht. Es gibt nur eineprivilegierte Partnerschaft. Herr Westerwelle erklärt dieBermudashorts wahrscheinlich zur Dienstbekleidung.Frau Schröder ist eine echte Autorität in SachenGleichstellungspolitik.
Sie hat das so gut im Griff, dass die Frauen in der CDU/CSU beginnen, sich gegen sie zu organisieren. FrauSchröder hat es mittlerweile geschafft, dass FriedeSpringer sich mit Renate Künast gegen sie verbündet. Soweit ist es mit der Autorität in der Frauenpolitik gekom-men.
Zur Bildungsministerin, Frau Schavan: Sie ist, wasdie Exzellenzinitiative an unseren Universitäten angeht,mittlerweile eine echte Autorität. Ich glaube, dass FrauSchavan nicht mit Herrn zu Guttenberg gleichzusetzenist. Davon bin ich persönlich überzeugt. Eines aber sageich Ihnen: Je länger Sie diese Affäre schlurren lassenund dazu schweigen, umso schlechter ist das für denWissenschaftsstandort Deutschland.
Zur industriepolitischen Autorität des Wirtschafts-ministers wollen wir hier kein Wort verlieren. Wir sindja nicht bei Markus Lanz.Was bleibt als Fazit? Autorität ist im Kabinett Merkelkeine Eignungsvoraussetzung. Nun kann man sagen, dieBundeskanzlerin habe dies gemacht, damit sie selbststärker erscheine. Was ist aber mit ihrer Autorität?Was ist mit der Debatte zwischen Herrn Friedrich undFrau Leutheusser-Schnarrenberger zur Vorratsdatenspei-cherung? Wann wird diese Regierung diesen Konfliktendlich lösen?
Wie war das mit dem Plattmachen der Photovoltaik-industrie? 90 000 Arbeitsplätze sind in Gefahr. Wo wardie Autorität? – Ach, das war von Frau Merkel beabsich-tigt. Sie wollte das. Wenn sie das gewollt hätte, dannfrage ich: Wo bitte war ihre Autorität gegenüber denCDU-Ministerpräsidenten? Wann hat es das in den letz-ten Jahrzehnten gegeben, dass der Bundesrat bei einemnicht zustimmungspflichtigen Gesetz mit einer Zweidrit-telmehrheit eine Vorlage der Koalition in den Vermitt-lungsausschuss schickt? Frau Merkel, auf Sie und IhreRegierung hören Ihre eigenen Leute schon lange nichtmehr.
Gestern in Brüssel waren Sie in der Frage der Finanz-und Wirtschaftspolitik wieder in der Minderheit. Waswar heute eigentlich geplant? Heute sollte hier im Hauseüber den Europäischen Stabilitätsmechanismus abge-stimmt werden. Für diesen gibt es hier im Haus eineMehrheit. Wir hätten sofort darüber abstimmen können.Warum wird darüber nicht abgestimmt? Darüber wirdnicht abgestimmt, weil Frau Merkel in den eigenen Rei-hen keine Mehrheit hat und weil ihr die Gauweilers unddie Schäfflers auf der Nase herumtanzen.
Deswegen wurde dieses Thema von der Tagesordnungabgesetzt.
Ihnen fehlt die Autorität, um sich selbst gegen solcheLeute durchzusetzen.Frau Merkel hat die Entlassung von Norbert Röttgenmit dem Satz begründet: Es geht um mich. – Deshalbwurde sie autoritär. Doch damit hat sie nur ihren Autori-tätsverlust offenbart. „Jetzt geht es um mich“; mankönnte sagen: Wie wahr.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Herr Präsident, ich komme mit diesem Satz zum
Schluss: Es geht nicht um Frau Merkel. Es geht um un-
ser Land; und für unser Land ist es schlecht, eine Kanz-
lerin zu haben, die in den eigenen Reihen und in Europa
über keinerlei Autorität mehr verfügt.
Das Wort hat nun Marie-Luise Dött für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Um zunächst einmal zur Beruhigung der Oppositionbeizutragen: Ja, die Handlungsfähigkeit der Bundes-regierung ist gegeben, auch die der sie tragenden Koali-tionsfraktionen.
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21506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Marie-Luise Dött
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Jeder, der Peter Altmaier kennt, weiß, dass wir mit ihmnicht nur einen versierten Politikprofi als Umweltminis-ter haben.
Peter Altmaier ist insbesondere bekannt für seine Durch-setzungskraft, gepaart mit Integrität und Verlässlichkeit.
Meine Damen und Herren von der Opposition, keinePanik, der Wechsel im Amt des Umweltministers führtnicht zur Destabilisierung der Bundesrepublik Deutsch-land, wie Sie das mit dem Titel der Aktuellen Stundesuggerieren wollen.Es ist mir heute aber auch ein Anliegen, NorbertRöttgen für seine Arbeit als Umweltminister zu danken.Wir sind beim Umbau unserer Energiepolitik auf einemguten Weg. Daran hat er einen wesentlichen Anteil.
Natürlich werden wir hier weitermachen,
und zwar mit Kontinuität, Verantwortungsbewusstseinund Verlässlichkeit in allen Handlungsfeldern: Ausbauder erneuerbaren Energien, Netzausbau, Kraftwerksmo-dernisierung und -neubau, Energieeffizienz, verstärkteForschung und Entwicklung.
Wir werden die Energiepolitik so umsetzen, wie wir esim Energiekonzept festgelegt haben.Meine Damen und Herren von der Opposition, seienSie sich sicher: Wir haben für die Umsetzung unsererneuen Energiepolitik einen sehr konkreten Fahrplan fürjedes der definierten Handlungsfelder.
Hier ist auch die Opposition in besonderem Maße gefor-dert, verantwortlich und konstruktiv mitzugestalten;denn die Energiewende wird nur gelingen, wenn wir siegemeinsam voranbringen, durchaus mit kontroversenDiskussionen und intensiven politischen Auseinander-setzungen. Aber am Ende werden wir alle am Erfolg ge-messen.Die Rollenverteilung, dass die Regierung auf demSpielfeld ist und die Opposition von der Tribüne aus me-ckert oder bestenfalls gute Ratschläge erteilt, funktio-niert bei der Energiepolitik nicht.
Um im Bild zu bleiben: Sie können nicht ständig imBundesrat den Ball ins Aus schießen und sich anschlie-ßend über Spielverzögerungen beschweren.
Sie als Opposition müssen bei der Energiewende end-lich auch bereit sein, Verantwortung zu tragen. Da reichtes nicht, die Regierung nur zu kritisieren, ohne eigeneVorschläge auf den Tisch zu legen.
Da reicht es nicht, mehr Energieeffizienz zu fordern unddann im Bundesrat die steuerliche Förderung der Gebäu-desanierung zu blockieren.
Es ist auch nicht genug, den Ausbau der erneuerbarenEnergien zu fordern und die Novelle des EEG im Bun-desrat auflaufen zu lassen.
Beides sind Beispiele dafür, dass Sie sich gerade nichtkonstruktiv in die Energiewende einbringen wollen.
Beides sind Beispiele dafür, dass es Sie augenscheinlicheher interessiert, dass die dringend erforderlichen Pro-jekte aufgehalten werden.
Meine Damen und Herren von der SPD, hier stimmtdoch etwas in Ihrer Politik nicht, jedenfalls deshalbnicht, weil man neuerdings ständig hört und liest, wiewichtig Ihnen der Wirtschaftsstandort und die Arbeits-plätze sind.
Mit Ihrer Blockadepolitik erreichen Sie genau dasGegenteil; denn was Sie mit Ihrer Politik erreichen, liegtauf der Hand: Zeitverzug beim Umbau der Energiever-sorgung, unnötig hohe Energiekosten für die Verbrau-cher,
Investitionszurückhaltung und wirtschaftliche Unsicher-heiten für Bürger und Unternehmen, Gefährdung von
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21507
Marie-Luise Dött
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Arbeitsplätzen, vor allem bei Handwerkern und beimMittelstand.
Wenn wir die Energiewende wirklich gemeinsam alsgesamtstaatliches Großprojekt verstehen, dann beendenSie endlich diese Neinsagerei und diese Blockade umder Blockade willen.
Dafür ist eine sichere, klimafreundliche, für die Bürgerbezahlbare Energieversorgung unseres Landes zu wich-tig.
Die Energieversorgung eignet sich nicht als polittaktischeSpielwiese. Hier geht es um den WirtschaftsstandortDeutschland. Hier geht es um Millionen Arbeitsplätze.Hier geht es vor allen Dingen um die Leistungsfähigkeitunserer Sozialsysteme: Ökonomie, Ökologie, Soziales.In diesem Zieldreieck müssen wir uns bewegen.
Es geht um die Zukunft unseres Landes.Die Energiewende gelingt nur, wenn alle politischenKräfte gemeinsam und konstruktiv daran mitarbeiten. Esgilt, den Weg endlich frei zu machen für die dringend er-forderlichen Investitionen beim Ausbau der erneuerba-ren Energien, beim Bau von hocheffizienten Gas- undKohlekraftwerken und beim Bau neuer Stromleitungen,
für klare und schnelle Entscheidungen für den erforder-lichen rechtlichen Rahmen, auch im Bundesrat,
für eine ehrliche, sachliche Argumentation gegenüberden Bürgern.Die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ist ge-geben. Zeigen Sie jetzt, dass auch bei der OppositionVerantwortungsbewusstsein und Handlungsbereitschaftvorhanden sind!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Frau Kollegin Dött, das war ein starkerAuftritt.
Für die Handlungsfähigkeit heranzuziehen, dass dieOpposition blockiert, ist eine Logik, die sich einem nurerschließt, wenn man in richtig schwierigem Fahrwasserist. Das sind Sie.
Wenn Sie beispielsweise die Gefährdung der Solar-branche in Deutschland ansprechen, dann frage ich Sie:Wer hat denn den Gesetzentwurf im Bundesrat mit SPDund Grünen blockiert? Das waren Ihre Ministerpräsiden-ten, weil sie das, was Sie hier machen, unverantwortlichfinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer setzt denn Tau-sende von Arbeitsplätzen in einer wachsenden Brancheaufs Spiel? Wer hat denn die Energiewende von 2001durch einen unverantwortlichen Schlingerkurs gefähr-det? Das waren Sie, und das muss man an dieser Stelleimmer wieder betonen.
Die Kanzlerin soll in einem Gespräch gesagt haben,bevor sie dann Herrn Röttgen geschasst hat: Jetzt geht esum mich! – Ich finde, sie hat recht; denn eigentlich gehtes um sie. Sie hat nämlich die Richtlinienkompetenz. Siehätte die Möglichkeit gehabt, die Energiewende, dieRot-Grün eingeleitet hat, unter ihrer Kanzlerschaft tat-sächlich fortzuführen. Aber was hat sie gemacht? Sie hateine 180-Grad-Wende vollzogen und damit das Schiff inschwieriges Fahrwasser gebracht. Dafür hat sie die Ver-antwortung, nicht nur ein Minister.
Ich habe hier Herrn Röttgen an vielen Stellen kriti-siert. Aber ich finde es unfair, dass nur er entlassen wird.Wer auch mit hätte entlassen werden müssen, ist mindes-tens Wirtschaftsminister Rösler, der nun wirklich allesblockiert hat.
Dass sich Frau Merkel von Innovationen in der Um-weltpolitik und im Klimaschutz schon lange verabschie-det hat, ist auch heute wieder nachzulesen. Der ehema-lige Umweltminister Töpfer fordert Frau Merkel auf,endlich Farbe zu bekennen und eine der wichtigstenKonferenzen, die wir im nächsten Monat erleben wer-den, nämlich die Konferenz in Rio, zu besuchen, um da-mit ein Zeichen zu setzen. Es muss Ihnen doch zu den-ken geben, wenn gute Leute der CDU an diese Kanzlerin
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Dr. Matthias Miersch
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schon öffentliche Appelle richten. Meine sehr verehrtenDamen und Herren von der Koalition, es ist Ihre Kanzle-rin, die den Karren in den Dreck gefahren hat. Sie hatdafür die Verantwortung, kein anderer, kein einzelnerMinister.
Nun ist es so, dass ein neuer Minister natürlich eineChance verdient. Ich freue mich auf die Zusammenarbeitmit Herrn Altmaier. Ich freue mich auch auf die Einla-dung zu einem guten Glas Rotwein. Ich möchte ihmschon jetzt empfehlen: Lassen Sie es mit Herrn Rösler.Gehen Sie lieber auf die Opposition zu, weil wir die bes-seren Konzepte haben.
Weil Herr Altmaier bislang nicht als umweltpoliti-sches Schwergewicht aufgefallen ist, habe ich versucht,mich zumindest ein bisschen damit zu beschäftigen: Washat er bislang eigentlich in Sachen Umweltpolitik getan?Herr Gauck hat bei der Übergabe der Ernennungsur-kunde darauf hingewiesen, dass in Sachen Energiewendeeinige schon weiter gewesen sind. Er hat damit sicher-lich Rot-Grün gemeint, möglicherweise auch HerrnRöttgen. Aber dann bin ich auf ein Zitat von HerrnAltmaier gestoßen. Wir hatten angesichts der unverant-wortlichen Laufzeitverlängerung, mit der Sie die rot-grüne Energiewende blockiert haben, eine Geschäftsord-nungsdebatte. Am 28. Oktober 2010 hat Herr Altmaieran diesem Pult für die CDU/CSU erklärt – ich zitiere –:Wir werden heute das modernste, das umwelt-freundlichste Gesetz zur Energiepolitik, über das indiesem Haus jemals diskutiert wurde, beraten undverabschieden.Das sagte Herr Altmaier am 28. Oktober 2010 zur Lauf-zeitverlängerung.Dieses Zitat ist ein Symbol für Ihr Dilemma. DennSie haben kein Konzept. Diese Kanzlerin hat Sie in dieLaufzeitverlängerung geführt und damit den Schlinger-kurs eingeleitet, und jetzt sind Sie eigentlich eine völligheterogene Truppe.Ein Jahr Fukushima: Die Debatte können alle nachle-sen. Die Abgeordneten Paul, Fuchs und wie sie alle hei-ßen, haben gesagt: Das ist ein Betriebsunfall, der inDeutschland nicht passieren kann. – Das heißt, was Sienoch vor sich haben, ist eigentlich die Zerreißprobe inIhren Reihen, weil Sie nicht von der Energiewende über-zeugt sind, weil Sie darauf warten, dass es teilweisescheitert,
und es nur wenige sind, die tatsächlich davon überzeugtgewesen sind. Die dürfen heute nicht reden, und die ha-ben sich garantiert in den nächsten Monaten sehr vordem zu fürchten, was kommt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, wasvon den Grünen aufgeworfen worden ist, ist eine legi-time Frage. In der zentralen Frage, in der es nicht nur umÖkologie, sondern um urökonomische und soziale Ge-sichtspunkte geht, nämlich der Energieversorgung,haben Ihre Bundeskanzlerin und Schwarz-Gelb die Bun-desrepublik Deutschland in schweres Fahrwasser ge-bracht. Ich behaupte: Sie sind nicht handlungsfähig. Siehaben keine Steuerung. Sie haben keinen Kompass. Des-wegen ist die Debatte notwendig.Eigentlich wäre es an der Kanzlerin gewesen, die not-wendigen Konsequenzen zu ziehen. Sie hat es auf einenMenschen abgewälzt, der vielleicht persönliche Defizitehatte. Aber das reicht nicht aus. Sie müssen die Energie-wende richtig gestalten. Dabei werden Sie an das an-knüpfen müssen, was Rot-Grün 2001 vorgelegt hat. In-sofern freue ich mich auf die Zusammenarbeit mit demUmweltminister und hoffe, dass nicht allzu viel Zeit ver-geht, bis wir tatsächlich die Energiewende so weiterge-stalten können, wie Rot-Grün es 2001 eingeleitet hat.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion freut sich auf die Zusammenarbeitmit dem neuen Bundesumweltminister Altmaier. Er hat,glaube ich, auch in der Zusammenarbeit im Parlamentgezeigt, dass er jemand ist, der Interessen zusammenfüh-ren, Meinungen bündeln und zu Ergebnissen kommenkann. Genau das brauchen wir jetzt auch für die Energie-wende.Ich möchte an dieser Stelle allerdings auch NorbertRöttgen sehr herzlich danken, insbesondere für zweiDinge, die er in seiner Amtszeit geleistet hat. Das Ersteist, dass er sich in den Entscheidungen für die Energie-wende immer hinter die erneuerbaren Energien gestellthat, und zwar so, dass es um die erneuerbaren Energiengeht, aber auch um ihre Integration in das Energiesys-tem.Das Zweite ist – das ist, glaube ich, ein sehr persönli-ches Verdienst –: Er hat in der internationalen Klima-politik Reputation für Deutschland erworben und weiter-entwickelt. Mit seinem Verhandlungsgeschick haben wires auf der UN-Konferenz in Durban geschafft, zwischender EU und Afrika eine Allianz zu bilden, die letztend-lich den Anstoß für den Erfolg der Konferenz in Durbangegeben hat. An dieser Stelle dafür noch einmal herz-lichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21509
Michael Kauch
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Was hat diese Koalition in den letzten Jahren in derUmweltpolitik geschafft? Zunächst einmal – das hat bis-her schon die Debatte bestimmt – waren wir es, die dieEnergiewende beschlossen haben. Wir haben nämlichdas beschlossen, wovon Sie geredet haben, meine Da-men und Herren von der Opposition.
Wir sind es auch, die auf die Kosten der Energie-wende achten. Genau deshalb haben wir bei der Novelleder Solarförderung gesagt: Wenn die Weltmarktpreisesinken, dann müssen die Verbraucherinnen und Verbrau-cher in diesem Land davon profitieren. Das ist unserePolitik.Was ist Ihre Politik? Ihre Politik ist es, genau dasnicht zu tun. Sie gerieren sich als Vertreter derjenigen,die sich aufgrund erhöhter Fördersätze die Taschen voll-stopfen.
Sie sind es, die letztlich die Interessen der chinesischenSolarindustrie vertreten, die am meisten davon profitiert,dass die Fördersätze in diesem Land überhöht sind.
Tun Sie doch nicht so, als würde es bei den Fördersätzenum Arbeitsplätze in Deutschland gehen! Die deutscheSolarindustrie wird nur dann wettbewerbsfähig sein,wenn ihre Produkte – egal bei welchem Fördersatz –wettbewerbsfähig im Vergleich zu den asiatischen sind,entweder über Qualität, über den Preis oder – bessernoch – über beides. Das erreichen Sie nicht durch über-höhte Fördersätze, sondern durch kluge Innovations-und Investitionspolitik hier am Standort Deutschland.
Wir achten nicht nur auf die Kosten, sondern auch aufdie Versorgungssicherheit. Der entscheidende Punkt derEnergiewende ist, zu jeder Sekunde die Verfügbarkeitvon Energie sicherzustellen, selbst wenn der Wind nichtweht und die Sonne nicht scheint. Wir sind es, die han-deln, während Sigmar Gabriel, der Parteivorsitzende derSPD, vorgestern mit bebender Stimme und großemUnschuldsblick dem deutschen Fernsehpublikum er-klärt, statt zehn gebe es nun hundert Eingriffe in dasStromnetz pro Jahr; das sei ganz schlimm und gefährdeden Industriestandort Deutschland. Meine Damen undHerren von der SPD, wollen Sie die Kernkraftwerkewieder anschalten? Tun Sie doch nicht so, als hätten Siedagegen gestimmt, dass die Kernkraftwerke abgeschaltetwerden!
Tun Sie doch nicht so, als hätte das eine nichts mit demanderen zu tun! Wir schalten doch die Kernkraftwerkeaus gutem Grund ab. Aber man sollte ehrlich sein unddarf nicht so tun, als hätte man damit nichts zu tun. Wirmüssen gemeinsam für Versorgungssicherheit sorgen.Das bedeutet, dass wir und Sie die Verantwortung fürneue Gaskraftwerke und Kohlekraftwerke haben
und vor allen Dingen dafür, dass unsere Stromnetze end-lich so ausgebaut werden, dass der Windstrom aus demNorden zu den bayerischen Konsumenten transportiertwerden kann. Die Anlagen dürfen nicht abgeschaltetwerden, weil der Strom nicht transportiert werden kann.
Die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern, insbe-sondere in Thüringen, sind hier ebenfalls gefordert. Dawir gerade bei den Ländern sind – das ist mein letzterPunkt, Herr Präsident –, sollten wir uns die Realität ge-nau anschauen. Die Grünen fordern hier im DeutschenBundestag – gestern erneut – die Erhöhung des Klima-schutzziels auf 30 Prozent. Aber in den Ländern, indenen sie regieren – in Baden-Württemberg und Nord-rhein-Westfalen –, haben die Grünen die Klimaschutz-ziele abgesenkt, und zwar in Baden-Württemberg von 30auf 25 Prozent mit der Begründung, man steige ja ausder Kernkraft aus. Das ist die Lebenslüge der Grünen andieser Stelle. Man kann im Bund nicht immer mehr for-dern und gleichzeitig in den Ländern den Klimaschutzherunterfahren. Das ist die Realität in diesem Land.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich hatten wir eine Aktuelle Stunde an prominen-ter Stelle zu dem unsäglichen Vorgehen der FrankfurterBehörden und Polizei gegen die Occupy-Proteste amletzten Wochenende beantragt. Leider hat die Koalitionselbst eine Aktuelle Stunde beantragt. Deshalb findetunsere am Freitag, um 16 Uhr, statt, und zwar außerhalbder Fernsehzeiten.
Ob gut oder schlecht, jetzt wenden wir uns dem auf-regenden Thema eines Ministerwechsels zu. Er ist voll-zogen. Wie man hört, soll Herr Röttgen am Dienstag inSchloss Bellevue sehr entspannt geschaut haben. Nunstellt sich die Frage: War er nicht vielleicht froh, dieserKnochenmühle entkommen zu sein, in der jeglicherumweltpolitische Fortschritt gegen den Widerstand derBetonfraktion im Wirtschaftsministerium durchgesetztwerden muss? Da ist natürlich einiges stecken geblieben– wir haben es schon gehört –, was schon längst hätteangegangen werden müssen. Oder war es eher die Über-zeugung, dass der Rauswurf auch der Bundeskanzlerinschaden wird, die Norbert Röttgen als Umweltminister
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21510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Eva Bulling-Schröter
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im Regen hat stehen lassen und bis heute das Mammut-projekt Energiewende eben nicht zur Chefsache gemachthat?Wie dem auch sei, Frau Merkels Entscheidung könnteuns eigentlich egal sein, wenn sie nicht dokumentierenwürde, welchen Stellenwert die Umwelt- und Energie-politik bei der Union gegenwärtig hat.
Denn klar ist doch, bei allem Respekt vor HerrnAltmaier: Jetzt wegen persönlicher Befindlichkeiten diePferde zu wechseln, heißt zunächst nichts anderes alsStillstand bei der Energiewende.
Der neue Umweltminister mag ja klug, offen und nettsein – überdies kocht er gut, wie ich gelesen habe –, aberum die Knackpunkte beim EEG, dem Emissionshandel,der Netzarchitektur oder dem Speicherausbau zu begrei-fen, bedarf es einer Anlaufzeit. Die muss man jedemgeben. Ansonsten beherrschen die Beamten oder dasWirtschaftsministerium den ganzen Ablauf. Das kennenwir. Beides halte ich für sehr hinderlich.
Wir Linke sind allerdings auch skeptisch, wenn es umsogenannte Profis bei Union und FDP geht. Da kommtdann so etwas wie die AKW-Laufzeitverlängerung oderdas Asse-Chaos heraus. Insofern macht es vielleicht garkeinen Unterschied, da am Ende die großen Energiekon-zerne und die Industrie sowieso ihren Fuß in der Türhaben. Das sieht man etwa an den großzügigen Befrei-ungen beider von den Kosten der Energiewende. Abervielleicht setzt Peter Altmaier hier andere Zeichen. Seineinziges mir bekanntes umweltpolitisches Engagementwar im Umweltausschuss ein leidenschaftliches Plädo-yer für die AKW-Laufzeitverlängerung und am nächstenTag seine Pressekonferenz.Das ist Geschichte. Jetzt ist meine Frage: Was erwar-ten wir denn von dem Umweltminister? Zunächst mussdie letzte Novelle des EEG vom Tisch.
Das Signal, dass der Ausbau gedeckelt und die Vergü-tungen zusammengestrichen werden, trägt nicht dazubei, die Solarwirtschaft in Ostdeutschland weiterzufüh-ren. Sie haben sie vielmehr plattgemacht. Im Gegenzugkönnen einige Privilegien gestrichen werden, die dieenergieintensive Industrie beim EEG genießt. Dafür zah-len die anderen Stromkunden schließlich zusätzlich.Wenn sich die FDP einmal um die Hartz-IV-Empfängerkümmert, wird die Großindustrie von ihr bedient.Was wir brauchen, ist eine soziale Energiewende. Wirmüssen Energiearmut verhindern, statt Stromfresserdafür zu belohnen, dass sie viel Strom verbrauchen.Noch einmal die Zahlen: 900 000 Verbraucher bekom-men keinen Strom mehr. Wir sollten uns dafür starkmachen, dass die Energiearmut endlich aufhört.
Unterstützen Sie den dezentralen Ausbau der erneuerba-ren Energien auch im Süden Deutschlands! Dann brau-chen wir weniger Netze. Verhindern Sie, dass die Gas-kraftwerke vom Netz genommen werden, was dieUnternehmen jetzt wollen! Wir brauchen eine Energie-effizienzpolitik. Die Blockade bei der EU muss endlichbeendet werden. Wir brauchen mehr Geld, um überSpeichertechnologien zu forschen und um sie in denMarkt einzuführen.Zum Schluss noch: Klimapolitik muss einem zukünf-tigen Umweltminister am Herzen liegen. Das heißt, dassdas EU-Klimaziel auf 30 Prozent festgelegt werdenmuss. Das ist dringend notwendig. Das erwarte ich voneinem ambitionierten Umweltminister. Und: Lassen Siesich nicht ununterbrochen, wie der frühere Umwelt-minister, vom Wirtschaftsministerium vorführen!
Das Wort hat nun Reinhard Grindel für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Trittin, Sie haben über Autoritäten gespro-chen. Ich habe mich gefragt, wer denn die Autorität beiden Grünen ist. Nach Ihrer Rede muss ich sagen: Ichvermute sie nicht in der grünen Bundestagsfraktion, son-dern schon eher in Baden-Württemberg beim Minister-präsidenten Winfried Kretschmann, der nach dem Bund-Länder-Gespräch zur Endlagersuche gesagt hat – ich zi-tiere –:Man muss nationale Verantwortung übernehmenund nicht in taktischen Spielchen verharren.
Mit dieser Aktuellen Stunde haben Sie die Abteilung„taktische Spielchen“ bedient. Dieses kleine Karo wirdder Größe der Herausforderung, um die es hier geht,nicht gerecht, Herr Kollege Trittin.
– Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Herr KollegeTrittin, ich glaube, dass Sie nach dem gestrigen Tag ein-fach nicht auf der Höhe der Zeit sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21511
Reinhard Grindel
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Ich glaube, dass wir in diesem Haus – gerade beieinem so wichtigen Projekt wie der Energiewende, beider wir die Menschen, denen wir dabei einiges abverlan-gen, mitnehmen müssen – eines erkennen müssen: Ge-genseitige Schuldzuweisungen, wie Sie sie heute wiederprobiert haben, bringen keine politischen Gelände-gewinne, sondern werden dazu führen, dass die Men-schen generell das Vertrauen in die Handlungsfähigkeitder Politik, nicht nur einzelner Parteien, verlieren, weilwir alle irgendwo, im Bund und in den Ländern, Regie-rungsverantwortung tragen. Deswegen erwarten dieMenschen, dass wir jetzt die Phase des Miesmachensverlassen und in die Phase des Mitmachens einsteigen,um die Energiewende kraftvoll weiter voranzutreiben.
Wissen Sie, Herr Kollege Trittin, ich finde den Stilder Auseinandersetzung schon problematisch. PeterAltmaier hatte als neuer Umweltminister noch nicht ein-mal seine Ernennungsurkunde in der Hand, geschweigedenn Gelegenheit, erste Entscheidungen im Amt zu tref-fen, da haben ihm grüne Politiker auf Bundesebene oderauch in meinem Heimatland Niedersachsen schon wahl-weise die Qualifikation oder den guten Willen abgespro-chen.
Ich sage Ihnen deutlich: Die Bürger wollen dieseForm der Auseinandersetzung nicht. Sie haben überflüs-sigen Parteienstreit satt. Sie wollen, dass wir Problemelösen. Deshalb bin ich ausdrücklich dem KollegenUlrich Kelber dankbar, dass er gestern Peter Altmaierbescheinigt hat, er wolle die Energiewende wirklich.
Zum Mindestmaß an politischer Kultur gehört, dass maneinen neuen Minister erst einmal im Amt anfangen underste Entscheidungen treffen lässt, bevor man allesmadig macht.
Bundespräsident Joachim Gauck hat bei der Minister-ernennung am Dienstag gesagt:Ich wünsche mir, dass die Verantwortlichen ge-meinsam handeln, um das gesetzte Ziel zu errei-chen.Die Energiewende ist das große Zukunftsprojekt, dasnur gelingt, wenn endlich aufgehört wird, nur auf Einzel-interessen zu schauen und nicht das große Ganze in denBlick zu nehmen. Es gelingt nur, wenn jeder auf seinerVerantwortungsebene tatsächlich die Verantwortungwahrnimmt. Deswegen sage ich mit Blick auf die Grü-nen, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben: Es darfeben nicht sein, dass der Netzausbau von den Grünen aufBundesebene als zu schleppend kritisiert wird, aber dieMitglieder der gleichen Partei vor Ort, wo die Netzinfra-struktur entstehen soll,
bei der Verhinderung des Netzausbaus populistisch anvorderster Front kämpfen.
Das sind die „taktischen Spielchen“, vor denen WinfriedKretschmann zu Recht gewarnt hat und mit denen wirnicht weiterkommen.Es ist wahr: Rot-Grün hat zusätzliche Macht im Bun-desrat bekommen. Macht hat aber etwas mit „Machen“zu tun, nicht mit „Blockieren“. An Machtspielen imBundesrat haben vielleicht einige Politikinsider Inte-resse. Aber die breite Masse der Bevölkerung will dasnicht; sie will, dass wir unsere Verantwortung wahrneh-men. Wenn wir das nicht tun, dann werden sich die Men-schen eben nicht von einzelnen Parteien, sondern vonder Politik insgesamt abwenden. Das dürfen wir nichtzulassen. Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dassPeter Altmaier jetzt gesagt hat, es gehe darum, Ge-sprächsblockaden zu durchbrechen und für einen neuennationalen Konsens zu werben, damit die Energiewendegelinge. Das ist genau das, was die Menschen jetzt vonuns erwarten.Beim Bundesumweltminister muss man nicht nur im-mer gut zuhören, was er sagt, sondern auch genau hin-sehen, was er twittert. Seine erste Botschaft im Amtlautete: „Auf geht’s an die Arbeit!“ Dabei, Frau Staatsse-kretärin, wünschen wir dem neuen Minister viel Erfolgund alles Glück. Unsere Fraktion steht geschlossen hin-ter ihm.
Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Zur Entlassungvon Bundesminister Röttgen fiel mir eine Geschichteein.
Ja. – Können Sie sich noch an die Geschichte vomHans Guck-in-die-Luft aus dem Struwwelpeter-Buch er-innern? Können Sie sich auch noch an die Reden desNorbert Röttgen Guck-in-die-Luft dieses Jahres im Bun-destag erinnern, als es um die Förderung der Solarener-gie ging?
Den Blick wirklich auf den Himmel gerichtet, liefHans Guck-in-die-Luft zur Schule, hat überhaupt nichtmehr auf seine Umwelt geachtet und hat auch überhauptnicht gesehen, dass da ein Hund kam, der ihm zwischendie Beine lief.
Herr Röttgen, so muss man sagen, hat noch im Märzdieses Jahres hier im Bundestag darüber geredet und sich
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21512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Waltraud Wolff
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selbst dafür gelobt, dass er den Aufschwung der Solarin-dustrie in Deutschland organisiert habe. Keine zwei Mo-nate später waren Q-Cells und Sovello pleite, war FirstSolar in Frankfurt so weit, dass es die Türen ganzund gar zugesperrt hat und aus Deutschland weggeht.
Meine Damen und Herren, Hans Guck-in-die-Luft,der hatte großes Pech, er ist nämlich ins Wasser gefallen;aber der Junge ist gerettet worden, er ist herausgezogenworden. Er hatte jemanden, der gerufen hat: Pass auf! Dakommt ein Hund. – Norbert Röttgen hatte viele Warner,nämlich nicht nur uns als Opposition, sondern auchCDU-Ministerpräsidenten. Doch sämtliche Warnungenwaren vergeblich. Norbert Guck-in-die-Luft
– genau so ist es – richtete den Blick zum Himmel, träu-mend, und er träumte immer weiter.
Was hat inzwischen der Bundesrat getan? Der Bundesrathat inzwischen den Vermittlungsausschuss angerufen,weil er sich die Kürzungsorgie dieses Ministers nicht ge-fallen lassen wollte.
Meine Damen und Herren, der Hund in unserer Ge-schichte hat den Hans umgerannt; aber der hat sich danngeschüttelt, ist aufgestanden und weitergelaufen. Aberob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bitter-feld oder in Frankfurt sich so schnell schütteln,aufstehen und wieder eine Arbeit finden, das bezweifeleich zutiefst.Weder Hans Guck-in-die-Luft noch Norbert Guck-in-die-Luft haben Konsequenzen aus ihrem Handeln gezo-gen. Herr Röttgen hat das zu spüren bekommen. Er istnämlich mit seiner Politik in Nordrhein-Westfalen badengegangen. Aber warum hat ihm denn keiner aus demWasser geholfen?
Ganz einfach: Frau Merkel hatte Angst, ihm die Hand zureichen, weil sie befürchtete, selber ins Wasser zu fallen.Dieser Bundesminister ist mit dem Stillstand seiner Poli-tik doch zum Problem der ganzen Bundesregierung ge-worden.
Deshalb konnte Frau Merkel ihm die Hand nicht reichen.Aber dass man in einem solch verzerrten Markt wiedem für Solarmodule etwas tun kann, das haben dieUSA gezeigt. Sie haben nämlich Schutzzölle eingeführt.Ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass auch meinMinisterpräsident, Herr Haseloff, auf dem Energiegipfeldie Einführung von Schutzzöllen gefordert hat. MeineDamen und Herren, schließlich und endlich kommenauch Sie dazu, hier nachzudenken und etwas für dieEnergiewende zu tun.
Herr Röttgen und Herr Rösler allein tragen die Ver-antwortung für den Abbau der Arbeitsplätze in Ost-deutschland.
Die beiden tragen allein die volle Verantwortung dafür,dass die Energiewende ausgebremst worden ist. Sie tra-gen auch die volle Verantwortung dafür, dass kaumEnergie eingespart wird und dass wir zugleich mitsteuerfinanzierten Heizkostenzuschüssen die Renditenvon Öl- und Gasversorgern sichern. Auch das gehört zurWahrheit.
Aber wir brauchen eine Energiewende. Wir brauchenEnergieeffizienz, und wir brauchen zum Beispiel einWohnungssanierungsprogramm, durch das zum einenEnergie eingespart wird und durch das zum anderen Ar-beitsplätze gesichert werden. Das nenne ich arbeitneh-merfreundlich. Das nenne ich klimafreundlich, und dasnenne ich sozial.
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat dieBundesregierung endlich aus ihren Träumen gerissen.Sie hat erkannt, dass Norbert Guck-in-die-Luft nicht derMotor der Energiewende war, sondern die Bremse. Des-halb, meine Damen und Herren, ist nicht Herr Röttgenaus dem Wasser gezogen worden, sondern HerrAltmaier.
Ich möchte enden mit einem Zitat vom ehemaligenMinister Norbert Röttgen:Wer nicht anpassungsfähig ist und wer den Struk-turwandel nicht gestaltet, der wird sein Opfer.Wie wahr, Herr Röttgen! Wie wahr!Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21513
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Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sie sehen es mir bittenach, wenn ich jetzt nicht noch ein Märchen erzähle, sowie es Frau Wolff eben getan hat, sondern versuche, einpaar Argumente zu bringen.
Spannend fand ich zum einen, dass Sie den Stromkos-tenzuschuss für die Ärmsten der Armen abschaffen wol-len. Das war schon einmal eine hochinteressante Infor-mation. Dieser ist übrigens nötig, weil wir derPhotovoltaik zu hohe Renditen ermöglicht haben. Des-wegen ist nämlich der Strompreis gestiegen, und deswe-gen können sich die Leute, die am wenigsten verdienen,den Strom nicht mehr leisten. Aber das scheint Sie nichtzu interessieren.
Zum anderen fand ich es interessant, dass Sie gerneSchutzzölle einführen wollen. So würden auch die Mo-dule aus China deutlich teurer werden, und damit würdeder Preis für die Photovoltaik in Deutschland noch ein-mal steigen. Das wäre dann schlussendlich wohl die so-ziale Politik, wie sie sich die SPD und die MärchentanteFrau Wolff vorstellen. Herzlichen Dank! Ich glaube, da-rauf kann die deutsche Bevölkerung gut verzichten.
Sollte es wirklich so gewesen sein, dass allein die An-kündigung vom geschätzten Kollegen Röttgen dazu ge-führt hat, dass sofort, von einer Sekunde auf die nächste,die gesamte Branche in Ostdeutschland zusammenge-brochen und pleitegegangen ist? Das kann ich mir nichtvorstellen.
Ich glaube vielmehr, dass es daran liegt, dass diese Un-ternehmen einfach nicht so produziert haben, dass sie iminternationalen Wettbewerb mithalten konnten.
Könnte es unter Umständen sein, dass deswegen Firmenwie Solon oder Solar Millennium pleitegegangen sind,lange bevor man überhaupt daran gedacht hat, die Ein-speisevergütungen zu senken?
Geben Sie zu, dass auch Ihre Kollegen im Umweltaus-schuss, Herr Kelber – gehen Sie einmal dahin! –, derHerr Becker und andere, darauf hingewiesen haben, dasseine Kürzung absolut gerechtfertigt ist! Auch ohne Kür-zung wären die Firmen pleitegegangen. Hätten wir dieEinspeisevergütung erhöhen sollen, sodass der Preis proKilowattstunde nicht von 3,5 auf 5 Cent, sondern viel-leicht auf 7 Cent gestiegen wäre mit den entsprechendenFolgen für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkom-men? Ich glaube nicht, dass das sozial gerecht ist.
Ich glaube auch nicht, dass so etwas eine deutsche In-dustrie nach vorn bringt, wenn sie nicht wettbewerbsfä-hig ist. Sie muss innovativer sein. Sie muss neue Ideenentwickeln. Sie muss sich über Speichertechnologienund Joint Ventures Gedanken machen.
– Ich will keine Schutzzölle.
Sie können in Bonn Ihre Unternehmer unterstützen,wenn Sie versuchen, mit Amerika Schutzzölle zu errei-chen.
Sie können aber vergessen, dass Sie von der Bundesre-gierung zusätzliche Schutzzölle auf chinesische Pro-dukte bekommen. Das ist doch lächerlich! Wir wollen jaauch Autos und Hightech nach China verkaufen.
Sollen uns die Chinesen dann etwa sagen: „Wir wollenkeine Audis, BMWs und Mercedes mehr, weil wir mitunseren chinesischen Autos am Markt nicht mithaltenkönnen“? Wenn das Ihre Wirtschaftspolitik ist, wundertmich nicht, warum Sie in den letzten Jahren so erfolgloswaren
und warum Sie nichts dazu beigetragen haben, dass wirim Bereich der Erneuerbaren wirtschaftspolitisch nachvorn gekommen sind.Die größte Verlogenheit ist natürlich bei den Kollegenvon den Grünen, die jetzt so tun, als hätten sie besondersviel gemacht. Ist es etwa so gewesen, dass von 1998 bis2005 in der rot-grünen Bundesregierung alle Vorberei-tungen für die Energiewende getroffen wurden und mandann 2005 oder 2009 auf einmal gebremst hat und daseinfach nicht weiterverfolgt hat? Oder war es vielleichtso, dass nichts passiert ist?
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21514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Horst Meierhofer
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War es vielleicht so, dass man sich keinerlei Gedan-ken über den Netzausbau gemacht hat, dass man sichkeinerlei Gedanken über eine Beschleunigung des Netz-ausbaus gemacht hat,
dass man sich keinerlei Gedanken darüber gemacht hat,wie man eine Endlagersuche so hinbekommt, dass allemitmachen, und dass man sich keine Gedanken darübergemacht hat, wie man beispielsweise Gaskraftwerke ineiner Phase ans Netz bekommt, wo der Anteil der Erneu-erbaren steigt?Jetzt können Sie damit argumentieren, dass Ihre Poli-tik in Sachen Erneuerbare nie so ambitioniert war wieunsere. Sie wollten bis zum Jahr 2020 ja nur einen Anteilder Erneuerbaren von 20 Prozent erreichen.
Wir haben das bereits im Jahr 2011 geschafft. Ich willIhnen etwas zugutehalten: Wenn man so langsam voran-schreitet wie Sie, braucht man sich nicht so viele Gedan-ken zu machen.Nachdem wir jetzt aber den Turbo angeworfen habenund wirklich extrem beschleunigt haben, nachdem wirextrem schnell den Anteil von 20 Prozent erreicht haben,übrigens auch noch sehr viel ambitioniertere Zielvorga-ben für die Zukunft haben, müssen wir ernsthaft versu-chen, endlich eine Lösung zu finden. Dazu gehört nichtnur, dass man sagt: „Ihr dürft die Photovoltaik-Vergü-tung nicht so stark reduzieren“, sondern dazu gehörtauch die Antwort auf die Frage, wie man die Erneuerba-ren integriert. Dazu gehört auch die Antwort auf die Fra-gen: Wie transportieren wir den Strom? Wie schaffen wirein internationales Netz? Wie schaffen wir es, dass zu je-der Zeit Versorgungssicherheit besteht?
Ich hoffe und setze da eben auch auf den KollegenAltmaier, dass die Zusammenarbeit zwischen Wirt-schafts- und Umweltministerium einen weiteren Schubbekommt und noch sonniger wird, als sie in der Ver-gangenheit war. Ich glaube, dass wir damit tatsächlichreüssieren können und das erreichen, was Sie in IhrerRegierungszeit sieben Jahre lang vollkommen verschla-fen haben. Nichts davon haben Sie nämlich umgesetzt!
Im Jahr 2003 gab es beispielsweise einen Antrag derFDP-Fraktion, dass man sich ernsthafte Gedanken überSpeicherförderung für Energiespeicher machen solle.Kollegin Flach war hier federführend. Abgelehnt. KeinEuro ist hier investiert worden.
Wir wollten dafür 12 Millionen Euro im Haushalt ein-stellen. Das ist natürlich abgelehnt worden. Im Jahr 2011haben wir 240 Millionen Euro für Speicher- und For-schungsprogramme zusätzlich zur Verfügung gestellt.Das ist das Entscheidende. Wenn man nichts investiertund nichts tut, sondern immer nur eine Blockadehaltungeinnimmt, dann wird man nichts erreichen. Das müsstenSie langsam einsehen.Das sieht man auch hervorragend bei der Gebäude-sanierung. Hier zeigt man mit dem Finger auf andere,aber selbst ist man nicht bereit, einen Beitrag zu leisten.Wären Sie ehrlich genug, würden Sie zugeben, dass dieEnergiewende von der Bundespolitik nicht allein gelöstwerden kann, sondern auch die Kommunen und die Län-der mithelfen müssen. Es darf dann auch keine Rollespielen, wer in einem Land Schutzzölle fordert odernicht. Alle 16 Bundesländer müssen vielmehr bereitsein, hier anzufassen.
Wir werden den CO2-Ausstoß nicht reduzieren, wennwir die Gebäudesanierung nicht voranbringen. Auch Siewerden die Ziele der Gebäudesanierung nicht erreichenkönnen, wenn Sie nicht bereit sind, dafür Geld in dieHand zu nehmen, Frau Höhn. Ich glaube, an diesemPunkt haben Sie viel verschlafen.Es geht Ihnen vor allem darum, uns keine Erfolge zugönnen. Deshalb kommen wir nicht so vorwärts, wie wires wollten. Wir haben einiges erreicht. Auch ich darfmich bei Herrn Röttgen bedanken. Ich hoffe, dass sichHerr Untersteller mit seiner Position, weniger ambitio-niert voranzugehen, nicht durchsetzt, obwohl er sogarvon den Umweltverbänden unterstützt wird.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – Sogar der BUND in Ba-
den-Württemberg hat, als der Herr Untersteller die Ziel-
vorgabe zur Reduzierung von Treibhausgasen von 30 auf
25 Prozent gesenkt hat, gesagt, dass das, was die grün-
rote Landesregierung macht, absolut glaubwürdig sei.
Das ist nicht unsere Art.
Herr Kollege.
Ich wünsche Herrn Altmaier alles Gute. Ich freue
mich auf die Zusammenarbeit. Sie werden sich wundern,
was wir in den nächsten eineinhalb Jahre noch alles er-
reichen werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Bärbel Höhn für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21515
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jelänger ich mir diese Debatte anhöre, desto mehr kommeich zu der Überzeugung, dass es richtig war, dass wirdiese Aktuelle Stunde aufgesetzt haben.
Diese Debatte macht nämlich deutlich, dass Sie mit allenTricks versuchen, von dem Problem, das wir haben, ab-zulenken. Das Problem ist, dass die Energiewende, dievor knapp einem Jahr beschlossen worden ist, grandiosan die Wand gefahren worden ist, Sie also ein Jahr langnichts gemacht haben.
Das müssen wir hier problematisieren.
Zu Beginn dieser Debatte hat Frau Dött gesprochen.Doch Frau Dött ist – das wissen alle – die personifizierteBlockade im Umweltausschuss. Diese Rednerin bringenSie hier also als erste.
Dann kommt Herr Kauch mit seiner Platte, die wir hierzum 748-ten Mal gehört haben.
Und Sie, Herr Grindel, sagen erst, dass alles, was dieGrünen machen, Ideologie sei, und dann, dass das ei-gentliche Problem, warum die Energiewende nicht zu-stande kommt, die Bürgerinitiativen seien, die sich ge-gen den Netzausbau wehren. Das, Herr Grindel, istebenfalls Ideologie, das ist kein konstruktiver Beitrag zudieser Debatte.
Wenn schon, dann messen Sie sich an dem, was Sie sel-ber von den anderen fordern.
– Man merkt, wie aufgeregt Sie sind und dass wir mitunserem Antrag ins Wespennest gestochen haben.Herr Meierhofer, Sie werfen uns dann vor: Sie habensieben Jahre nichts gemacht. – Erinnern wir uns einmalan die Zeit, als das Erneuerbare-Energien-Gesetz verab-schiedet wurde: Wer hat damals dagegen gestimmt? Daswaren die FDP und die CDU/CSU. Sie haben alles ge-tan, um den Aufbau der erneuerbaren Energien zu blo-ckieren.
Sie sprachen außerdem von den Netzen. HerrMeierhofer, ich erinnere mich daran, dass der damaligeUmweltminister Trittin ein Netzbeschleunigungsgesetzeingebracht hat. Wer hat es im Bundesrat verhindert?Die Mehrheit von CDU, CSU und FDP im Bundesrat.
Das ist die Wahrheit, und darüber müssen wir reden.
Der eigentliche Punkt ist doch: Norbert Röttgen istzwar weg, aber Sie stecken in einer Sackgasse und habenenorme Probleme. Wie ist es denn um die deutsche So-larwirtschaft bestellt? Durch rücksichtslose und übertrie-bene Kürzungen wird sie an den Rand des Ruins ge-drängt. Das ist doch Ihre Verantwortung. SelbstMinisterpräsidenten von CDU und CSU sind auf unsererSeite, weil sie sehen, dass es so nicht geht.
Woran liegt es, dass die Errichtung neuer Windparksstockt? Das ist doch Ihre Verantwortung. Das Gleichegilt, wenn der Ausbau von Netzen und Speichern nichtausreichend vorankommt.Dann gab es gestern den Energiegipfel bei der Kanz-lerin. Das war wirklich der Gipfel! Vor einem Jahr habenwir die Energiewende verabschiedet. Dann veranstaltetdie Kanzlerin einen Gipfel. Was passiert dort? Es wirdgeredet. Da sagt der Ministerpräsident, den Sie eben zi-tiert haben:
Nach einem Jahr werden hier immer noch keineBeschlüsse gefasst. Ich bin enttäuscht. – Das hat HerrKretschmann gesagt, Herr Grindel, nicht mehr und nichtweniger.
Wenn Sie nach einem Jahr nichts weiter vorweisenkönnen, als miteinander geredet zu haben und weitereGespräche vereinbart zu haben, dann ist das zu wenig.Denn irgendwann einmal muss man nach den ganzenReden auch Entscheidungen treffen und die Sache vo-ranbringen.
Das schaffen Sie nicht!
Und dann noch etwas – darauf haben mich die Baden-Württemberger angesprochen –: Wissen Sie, HerrMeierhofer, warum die Umweltverbände in Baden-Württemberg dem grünen Umweltminister sagen: „Es istwichtig, dass Grün-Rot die Klimaschutzziele reduziert“?
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21516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Bärbel Höhn
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Weil Ihr Vorgehen, nämlich nichts für den Klimaschutzzu tun, aber hehre Ziele zu verkünden, nicht in Ordnungist. Das ist unehrlich. Deshalb hat die grün-rote Landes-regierung in Baden-Württemberg jetzt gesagt:
Wir sind realistischer; denn wir können die Fehler derVergangenheit von Schwarz-Gelb nicht aufholen.
Darum sagt Grün-Rot: Wir haben eine kleine Delle, aberwir gehen das Problem jetzt mit Instrumenten und mitmehr Maßnahmen an,
und wir werden durch ehrgeizigere Ziele in der Zukunftdie Delle kompensieren.
Das ist der Grund, warum die Umweltverbände diesemWeg zustimmen, und das ist der Grund, Herr Meierhofer,warum Sie falsch liegen, auch wenn Sie hier noch soengagiert Papiere hochhalten.
Was geschah gestern? Wir waren da doch zusammen inder Anhörung. Und was haben die Experten da gesagt?Sie haben gesagt: Klimaziele soll man nur formulieren,wenn man die zur Durchsetzung notwendigen Maßnah-men wirklich installiert und verabschiedet.
Das macht Baden-Württemberg, und das haben Sie im-mer versäumt.
Das ist der Unterschied zwischen dem, was wir machenund dem, was hier passiert.Meine Damen und Herren, wir wünschen dem neuenUmweltminister Altmaier viel Glück und viel Erfolg imSinne der Sache, also im Sinne der Energiewende. Wirwerden jedoch kritisch hinschauen. So hat der neueUmweltminister beispielsweise gesagt: Wir müssen auf-passen, dass der Industriestandort Deutschland nicht inGefahr gerät. – Das ist zwar richtig, aber das ist zugleichein Argument, das immer wieder zu Unrecht gegen dieErneuerbaren gewendet wird. Denn wer ist von all denentsprechenden Abgaben ausgenommen, wer zahlt prak-tisch keine Ökosteuer und keine Umlage für das EEG,wer zahlt keine Netzentgelte, obwohl er den meistenStrom durchleitet? Das ist die Industrie, die gleichzeitigdavon profitiert, dass die Erneuerbaren den Strompreisan der Leipziger Börse senken. Die Energiewende wirdnicht von der Industrie bezahlt, sondern von den kleinenund mittelständischen Unternehmen sowie von derBevölkerung und den Verbrauchern. Deshalb ist dasArgument, der Ausbau der Erneuerbaren schade der In-dustrie, falsch.
Denn tatsächlich nützt die Energiewende der Industrie.Gegenüber Frankreich und Großbritannien haben wirniedrigere Börsenstrompreise, und zwar deshalb, weilwir den Ausbau der Erneuerbaren vorangetrieben haben.
Das ist die Wahrheit, und die sollten auch Sie einmalverstehen.Danke schön.
Das Wort hat nun Bernhard Kaster für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! An der Anzeigetafel ist es zu lesen: Siemöchten heute über die Handlungsfähigkeit der Bundes-regierung diskutieren. Da sage ich: gerne doch. DieseBundesregierung ist handlungsfähig und erfolgreich.Das sollte Sie nicht ärgern, darüber sollten Sie sich imInteresse unseres Landes freuen.
Wachsende Beschäftigung, die mit Abstand niedrigsteJugendarbeitslosigkeit in ganz Europa, stabiles undnachhaltiges Wachstum, sinkende Neuverschuldung –auch für alle anderen Ressorts könnte ich noch viele Bei-spiele nennen.Frau Höhn hat gerade die rot-grüne Zeit angespro-chen. Was haben Sie uns 2005 hier hinterlassen? Ichdenke mit Grausen an die damalige Zeit.
Es war der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit in Deutsch-land, es war der Tiefpunkt der Gemeindefinanzen in denStädten und Dörfern. Es war die sorgenvollste Zeit in derdeutschen Landwirtschaft. Es war die Zeit, als wir Defi-zitsünder in Europa wurden, und – das lassen Sie michauch sagen – es war die enttäuschendste Zeit ideologi-scher Umweltpolitik. Jetzt könnte man fragen: Warumrede ich von der Zeit von vor sieben Jahren? Wenn ich indie Reihen der Grünen hier vorne schaue, dann sehe ichimmer noch die gleichen Gesichter. Da weiß man doch,was man zu erwarten hat.
Was heißt Umweltpolitik heute? Grüne Umweltpoli-tik ist zwischenzeitlich zu einer ideologischen Solarpoli-tik verkümmert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21517
Bernhard Kaster
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Ausgerechnet die Grünen sorgen sich in dieser AktuellenStunde ums Handeln – Grüne sorgen sich ums Handeln!Dabei sind sie in Deutschland zu einer sich immer mehrverkrustenden Verhinderungspartei geworden.
Viele Bürger wenden sich wegen ihrer Technik- undInvestitionsfeindlichkeit von ihnen ab. Ich komme ausdem Bundesland Rheinland-Pfalz. Dort haben sie jetztneu Regierungsverantwortung übernommen. Sie habenallerdings keinen Koalitionsvertrag, sondern einen Ver-hinderungsvertrag abgeschlossen. So sieht es aus, wennGrüne Verantwortung in Deutschland übernehmen.
Sie buhlen immer mehr um Menschen, die sich Ihrespezielle Politik im wahrsten Sinne des Wortes leistenkönnen, aber wir, die bürgerlich christlich-liberaleKoalition, haben das Ganze im Blick. Wir müssen Ver-antwortung allen Menschen gegenüber wahrnehmen,
beispielsweise durch die Gestaltung einer Energiewende,die unseren mittelständischen Betrieben Versorgungs-sicherheit gewährt, und durch eine Energiepolitik, diedafür sorgt, dass Arbeitnehmer, Mieter und Rentner auchkünftig ihre Stromrechnung bezahlen können. UnsereEnergiepolitik besteht aus einem Dreiklang: ökologisch,ökonomisch und sozial,
ökologische Zielsetzung, ökonomische Vernunft und so-ziale Sensibilität.
Sie fragen angesichts dessen nach der Handlungsfä-higkeit? Wir könnten auch nach der Handlungsfähigkeitder Opposition fragen.
Was erleben wir da im Moment? Die Linke sucht imMoment ein neues Fahrrad, ein Tandem, die SPD machtseit Monaten ein Casting für mögliche Vizekanzlerkan-didaten.
Ich möchte diese überflüssige Aktuelle Stunde gernewie folgt zusammenfassen: Dem Land geht es gut. Wirstehen vor großen Herausforderungen. Die Bundes-kanzlerin genießt im Land, in Europa und in der Welthöchstes Ansehen, und unter ihrer Führung wird dieseKoalition sich den wichtigen Herausforderungen undAufgaben mit Verantwortungsbewusstsein und Vernunftstellen. Darauf ist Verlass.Vielen Dank.
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Ulrich
Kelber für die SPD-Fraktion.
Vor ein paar Tagen
bin ich im Internet auf einen Spontispruch gestoßen,
der mich sofort an die Politik der Bundesregierung, be-sonders an die Energiepolitik, erinnert hat: StändigesVersagen ist auch eine Form von Zuverlässigkeit.
Das ist kein Urteil der Opposition über die Energiepoli-tik der Koalition. Das schwingt mit, wenn sich der baye-rische Ministerpräsident und Vorsitzende der CSU, alsoeiner der drei Koalitionspartner, über die Energiepolitikder Bundesregierung und der eigenen Leute auslässt. Ersagt: Wenn die jetzt nicht vorwärtskommen, dann wer-den wir uns in Bayern von der deutschen Energiepolitikabkoppeln. Das ist die Einschätzung Ihrer eigenen Leute.
Auch die knappen Begründungen der Bundeskanzlerinzur Entlassung ihres Bundesumweltministers sind zu-mindest ein Eingeständnis, dass es in der Energiepolitiknicht so läuft, wie man eigentlich will.Ich habe Norbert Röttgen von dieser Stelle aus oft kri-tisiert und auch scharf angegriffen, aber ich frage michschon: Wenn die Energiepolitik zu 80 Prozent in der Ver-antwortung des Wirtschaftsministeriums liegt, warum istdann Norbert Röttgen für die mangelnde Koordination inder Energiepolitik entlassen worden und nicht Wirt-schaftsminister Rösler?
Dafür gibt es zwei einfache Begründungen.Erstens. Die Bundeskanzlerin ist CDU-Vorsitzende.Sie hat überhaupt nicht die Möglichkeit, CSU- oderFDP-Minister zu entlassen!
So brutal kann sie nur mit CDU-Mitgliedern umgehen.Zweitens. Es ging um ihren Selbstschutz. Sie wolltenicht, dass die Debatte in Nordrhein-Westfalen und dasChaos in der Energiepolitik mit ihr in Verbindung
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21518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Ulrich Kelber
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gebracht werden. Wer die Behandlung der Entlassung inden Medien verfolgt hat, hat mitbekommen, dass dasGott sei Dank nicht funktioniert hat.Im Bonner General-Anzeiger, der nicht nur meinenWahlkreis, sondern auch den von Norbert Röttgen ab-deckt, wurde ein Leserbrief veröffentlicht, in dem argu-mentiert wurde – ich habe mich gleich gefragt, warumich nicht selbst auf dieses Argument gekommen bin –:Die Kanzlerin hält einen Minister wie Guttenberg, derbetrügt und lügt, für ministrabel, aber wenn ein Ministerwie Norbert Röttgen eine Wahl in einem Bundeslandverliert, dann verliert er seine Eignung als Minister undwird entlassen. Da stellt sich für mich die Frage nach derGlaubwürdigkeit der Kanzlerin. – Genau das ist richtig.
Als unter Norbert Röttgen die GlaubwürdigkeitDeutschlands beim Klimaschutz verloren ging, hat dasdie Kanzlerin nicht interessiert. Als aus dem Umweltmi-nisterium Signale kamen, dass die Entmachtung derFachgruppen bzw. der Fachabteilungen bei einer gleich-zeitigen Aufblähung der Leitungsstäbe das Ministeriumunfähig zur Arbeit mache, hat das die Kanzlerin nichtinteressiert. Wenn der Emissionshandel zusammen-bricht, gibt es keinen Grund, einzugreifen. Wenn abereiner eine Landtagswahl verliert, muss man den Ministerentlassen, um sich selbst zu schützen. Das ist Personal-politik und Führung à la Angela Merkel.
Wenn jetzt – bei aller Kritik an der Politik vonNorbert Röttgen – einige aus der CDU, die hier geradeKrokodilstränen vergossen haben, in Hintergrundgesprä-chen versuchen, Norbert Röttgen die alleinige Schuldam Chaos in der Energiepolitik der schwarz-gelben Ko-alition zu geben, sage ich an dieser Stelle: Das ist unfair,das ist unredlich, das ist unanständig.
Zweieinhalb Jahre ertragen wir jetzt dieses Chaos inder Energiepolitik. Anderthalb Jahre lang gab es ein Hinund Her. Niemand war bereit, zu investieren: nicht inErneuerbare, nicht in Energieeffizienz, nicht in fossileEnergien, in nichts. Seit einem Jahr wird jetzt zuge-schaut. Netzprobleme? Es wird zugeschaut. MangelndeAnreize für Kapazitätsschaffung, zum Beispiel für Gas-kraftwerke in Bayern oder in Baden-Württemberg? Eswird zugeschaut.Norwegen bietet an, 25 000 Megawatt an zusätzlicherSpeicherkapazität zu bilden. Wo gibt es Verhandlungender Bundesregierung über ein Investitionsabkommen?Nichts!
Es gab jetzt einen Gipfel als Politikersatz. Das Ergebnisist: Wir treffen uns jetzt anstatt einmal zweimal im Jahr.Das ist zu wenig.Um einer Legendenbildung entgegenzutreten: Esstimmt übrigens nicht, dass Peter Altmaier – er musswohl noch lernen, bei den Debatten aus den Reihen derAbgeordneten auf die Regierungsbank zu gehen – sichnie für die Umweltpolitik interessiert hat. Er war sogarschon einmal im Umweltausschuss,
und zwar am 26. Oktober 2010, als dort die Laufzeitver-längerung in nur einer Stunde durchgeprügelt werdensollte und man nicht vorankam. Da eilte Peter Altmaiervorbei und half, die Geschäftsordnung des DeutschenBundestages zu brechen. Oppositionsabgeordnete durf-ten keine Redebeiträge mehr halten, keine neuen Ände-rungsanträge mehr stellen und schon gestellte nicht mehrbegründen.
Ich hoffe, Peter Altmaier, der nächste Besuch im Um-weltausschuss ist etwas ökologischer als der erste.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesord-nungspunkt 7 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungs-gesetzes– Drucksache 17/8801 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/9617 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf HempelmannHierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionder SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Klaus Breil fürdie FDP-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21519
(C)
(B)
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir verabschieden heute die Novelle des Kraft-
Wärme-Kopplungsgesetzes. Diese Novelle ist notwendig,
um unser Ziel zu erreichen, den Anteil der Stromerzeu-
gung aus KWK auf 25 Prozent der Gesamtstrompro-
duktion auszubauen. Ich weiß, dass im Evaluations-
bericht steht, dieses Ziel sei mit dem KWK-Gesetz von
2009 nicht zu schaffen. Ich kenne die Kritik, das Ziel sei
ebenso wenig mit der heute zu beschließenden Novelle
zu schaffen. Das glaube ich nicht. Wir werden das schaf-
fen.
Ich erwarte, dass dabei sogar eine Dynamik entstehen
wird, die den Anteil weit über die 25 Prozent wachsen
lassen wird.
Krankenhäuser, Schulen, Sporthallen und Schwimm-
bäder – all das sind Wärmesenken, und sie sind meistens
in kommunaler Verantwortung. Es sind Wärmesenken,
für die eine Versorgung mit ausgekoppelter Wärme häu-
fig Sinn macht. Wir müssen nur intensiv suchen.
Aus der mittelständischen Wirtschaft weiß ich, dass
dort vielfach auch mit großem Interesse nach diesen
Wärmesenken gesucht wird.
Wir erhöhen für alle Anlageklassen die Vergütung um
0,3 Cent pro Kilowattstunde. Wir führen eine neue Anla-
genklasse – von 50 bis 250 Kilowatt – ein. Dieses Seg-
ment ist insbesondere bei kleinen und mittelständischen
Unternehmen gefragt, die auf eine eigene Stromversor-
gung bauen. Bei emissionshandelspflichtigen Anlagen
erhält man ab dem Jahr 2013 noch einmal 0,3 Cent pro
Kilowattstunde mehr. Davon erhoffen wir uns einen
Ausbau der Erzeugungskapazitäten. Einen solchen Aus-
bau brauchen wir. Das haben auch die Gespräche gestern
im Kanzleramt ergeben. Außerdem erwarten wir die För-
derung von Wärmenetzen und Wärmespeichern, und wir
führen eine Förderung von Kältenetzen und Kältespei-
chern ein.
Entgegen allen Vorwürfen tun wir auch etwas für die
kleinen Anlagen. Die neu eingeführte Zwischenkatego-
rie habe ich schon genannt. Außerdem haben wir die
Rahmenbedingungen für das Pooling kleinerer Anlagen,
sogenannter Mini- und Mikro-KWK-Anlagen, und da-
mit für die sogenannte Schwarmstromidee verbessert.
Für Anlagen bis 50 Kilowatt haben wir die kostenpflich-
tige Einzelzulassung abgeschafft, ebenso die statisti-
schen Mitteilungspflichten.
Ein letzter Punkt: Käufer einer Anlage bis 2 Kilowatt
können sich ihre Zuschläge pauschal auszahlen lassen.
Das können je nach Anlagengröße bis zu 3 500 Euro
sein.
Mit dieser Novelle tun wir einiges für den Bereich
Kraft-Wärme-Kopplung und für den Aufbau von Erzeu-
gungskapazitäten. Hierfür wäre die Anerkennung der
Opposition angebracht. Stattdessen fordern die Grünen
in ihrem heutigen Entschließungsantrag – Zitat –:
Die Förderung von KWK-Anlagen mit Braun- oder
Steinkohle als Brennstoff wird aus dem KWKG ge-
strichen.
Dass die Grünen de facto ein Verbot für den Neubau
von Kohlekraftwerken wollen, ist bekannt. Niemand
baut heute noch ein Kraftwerk ohne Wärmeauskopp-
lung.
Aber dass alte Kohlekraftwerke dort, wo die Grünen
Verantwortung tragen, beispielsweise in NRW, keinen
Anreiz zur Modernisierung erhalten sollen, ist für mich
untragbar.
Neue Kohlekraftwerke wollen Sie dort ja auch nicht
haben. Somit sind Sie Effizienzverhinderer. Weit klüger
wäre es, technologieoffen zu sein. Seien Sie bereit, Ihre
Ideen in einen Wettbewerb zu anderen Ideen zu stellen,
und versuchen Sie nicht, mit versteckten Verboten Ihre
wahre Ideologie durchzusetzen!
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Klaus Breil. – Nächster Redner
ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Rolf Hempelmann. Bitte schön, Kollege Rolf
Hempelmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Lieber Klaus Breil, Sie haben eben gesagt, dass Sie fürdiesen Gesetzentwurf Anerkennung verdient haben.
Ich möchte das gleich am Anfang feststellen: Für denGesetzentwurf und – ich will das noch ausweiten – fürdie Änderungsanträge haben Sie Anerkennung verdient.In der Tat ist das, was hier vorgelegt worden ist, weitbesser als das, was wir hätten erwarten können. Schließ-lich hat Schwarz-Gelb viele Jahre lang eine ausgespro-chen KWK-feindliche bzw. KWK-kritische Politik ver-treten.
Schwarz-Gelb hat genau die Position vertreten, die Ih-nen von den vier großen Unternehmen jahrelang einge-flüstert worden ist.
Deswegen ist es auch kein Wunder, dass es zweiein-halb Jahre gedauert hat – eigentlich hat es sogar nochlänger gedauert –, bis dieses Konzept vorgelegt wurde.Eingefordert hatten wir es schon von Wirtschaftsminis-
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ter Glos in der Zeit der Großen Koalition. Er hat es nichtgebracht. Eingefordert hatten wir es auch von Wirt-schaftsminister zu Guttenberg. Auch er hat es nicht ge-bracht. Anschließend haben wir es von Herrn Brüderlevon der FDP gefordert.
Auch er hat es nicht gebracht.
Jetzt endlich, nach Jahren, liegt es also vor. Herrn Röslersei an dieser Stelle gedankt. Aber bleiben Sie ruhig;denn es kommt noch anders.Insofern sage ich: Ja, der Gesetzentwurf enthält vielRichtiges, aber natürlich kann und muss er weiter ver-bessert werden. Wir müssen uns klarmachen, dass dieKraft-Wärme-Kopplung einen erheblichen Beitrag zurEnergiewende leisten kann. Das muss uns klar sein,wenn wir das Ziel, dass bis zum Jahr 2020 25 Prozentder Stromerzeugung durch Kraft-Wärme-Kopplung ge-deckt werden – dazu bekennt sich jeder –, erreichen wol-len.Denn: Erstens ist dies die effizienteste Form der Er-zeugung von Strom und Wärme; sie hat Wirkungsgradebis zu 90 Prozent. Wir können den Brennstoff zu mehrals 80 Prozent ausnutzen. Das ist bei keiner anderenForm der Verbrennung so möglich. Zweitens sind dieAnlagen grundsätzlich auf erneuerbare Energien um-stellbar. Das heißt, zumindest Anteile dieser Kraftwerkekönnen auf erneuerbare Energien, auf Bioenergien um-gestellt werden. Auch das ist ein Vorteil dieser Technolo-gie.Der dritte Punkt ist die flexible Fahrweise. Die Anla-gen können stromgeführt oder wärmegeführt laufen, siekönnen sich an die Situation, je nachdem ob der Windgerade stark oder weniger stark zum Stromangebot bei-trägt, anpassen. Über Wärmespeicher können Über-schussenergien gespeichert und später ins Netz zurück-geführt werden.Leider wird dieses Potenzial durch diesen Gesetzent-wurf nicht voll ausgeschöpft. Die Anhörung hat das sehrdeutlich ergeben. Deswegen haben wir Vorschläge ge-macht, wie man dieses Gesetz so weiterentwickeln kann,dass die Ziele tatsächlich erreicht werden. Sie haben sichda bewegt – das muss man sagen –, Sie haben zum Bei-spiel die Zuschläge für die jeweiligen Anlagengruppenerhöht, aber wir befürchten, dass dies nicht ausreichenwird. Folgen Sie unseren Vorschlägen. In der Anhörungwurde ja deutlich, dass Sie dies tun sollten. Ich glaube,dass wir dann eine bessere Chance haben, die Ausbau-ziele tatsächlich zu erreichen.Der nächste Punkt – auch das wurde bei der Anhö-rung deutlich –: Wir müssen nicht nur an den Neubaudenken, sondern auch an die Modernisierung vorhande-ner Anlagen und auch an die Umrüstung konventionellerKraftwerke in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Dazuhaben wir Vorschläge gemacht. Dabei geht es insbeson-dere darum, die Schwellen, die Sie im Gesetz formulierthaben, abzusenken, um Umrüstungen oder Modernisie-rungen, die mit geringerem Aufwand erreicht werdenkönnen, zuzulassen und zu unterstützen.Wir gehen davon aus, dass wir gerade im Bereich derSpeicher wesentlich mehr tun können, als dieser Gesetz-entwurf vorsieht. Die Speicher bieten uns im Rahmender Energiewende die Möglichkeit, flexibel auf die un-terschiedlichen Netzsituationen zu reagieren. Deswegenist es kontraproduktiv, wenn Sie hier einen Förderdeckelvon 5 Millionen Euro pro Einzelprojekt einziehen. Den-ken Sie noch einmal darüber nach. Folgen Sie unseremVorschlag, diesen Deckel aufzugeben oder zumindestsubstanziell anzuheben. Ansonsten werden Sie die Mög-lichkeiten, die die Speichertechnologien bieten, nichtnutzen. Die größeren Speicher haben besonders positiveEffekte. Sie können sehr flexibel reagieren und vorallem in größeren Einheiten, zum Beispiel in Fernwär-meversorgungssystemen, einen wesentlichen Beitragleisten, um die volatile Windstrom- oder Solarstromein-speisung auszugleichen.Wenn Sie unsere Vorschläge, auch die zum Ausbauder Wärmenetze, übernehmen, dann haben Sie tatsäch-lich flexible Instrumente, die Ihnen helfen, die Ziele derEnergiewende zu erreichen. Bei Wärmenetzen haben Sieeinen Förderdeckel von 10 Millionen Euro pro Projektvorgesehen. Das wird nicht dazu führen, dass die Pro-jekte aufgelegt werden, die wir tatsächlich brauchen. He-ben Sie auch hier den Deckel auf, oder verdoppeln Siezumindest den Betrag. Wir brauchen diese Investitionen.Die Investitionen kann man nicht nach Projektgröße be-werten. Vielmehr müssen sie danach bewertet werden,welchen Beitrag sie zum Erreichen der KWK-Ziele leis-ten.Insgesamt bietet der Gesetzentwurf gute Ansätze.Folgen Sie unseren Vorschlägen, insbesondere denen be-züglich der Modernisierung und Umrüstung der Anlagenund bezüglich der Netze und der Speicher. Wenn Sie dastun, dann haben wir, glaube ich, in der Tat die Chance,bei diesem Thema voranzukommen.Ein letzter Aspekt muss allerdings noch erwähnt wer-den. Auch wenn dieses Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzperfektioniert bzw. verbessert wird, wenn Sie also unse-ren Vorschlägen folgen, wird das allein nicht reichen, umdie Kraft-Wärme-Kopplung hier in Deutschland zu einerErfolgsstory zu machen.
Man hört von allen potenziellen Investoren, dass zurzeitnicht in die konventionelle Energieerzeugung inDeutschland investiert wird. Bis auf die laufenden Pro-jekte wird nicht neu investiert. Das hängt mit der Tatsa-che zusammen, dass die Anlagen angesichts des Auf-wuchses der erneuerbaren Energien künftig nur einegeringe Auslastungsperspektive haben.Deswegen gibt es eine Diskussion darüber, nicht nurdie Arbeit, also den gelieferten Strom oder die gelieferteWärme, sondern möglicherweise auch die Kapazität,also die Bereitstellung, zu honorieren. Ich weiß, dass dasein komplexes Thema ist, bei dem man auch Fehler ma-
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chen kann. Aber es wäre auch ein Fehler, wenn wir unszu viel Zeit ließen.
Es ist mittlerweile ein Jahr vergangen. Dieses Thema istinzwischen erstmals vonseiten der Kanzlerin auf einemGipfel erörtert worden. Sorgen Sie dafür, dass jetzt zeit-nah Entscheidungen fallen können! Das können auch ge-stufte Entscheidungen sein. Das Modell, das in dennächsten zehn Jahren gilt, kann ganz anders aussehen alsdas Modell, das in der Zeit danach angewendet wird; soetwas zeichnet sich ja ab. Aber wir brauchen Entschei-dungen.Warum brauchen wir die Entscheidungen jetzt? Weilansonsten der Attentismus weitergeht und die Projekt-planungen nicht voranschreiten. Auch bei solchen Pro-jekten, die vielleicht erst in sechs oder sieben Jahren re-alisiert werden sollen, braucht man jetzt Klarheit imHinblick auf die künftige Perspektive.Insofern: Wir sind bereit, konstruktiv daran mitzuar-beiten, ein Marktdesign der Zukunft zu entwickeln, wel-ches insbesondere für den Bau von Kraft-Wärme-Kopp-lungsanlagen interessant ist. Liefern Sie – nach einemhoffentlich noch verbesserten Kraft-Wärme-Kopplungs-gesetz – auch hier! Ich bin zuversichtlich, dass wir dannzumindest in diesem Bereich der Energiewende voran-kommen können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Rolf Hempelmann. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Thomas Bareiß. Bitte schön, Kollege Thomas Bareiß.
Verehrter Präsident! Meine lieben Kolleginnen undKollegen! Erlauben Sie mir, nach der heutigen AktuellenStunde und den Ereignissen der letzten Tage darauf hin-zuweisen: Ich bin der Überzeugung, dass über unsereEnergiepolitik sehr viel Unsinn gesagt wurde.
Da musste ich lesen, die Energiewende werde nun ge-stoppt, die Energiewende komme nicht voran, und wirhätten nichts getan. Diese Debatte zeigt, dass wir mit derEnergiewende Schritt für Schritt vorankommen.Lieber Rolf Hempelmann, die Kraft-Wärme-Kopp-lung ist schon heute eine Erfolgsstory.
Der Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an unseremStrommix beträgt schon heute 15 Prozent. Die Vor-schläge, die wir jetzt vorgelegt haben, haben wir in Stu-dien überprüfen lassen. Dabei kam ganz klar und deut-lich zum Ausdruck: Würden wir die nächsten zehn Jahreüberhaupt nichts unternehmen, würden wir unser ge-meinsames Ziel, das die vorherige Koalition formulierthat, bis 2020 zwar nicht ganz erreichen. Aber der Anteilder Kraft-Wärme-Kopplung am Strommix würde sich inden nächsten zehn Jahren voraussichtlich auf 22 Prozenterhöhen. Durch die Vorschläge, die wir gemacht haben,und durch den Änderungsvorschlag, den wir als Koali-tionsfraktionen noch einbringen werden, werden wir denAnteil der Kraft-Wärme-Kopplung am Strommix mit Si-cherheit auf 25 Prozent erhöhen. Das wird von allen Ver-bänden und Unternehmen bestätigt.Ich weiß nicht, in welcher Anhörung Sie waren.
Ich habe aus der Anhörung mitgenommen, dass die Ver-bände und Unternehmen mit dem, was jetzt vorgelegtworden ist, größtenteils zufrieden sind.
Die Kritikpunkte, die angeführt wurden, haben wir inunserem Änderungsantrag berücksichtigt.
Wir haben sehr viele, eigentlich fast alle Kritikpunkte inunseren Änderungsanträgen aufgegriffen und sogar nochdraufgesattelt. So haben wir dafür gesorgt, dass dieKraft-Wärme-Kopplung eine Erfolgsstory bleibt undeine tragende Säule unseres Energiemixes wird.
Die Anhörung hat auch gezeigt, dass die Energie-wende Schritt für Schritt vollzogen wird, dass es nichtnur im Deutschen Bundestag eine breite Unterstützungfür dieses Vorhaben gibt, sondern dass wir auch bei denVerbänden und Unternehmen vorankommen. Der ent-sprechende Gesetzentwurf ist am 8. März dieses Jahreseingebracht worden. Darüber hinaus fand eine Anhörungstatt, und es wurden viele Gespräche mit Verbänden ge-führt. Meiner Erfahrung nach gab es bisher noch keinGesetz, das eine so große Zustimmung und eine so breiteUnterstützung erfuhr.Ich muss, offen gestanden, sagen: Ich finde es etwasschade, dass sich die SPD bei der Abstimmung nur ent-hält. Sie weiß wohl noch nicht, was sie will: Will sie mit-machen, oder will sie nicht mitmachen?
Ich glaube, die Verbände und die Unternehmen ma-chen mit.
Das ist der richtige Ansatz.
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Thomas Bareiß
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Rolf Hempelmann hat zur Kraft-Wärme-Kopplungschon viel Richtiges gesagt. Sie wird ein wichtigerBestandteil unserer Energieversorgung sein. Sie isteffizient. Es gibt wohl keine Art der Energiegewinnung,die so effizient ist wie die Kraft-Wärme-Kopplung. Kon-ventionelle Kraftwerke haben einen Wirkungsgrad von40 bis 45 Prozent. Mit der Kraft-Wärme-Kopplungschaffen wir einen Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent.Sie ist dezentral. Das heißt, dass die Wärme und derStrom dort erzeugt werden, wo sie gebraucht werden.Wir können somit vielleicht den Leitungsausbau etwasreduzieren und Wertschöpfung dort aufbauen, wo dieEnergie gebraucht wird.Die Kraft-Wärme-Kopplung wird sowohl im Kleinenals auch im Großen gefördert. Beispiele dafür sind Groß-anlagen wie Datteln 4, wobei Sie noch in der Verpflich-tung stehen, das Kraftwerk ans Netz zu bringen, sowiekleine Minikraftwerksanlagen, die in Einfamilienhäu-sern für Wärme und Strom sorgen.Die Wärme ist bei dieser Form der Energiegewinnungspeicherbar. Auch das ist eine Anforderung, die in dennächsten Jahren sicherlich eher mehr als weniger vonBedeutung sein wird. Vor allem ist sie jedoch in Kombi-nation mit dem enormen Ausbau von Wind- und Son-nenenergieanlagen ein Element für den Ausgleich vonSchwankungen. In Phasen, in denen Wind und Sonnenicht vorhanden sind, kann die Kraft-Wärme-Kopplungder Stromerzeugung zugeschaltet werden und somit ei-nen Ausgleich bieten.
Derzeit diskutieren wir intensiv über die Frage derKapazitätsmärkte. Diese Frage wird ebenfalls aufge-nommen. Denn im KWK-Bereich werden Kapazitätenaufgebaut, die in den nächsten Jahren unsere Energiever-sorgung mit sichern werden.Wir haben das Ziel, bis 2020 einen Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung von 25 Prozent an unserem Strommixzu verwirklichen. Ich habe es bereits gesagt, wir sindhier auf einem guten Weg. Die Erfolgsstory geht weiter.Besonders reizt mich an der Kraft-Wärme-Kopplung dieTatsache, dass sie zwar noch gefördert werden muss undin vielen Bereichen noch nicht ganz wettbewerbsfähigist, dass sie jedoch durch einen Deckel von 750 Millio-nen Euro sehr kosteneffizient ist. Sie trägt so dazu bei,dass wir die Energiewende bezahlbar und sicher hinbe-kommen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der nicht nurfür den normalen Verbraucher von Bedeutung ist, son-dern auch für unsere Industrie und damit auch für unsereArbeitsplätze.Wir kriegen den Dreiklang von Bezahlbarkeit, Um-weltfreundlichkeit und Effizienz hin und schaffen soVersorgungssicherheit. Das ist ebenfalls ein wichtigesArgument für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung.Was machen wir im Einzelnen? Es gibt in diesem Zu-sammenhang viele Punkte, die ich nicht alle darstellenkann. Ich möchte in meinem Beitrag nur auf einigePunkte eingehen.Wir schaffen mehr Anreize, indem wir über alle Anla-genklassen hinweg einen höheren Vergütungszuschlagzahlen. Wir wollen die Vergütung mit dem jetzigen Vor-schlag um 0,3 Cent je Kilowattstunde erhöhen. Diessorgt dafür, dass die Kraft-Wärme-Kopplung vor Ortnoch wirtschaftlicher zu betreiben ist und dass nochmehr Investitionen als bisher getätigt werden.Viele sagen, die Erhöhung hätte auch 0,4 Cent oder0,5 Cent betragen können; darüber haben wir diskutiert.Doch ich warne davor; denn es werden schon Stimmenlaut, die sagen, dass die EEG-Förderung von Biogas bei-spielsweise schon fast nicht mehr mit der KWK-Förde-rung mithalten kann und dass die Gefahr besteht, dass eseinen Wettlauf der unterschiedlichen Fördersystemegibt. An dieser Stelle muss ich sagen: Die Kraft-Wärme-Kopplung holt weiter auf, die Erhöhung um 0,3 Cent istrichtig, aber im Vergleich zu anderen Förderinstrumen-ten ausgewogen.Der Kollege Breil hat es gesagt: Wir haben eine neueFörderklasse für 50- bis 250-kW-Anlagen eingeführt unddafür gesorgt, dass hier kein Förderknick entsteht. Auchdas sorgt dafür, dass die Förderung in den unterschiedli-chen Anlagenklassen Sinn macht.Wir schaffen Anreize für Investitionen in Wärme-netze, die derzeit – offen gestanden – ein Stück weit insStocken geraten sind. Von diesen Anreizen für Wärme-netze versprechen wir uns die Auslösung von höherenInvestitionen. Wir haben hierzu 150 Millionen Euro zurVerfügung gestellt. Ich glaube, wir werden in den nächs-ten Jahren erleben, dass dieses Angebot genutzt wirdund dass ein weiterer Bereich immer mehr an Bedeutunggewinnt, nämlich der Bereich der Kältenetze. Auchhierzu haben wir einen neuen Fördertatbestand einge-führt.Wir ermöglichen Investitionskostenzuschüsse fürWärmespeicher. Das ist ein neues Element im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz. Wir wollen entsprechendeAnlagen mit bis zu 5 Millionen Euro bzw. 30 Prozentder Investitionssumme fördern und damit Wärmespei-cher sowohl im Großen als auch im Kleinen noch attrak-tiver machen und dafür sorgen, dass die Wärme auch vorOrt gespeichert und zu den Zeiten transportiert werdenkann, zu denen sie gebraucht wird.Mir ist es wichtig, dass wir nicht nur die großen, son-dern auch die kleinen Anlagen fördern. Deshalb habenwir in den jetzigen Gesetzesberatungen innerhalb derKoalitionsfraktionen auch die Speichervolumina vonKleinspeichern, ab denen eine Förderung erfolgen kann,von 5 Kubikmeter auf 1 Kubikmeter gesenkt und damitauch die Förderung von Speichern für Ein- und Zweifa-milienhäuser möglich gemacht.Wir haben dafür gesorgt, dass die Kraft-Wärme-Kopplung auch stromgeführt besser gefahren werdenkann. Wir haben eine Wahlfreiheit zwischen einer anVolllaststunden orientierten Förderung und einer Förder-dauer von zehn Jahren eingeführt. Das heißt, dass dieFördersumme für Kleinanlagen von unter 50 kW, die sobetrieben werden, dass sie immer dann eingeschaltetwerden, wenn zu wenig Wind- oder Sonnenstrom vor-
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handen ist, um über 50 Prozent erhöht wird. Auch daswird helfen, dass die Energiewende in den nächsten Jah-ren sinnvoll gelingt.Es gäbe noch viele Punkte anzubringen, die wir ge-macht haben. Wir haben auch einiges für den Bürokra-tieabbau getan, gerade für kleine Anlagen. Ich glaube,dass wir mit dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz bewie-sen haben, dass die Energiewende Schritt für Schritt vo-rangeht. Das ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Ma-rathonlauf, und wir sind bei diesem Marathonlauf einStück weitergekommen.Ich fordere Sie noch einmal auf: Reden Sie nicht, han-deln Sie!
Machen Sie mit bei der Kraft-Wärme-Kopplung, undsorgen Sie auch dafür, dass diese Energiewende gelingt!Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Thomas Bareiß. – Nächste
Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Frau Eva Bulling-Schröter. Bitte schön, Frau Kollegin
Bulling-Schröter.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst: Die Koalition ist lernfähig. Endlich gab es ein-mal eine Bundestagsanhörung, die Sinn gemacht hat. ImErgebnis der Expertenanhörung wurden etliche Ände-rungen am Regierungsentwurf vorgenommen, die derKWK, also der Kraft-Wärme-Kopplung, sehr guttun.Die KWK-Zuschläge werden aufgrund der höherenAnlagenkosten auf ein akzeptables Maß erhöht, auchwenn wir uns noch ein bisschen mehr vorgestellt haben.Mit einem Zuschlag werden die Benachteiligungen aus-geglichen, die die Kraft-Wärme-Kopplung durch Belas-tungen aus dem Emissionshandel gegenüber herkömmli-chen Anlagen hat. Die KWK-Zuschläge orientieren sichnun besser an der Größe und an der Kostenstruktur derjeweiligen Anlage. Zudem soll eine Förderung von klei-nen Wärmespeichern ab 1 Kubikmeter eingeführt wer-den. Schließlich wird ein einmaliges Wahlrecht in Bezugauf die Förderdauer eingeführt: entweder nach Jahrenoder nach Vollnutzungsstunden.
– Wir können ja auch einmal sagen, dass etwas gut ist,Herr Obermeier.Die letzten beiden Punkte werden stromgeführte An-lagen unterstützen. Diese brauchen wir zur Integrationder erneuerbaren Energien ins Stromnetz; denn dafüreignet sich die KWK hervorragend, wenn die Rahmen-bedingungen stimmen. Die Anlagen können dann hoch-flexibel die naturgemäß schwankenden Einspeisungenvon Wind- und Sonnenstrom abpuffern. Auf Deutsch ge-sagt: Wenn die anderen nicht Strom oder Wärme liefernkönnen, dann brauchen wir die KWK. Das ist ja auch inOrdnung.Was im Gesetzentwurf allerdings weiterhin fehlt, isteine Flexibilisierungsprämie für Blockheizkraftwerke –Stichwort Schwarmstromkonzept. Dazu hat die Linke imAusschuss einen Antrag eingebracht. Die Sachverständi-gen aller Fraktionen haben sich positiv dazu geäußertund der Koalition dazu geraten.Es ist nämlich so: Die KWK-Zuschläge fließen ent-sprechend der Strommenge, also unabhängig vom Zeit-punkt der Erzeugung. Damit besteht für die KWK-Betreiber aber nur wenig Anreiz, ihre Anlagen zusam-menzuschalten – dieses Zusammenschalten ist dasSchwarmstromkonzept –, gemeinsam steuern zu lassenund in dem Augenblick bedarfsgerecht Strom zu produ-zieren, in dem er besonders knapp ist. Das ist der Fall,wenn Sonne und Wind nicht vorhanden sind und somitin einer Region zu wenig Strom aus Erzeugungsanlagenfür regenerative Energien anfällt. In Zeiten mit vielSonne und Wind müssten die KWK-Betreiber dagegendie Stromproduktion gemeinsam drosseln oder einstellenbzw. die Energie speichern. Auch das wäre wichtig. Da-rum sollte nach unserem Antrag, den Sie leider abge-lehnt haben, künftig ein Flexibilitätsbonus in Höhe von2 Cent pro Kilowattstunde für KWK-Anlagen gezahltwerden.Was fehlt, ist eine Vergütungsstufe für Mini-KWK-Anlagen bis 3 Kilowatt. Solche Anlagen auf Basis vonBrennstoffzellen bzw. Stirling- oder Minimotoren sindinnovativ, weil sie die erste praktikable KWK-Lösungfür Einfamilienhäuser wären. Das wäre für diese Häuserdringend notwendig.Unter dem Strich bleibt fraglich, ob Sie mit der Geset-zesnovelle tatsächlich die Grundlage schaffen, bis zumJahr 2020 auf einen KWK-Anteil von 25 Prozent an derStromerzeugung zu kommen. Es ist schon viel Zeit un-genutzt verstrichen. Auch wenn wir Glück haben, landenwir mit den Regelungen des neuen Gesetzes nur bei ei-nem Wert von 20 Prozent oder weniger.Herr Bareiß hat schon erklärt: Tolle Erfolgsstory! Ichmöchte Ihnen zum Vergleich die Werte anderer Ländernennen: Dänemark 50 Prozent, die Niederlande 38 Pro-zent. Warum können die das und wir nicht? Die Antwortist: Dort gibt es einen Mix aus Förderinstrumenten undstrikten Vorgaben, zum Beispiel die Pflicht zum An-schluss an ein Wärmenetz. So etwas ist natürlich Gift fürden Herrn Rösler. Er blockiert stattdessen lieber die EU-Energieeffizienzrichtlinie in Sachen KWK, wo im Ent-wurf entsprechende Pflichten vorgesehen sind. Hörenwir einmal, was demnächst Herr Altmaier dazu zu sagenhat.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Zunächst wird für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Oliver
Krischer sprechen. Bitte schön, Kollege Oliver Krischer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esgibt drei verschiedene Kategorien, nach denen die Koali-tion und die Bundesregierung beim Thema Energie-wende handeln:Die erste und am häufigsten vorkommende Kategorieist: Sie tun gar nichts. Das haben wir so beim ThemaSpeichertechnologien und Kapazitätsmärkte gesehen.Hier könnte man noch viele andere Themen aufzählen.Die zweite Kategorie ist: Sie tun genau das Falsche.Das haben wir bei der EEG-Novelle und bei der Kür-zung der Förderung für Solaranlagen erlebt. Da werdenSie von Ihren eigenen Ministerpräsidenten aufgehalten.Es gibt noch die dritte Kategorie:
Sie tun etwas Richtiges. Das Richtige tun Sie heute.Aber das tun Sie viel zu spät und viel zu wenig. Das istleider die Botschaft Ihrer KWK-Novelle, die Sie hiervorlegen.
Das hat leider eine gewisse Tradition. In Ihrem Koali-tionsvertrag findet man das Thema KWK überhauptnicht, obwohl Sie vorher in der Großen Koalition einenAnteil von 25 Prozent erreichen wollten. In Ihrem Koali-tionsvertrag wird das Thema totgeschwiegen. In IhremEnergiekonzept von 2010 findet sich nur ein verwirrterNebensatz zum Thema KWK. Das Thema kommt bei Ih-nen also einfach nicht vor.Herr Bareiß, wenn Sie hier von einer Erfolgsge-schichte sprechen, dann ist das hinsichtlich der Techno-logie sowie der Unternehmen und der Firmen, die dieseTechnologie anwenden, richtig. Es ist aber eine Armuts-geschichte, was den Ausbau der letzten Jahre angeht. Erstagniert seit Jahren, weil Sie die Entwicklung verschla-fen haben und weil Sie bei diesem Thema in der Vergan-genheit nichts getan haben.
Das liegt daran, dass Sie das Potenzial nicht erkannthaben. Langsam scheinen Sie zu merken, dass dieKWK-Technik mit ihren Speichermöglichkeiten genaudas ist, was wir brauchen, um die Schwankungen in derStromerzeugung im Bereich der Erneuerbaren – Sonneund Wind – auszugleichen.Es ist völlig richtig, dass Sie unsere Vorschläge, diewir gemeinsam mit den Kollegen der SPD vor schon fastdrei Jahren gemacht haben, jetzt endlich aufgreifen undzum Beispiel Wärmespeicher fördern. Aber nach demPrinzip „Das Richtige tun, aber dann zu wenig“ deckelnSie die Förderung und schränken Sie den Ausbau mitvielen bürokratischen Hemmnissen ein, sodass im End-effekt wieder viel zu wenig passieren wird.Das Thema Flexibilisierung. Wenn wir die schwan-kende Stromerzeugung bei den Erneuerbaren ausglei-chen wollen, dann muss das sehr flexibel und sehrschnell gehen. Dann brauchen wir einen Flexi-Bonus,um bestimmte Technologien voranzubringen. Sie ma-chen aber wieder nichts. Sie haben es letztendlich wiedernicht verstanden.
Ich sage Ihnen offen: Das eigentliche Potenzial derKraft-Wärme-Kopplung liegt bei den kleinen Anlagen.In diesem Bereich tun Sie gar nichts.
In den nächsten Jahren müssen Millionen ineffizienteHeizungsanlagen in Deutschland ausgetauscht werden.Wir wollen, dass möglichst viele von denen auch Stromerzeugen. Aber mit Ihrem Gesetz und Ihren Vorschlägenwird genau das nicht passieren. Das ist viel zu wenig.
Ich sage Ihnen deutlich: Genau das bräuchten wir eigent-lich.Das Einzige, was Sie beim Thema Kraftwerke schaf-fen, ist, dass das Wirtschaftsministerium im ganzenLand plakatiert: „Kraftwerke? Ja bitte!“ Überall sind sol-che Plakate zu sehen. Das präsentieren Sie uns. Aber da,wo Sie handeln könnten, wo Sie nicht nur ein kleinesSchrittchen in die richtige Richtung, sondern im Sinneder Energiewende richtig vorangehen könnten, da tunSie das nicht und da liefern Sie nicht in der angemesse-nen Art und Weise. Deshalb ist aus unserer Sicht dieserGesetzentwurf zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopp-lungsgesetzes nicht akzeptabel.
Für die Erhöhung der Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung auf 25 Prozent gilt: Das kann nichtdie Herausforderung sein; die Kollegen haben es ebenschon gesagt. Andere Staaten, zum Beispiel Dänemarkund Finnland im skandinavischen Raum und die Nieder-lande, zeigen, dass es ganz andere KWK-Potenziale gibt.Wir könnten uns manche Diskussion in Deutschland er-sparen,
wenn wir eine ambitionierte KWK-Politik machen wür-den. Aber das kriegen Sie nicht hin.Ich sage Ihnen auch, warum Sie es nicht hinkriegen:Sie hängen nach wie vor an dem Bild der alten 1 000-Me-gawatt-Blöcke,
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Oliver Krischer
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die Sie auf dem Rübenacker in Betrieb nehmen wollen.
Das haben auch eben die Redebeiträge gezeigt. Sie ha-ben es nicht begriffen. Sie wollen weder bei der Photo-voltaik noch bei der Kraft-Wärme-Kopplung, dass dieMenschen ihren Strom selber im Keller oder auf demDach erzeugen und das selber dezentral und autonom indie Hand nehmen.Sie folgen nach wie vor dem alten Bild der Energie-konzerne. Genau das ist das fundamentale Problem beider Umsetzung der Energiewende, weshalb Sie sie auchvor die Wand fahren werden.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Oliver Krischer. – Als Nächster
für die Bundesregierung der Parlamentarische Staats-
sekretär Hans-Joachim Otto. Bitte schön, Herr Staats-
sekretär.
H
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Krischer, ich habe Ihrer Rede wie immer sehraufmerksam zugehört. Ich habe ein intellektuelles Pro-blem: Sie bescheinigen uns, dass wir das Richtige tun,
finden dann aber nur mäkelnde Worte, und am Ende desWeges lehnen Sie den Gesetzentwurf ab.
– Ja, der Entschließungsantrag.Meine Damen und Herren, dies ist ein guter Tag fürdie Energieversorgung und die Energiepolitik inDeutschland. Mit der vorliegenden Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes wird ein sehr wichtiger Bau-stein der Energiewende vollzogen.Wir hatten eben eine Aktuelle Stunde. Sie alle erin-nern sich sicherlich noch: Von allen Oppositionsfraktio-nen wurde die Behauptung aufgestellt, bei der Energie-wende geschehe nichts. Hier liegt ein Gesetzentwurf vor,bei dem sogar Herr Krischer sagen muss – es muss ihmschwergefallen sein –, dass das Vorhaben richtig ist;
es komme nur zu spät, und es gehe noch um Details.Wir sind uns alle einig: Kraft-Wärme-Kopplung isteine Erfolgsstory. Kraft-Wärme-Kopplung hat denhöchsten Effizienzgrad bei der Wärme- und Elektrizi-tätsversorgung. Sie brauchen uns davon nicht zu über-zeugen. Diese Bundesregierung tut etwas.
– Das mag ja sein, lieber Herr Kollege Hempelmann.Lieber spät als gar nicht.Ich darf daran erinnern: Auch die Opposition hat dieMöglichkeit, Änderungsanträge vorzulegen.
Nein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieserGesetzentwurf ist vernünftig. Er ist in der Anhörung vonder Branche und den Betreibern in einer Weise gelobtworden, dass ich es als kleinliches Manöver empfinde,dass Sie jetzt sagen, wir hätten dieses und jenes nicht be-rücksichtigt.Wenn sogar die Fraktion Die Linke uns zubilligt, dassdieser Schritt richtig und notwendig ist, um die Energie-wende zu vollziehen, dann ist an dieser Stelle auch An-lass, auf Gemeinsamkeiten bei der Energiewende hinzu-weisen.
Alle Fraktionen dieses Hauses haben gesagt: Wir ma-chen uns auf den ambitionierten Weg, die Energiewendezu vollziehen. Die Kraft-Wärme-Kopplung ist ein Bei-spiel dafür – ich bedanke mich für differenzierte Bei-träge insbesondere des Kollegen Hempelmann –, welchenotwendigen Schritte jetzt zu gehen sind, um die Ener-giewende zu vollziehen. Jedem von uns muss klar sein,dass es mit dem Abschalten der Kernkraftwerke nichtgetan ist. Vielmehr müssen wir einen langen Weg ge-meinsam beschreiten.
Wir haben nun einen entsprechenden Gesetzentwurfvorgelegt. Dieses Gesetz ist richtig und wird uns voran-bringen. Es stellt zugleich eine Aufforderung und eineEinladung an die Oppositionsfraktionen dar, in der Ener-giepolitik eine nationale Herausforderung zu sehen undhier nicht herumzumäkeln. Ich will an dieser Stelle deut-lich sagen – ich erinnere nur an die Behandlung derEEG-Novelle im Bundesrat; das geht übrigens auch andie Adresse einiger CDU-Ministerpräsidenten –:
Es kann nicht angehen, dass wir alle die Energiewendeals gut und richtig befürworten und bereit sind, den ent-sprechenden Weg zu beschreiten, dass aber dann, wenndie notwendigen Maßnahmen zur Verabschiedung anste-
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21526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto
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hen, an der einen oder anderen Stelle kleinlich herumge-mäkelt oder sogar blockiert wird.Ich fasse zusammen:Erstens. Die Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungs-gesetz ist eine goldrichtige Maßnahme. Wir sind auf demrichtigen Weg. Alle fünf Fraktionen dieses Hauses habenzugebilligt, dass dieses Gesetz jedenfalls im Kern richtigist.Zweitens. Der Geist der Zusammenarbeit bei derEnergiewende, dieses enge Zusammenstehen, wird auchin den nächsten Monaten und Jahren erforderlich sein.Sonst werden wir das nicht schaffen. Dieser Appell gehtnicht nur an die Fraktionen dieses Hauses, sondern auchan die verehrten Damen und Herren des Bundesrates.
Lieber Herr Hempelmann, abschließend will ich sa-gen: Wir sind uns doch hoffentlich einig, dass wir – dasmüssen Sie doch zugeben, wenn Sie ehrlich sind –, wennwir jetzt keine konsequente Regelung für die Solarver-gütung finden – das ist dringend erforderlich –, keineSpielräume mehr haben. Dann werden die gesamtenKosten der Energiewende den Verbraucherinnen undVerbrauchern aufgebürdet. Deswegen appelliere ich an-lässlich eines Gesetzes, das große Zustimmung des Hau-ses und vor allen Dingen außerhalb des Hauses erfährt,für mehr Gemeinsamkeit bei der Energiewende. LassenSie das kleinliche Gezänk! Sehen Sie in der Energie-wende eine nationale Aufgabe, die wir zu erfüllen ha-ben!Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Franz
Obermeier. Bitte schön, Kollege Franz Obermeier.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Leider
reichen meine acht Minuten Redezeit nicht, um alle
Falschaussagen der Opposition in dieser kurzen Debatte
zu korrigieren.
Ich werde mich trotzdem bemühen, ein paar Dinge wie-
der ins Lot zu bringen.
Ich habe schon gedacht, Sie wollten eine Zugabe des
Präsidenten.
Das wäre auch nicht schlecht. Mindestens eine Mi-nute bräuchte ich dazu.
Ich glaube, dass die Entstehungsgeschichte des parla-mentarischen Verfahrens der Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz ein gutes Beispiel dafür ist, wie sichdie Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung dieeinzelnen Schritte in der Energiewende vorstellen. Ichstelle fest, dass wir im gesamten Verfahren die Kritik derOpposition sehr wohl aufgenommen und ihre Vorschlägeteilweise realisiert haben. In den kommenden Monatenwerden wir Schritt für Schritt die Gesetze beschließen,die wir brauchen, um die Energiewende zu einem Erfolgzu führen.Ironie des Schicksals ist, dass die Opposition in derDebatte über den vorangegangenen Tagesordnungspunktnoch die Regierung kritisiert und behauptet hat, es seiabsoluter Stillstand eingetreten – es hat gerade noch dieForderung nach dem Rücktritt der Bundeskanzlerin ge-fehlt –, während wir nun im darauffolgenden Tagespunktin zweiter und dritter Lesung ein enorm wichtiges Ge-setz, nämlich die KWK-Gesetzesnovelle, verabschieden.
Auf den Einwand „endlich“ will ich nur Folgendes sa-gen: Zehn Monate ist es her, dass die Energiewende be-schlossen wurde.
Jetzt kommt permanent der Vorwurf der Opposition,dass wir alles verschlafen und dass wir handlungsunfä-hig sind.
Sie können sich darauf verlassen, dass diese Regierungund die sie tragenden Fraktionen tagtäglich an Lösungs-ansätzen arbeiten.
Wir werden in den nächsten Monaten Gesetz um Gesetzvorlegen. Wir werden mit Ihnen die Dinge entwickeln,weil die Energiewende tatsächlich eine Revolution istund weil wir die Energiewende nur dann erfolgreich ge-stalten können, wenn wir über die Parteigrenzen hinwegdie Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger unseresLandes erreichen.
Ich will noch ganz kurz auf einige technische Dingeeingehen. Rolf Hempelmann hat schon herausgestellt,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21527
Franz Obermeier
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dass das besondere Merkmal der Kraft-Wärme-Kopp-lungsanlagen die Flexibilität ist. Diese Flexibilität ist mitdem zunehmenden Ausbau der volatilen erneuerbarenEnergien von eminenter Bedeutung. Dazu muss manaber der verehrten Öffentlichkeit auch erklären, dassdiese Flexibilität durch den Einsatz der Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen nicht umsonst zu haben ist.
Die Investitionen, um diese Flexibilität zu erreichen,sind erheblich. Deswegen ist es sehr wohl gerechtfertigt,Aufschläge auf den produzierten Strom zu beschließen.Die Flexibilität muss die Kraftwerke in die Lage verset-zen, dass sie zwischen Stromführung und Wärme-führung wechseln können. Sie müssen weiterhin einespezielle Förderung für die Schaffung von Speicherka-pazitäten erhalten.
Ich will auf den Kritikpunkt eingehen, dass die Förde-rung bei den Speicherkapazitäten, also den Behältern, zugering sei. Ich kann das Ganze nicht so richtig nachvoll-ziehen; denn wir haben eine Obergrenze bei der Investi-tionssumme von 5 Millionen Euro. Wenn ich die Summedurch die spezifische Förderung teile, dann komme ichauf eine Kapazität der Wärmebehälter von 20 000 Ku-bikmetern. Verehrte Opposition, der wesentliche Unter-schied zwischen Ihnen und den Koalitionsfraktionen beider Novelle zur Kraft-Wärme-Kopplung besteht darin,dass wir sehr wohl ein Augenmerk darauf richten, wiedas Ganze bezahlt werden kann.
Es ist doch von entscheidender Bedeutung, dass die Bür-gerschaft nicht durch die Mehrkosten überfordert wird.Das bitte ich in die Überlegungen einzubeziehen.
Die Zuschlagserhöhungen für die Zertifikate wurdennicht erwähnt. Die sind jetzt mit aufgenommen worden.
Dann möchte ich auf Herrn Krischer eingehen.
Lieber Herr Kollege, Sie haben wortwörtlich gesagt, fürdie kleinen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen täten wirgar nichts.
Da bitte ich doch, einen Blick in das Gesetz zu werfen.Ich bitte, nachzusehen;
dann wird sich herausstellen, dass Ihre Aussage totalfalsch ist. In der schwierigen Frage der Energiewendesollte auch die Opposition etwas genauer hinsehen.
Sie halten uns vor, dass wir im Geiste noch immer anden 1 000-MW-Kraftwerksblöcken hängen.
Lieber Herr Kollege Krischer, wenn ich Ihren Antrag an-schaue, stelle ich fest, dass alle Maßnahmen, die Sie for-dern, auf deutliche Mehrkosten für den Bürger hinaus-laufen. Wir müssen der Öffentlichkeit sagen, dass diePolitik der Grünen dazu führt, dass das Ganze enormviel kostet.
Kolleginnen und Kollegen, wir fördern nicht nur dieWärmespeicher stärker, sondern auch die Wärmenetze.Bei den Wärmenetzen erhöhen wir die Förderung auf30 Prozent; der maximale Förderbetrag je Projekt wirdauf 10 Millionen Euro angehoben und damit verdoppelt.Auch da kann man sagen: Warum vervierfachen wir dasGanze nicht? Oder: Warum hängen wir nicht noch einpaar Nullen dran? – Es ist schwierig, die Dinge herüber-zubringen, wenn es so viel Geld kostet.Zum Schluss. Die Kraft-Wärme-Kopplung wird einenwesentlichen Beitrag zur effizienten Nutzung von Res-sourcen leisten. Wir, CDU/CSU und FDP, werden unse-ren Beitrag dahin gehend leisten, dass wir eine gute Wei-terentwicklung sowohl bei der Kraftwerkstechnologieals auch bei der Klein-KWK-Technologie ermöglichen.Ich stimme zu, dass die Klein-KWK eine ganz wesentli-che Rolle spielen wird.
Wenn ich das Gutachten, die Evaluation, richtig gele-sen habe, würden wir ohnehin auf einen Anteil desKWK-Stroms von 20 Prozent kommen. Mit diesen Ver-besserungen sind die Aussichten hervorragend, dass wirunser Ziel erreichen, den Anteil des KWK-Stroms in denNetzen bis 2020 auf 25 Prozent zu steigern.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Franz Obermeier.Ich schließe nun die Aussprache.
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21528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes. Der Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9617,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/8801 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Dassind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? –Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-gen? – Sozialdemokraten und Linksfraktion. Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dassind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? –Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-gen? – Sozialdemokraten und Linksfraktion. Damit istder Gesetzentwurf angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.Entschließungsantrag der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/9618. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Das sind die Fraktion der Sozialdemo-kraten und die Linksfraktion. Gegenprobe! – Das sinddie Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/9749. Wer stimmt für diesenEntschließungsantrag? – Das sind die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Gegenprobe! –Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? – Fraktion der So-zialdemokraten. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nunzum Tagesordnungspunkt 6:Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan vanAken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEIran: Sanktionsspirale beenden – Kriegsge-fahr stoppen – Neuen Anlauf zum umfassen-den Dialog wagen– Drucksache 17/9065 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind da-mit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat nun für dieFraktion Die Linke unser Kollege Jan van Aken. – Bitteschön, Kollege Jan van Aken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Genau indiesen Minuten finden in Bagdad die Gespräche mit demIran über das Atomprogramm statt. Ich glaube, mankann gar nicht überbetonen, wie wichtig ein Erfolg die-ser Gespräche ist. Es geht hier im Moment um Kriegoder Frieden. Im Moment steht immer noch die Drohungim Raum, dass die iranischen Atomanlagen bombardiertwerden. Wenn das passiert, dann kommt es ganz sicherzu einem Flächenbrand in der ganzen Region, den keinMensch mehr kontrollieren kann. Diesen Krieg müssenwir unbedingt stoppen.
Ich möchte vorab auf die Faktenlage eingehen. Esgeht um den Vorwurf, dass der Iran im Moment an derAtombombe baut. Der Hintergrund dafür ist dieser Be-richt der Internationalen Atomenergie-Organisation,IAEO, aus dem letzten November. Ich habe mir diesenBericht genau angesehen. Ich muss dazusagen: Ich selbsthabe früher bei den Vereinten Nationen als Biowaffenin-spektor gearbeitet. Ich selbst habe solche Berichte ge-schrieben. Ich habe mir diesen Bericht von vorne bishinten durchgelesen, jedes einzelne Wort, und ich kannIhnen versichern: Er enthält kein einziges Wort über einaktuelles Atomwaffenprogramm des Iran, nichts. Er ent-hält sehr viele Fakten – ich bezweifele sie nicht –, diesich alle auf ein Atomwaffenprogramm im Iran vor demJahr 2003 beziehen. Dieser Bericht selbst besagt: DiesesProgramm wurde im Jahr 2003 eingestellt. Für die neunJahre danach bis hin zur Gegenwart besagt dieser Be-richt: Es gibt aktuell keinen Hinweis auf ein iranischesAtomwaffenprogramm.Der Leiter der IAEO war hier in Berlin. Als wir ihnnach einem solchen Programm gefragt haben, hat er ge-sagt: Nein, die IAEO hat keine eigenen Hinweise darauf,dass im Iran in den letzten neun Jahren versucht wurde,Atomwaffen herzustellen. Das deckt sich mit der Ein-schätzung der amerikanischen Geheimdienste. Auch siesagen: Wir glauben, das iranische Atomwaffenpro-gramm wurde 2003 eingestellt.
Das sind die Fakten.Ich weiß, Sie haben sämtliche Überschriften in derWeltpresse im November gelesen. Dort hieß es: Der Iransteht kurz davor, die Atombombe herzustellen. – Dasstimmt alles nicht. Ich glaube, Sie sollten diesmal weni-ger der Presse, sondern mehr dem Bericht der IAEOglauben.
Die Frage ist natürlich: Was heißt das jetzt für die ak-tuelle Politik? Natürlich ist das Misstrauen gegenüberdem Iran berechtigt. Dieses Misstrauen habe ich auch.Andersherum gilt natürlich ebenfalls: Das Misstrauendes Iran gegenüber dem Westen ist berechtigt. Auch da-für gibt es viele Gründe. Wenn wir aus dieser Situationherauskommen wollen, wenn die Gespräche ein Erfolg
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21529
Jan van Aken
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sein sollen, dann brauchen wir eine Wiederherstellungdes Vertrauens auf beiden Seiten.Das Falscheste, was man im Moment machen kann,was die Bundesregierung macht – wo ist eigentlich einVertreter des Außenministeriums?
Offensichtlich ist die Bundesregierung bei dieser Iran-Debatte nicht vertreten –, ist, die Sanktionen immer wei-ter zu verschärfen. Ich verweise auf das für den Sommergeplante Ölembargo und darauf, dass alle Finanztransak-tionen gegenüber dem Iran eingefroren werden sollen.Damit schrauben Sie die Sanktionen auf den höchstmög-lichen Stand überhaupt. Glauben Sie, Sie können damitVertrauen schaffen? Glauben Sie, Sie können damit Ge-spräche zum Erfolg führen?Wer jetzt das Argument äußert: „Na ja, ohne denDruck wäre der Iran überhaupt nicht gesprächsbereit“,der lügt sich komplett in die Tasche. Ein solcher Weg hatnoch nie funktioniert, und er wird auch hier nicht funk-tionieren. Wenn man den Druck auf ein Land von außenextrem erhöht, dann wird dort – das ist doch immer so –die Wagenburg aufgebaut und setzen sich die Hardlinerdurch. Diejenigen im Iran, die Gespräche wollen, habendann kaum noch eine Chance, sich durchzusetzen. Nochhaben sie eine Chance. Im Moment setzen sich in Tehe-ran wie in den USA diejenigen durch, die gesprächsbe-reit sind. Aber wenn Sie nicht bereit sind, die Sanktionenzurückzufahren, dann werden Sie keinen Erfolg bei denGesprächen erzielen, dann wird es den Angriff auf denIran geben, dann werden wir Krieg haben. Das könnenSie nur verhindern, wenn Sie die Sanktionen zurückneh-men.
Es gibt ein zweites, für mich sehr starkes Argumentgegen die Sanktionen. Ich würde hier heute eigentlichlieber über die Menschenrechtssituation und über denDemokratisierungsprozess im Iran reden. Vor zwei Jah-ren waren Millionen von Menschen in Teheran auf derStraße, um gegen Ahmadinedschad zu demonstrieren.Und jetzt? Im März waren wieder Wahlen in Teheran.Kein einziger Mensch traut sich mehr auf die Straße. Na-türlich ist die Wagenburg aufgebaut. Natürlich ist derDruck nach innen jetzt so groß, dass jeder, der den Mundaufmacht, gleich ein Landesverräter ist, dem die Todes-strafe droht. Wenn Sie den Demokratisierungsprozessunterstützen wollen, auch dann müssen Sie diese Sank-tionen zurücknehmen.
Die einzige Chance, bei den Gesprächen in Bagdad indiesen Tagen sowie in den nächsten Wochen und Mona-ten zum Erfolg zu kommen, ist, dass sich auch die Bun-desregierung bereit erklärt, Druck herauszunehmen unddas vertrauensbildende Angebot zu machen: Wir neh-men die Sanktionen zurück; dafür lässt der Iran die In-spektoren in andere Anlagen hinein. – Das wäre derbeste Weg zum Frieden.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandkeine Waffen mehr exportieren sollte. Für den Iran giltdas schon jetzt. Deutschland sollte aber zum Beispielauch nach Israel, das gerade damit droht, den Iran anzu-greifen, keine Waffen mehr exportieren. Deutschlandsollte auch nicht in irgendein anderes Land der WeltWaffen liefern.Ich bedanke mich bei Ihnen.
Vielen Dank, Kollege van Aken. – Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Joachim Hörster. Bitte schön, Kollege Joachim Hörster.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer denAntrag der Fraktion Die Linke vom 21. März 2012 liest,der stößt auf das gesamte Friedensarsenal, das immerwieder heruntergebetet wird, ohne dass man auf dieSituation konkret Bezug nimmt, in der wir uns befinden.Der Iran hat 1968 den Atomwaffensperrvertrag unter-schrieben. Mit dieser Unterschrift hat sich der Iran ver-pflichtet, seine Atomanlagen im Hinblick auf friedlicheNutzung kontrollieren zu lassen. Der Iran hat in denletzten Jahren kontinuierlich verweigert, dass dieseKontrolle stattfindet. Er hat den Zugang zu Atomanla-gen, bei denen vermutet wird, dass darin militärischeEinrichtungen hergestellt werden, untersagt, hat ihn alsonicht zugelassen. Die Inspektoren der IAEO sind imJanuar 2012 – das war das letzte Mal – erfolglos im Irangewesen, weil der Iran wieder nicht zugelassen hat, dassdie kritischen Anlagen besichtigt werden.Von daher liegt das Problem nicht darin, dass man mitdem Iran unbotmäßig umgeht, sondern darin, dass derIran seine internationalen Verpflichtungen aus demAtomwaffensperrvertrag nicht einhält.
Nicht mehr und nicht weniger wird verlangt, als dass derIran diese Verpflichtungen einhält.Eine vertrauensbildende Maßnahme ist, wenn der Iranseine Anlagen öffnet, sie von den Inspektoren besichti-gen lässt und nachprüfen lässt, was in diesen Anlagengeschieht. Dagegen hat sich der Iran immer gewehrt.Es ist auch nicht so, dass keine Gesprächsbereitschaftbestünde. Bereits am 14. Juni 2008 hat es einen Vorschlagvon China, Deutschland, Frankreich, der Russischen Fö-deration, dem Vereinigten Königreich, den VereinigtenStaaten und der Europäischen Union an die IslamischeRepublik gegeben, in dem in 31 Spiegelstrichen dem Iranauf unterschiedlichen Feldern Zusammenarbeit angebotenwurde, wenn man das Problem mit den Inspektionen inden Atomanlagen lösen kann. Es ist angesprochen wordeneine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie, inzahlreichen politischen Fragen, in wirtschaftlichen Fra-gen, bei der Energiepartnerschaft, in der Landwirtschaftund vieles andere mehr, was darauf ausgerichtet war, denIran auch wirtschaftlich nach vorne zu bringen und Ent-
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21530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Joachim Hörster
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wicklungsmöglichkeiten im wirtschaftlichen und indus-triellen Bereich zu schaffen.Auf diese Verhandlungsangebote ist der Iran nichteingegangen; im Gegenteil: Er hat gedroht, die Straßevon Hormus unpassierbar zu machen und damit den Erd-öltransport durch die Straße von Hormus in die Abneh-merländer geradezu zu behindern. Wer das androht undsich jetzt beschwert, dass wegen der Nichtkontrollierbar-keit der Atomanlagen eine Sanktion kommt, argumen-tiert doppelbödig; denn wer dieses Mittel selbst in An-spruch nehmen will, um den Westen und die anderenUnterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags un-ter Druck zu setzen, darf sich nicht darüber beschweren,wenn ein Ölembargo zu einem ähnlichen Ergebnis führt,allerdings mit Rückwirkung vorwiegend auf die irani-sche Wirtschaft selbst.Niemand in dieser Region will einen Krieg haben.Niemand! Ich kenne keinen, der einen Krieg haben will.
Wir sind mit unserer Parlamentariergruppe in Oman, inAbu Dhabi und im Libanon gewesen und haben natür-lich gefragt, wie man in den arabischen Ländern die Si-tuation gegenüber dem Nachbarn Iran sieht. Natürlichhaben sie alle Bedenken. Sie alle befürchten, dass derIran versucht, eine Hegemonialmacht zu werden. Wassie auf alle Fälle nicht wollen, ist eine bewaffnete Aus-einandersetzung. Das ist auch die Überschrift, unter derdie Bundesrepublik Deutschland seit Entstehen diesesKonflikts handelt. Die Bundesrepublik Deutschland isteiner der härtesten Verfechter einer friedlichen Lösungdieses Konflikts und ist gegen jeden Einsatz von Waffenin diesem Bereich. Das ist mehrfach verkündet worden.Deswegen gibt es auch keinen Anlass, die Bundesregie-rung aufzufordern, auf eine bewaffnete Auseinander-setzung zu verzichten.
Wir wollen eine friedliche Lösung. Deswegen habenwir uns immer wieder bemüht, auch wenn es manchmalKonflikte mit Alliierten gab, mit dem Iran im Gesprächzu bleiben. Wir sind der Auffassung, dass dieser Wegfortgesetzt werden muss. Während wir hier diskutieren,finden in Bagdad Verhandlungen mit dem Iran über einemögliche Lösung des Problems statt. Es sieht so aus, alsob man dort weiterkommt. Jedenfalls hat die IAEO einAbkommen in Aussicht gestellt, weil man mit Teheranverhandelt habe und das entsprechend in Erwägung ge-zogen werde.Deswegen bin ich der Auffassung: Wir sollten jetzt,gerade in dieser Zeit, in der die Verhandlungen laufen,keine einseitigen Schritte unternehmen, die unsere Posi-tion schwächen oder den Eindruck erwecken, als sei dasnicht ernst gemeint.
Herr Kollege Jochen Hörster, es ist bekannt, dass Sie
sehr schnell reden. Ich probiere es trotzdem: Der Kol-
lege Jan van Aken möchte Ihnen noch eine Zwischen-
frage stellen. Sie haben Ihr Manuskript aber schon in der
Hand. Wollen Sie die Frage noch ermöglichen?
Ich lasse sie natürlich zu.
Bitte schön, Kollege Jan van Aken.
Vielen Dank. – Noch einmal: Ich stimme Ihnen zu,
dass das Misstrauen berechtigt ist. Aber für die heutige
Debatte und die künftigen Debatten sind mir die Fakten
ganz wichtig. Sie haben gesagt: Der Iran verstößt gegen
seine Verpflichtung nach dem NPT, dem Nichtverbrei-
tungsvertrag. Mich interessiert, ob Sie dafür ein einziges
konkretes Beispiel haben. Sie haben gesagt, dass der Iran
im Frühjahr die Besichtigung einer Anlage verweigert
hat. Das ist allerdings keine Atomanlage. Nach dem
NPT ist der Iran nicht verpflichtet, Parchin inspizieren
zu lassen. Ich bin sehr dafür, dass Parchin inspiziert
wird. Ich möchte aber bei den Fakten bleiben. Kennen
Sie ein einziges Beispiel, wo die Verpflichtungen aus
dem NPT nicht erfüllt worden sind? Ich muss dazu sa-
gen: Der Iran hat das Zusatzprotokoll, das erweiterte In-
spektionen zulässt, nicht ratifiziert. Daraus erwachsen
dem Land keine Verpflichtungen. Es besteht nur die ge-
nerelle Verpflichtung, Inspektionen von Atomanlagen
zuzulassen. Die bezieht sich nicht auf Raketenanlagen.
Wenn Sie das behaupten, nennen Sie mir ein Beispiel.
Ansonsten bitte ich Sie, bei den Fakten zu bleiben.
Herr Kollege van Aken, ich bemühe mich ernsthaft,
bei den Fakten zu bleiben. Deswegen habe ich bei der
Fülle der Einzelheiten ein bisschen Papier mitgenom-
men. Der Iran hat zum ersten Mal im Jahr 2006 die In-
spektionen verweigert. Wenn Sie sagen, der Atomwaf-
fensperrvertrag würde nur zulassen, dass die zivilen
Einrichtungen kontrolliert werden dürfen und die militä-
rischen Einrichtungen nicht, dann wäre genau das Ge-
genteil von dem erreicht, was erreicht werden soll; denn
der Atomwaffensperrvertrag soll gerade verhindern, dass
kerntechnische Anlagen missbraucht werden, um auch
Kriegswaffen herstellen zu können. Deswegen gibt es
die Kontrollen. Deswegen gibt es die Inspektionen. Der
Iran muss sich fragen lassen, wenn er die Inspektionen in
bestimmten Bereichen nicht zulässt, warum er das tut.
Das ist eine Verletzung des Atomwaffensperrvertrages.
Daran sollte man nicht vorbeireden.
Herr Präsident, ich bedanke mich für die Aufmerk-
samkeit.
Vielen Dank. – Sie verzichten noch auf weitere Rede-zeit. Das ist angesichts des langen Tages sicher auchdankbar von allen vermerkt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21531
Vizepräsident Eduard Oswald
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Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemo-kraten unser Kollege Rolf Mützenich. Bitte schön, Kol-lege Rolf Mützenich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In erster Linie schaden nicht internationaleSanktionen dem iranischen Volk, sondern eine inkompe-tente Regierung. Ich glaube, dass wir dies an erster Stellesagen müssen. Herr Kollege van Aken, insbesondereKorruption, Gruppenegoismus und Repression schadendem iranischen Volk.
Ich finde, eine solche Aussage sollte vom DeutschenBundestag getroffen werden. Ein Land mit außerge-wöhnlichen Menschen und einer bedeutenden Kulturund Geschichte hat besseres verdient als diese Regierungund dieses Regime.
Deswegen will ich noch einmal sagen: Sanktionensind kein Selbstzweck, wie Sie es hier behauptet haben.Sanktionen gehören aber immerhin zum diplomatischenWerkzeugkasten. Der Sicherheitsrat der Vereinten Natio-nen hat mehrere Sicherheitsratsresolutionen auf derGrundlage von Berichten der Internationalen Atomener-giebehörde beschlossen. Diese spricht von offenen Fra-gen, die darauf hindeuten, dass das Atomprogramm of-fensichtlich keine friedliche Nutzung beinhaltet. DieFragen beziehen sich einmal auf die Zeit bis zum Jahr2003 – Herr Kollege van Aken, das gehört zur Redlich-keit –, aber auch darüber hinaus. Der jüngste Berichtnimmt die Entwicklung von Forschungen an einemSprengkörper in den Fokus, fragt natürlich insbesondere– das sollten wir, die wir uns insbesondere mit Blick aufdie Raketenabwehr Sorgen machen, auch tun –, warumder Iran möglicherweise weitreichende Raketen entwi-ckelt. All das gehört zu einer redlichen Debatte.Deswegen sage ich zu den Sanktionen: Zu den Sank-tionen gehören Verhandlungen und Anreize. Herr Kol-lege van Aken, ich hätte mich gefreut, wenn Sie gesagthätten: Das ist der Konsens des gesamten DeutschenBundestages. – Was tut die Bundesregierung seit 2001denn anderes? In den Zeiten der rot-grünen Koalition isterstmals eine solche Initiative mit den Regierungen an-derer Länder entwickelt worden. Alle nachfolgendenRegierungen haben diese Vorgehensweise, das diploma-tische Mittel in den Fokus zu stellen, aufgenommen, umeine notwendige Verhaltensänderung im Iran zu errei-chen. Auch wir Sozialdemokraten – das haben wir vondieser Stelle aus immer gesagt, und die Zeit der Kanzler-schaft von Gerhard Schröder ist dafür ein gutes Beispiel –lehnen militärische Eingriffe ab.Die wirklich interessante Debatte findet derzeit in Is-rael statt. Sie verlieren kein Wort dazu, dass gerade is-raelische Wissenschaftler und Politiker sagen: Militäri-sche Drohungen oder militärische Eingriffe führenmöglicherweise genau zum Gegenteil. – Das sollten wirin dieser Debatte aber genauso betonen wie die Tatsache,dass wir diese Diplomatie benötigen.Ebenfalls übersehen haben Sie die Situation, die wirim März dieses Jahres erlebt haben. Es fand ein verbalerSchlagabtausch statt, der sich immer stärker aufgeschau-kelt hatte und bei dem sich angesichts der militärischenDrohungen – nicht nur vonseiten der israelischen Regie-rung, sondern bis in die USA hinein – das Fenster derDiplomatie beinahe geschlossen hätte. Nach meinemDafürhalten war es Präsident Obama, der es mit einemdiplomatischen Meisterstück geschafft hat, dieses Fens-ter der Diplomatie für die nachfolgenden Wochen undMonate wieder für Gespräche zu öffnen.Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie al-les dafür unternimmt – sowohl in Istanbul, aber auchheute in Bagdad –, möglicherweise mit neuen Vorschlä-gen diejenigen Elemente in die Verhandlungen hineinzu-bringen, die wir brauchen. In diesem Zusammenhangsollten wir festhalten, dass der entscheidende Träger dersogenannten politischen Gewalt im Iran, der religiöseFührer, im März zumindest darauf hingewiesen hat, dassin diesen Verhandlungen möglicherweise ein neues Mo-mentum liegt.Deswegen bitte ich Sie: Reden Sie nicht allesschwarz; man kann das Ganze ja in einem gewissenSinne grauzeichnen. Nach meinem Dafürhalten habenwir zum jetzigen Zeitpunkt auf jeden Fall die Chance,uns mit friedlichen, diplomatischen Mitteln, die sich ge-genseitig verstärken, aufeinander zuzubewegen. In die-sem Zusammenhang ist die Bringschuld vonseiten desIran unerlässlich, auf die offenen Fragen, die HerrAmano in dem Bericht der Internationalen Atomenergie-behörde angesprochen hat, entsprechende Antworten zugeben. Das habe ich eben wiederholt. Ein entscheidenderPunkt ist jedoch – das ist unsere gemeinsame Haltunghier im Deutschen Bundestag –, dass wir den Iran auf-fordern, die Infragestellung Israels und die Leugnungdes Holocaust ebenso zurückzunehmen,
denn das würde die Möglichkeit für friedliche und diplo-matische Gespräche befördern.Es besteht ebenso wenig Dissens darüber, dass auchder Iran legitime Sicherheitsinteressen hat, die berück-sichtigt werden müssen. Darauf deutet insbesondere dielange Geschichte hin, sowohl im Hinblick auf die Bezie-hungen zu den USA, aber auch innerhalb des regionalenUmfelds in den Beziehungen zu anderen, damals nochstarken Ländern. Diese Hintergründe können eine Belas-tung für politische Gespräche bedeuten. Deswegen wärees richtig, nicht immer wieder das Wort vom RegimeChange im Munde zu führen – wie es derzeit auch imamerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von einerPartei, die sich darum bemüht, ab November wieder denPräsidenten zu stellen, getan wird –, sondern davon ab-zulassen. Das würde den Weg zu konstruktiven Gesprä-chen ebenso frei machen wie die Idee, ein regionales Si-cherheitssystem in diese Region mit einzubringen.
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21532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dr. Rolf Mützenich
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Ich will zum Schluss meiner Rede noch auf einen ak-tuellen Fall in Deutschland hinweisen. Hier sollten wiruns gegenüber der iranischen Regierung, aber auch ge-genüber dem Regime insgesamt positionieren: Die Be-drohung hier lebender Iraner ist nicht hinnehmbar.
Weder eine Fatwa noch eine „rechtliche Verfolgung“ ge-genüber dem iranischen Musiker Shahin Najafi und diegestern stattgefundenen Demonstrationen vor der Deut-schen Botschaft in Teheran sind hinnehmbar. Sie sindgenauso zu verurteilen wie andere Dinge, die hier aufge-kommen sind. Ich finde, dass die Bundesregierung zu-sammen mit der Landesregierung in Nordrhein-Westfa-len alles dafür unternehmen sollte, dass die Sicherheitdes hier lebenden Iraners gewährleistet wird.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Rolf Mützenich. – Nun für die
Fraktion der FDP unser Kollege Djir-Sarai. Bitte schön,
lieber Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es freutmich, dass das wichtige Thema Iran gerade in dieser Wo-che auf der politischen Agenda steht und hier im Plenumbehandelt wird.
– Ja, ja. – Damit wird deutlich, welche Bedeutung dasLand in der internationalen Politik hat, nicht nur für dieStabilität in der Region, sondern auch für die Zukunftder gesamten globalen Sicherheitsarchitektur.Der vorliegende Antrag lautet „Iran: Sanktionsspiralebeenden – Kriegsgefahr stoppen – Neuen Anlauf zumumfassenden Dialog wagen“. Ich habe mich sehr inten-siv mit Ihrem Antrag beschäftigt. Ja, es ist sehr wichtig,einen kritischen Dialog mit dem Iran zu führen, ja, es istsehr wichtig, die Kriegsgefahr, einen militärischen Kon-flikt, zu verhindern. Die Sanktionsspirale beenden – dashat der Iran selbst in der Hand. Die Sanktionen könnenaufgehoben werden, wenn der Iran die richtigen politi-schen Schritte macht
und wenn er das Vertrauen der internationalen Gemein-schaft zurückgewinnt.
Machen Sie sich einmal klar, in welcher Lage wir unszu Beginn des Jahres befanden. Noch nie war die Gefahreiner militärischen Eskalation am Persischen Golf sopräsent. Der internationalen Gemeinschaft blieb keineandere Möglichkeit, als einen Militärkonflikt mit allenMitteln zu verhindern. Ein Militärkonflikt zwischenIsrael und Iran wäre eine Katastrophe für den gesamtenNahen und Mittleren Osten. Ein Krieg dort hätte für diegesamte Region dramatische Konsequenzen und einenstarken negativen Einfluss auf die Entwicklung in derarabischen Welt. Auch unser Engagement in Afghanis-tan wäre übrigens gefährdet. Wir müssen eines sehen:Die Sanktionen waren und sind Notwendigkeiten derRealpolitik. Sie dienen dazu, dem Iran die Ernsthaftig-keit der internationalen Bemühungen um größere Stabi-lität und Sicherheit in der Region vor Augen zu führen.
Offenbar hat der harte Kurs Wirkung gezeigt. DerIran scheint derzeit offener und verhandlungsbereiter zusein denn je. Man kann natürlich immer über die Folgenvon Sanktionen diskutieren. Es ist klar, dass die Sanktio-nen den Iran hart treffen, und es ist auch völlig klar, dassdie Sanktionen das iranische Volk hart treffen. Dennochhatten wir keine andere Wahl. Der Iran ist auf dem Wegin die völlige politische und wirtschaftliche Isolation,wenn er nicht kooperiert und beim Atomprogramm nichtfür Transparenz sorgt. Eine Verminderung des wirt-schaftlichen Drucks zum jetzigen Zeitpunkt könnte dazuführen, dass die neue Offenheit und Verhandlungsbereit-schaft des Iran erneut abflachen würden. Machen wiruns nichts vor: Der diplomatische Druck ist derzeit diebeste Möglichkeit, den Iran an konstruktive Lösungendes Konflikts zu binden.Die FDP-Bundestagsfraktion hat immer betont, dasssich die Herausforderungen nicht allein auf die Atom-frage beschränken. Das haben wir in der Vergangenheitimmer wieder deutlich gemacht. Der Iran stellt uns indoppelter Hinsicht vor Herausforderungen. Die Men-schenrechtslage im Land und das iranische Atompro-gramm stehen im Fokus unserer Politik. Es ist anschei-nend nötig, das immer wieder zu erklären.Als Vorsitzender der Deutsch-Iranischen Parlamenta-riergruppe komme ich gelegentlich mit iranischen Abge-ordneten ins Gespräch. Eines mache ich dabei immerdeutlich: Für uns sind Menschenrechte – das sage ich beiallen Gesprächen, das sage ich auch in Teheran ganz of-fen – universell und unteilbar. Wo immer Menschen-rechtsverletzungen stattfinden, ist es unsere Aufgabe,nicht wegzuschauen, sondern diese zu kritisieren undauch die konkreten Probleme zu thematisieren.
Der Streit um das Atomprogramm und die Menschen-rechtslage im Land hängen zusammen. Die internatio-nale Gemeinschaft fordert zu Recht mehr Transparenzund Kooperation. Der Iran gefährdet nicht nur die Si-cherheit in der Region, sondern auch die gesamte glo-bale Sicherheitsstruktur. Ja, wir zweifeln an der rein zivi-len Natur des iranischen Nuklearprogramms. Immerwieder verstößt der Iran gegen internationale Regeln undNormen. Die Führung des Landes sendet widersprüchli-
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Bijan Djir-Sarai
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che Signale an die internationale Gemeinschaft. So eska-liert die Situation immer weiter. Das Regime muss unbe-dingt seine Glaubwürdigkeit wiederherstellen, damit wires als verlässlichen Partner behandeln können.Nur wenige politische Systeme der Welt sind so viel-schichtig und komplex wie das politische System imIran. Das macht es uns häufig schwer, einzuschätzen,nach welchen Prinzipien im Iran Entscheidungen getrof-fen werden und vor allem, wer die entscheidenden politi-schen Akteure sind, die dort die harten Entscheidungentreffen. Wir haben aber immer auf Verhandlungen mitdem Iran gesetzt. Das wurde bereits im Koalitionsver-trag so festgelegt. Kompromisslösungen wurden undwerden immer angeboten. Sie wurden jedoch nicht ange-nommen. Auch der Bericht der IAEO vom Novemberletzten Jahres hat dies, Herr Kollege, in aller Deutlich-keit gezeigt.Als Reaktion auf das Nichteinlenken des Iran folgteneben Sanktionsmaßnahmen. Selbst wenn alle Flüsse die-ser Welt einmal zusammenkommen, wie der persischeDichter sagt: Solange der Iran eine vollständige Koope-ration und Transparenz verweigert, können diese Sank-tionen auch nicht beendet werden.
Sobald der Iran weitere Kooperation signalisiert – dasmuss man genauso deutlich sagen –, können die Sanktio-nen jederzeit beendet werden. Wir hoffen weiterhin aufeinen Dialog mit dem Iran und auf eine friedliche Klä-rung der Nuklearfrage.Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkungmachen, Herr Kollege van Aken. Die Diskussion und derKonflikt der internationalen Gemeinschaft mit dem Iransind hart. Es ist aber richtig, gegenüber der iranischenRegierung hart zu bleiben. Jedoch wäre es falsch, meineDamen und Herren, den Iran selbst und vor allem dasiranische Volk zu dämonisieren. Im Iran leben heuteMillionen gut ausgebildete und weltoffene junge Frauenund Männer. Es ist die Entscheidung der Iraner selbst, inwelchem System sie leben wollen. Diese Entscheidungkönnen und wollen wir nicht für sie treffen.Im Iran gibt es heute aber bereits eine Zivilgesell-schaft, von der viele Länder in der arabischen Welt nochweit entfernt sind – übrigens auch viele Länder, die wirinzwischen als strategische Partner bezeichnen.
Eine kluge Außenpolitik bedeutet daher, Instrumente zuentwickeln, damit diese große Kulturnation wieder in dieMitte der internationalen Gemeinschaft zurückkommtund sich nicht durch Isolation weiter radikalisiert.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Djir-Sarai. – Nächste Red-nerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsereKollegin Kerstin Müller. Bitte schön, Frau KolleginKerstin Müller.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Noch nie in den vergangenen zehn Jahren war im Hin-blick auf den Iran – das muss man sicher sagen – die Ge-fahr einer militärischen Eskalation so groß. Wie anderehier verfolge ich das schon seit vielen Jahren. Gleichzei-tig muss man auch sagen, dass die aktuellen Gesprächezwischen dem Iran und den fünf ständigen Mitgliederndes Sicherheitsrates sowie Deutschland hoffnungsvollstimmen, weil sie in substanzielle Verhandlungen mün-den können. Sie werden allerdings von den schärfstenSanktionen durch die USA, Kanada und die EU beglei-tet, die jemals verhängt wurden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,ausgerechnet in der jetzigen Situation, wo der Double-Track-Ansatz – also der zweigleisige Ansatz – der inter-nationalen Gemeinschaft aus Sanktionen einerseits undGesprächsangeboten andererseits doch ganz offensicht-lich Wirkung zeigt,
fordern Sie, die Sanktionen ohne Gegenleistung aufzu-heben. Ich meine, dass das völlig kontraproduktiv wäre.
Warum ist Ihrer Meinung nach der Iran an den Ver-handlungstisch zurückgekehrt? Ich glaube – so hart dasklingen mag –, weil die harten Finanz- und Ölsanktionendas Regime in Teheran ganz offensichtlich schwer unterDruck setzen.
– Nein, ich träume nicht. – Sie sagen nicht, was der Irandenn für einen Grund hätte, an den Verhandlungstisch zukommen, und machen keinen einzigen Vorschlag dazu.Welchen Grund gäbe es denn? Sie sind – so steht es inIhrem Antrag, ich habe ihn sehr genau gelesen – ja sogarder Auffassung, dass es keinen Grund für Verhandlun-gen gibt, weil gar nichts passiert ist. Die IAEO habe seit2003 gar keine Hinweise auf ein Atomwaffenprogrammdes Iran mehr. Das alles sei Lug und Trug, eine Erfin-dung des Westens, um unter diesem Vorwand quasi mili-tärisch einen Regime Change im Iran herbeiführen zukönnen. Sie haben das heute nicht gesagt, aber Sieschreiben
– hören Sie doch einmal zu, das steht in Ihrem eigenenAntrag –, wir würden uns am Vorabend des Irakkrieges2003 befinden. Dazu muss ich sagen: Man muss schonideologisch auf beiden Augen blind sein, um einen der-
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Kerstin Müller
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art absurden Vergleich in die Welt zu setzen. Damit hatdie jetzige Situation nichts zu tun.
Das ist die Argumentationslogik Ihres Antrags.Tatsache ist, dass die IAEO seit 2003 keine neuen Be-weise, keine „smoking gun“ gefunden hat. Wie aber solldie IAEO auch Beweise für oder gegen ein möglichesAtomwaffenprogramm finden, wenn sie die brisantenAnlagen nicht kontrollieren darf? Deshalb – da wider-spreche ich Ihrem Antrag auch – ist die IAEO nun ein-mal auf Informationen und Hinweise nationaler Geheim-dienste angewiesen.Es ist völlig klar: Iran hat nach dem Atomwaffen-sperrvertrag das Recht – einer Grünen tut es weh, das zusagen; aber das ist so – auf zivile Nutzung der Atom-energie; aber es hat auch die Pflicht, umfassende Kon-trollen der IAEO zuzulassen,
und muss deshalb endlich das entsprechende Zusatzpro-tokoll des Vertrages ratifizieren und umsetzen. Das soll-ten wir, meine ich, hier doch alle gemeinsam fordern.
Eben haben Sie herumgeeiert.
Ich bin zuversichtlich, dass die Gespräche der IAEOam Montag in eine entsprechende Vereinbarung mün-den. Die letzten Berichte der IAEO – diesbezüglich wi-derspreche ich Ihnen ausdrücklich – geben sehr wohlAnlass zur Sorge. In ihnen werden erstmals sehr klareHinweise für eine militärische Dimension des Atompro-gramms aufgeführt.
– Ich nenne sie: zum Beispiel die Einbunkerung sensiti-ver Bereiche und Anlagen sowie der Ausbau des Rake-tenprogramms, insbesondere entsprechender Trägersys-teme.
Vor allem verfügt Iran inzwischen – das wurde hier nochnicht angesprochen – über größere Vorräte an hochange-reichertem Uran – auf 20 Prozent –, und zwar in einerGrößenordnung, die weit über das hinausgeht, was derIran für den Forschungsreaktor braucht, inklusive zweiAnreicherungsanlagen und mehr als 8 000 Zentrifugen.Das hat der Iran selbst verkündet. Ich frage – das fragtauch die internationale Gemeinschaft –: Wozu das alles,wenn es um die zivile Nutzung, wenn es um ein zivilesNuklearprogramm geht? Hinzu kommt die antisemiti-sche Rhetorik, die Sie ebenfalls völlig ausblenden.Obwohl die meisten Experten und Think Tanks undauch die Geheimdienste zu dem Schluss kommen, dassder Iran sich noch nicht entschieden hat, ob er tatsäch-lich die Bombe bauen wird, gehen alle davon aus – dassage ich sehr klar –, dass er alles dafür tut, diese Optionzu haben. Daher meine ich: Gerade wenn wir verhindernwollen, dass es zu einer militärischen Eskalation kommt,ist der Weg der internationalen Gemeinschaft richtig. Esmuss über Sanktionen Druck ausgeübt werden, undgleichzeitig muss es substanzielle Angebote geben.Zum Schluss will ich sehr deutlich sagen: Substan-ziell und realistisch bedeutet, dass der Iran das Recht aufeine zivile Nutzung hat, und dazu wiederum gehört– auch das tut mir weh – das Recht auf Anreicherung aufeiner niedrigen Stufe, natürlich unter der Voraussetzungumfassender Kontrolle. Diesen Weg muss die internatio-nale Gemeinschaft gehen. Das bedeutet auch, dass, fallsIran einer solchen Begrenzung zustimmt, Brennstoffe fürden Forschungsreaktor möglicherweise von außen gelie-fert werden können. Im Zuge eines solchen substanziel-len Verhandlungsprozesses müssen die Sanktionen dannschrittweise aufgehoben werden. Ich hoffe, dass die Ge-spräche in Bagdad weitergehen und erfolgreich verlau-fen; denn das wäre ein echter Erfolg, und das würdedazu führen, dass ein Krieg verhindert wird, den wir allenicht wollen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. – Nächs-
ter und letzter Redner in dieser Debatte ist für die Frak-
tion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
Bitte schön, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Seit Jahren bestehen begründete Zweifel an der aus-schließlich friedlichen Natur des iranischen Nuklearpro-gramms. Der Iran kooperiert in dieser Frage nach wievor nur unzureichend mit der Internationalen Atomener-giebehörde, IAEO. Diese stellte bereits im November2011 in einem Bericht fest, dass der Iran seine Aktivitä-ten zur Anreicherung von Uran ungeachtet internationa-ler Forderungen mit Nachdruck fortsetzt und dass Hin-weise auf eine mögliche militärische Dimension desiranischen Nuklearprogramms Anlass zu besonderer Be-sorgnis geben. Auch der jüngste IAEO-Bericht vom24. Februar dieses Jahres liefert Anhaltspunkte für eineAusweitung des iranischen Nuklearprogramms. Die EUspricht in diesem Zusammenhang von ernsten und wach-senden Bedenken hinsichtlich des iranischen Nuklear-programms.
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Dr. Wolfgang Götzer
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Die Fraktion Die Linke tut diese Erkenntnisse undBedenken lapidar damit ab, dass „die Wiener BehördeVermutungen über ein mögliches Atomwaffenprogrammdes Iran“ anstelle. Überhaupt schwingt in dem Antragder Linken mit, dass schließlich noch gar nicht bewiesensei, dass der Iran eine militärische Dimension seines Nu-klearprogramms anstrebe.
Das ist Verharmlosung und Schönfärberei, und das kannnicht Grundlage einer verantwortungsvollen deutschenAußen- und Sicherheitspolitik sein.
Zwar hat die IAEO bisher nicht explizit die Existenzeines iranischen Nuklearwaffenprogramms festgestellt,
allerdings stuft sie die Indizien als besorgniserregendein. Ebenso macht es der Sicherheitsrat der VereintenNationen. Dementsprechend hat dieser im Juni 2010 dieResolution 1929 verabschiedet, die die Grundlage füreine Reihe von Ausweitungen von UN-Sanktionen ge-gen den Iran darstellt. Auch die Europäische Union hatzur Umsetzung dieser und weiterer UN-Resolutionen inden letzten zwei Jahren konkrete Sanktionen beschlos-sen und umgesetzt.Nach Meinung der Linken führen diese Sanktionen zueiner Verschärfung des Konflikts. Das Gegenteil ist derFall: Es handelt sich dabei, wie der UN-Sicherheitsrat inallen relevanten Resolutionen betont, um ein Mittel zurUnterstützung des Dialogs mit dem Iran.Auch der amerikanische Präsident Obama unterstrichkürzlich, dass es gerade aufgrund der Sanktionen nochChancen für eine diplomatische Lösung des Konfliktsgibt. Die Erfahrungen bei den bisherigen Verhandlungenmit dem Iran zeigen, dass dieser nur durch Druck seineHinhaltetaktik aufgibt. Dialog und Sanktionen sind so-mit der richtige Ansatz, um den Iran zu einem friedli-chen Einlenken im Atomkonflikt zu bewegen.Der Iran hat wiederholt – das ist heute schon erwähntworden – der IAEO den Zugang zu atomaren Anlagenverweigert. Damit verletzt der Iran völkerrechtlich ver-bindliche Resolutionen des UN-Sicherheitsrats und desGouverneursrats der IAEO. Zu Recht hat die internatio-nale Staatengemeinschaft darauf mit einer Verschärfungder Sanktionen geantwortet, aber eben nicht nur damit,sondern auch mit einem neuen Engagement im Rahmendes E3+3-Dialogs mit dem Iran. Dieser konnte nach übereinem Jahr Pause am 14. April dieses Jahres in Istanbulwieder aufgenommen werden. Dabei konnte Einigkeitdarüber erzielt werden, dass der Nichtverbreitungsver-trag die Grundlage für das Engagement darstellt. Basie-rend auf einem reziproken stufenweisen Ansatz sollenvertrauensbildende Maßnahmen erfolgen und die Ein-haltung aller internationalen Verpflichtungen des Iranserreicht werden.Gestern fand in Bagdad ein weiteres E3+3-Treffenstatt, das heute fortgesetzt wird. Auch wenn nach denletzten Informationen, die mir vorliegen, ein Durchbruchnoch weit entfernt zu sein scheint, wollen wir hoffen,dass diese Verhandlungen über kurz oder lang in ein Ab-kommen mit dem Iran münden, das uns dem Ziel unsererPolitik näher bringt, nämlich einer friedlichen Lösungdes Konflikts.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer. – Wirsind am Ende dieser Debatte, die ich nun auch schließenwerde.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9065 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausfüh-rung der Verordnung Nr. 236/2012 desEuropäischen Parlaments und des Rates vom14. März 2012 über Leerverkäufe und be-stimmte Aspekte von Credit Default Swaps
– Drucksache 17/9665 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Rechtsausschussb) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU undzur Änderung des Börsengesetzes– Drucksache 17/8684 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/9645 –Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausDr. Carsten SielingBjörn SängerDr. Gerhard SchickNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sie sinddamit einverstanden? – Dann ist das somit beschlossen.Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Bun-desregierung der Parlamentarische Staatssekretär, unserKollege Hartmut Koschyk. Bitte schön, Kollege HartmutKoschyk.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn wir heute über den Entwurf eines Ausführungsge-setzes zur EU-Leerverkaufsverordnung debattieren, istdies in verschiedener Hinsicht ein gutes Zeichen.Erstens. Es zeigt, dass wir bei der notwendigen Regu-lierung der Finanzmärkte in Europa in den letzten Mo-naten erheblich vorangekommen sind. Denn mit In-krafttreten dieser Leerverkaufsverordnung werden ab1. November 2012 in ganz Europa ungedeckte Leerver-käufe in Aktien und europäische Staatsanleihen verbotensein.Zweitens. Dieser Gesetzentwurf ist – das halte ich fürentscheidend – ein Beleg dafür, wie gut und richtig eswar, dass wir in Deutschland mit einem nationalen Leer-verkaufsverbot vorangegangen sind. Damit haben wirdie Debatte auf europäischer Ebene entscheidend voran-gebracht, und zwar mit ausgesprochen gutem Erfolg. Die2010 in Deutschland eingeführten national geltenden ge-setzlichen Verbote können nun zugunsten der ab Novem-ber 2012 europaweit geltenden Leerverkaufsverbote er-setzt werden. Dies wird von der Bundesregierungausdrücklich und außerordentlich begrüßt.Warum sind Leerverkaufsverbote auf europäischerEbene so wichtig? Die Entwicklungen im Verlauf der Fi-nanzkrise haben deutlich gezeigt, dass Leerverkaufsver-bote notwendig sind, um der Spekulation auf fallendeKurse und dadurch ausgelösten übermäßigen Schwan-kungen von Wertpapierkursen entgegenwirken zukönnen. Denn insbesondere in Krisenzeiten könnenLeerverkaufsgeschäfte einen sich selbst verstärkendenKursrutsch auslösen. Leerverkaufsverbote sind ein ange-messenes Mittel, um derartigen gefährlichen Entwick-lungen auf den Finanzmärkten entgegenzuwirken. Es istallerdings sinnvoll und notwendig, solche Verbote aufeuropäischer Ebene auszusprechen, um einheitliche Be-dingungen in der gesamten Europäischen Union zu ge-währleisten. Dies schafft Stabilität für die Märkte. Diesstärkt das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Integritätder Märkte.
Die Regelungen der jetzt umzusetzenden EU-Leer-verkaufsverordnung entsprechen weitgehend dem imSommer 2010 in Deutschland eingeführten Leerver-kaufsverbot. Dies ist alles andere als selbstverständlich.Denn es gab auf europäischer Ebene erhebliche Wider-stände gegen eine Regelung von Leerverkaufsverbotenentsprechend der deutschen Gesetzeslage. Im Ergebniskonnte sich Deutschland im Zusammenwirken mit demEuropäischen Parlament durchsetzen, und zwar mit demjetzt gefundenen Ansatz, ungedeckte Credit DefaultSwaps auf Staatanleihen, die keinen Absicherungszwe-cken dienen, in Europa grundsätzlich zu verbieten. Wirhaben in ganz Europa erfolgreiche Überzeugungsarbeitgeleistet.
Dies ist ein großer Erfolg, vor allem von Bundesfinanz-minister Dr. Wolfgang Schäuble, der diese deutsche Lö-sung gegen anfängliche Widerstände der europäischenPartner nunmehr für ganz Europa durchgesetzt hat.
Ich komme nun zu den Einzelheiten der Leerver-kaufsverordnung, die ein wichtiger Baustein einer besse-ren Regulierung der Finanzmärkte in Europa ist. Sieenthält unmittelbar geltende Verbote ungedeckter Leer-verkäufe von Aktien, die zum Handel an europäischenHandelsplätzen zugelassen sind, sowie von Staatsanlei-hen der EU-Mitgliedstaaten und der EuropäischenUnion. Es werden Credit Default Swaps auf Staatsanlei-hen der EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Unionverboten, die keinen Absicherungszwecken dienen.Netto-Leerverkaufspositionen in Aktien und Staatsanlei-hen sowie Credit Default Swaps auf Staatsanleihen müs-sen bei Überschreiten bestimmter Schwellenwerte anAufsichtsbehörden gemeldet werden. Netto-Leerver-kaufspositionen in Aktien müssen beim Überschreitenweiterer Schwellenwerte auch veröffentlicht werden.Die nationalen Aufsichtsbehörden und die Europäi-sche Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, ESMA,haben das Recht, in Krisensituationen weitere zeitlichbefristete Transparenzvorschriften und Verbote zu erlas-sen. Sofern veräußerte Aktien vom Verkäufer nicht in-nerhalb bestimmter Fristen geliefert werden, müssen Er-satzpapiere geliefert und Strafzahlungen geleistetwerden.Der Gesetzentwurf, dessen Beratung wir heute einlei-ten, hat folgende Bestandteile:Mit dem Ausführungsgesetz wird das nationale Rechtan die Regelungen der EU-Leerverkaufsverordnungangepasst. Hieraus folgt, dass die nationalen Leerver-kaufsverbote, die Transparenzpflichten für Inhaber vonNetto-Leerverkaufspositionen und das Verbot bestimm-ter Kreditderivate aufzuheben sind. An ihre Stelle tretenjetzt die Regelungen der EU-Leerverkaufsverordnung.Um den Vollzug der EU-Verordnung in Deutschlandzu gewährleisten, werden die zuständigen Behörden be-stimmt. Das sind die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-tungsaufsicht und die Börsengeschäftsführung. Zudemwerden Sanktionen bei Verstößen gegen die Vorgabender EU-Leerverkaufsverordnung geregelt.Ich möchte bewusst zu Anfang der Beratungen hierim Parlament auf den Antrag des Bundesrates zu unse-rem Gesetzentwurf eingehen. Nach Meinung des Bun-desrates soll die Zuständigkeit für den Erlass zeitlich be-fristeter Leerverkaufsverbote an Börsen bei derBundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht liegen.Aus Sicht der Bundesregierung soll für temporäre Ver-bote an Börsen jedoch die jeweilige Börsengeschäftsfüh-rung zuständig sein. Sie verfügt über die notwendigenDaten für den Erlass eines vorübergehenden Verbots anihrem Börsenplatz, und sie kann die Entscheidung ohnezeitliche Verzögerung bekannt geben. Lassen Sie michzusammenfassen: Die neuen Regeln über Leerverkaufs-verbote werden deutlich machen, dass jetzt dieSchwachstellen im bisherigen Ordnungsrahmen beseitigtwerden, die sich im Zuge der Finanzkrise aufgetanhaben. Das Voranschreiten der Bundesregierung in Eu-
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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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ropa, das hier im Parlament und von nationalen Finanz-akteuren belächelt worden ist und als unwirksam abge-tan wurde, hat sich bewährt. Es war richtig. Wir sind inEuropa vorangegangen, und wir haben durch unser na-tionales Leerverkaufsverbot Maßstäbe für ein europa-weites Leerverkaufsverbot gesetzt.
Wir werden und wir müssen weiter daran arbeiten, dieFinanzsysteme noch robuster und stabiler zu gestalten.Sie alle wissen, dass sich derzeit wichtige Regulierungs-vorhaben auf der Zielgeraden befinden. Ich nenne hierdie Umsetzung von Basel III und die Einführung zusätz-licher Kapitalzuschläge für systemrelevante Banken.Auf europäischer Ebene nahezu abgeschlossen ist dieEU-Verordnung zur Verbesserung der Transparenz aufden OTC-Derivatemärkten.Mit all diesen Maßnahmen kommen wir mit großenSchritten dem Ziel näher, einen stabilen, modernen undzukunftsorientierten Ordnungsrahmen für die Finanz-märkte zu schaffen. Dass Deutschland hier mutig voran-schreitet und Maßstäbe setzt, zeigt die Umsetzung derEU-Verordnung, die wir heute mit dem Gesetzgebungs-vorhaben einleiten. Ich bitte um eine zügige Beratungund um Zustimmung im Haus zu diesem Gesetzentwurfder Bundesregierung.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner
ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Sieling.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie sind hier stolzaufgetreten. Das habe ich selten so erlebt.
Sie erzählen uns die Geschichte, dass Sie in einem wich-tigen Punkt vorangegangen sind. Es war sicherlich rich-tig, zu einem solch zentralen Punkt einen Vorschlag zumachen. Im Bereich der Finanzmarktregulierung hättenwir aber eigentlich mehr als diese Einzelaktion erwartet.Es gibt viele Situationen und Bereiche, in denenDeutschland mit Vorschlägen vorangehen muss.
Auch mit all Ihrem Stolz können Sie nicht verwischen,dass es Ihnen an diesen Vorschlägen mangelt.In der Sache will ich sagen: In der Frage des Leerver-kaufsgesetzes, das Sie damals eingebracht haben, habenwir als Sozialdemokraten eine kritische Haltung einge-nommen.
Wir haben ihm damals nicht zugestimmt, weil wir fan-den, dass dieses Gesetz ein zahnloser Tiger blieb. Auchdas, was jetzt vorliegt, ist nicht hinreichend und mussdeutlich nachgebessert werden. Mein Kollege ManfredZöllmer wird unsere Position später ausführlich benen-nen. Wir stehen am Anfang des Gesetzgebungsverfah-rens, und ich hoffe, dass wir dazu kommen, dass es imRahmen der Beratungen zu deutlichen Verbesserungenkommen wird, damit gerade die in der Tat gefährlichenLeerverkäufe wirksam ausgeschlossen werden.
Das brauchen wir für die Stabilität in Europa und inDeutschland.
Ich möchte mich auf den Gesetzentwurf konzentrie-ren, zu dem Sie nichts gesagt haben, Herr Staatssekretär.Das ist insofern verwunderlich, als dies der Vorschlagist, der heute in diesem Parlament in zweiter und dritterLesung abschließend behandelt wird. Er betrifft die Än-derung des Börsengesetzes, in dem – insbesondere bezo-gen auf den Anlegerschutz, aber auch auf Neuregelun-gen bei der Bankenabgabe – unterschiedliche Elementebehandelt werden. Das ist ein Gesetz, bei dem es – dasmüssen wir als Sozialdemokraten feststellen – im Kernum eine Umsetzung der europäischen Vorgaben geht.Man darf der Regierung attestieren, dass sie dabeikeine großen handwerklichen Fehler gemacht hat. Dasfreut uns; denn das ist nicht die Regel. Wir werden demGesetzentwurf zustimmen und haben uns im Finanzaus-schuss auch so verhalten. Das liegt daran, dass es imRahmen der Beratungen einige Veränderungen gegebenhat, die durchaus von Bedeutung sind, auch wenn es ins-gesamt ein eher verwaltungsbezogenes Vorhaben ist, dasumgesetzt werden muss.Ich will auf zwei Punkte hinweisen:Erstens. Nach den EU-Vorgaben war es unklar, wiedie kommunale Ebene, also die Städte und Gemeinden,bei Kreditvorgängen behandelt werden. Es bestanddurchaus die Gefahr, dass sie wie professionelle Anlegerbehandelt werden, also genauso wie große Geschäfts-kunden und nicht so wie Privatanleger. Wir sind dafüreingetreten, dass die Kommunen wie Privatanleger be-handelt werden, damit sie einen erweiterten Schutz er-halten.
Ich will ganz deutlich sagen, dass wir sehr zufriedendamit sind, dass wir hier einen Konsens hatten und dassim Rahmen dieses Gesetzesvorhabens ein entsprechen-der Vermerk gemacht wurde; denn wir wollen nicht, dassso etwas wie in Pforzheim noch einmal passiert. DieseKommune hat Zinsswap-Geschäfte abgeschlossen, die
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Dr. Carsten Sieling
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zu einem gewaltigen Verlust in Höhe von 56 MillionenEuro geführt haben. Das ist eine Entgrenzung der Fi-nanzmärkte, die eingeschränkt werden muss. Ein kleinesStück dafür wird mit diesem Gesetzentwurf geleistet.Darüber bin ich sehr froh.
Zum zweiten Punkt, der sich positiv entwickeln wird.Dieser zweite Erfolg – jedenfalls gibt es dazu eine ent-sprechende Vereinbarung – geht auf eine Anregung desBundesrates zurück, mit der eine problematische Situa-tion geheilt werden soll. Ich will das hier auch in derÖffentlichkeit sehr deutlich sagen: Die Koalition hat unszugesagt, dass sie beim nächsten Änderungsverfahren– auch noch in diesem Jahr – mit dafür sorgen wird, dassdie Haftung für ein Fehlverhalten der Börsen zukünftignicht mehr bei den Ländern liegt – so ist es nämlichbislang –, sondern die Börsen selbst haften. Das ist ge-rade für die Absicherung der Länder ein wichtigerPunkt. Diesen Wunsch des Bundesrates finden wir So-zialdemokraten sehr wichtig.Ich darf abschließend sagen, dass ich mir gewünschthätte – ich glaube, in der Anhörung ist das sehr deutlichgeworden –, dass auch unterschiedliche Hinweise geradebezogen auf den Anlegerschutz Berücksichtigung gefun-den hätten. Beispielsweise führt es einfach zu Schwie-rigkeiten, dass Börsenprospekte in allen möglichenSprachen veröffentlicht werden können und immer nureine kurze Frist für einen Widerruf gilt. Wir haben dafürplädiert, und wichtige und überzeugende Sachverstän-dige haben uns darauf hingewiesen, dass es klüger wäre,nicht einen Wust an unterschiedlichen Möglichkeitenzuzulassen, sondern zu regeln, dass Börsenprospekte nurin deutscher und maximal auch noch in englischer Spra-che verteilt werden dürfen.
Schade, dass das nicht geklappt hat.Genauso gut hätte man das Widerrufsrecht für Anle-ger erweitern und zeitlich verlängern können. Dazu wardie Koalition nicht bereit.Diese Punkte sind bedauerlich, aber sie halten unstrotz dieser Schatten und Schwächen nicht davon ab,diesem Gesetzentwurf am Ende zuzustimmen.Das hängt auch damit zusammen – das will ich zumSchluss sagen –, dass wir froh sind, dass es eine wichtigeVeränderung bei der Bankenabgabe gegeben hat. Wirsind immer dafür gewesen, mit der Bankenabgabe nichtdiejenigen zu treffen, die wichtige Aufgaben für das Ge-meinwesen erfüllen.In diesem Gesetzentwurf wird eine Veränderung vor-genommen, sodass sogenannte Förderkredite von derBerechnung der Bankenabgabe ausgenommen werden.Das ist eine richtige Änderung, aber sie heilt natürlichnicht das Zentralproblem, dass diese Bankenabgabe, dieSie als Regierung eingeführt haben, ein zahnloser Tigerist und insbesondere im Bereich der Großbanken nichthart genug zugreift.
Wir haben in diese Richtung argumentiert. Sie warenan der Stelle taub und haben nichts gemacht. Das bestä-tigt leider die Grundlinie Ihrer Politik, auch wenn Sieuns hier einen Gesetzentwurf vorlegen, dem wir zustim-men werden.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Carsten Sieling. – Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Vor zweiundzwanzigeinhalb Monaten haben wirdie nationale Regelung zum Leerverkaufsverbot hier indiesem Hause debattiert. Lieber Kollege Sieling, dieSPD hat uns damals eine mangelnde internationale Ab-stimmung vorgeworfen
und dann ihre Zustimmung verweigert, indem sie diesesehr gute Regelung abgelehnt hat.Ich fand das Geeiere hier an diesem Pult vor wenigenMinuten schon sehr bemerkenswert, weil wir heute eineEU-Regelung beraten, die fast eine Eins-zu-eins-Umset-zung des deutschen Rechts auf EU-Ebene ist. Ich finde,das ist ein ganz großartiger Erfolg dieser christlich-libe-ralen Koalition.
Wir haben in Deutschland weitere wegweisende Ge-setze beschlossen, die kurz vor einer Übernahme durchdie EU stehen. Ich nenne hier nur das Banken-Restruktu-rierungsgesetz, bei dem sich die EU-Kommission unddas Parlament bei der Erarbeitung einer eigenen Rege-lung sehr eng an unseren sehr guten Vorschlag anlehnen.Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich auch die Regelungzum Selbstbehalt bei Verbriefungen der deutschen Rege-lung entsprechend annähern wird.Warum aber ist es so, dass die EU diese Regelungübernommen hat? Die Antwort ist relativ simpel: weilsie gut ist. Sie ist gut, weil sie es schafft, einen schwieri-gen Spagat hinzubekommen, nämlich den Spagat zwi-schen guten und bösen Geschäften. Das ist bei Finanz-produkten nicht ganz so einfach, weil es nicht auf dasProdukt ankommt, was gut oder böse ist, sondern aufdenjenigen, der es einsetzt.Das ist so ein bisschen – das habe ich hier schon einpaarmal gesagt – wie mit dem Unimog. Der Unimog inOrange mit einem Schneeschieber vorne ist ein sehrsinnvolles Kommunalfahrzeug und wird gerne verwen-det. Es gibt ihn aber auch in Olivgrün mit anderen Gerät-schaften. Dann ist die Wahrnehmung dieses Fahrzeugsdurch die Öffentlichkeit, durch die Gesellschaft eine
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vollkommen andere. Selbst da kommt es noch darauf an,wer dieses Fahrzeug fährt.
– Natürlich, Herr Kollege von Stetten. Ich sagte esschon: Es kommt darauf an, wer es fährt und wie es ein-gesetzt wird. Das ist die Geschichte.Wir haben bei den Leerverkäufen den Intradayhandelzugelassen. Um mit Leerverkäufen Spekulationshürdenaufzubauen, braucht man mehr Zeit. Ein Tag reicht dafürim Prinzip nicht aus. Auf der anderen Seite nutzt mandie positiven Wirkungen von Leerverkäufen hinsichtlichder Liquidität. Das heißt, die liquiditätsfördernde Wir-kung bleibt an dieser Stelle erhalten. Das zieht sich wieein roter Faden – soll ich vielleicht lieber „oranger Fa-den“ sagen? – durch dieses Gesetz, das wir damals be-schlossen haben. Der orange Unimog darf fahren, derolivgrüne bekommt bei uns keine Zulassung.Interessant bei der EU-Regelung ist der Punkt, dass eseinen Zwang zum Liefern von Aktien gibt, da sonstStrafzahlungen möglich sind oder Ersatzpapiere geliefertwerden müssen. Über diesen Punkt sollte man außeror-dentlich intensiv nachdenken. Gleiches gilt für das Peti-tum des Bundesrates hinsichtlich der Frage, wer denn alszuständige Behörde für entsprechende Maßnahmen zu-ständig ist. Ich traue den Börsengeschäftsführungen eineMenge zu. Allerdings habe ich ein Problem damit, wennan einem Handelsplatz plötzlich Leerverkäufe verbotenwerden und alle anderen Handelsplätze davon unberührtsind. Da sehe ich das Risiko, dass dadurch möglicher-weise ein Flickenteppich entsteht. Darüber sollten wirdann im Beratungsverfahren nachdenken und auch die-sen Punkt kritisch beleuchten.Ich will auf den zweiten Punkt dieser Debatte einge-hen, nämlich die Umsetzung der Prospektrichtlinie, alsoder Änderung des Börsengesetzes. Auch hier ist einegute Balance zwischen der Entbürokratisierung auf dereinen Seite und den berechtigten Interessen des Anleger-schutzes auf der anderen Seite gelungen. Dazu haben wirdie Schlüsselinformationen jetzt übersichtlich zusam-mengefasst. Wir haben einige Vereinfachungen bei klei-nen und Daueremissionen vorgenommen. Insgesamthandelt es sich mehr um die technische Umsetzung einersehr eng gefassten EU-Richtlinie und weniger um eingroßes politisches Projekt.Im Übrigen, Kollege Sieling, die Frage, wie Kommu-nen an dieser Stelle behandelt werden sollen, also etwaals Privatanleger, war nie kritisch, sondern es ist im Rah-men eines Berichterstattergesprächs lediglich klarge-stellt worden, wie die Verwaltungspraxis der BaFin ist.Sie war nie anders. Demzufolge muss auch nichts geän-dert werden.
Darüber hinaus nutzen wir dieses Gesetz, um das eineoder andere noch glatt zu ziehen, also noch die eine oderandere Schwierigkeit zu beseitigen, beispielsweise dieFrage der Regulierung der Zweitmarktfonds. Das wirdim Zuge der AIFM-Umsetzung Ende des Jahres/Anfangnächsten Jahres angegangen werden. Es ist unser festerWunsch und Wille, auch diesen Markt entsprechend enggefasst zu regulieren. Deswegen haben wir ausdrücklichnur eine Übergangsregelung eingeführt, um zusätzlicheBelastungen für die Branche zu vermeiden.Des Weiteren haben wir – der Kollege Sieling hat esbereits angesprochen – einige wichtige Änderungen beider Bankenabgabe vorgenommen. Ich will nur die Frageerwähnen, auf welcher Grundlage der Sonderbeitrag be-rechnet werden soll. Mir ist an dieser Stelle wichtig, zusagen, dass wir bestimmten Petiten nicht gefolgt sind. Esgab aus der Branche durchaus den Wunsch, bestimmteRechtskonstrukte bei der Bankenabgabe neu zu beleuch-ten. Es ging um Holdinglösungen. Der Wunsch kam sehrvereinzelt aus der Branche. Man könnte fast sagen: Es istmöglicherweise nur ein Institut betroffen. Aber solangees noch keine berechnete Bankenabgabe ohne Sonderef-fekte gibt – ich möchte gerne erleben, wie ein Bankenab-gabenjahr ohne Sondereffekte aussieht –, brauchen wirüber solche Vorschläge gar nicht nachzudenken.Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Wirerleben heute die Fortsetzung einer Erfolgsstory der Fi-nanzmarktregulierung dieser christlich-liberalen Koali-tion. Unser Leerverkaufsverbot hat sich in der EU durch-gesetzt. Ich finde, das ist ein guter Tag für Deutschland.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. – Nun für die
Fraktion Die Linke unser Kollege Harald Koch. Bitte
schön, Kollege Harald Koch.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Zunächst möchte ich auf den Gesetz-entwurf zur Umsetzung der Prospekt- und Transparenz-richtlinie eingehen. Die Bundesregierung betontewährend des ganzen Beratungsverfahrens, der Spielraumfür die Umsetzung der EU-Richtlinie sei zu eng. So machtman es sich natürlich sehr leicht. Im Gegensatz zu allenanderen Fraktionen dieses Hauses nimmt die Linke nichtalles, was uns vorgesetzt wird, schulterzuckend hin.
Wir sind ja durchaus erfreut, dass es einige sinnvolleRegelungen gibt, beispielsweise die Aufnahme derSchlüsselinformationen in die Prospektzusammenfas-sung, dass Anleger im Börsenrat vertreten sein müssenund dass Wertpapierprospekte nicht seit der Veröffentli-chung, sondern zwölf Monate ab Zeitpunkt der Billigungdurch die Aufsicht gültig sein sollen. Doch hier fangen
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Harald Koch
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die Probleme schon an: Eine prinzipielle jährliche Ak-tualisierung der Prospekte erhöht den Verwaltungsauf-wand, der dann wieder auf Verbraucher bzw. Anleger ab-gewälzt werden könnte und auch wird.In der Anhörung des Finanzausschusses stellte derSachverständige Mattil zu Recht fest, dass der Anleger-schutz an einigen wichtigen Stellen geopfert wird, umden vollendeten Binnenmarkt zu erreichen. Die Linkekritisiert ebenfalls, dass selbst in Zeiten der Finanzkriseprimär die Arbeit der Wertpapierunternehmen erleichtertwird. Das ist ein Skandal.
Folgende Punkte sind aus linker Sicht problematisch:Es gibt mittlerweile einen Prospekt- und Infoblätter-dschungel, den kein durchschnittlicher Anleger durch-dringen kann: Produktinformationsblatt, Vermögensanla-geninformationsblatt, wesentliche Anlegerinformationenusw. Nun kommt im Wertpapierbereich noch die neueProspektzusammenfassung inklusive Schlüsselinforma-tion hinzu.Wer blickt da noch durch? Die Linke fordert deshalbeine Standardisierung hinsichtlich Struktur und Inhalt.Die Anleger müssen alle relevanten Informationen in-klusive Gesamtkosten einheitlich in übersichtlicher Dar-stellung vorliegen haben. Auch in den Schlüsselinforma-tionen sollten die Kosten, anders als der Gesetzentwurfes vorsieht, nicht nur geschätzt werden dürfen.Bedenklich ist, dass offenbleibt – wie schon KollegeDr. Sieling festgestellt hat –, in welcher Sprache ein zu-gelassener Prospekt verfasst sein muss. Die erschwertzum einen die Beratung und zum anderen das Verständ-nis des Anlegers. Mindestens alle zentralen Informatio-nen, nicht nur die Zusammenfassung, müssen aus meinerSicht auch in deutscher Sprache vorliegen.
Anleger sollen zudem die Kosten für die Übersetzungvon Prospekten in nichtdeutscher Sprache tragen. Diesist doch keine Aufgabe des Anlegers und stellt eine irr-sinnige Regelung dar.
Bei Nachträgen zu Prospektveröffentlichungen be-steht das Problem, dass die Frist für das Widerrufsrechtbei einem Nachtrag zwei Tage ab Veröffentlichung ab-läuft, nicht ab der Entdeckung des Nachtrags, sondern abder Veröffentlichung. Sollte der Anleger ihn doch recht-zeitig entdecken, so wird er sich in so knapper Zeit kaumfachkundig beraten lassen können. Hier höhlen Sie dasAnlegerrecht auf Widerruf zugunsten der Wertpapierun-ternehmen aus. Das ist mit der Linken nicht zu machen.
Bei den Regelungen, die festlegen, wann Angebotevon der Prospektpflicht befreit werden und wann nicht,müssen wir grundsätzlich aufpassen, dass das Spiel mitden Schwellenwerten nicht zu Deregulierungen zuguns-ten der Wertpapierwirtschaft führt. Im Zweifel bin ichimmer für einen Prospekt, um Transparenz zu gewähr-leisten. Daher finde ich Ausnahmen von der Prospekt-pflicht wie bei Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen be-denklich. Wir sind auch für den Verbraucherschutz derMitarbeiter. Die Linke will hier die Belegschaften schüt-zen.Auch die EU-Leerverkaufsverordnung wird hierheute in erster Lesung mitberaten. Leider fällt diese Ver-ordnung in Teilen hinter das deutsche Leerverkaufsge-setz zurück. Die EU regelt auf satten neun Seiten, waseine Pizza Napoletana auszeichnet. Die Finanzmärktesind dagegen immer noch unterreguliert. Dort ist nachwie vor grundsätzlich alles erlaubt, was nicht explizitverboten ist. Das ist nicht akzeptabel.
Herr Sänger, um auf Ihren Vergleich mit dem Unimogeinzugehen: Er ist völlig richtig, weil er genau in unsereRichtung geht. Der Unimog muss zum TÜV. Genau daswünschen wir uns auch für Finanzprodukte.
Zum Schluss. Die EU-Leerverkaufsverordnung istalso kein großer Wurf, genauso wenig wie der Entwurfeines Gesetzes zur Umsetzung der Prospekt- undTansparenzrichtlinie, den wir aus guten Gründen ableh-nen; denn für uns ist Verbraucherschutz weiterhin wich-tiger als Emittentenschutz und Deregulierung.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Harald Koch. – Nächster Red-ner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unserKollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, KollegeDr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vonden zwei Punkten, die nun auf der Tagesordnung stehen,möchte ich mich auf die Umsetzung der Prospektrichtli-nie konzentrieren; denn wir haben noch Gelegenheit,über die rechtlichen Regelungen zu den Leerverkäufenzu debattieren.Uns liegt ein Vorschlag von der europäischen Ebenevor, der im Wesentlichen eine Vollharmonisierung vor-sieht. Das heißt, wir haben nicht viele Gestaltungsmög-lichkeiten. Die technische Umsetzung finden wir im We-sentlichen richtig. Es gab einzelne Dissenspunkte. Ichnenne an dieser Stelle als Stichwort „Zweitmarktfonds“.Ich will zwei Punkte aufgreifen, die zusätzlich in dasGesetz aufgenommen werden. Dabei stellt sich dieFrage: Wie stark wird eigentlich eingegriffen, bzw. wa-rum wird das eigentlich nicht gemacht?Das eine ist die Bankenabgabe. Es ist richtig, Förder-kredite auszunehmen. Aber gleichzeitig müssen wir uns,wenn hier eine Änderung vorgenommen wird, fragen,was das für das Gesamtaufkommen bedeutet. Als 2009/10erstmalig über eine Bankenabgabe geredet wurde, war
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Dr. Gerhard Schick
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sie für die Koalitionsfraktionen eines der zentralen In-strumente. Es hieß: So beantworten wir die Finanzkriseund die Frage nach der Beteiligung des Finanzsektors.Der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder sagte im März2010: Es wird sicherlich ein Milliardenbetrag werden. –Später erwartete man Einnahmen in Höhe von 1,3 Mil-liarden Euro. Nun stellen wir fest, dass es 589 MillionenEuro sind, also weniger als die Hälfte. Wenn man nuneine weitere Änderung vornimmt, die zur Folge hat, dassdie Bemessungsgrundlage noch einmal reduziert wird,muss man die Frage stellen: Wann ist denn der Fondsendlich in der Lage, seine Arbeit zu leisten, wenn dieBeträge so gering sind? Ursprünglich hatte man mit70 Jahren gerechnet. Angesichts des niedrigen Aufkom-mens wird es wesentlich länger dauern. Deswegen halteich es für richtig, sich noch einmal unsere Änderungsan-träge von damals anzuschauen. Wir hatten damals vorge-schlagen – das bleibt auf der Tagesordnung –, geradegroße Banken zusätzlich zu belasten und insbesondereden Derivatebereich zur Finanzierung dieses Fonds stär-ker heranzuziehen. Unsere Vorschläge bleiben richtig.Ich bitte Sie, sie endlich aufzugreifen.
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen: das Pros-pektrecht für Wertpapiere. Da gibt es einen wichtigenPunkt. Ja, vielleicht nerven wir Grüne damit ein wenig,aber ich glaube, wir tun es zu Recht. 2006 – ich war ge-rade neu im Bundestag – habe ich angefangen, mich mitdem Markt für Zertifikate, also Inhaberschuldverschrei-bungen, für normale Anleger zu beschäftigen. WirGrüne haben einen Antrag vorgelegt, in dem wir deut-lich gemacht haben, dass vieles schiefläuft, es sich umintransparente Produkte handelt und Kunden über denTisch gezogen werden, weil sie nicht verstehen, was siekaufen. Damals gab es 80 000 Produkte dieser Art inDeutschland, inzwischen sind es 800 000 – ein Markt,den niemand mehr überblicken kann.Schon 2007 hatten die Koalitionsfraktionen – damalswar es die Große Koalition – zugesagt, dass wir uns imFinanzausschuss mit diesem Markt beschäftigen, aufdem es so viele Fehlentwicklungen gibt. Bis heute istnichts geschehen. Dieses Gesetz wäre ein guter Anlassgewesen, dieses Problem substanziell aufzugreifen.
Es reicht nicht, nur den Vertrieb zu regulieren, viel-mehr muss man auch an die Produkte herangehen. Ichwill dazu ein Beispiel nennen: Es gab das Produkt „Bay-ern Relax Express-Zertifikat“. „Relax“ hört sich nachEntspannung an. Die Werbung sagte: Entspannt anlegenund bis zu 12,5 Prozent Zinsen bekommen.
Es handelte sich um einen Mix aus vier Aktien; unterdiesen war auch die Hypo Real Estate. Die Anleger, diehier investiert haben, haben 94 Prozent ihrer Einlageverloren. Wenn sie direkt in diese vier Aktien investierthätten, hätten sie ein Plus gemacht. Das Produkt war in-transparent. Man konnte gar nicht nachvollziehen, wel-che Risiken es barg. Solche Produkte werden Kleinanle-gern in Deutschland verkauft. Ich halte das für falsch.
Es gab einmal einen kleinen Hoffnungsschimmer imJahre 2009 bei den Koalitionsverhandlungen. Da hatnämlich der damalige finanzpolitische Sprecher derCDU/CSU-Fraktion gesagt: Wir diskutieren das Verbotdes Verkaufs bestimmter Zertifikate an Private. – Aberdie FDP, der parlamentarische Arm der Finanzbranche,war dagegen und sagte: Nein, das soll man nicht tun. –Wir meinen: Es ist richtig, intransparente Produkte zuverbieten. Die FDP muss sich jetzt endlich von derCDU/CSU überstimmen lassen. Oder suchen Sie sichandere Mehrheiten, damit wir an dieser Stelle im Finanz-markt endlich aufräumen.Danke schön.
Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirberaten hier heute zwei Gesetzentwürfe, einmal denEntwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie2010/73/EU und zur Änderung des Börsengesetzes undzum anderen den Entwurf eines Gesetzes zur Ausfüh-rung der Verordnung über Leerverkäufe. Zu dem Leer-verkaufsverbot hat Herr Staatssekretär Koschyk ausrei-chend Stellung genommen. Bemerkenswert ist in derTat, dass deutsches Recht nahezu eins zu eins in europäi-sches Recht umgesetzt wird. Die zweite und dritte Le-sung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung derRichtlinie 2010/73/EU und zur Änderung des Börsenge-setzes scheint auf nicht sonderlich viel Kritik zu stoßen.Wenn ich die Äußerungen der Opposition dazu höre,dann stelle ich fest: Das war eigentlich recht bemüht. In-sofern ist es gut und richtig, dass das Gesetz heute verab-schiedet wird.Was allerdings für dieses Haus ungewöhnlich ist, istdie Tatsache, dass man ein Gesetz in erster Lesung undein zweites Gesetz in zweiter und dritter Lesung in einerDebatte behandelt. Das hat aber einen guten Grund. Wirals Finanzmarktregulierer erhalten nämlich kaum nochPlenarzeit, und zwar deswegen, weil wir in den letztenzwei bis zweieinhalb Jahren 50 Debatten zu diesemThema geführt und mehr als 15 Gesetze verabschiedethaben. Ich sage ganz bewusst „wir“, meine Damen undHerren. Es ist natürlich so, dass die Koalitionsfraktionendie treibende Kraft waren, aber auch die Opposition hatsich in diesen Prozess durch Entschließungsanträge, Än-derungsanträge und viele Diskussionsbeiträge einge-bracht.Ich möchte Ihnen einfach noch einmal kurz erläutern,was wir da alles gemacht haben. Wir haben uns mit der
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Ralph Brinkhaus
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Systemstabilität von Banken beschäftigt. Wir haben ver-sucht, Regelungen auf den Weg zu bringen, damit Ban-ken weniger Fehler machen, indem falsche Vergütungs-strukturen gestoppt worden sind, indem Missbrauch beiRatings gestoppt worden ist, indem wir bei den Leerver-käufen eingegriffen haben – schon auf nationaler Ebene.Wir haben aber nicht nur gefordert, dass weniger Feh-ler im Bankenbereich gemacht werden sollen, sonderndarüber hinaus auch berücksichtigt, dass diese Fehlerweiterhin gemacht werden. Wie wir erst vor einigen Wo-chen bei J. P. Morgan gesehen haben, lässt sich das nichtvermeiden.
Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen die Fehlertrag-fähigkeit erhöhen.Erhöhung der Fehlertragfähigkeit heißt mehr Eigen-kapital und mehr Liquidität. Dazu haben wir den Ba-sel-III-Prozess auf europäischer Ebene bzw. die Umset-zung von Basel III, die CRD-IV-Richtlinie, in diesemHaus begleitet, einen Entschließungsantrag dazu verfasstund der Bundesregierung eine Verhandlungsposition mitauf den Weg gegeben.Damit weniger Fehler gemacht werden und man einehöhere Fehlertragfähigkeit hat, braucht man auch mehrAufsicht. Auch diesen Prozess haben wir in diesem Hausnicht nur begleitet, sondern auch durch Gesetze gestützt.Ich denke da an die europäische Aufsicht, an dasEIOPA-Sitz-Abkommen und an die Aufsicht über dieRatingagenturen.Meine Damen und Herren, nichtsdestotrotz haben wireines erkannt: Trotz weniger Fehler in den Instituten,trotz höherer Fehlertragfähigkeit und trotz besserer Auf-sicht ist es immer noch möglich, dass Finanzinstitute in-solvent werden und in den Default gehen.
Das ist auch durchaus erwünscht und richtig; denn zu ei-ner Marktwirtschaft gehört, dass Unternehmen auchscheitern können.Deswegen haben wir das Restrukturierungsgesetzverabschiedet. In diesem Gesetz haben wir eine Mög-lichkeit geschaffen, zumindest große, national agierendeBanken so vom Markt zu nehmen, dass nicht der ganzeMarkt verwüstet wird.
Wir haben dort noch eine offene Flanke. Wir müssendas Ganze nämlich noch für multinationale Institute or-ganisieren. Diese Aufgabe wird momentan auf europäi-scher Ebene angegangen. Auch sie wird in diesem Hausbegleitet.Wir haben uns aber nicht nur mit der Systemstabilitätvon Banken beschäftigt, sondern auch im Verbraucher-schutz einiges angepackt. Wir haben Anlegerrechte ge-stärkt; wir haben Informations- und Transparenzrechte ge-stärkt – beispielsweise durch das Anlegerschutz- undFunktionsverbesserungsgesetz, durch das Gesetz zur No-vellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögens-anlagerechts und durch die Umsetzung der OGAW-IV-Richtlinie.
Auch da ist mehr getan worden als in den zehn Jahrenzuvor. Das muss man an dieser Stelle einfach auch ein-mal sehen.
Neben diesen beiden großen Projekten, Systemstabili-tät und Verbraucherschutz, sind noch viele andere Pro-jekte angepackt worden – von der Umsetzung des Verän-derungsprozesses beim Internationalen Währungsfondsüber E-Geld und Geldwäsche bis hin zu Stellungnahmendieses Hauses, die sehr gut und richtig waren, zur be-trieblichen Altersversorgung oder Entschließungsanträ-gen zu den Rohstoffderivaten. Auch da ist in den letztenzwei bis zweieinhalb Jahren viel gemacht worden.Einige Projekte sind auch noch in der Mache. Siewerden uns in den nächsten zwölf Monaten beschäfti-gen. Dazu gehört die Vollendung der CRD-IV-Richtliniezur Umsetzung von Basel III. Das wird uns in den nächs-ten Wochen sehr stark beschäftigen. Wir sind dort aufeuropäischer Ebene in der Endphase.Dazu gehört ebenfalls ein Mammutwerk, nämlich einvölliger Paradigmenwechsel im Versicherungsbereich.Wir werden auch die Stabilität und die Sicherheit vonVersicherungsunternehmen verbessern – durch die Um-setzung von Solvency II, durch die Änderung des Ver-sicherungsaufsichtsgesetzes hier in Deutschland.Wir werden auch Bereiche anpacken, die bisher über-haupt nicht reguliert wurden. Durch die Umsetzung derAIFM-Richtlinie werden wir bei Hedgefonds und alter-nativen Investments etwas tun.Außerdem werden wir durch die Umsetzung der Akti-vitäten auf europäischer Ebene im Derivatebereich dafürsorgen, dass der Wildwuchs in diesem Bereich auf dieserWelt zumindest weniger wird.Meine Damen und Herren, alle diese Maßnahmenmachen wir in einem schwierigen Umfeld, weil wir dasnicht allein national verwirklichen können. Wir habenalso nicht die klassische Gemengelage: Einige dich mitdem Bundesrat, und die ganze Sache ist durch. – Nein,wir müssen ganz viele Gespräche auf europäischerEbene führen.Wir wissen auch, dass Finanzmarktregulierung primäreuropäisch ist. Das ist eine ganz neue Situation für denDeutschen Bundestag. Auch diese Herausforderung ha-ben wir angenommen und uns ihr gestellt. Wir versu-chen, frühzeitig Initiativen zu ergreifen, und suchen dasGespräch mit unseren Partnern in Brüssel und in Lon-don.Das Ganze geht sogar noch weiter. Der Finanzaus-schuss wird sich in den nächsten Wochen in die USA be-geben, weil wir auch erkannt haben, dass Europa selbstzu klein ist für Finanzmarktregulierung. Wir müssen diewichtigen, die großen Initiativen auf G-20-Ebene, auf
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Ralph Brinkhaus
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der Ebene der wichtigsten Industrieländer, voranbringen;sonst wird es uns nicht weiterhelfen.Finanzmarktregulierung ist aber auch Detailarbeit. Esgibt leider nicht den großen Knopf, auf den man drückenkann, und dann wird alles gut. Deswegen ärgere ichmich immer – ganz unabhängig von der Parteifarbe –,wenn Leute behaupten: Ich habe diesen Knopf gefunden;wir führen die Finanztransaktionsteuer ein, und alleswird gut; wir machen ein Trennbankensystem, und alleswird gut.
Denn das ist genau das, was nicht funktioniert. Ichglaube, zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass wir den Men-schen sagen: Es ist Kleinarbeit; es ist Detailarbeit. Wirwerden nie mit der Finanzmarktregulierung fertig wer-den. Wir werden immer irgendjemanden haben, den wirdurch unsere Regulierung nicht erfasst haben. Wir wer-den auch weiterhin vor der Situation stehen, dass Dingeschiefgehen werden.Aber ich denke, es ist wichtig, dass wir uns dieserAufgabe trotzdem stellen und trotzdem auch solche Ge-setze, die jetzt vielleicht sehr langweilig klingen, verab-schieden und uns ernsthaft mit ihnen beschäftigen; denndas sind alles kleine Mosaiksteine, die dazu beitragen,dass die Finanzmärkte besser und sicherer werden.
Jetzt könnte ich sagen: Alles ist gut. Die Koalitions-fraktionen machen einen vernünftigen Job, die Opposi-tion auch, weil sie ihre kritischen Verbesserungsvor-schläge einbringt. Der Bundestag beschäftigt sich mitdieser wirklich wichtigen Frage. – Wenn man sich hierso umschaut, denkt man: Angesichts der Bedeutung die-ses Themas könnten im Plenarsaal mehr Abgeordnetesitzen. Auf der Besuchertribüne sitzt ja eine Menge Per-sonen. Es ist aber nicht alles gut. Wir haben durchausnoch einige Probleme zu lösen.
Bei zwei Problemen bringen wir eine Lösung zustande,und bei der Lösung des dritten Problems ist noch einegroße Frage offen.Erstes Problem. Wir haben festgestellt, dass bei allden Regulierungsmaßnahmen, die ich jetzt aufgezeigthabe, irgendwo die Abstimmung fehlt. Das heißt, es gibteine Regulierungsmaßnahme A, die gegenläufig zu Re-gulierungsmaßnahme B ist. Beispielsweise ist die Regu-lierung bei den Versicherungen nicht passgenau zu denRegulierungen bei den Banken. Deswegen ist es zu be-grüßen, dass sich das Bundesfinanzministerium jetzt die-ses Themas annimmt und dass wir darauf mehr als in derVergangenheit achten. Dieses Problem, das wir in derVergangenheit nicht gelöst hatten, bekommen wir gelöst.Zweites Problem. Wir haben bisher zu wenig darübernachgedacht, was diese Regulierung für die Finanz-märkte an sich bedeutet. Diese Märkte werden sich ver-ändern. Beispielsweise Versicherungen werden nichtmehr so stark Banken finanzieren, wie es in der Vergan-genheit der Fall war. Aber noch viel wichtiger ist: Wasbedeutet diese Regulierung für die Realwirtschaft? Dasheißt: Was bedeutet sie für die Produkte und für derenPreise? Werden Kommunalkredite teurer? Werden Mit-telstandskredite teurer? Ich denke, wir müssen genauObacht geben. Regulierung ist nicht kostenlos zu haben;es wird teurer werden. Aber wenn es Auswüchse gibt,dann sollten wir dort einschreiten. Die damit verbunde-nen Probleme bekommen wir, glaube ich, auch gelöst.Das letzte Problem birgt eine Frage, die tatsächlichnoch offen ist. Diese Frage ist: Too big to fail, too con-nected to fail? Auf dem Markt sind Akteure, die so großund so vernetzt sind, dass sie letztlich immer vom Steu-erzahler gerettet werden müssen, damit nicht der ganzeMarkt verwüstet wird. Ich möchte jetzt eine Abschluss-frage stellen, die ich Ihnen heute hier nicht beantwortenkann, der wir uns aber wirklich sehr intensiv widmensollten: Ist es selbst für gute Marktwirtschaftler erträg-lich, dass das Scheitern eines großen und vernetztenMarktteilnehmers dazu führen kann, dass der ganzeMarkt zusammenbricht, oder gehört es zur Marktwirt-schaft, dass jeder Marktteilnehmer, etwa nach einer In-solvenz, vom Markt verschwinden kann, dass er alsonicht vom Staat gerettet werden muss? Diese Frage ha-ben wir noch nicht beantwortet.
Sie müssen wir aber beantworten. Ich freue mich auf dieDiskussionen dazu.Danke.
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Brinkhaus, das Gute an der freien Rede hierim Bundestag ist ja, dass man all das sagen kann, wasman immer schon einmal loswerden wollte; das ist wirk-lich gut.
Ich werde jetzt aber zur Tagesordnung sprechen;Stichwort „Leerverkäufe“. Liebe Kolleginnen und Kol-legen, auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise wurdenungedeckte Leerverkäufe vom damaligen Bundesfinanz-minister Peer Steinbrück – zu Recht – untersagt.
– Ja, sie sind untersagt worden.
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21544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Manfred Zöllmer
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Ihr Problem war doch, dass Sie dieses Verbot nicht ver-längern wollten. Dafür verantwortlich war doch dieschwarz-gelbe Koalition.
– Nein, Sie haben erst einmal dieses Verbot auslaufenlassen; so ist die Geschichte. Dann haben Sie erkannt:„Wir haben einen furchtbaren Fehler gemacht“, weil dasProblem ja weiter existierte. Dann sind Sie darangegan-gen, ein Gesetz zu machen. In dieser Reihenfolge ist dasGanze abgelaufen.
– Das will ich Ihnen gleich erklären, Herr Volk.Wir Sozialdemokraten haben an diesem Gesetzent-wurf kritisiert, dass ein rein nationales Gesetz in dieserFrage keinen Beitrag zur Lösung des Problems darstelltund dass das, was vorgeschlagen wurde, viel zu wenigkonkret war.
Das war unsere Kritik, und diese Kritik teilten vieleSachverständige; sie haben das in der Anhörung eben-falls so formuliert. Die Wirksamkeit eines nationalenVerbotes von ungedeckten Leerverkäufen bewegt sichnahe bei null, da die Spekulanten jederzeit auf andere Fi-nanzmärkte in Europa oder in den USA ausweichen kön-nen.
Wir haben dann hier im Haus gesagt: Wir fordern eineeuropäische Lösung;
denn nur eine europäische Regelung kann Wirkung ent-falten.
Da können wir einfach einmal sagen: Unsere Kritik hatFrüchte getragen.
Endlich geht es darum, eine solche einheitliche Rege-lung in Europa umzusetzen
– wir haben sie angestoßen; in der Tat, da haben Sie völ-lig recht –,
und zwar mit der europäischen Leerverkaufsverordnung,die das Europäische Parlament und der Rat auf den Weggebracht haben.Nun sollen die entsprechenden Umsetzungsmaßnah-men stattfinden. Wir werden uns intensiv mit diesem Ge-setzentwurf beschäftigen. Es gibt einen ganz wichtigenAspekt, den ich gleich ansprechen möchte – der HerrStaatssekretär ist darauf eingegangen, Herr Sänger auchschon; der Bundesrat hat das in seiner Stellungnahmeebenfalls angesprochen –, und das ist die Aufteilung derZuständigkeit für den Erlass von zeitlich befristetenLeerverkaufsverboten und von Transaktionsbeschrän-kungen. Auf der einen Seite soll die BaFin zuständigsein, und auf der anderen Seite soll die jeweilige Börsen-geschäftsführung an den einzelnen Börsen zuständigsein. Gegen diese Struktur bestehen aus unserer Sichtsachliche und rechtliche Bedenken. Der Bundesrat hatdas auch entsprechend formuliert. Das Ziel einer bun-deseinheitlichen Regelung wird damit nicht erreicht.Sie sehen eine Vielzahl beteiligter Behörden vor. Eineeinheitliche Entscheidung ist so nicht gewährleistet. Siekönnen nicht sicherstellen, dass bei einem Leerverkaufs-verbot an einer Börse nicht die Situation eintritt, dassdiejenigen, die Leerverkäufe tätigen wollen, an eine an-dere Börse ausweichen. Damit würde der gesamte An-satz unterlaufen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das istein ganz wesentlicher Kritikpunkt, den wir in einer An-hörung ganz präzise untersuchen sollten; denn derZweck des Leerverkaufsverbots, die Unterbindung derLeerverkäufe, würde mit dieser Regelung ad absurdumgeführt. Das werden wir jedenfalls nicht unterstützenkönnen.
Wir werden einem solchen Gesetzentwurf nur zustim-men können, wenn es ein wirklich effektives Instrumentzur Unterbindung schädlicher Spekulationen gibt.Vielen Dank.
Zum Tagesordnungspunkt 11 a ist interfraktionell dieÜberweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9665an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tages-ordnung finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dannist das so beschlossen.Tagesordnungspunkt 11 b. Wir kommen zur Abstim-mung über den von der Bundesregierung eingebrachtenGesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EUund zur Änderung des Börsengesetzes. Der Finanzaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/9645, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf Drucksache 17/8684 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen möchte, gebe bitte ein
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmungdurch die Koalitionsfraktionen und die SPD angenom-men; die Linke war dagegen; Bündnis 90/Die Grünenhaben sich enthalten.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, mögesich bitte erheben. – Die Gegenstimmen! – Die Enthal-tungen! – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Bera-tung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher an-genommen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKeul, Volker Beck , Marieluise Beck (Bre-men), weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRüstungsexporte kontrollieren – Friedensichern und Menschenrechte wahren– Drucksache 17/9412 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungInnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionFederführung strittigHierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort derKollegin Katja Keul.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor knappeinem Jahr war die Aufregung groß über die angeblicheGenehmigung von Panzerlieferungen an Saudi-Arabien.Bis heute haben wir keine Antwort der Bundesregierungauf die Frage, ob es diese Genehmigung gegeben hatoder nicht und, wenn ja, warum.
Ich weiß, dass nicht nur die Abgeordneten der Opposi-tion mit dieser Situation unzufrieden waren. So musstenSie von den Koalitionsfraktionen Ihre Regierung für et-was verteidigen, von dem Sie gar nicht wussten, ob esüberhaupt existiert.
Schön war das nicht. Aber wir haben diesen Missstandselbst zu verantworten. Unsere Aufgabe ist es schließ-lich, die Regierung zu kontrollieren. Eine effektive Kon-trolle aber benötigt eine solide Informationsgrundlage.Wir sind aufgefordert, uns diese Grundlage als Gesetz-geber selbst zu schaffen.
Mit dem heutigen Antrag legen wir Grüne Eckpunktefür ein Rüstungsexportkontrollgesetz vor, damit die heu-tigen und künftigen Regierungen ihre Entscheidungentransparent machen und begründen müssen.Erste Kernforderung ist, die Rüstungsexportrichtlinieund den Gemeinsamen Standpunkt der EU in das Au-ßenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollge-setz zu integrieren. Es hat sich gezeigt, dass die Selbst-verpflichtung der Regierung, sich an ihre eigenenGrundsätze zu halten, leider nicht ausreicht. Wenn wir esernst meinen mit der Berücksichtigung der Menschen-rechtslage und der Gefahr innerer Repression, dann kön-nen wir diese auch in den gesetzlichen Kriterienkatalogaufnehmen und im Bundestag beschließen.
Was den Gemeinsamen Standpunkt der EU betrifft,haben es viele unserer Nachbarn bereits vorgemacht unddie acht Kriterien in ihre Gesetze übernommen. Daskönnen wir auch.
In diesem Zuge wollen wir auch die Berichtspflichtenverbindlich regeln. Der Rüstungsexportbericht kommtimmer viel zu spät und viel zu selten. Wir wollen künftigvierteljährlich mit aktuellen und aussagekräftigen Zah-len versorgt werden. Auch hier sind uns unsere europäi-schen Nachbarn weit voraus. In besonders brisanten Fäl-len sollte der Bundestag auch vorab informiert werden,um gegebenenfalls mit Anhörungen oder Stellungnah-men auf die Willensbildung der Regierung Einfluss neh-men zu können. Der Geheimhaltungskult ist völlig über-zogen und muss auf das notwendige Maß zurückgeführtwerden.
Dabei ist eines klar: Die Letztentscheidung über die ein-zelne Genehmigung bleibt immer bei der Exekutive. Wirwollen kontrollieren, nicht selber entscheiden.Zur parlamentarischen Beteiligung bei Rüstungs-exporten hat die SPD-Fraktion im letzten Monat einenAntrag eingebracht, über den wir gerne reden können.Was Sie dort fordern, ist gut, reicht uns Grünen aber nochnicht aus. Wir halten es für sachgerechter, die Ressortzu-ständigkeit für Rüstungsexporte in das Auswärtige Amtzu verlagern. Das Auswärtige Amt kann die Situation inden Empfängerstaaten am besten beurteilen. Interessan-terweise werden jetzt schon die Voranfragen bei Kriegs-waffenexporten direkt an das Auswärtige Amt gerichtet.Warum? Weil die Unternehmen rechtzeitig eine inhaltli-che Einschätzung mit Aussagekraft haben wollen. Die
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Katja Keul
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wirtschaftlichen Aspekte spielen nach den Grundsätzennur eine untergeordnete Rolle. Dann gibt es aber keinenGrund dafür, die abschließende Entscheidungskompetenzbeim Wirtschaftsministerium zu belassen.Nicht zuletzt ist eine Rüstungsexportkontrolle nur sogut, wie sie auch faktisch überprüft wird. Eine tatsächli-che Endverbleibskontrolle findet allerdings bis heuteüberhaupt nicht statt. Die Behörden verlassen sich aufeine sogenannte Endverbleibserklärung des Exportunter-nehmens. Auch hier zeigen uns unsere Bündnispartner,dass es effektivere Wege gibt. Solche Verfahren wollenwir gesetzlich regeln und uns auch auf europäischerEbene dafür einsetzen.
Im besten Fall schaffen wir es sogar, die Exportge-nehmigungen einer gerichtlichen Überprüfung zu unter-ziehen, indem wir in diesem Bereich Verbandsklagen zu-lassen.
Bislang können die Unternehmen gegen ablehnende Ent-scheidungen klagen. Die Menschenrechte sind dagegenim Verfahren durch keine Lobby vertreten. Im Bereichdes Umweltschutzes haben wir vorgemacht, wie so et-was gehen kann.Ich bitte Sie eindringlich, sich Ihrer Verantwortungals Parlamentarier bewusst zu werden. Wir dürfen esnicht länger dabei belassen, jeweils die eigene Regie-rung gegenüber der Opposition für Rüstungsexporte zuverteidigen und umgekehrt. Auch das Parlament ist nachArt. 26 des Grundgesetzes in der Pflicht, den Frieden zusichern. Auch wir stehen in der Verantwortung für einerestriktive Rüstungsexportpolitik. Wenn wir nicht end-lich transparente Verfahren schaffen, werden wir dieserunserer Verantwortung nicht gerecht.Vielen Dank.
Der Kollege Andreas Lämmel hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ThemaRüstungsexporte hat uns in den letzten Monaten ziem-lich oft bewegt. Wir haben im Deutschen Bundestagschon mehrfach über dieses Thema diskutiert. Auchheute werden wir keinen Erkenntnisgewinn erzielen,weil das, was Sie vorschlagen, nicht neu ist.
– Herr Barthel, warten Sie nur; wir kommen noch zu Ih-rer Rolle, die Sie dabei gespielt haben. Denn zum einen– das wissen Sie auch ganz genau – bringt Ihr Antrag,den Sie heute gestellt haben, überhaupt nichts Neues.
Zum anderen ist schon der Beginn Ihres Antrages grund-sätzlich falsch, wo Sie den Panzerdeal mit Saudi-Ara-bien als besonders empörend hinstellen. Sie selbst habenin Ihrer Rede gesagt: Wir wissen gar nicht, ob dieserDeal zustande gekommen ist.
– So steht es im Antrag der Grünen: „Deal“; ich habe nurwörtlich zitiert.Die SPD hatte auch schon einen Antrag gestellt; da-rüber haben wir im April dieses Jahres diskutiert. Bereitsim Oktober letzten Jahres hatten wir das gleiche Themaauf der Tagesordnung. Dass dieses Thema stark emotio-nal überlagert ist, ist uns sicherlich allen klar. Auch inder Öffentlichkeit wird heftig darüber diskutiert.Ich kann aber immer nur sagen, meine Damen undHerren von den rot-grünen Fraktionen: Wenn man dieDiskussion mit falschen Fakten anheizt und in der Öf-fentlichkeit Vermutungen zu Tatsachen verkehrt, mussman sich über den Verlauf der Diskussion nicht wun-dern. Man kann es gar nicht oft genug betonen: Deutsch-land hat das strengste Rüstungskontrollgesetz
und hat sich selbst eine sehr strenge Beschränkung auf-erlegt.
Das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft undTechnologie richtet sich bei der Genehmigung von Rüs-tungsexporten nach den Politischen Grundsätzen derBundesregierung für den Export von Kriegswaffen ausdem Jahr 2000.Jetzt wollen wir doch einmal schauen, wer im Jahr2000 die Regierung stellte. Wenn ich mich richtig erin-nere, waren das die Fraktionen der SPD und der Grünen.
Sie kritisieren jetzt also das, was Sie selbst gemacht ha-ben, und sagen, es sei unzureichend. Da frage ich Sieheute: Warum haben Sie es denn damals, als Sie an derRegierung waren, nicht so ausgestaltet, wie Sie es heutefordern?
Ich möchte aus diesem Gesetz zitieren: Lieferungenan Länder, die sich in bewaffneten äußeren Konfliktenbefinden oder bei denen eine Gefahr für den Ausbruchsolcher Konflikte besteht, scheiden grundsätzlich aus.
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Andreas G. Lämmel
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Auch bei einem schon hinreichenden Verdacht, dassdeutsche Waffen zur Unterdrückung der Bevölkerungoder zu sonstigen fortdauernden Menschenrechtsverlet-zungen im Empfängerland missbraucht werden könnten,gibt es grundsätzlich keine Exportgenehmigung. – DieGenehmigung von Rüstungsexporten unterliegt also derständigen sicherheitspolitischen Abwägung und erfolgtin Reaktion auf politische Ereignisse.Diese Regelungen – ich hatte es gesagt – sind von Ih-nen aufgestellt worden. Sie sind weder von der GroßenKoalition noch von der christlich-liberalen Koalition inirgendeiner Form aufgeweicht worden, wie Sie das jetztbehaupten. Wir richten uns also nach den Grundsätzen,die Sie aufgestellt haben. Diese Regelungen – Geheim-haltung der Beschlüsse des Bundessicherheitsrats undjährliche Publikation des Rüstungsexportberichts – ge-hen auf die Entscheidungen Ihrer damaligen Regierungzurück.Man kann natürlich darüber diskutieren – das gebeich gerne zu, weil wir das nicht anders sehen –: Der Rüs-tungsexportbericht muss schneller ins Parlament kom-men, damit man die Chance hat, die Entscheidungen derBundesregierung und des Bundessicherheitsrates relativzeitnah nachzuvollziehen. Warum Sie die Maßnahmen,die Sie jetzt fordern – darauf werde ich gleich noch ein-gehen –, im Jahr 2000 nicht selbst umgesetzt haben,bleibt mir ein Rätsel. Aber ich nehme an, dass der Red-ner der SPD vielleicht darauf antworten wird.Man muss auch auf Folgendes hinweisen: Sie sugge-rieren immer, dass Deutschland Waffen vor allen Dingenin fragile Staaten oder Konfliktgebiete exportiert. Ichmöchte aber hervorheben, dass über 50 Prozent allerExporte in die europäischen Staaten bzw. in NATO-Staa-ten gehen.
– Immer mit der Ruhe. Die geht nicht dahin, wohin Siegleich wieder vermuten. Sie haben mich ja nicht ausre-den lassen. Die andere Hälfte geht in Entwicklungslän-der. In fragile Staaten gehen weniger als 10 Prozent desgesamten deutschen Exportes.
Sie müssen sich eingehender mit der Struktur beschäfti-gen, um zu erfahren, was tatsächlich exportiert wird. Dashat mit Kriegsgerät zunächst gar nichts zu tun.
Das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man darüberdiskutiert, welche Rolle deutsche Rüstungsexporte in derWelt spielen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Keul zulassen?
Wollen Sie mich fragen, warum Sie damals das Ge-
setz nicht entsprechend gestaltet haben?
Ihre Bemerkung deute ich als ein Ja.
Herr Kollege, Sie haben gerade über die 50 Prozent
der Rüstungsexporte gesprochen, die nicht an NATO-
und EU-Staaten gehen. Ich frage Sie, wie Sie das ein-
schätzen und ob Sie wissen, dass die größten Empfänger
unter anderem die Vereinigten Arabischen Emirate, Pa-
kistan und Indien sind. Sind das nicht Staaten, die in ei-
ner Konfliktregion liegen? Sind das Staaten, die die
Menschenrechte beachten?
Ich staune über Ihre außenpolitischen Kenntnisse. Ichbin davon ausgegangen, dass Indien ein demokratischesLand mit einem gewählten Parlament ist
und keine Konfliktregion als solche.
Auch die Vereinigten Arabischen Emirate sind aus mei-ner Sicht keine Konfliktregion.
Ich finde, Ihre Frage ging etwas am Thema vorbei.Sie fordern in Ihrem Antrag die Abschaffung der Ge-heimhaltung. Das ist schon erstaunlich. Wozu brauchtman den Bundessicherheitsrat? Man braucht ihn, weilman bei den Entscheidungen über Rüstungsexporte sehrviele verschiedene Gründe abwägen muss. Bei einer sol-chen Abwägung geht es um wichtige Aspekte der Au-ßen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhangkann man nicht alle Fakten, die eine Rolle spielen, aufden Tisch legen. Unsere Verbündeten innerhalb derNATO oder im weiteren Verbündetenkreis wären wenigerfreut, wenn wir alle Fakten öffentlich diskutieren wür-den. Deswegen ist der Bundessicherheitsrat eingerichtetworden, und zwar durch Ihr Gesetz; das möchte ich be-tonen. Wir halten das für eine vernünftige Regelung;denn bei den Entscheidungen sollen alle Aspekte be-rücksichtigt werden. Geheime Aspekte würden bei eineröffentlichen Diskussion sicherlich nicht auf den Tischkommen.Die Einführung von Verbandsklagen ist das tollsteExperiment, das Sie uns vorschlagen. Sie führen auchnoch an, dass das im Umweltrecht eine gute Erfindunggewesen sei.
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Andreas G. Lämmel
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Das bezweifle ich. In den neuen Bundesländern wurdedas Verbandsklagerecht im Verkehrswegeplanungsbe-schleunigungsgesetz einige Zeit ausgesetzt. Nur deswe-gen konnten wir innerhalb kürzester Zeit die Infrastruk-tur in Ostdeutschland aufbauen. Betrachtet man geradevor dem Hintergrund der Energiewende die Situation inden alten Bundesländern, dann stellt man fest: Viele In-frastrukturbauten sind gerade deshalb nicht vorange-kommen, weil die Instanzen durch eine Verbandsklage,die Sie auch für diesen Bereich fordern, alles blockieren.
Ich kann das nicht als positives Vorbild sehen. Das istauch der Grund dafür, dass wir kein Verbandsklagerechtin diesem Gesetz wollen.Sie sprechen in Ihrem Antrag auch den Endverbleibvon Rüstungsgütern an. Man muss deutlich sagen: DasEmpfängerland von Rüstungsgütern verpflichtet sich,das gelieferte Gerät nicht weiter zu exportieren. DieseZusage des Empfängerlandes ist die Voraussetzung da-für, dass in Deutschland überhaupt eine Entscheidunggetroffen wird.Zum Thema Iran. Das ist ein Beispiel für den Anfangder Kette. Daraus hat man in Bezug auf die Rüstungsex-portkontrolle schnell gelernt. Nehmen wir als Beispieldie Fabrik in Saudi-Arabien, in der G 35 hergestellt wer-den.
– G 36; Sie sind Rüstungsexperte allererster Güte.
– Das kann schon sein.
Wir betrachten das eben aus wirtschaftspolitischer Sicht,da muss man nicht jeden Typ kennen. Sie sind in diesemBereich besser drauf; ich merke das schon.Jedenfalls ist es bei dieser Fabrik so, dass die Schlüs-selteile bzw. die Schlüsseltechnologien, die man braucht,um das G 36 zu fertigen, nicht mehr exportiert werden;sie bleiben in deutschem Besitz. Damit wäre die Fabrikin Saudi-Arabien überhaupt nicht mehr in der Lage,diese Geräte herzustellen.Schließlich bleibt die Frage der Ressortzuständigkeit.Das Auswärtige Amt ist – das ist überhaupt keineFrage – heute schon eingebunden. Es ist bei den Vorab-fragen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz federfüh-rend. Insofern wird die Expertise des Auswärtigen Amtsvoll einbezogen. Das Auswärtige Amt wird auch bei derExportgenehmigung einbezogen. Nur wenn bei einerAnfrage kein Konsens zwischen den beteiligten Häusernhergestellt wird, muss letztendlich eine politische Ent-scheidung im Bundessicherheitsrat getroffen werden.Der Sachverstand des Auswärtigen Amts, gepaart mitder Expertise und der Erfahrung des Bundeswirtschafts-ministeriums, ist genau die Mischung, die man braucht,um solche Anträge ordentlich bewerten zu können.Unsere Einschätzung ist: Hier liegt ein klassischerOppositionsantrag vor. Sie kritisieren im Prinzip Ihre ei-gene Gesetzgebung aus der Vergangenheit. Vielleicht ha-ben Sie die Chance – wenn Sie mal wieder regieren soll-ten; ich hoffe, zumindest nicht in Berlin –, den Antragselbst wieder einzubringen. Ich bin sicher, dass er auchunter einer von Ihnen gestellten Regierung nicht be-schlossen werden wird. Insofern, meine Damen und Her-ren, hätten wir uns die Zeit heute sparen können.Vielen Dank.
Der Kollege Klaus Barthel spricht jetzt für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte erst einmal einen Glückwunsch an die Grü-nen richten, dass sie das Thema heute nicht zu nächt-licher Stunde platziert haben. Wir merken ja an IhrerNervosität, Herr Dr. Pfeiffer, dass es Ihnen unangenehmist, dass dieses Thema nicht bei Nacht und Nebel bespro-chen
und aus der Geheimdiplomatie, soweit man hier über-haupt von Diplomatie reden kann, herausgeholt wird.Ich glaube, es gibt genügend Gründe dafür, dass wirgemeinsam mehr Transparenz und Parlamentsbeteili-gung fordern. Wir haben diese Gründe auch benannt, zu-letzt in den Debatten über die Rüstungsexporte vom26. April dieses Jahres und vom vergangenen Oktober,die Herr Lämmel gerade erwähnt hat. Die SPD hat aucheinen Antrag unter dem Titel „Frühzeitige Veröffentli-chung der Rüstungsexportberichte sicherstellen“ einge-bracht. Ich glaube, dafür liegen viele Gründe auf derHand; wir benennen sie gemeinsam.Ich will aber noch einen Aspekt ansprechen, über denich neulich gestolpert bin, als ich in der FrankfurterAllgemeinen Zeitung eine Buchbesprechung las. Dabeiging es um das Buch eines Kenners der Rüstungswirt-schaft namens Andrew Feinstein. Er schreibt in seinemBuch – ich darf aus dieser Zeitung zitieren –:Waffenhandel erfolgt in geheimem Einverständnisvon Staats- und Regierungschefs, Geheimdienst-leuten, führenden Industrieunternehmen mit ihrerSpitzentechnologie, Geldgebern und Banken, Lie-
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Klaus Barthel
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feranten, Mittelsmännern, Geldwäschern und Kri-minellen.Der Waffenhandel, sagt er, sei darüber hinaus für mehrals 40 Prozent der Korruption im gesamten Welthandelverantwortlich. Er ist einer, der es wissen muss.Sie können auf diese Analyse so oder so reagieren,meine Herren von der Koalition. Sie können sagen:Stimmt. – Uns in Deutschland fallen dazu ein paar Na-men aus vergangenen Zeiten ein. In dem Zusammen-hang finden Gerichtsverfahren, Haftgründe usw. bisheute öffentliche Beachtung. Man kann sagen: So ist nuneinmal die Welt. Wir müssen da eben mitmischen; dennes geht um Wachstum und Arbeitsplätze, und schließlichmachen es die anderen auch.Ich will jetzt nicht von den 231 Millionen Toten re-den, die uns Herr Feinstein vorrechnet. Es ist ja das Bit-tere, dass das immer im Hintergrund steht. Wenn mandas aber einmal ökonomisch betrachtet, Herr Lämmel,dann sollte man sich schon fragen, was dieser Waffen-handel auf der Welt auslöst, ob das, was er ökonomischkaputtmacht, nicht mehr ausmacht als das, was er an Ge-winnen ermöglicht.
Wir sollten auch einmal über die ökonomischen Schä-den der damit verbundenen Korruption reden. Die Bun-desregierung müsste zum Beispiel die im Jahr 2012 an-stehende Überprüfung des gemeinsamen Standpunktsder EU, die schon erwähnt worden ist, zum Anlass neh-men, nachzufragen – Stichwort Verbindlichkeit –, wie esum die Einhaltung des gemeinsamen Standpunkts steht.Es ist zu fragen: Wie funktionieren die Kontrollen? An-sonsten wird doch auch alles in der EU kontrolliert.Funktioniert das bei Rüstungsexporten auch, und wiewollen wir das in Zukunft gemeinsam gestalten? DieBundesregierung müsste einmal auf den internationalenKonferenzen, zum Beispiel zum internationalen Waffen-handelsabkommen, ATT, Druck machen. Aber davon istnichts zu hören und nichts zu sehen. Dabei wäre dasdoch konsequent. Wir sind gespannt, welche AntwortenSie geben werden. Demnächst werden wir eine Anfragedazu einreichen.Sie könnten aber auch sagen: Das stimmt nicht. InDeutschland ist alles anders. Wir haben die Rüstungs-exportrichtlinie usw. – Dann müssten Sie aber einmal er-klären, warum die Bundesregierung die Rüstungsexport-richtlinie, die von Rot-Grün beschlossen wurde, immermehr aufweicht. Das ist doch die Frage.
Wenn man sich vor Augen führt, dass der weltweite Rüs-tungshandel in den letzten fünf Jahren um 24 Prozent zu-genommen hat, aber der deutsche Rüstungsexport über-proportional um 37 Prozent gestiegen ist,
also im Wesentlichen in der Zeit, in der Sie hier Verant-wortung tragen, kann man doch nicht einfach sagen:Ursache ist die von Rot-Grün beschlossene Rüstungs-exportrichtlinie. Dahinter steckt doch vielmehr eine Ver-änderung, ein klammheimliches Unterlaufen dieser Rüs-tungsexportrichtlinie.
Genau deswegen müssen wir Mechanismen einbauen.Wir müssen das besser kontrollieren.
Wenn Sie sagen: „Das stimmt nicht“, dann müsstenSie erklären, wovor Sie Angst haben, wenn SPD undGrüne mehr Kontrolle und Transparenz fordern. Mankonnte den Eindruck gewinnen, dass Sie Angst haben,weil Sie in Ihrer zwölfminütigen Rede viele Füllbau-steine einbauen mussten. Wenn Sie sagen: „Das stimmtnicht“, hätten Sie doch eigentlich nichts zu befürchten.
Herr Lämmel, Sie müssten einmal Ihre Argumenteüberprüfen. Sie haben am 26. April 2012 in Ihrer zu Pro-tokoll gegebenen Rede die politischen Grundsätze hin-sichtlich der Menschenrechte zitiert und ihnen zuge-stimmt. Sie müssten einmal sagen, wie Panzerexportenach Saudi-Arabien mit den Menschenrechten und denpolitischen Grundsätzen zusammenpassen. Sie sprachenvon Vertraulichkeit. Sie sagten, wenn ich Sie zitierendarf:Nicht jede Debatte, die wir in der Außen- und Si-cherheitspolitik mit und gerade über andere Länderführen, können wir öffentlich führen.Sie müssen einmal erklären, wie Sie damit umgehenwollen, wenn die Sache mit den Panzern herauskommt,und irgendwann kommt das doch raus. Heute können Sienichts dazu sagen, aber irgendwann stehen die Panzerdort. Dann ist es zu spät; aber dann müssen Sie diese De-batte führen. Das heißt, Sie müssen sich diesen Fragenohnehin stellen. Wir wollen, dass der Begründungs-zwang für eine Regierung bei Rüstungsexporten ver-schärft und erhöht wird.
Schließlich reden wir hier nicht über irgendetwas, son-dern über Dinge mit großer Tragweite. Wenn es umNordafrika, Saudi-Arabien oder U-Boote geht, die an Is-rael geliefert werden sollen, kann man so oder so dazustehen. Helmut Schmidt hat gesagt, er hätte die U-Bootenicht nach Israel geliefert. Diesbezüglich gibt es auchbei uns Meinungsunterschiede. Aber gerade wenn esMeinungsunterschiede gibt, ist es doch notwendig, dassman zeitnah darüber diskutiert und nicht hinterher, wennes zu spät ist.
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Klaus Barthel
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Wir werden doch gemeinsam von der Öffentlichkeitvorgeführt – das gilt auch für die Regierung –, wenn soetwas in den Medien breitgetreten wird, aber das Parla-ment offiziell gar nichts darüber wissen und gar nichtsdazu sagen darf. Als Abgeordneter einer Koalitionsfrak-tion wäre es mir ein Graus, mich zu Vorgängen äußernzu müssen, von denen ich überhaupt nichts wissen darf.Herr Lämmel, Sie mussten sich gerade zu Vorgängenäußern – vielleicht muss Herr Lindner das auch nochmachen –, von denen Sie überhaupt nichts wissen dürfen.
– Es geht um Vorgänge, von denen man nichts wissendarf. Ob man alles zur Kenntnis nehmen muss, ist eineFrage, über die Sie einmal nachdenken müssten, HerrLindner.
Ihren Reden, Ihren Äußerungen und Ihrem Verhaltenhaben wir immer wieder angemerkt, dass Sie eigentlichauch wollen, dass das Parlament mehr Kontroll- undMitspracherechte hat, und dass auch Sie denken, dasssich an der jetzigen Situation etwas verändern muss.Herr Lämmel hat zum Beispiel letztes Mal gesagt, dasser manche Vorschläge von uns durchaus charmant findeund dass der Rüstungsexportbericht zeitnäher vorliegenmüsse. Bei Ihnen ist also auch ein Problembewusstseinvorhanden.Nutzen Sie doch bitte die nächsten Wochen, wenn wirdie Anträge von den Grünen und von der SPD in denAusschüssen beraten, um sich näher damit zu beschäfti-gen. Wir sind auf Ihre Vorschläge, wie man die Situa-tion, mit der auch Sie unzufrieden sind, verändernkönnte, gespannt. Treten Sie mit uns in einen konstrukti-ven Dialog ein! Sonst wird es wieder so sein wie bei derRüstungsexportrichtlinie von 2000, nämlich dass wir esunter Rot-Grün allein machen müssen. Das machen wirnotfalls auch, aber lieber wäre es uns im Konsens, alsowenn Sie mitmachen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Lindner für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!Kollege Barthel, eines vorab: Wenn man immer wiederAnträge vorlegt, die sich inhaltlich wiederholen, kommtin der Koalition nicht Angst, sondern Langeweile auf.Langweile kommt natürlich erst recht auf, wenn manden Text liest. Sie wollen uns immer wieder weisma-chen, unter Rot-Grün wäre nichts exportiert worden.Auch jetzt steht wieder in dem Antrag, dass während derrot-grünen Regierungszeit alle Regelungen verschärftwurden.
Ich habe ja schon einmal aufgezeigt – das mache ichjetzt erneut mit großer Freude –, wie sich in Ihrer Regie-rungszeit der Kriegswaffenexport entwickelt hat. 2002hatten die Rüstungsexporte einen Umfang von 300 Mil-lionen Euro. Dann haben Ihre wahnsinnig scharfen Re-geln richtig gegriffen, und im Jahr 2003 wurden Rüs-tungsgüter im Wert von 1,3 Milliarden Euro exportiert.Das war eine satte Steigerung um 1 Milliarde Euro.2005, liebe Frau Wieczorek-Zeul – da waren Sie Mit-glied im Bundessicherheitsrat und haben sich tapfer wieeh und je gegen Rüstungsexporte ausgesprochen – wur-den Rüstungsgüter im Wert von 1,6 Milliarden Euro ex-portiert. So sah Ihre Verschärfung aus. Sie alle zusam-men sind heuchlerisch und sonst gar nichts.
Ich erspare Ihnen auch heute nicht, vorzulesen, wasSie in diesen Jahren exportiert haben. Schießanlagen,Schießsimulatoren, Revolver, Pistolen, Karabiner, Ma-schinengewehre, Panzerfäuste und Munition für Haubit-zen – all das wurde unter Ihrer Verantwortung nachSaudi-Arabien geliefert, und jetzt erzählen Sie uns etwasvon Menschenrechten. Sie machen sich in dieser Frageeinfach lächerlich.
Es geht doch gar nicht mehr um eine seriöse Behandlungdieses Themas, sondern um puren Populismus. Sie agie-ren heuchlerisch und populistisch.Was Sie uns heute vorlegen, ist Kokolores; anderskann man es nicht bezeichnen. Sie fordern ein Verbands-klagerecht bei Rüstungsexporten. Dadurch könnte jederExport blockiert werden. Sie differenzieren ja nicht ein-mal zwischen Kriegswaffen, allgemeinen Rüstungs-gütern und Dual-Use-Waren. Selbst der Export einerMaschinenpresse könnte dann von irgendeinem Verbandblockiert werden. Wir sind ein Exportland, und dieseKoalition steht dazu.
Daran hängen Arbeitsplätze. Die Gewerkschaften, dieSie sonst immer zitieren, zum Beispiel die IG Metall,fordern von uns, dass wir für die Erhaltung der Arbeits-plätze in den Rüstungsbetrieben kämpfen. Das nächsteMal schicke ich sie direkt in Ihr Büro.
Dann noch der ganze andere Kram: Sie fordern einevierteljährliche Vorlage des Rüstungsexportberichts. Aufder einen Seite fordern Sie, dass er immer umfangreicher
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Dr. Martin Lindner
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wird, und auf der anderen Seite soll er quartalsweise vor-gelegt werden. Das kann überhaupt nicht funktionieren.Sie fordern Federführung im Auswärtigen Amt. WollenSie dort eine eigene Abteilung einrichten? Wollen Sieden gesamten Außenhandel vom Wirtschaftsministeriumin das Auswärtige Amt verlagern? Wer soll das da prü-fen? Wo sind da die Kompetenzen? Nichts als Populis-mus auch in dieser Hinsicht.Sie fordern stärkere Kontrollrechte des Parlaments.Sie schreiben in diesem Zusammenhang: „bei besonderssensiblen Exporten“. Was soll denn das sein? Frau Keul,was soll denn ein besonders sensibler Export sein?
Sie wollen ein neues Gremium schaffen. All das ist Ihrübliches Geschwurbel. Ihr Antrag enthält nichts Konkre-tes, das man wirklich machen könnte.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Sie fordern, dass der End-verbleib tatsächlich kontrolliert wird. Wie soll denn dasfunktionieren? Welche Truppen, Frau Keul, wollen Siedenn in diese Länder schicken? Wollen Sie die deutschePolizei oder das Bundeskriminalamt dorthin schicken?Erklären Sie einmal, wie Sie in den Ländern, in die wirexportieren, den Endverbleib kontrollieren wollen.Grundsatz „Neu für Alt“: Soll das auch für NATO-Staaten, für EU-Partner gelten? Sagen Sie doch einmal,was Sie konkret wollen.
Sie fordern, keine Hermesbürgschaften für Rüstungsgü-ter zu erteilen. Der Prüfungsmaßstab bei Hermesbürg-schaften ist eindeutig. Das Ausfallrisiko wird ins Ver-hältnis zum wirtschaftlichen Nutzen gestellt. Was dazusätzlich in Betracht gezogen werden soll, lassen Sieoffen. Ihr Antrag beinhaltet nichts Substanzielles, nichtssubstanziell Neues.
Nun zu Ihrer Vorhaltung, Kollege Barthel.
– Sie erwarten Vorschläge von uns? Wir brauchen garkeine Vorschläge zu machen. Wir finden es so, wie es imMoment läuft, richtig.
Daran ist gar nichts zu ändern.
Das ist nicht unser Problem. Vielmehr ist es so, dass Siehier einen Popanz aufbauen. Ich gebe Ihnen Brief undSiegel: Wenn Sie irgendwann wieder einmal regierensollten, dann werden Sie sich genauso verhalten wie IhreVorgänger – wie Frau Wieczorek-Zeul, die nichts ge-macht hat, wie Herr Joschka Fischer, der als Außen-minister nichts gemacht hat, und wie all die anderen Hel-den –, die dann, wenn sie in Regierungsverantwortungwaren, nichts unternommen haben.
Als sie in Regierungsverantwortung waren, haben auchsie sich für den Export ausgesprochen, weil sie sich dannden Realitäten zu stellen hatten und erkennen mussten,dass wir in einem großen Exportland leben.Wenn Sie die Rüstungsexporte einmal ins Verhältniszu den Gesamtexporten setzen,
dann müssten auch Sie mithilfe eines normalen Taschen-rechners zu der Conclusio kommen, dass der Anteil derRüstungsexporte im Verhältnis zu den Gesamtexportennicht höher, sondern deutlich niedriger ist. Wir gehensorgfältig mit diesen Exporten um. Deswegen haben wirauch kein schlechtes Gewissen, und deswegen müssenwir hier auch nichts ändern. Klar ist: Wir werden immersorgfältig mit diesem Thema umgehen. Natürlich wer-den wir immer auch die Menschenrechtslage, die Sicher-heitsinteressen Deutschlands und die Sicherheitsinteres-sen unserer Verbündeten beachten. Gemäß dem, was inIhrer Exportrichtlinie steht, werden wir auch in Zukunftverantwortlich handeln.
Ihr Antrag ist umständlich. Sie hätten auch nur denSatz „Rüstungsexporte werden verboten“ hineinschrei-ben können. Das wäre viel einfacher gewesen. Daswürde nämlich auf dasselbe hinauslaufen.
– Schauen Sie, von wem Sie Applaus bekommen.
Ihr Antrag ist redundant. Es handelt sich nämlich umseine fünfte Vorlage. Außerdem ist er heuchlerisch; dashabe ich schon gesagt.Sie sollten sich mit Ihrer eigenen Regierungspolitik– dass Sie an der Regierung beteiligt waren, ist nochnicht so lange her –
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Dr. Martin Lindner
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auseinandersetzen, etwas demütiger auftreten und realis-tisch bleiben. Dann werden Sie auch für uns ein ernstzu-nehmender Partner. Wenn Sie solche Schaufensteran-träge einbringen, werden Sie vielleicht von Ihren Klubsoder von dem einen oder anderen Verband wieder einmalzu einem Kaffee eingeladen.
Aber ein ernstzunehmender Partner für uns werden Siedamit nicht.Herzlichen Dank.
Frau Wieczorek-Zeul zu einer Kurzintervention, bitte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da mich Herr
Lindner zweimal angesprochen hat, will ich die entspre-
chenden Punkte aufgreifen.
Erstens finde ich es unangemessen, wenn in einer De-
batte, in der es um Waffenexporte und somit letztlich um
Krieg und Frieden und um Tod und Vernichtung geht,
Begriffe wie „heuchlerisch“ und dergleichen verwendet
werden.
Ich will Ihnen sagen: Wir alle, die wir uns hier engagie-
ren, tun dies deshalb, weil wir eine feste Überzeugung
haben. Wir heucheln nicht,
sondern wir sind der Überzeugung, dass ein dringender
Veränderungsbedarf besteht.
Das sage ich als eine Person, die im Bundessicherheits-
rat in vielen Fällen anders gestimmt hat, als die Ergeb-
nisse letztlich ausgefallen sind.
Besonders schlimm finde ich, zu sagen – das haben
Sie, Herr Lindner, gerade mehrfach getan –: Das, was
die Grünen vorgeschlagen haben, ist Kokolores. Die
Entscheidung über den Export von Waffen ist eine hoch-
politische Entscheidung. Dies als „Kokolores“ zu be-
zeichnen, ist, wie ich finde, eine unerträgliche Bewer-
tung Ihrerseits.
Ich will Ihnen noch etwas sagen. Ich werde im nächs-
ten Jahr nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandi-
dieren.
Aber für eine Sache kämpfe ich – ich werde das auch
durchsetzen –: Waffenexporte sind der einzige Bereich,
in dem es keine parlamentarische Kontrolle gibt. Ange-
sichts ihrer dramatischen Auswirkungen ist es einer De-
mokratie unwürdig, dass dem so ist.
Wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, dass ein
Gremium des Deutschen Bundestages eingesetzt wird,
das die entsprechenden Entscheidungen überprüfen und
beeinflussen kann.
Das ist eine Frage der Demokratie. Der letzte Punkt. Was
hat sich denn verändert? In der Phase, in der die Stabili-
sierung von Despoten in Nordafrika mit Waffenexporten
von verschiedenen europäischen Ländern erfolgte, ha-
ben wir alle gesagt, dass dies falsch sei. Jetzt wird weiter
südlich, bezogen auf Staaten des Golfkooperationsrates,
der Versuch unternommen, genau das Gleiche zu ma-
chen. Ich warne davor. Hier werden die gleichen Pro-
bleme auftauchen. Deshalb sollten wir uns das zu Her-
zen nehmen, was Amnesty International heute
festgestellt hat. Saudi-Arabien ist ein Land, in dem die
Menschenrechte massiv missachtet werden. Wir sollten
alles tun, damit durch parlamentarische Kontrolle solche
Entscheidungen keine Chance haben.
Herr Dr. Lindner zur Reaktion.
Frau Wieczorek-Zeul, es gibt kaum jemanden, der sowenig geeignet wäre, in dieser Frage eine Kurzinterven-tion zu machen wie Sie. Das muss ich Ihnen ganz ehrlichsagen.
Sie wurden 1998 Bundesministerin für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung. In dieser Funktionwaren Sie so lange wie kein anderes Regierungsmit-glied, nämlich elf Jahre lang – selbst BundeskanzlerSchröder war 2005 weg –, Mitglied des Bundessicher-heitsrates. Sie haben elf Jahre lang die Entscheidungenin diesem Kollegialorgan mitgetragen. Sie saßen da, undSie haben sie mitgetragen. Sie können uns doch jetztnicht ernsthaft erzählen, dass Sie hinter Ihrem Rückensozusagen ein Kreuz gemacht und es gar nicht so ernstgemeint hätten oder dagegen gestimmt hätten. Wenn das
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Dr. Martin Lindner
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damals für Sie so eine furchtbare Sache war, dann hättenSie doch zurücktreten müssen. Sie haben das mitgetra-gen. Sie sind an Ihrem Sessel kleben geblieben und ha-ben Ihre Diäten kassiert.
Frau Wieczoreck-Zeul, Sie haben alles mitgemacht.Sie hängen mittendrin in den größten Kriegswaffenex-portsteigerungen, die wir in der Nachkriegszeit hatten.
Ich habe es vorhin vorgetragen: Es gab in Ihrer Regie-rungszeit und unter Ihrer Verantwortung eine Steigerungdieser Exporte von 300 Millionen Euro auf 1,3 Milliar-den Euro. Dann gab es noch einmal eine Steigerung auf1,6 Milliarden Euro. Der Löwenanteil entfiel auf Ent-wicklungsländer, Länder, für die Sie zuständig waren.Ich habe Ihnen die Produkte, die nach Saudi-Arabiengingen, vorgelesen: Maschinengewehre, Maschinenpis-tolen und Patrouillenboote. All das lag in Ihrer Verant-wortung.Jetzt stellen Sie sich hier hin und spielen die Jeanned’Arc der Rüstungsgegner. Das ist Heuchelei; mir fälltkein anderer Ausdruck ein. Sie stellen sich hier hin undsagen auch noch, dass Sie sich mit diesem Thema auchnach dem nächsten Jahr beschäftigen werden. Sie ma-chen sich doch lächerlich. Alle anderen können da mitre-den, beispielsweise die Linken, die immer gegen alleswaren. Bis 1989 war das natürlich anders.
Da war Ihre Partei zum Beispiel in Bezug auf die Tsche-chische Republik auf einem ganz anderen Kurs. Denhaben Sie vor kurzem erst erfunden.Frau Wieczorek-Zeul, aber Sie doch nicht. Sie sindunglaubwürdig wie niemand anderer. Sich jetzt hier hin-zustellen und dieser Regierung vorzuhalten, dass sie ge-nau die Richtlinie anwendet, die in Ihrer Regierungszeitbeschlossen wurde, ist unerträglich. Das kann ich garnicht anders sagen.
Frau Wieczorek-Zeul, das funktioniert nicht. Eine
Kurzintervention lässt die Antwort des Intervenierten zu,
aber nicht die Antwort der Intervenierenden.
– Ich habe das nicht gehört.
Ich gebe jetzt Jan van Aken für die Fraktion Die
Linke das Wort.
Das, was die beiden Herren von der Regierungskoali-
tion heute abgeliefert haben, ist für mich das Niveau-
loseste, was ich hier in den letzten zwei Jahren gehört
habe. Das ist unerträglich.
Herr Lämmel, Sie haben Ihre Rede mit den Worten
begonnen, das sei alles emotional überlagert. Ich will Ih-
nen einmal sagen, worum es bei Waffenexporten geht.
Das sind keine Nähmaschinen oder Kühlschränke. Es
geht hier um Krieg, um Gewalt und Tod.
Das mögen Sie emotionslos sehen. Ich sehe das über-
haupt nicht emotionslos.
Zu Herrn Lindner muss ich sagen, dass ich das uner-
träglich finde: Jedes Mal, wenn hier eine Frau redet,
dann macht dieser Macho arrogante Zwischenrufe und
krault sich seine Eier. Das ist wenig zu ertragen. Das
geht überhaupt nicht.
Entschuldigen Sie, Frau Präsidentin. Ich entschuldige
mich dafür.
Für den „Macho“ oder für was jetzt?
Für die „Eier“.Dazu, dass Sie jetzt sagen, Sie finden diese Debattelangweilig, will ich Ihnen einmal etwas sagen:
Alle 60 Sekunden wird irgendwo auf dieser Welt einMensch erschossen. Das sind über 500 000 Männer,Frauen und Kinder jedes Jahr. Deutschland ist als dritt-größter Rüstungsexporteur der Welt für viele dieser To-ten mitverantwortlich.
Ich finde das nicht langweilig. Ich finde, wir müssten da-rüber reden, wie wir das ändern können.
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21554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Jan van Aken
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Jetzt zu den Fakten. Herr Lämmel, Sie sagen, wirmüssten einmal mit den falschen Fakten aufräumen. Ichnenne Ihnen einmal die richtigen Fakten:Jedes Jahr genehmigt diese Bundesregierung Rüs-tungsexporte im Wert von durchschnittlich 6,9 Milliar-den Euro. Jedes Jahr genehmigen Sie Exporte in über130 Länder. Darunter sind auch Länder wie Pakistan, In-dien, Griechenland, die Türkei und Katar. Ich kann siegar nicht alle aufzählen. Was am Ende mit diesen Waffenpassiert, haben wir alle letztes Jahr im arabischen Früh-ling gesehen. Dort wurde auch mit deutschen Waffen ge-kämpft. Bei Gaddafi im Lager wurden nagelneue deut-sche Sturmgewehre gefunden. Mubaraks Polizisten inÄgypten waren mit deutschen Maschinenpistolen unter-wegs. Die Leute, die in Kairo protestierten, wurden mitdeutschen Wasserwerfern weggepustet. Das finden Sielangweilig? Ich finde das nicht langweilig. Ich finde, dasist ein Skandal.
Wir wollen das ändern. Da stellt sich doch die Frage,was hier eigentlich falsch läuft. Ich glaube, zunächst ein-mal läuft falsch, dass Sie überhaupt gar nicht wissen,wovon Sie reden. Herr Lämmel redet hier von einem Ge-setz und zitiert aus einem Text, der überhaupt kein Ge-setz ist. Das sind nämlich sogenannte politische Grund-sätze, die sich die Bundesregierung selber gegeben hat.Das erste große Problem ist, dass das kein Gesetz undnicht rechtsverbindlich ist. Sie können sich daran halten,müssen sich aber nicht daran halten. Das wissen Sienicht einmal, wenn Sie hier reden. Das zeigt mir dochden Skandal, dass hier nicht einmal ein einziger Außen-politiker sitzt, der ein bisschen davon versteht.
Die Rechtsunverbindlichkeit ist aber nur der eine Teildes Problems. Der andere Teil des Problems ist, dass indiesen politischen Grundsätzen zwar ganz viel von Men-schenrechten und Kriegsgebieten die Rede ist, dass aberauch das alles unverbindlich ist. Das alles wird am Endeabgewogen. Es wird aus außenpolitischen Gründen danndoch erlaubt, Waffen zu exportieren. In der Praxis siehtes dann so aus: Die Menschenrechte und die außenpoliti-schen Interessen werden gegenübergestellt und gegenei-nander abgewogen. Die Menschenrechte verlieren dabeiständig, die Waffen werden immer exportiert, so wie diePanzer nach Saudi-Arabien. Das muss wirklich aufhö-ren.
Ich finde, wir müssen beide Probleme lösen, und ichdenke, die Grünen haben hier den ersten Schritt gemacht– den finde ich gut –, indem sie sagen: Wir müssen dasendlich rechtsverbindlich machen und in ein Gesetz gie-ßen. Ich finde aber, Sie bleiben auf halber Strecke ste-hen. Das zweite Problem gehen Sie gar nicht an. Siemüssen auch in einem solchen Waffenexportkontroll-gesetz verbieten, dass Waffen an Menschenrechtsverlet-zer geliefert werden. Sie belassen es bei dieser Abwä-gung. Ich sage Ihnen: Auch hier werden die Menschen-rechte immer verlieren. Es muss klipp und klar verbotenwerden, dass Menschenrechtsverletzer Waffen bekom-men. Punkt!
Mir ist sehr klar, dass es bei diesen Mehrheiten imBundestag und bei dieser Inkompetenz auf dieser rech-ten Seite nicht möglich sein wird, in naher Zukunft vielan den Waffenexporten zu ändern. Das Mindeste, wasSie tun könnten, ist aber, wenigstens einen kleinenSchritt zu gehen und den Verkauf von Sturmgewehrenund Maschinenpistolen zu verbieten. Das sind die Mas-senvernichtungswaffen des 21. Jahrhunderts. Mit diesenWaffen werden weltweit mehr Menschen getötet als mitallen anderen Waffensystemen zusammen.Hier frage ich mich auch: Warum sind Sie von denGrünen und von der SPD nicht bereit, diesen winzigenSchritt zu gehen? Wenn Sie jetzt mit Arbeitsplätzen ar-gumentieren, dann sage ich: Das stimmt nicht. Bei einemVerbot des Verkaufs von Sturmgewehren und Maschi-nenpistolen reden wir von 300 Arbeitsplätzen in Deutsch-land. Ich glaube, wenn wir an die vielen Toten denken,die diese Waffen zu verantworten haben, dann könnenwir das in Kauf nehmen.Während ich hier rede, sind irgendwo auf der Weltschon wieder vier Menschen erschossen worden, viel-leicht auch mit deutschen Waffen. Ich bin der Meinung,dass Deutschland überhaupt keine Waffen mehr expor-tieren sollte. Ich finde, einen kleinen Schritt dahin, einenkleinen Anfang haben Sie mit Ihrem Antrag gemacht. Ergeht mir nicht weit genug. Zustimmen werden wir trotz-dem.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.Dass die Vorlage auf Drucksache 17/9412 überwiesenwerden soll, ist unter den Fraktionen verabredet. Die Fe-derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschussfür Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Auswär-tigen Ausschuss.Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlagder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Auswärtiger Aus-schuss – abstimmen. Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? –Enthaltungen? – Dieser Überweisungsvorschlag ist nichtangenommen.Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak-tionen der CDU/CSU und der FDP, Federführung beimAusschuss für Wirtschaft und Technologie? – Wer ist da-gegen? – Enthaltungen? – Dieser Überweisungsvor-schlag ist angenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21555
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-serung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Ver-einheitlichung von Planfeststellungsverfahren
– Drucksache 17/9666 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss RechtsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Der ParlamentarischeStaatssekretär Ole Schröder hat das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Infrastrukturprojekte sind wichtig für unserLand, für unsere Zukunftsfähigkeit und vor allem auchfür die Lebensqualität der Menschen. Ich denke hierbeian Straßen, an Bahnhöfe, aber auch an Flughäfen. Auchandere Großprojekte sind wichtig, wie Speicherkraft-werke oder Fertigungsanlagen. Sie sichern die Wettbe-werbsfähigkeit Deutschlands. Sie sind wichtige Chancenfür unsere Wirtschaft und sichern damit auch Beschäfti-gung.Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte in Deutsch-land gibt es wohl kein großes Projekt, von dem nichtviele Menschen betroffen sind. Die betroffenen Men-schen machen sich Sorgen um die Auswirkungen derProjekte, aber auch darum, wie es während der Bauphaseaussieht. Sie machen sich Sorgen um Lärm, Schmutzund Verkehrsbehinderungen. Auch Menschen, die nichtunmittelbar betroffen sind, sorgen sich um die Umwelt-verträglichkeit.Die frühe Beteiligung und Information der Bürger istdaher von ganz entscheidender Bedeutung, um Fehlerbei Planungen zu verhindern und den Rechtsfrieden zuerhalten. Es geht um Informationen über die Auswirkun-gen der fertigen Projekte. Es geht aber auch um Informa-tionen über die Bauphasen und vor allem auch um Infor-mationen darüber, warum ein solches Projekt überhauptnotwendig ist.Nach geltender Rechtslage ist die Öffentlichkeitsbe-teiligung als wichtiges Verfahrensinstrument in den Ge-nehmigungsverfahren verankert, allerdings erst dann,wenn die Planungen weitgehend abgeschlossen sind, dasheißt, wenn wir bereits im rechtlichen Verfahren sind.Deshalb geht es bei der bisherigen Öffentlichkeitsbeteili-gung lediglich um rechtliche Fragen. Sie richten sich zu-dem an die unmittelbar Betroffenen und an die Umwelt-schutzvereinigungen.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir erst-mals an zentraler Stelle eine gesetzliche Regelung fürdie „frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“ schaffen, dasheißt vor dem eigentlichen Genehmigungsverfahren.Wir wollen das Verfahren gegenüber allen Interessiertenöffnen. Es soll darüber informiert werden, warum dasProjekt überhaupt notwendig ist, wie es verwirklichtwerden soll und welche voraussichtlichen Auswirkun-gen es hat. Die Bürger erhalten so die Möglichkeit, An-regungen zu äußern, Bedenken zu artikulieren. Das Er-gebnis wird an die zuständige Behörde weitergeleitetund dann in die Planungen aufgenommen.Selbstverständlich kann eine solch frühe Öffentlich-keitsbeteiligung nicht alle Konflikte lösen. Es wird auchzukünftig Streit geben. Es wird auch zukünftig Protestgeben. Das ist in einer Demokratie selbstverständlich.Das muss es in einer pluralistischen Gesellschaft geben.Eine breite und frühzeitige Beteiligung kann aber dazubeitragen, dass Konflikte entschärft werden, dass esmehr Akzeptanz für beide Seiten gibt: für diejenigen, dieein Projekt befürworten, aber auch für die Gegner einessolchen Projekts. Dies hat dann positive Auswirkungenauf das Genehmigungsverfahren, auf das Planfeststel-lungsverfahren, aber natürlich auch auf mögliche ge-richtliche Auseinandersetzungen, die dann vielleichtauch vermieden werden können.Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit den mögli-chen Einwänden ist jedenfalls besser als eine Generalde-batte, wenn das Verfahren mehr oder weniger abge-schlossen ist und man kurz vor Baubeginn steht. Des-wegen werden auch gerade private Vorhabenträger, dieam Gelingen des gesamten Vorhabens ein großes Inte-resse haben, für eine solche frühe Öffentlichkeitsbeteili-gung offen sein. Es ist Sache der Behörden, auch die Pri-vaten dazu zu bewegen, eine solche frühe Öffentlich-keitsbeteiligung durchzuführen und sie als Chance zubegreifen.Eine darüber hinausgehende Verpflichtung halten wirnicht für hilfreich. Sie ist vielmehr kontraproduktiv, weiles gerade darum geht, vor dem eigentlichen rechtlichenVerfahren eine Kooperation mit den Bürgern einzuge-hen, um mit ihnen in die Diskussion einzutreten. Es sollnicht nur darum gehen, rechtliche Fragen zu diskutierenund das eigene Verfahren rechtssicher zu machen. Des-halb müssen wir die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung vordem rechtlichen Genehmigungsverfahren durchführen.Dieser Gesetzentwurf ist außerdem ein Beitrag zumBürokratieabbau. Wir führen eine Rechtsbereinigungund eine Rechtsvereinheitlichung durch. Es geht darum,für mehr Klarheit und eine einfachere Anwendbarkeitder Gesetze zu sorgen.Die Beschleunigungsvorschriften, die mit dem Infra-strukturplanungsbeschleunigungsgesetz 2006 zum Plan-feststellungsverfahren eingeführt wurden, sind in vielenunterschiedlichen Fachgesetzen verstreut. Wir führen siejetzt zusammen. Die einzelnen Fachgesetze werden da-mit von den Beschleunigungsvorschriften entrümpelt.Somit kommen wir zu einer besseren und einfacherenAnwendung des Rechts, indem wir überflüssige Vor-
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Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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schriften in den jeweiligen Fachgesetzen streichen kön-nen.Die Länder wenden grundsätzlich ihre eigenen Ver-waltungsverfahrensgesetze an. Für den Standort Deutsch-land ist aber ein einheitliches Verfahrensrecht notwen-dig. Die Anwendbarkeit des Rechts ist für unserePlanungsbehörden von großer Bedeutung. Deshalb isteine einheitliche Fortentwicklung unseres Verwaltungs-verfahrensrechts notwendig. Dies ist jetzt ein ersterSchritt auf Bundesebene. Die Landesverwaltungsverfah-rensgesetze werden dann hoffentlich auch entsprechendgeändert.In Sachen Öffentlichkeitsbeteiligung ist das Gesetzein erster Schritt, dem weitere folgen werden. Ich denkean das E-Government-Gesetz der Bundesregierung, dasin Planung ist und dafür sorgen wird, dass auch der Zu-gang zu Informationen über Projekte erleichtert wird.Der Bürger kann dann auch online nachvollziehen, wasin Planung ist. Zudem ist das Verkehrsministerium da-bei, ein Handbuch für die Betroffenen einzuführen, wieBürgerbeteiligung besser durchgeführt werden kann.Ich bitte Sie, uns auf diesem Weg zu einer besserenBürgerbeteiligung zu unterstützen.
Kirsten Lühmann hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Verehrtes Publikum!Eine aufrichtige Beteiligung setzt eine entspre-chende Haltung bei den Beteiligenden voraus; dieBeteiligten spüren den Unterschied, ob die Beteili-genden authentisch sind und Beteiligung ernsthaftanbieten oder Beteiligung ausschließlich als Instru-ment zur Befriedung eingesetzt wird.Das ist ein Zitat aus einer 93-seitigen Broschüre des Ver-kehrsministeriums zum Thema „Planung von Großvor-haben im Verkehrssektor“ und klingt sehr gut: Bürgerbe-teiligung auf Augenhöhe und mit Ernsthaftigkeit. Dassind schöne Worte, insbesondere angesichts der Formu-lierung „Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung“im Titel des Gesetzesentwurfs, den wir heute beraten.Aber lassen Sie uns sehen, ob diesen Worten auch Ta-ten der Regierung folgen. Zunächst einmal sind Über-sichtlichkeit und Rechtsvereinheitlichung gute Ziele.Wir sehen auch, dass es in dem Gesetzentwurf einigeSchritte gibt, die in diese Richtung weisen. Aber noch-mals zur Formulierung „Verbesserung der Öffentlich-keitsbeteiligung“ im Titel. Wenn es darum geht, ver-pflichtende Beteiligungsrechte für Bürgerinnen undBürger zu schaffen, dann kann ich nur feststellen: DieserTitel kollidiert erheblich mit der Realität. Wunsch undWirklichkeit – wie häufig bei den Gesetzentwürfen die-ser Regierung – klaffen auseinander. Das werden wir Ih-nen nicht durchgehen lassen.
An drei Beispielen möchte ich das deutlich machen,als Erstes an der Bürgerbeteiligung, die von HerrnSchröder so sehr gelobt wurde. „Frühe Öffentlichkeits-beteiligung“ wird der Überschrift eines Kapitel hinzuge-fügt. Allerdings bleibt das Kapitel weit hinter den Er-wartungen, die die Überschrift erweckt, zurück. FrüheBeteiligung soll dadurch hergestellt werden, dass die Be-hörden auf frühzeitige Information der Betroffenen „hin-wirken“. Das heißt, keine Pflicht und keine Sanktionen.Zur Bewertung dieses Vorschlags zitiere ich die Stel-lungnahme des Bundes Deutscher Verwaltungsrichterund Verwaltungsrichterinnen:Diese Hinwirkungspflicht ist wohl die denkbarschwächste Handlungsanweisung, die man sich fürein Behördenhandeln nur vorstellen kann.
Die Regierung weist zwar auf die Möglichkeit hin,dass man in den Fachgesetzen die verpflichtende Bür-gerbeteiligung wählen kann. Aber ich frage Sie, HerrSchröder, als Vertreter dieser Regierung, was Sie wollen.Wollen Sie Vereinheitlichung, oder wollen Sie keineVereinheitlichung? Sie müssen sich entscheiden.
Ich zitiere wieder aus der eben erwähnten Stellung-nahme:… insoweit verfehlt der Gesetzentwurf sein obenerwähntes primäres Ziel, Sonderrechte der Fachge-setze durch eine einheitliche Regelung im VwVfGmöglichst obsolet zu machen.Dem ist nichts hinzuzufügen. Ziel verfehlt!
Zweiter Gedanke, das Plangenehmigungsverfahren.Man kann statt eines Planfeststellungsverfahrens, dassehr aufwendig ist, ein Plangenehmigungsverfahrendurchführen. Es handelt sich um ein vereinfachtes Ver-fahren, das kürzer und überschaubarer ist. Aber diesesVerfahren bietet den Betroffenen weniger Rechte. Somitdenkt der Lesende – erinnern wir uns an das Ziel derBundesregierung, das sie mit diesem Gesetz erreichenwill, nämlich eine Ausweitung der Bürgerbeteiligung –:Die Bundesregierung wird die Möglichkeiten des verein-fachten Plangenehmigungsverfahrens einschränken. –Aber weit gefehlt! Die Bundesregierung schreibt:Mit der Änderung … wird der Anwendungsbereichfür eine Plangenehmigung maßvoll erweitert.Ich erinnere, wie es jetzt ist: Ein vereinfachtes Verfah-ren kann durchgeführt werden, wenn Rechte anderernicht beeinträchtigt werden. Wenn keiner beeinträchtigtwird, kann auch niemand klagen; das ist klar. Nach derneuen Regelung kann ein Plangenehmigungsverfahrendurchgeführt werden, wenn die Rechte anderer „unwe-sentlich“ – unwesentlich! – beeinträchtigt werden. Wennich Sie frage, Herr Schröder, was für Sie „unwesentlich“ist, dann wird sicherlich dabei herauskommen, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21557
Kirsten Lühmann
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schon unsere beiden Meinungen auseinandergehen. Si-cherlich gibt es diverse unterschiedliche Auffassungenüber das Wort „unwesentlich“ hier im Saal und auf derZuschauertribüne. Die Regierung stellt also fest: DieRechte der Betroffenen werden beeinträchtigt, aber dierechtlichen Möglichkeiten der Betroffenen werden ein-geschränkt. – Unter Ausweitung der Bürgerbeteiligungverstehen wir etwas anderes.
Der dritte Gedanke betrifft die Gültigkeit von Plan-feststellungsverfahren, also die Dauer, wie lange einesolche Genehmigung gültig ist. Die Bundesregierungstellt fest:Die verlängerte Plangeltung – das sind maximal 15 Jahre –… begünstigt … den Vorhabenträger– also die Baubehörde –… zulasten der Betroffenen und ist für diese– also die Betroffenen –häufig kaum zumutbar.Das, liebe Bundesregierung, sehen wir genauso.Nun stellt die Bundesregierung fest, dass zwar beiGroßvorhaben möglicherweise – das heißt, sie ist sichnicht sicher – zehn Jahre gerechtfertigt sein könnten,dass aber bei Abwägung aller Vor- und Nachteile dieNachteile überwiegen. Nachdem ich das erfreut zurKenntnis genommen habe, habe ich im Gesetzentwurfgesucht, wo die Bundesregierung das umsetzt. Sie ver-muten richtig: Ich habe es nicht gefunden. Im Verwal-tungsverfahrensgesetz steht zwar, dass eine solche Ge-nehmigung nur 5 Jahre gilt. Aber in anderen Gesetzen,zum Beispiel im Bundesfernstraßengesetz, steht nochimmer, dass eine Planfeststellung bis zu 15 Jahre gültigist. Welche Probleme das in der Praxis birgt, sehen wir inunseren Wahlkreisen allenthalben. Das heißt, vor 15 Jah-ren gab es Bürger und Bürgerinnen, die ihre Rechte gel-tend machen konnten. Aber heute wohnen sie nicht mehrdort. Diejenigen, die heute da wohnen, haben überhauptkeine Möglichkeit mehr, ihre Rechte geltend zu machen.Der Witz ist, dass in diesem Gesetzentwurf sogar dasBundesfernstraßengesetz und auch dieser Paragraf geän-dert werden. Allerdings wird die Frist von 15 Jahrennicht angetastet. Warum haben Sie die nicht angetastet?Warum haben Sie die Frist nicht wenigstens auf 10 Jahrebegrenzt? Nichts dergleichen. Das Problem wurde er-kannt, aber es wurde nichts geändert. Meine Herren undDamen, das ist unlogisch.
Das Fazit ist: Wir haben Optimierungsbedarf. Wiedieser Optimierungsbedarf aussehen könnte, hat dieSPD-Fraktion in ihrem Antrag zur Bürgerbeteiligungschon angerissen. Neben Verfahrensvereinfachungenfordern wir echte, verpflichtende Bürgerbeteiligung. DasOb und das Wie einer Bürgerbeteiligung darf nicht in dasBelieben von Behörden gestellt werden. Wir fordern ei-nen Bürgeranwalt zur Beratung der Betroffenen und ver-pflichtende Informationen im Vorfeld des Planfeststel-lungsverfahrens. Ich sage Ihnen: In Zeiten des Internetsist so etwas sehr leicht möglich. Das beste Beispiel bietetmein Heimatland Niedersachsen. Dort werden alle Pla-nungsunterlagen, alle Diskussionen mit Betroffenen undalle Protokolle zeitnah im Internet eingestellt. Jeder inte-ressierte Bürger und jede interessierte Bürgerin kannsich das anschauen. Wenn das in Niedersachsen geht,warum geht das nicht auch woanders?Wir haben also viel Arbeit in den Beratungen. Ichvertraue aber auch hier auf das Struck’sche Gesetz: Auchdieses Vorhaben wird das Parlament nicht so verlassen,wie es hereingekommen ist. Lassen Sie uns gemeinsamim Sinne des Titels dieses Gesetzes an mehr Bürgerbe-teiligung und im Sinne der darin angesprochenen Bürgerund Bürgerinnen an Verbesserungen arbeiten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Wir haben mit dem Gesetzentwurf zweiwesentliche Punkte unter einen Hut gebracht, nämlichdie bessere Bürgerbeteiligung – Frau Lühmann, daraufkomme ich gleich zurück – und eine Beschleunigungdurch Vereinfachung und Vereinheitlichung von Verfah-ren. Wir haben einen Schritt nach vorne gemacht, dennein Bereich bei den Planfeststellungsverfahren ist imMoment in sehr vielen verschiedenen Gesetzen geregelt.Alle an Planfeststellungen Beteiligten müssen im Mo-ment erheblichen Aufwand betreiben, um ein Planfest-stellungsverfahren richtig und auch gerichtsfest vonAnfang bis Ende zu betreiben. Letztlich hilft es allen Be-teiligten, wenn man gewisse Grundlagen an einer zentra-len Stelle schafft, wenn man gleiche Voraussetzungenschafft, und zwar sowohl für denjenigen, der plant, alsauch für denjenigen, der genehmigt, und für diejenigen,die an dem Verfahren zu beteiligen sind, weil auch dieseauf der Grundlage des Gesetzes beurteilen müssen, wel-che Rechte sie haben und wie sie vielleicht weiter vorge-hen können.Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist eine Bringschuld,keine Frage. Frau Lühmann, Sie haben von der „Auswei-tung“ der Beteiligung gesprochen. Eine ausgeweiteteBeteiligung ist nicht unbedingt eine verbesserte Beteili-gung. Ich glaube, dass der wesentliche Kern der Verbes-serung in der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung steckt.Das kann man gar nicht stark genug betonen. Es wird zueinem viel früheren Zeitpunkt als bisher die Öffentlich-keitsbeteiligung hergestellt, zu einem Zeitpunkt, zu dem
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21558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Manuel Höferlin
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die Antragstellung noch nicht so weit fortgeschritten ist,zu dem man noch viele Dinge ändern kann und zu demdie Bürger noch im Zusammenwirken mit den Verfah-rensträgern und den Behörden agieren können.
Natürlich können Sie fragen, warum wir das nicht ver-pflichtend machen. Die Antwort ist: Die Behörden ha-ben darauf hinzuwirken, dass es gemacht wird. Ich haltedas für sachgerecht. Es gibt auch ein verfassungsrechtli-ches Problem, wenn Sie bei privaten Verfahrensträgerneine Pflicht installieren. Auch das muss man bedenken.
– Da sind wir ja vielleicht unterschiedlicher Meinung,Frau Lühmann. Aber so ist es. Das ist meine Meinung.Ich glaube, wir müssen dort darauf aufpassen, dass wirden Bogen nicht überspannen.Gerade der Weg der frühen Beteiligung birgt nun ein-mal eine Möglichkeit. Meines Erachtens wird ein Trägerim Planungsverfahren nach den Erfahrungen der letztenJahre gerade dann, wenn ihm gegenüber darauf hinge-wirkt wird, die Öffentlichkeitsbeteiligung herzustellen,dies selbstverständlich auch möglichst früh tun, undzwar wegen des Risikos, dass ein Projekt nicht akzep-tiert wird. Wir wissen, wie hoch dieses Risiko heute ist.Dem entgegenzuwirken, wird ihm durch diese Möglich-keit eröffnet. Ich halte es für genau den richtigen Weg,Bürger, Planende und Behörden zusammenzukriegenund am Ende mit bedeutend mehr Akzeptanz aus demVerfahren herauszukommen.
Neben diesen Wirkungen haben wir zur Beschleuni-gung der Verfahren vorgesehen, dass Verwaltungen Ent-scheidungen in angemessenen Zeiträumen zu treffen ha-ben.
An dieser Stelle haben wir die Diskussion geführt – dazukönnen wir gerne eine weitere Diskussion führen –, obBehörden vielleicht noch kürzere Zeiträume einhaltenmüssen oder nicht.Ich glaube, dass man auch Folgendes beachten muss:Nur weil eine Behörde eine Entscheidung im Planungs-verfahren sehr schnell trifft, muss diese Entscheidungerstens nicht besser und zweitens – in Planungsverfahrenin den Größenordnungen, über die wir sprechen – nichtunbedingt rechtssicherer sein. Was nutzt es uns am Ende,wenn wir die Behörden – vielleicht noch unter Sank-tionszwang – dazu bringen, Verfahren beschleunigt zuEnde zu führen, und die Entscheidungen nachher vorGericht nicht standhalten? Dann ist weder dem Trägerdes Vorhabens noch den Behörden und schon gar nichtdem Bürger gedient, weil Gerichte ganze Verfahren an-schließend wieder umwerfen können. Ich glaube, sokönnen wir den Nutzen für den Bürger nicht vergrößern.
Deswegen ist es wichtig, hier einen Kompromiss zufinden und einen ausgewogenen Zeitraum zu definieren,um rechtssicher und trotzdem beschleunigt zu einer Ent-scheidung aufseiten der Behörden zu kommen. Ichglaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf genau die-sem Anspruch Rechnung trägt. Deshalb halte ich dies füreinen ausgewogenen Punkt, der allen Seiten gerechtwird.Die Verbesserung der Bürgerbeteiligung ist für diemeisten, die den Gesetzentwurf von außen betrachten,der wesentliche Punkt. Wir haben diese Bürgerbeteili-gung auch schon selbst in Positionspapieren gefordert.Ich glaube, dass die Öffentlichkeit beim Bau von Groß-vorhaben dann, wenn ihre Beteiligung erst im förmli-chen Verwaltungsverfahren erfolgt, meist zu spät betei-ligt ist.Daher machen wir jetzt den ersten Schritt – das ist derwesentliche Punkt –, dass Bürger in einer frühen Phaseder Projektplanung beteiligt werden können. Das ist einerster Schritt, Öffentlichkeit in solchen Verfahren herzu-stellen. Es wird weitere Schritte geben – der Parlamenta-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
mit den
weiteren Vorhaben schaffen wir Grundlagen –, denn die
Möglichkeiten der Digitalisierung erfordern auch den
Zugang zu sowie die Kommunikation und die Inter-
aktion mit Behörden. Deswegen werden weitere Gesetze
folgen, die sich auch schon im Verfahren befinden.
Damit eröffnen wir den Bürgern die Möglichkeit, sich
besser zu beteiligen, weil sie sich früher und intensiver
beteiligen können. Die Verfahren dazu werden wir in an-
deren Gesetzen weiterentwickeln. Das ist ein Teil eines
Straußes von Möglichkeiten, die die Bürgerbeteiligung
verbessern sowie Verfahren rechtssicherer machen und
beschleunigen.
Herzlichen Dank.
Für die Linke hat Sabine Leidig das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Am 30. September 2010 hat der damalige Ministerpräsi-dent Mappus im Stuttgarter Schlossgarten die Polizei mitWasserwerfern und Tränengas gegen Tausende seinerLandeskinder eingesetzt. Dieser Versuch, die monatelan-gen Demonstrationen gegen das Großprojekt Stutt-gart 21 zu beenden, ist gründlich gescheitert.Danach haben alle Verantwortlichen – bis hin zurBundeskanzlerin, Frau Merkel – versprochen, dass künf-tig die Bürgerinnen und Bürger besser beteiligt werdensollen.Nun liegt dieser Gesetzentwurf vor. Wie KolleginLühmann schon gesagt hat, trägt er im Grunde einen Ne-
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Sabine Leidig
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belkerzentitel, der „zur Verbesserung der Öffentlich-keitsbeteiligung“ lautet.Es geht um die Planung und Genehmigung von Auto-bahnen, Bundesstraßen, Bergbauvorhaben, Flussausbau-ten oder Bahntrassen. Solche Großprojekte haben in derRegel massive Auswirkungen auf die Umwelt und dieLebensbedingungen der Anwohnerinnen und Anwohner,und zwar jahrzehntelang.Es gibt außerdem immer mehr Diskussionsbedarf ausgesellschaftlicher Verantwortung. Die meisten sind janicht per se für oder gegen eine Baumaßnahme, sondernsie wollen, dass die Milliarden, die dafür ausgegebenwerden, sinnvoll verwendet werden. Denn es geht umsehr viel Steuergeld, das nur einmal ausgegeben werdenkann, zum Beispiel entweder für ein Prestigeprojekt wieden Stuttgarter Tiefbahnhof oder für sinnvolle Bahntras-sen, die allen zugutekommen.
Zurück zum Gesetzentwurf. Man könnte sagen: Er istein schlechter Scherz. – Aber es ist schlimmer: Sie neh-men die Anliegen und die konkreten Erfahrungen derBürgerbeteiligung gar nicht ernst, sondern Sie wollen le-diglich etwas früher um Akzeptanz werben, damit dieGroßprojekte, die Sie vorgeben, möglichst ungestört undbeschleunigt umgesetzt werden können.
Das ist das Gegenteil von dem, was wir wollen, nämlichmehr echte Demokratie.
Außer dem Versprechen, dass eine frühe Öffentlich-keitsbeteiligung möglich sein soll, findet sich in demGesetz keinerlei konkrete Verbesserung. Das Gegenteilist der Fall.In den vergangenen 20 Jahren sind Bürgerbeteili-gungsverfahren immer wieder eingeschränkt worden,begründet damit, dass Planung beschleunigt werden soll.Diese verschiedenen Einschränkungen sollen jetzt zumbundesweiten Standard erhoben werden. Das ist völliginakzeptabel.
Es ist nicht einmal vorgesehen, dass die Bevölkerung ak-tiv informiert wird – dabei wäre das doch das Mindeste,und so lautet auch eine wichtige Forderung aus den Ver-bänden. Wer nicht am richtigen Tag auf der richtigenSeite in die Zeitung schaut, erfährt vielleicht erst Monateoder Jahre später etwas von einem geplanten Vorhaben,nämlich dann, wenn der Bagger vorfährt oder der Bau-zaun errichtet wird.Dann verweise ich auf die Neuregelung von § 75 Ver-waltungsverfahrensgesetz in Ihrem Gesetzentwurf, dergewissermaßen ganz im Obrigkeitsdenken gefangen ist.Nach diesem Paragrafen soll die Behörde – auch daswurde schon angesprochen –, die für die Genehmigungzuständig ist, selbst entscheiden, ob die Mängel, auf diedie Bürgerinnen und Bürger oder Verbände aufmerksammachen, überhaupt beachtlich sind. Das ist ein Freibrieffür Behördenwillkür und eine der Verschlechterungen,die sich an vielen Stellen in diesem Gesetzentwurf fin-den.Besonders unfair ist und bleibt, dass Einwände gegenein Großprojekt nur am Anfang des Verfahrens rechts-wirksam eingebracht werden können. Das heißt, wennsich später herausstellt, dass Recht und Gesetz verletztworden sind, dass unrichtige Zahlen oder Fakten Grund-lage der Entscheidungen waren, oder wenn die Pläne ge-ändert werden, haben die Betroffenen überhaupt keineHandhabe mehr, etwas gegen ein Projekt einzuwenden.Die sogenannte Perklusionsklausel gibt es nirgendwo inEuropa; es handelt sich um einen deutschen Sonderweg.Ich finde, dieser muss unbedingt beendet werden.
Die Anforderung, einen gesetzlichen Rahmen fürfaire, transparente und wahrhaftige Bürgerbeteiligung zuschaffen, steht weiterhin auf der Tagesordnung. Es siehtso aus, als wenn Sie das offenbar gar nicht wollten. Alsowerden die Betroffenen ihre demokratischen Anliegenund ihren Protest auch weiterhin auf die Straße tragen.Wir werden sie dabei auf jeden Fall unterstützen.
Ingrid Hönlinger hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wissen Sie, was im Jahr 2010 der damalige Landes-gruppenvorsitzende der CSU in Bezug auf Stuttgart 21geäußert hat? Ich zitiere aus einem Gespräch mit derSUPERillu vom 14. Oktober 2010.
Insofern ist es auf jeden Fall richtig, wenn man mit-einander redet und Zweifel auszuräumen versucht.Eines ist aber völlig klar: Am Ende muss die Um-setzung dieses wichtigen Vorhabens stehen.
Dieser Satz verrät nicht nur das Demokratieverständnisdes damaligen Landesgruppenchefs und heutigen Innen-ministers Hans-Peter Friedrich, sondern er steckt auchwie ein unsichtbarer Geist in Ihrem Gesetzentwurf.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko-alition, nehmen die Bürgerinnen und Bürger als kompe-tente Gesprächspartner nicht ernst. Sie wollen die Bür-gerinnen und Bürger gnädig mitdiskutieren lassen; aberam Ergebnis soll nicht gerüttelt werden. Das zeigt: In Ih-
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21560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Ingrid Hönlinger
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ren Köpfen steckt noch viel Obrigkeitsdenken. Ihr De-mokratie- und Rechtsverständnis ist im vorigen Jahrhun-dert stecken geblieben.
Warum sage ich das, und warum komme ich zu dieserBewertung?
Mit diesem Gesetzentwurf schaffen Sie keine obligatori-sche Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir haben es hier miteiner dreifachen Sollvorschrift zu tun. Die Art und Weiseder Öffentlichkeitsinformation ist in das Belieben desVorhabenträgers gestellt. Es gibt keine Qualitätsstan-dards. Die Einbeziehung der Erkenntnisse aus der Öf-fentlichkeitsbeteiligung ist nicht sichergestellt. Es man-gelt an der Einschaltung neutraler Dritter, obwohl diesehäufig eine befriedende Wirkung erzielen könnten.Mit dem Gesetzentwurf werden Erörterungsterminenicht obligatorisch. Die Anhörungsbehörde kann denBürgern Erörterungstermine sogar vorenthalten, etwawenn ihr der Verwaltungsaufwand zu hoch erscheint.Und noch schlimmer: Mit dem Gesetzentwurf wird Öf-fentlichkeitsbeteiligung abgebaut; denn der Planfeststel-lungsbeschluss muss den „bekannten Betroffenen“ nichtmehr zugestellt werden. Und: Die Erörterung muss in-nerhalb von drei Monaten abgeschlossen sein. – Wenn esalso darum geht, Bürgerbeteiligung zu verkürzen, dannwird Ihr Gesetzentwurf plötzlich verbindlich.Meine Damen und Herren, Sie verkaufen ein Gesetzzur Öffentlichkeitsbeteiligung und bauen mit demselbenGesetz genau diese Beteiligung ab. Das wollen und wer-den wir nicht hinnehmen.
Gehen Sie doch einmal hinaus und reden Sie mit denMenschen, mit den Gemeinderäten, den Bürgermeisternund Landräten! Die sagen Ihnen: Wir brauchen eine ob-ligatorische Bürgerbeteiligung bei wichtigen Entschei-dungen. Erhöhen Sie die Planungsqualität, indem Sie dieeinfachen Heilungsmöglichkeiten bei Verfahrens- undFormfehlern erschweren! Verkürzen Sie die Geltungs-dauer von Planfeststellungsbeschlüssen! Verbessern Siedie Beteiligungs- und Klagerechte von Umwelt- und Na-turschutzverbänden!
Implementieren Sie auch alternative Konfliktlösungs-möglichkeiten wie die Mediation! Führen Sie Instru-mente der direkten Demokratie ein! Und: Etablieren Sieeine neue beteiligungsfreundliche und transparente Ver-waltungskultur!
Dies, meine Damen und Herren, sind die Mindest-anforderungen an eine moderne, bürgerfreundliche undzukunftsorientierte Beteiligungspolitik.
Meine Damen und Herren von der Regierungsbank,Sie sprechen von Fortschritt, bewirken aber Rückschritt.Bekennen Sie sich endlich zu echter Bürgerbeteiligung!Unsere Demokratie, unsere Bürgerinnen und Bürger sindreif und bereit für mehr aktive Beteiligung. Sie alle wol-len gehört und ernst genommen werden. Das Wissen unddie Expertise der Bürgerinnen und Bürger müssen in dieEntscheidungen einfließen. Es wird Zeit in diesem Land –für eine neue Beteiligungskultur, eine neue Rechts- undMitsprachekultur.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Helmut Brandt hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschlandist als Industriestandort und Exportnation auf eine mo-derne, leistungsfähige Infrastruktur angewiesen. Die da-für notwendigen Großvorhaben können nur dann gelin-gen, wenn sie auf eine breite Akzeptanz in der Bevölkerungstoßen und von einem Planungsrecht begleitet werden,das eine möglichst zügige Umsetzung der Vorhaben er-möglicht. Aus den Redebeiträgen von Ihnen habe ich soein bisschen den Eindruck gewonnen, dass Sie genau dasnicht wollen. Aber das ist genau das, was für unser Landwichtig ist.Sie haben noch etwas, glaube ich, nicht zur Kenntnisgenommen. Sie glauben, dass die Behörden aus den Er-eignissen gerade auch um Stuttgart 21 keine Lehren ge-zogen haben.
Dann sagen Sie, dass die Bürgermeister und die Land-räte eine Bürgerbeteiligung wünschen. Genau das bietenwir ihnen jetzt mit diesen Planungsrechtsänderungen.Nun geschieht diese Bürgerbeteiligung zum frühestmög-lichen Zeitpunkt.
Ich glaube, dass man nicht alles nur mit Zwang bewirkensoll, sondern dass
– genau – Rechtssicherheit hergestellt werden kann,wenn man unserem Gesetzesvorschlag folgt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21561
Helmut Brandt
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Neben anderen Faktoren liegt nach meiner Auffas-sung eine der Ursachen für die Geschehnisse um Stutt-gart 21 in der Ausgestaltung des rechtlichen Rahmensselbst, insbesondere der Art, wie die Öffentlichkeit andem Verfahren beteiligt wird. Die derzeit geltendeRechtslage sieht zwar eine Öffentlichkeitsbeteiligung alswichtiges Verfahrensinstrument bereits bei vielen Vorha-ben vor. Allerdings werden die Bürgerinnen und Bürgeroft erst in förmlichen Verwaltungsverfahren beteiligt,also erst dann, wenn der Vorhabenträger den fertigenPlan bei der Behörde eingereicht hat, die Planung desVorhabens folglich bereits in wesentlichen Teilen abge-schlossen ist.Darüber hinaus sind die bisherigen Beteiligungsfor-men vor allem darauf ausgerichtet, die unmittelbar Be-troffenen vor vermeidbaren Rechtsbeeinträchtigungenzu bewahren. Aspekte außerhalb dieser unmittelbarenRechtsbetroffenheit spielen dagegen kaum eine Rolle.Vor allem bei Großvorhaben, deren Auswirkungen überdie Einwirkungen auf ihre unmittelbare Umgebung hi-nausgehen und die oft Bedeutung über ihren Standort hi-naus haben, werden die bestehenden Formen der Öffent-lichkeitsbeteiligung im Genehmigungs- oder Planfest-stellungsverfahren als nicht mehr ausreichend empfun-den. Hier ist ein zunehmendes Interesse der Bürgerinnenund Bürger an frühzeitiger Beteiligung und Mitsprachefestzustellen.Genau diesen Mängeln trägt der vorliegende Entwurfeines Gesetzes zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbe-teiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungs-verfahren Rechnung.
Die neue „frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“ soll künftigbereits vor dem eigentlichen Verwaltungsverfahren statt-finden und einem möglichst großen Personenkreis offen-stehen.
Das jeweilige Vorhaben wird durch diese neue Form derBeteiligung frühzeitig öffentlich bekannt gemacht, umeinen Dialog zu ermöglichen. Der Vorhabenträger kannso bereits in einem frühen Planungsstadium auf mögli-che Bedenken und Anregungen aufmerksam gemachtwerden.
– Frau Lühmann, wir geben der Behörde jetzt anheim,dies regelmäßig zu tun.
Ich denke, dass sie es aus den Erfahrungen, die ich ebengeschildert habe, auch tun wird.
Durch die vorgesehene Mitteilung des Ergebnissesder frühen Öffentlichkeitsbeteiligung an die zuständigeBehörde können wichtige Erkenntnisse in das anschlie-ßende formelle Verfahren einfließen und dort Berück-sichtigung finden. Das nachfolgende Genehmigungs-oder Planfeststellungsverfahren soll einfacher undschneller werden – das ist auch ein Effekt, der erzeugtwerden soll – sowie gleichzeitig dadurch entlastet wer-den, und – ein wesentlicher Gesichtspunkt – die gericht-liche Anfechtung von Behördenentscheidungen solldeutlich reduziert werden.Natürlich ist auch eine frühzeitige Öffentlichkeitsbe-teiligung noch keine Garantie für Akzeptanz und Verfah-rensbeschleunigung. Eine frühzeitige Auseinanderset-zung mit möglichen Einwänden bietet aber in jedem Fallbessere Chancen auf eine Konfliktbereinigung als eineGrundsatzdebatte in einem fortgeschrittenen Verfahrens-stadium. Genau darauf zielen wir ab.Gelingt es, einen sachlichen und an einem vernünfti-gen Ergebnis orientierten Dialog – daran mangelt es,glaube ich, den Linken – zwischen Vorhabenträger, Kri-tikern und Befürwortern zu schaffen, wird ein Mehr anÖffentlichkeitsbeteiligung am Ende zu einer beschleu-nigten Umsetzung wichtiger Großvorhaben beitragen.In der Aktuellen Stunde heute wurde ja darüber ge-sprochen, was in Zukunft noch alles für die Energie-wende umgesetzt werden muss. Ich glaube, dass in die-sem Hause eine große Übereinstimmung erzielt werdenmuss, um die entsprechenden Großvorhaben letztlichauch unter Berücksichtigung der Interessen der Öffent-lichkeit durchführen zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den geplantenRegelungen schaffen wir die Voraussetzungen dafür,dass Großvorhaben künftig zugleich zügiger und beinoch größerer Akzeptanz vonseiten unserer Bürgerinnenund Bürgern realisiert werden können. Um dieses wich-tige Anliegen durchzusetzen, bitte ich Sie um Ihre Un-terstützung. Ich bitte auch darum: Wenn einmal eine Ent-scheidung gefallen ist und sich die Bürgerinnen undBürger mehrheitlich für ein Vorhaben entschieden ha-ben, dann sollte das nicht weiter torpediert, sondern ak-zeptiert werden.Besten Dank.
Ich schließe die Aussprache.Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/9666 soll andie Ausschüsse überwiesen werden, die Sie in der Tages-ordnung finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dannist das so beschlossen.
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten AnetteKramme, Gabriele Lösekrug-Möller, JosipJuratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDFür Fairness beim Berufseinstieg – Rechte derPraktikanten und Praktikantinnen stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFaire Bedingungen in allen Praktika garantie-ren– zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers,Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion DIE LINKEMissbrauch von Praktika gesetzlich stoppen– Drucksachen 17/3482, 17/4044, 17/4186,17/9720 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerSwen Schulz Dr. Martin Neumann Agnes AlpersKai GehringHierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debat-tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staats-sekretär Dr. Helge Braun.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2005hat Matthias Stolz einen Artikel in der Zeit geschrieben,dem er die Überschrift „Generation Praktikum“ gegebenhat. In diesem Artikel hat er darauf hingewiesen, dass esviele junge Menschen gibt, die im Anschluss an ihreHochschulausbildung über längere Zeit in Praktika ver-weilen, bevor sie die Chance auf eine reguläre Beschäfti-gung erhalten. Im Jahr 2012 hat er erneut einen Artikelin der Zeit geschrieben, diesmal überschrieben mit„Praktikanten ade“. Darin hat er resümiert, dass allezehn Praktikanten, die auf dem Foto zum ersten Artikelzu sehen waren, inzwischen einen Arbeitsplatz gefundenhaben.Der Vergleich zwischen 2005 – die problematischeLage am Arbeitsmarkt, 612 000 junge Menschen ohneArbeit, eine Jugendarbeitslosigkeit von 12,4 Prozent –und der Lage im April 2012 – 280 000 junge Menschenohne Arbeit, also nur noch 5,7 Prozent – zeigt, dass wiruns in einer Situation befinden, in der sich die Jugendar-beitslosigkeit um mehr als die Hälfte reduziert hat. Dasalles hat weit mehr für die Berufschancen junger Men-schen gebracht als alle Anträge, die heute hier vorliegen.
Damit es keiner falsch versteht: Wer in Deutschlandein Hochschulstudium absolviert, ist hochqualifiziertund hat deshalb selbstverständlich einen Anspruch da-rauf, dass er in den regulären Arbeitsmarkt übernommenund entsprechend bezahlt wird. In einem Land, in demwir Leuten in der beruflichen Ausbildung ab dem erstenAusbildungstag eine Ausbildungsvergütung bezahlen,kann das Argument, dass jemand, der von einer Hoch-schule kommt, zu Beginn des Arbeitsverhältnisses überzu wenig praktische Erfahrungen verfügt und deshalbzunächst Praktika absolvieren muss, bevor er in reguläreBeschäftigung übernommen wird, nicht gelten. Dafürgibt es Probezeiten, befristete Arbeitsverträge, Trainee-Programme und vieles andere.Wenn man jedoch umgekehrt dieses Argument zumAnlass nähme, Praktikumsverhältnisse generell fürschlecht zu halten, machte man aus meiner Sicht einenkapitalen Fehler.
Im Gegensatz zu regulären Beschäftigungsverhältnissensteht bei Praktikumsverhältnissen der Bildungsaspekt imMittelpunkt. Sie bieten die Chance, bei besondersrenommierten Institutionen noch etwas hinzuzulernenoder in der Übergangsphase zwischen Hochschule undBeschäftigung noch einmal zusätzliche Erfahrungen zusammeln. Deshalb gibt es eine Vielzahl von Praktika, diesehr nützlich sind.Seit 2005 sind unglaublich viele Studien durchgeführtworden, die alle zeigen: Die weit überwiegende Mehr-zahl der jungen Menschen – in der Summe aller Studienweit über 80 Prozent – ist am Ende mit ihrem Praktikumsehr zufrieden. Das macht deutlich, dass Praktika im In-teresse der jungen Menschen sind.
– Sie fragen, was wir für die anderen 20 Prozent tun. DieBundesregierung hat in den letzten Jahren zwei Maßnah-men ergriffen, die die vorherige Bundesregierung nochnicht durchgeführt hat: Zum einen haben wir unsere ei-genen Regeln verändert. Seit dem 1. Dezember 2011gibt es die neue „Praktikantenrichtlinie Bund“, wonachHochschulabsolventenpraktika selbstverständlich be-zahlt und selbst die Pflichtpraktika innerhalb eines Stu-diums, die im öffentlichen Dienst des Bundes absolviertwerden, bezahlt werden können. Damit geht die Bundes-regierung im Hinblick auf die Bezahlung von Praktikamit sehr gutem Beispiel voran.Darüber hinaus haben wir im Anschluss an die Peti-tion zum Thema Praktika nach einer rund anderthalbjäh-rigen Verhandlung mit den Arbeitgeberverbänden eine
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Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
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Vereinbarung getroffen, die Niederschlag in der Leitliniefür faire und gute Praktikumsverhältnisse gefunden hat.Demnach ist eine Vergütungspflicht vorgesehen, und eswerden Musterverträge für die verschiedenen Arten vonPraktika zur Verfügung gestellt. Inzwischen ist dieserLeitfaden über 40 000-mal heruntergeladen oder bestelltworden. Wir sehen also: Das, was Arbeitgeber und Bun-desregierung vereinbart haben, hat in die Praxis derdeutschen Unternehmen Einzug gefunden.
Wenn man über faire Chancen auf Praktika und überdie Rechte von Praktikanten spricht, stellt sich natürlichdie Frage – sie wird auch in den vorliegenden Anträgenthematisiert –, ob wir aufgrund der hervorragenden Ent-wicklung am Arbeitsmarkt und über die freiwilligeSelbstverpflichtung der Wirtschaft und die „Praktikan-tenrichtlinie Bund“ hinaus noch eine gesetzliche Rege-lung brauchen.
Ich sage Ihnen: Eine gesetzliche Regelung nimmt Frei-heit.
Sie wollen die Vergütungspflicht, die bereits im Berufs-bildungsgesetz verankert ist, nun auch im BGB fest-schreiben. Damit nehmen Sie jungen Menschen dieChance, freiwillig ein Praktikum an einer Stelle zu ab-solvieren, an die sie sonst nicht kämen.
Wir haben durch die drei eben skizierten Schritte dieSituation von Praktikantinnen und Praktikanten inDeutschland deutlich verbessert. Es liegt eine sehr dezi-dierte, freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft vor.Die Bundesregierung hat versprochen, ein Jahr nach In-krafttreten der Richtlinie eine Studie zu initiieren, um zuüberprüfen, ob die Rechtsverhältnisse von Praktikantin-nen und Praktikanten trotz der guten Arbeitsmarktent-wicklung und der neu geschaffenen Regelung weiterhinein Problem sind. Das glaube und hoffe ich nicht.Unterm Strich ist festzuhalten: Die gute wirtschaftli-che Lage, die wir erreicht haben, ist die beste Präventiondavor, dass jemand einer nicht adäquaten Beschäftigungnachgehen muss. Heute haben Jugendliche in Deutsch-land eine weitaus bessere Chance auf dem Arbeitsmarktals noch 2005. Das gilt auch für Praktikanten.Vielen Dank.
Katja Mast hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Braun, Freiheit –das wollen wir alle, die hier sitzen.
Aber die SPD will Freiheit und Gerechtigkeit. Hier un-terscheidet sich Ihr Vorschlag deutlich von unserem. Esist für uns nicht in Ordnung, dass Jugendlichen, die nachihrem Ausbildungsabschluss oder nach ihrem Studienab-schluss in den Beruf einsteigen wollen, ein unbezahltesPraktikum angeboten wird; wohlgemerkt, sie sind quali-fizierte Fachkräfte oder Akademikerinnen und Akademi-ker. Wir brauchen nicht nur Freiheit für Arbeitgeberin-nen und Arbeitgeber, die diese prekäre Situationausnutzen, sondern vor allen Dingen Gerechtigkeit fürjunge Berufseinsteiger.
Um für Gerechtigkeit für junge Menschen zu sorgen,brauchen wir nicht einfach nur freiwillige Vereinbarun-gen mit guten Unternehmen, sondern der Gesetzgeber,das deutsche Parlament, der Deutsche Bundestag, mussGesetze so verändern, dass die Situation beim Einstiegin den Beruf nicht missbraucht werden kann.Heute liegen deshalb von drei Fraktionen Vorschlägezu Gesetzesänderungen auf dem Tisch.Wir als SPD sind der Meinung, dass die Jugendlichenein Recht auf eine Mindestvergütung in Höhe von350 Euro haben.Wir von der SPD sind der Meinung, dass sie einenAnspruch auf einen Vertrag und auf ein Zeugnis habensollten; das müsste eigentlich selbstverständlich sein.Wir von der SPD sind der Meinung – hier geht es nurum den Missbrauch von Praktikumsverhältnissen –:Wenn Missbrauch stattgefunden hat, dann muss man denPraktikanten eine lange Frist einräumen, damit sie ihreRechte auch später noch einfordern können. Währenddes Praktikums tun sie das nicht, weil sie hoffen, dass sieirgendwann einen Arbeitsvertrag bekommen. Das führtdazu, dass sie ihre Rechte nicht sogleich einfordern.Wir finden, dass die Bundesregierung nicht nur Stu-dien in Auftrag geben sollte. Vielmehr sollte sie demParlament einen Bericht zur Situation von Praktikantin-nen und Praktikanten vorlegen.Wir wollen auch, dass Praktikumsverhältnisse nichtnur im Bundesbildungsgesetz definiert, sondern auch imBGB gesetzlich festgeschrieben werden.Das sind die Vorschläge der SPD, alle relativ einfachnachzuvollziehen. Ich fordere Sie auf, diesen Vorschlä-gen zuzustimmen. 120 000 Petentinnen und Petenten ha-ben den Deutschen Bundestag 2006 aufgefordert, nichtnur freiwillige Vereinbarungen mit der Wirtschaft einzu-gehen, sondern Gesetze und Rahmenbedingungen zuverändern. Wir sind dazu bereit und fordern Sie alle auf,
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21564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Katja Mast
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im Sinne dieser jungen Menschen Licht ins Dunkel zubringen und diesen Änderungen zuzustimmen.
Der eigentliche Skandal in dieser Debatte heute istaus meiner persönlichen Sicht nicht, dass Sie unsere An-träge ablehnen. Ich finde zwar, dass das, was ich skiz-ziert habe, im Sinne der jungen Leute zustimmungswür-dig ist. Der eigentliche Skandal ist, dass Sie keineeigenen gesetzlichen Initiativen ergreifen und dass Siefinden, es sei alles so in Ordnung, wie es ist. Das ist dereigentliche Skandal.Sie sagen: Bei Missbrauch von Praktikumsverhältnis-sen lassen wir die jungen Leute allein, machen uns einenschönen Lenz und veranstalten alle zwei Jahre eine netteDebatte im Bundestag, weil wir eine Studie in Auftraggegeben haben. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht; denndie jungen Leute, um die es hier geht, sind die Fach-kräfte unserer Zukunft. Die haben mehr verdient als An-gebote für unbezahlte Praktika beim Einstieg ins Berufs-leben. Sie haben, wie ich finde, auch mehr von uns zuerwarten.Deshalb sage ich: Die Selbstverpflichtungen, Leitfä-den und warmen Worte Ihrer Regierung reichen nichtaus. Wir wollen Taten statt Worte. Wir wollen, dass Ge-setze zugunsten der jungen Menschen geändert werden.Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Der Kollege Dr. Martin Neumann hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Deutschlands Arbeitsmarkt, insbesondere derArbeitsmarkt für Akademiker, entwickelt sich zuneh-mend zu einem Arbeitnehmermarkt. Die Aussichten fürjunge Akademiker – das will ich an der Stelle voranstel-len – sind rosig. Das sagte der Direktor des Instituts fürArbeitsmarkt- und Berufsforschung, Joachim Möller, am21. Februar 2012.Beim Berufseinstieg für Ingenieure geht es relativschnell. Bei den Geisteswissenschaftlern ist in der Regeleine kurze Zeit des Praktikums oftmals hilfreich für denBerufseinstieg. Nach spätestens zwei, drei Jahren aber– das ist jetzt auch von Staatssekretär Braun gesagt wor-den – sind fast alle Hochschulabsolventen untergekom-men. Der zitierte Kollege Möller sagte:Schon heute sind nicht einmal drei Prozent derAkademiker arbeitslos. Und die Nachfrage nachAkademikern wird zweifellos in den nächsten Jah-ren enorm steigen.Im sonstigen Europa ist die Situation – man blickenach Spanien, Portugal und Griechenland – im Alters-segment zwischen 18 und 25 Jahren im Gegensatz zuuns anders. Da liegt die Quote – das ist sehr erschre-ckend – bei 50 Prozent. Ich denke, dass wir hier tatsäch-lich etwas tun sollten, damit die Entwicklung, die sichbei uns auf gutem Wege befindet, nicht behindert wird.Das, was Sie hier eben gerade vorgetragen haben – mitall dem Verregeln und dergleichen –, schafft nämlich ge-nau das Gegenteil von dem, was wir hier tatsächlich ma-chen wollen und machen müssen.
Dieser Umstand, dass die Situation in unserem Landgut ist, passt nicht in die Gedankenwelt einiger hier imParlament. Deshalb bemüht man die uralten Schauer-märchen. Es gruselt einen tatsächlich immer so schön,wenn man hört, wie schlecht es doch dem einen oder an-deren geht. Zwischen Theorie und Realität besteht abertatsächlich ein großer Unterschied.
Wenn man sich die Anträge der Oppositionsfraktio-nen anschaut, findet man Formulierungen wie „Ausbeu-tung junger Menschen“, „Missbrauch“, „Praktikantenwerden ausgenutzt“ usw. Sie leiten daraus gesetzgeberi-schen Handlungsbedarf ab; doch diesen sehen wir ebennicht. Sie fordern per Gesetz Mindestvergütung, quasiNiedriglöhne per Gesetz. Sie fordern Regelungen hin-sichtlich der Laufzeit usw., weil nach ihrer Auffassungin unserem Land an der Stelle offensichtlich zu weniggeregelt ist.Es gibt eine mittlerweile fünf Jahre alte HIS-Studiemit der Überschrift „Generation Praktikum – Mythosoder Massenphänomen“. Sie ist hier schon einmal zitiertworden. In ihr hat man auf wissenschaftlichem Wegnachgewiesen, dass sich die Situation der Praktikantenin unserem Land tatsächlich anders darstellt. Darin hatman den Begriff Generation Praktikum entlarvt. Es istnachgewiesen worden, dass es in der Tat keinen Anlassfür Beunruhigung gibt.Hochschulabsolventen haben in Deutschland – dassage ich, meine Damen und Herren, an dieser Stelle ganzdeutlich – die besten Chancen.
Sie sind doppelt und dreifach gegen Arbeitslosigkeit undArmut gefeit. Kettenpraktika und/oder Praktikums-karrieren, die hier immer wieder zitiert werden, sind we-niger verbreitet als Juchtenkäfer. Die Mehrheit der Prak-tikanten und Expraktikanten war laut HIS-Studie mitihrem Praktikum höchst zufrieden. Die Gewerkschaftenwollten das nicht glauben. Sie konnten aber noch nichteinmal mit einem eigens in Auftrag gegebenen Gutach-ten das Gegenteil beweisen.FDP und Union haben mit dem gut angelaufenenDeutschlandstipendium einen weiteren Ansatz geschaf-fen, um Hochschule und Wirtschaft enger zu verzahnen.
Auf diesem Weg sollen die Berufseinstiegsmöglichkei-ten für Hochschulabsolventen verbessert werden. Die
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Dr. Martin Neumann
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Wirtschaft hat schon lange erkannt, dass es einen Fach-kräftemangel geben wird. Man baut vor. Die Unterneh-men werben schon heute um den Nachwuchs. Sie unter-nehmen beeindruckende Anstrengungen, um auch denFachkräftebedarf von morgen decken zu können.Wir haben genügend Regelungen – das will ich andieser Stelle nur ganz kurz ansprechen –, zum Beispieldas Berufsbildungsgesetz und das Arbeitszeitgesetz.Diese Gesetze geben jungen Menschen, die ein Prakti-kum absolvieren, eine Vielzahl rechtlicher Regelungenan die Hand, zum Beispiel hinsichtlich Vergütungs-ansprüchen, Arbeitszeit, Sicherheit und Gesundheit amArbeitsplatz.Die erst vor wenigen Tagen vom Deutschen Institutfür Altersvorsorge veröffentlichte Studie „Die Kinderder Babyboomer“ macht deutlich, dass das Schauermär-chen von der Generation Praktikum auch künftig nur inden Parteiprogrammen von Grün und Rot eine Heimathaben wird; denn Fachkräfte sind knapp und die Arbeits-marktaussichten daher gut. Ein früher Berufsstart durchverkürzte Schul- und Studienzeiten sowie den Wegfallder Wehrpflicht bieten der „knappen Generation“ – somöchte ich sie einmal nennen – die Chance, schnellerund länger gutes Geld zu verdienen. Der im vergangenenJahr herausgegebene Leitfaden „Praktika – Nutzen fürPraktikanten und Unternehmen“, der schon angespro-chen wurde, ist eine hilfreiche Zusammenstellung derfairen Spielregeln.Meine Damen und Herren, Sie werden es ahnen: DieFDP-Fraktion lehnt aus den eben genannten GründenIhre Forderungen nach einer gesetzlichen Regulierungvon Praktikumsverhältnissen ab.
Meine Ausführungen haben Ihnen einmal mehr deutlichgemacht, dass solche Regulierungen nicht nur überflüs-sig, sondern sogar schädlich sind. Auftretende Problemebetreffen nur eine Minderheit.
In der Mehrzahl der Praktika läuft alles gut, und diePraktika sind zum gegenseitigen Vorteil.Die Erfüllung der Forderungen in den Oppositions-anträgen würde nicht nur keine Vorteile bringen; siewürde sogar – ich glaube, das ist das Entscheidende –nur Nachteile für Praktikumssuchende erzeugen.
Praktika waren und sind ein guter Weg für Hoch-schulabsolventen, um ins Berufsleben einzusteigen. Siekönnen der Orientierung dienen. Sie können Übergangs-zeiten im Vorfeld von bereits fest zugesicherten Anstel-lungen sinnvoll ausfüllen,
und sie dienen der beruflichen Qualifikation. Praktika– das sage ich jetzt zum Abschluss – sind aus unsererSicht der i-Punkt einer guten akademischen Ausbildung.Sie sind zum beiderseitigen Nutzen. Von daher sind siezu fördern, und man sollte sie nicht durch Verrechtli-chung unattraktiv machen.Ich bedanke mich.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Agnes Alpers das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben geradevon Herrn Staatssekretär Braun wieder gehört, dass derBerufseinstieg über ein Praktikum gar kein Problemmehr sei. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage undaufgrund des Fachkräftemangels gebe es nur noch in ein-zelnen Fällen Praktika; die Generation Praktikum seiausgestorben.
Herr Neumann, Sie schütteln mit dem Kopf – zuRecht. Sie haben gerade selbst eingeräumt, dass es dochnoch eine Menge Praktika gibt. Sie sagten auch, dieAkademiker seien schon nach zwei Jahren integriert.Nach zwei Jahren Praktikum, Herr Neumann!
Ich sage Ihnen: Mit dieser Ignoranz bin ich nicht einver-standen. Da kann man tatsächlich nur den Kopf schüt-teln.
Ich möchte Ihnen nun von meinen Erfahrungen alsBerufsschullehrerin von Paul und Lena, zwei jungenMenschen aus Bremen, berichten. Beide haben ihre Ab-schlüsse gemacht, ihre Ausbildung beendet. Sie warenhochmotiviert und wollten durchstarten, ein eigenständi-ges Leben beginnen. Paul hat dann aber keine Anstel-lung bekommen. Ihm als Tischler wurde gesagt, ihmfehle die Berufserfahrung. Deshalb blieb ihm nichts an-deres übrig, als ein Praktikum anzunehmen, in dem er alsvollwertiger Tischler arbeitet. Lena ist Sozialwissen-schaftlerin. Sie hat ihren Abschluss mit „sehr gut“ ge-macht. Weil sie keine Berufspraxis vorweisen kann,macht sie jetzt schon das zweite unbezahlte Praktikumund muss weiterhin von ihren Eltern unterstützt werden.Ich frage Sie: Warum müssen vollqualifizierte Fach-kräfte über ein Praktikum in den Arbeitsmarkt integriertwerden? Das ist einfach unverschämt.
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21566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Agnes Alpers
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Wir müssen auch einmal an die Folgen für diese jun-gen Menschen denken. Mittlerweile sind zwar wenigerdavon betroffen, aber es sind immer noch ganz viele.Statt als vollwertige Arbeitskraft in die Arbeitswelt rich-tig einzutauchen, werden sie als Praktikanten geparkt.Sie verlieren die Motivation, und ihr Selbstwertgefühlwird angegriffen, ganz zu schweigen davon, dass finan-zielle Unabhängigkeit und eine langfristige Familienpla-nung nicht möglich sind. Ich sage Ihnen: Es ist ein Skan-dal, wie hier mit gut ausgebildeten jungen Menschenumgegangen wird.
Deshalb bleiben wir als Linke ganz eindeutig dabei:Wer eine Ausbildung hat, muss ein sozialversicherungs-pflichtiges Beschäftigungsverhältnis, und zwar ein voll-wertiges, erhalten.
Praktikanten sind keine billigen Arbeitskräfte. Prak-tika als Lernverhältnisse müssen ganz klar von Arbeits-verhältnissen abgegrenzt werden. Wir brauchen auchMindeststandards für Praktika. Statt nach diesen jahre-langen Diskussionen endlich gesetzliche Grundlagenund Regelungen zu schaffen, hat sich diese Regierungauf den Weg gemacht, einen Praktikantenleitfaden aus-zuarbeiten. Ich gebe zu: Sie haben wirklich begonnen,Kritikpunkte aufzugreifen, zum Beispiel die Dauer vonPraktika, und Möglichkeiten der Vergütung aufzuzeigen.Außerdem haben Sie Musterverträge erstellt.Aber die zentrale Frage heute ist doch: Kann man sichauf diesen Praktikantenleitfaden tatsächlich verlassen?Ich sage Ihnen: Nein, das geht nicht. Es ist doch wiedernur eine freiwillige Leistung der Arbeitgeber, frei nachdem Motto: Alles kann, nichts muss. Mit solchen frei-willigen Selbstverpflichtungen haben wir doch schon ge-nügend Erfahrung gemacht. Die letzte hat gezeigt: Nur1 500 von insgesamt 3,5 Millionen Betrieben, also nuretwa 0,05 Prozent aller Betriebe, haben sich daran betei-ligt und tatsächlich faire Praktika angeboten.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie erset-zen hier doch nur eine misslungene Selbstverpflichtungdurch eine andere. Mehr machen Sie nicht.
Ich sage Ihnen abschließend: Wer Missbrauch tat-sächlich verhindern will, muss gesetzliche Mindeststan-dards setzen – gesetzlich, Herr Neumann, ohne Wennund Aber.Vielen Dank.
Für die Fraktion der Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Kai Gehring.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Dr. Braun, lieber Herr Professor Neumann, nie-mand aus der Opposition redet Praktika schlecht, son-dern Sie aus den Regierungsfraktionen reden Ausbeu-tung schön.
Wir kritisieren den bestehenden Missbrauch. Wir wollenkeine Freiheit zur Ausnutzung, sondern wir wollenschlichtweg, dass allen Praktikantinnen und Praktikan-ten flächendeckende Fairnessstandards garantiert wer-den. Das ist keine Ideologie, wie Sie behauptet haben,sondern Sachlichkeit, und es bedeutet Gerechtigkeit fürdie junge Generation.
Praktikantinnen und Praktikanten brauchen faire Be-dingungen statt Ausbeutung. Wenn dieser Grundsatz be-folgt wird, sind Praktika ein sinnvoller Bestandteil derAusbildung oder des Studiums und können zur Orientie-rung für die zukünftige berufliche Laufbahn beitragen.Die Realität – wir haben es schon gehört – sieht in vielenFällen anders aus. Anstelle eines guten Jobeinstiegs ma-chen selbst gut ausgebildete junge Menschen die alltägli-che Erfahrung, mit Praktika, Honorar- und Minijobs so-wie mit befristeten Arbeitsverträgen abgespeist zuwerden. Das betrifft in besonderer Weise die vielen undweitverbreiteten Absolventenpraktika.Trotz der mehrjährigen Debatte um gute Praktika hältdie Bundesregierung es offensichtlich weiterhin für eineBagatelle, Praktikantinnen und Praktikanten einen bes-seren gesetzlichen Schutz zu gewähren. Wir müssenganz klar sagen, dass Ausnutzung durch schlechte Prak-tikabedingungen sowohl in der Wirtschaft als auch in derVerwaltung nicht hinnehmbar ist und unterbunden wer-den muss. Darum wollen wir, dass es eine klare gesetzli-che Definition eines Praktikums gibt. Praktika müssendeutlich von regulären Beschäftigungsverhältnissen ab-gegrenzt werden.
Uns geht es dabei um das Lernen; das muss im Vorder-grund stehen.
Die neuesten Zahlen der EU belegen, dass derzeitviele junge Menschen aus anderen EU-Staaten nachDeutschland kommen, um der teilweise katastrophal ho-hen Jugendarbeitslosigkeit in ihren Heimatländern zuentgehen. Auch sie müssen vor Ausnutzung geschütztwerden. Deutschland muss sich am laufenden EU-Kon-sultationsprozess zur Verbesserung der Beschäftigungs-möglichkeiten junger Menschen aktiv beteiligen. DasEuropäische Jungendforum hat übrigens in diesem Zu-sammenhang bereits gute Vorschläge gemacht, um euro-paweite Mindeststandards für Praktika zu verankern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21567
Kai Gehring
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Auch die Bundesregierung muss faire Standards ver-ankern, um eine Ausnutzung in den Ministerien zu ver-hindern. Es war längst überfällig, dass die entsprechendeRichtlinie des Bundes überarbeitet worden ist. Es warein klarer Erfolg von engagierten Praktikantinnen undPraktikanten und von der Opposition, dass eine neueRichtlinie auf den Weg gebracht wurde. Sie können sichdarauf verlassen, dass wir genau hinsehen werden, ob sieeingehalten wird und ob die Bundesregierung künftigwirklich mit gutem Beispiel vorangeht. Genau das er-warten wir: Verwaltung und Bundesregierung müssenmit gutem Beispiel vorangehen.
In unserem Antrag haben wir klare Kriterien für fairePraktika formuliert: Alle Praktikantinnen und Praktikan-ten sollen einen Anspruch auf einen Vertrag, eine Be-scheinigung und ein Zeugnis bekommen. Sie sollenwährend einer beruflichen bzw. vollzeitschulischen Aus-bildung und während des Studiums eine Aufwandsent-schädigung von mindestens 300 Euro monatlich erhal-ten. Praktika sollen zudem grundsätzlich auf eine Dauervon maximal drei bis sechs Monaten begrenzt werden.Denn wenn ein Praktikum länger als ein halbes Jahr dau-ert, ist das Risiko, dass dadurch reguläre Jobs ersetztwerden, sehr hoch. Das können wir nicht zulassen.
Wir teilen die Intention der beiden vorliegenden An-träge von SPD und Linken. Was die SPD betrifft, mussich sagen: Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Sieschon zu Zeiten der Großen Koalition eine solche Initia-tive gegen CDU und CSU durchgesetzt hätten.
– Das kann ich euch nicht ersparen. – Inhaltlich vermis-sen wir im SPD-Antrag übrigens eine Höchstdauer fürPraktika. Offensichtlich seid ihr da zu kurz gesprungen.
Auch der Antrag der Linksfraktion enthält richtigePunkte. Aber mit Ihrer Forderung nach einem Mindest-lohn für Praktikantinnen und Praktikanten schießen Siewirklich über das Ziel hinaus. Das würde bedeuten, dasswir einen Niedriglohnsektor für Absolventen schaffen.Hier darf man auch die Unternehmen nicht aus der Ver-antwortung entlassen, die unter dem Deckmantel vonPraktika letztendlich Arbeitskräfte zu Billiglöhnen aus-beuten. Insofern ist das keine gute Idee.
Uns ist wichtig, dass die Politik angesichts der demo-grafischen Entwicklung wirklich Ernst macht, den jun-gen Menschen einen fairen Berufseinstieg zu ermögli-chen. Das ist auch im Interesse der vielen Unternehmen,die sich verantwortungsvoll verhalten und Praktikantin-nen und Praktikanten nicht ausbeuten. Das muss künftigfür alle Bereiche gelten. Also: Lassen Sie uns gemein-sam faire gesetzliche Standards verankern! Dagegenkann doch niemand etwas haben. Dann werden Praktikaein noch stärkerer Baustein im Rahmen von Ausbildungund Studium.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Kaufmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wir haben in den vergange-nen 20 Minuten viele Forderungen der Oppositionsfrak-tionen im Hinblick auf die Rechte von Praktikanten ge-hört. Einige dieser Forderungen mögen auf den erstenBlick sympathisch und nachvollziehbar erscheinen. Esist natürlich richtig, dass jeder Praktikant vernünftig be-zahlt werden soll. Außerdem sollte ein Praktikant nichtnur zum Kaffeekochen abgestellt werden, sondern auchdie Möglichkeit bekommen, etwas mitzunehmen.
Das Problem ist, liebe Kollegen von den Oppositions-fraktionen, dass Sie die Funktion eines Praktikums mitder eines Arbeitsverhältnisses verwechseln.
Den besonderen Charakter eines Praktikums berück-sichtigen Ihre Vorschläge nicht. Das Praktikum dientdoch vor allem der Ausbildung und der Berufsfindung,und vor allem in Studiengängen, die nicht auf einen be-stimmten Beruf hinführen, sind Praktika in verschiede-nen Bereichen unerlässlich.
Sie geben den jungen Menschen die Möglichkeit, ein-fach einmal in einen Betrieb hineinzuschnuppern, unddas ist wichtig.Wenn Sie nun die Praktikanten mit Arbeitnehmerngleichsetzen, dann haben diese nicht nur die Rechte derArbeitnehmer, sondern auch die Pflichten der Arbeitneh-mer. Diesen Aspekt sollten Sie bei Ihren Forderungennicht vergessen. Nach der Rechtsprechung des Bundes-arbeitsgerichtes ist ein Arbeitnehmer – ich zitiere –,wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags imDienste eines anderen zur Leistung weisungsgebun-
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Dr. Stefan Kaufmann
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dener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Ab-hängigkeit verpflichtet ist.Außerdem müssten Sie in Ihren Anträgen sagen, welcheArt von Praktika Sie eigentlich meinen. Wollen Sie dieGleichstellung für Pflichtpraktika oder nur für freiwil-lige Praktika?
Wie ist es mit Pflichtvor- und Pflichtnachpraktika? Wiesehen Sie Einführungspraktika, Blockpraktika, Schüler-praktika, Studienpraktika, Abschlusspraktika usw.? Wieist es mit Famulaturen und Volontariaten? Dazu enthal-ten Ihre Vorschläge keine Aussagen.
Vor dem ernsthaften Hintergrund Ihrer Vorschlägeplädiere ich daher für eine rationale Betrachtung undmöchte dazu vier Anmerkungen machen:Erstens. Selbstverständlich gibt es schwarze Schafebei Unternehmen, aber auch bei NGOs oder anderen Or-ganisationen, die Praktikanten ausnutzen und trotz einesAusbildungs- oder Berufsabschlusses nicht ausreichendoder gar nicht bezahlen. Dies ist aber kein Massenphä-nomen, und darauf möchte ich hinaus. Das hat die HIS-Studie „Generation Praktikum – Mythos oder Massen-phänomen?“ ganz deutlich gezeigt. Aus ihr wurde be-reits zitiert. Herr Kollege Gehring, das ist keine Ausbeu-tung.
Es bedarf vielmehr einer differenzierten Betrachtung.Während gerade im Bereich der Geistes- und Sozialwis-senschaften häufiger ein oder mehrere Praktika an dasStudium anschließen, gibt es dies in den natur- und wirt-schaftswissenschaftlichen Fächern eher selten. Gleichesgilt für die Bezahlung. Während in den Branchen Ge-sundheit, öffentlicher Dienst und Bildung unbezahltePraktika die Regel sind, werden Praktikantinnen undPraktikanten bei Unternehmensberatungen, in der Kon-sumgüterindustrie oder im Bereich Internet/Multimediazu mehr als 90 Prozent bezahlt. Erhebungen zufolge be-kommen einige sogar mehr als 1 000 Euro im Monat.Zweitens. Ich bin mir sicher, dass die Bundesregie-rung mit ihrer Richtlinie und mit ihrem Leitfaden fürPraktikanten einen großen Teil des Informationsdefizitsabgebaut hat. Überhaupt gilt: Mit einer guten Informa-tionspolitik kommen wir weiter als mit strengen gesetz-lichen Regeln; denn mit gut gemeinten gesetzlichenRegelungen wie einer von Ihnen geforderten Mindestbe-zahlung werden wir im Zweifel nicht die Qualität derPraktika erhöhen, sondern Praktika verhindern. Das giltbesonders für Praktika in praxisfernen Bereichen.
Gerade hier sind Praktika wichtig, um den jungen Men-schen den Sprung auf den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.Drittens. Wir müssen uns natürlich auch an die eigeneNase fassen. Das gilt ganz besonders für Sie, liebe Kol-leginnen und Kollegen von den antragstellenden Fraktio-nen. Bezahlen Sie Ihre Praktikanten eigentlich mit einerMindestvergütung?
Wie sah es damit in Ihren Ministerien während Ihrer Re-gierungsverantwortung aus? – Ich habe mir die Zahleneinmal genauer angeschaut. Die Frau Kollegin Alpershatte eine entsprechende schriftliche Anfrage gestellt. Fürdie Jahre 2008 und 2009 hat die Bundesregierung mitge-teilt: Auswärtiges Amt, Bundesminister Steinmeier, SPD,Gesamtzahl der Praktika 2009: 871. Davon vergütetePraktika: keine.
Bundesministerium der Finanzen, BundesministerSteinbrück, SPD, Gesamtzahl der Praktika: 148, darun-ter zwölf Hochschulabsolventen. Davon vergütete Prak-tika: keine.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundes-minister Olaf Scholz, SPD, Gesamtzahl der Praktika2009: 99, darunter drei Hochschulabsolventen. Davonvergütete Praktika: keine.
Das ist kein gutes Zeugnis.Viertens. Auch vor dem Hintergrund der soeben ge-nannten Zahlen möchte ich auf die Initiative „Fair Com-pany“ des Wirtschaftsmagazins Karriere aufmerksammachen.
Um das Gütesigel „Fair Company“ zu erhalten, müssenUnternehmen fünf Kriterien erfüllen. Dazu zählen unteranderem eine adäquate Aufwandsentschädigung für dasPraktikum sowie der Verzicht auf das Ersetzen von Voll-zeitstellen durch Praktikanten. Liebe Kolleginnen undKollegen, diese Initiative ist beispielhaft. Ich hoffe, dasssich in Zukunft weit mehr als die erst 1 800 Unterneh-men zu den Grundsätzen der „Fair Company“ bekennen.Lassen Sie uns nicht immer alles schlechtreden. Ja, esgibt Defizite bei einigen Praktikantenverhältnissen, aberinsgesamt sind zwei Drittel aller Praktikanten mit ihremPraktikum zufrieden. Herr Braun hat dies bereits er-wähnt. Bei den Studierenden waren es sogar fast dreiViertel, wie wir dem Praktikantenreport 2012 entnehmenkönnen.Vor diesem Hintergrund ziehen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, eine konstruktive Vorgehensweisevor. Wir lehnen eine starre Reglementierung von Prakti-kantenverhältnissen, wie sie von der Opposition gefor-dert wird, ab. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten,
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Dr. Stefan Kaufmann
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zu welchen Ergebnissen die Selbstverpflichtungen füh-ren, die hier schon angesprochen wurden. Spätestens inzwei Jahren ziehen wir dann Bilanz
und prüfen, ob die Ankündigungen umgesetzt wurden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Michael Gerdes von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leiderhabe ich nur vier Minuten Redezeit. Wären es mehr,könnte ich noch eine ganze Menge zu Herrn Kaufmannsagen.
Ich will zum Thema kommen: Um die sogenannteGeneration Praktikum ist es im Moment nur scheinbaretwas ruhiger geworden. Gibt es keine Generation Prak-tikum mehr? Herr Staatssekretär Braun hat gerade soähnlich argumentiert.
Ist also alles gut? Gibt es keine jungen Menschen mehr,die ihr Berufsleben mit einem mäßig oder schlecht be-zahlten Praktikum beginnen? Finden plötzlich alle Be-rufseinsteiger einen adäquaten, unbefristeten Job? HerrKollege Neumann, ist wirklich alles so rosig? Es gruseltuns zwar nicht, aber wir sollten genauer hinschauen.
Praktika spielen noch immer eine große Rolle, zu-meist auch bei Hochschulabsolventen. Nicht wenige vonihnen absolvieren gleich mehrere Praktika. Ja, es gibt siedoch, diese Kettenpraktika. Genau hinschauen heißtauch handeln. Wir sollten uns nicht alleine darauf verlas-sen, dass der demografische Wandel die langfristigenJobchancen junger Arbeitnehmer automatisch verbes-sern wird.Auf unserem heutigen Arbeitsmarkt gibt es Licht undSchatten. Ja, in Bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit ste-hen wir in Europa gar nicht so schlecht da. Unsere Nach-barn wollen sogar von uns lernen, etwa wenn es um dieduale Berufsausbildung geht. Das heißt aber nicht, dasses für uns nichts zu tun gibt.Die Jobs für junge Menschen in Deutschland werdenlaut Statistik mehr, aber sie sind schlecht bezahlt undhäufig befristet. Der Arbeitsmarkt hat sich strukturell ge-wandelt – nicht nur für die junge Generation. UnsereProbleme sind atypische Beschäftigungsverhältnisse,also geringfügige Beschäftigungen, befristete Jobs undLeiharbeit. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse gehtzurück, und insbesondere viele Neueinstellungen erfol-gen befristet. Hiervon sind die jungen Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer besonders betroffen. Erschre-ckend ist auch die Zahl der Befristungen in Wissenschaftund Forschung. Viele junge Wissenschaftler werden mitVertragszeiten von weniger als einem Jahr konfrontiert.Ich finde, das ist unglaublich.
Die SPD kämpft entschlossen für faire und gut be-zahlte Arbeitsplätze. Dazu gehört auch, dass wir uns fürdie junge Generation und ihren optimalen Start ins Be-rufsleben einsetzen. Wir fordern in unserem Antrag einegesetzliche Klarstellung für Praktikantenverhältnisse.Junge Menschen mit Studienabschluss oder abgeschlos-sener Ausbildung dürfen eben nicht als billige Arbeits-kräfte missbraucht werden.
Wer voll arbeitet und fest in den Betriebsablauf inte-griert ist – das sind etwa 81 Prozent der Betroffenen –,der muss auch wie ein vollwertiger Mitarbeiter bezahltund behandelt werden.
Dazu gehört eine anständige Bezahlung. 40 Prozent derPraktika sind unbezahlt.Wir stellen den Sinn von Praktika ja gar nicht grund-sätzlich infrage. Jeder Mensch soll und muss Praxis-erfahrungen sammeln können. Dafür bedarf es abereines vernünftigen Rahmens. Ein Praktikum muss Lern-zeiten beinhalten, es muss vergütet werden. Wir fordernklare gesetzliche Regelungen für Rechte und Pflichten,Herr Kaufmann. Das gilt selbstverständlich auch fürpraktikumsähnliche Formen wie Hospitationen, Volonta-riate und Trainee-Stellen. Die Freiwilligkeit hat sich hiernicht bewährt.Es geht uns nicht um Mindestlöhne per Gesetz. Esgeht uns darum, jungen Menschen eine Wertschätzungentgegenzubringen. Wie sollen sie ihren Platz in der Ge-sellschaft finden, wenn der Einstieg ins Berufsleben di-rekt mit Negativerfahrungen beginnt? Wie sollen jungeMenschen die Zukunft planen, wenn ihre Ausbildunganscheinend keinen Wert hat und wenn ihre Arbeit nichtangemessen bezahlt wird? Tragen wir als Gesetzgeberhier nicht eine Verantwortung?Hier muss aber auch die Wirtschaft verantwortlichhandeln. Wer morgen gute Fachkräfte haben will, dermuss heute faire Arbeitsbedingungen schaffen und er-lerntes Wissen anerkennen.
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Michael Gerdes
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Arbeitnehmer verdienen insgesamt mehr Respekt.Von dieser Debatte sollte eine klare Botschaft ausgehen:Soziale Teilhabe ist eine Frage von stabilen Jobs.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/9720.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/3482 mit dem Titel:
„Für Fairness beim Berufseinstieg – Rechte der Prakti-
kanten und Praktikantinnen stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4044 mit dem Titel: „Faire Be-
dingungen in allen Praktika garantieren“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4186
mit dem Titel: „Missbrauch von Praktika gesetzlich
stoppen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Philipp Mißfelder, Michael Grosse-
Brömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Myanmar – Reformkräfte unterstützen, den
Wandel beschleunigen, Perspektiven eröffnen
– Drucksache 17/9735 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
SPD
Myanmar auf dem Weg zur Demokratie be-
gleiten und unterstützen
– Drucksache 17/9727 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Ute Koczy, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Myanmar – Den demokratischen Wandel un-
terstützen
– Drucksache 17/9739 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Patrick Kurth von der FDP-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Myan-mar beobachten wir eine atemberaubende Entwicklung.Nach Jahrzehnten der Militärdiktatur vollzieht sich eindemokratischer Wandel. Das Bemerkenswerte: Es ist deräußerst seltene Fall, dass sich eine Diktatur aus sich he-raus wandelt. Die Machthaber selbst haben Reformenauf den Weg gebracht. Das ist ziemlich einzigartig in derWelt und sollte alle ermutigen, diesen Wandel zu unter-stützen. Dies haben wir im Antrag der Koalition am An-fang des Abschnitts II deutlich gemacht.Myanmar gelingt etwas, was uns Deutschen so nichtgelungen ist, dass nämlich Diktatoren selbst den Weg fürReformen freimachen und diese dann mitgestalten. Dakönnen wir Deutsche von Myanmar lernen.Dabei war noch vor wenigen Monaten – das ist alsogar nicht so lange her – Myanmar ein verloren geglaub-tes Land. Die Militärjunta saß fest im Sattel. Erinnernwir uns: Proteste gegen Menschenrechtsverletzungenoder Ähnliches bewirkten wenig. Es hieß – KollegeBijan Djir-Sarai hat das heute schon an anderer Stellegesagt – frei nach dem persischen Dichter: Selbst wennalle Flüsse dieser Welt versiegen, solange die Militärsdie Macht haben werden, wird es in Myanmar keine De-mokratie geben. – Aber es kam anders. Der Weg ist freiin Richtung Demokratisierung ohne Blutvergießen.Myanmar gibt ein Beispiel für viele andere Regionen indieser Welt.
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Patrick Kurth
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Ganz besonders hervorheben muss man, dass wir jetztallen Reformkräften in Myanmar Unterstützung leistenmüssen. Diese gibt es sowohl in der Regierung und vorallem in den Regierungsparteien, aber eben auch in derOpposition. Die Reformen gingen gerade von den Re-gierenden aus, und diese übernehmen weiterhin dengrößten Teil der Reformverantwortung. Auch daranmuss man die Bewertung der Vorgänge in Myanmar aus-richten.Dessen muss sich aus unserer Sicht auch die Opposi-tion in Myanmar bewusst sein, insbesondere auch dieNLD und Frau Aung Sang Suu Kyi. Wichtig ist, dass wirjetzt konstruktiv kooperieren, um den Weg gemeinsamzu gehen, auch mit der NLD. Auch sie darf sich demnicht verschließen.Die Einteilung in Gut und Böse – das lehrt uns dieserneue Fall in der Weltgeschichte, wenn man das so sagenkann – kann man hier nicht vornehmen. Meine Damenund Herren von den Grünen, genau dieses Bild vermit-teln Sie aber in Ihrem Antrag. Ich glaube, dass wir denDialog zwischen Opposition und Regierung auch inMyanmar stärker ins Bewusstsein rücken müssen.Dabei ist es natürlich richtig, dass wir trotz dieser Er-folge den Fortschritten in Myanmar auch weiterhin mitSkepsis begegnen. Nach wie vor gibt es – das ist ganznatürlich – viele Gegner des Reformprozesses, übrigensauch innerhalb der Regierung. Auch sie müssen davonüberzeugt sein, dass der Weg, den sie eingeschlagen ha-ben, richtig ist. Wenn man ein neues, demokratischesStaatssystem einrichten möchte, muss man nicht nurwissen, wogegen man ist, sondern auch, wofür man ist.Das ist, glaube ich, sehr wichtig. Deswegen gibt es dieAussetzung der Sanktionen, und deswegen bestehen ei-nige Sanktionen, gerade im militärischen Bereich, weiterfort. Das zeugt auch davon, dass wir in der Lage sind,Myanmar den richtigen Weg mit zu weisen, den wir wei-terhin kritisch, aber konstruktiv begleiten.Eine erste wichtige Bewährungsprobe waren dieNachwahlen am 1. April. Aus unserer Sicht ist diese Be-währungsprobe bestanden worden. Es waren im Grund-satz freie und faire Wahlen. Deshalb ist es auch falsch,meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie inIhrem Antrag behaupten, dass die Wahlen nicht demo-kratisch und fair waren.
Wir sollten auch aufpassen, dass wir keine überhebli-chen westlichen Erwartungen an den Tag legen, sondernmit tatsächlicher Hilfe und wenig Besserwisserei Unter-stützung leisten.
Myanmar hat konkrete Unterstützung verdient. DasWichtigste in einer Demokratie ist das Parlament. Fürviele Parlamentarier dort ist es neu, Parlamentarier zusein. Hier können wir durch Wissenstransfer und Erfah-rungsaustausch konkret helfen. Wir können uns – das ha-ben wir im Deutschen Bundestag in den letzten Wochenmit mehreren Delegationen gemacht – mit den Partnerndort austauschen, um uns auch davon zu überzeugen,wie sie nicht nur in ihrem Land, sondern auch in unse-rem Land reden. Ich war nach diesen Gesprächen sehrvon diesem Weg überzeugt.Ich finde es auch richtig, dass wir gerade den Macht-habern, die jetzt dort Verantwortung tragen, zeigen, dasswir sie ernst nehmen. Insofern war es richtig und sehrgut, dass Bundesminister Niebel sehr frühzeitig nachMyanmar gereist ist und dass auch AußenministerWesterwelle als erster Außenminister der Bundesrepu-blik seit 25 Jahren dort war, übrigens auch mit konkretenErgebnissen.
Das, was Bundesminister Niebel wie auch Bundesminis-ter Westerwelle gemacht haben, ist ein Hinweis darauf,wie wichtig Transfers im Bildungsbereich sind. Myan-mar muss für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwick-lung eine Bildungsoffensive durchführen.Wir wehren uns entschieden dagegen, dass eine sojunge Demokratie, die Myanmar jetzt wahrscheinlichwird, eine Goldgräberstimmung bei anderen Staaten aus-löst, die in diesem Land zwar vorrangig investieren wol-len, aber vielleicht in erster Linie auch einiges aus demLand herausholen wollen. Nein, wir sind dafür, nachhal-tig zu wirtschaften. Diesen Weg wollen wir konstruktivund kritisch begleiten. Wir wollen dabei alle politischenKräfte in Myanmar berücksichtigen. Deutschland wirdhelfen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion der SPD hat jetzt das Wort die Kolle-
gin Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dass wir uns heute in dieser Debatte mit ins-gesamt drei Anträgen zur politischen Situation in Myan-mar beschäftigen, halte ich für ein gutes Zeichen. AlleAnträge unterstreichen die Bedeutung der Umbrüche inMyanmar und verdeutlichen die Verantwortung, die wirhaben, den Reformprozess so zu unterstützen, dass erzum Erfolg führt.1962 hat das Militär im ehemaligen Burma die Machtübernommen. Das einst reichste Land Südostasienswurde zum Armenhaus der Region, obwohl es überenorme Bodenschätze verfügt.Vor gut zwölf Monaten hat nun ein Reformprozess inMyanmar begonnen, der so vor einigen Jahren, als pro-testierende Mönche noch gewaltsam niedergeschlagenwurden, nicht zu erwarten war. Viel zu sehr standen sichdie politischen Gegensätze über viele Jahre unversöhn-
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Edelgard Bulmahn
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lich gegenüber. Doch die Militärjunta scheint eingesehenzu haben, dass die Bevölkerung eine Demokratisierungdes politischen Systems will. Auch die Forderung der in-ternationalen Staatengemeinschaft nach dem Schutz vonMenschenrechten und grundlegenden demokratischenRechten hat Wirkung gezeigt. Sicherlich spielte auch derDruck der Menschen für eine Verbesserung ihrer Le-bensbedingungen eine wichtige Rolle. Die meisten Men-schen in Myanmar verbinden heute die Hoffnung aufeinen politischen Demokratisierungsprozess mit derHoffnung auf Wohlstand.Ein ganz wichtiger Schritt im Reformprozess war undist die Freilassung eines großen Teils der politischen Ge-fangenen. Die Wiederaufnahme des Dialogs mit derFriedensnobelpreisträgerin und OppositionsführerinAung San Suu Kyi, Fortschritte im Friedensprozess mitden ethnischen Minderheiten und die begonnene Libera-lisierung anderer gesellschaftlicher Bereiche warenebenfalls wichtige Schritte. Ich finde, es stimmt hoff-nungsvoll, wenn Präsident Thein Sein, ein ehemaligerGeneral der Militärjunta, selbst davon spricht, Myanmarzu einer „echten Demokratie“ führen zu wollen. Den-noch ist die Unterstützung des Wandels notwendig; dennes gibt noch immer einflussreiche Gegner vor allem imMilitärapparat.Ein wichtiger Meilenstein waren die Nachwahlenzum Parlament am 1. April dieses Jahres. Die Mehr-heitsverhältnisse im Land – da haben die Kollegendurchaus recht – haben sie zwar nicht grundlegend ver-ändert. Aber sie waren ein ganz wichtiger Test für denReformwillen der Regierenden und ein Barometer fürdie Stimmung in der Bevölkerung. Das finde ich ent-scheidend.
Dass 43 von 45 Sitzen an die noch bis vor kurzem verbo-tene Nationale Liga für Demokratie gingen, ist ein ein-drucksvolles Ergebnis.Das Militär hat noch immer eine herausgehobeneStellung, nicht zuletzt deshalb, weil die Verfassung ihmnoch immer eine Sperrminorität von 25 Prozent derSitze im Ober- und Unterhaus sowie in den Regionalpar-lamenten garantiert; das ist zutreffend. Ob der Reform-prozess gelingt oder nicht, hängt in entscheidendemMaße davon ab, ob die Europäische Union, ob Deutsch-land und andere Länder alles dafür tun, die zivilen politi-schen Kräfte und Organisationen in diesem Land zu stär-ken und so die Macht des Militärs Schritt für Schritt zuverringern.
Wir müssen dazu beitragen, die Mitwirkungs- und Ent-faltungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft bei der wei-teren Umsetzung des Reformprozesses zu stärken.Darüber hinaus – auch das wissen wir – bedarf es ei-ner nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung und demAufbau sozialer Sicherungssysteme. Die Bevölkerungbraucht diese Entwicklungsperspektive, die eine spür-bare Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingun-gen mit sich bringt. Wir wissen doch, dass Demokratieimmer auch von einem Mindestmaß an Wohlstand ab-hängig ist; das zeigen alle Erfahrungen. Ansonsten istdie Gefahr der Radikalisierung von Bewegungen odersogar des Scheiterns von friedlichen Transformations-prozessen sehr groß.Die Aussetzung der Sanktionen durch die EU und dieUSA hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass aus-ländische Investoren und Hilfsorganisationen nun dieChance haben, dabei zu helfen, eine zeitgemäße Infra-struktur in Myanmar aufzubauen und zielgerichtete Hil-festellung für die wirtschaftliche Entwicklung zu geben.Bislang hat sich hier vor allem China engagiert, das je-doch ganz eigene Zielsetzungen dort verfolgt. Die meis-ten Menschen in Myanmar sind trotz großer Ressourcenund Reichtümer nach wie vor arm. Gerade wir habeneine besondere Verantwortung, unsere neuen Handels-und Geschäftsbeziehungen so zu gestalten, dass sie lang-fristig eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Ent-wicklung in Myanmar in Gang setzen und unterstützen.Dabei – lassen Sie mich das konkret sagen – wird essehr entscheidend darauf ankommen, dass die Einnah-men aus den Rohstoffvorkommen als Grundlage für einbreitenwirksames wirtschaftliches Wachstum im Landselbst genutzt werden. Transparenz und die Verwendungder Einnahmen aus der Rohstoffförderung sind im Übri-gen eine wesentliche Voraussetzung dafür, damit diesgelingt. Die Bundesregierung – das ist ein ganz dringli-cher Appell – sollte sich daher gegenüber der Regierungvon Myanmar nachdrücklich dafür einsetzen, dass sichMyanmar an internationalen Transparenzstrukturen– das sind die Organisationen, die auch von der Welt-bank unterstützt werden – beteiligt und Initiativen füreine nachhaltige Nutzung von Rohstoffeinnahmen fürdas Gemeinwohl, zum Beispiel für die Verbesserung vonBildung und den Aufbau des Gesundheitswesens, entwi-ckelt.
Nur durch eine umfassende und mit der internationa-len Gemeinschaft abgestimmte Entwicklungszusammen-arbeit können Deutschland und die EU einen wesentli-chen Beitrag zur Förderung der ländlichen Entwicklung,zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung, zur Ar-mutsbekämpfung und zur Modernisierung des Bildungs-systems leisten.Ein wirklicher, dauerhafter demokratischer Wandel inMyanmar wird allerdings nur gelingen, wenn das, wasich eben gesagt habe, mit einer stärkeren Beteiligungmöglichst vieler zivilgesellschaftlicher Akteure einher-geht. Dazu zählen aus unserer Sicht insbesondere Ge-werkschaften, deren freie Betätigung durch die Militär-junta über viele Jahrzehnte völlig unterbunden war. Wirmüssen heute sagen, dass es trotz neuer gesetzlicher Re-gelungen wie dem Verbot der Zwangsarbeit oder einemneuen Gewerkschaftsgesetz immer noch eine Vielzahlvon Verletzungen der Arbeitnehmerrechte gibt. Deshalbmuss sich die Bundesregierung mit Nachdruck dafür ein-
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Edelgard Bulmahn
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setzen, dass es zu besseren Rahmenbedingungen für dieArbeit von Gewerkschaften in Myanmar kommt und diein der Vergangenheit verbotenen Gewerkschaften wiederzugelassen werden,
dass Myanmar die ILO-Konvention, das Verbot vonZwangsarbeit und die Ratifizierung aller ILO-Kern-arbeitsnormen konsequent umsetzt. Es reicht nicht aus,ein Gesetz zu erlassen, sondern man muss es auch um-setzen. Die Bundesregierung muss – auch das ist ein Ap-pell an Sie – den Ausbau des Büros der ILO in Myanmarunterstützen, wenn nötig auch finanziell.Wir wissen, dass aus einer klassischen Militärdiktaturnicht über Nacht eine klassische Demokratie wird. Den-noch sind die Entwicklungen insgesamt positiv zu be-werten. Damit das so bleibt, bedarf es der Unterstützungdes Entwicklungsprozesses in Myanmar durch die Staa-tengemeinschaft. Ich glaube, es ist gut, wenn wir uns imParlament auch in den kommenden Monaten mit dieserEntwicklung sehr intensiv auseinandersetzen und sie kri-tisch begleiten.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Jürgen Klimke von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Bevor ich auf den Antrag der Koalitionsfraktioneneingehe, möchte ich die Chance nutzen, einen Blick aufdie Myanmar-Politik der letzten 20 Jahre, wie sie vonder EU und vor allen Dingen von der Bundesregierungund auch dem Deutschen Bundestag mit wechselndenMehrheiten betrieben worden ist, zu werfen. Rückbli-ckend müssen wir feststellen, dass die Sanktionen gegenMyanmar schon immer ein fragwürdiges diplomatischesMittel waren. Sie haben nichts erreicht, außer dass dasLand jahrzehntelang isoliert wurde und verkümmerte,die Eliten immer reicher und die Menschen in dem Landjeglicher lebenswerter Grundlage beraubt wurden.Die Sanktionen haben nicht die Reformkräfte imLand gestärkt, was man eigentlich unterstellt hatte, son-dern Myanmar einseitig in die Arme der VolksrepublikChina, des Iran oder Nordkoreas getrieben. Oftmalswurde Myanmar sogar in die Achse des Bösen gruppiert.Das ist aus meiner Sicht falsch. Natürlich waren die Mi-litärs in Myanmar ein Unrechtsregime, doch hat es diewestliche Gemeinschaft nicht verstanden, einen diplo-matischen Unterschied zwischen den xenophoben Mili-tärs Myanmars und den ideologisch versteinerten Dikta-turen Irans oder Nordkoreas herzustellen.Viele ernstzunehmende Dialogansätze wurden überdie Jahrzehnte, besonders auch unter dem moralischenDruck der Myanmar-Diaspora, die wir hier haben, abge-würgt. Immer gab es eine einseitige Fokussierung aufdie Oppositionspartei NLD, die in Wahrheit durchauskonzeptions- und führungsschwach ist und keine wirk-liche Alternative im Land aufgezeigt hat.Trotzdem schlägt die Grünen-Fraktion mit ihrer For-derung 3 in eine alte Kerbe. Ich finde das ideenlos. Eszeigt, welche schlechte Kenntnis des Landes man habenmuss, wenn man ASSK, Aung San Suu Kyi, andauerndals den einzigen Referenzrahmen der Opposition in My-anmar anführt. Das ist sie nicht. Sie ist ein Gesicht undeine Ikone, aber nicht die politische Opposition an sich.
Immer wieder haben aktive und ehemalige Kollegen– Detlef Dzembritzki, Hellmut Königshaus oder KarinKortmann; ich habe das in den alten Debatten zu Myan-mar noch einmal kurz nachgelesen – darauf hingewie-sen, dass wir Myanmar eine Perspektive geben müssen.Hingegen konnten Kollegen wie Kerstin Müller von denGrünen in der Vergangenheit bei dem Versuch, gemein-same Anträge zu Myanmar zu formulieren, den morali-schen Zeigefinger nicht hoch genug heben.
Noch im Oktober 2010 bin ich hier bei meiner Rede zuden geplanten Wahlen in Myanmar und meiner Aussage,dass diese Wahlen eine Chance für das Land sein kön-nen, nicht wirklich mit Applaus bedacht worden.Meine Damen und Herren, vielleicht sollte uns dasBeispiel Myanmar auch etwas politische Demut lehren.Mehr Zuhören könnte vielleicht auch eine Lösung sein.Denn die damalige Militärregierung Myanmars hatschon vor fünf Jahren den Weg der gelenkten Demokra-tie eingeschlagen. Die überwältigende Mehrheit diesesHauses hat dem nicht geglaubt und das Land auch wei-terhin mit Sanktionen drangsaliert.Vielleicht ist die Entwicklung in Myanmar für diewestliche Gemeinschaft sogar auf eine Weise auchschmerzhaft; denn nicht der Westen mit seinem manch-mal moralischen Missionsdrang hat den Impuls zur Um-setzung von Reformen gegeben, sondern die von uns be-schimpften destruktiven Kräfte haben sich von sich ausgewandelt.Wege zur Demokratie können auch ohne uns gelin-gen. Das zeigt das Beispiel Myanmar. Daher müssen wirunsere entwicklungspolitischen und außenpolitischenKonzepte auch für sich langsam wandelnde Gesellschaf-ten wie Myanmar weiterentwickeln; denn der nächstevon uns beschimpfte Kandidat entwickelt sich auchschon langsam positiv weiter – Sri Lanka.Viel schlimmer hat sich jedoch in den letzten Jahrendie Doppelmoral jener Länder ausgewirkt, die die Sank-tionen am vehementesten eingefordert und auch immerverschärft haben. Die Franzosen, die Engländer oder dieAmerikaner – das muss man ehrlich sagen – haben immerwieder Härte gefordert und hintenherum Geschäfte we-
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Jürgen Klimke
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gen der Rohstoffe abgeschlossen. Nie war irgendetwasehrlich im Umgang mit Myanmar.Heute müssen wir neidlos anerkennen, dass es die Mi-litärregierung Myanmars doch vermag, sich demokra-tisch zu wandeln – langsam, aber stetig. Ehemalige Tod-feinde des Militärs werden wieder eingebunden unddürfen an der Gestaltung des Landes mitwirken. Refor-men in allen Bereichen werden sukzessiv umgesetzt.Weitere wichtige Maßnahmen wie die umfassende Frei-lassung aller restlichen politischen Gefangenen werdenerfolgen.Die andauernden Ermahnungen des Westens sindzwar richtig. Es bedarf aber nicht immer der andauern-den Ermahnungen. Trotzdem haben die westlichenSkeptiker weiterhin die Oberhand. Auch die Anträge derSPD und der Grünen strahlen ein bisschen Misstrauenaus – jedenfalls keinen Optimismus.Warum dauert es so lange, bis die westliche Gemein-schaft die Leistungen des Präsidenten Thein Sein aner-kennt? Warum wird er von den internationalen Besu-chern immer erst als zweiter Repräsentant Myanmarsgewürdigt? Warum formuliert man immer neue Bedin-gungen und vertraut nicht einfach einmal auf die Kraftder Demokratie und auf die Kraft der Freiheit?Ich vertraue der neuen zivilen Regierung so wie alleaußenpolitischen Experten aller anerkannten deutschenStiftungen. Auch aus diesem Grund habe ich mich dafürstarkgemacht, dass die Koalition diesen Antrag zügigvorgelegt hat, der die Anstrengungen der Regierungwürdigt und Perspektiven für einen nachhaltigen AufbauMyanmars anbietet.
Myanmar wird das neue Hoffnungsland der ASEANsein. Ich bin davon überzeugt, dass es in einem Jahrzehntnicht viele Staaten in Südostasien geben wird, die einenderartigen demokratischen und wirtschaftlichen Standhaben werden.Klar ist: Dem Land steht ein langer, steiniger Weg be-vor. Es besitzt aber die Chance auf Wachstum und denAufbau einer funktionierenden Volkswirtschaft. DieseChance müssen wir im Rahmen einer intelligenten Ent-wicklungszusammenarbeit nutzen, die sich auf die Sek-toren Bildung, Gesundheit, Konfliktmanagement undWirtschaft fokussiert. Außerdem müssen wir eine inter-national nachhaltige Lösung der Schuldenfrage Myan-mars sowie der dortigen Minderheitenproblematik fin-den. Wir müssen im Bereich der Privatbanken helfen.Wir müssen vor allen Dingen immer wieder sehen, wassich getan hat: Die Militärausgaben sind von 23,5 Pro-zent auf 14 Prozent des Gesamthaushaltes gesenkt wor-den. Die Sozialausgaben sollen auf 7,5 Prozent erhöhtwerden.
Können Sie bitte Ihre Rede beenden.
Optimismus, das ist das, was wir brauchen. Das Land
braucht Hilfe, Unterstützung, damit es sich weiterentwi-
ckelt – im Interesse der Menschen, die 30 Jahre lang zu
leiden hatten.
Danke sehr.
Das Wort hat die Kollegin Annette Groth von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Trotz der vielen demokratischen Veränderungen in My-anmar – sie wurden schon von allen Rednerinnen undRednern erwähnt –
– genau, wir zollen dem ja Respekt – gibt es dort nochviele Probleme, wie ebenfalls schon erwähnt, zum Bei-spiel die Enteignung; ich nenne sie, weil sie noch nichterwähnt worden ist. Die Regierung vertreibt Menschenvon ihrem Land, um Infrastrukturprojekte durchzuset-zen. Laut der Menschenrechtsorganisation ALTESANhaben in der Region Palaung etwa 65 Prozent aller Fa-milien Land verloren. Die enteigneten Familien sind na-hezu rechtlos, da sie bisher keine Möglichkeit haben,sich an ein Gericht zu wenden, um sich gegen die Ent-eignung zu wehren.Diese Praxis ist besonders im Tourismussektor zu be-obachten. Viele Fischerfamilien müssen dem zunehmen-den Bauboom der großen Hotelanlagen an der Küsteweichen. Lonely Planet, einer der wichtigsten Reisefüh-rer für Individualreisende, erklärte Myanmar nachUganda zur Nummer zwei unter den Top-zehn-Reisezie-len für dieses Jahr. Aber die Infrastruktur ist für diesenTouristenzuwachs nicht ausreichend, und insbesonderedie Bevölkerung ist darauf keineswegs vorbereitet. DerSextourismus mit seinen Begleiterscheinungen ist schonim Anmarsch, was ich bei der bereits erwähnten Delega-tionsreise mit Bundesminister Niebel selbst beobachtethabe.Ein weiteres Problem ist die Kriegsökonomie, diesich durch den jahrzehntelangen Konflikt mit der Kachin-Unabhängigkeitsarmee entwickelt hat. Eine Parlamenta-rierin, selbst eine Kachin, sagte mir neulich, dass mandie Soldaten der Kachin-Armee nur zum Aufgeben moti-vieren kann, wenn sie andere Arbeits- und Einkommens-perspektiven haben. Die Befehlshaber dieser Armee ver-dienen gut an dem illegalen Handel mit Rohstoffensowie am Menschenhandel und bezahlen auch ihre Sol-daten entsprechend. Diese Menschen brauchen eineechte Alternative zum Kriegsdienst. Da ist auch die Ent-wicklungspolitik gefragt. Wir erwarten von der deut-schen Außen- und Entwicklungspolitik, dass sie die Ent-wicklungsbedürfnisse sowie die Armutsbekämpfung in
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Annette Groth
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den Mittelpunkt stellt. Die Bevölkerung muss selbst beiden Entwicklungshilfeprojekten mit entscheiden. Esgeht um ihre Bedürfnisse und nicht um die Interessen dergroßen Konzerne.
Klar ist, dass die Konzerne die burmesischen Roh-stoffe ausbeuten wollen. Myanmar ist reich an Edelme-tallen, Seltenen Erden, Edelhölzern und vielem mehr. Daist echt viel Profit zu machen. Darüber hinaus gibt es ei-nen großen Binnenmarkt mit 54 Millionen Menschen,das heißt mit vielen potenziellen Käuferinnen und Käu-fern von Konsumgütern. Derzeit herrscht in Myanmar– ich habe das so erlebt – eine regelrechte Goldgräber-stimmung.Eine weitere Herausforderung für die Regierung sinddie 450 000 Binnenflüchtlinge. Sie leiden vor allen Din-gen unter Verarmung und Verelendung. Aber, HerrKlimke, da stimmt Ihre Zahl nicht: Der Militärhaushalthat sich vom Haushaltsjahr 2011/12 auf das folgendeJahr fast verdoppelt.
– Diese Zahl hat mir vor ein paar Tagen eine Dame ausBurma genannt. Ich kann sie Ihnen belegen.Darüber hinaus ist es ein Skandal, liebe Kollegenvon der SPD, dass es seit 1981 in Rangun eine Fabrikfür G-3-Gewehre gibt, die mit Technik von Heckler &Koch aufgebaut wurde. Seither produziert diese Firmafür das burmesische Regime Gewehre, die auch zur Un-terdrückung der eigenen Bevölkerung eingesetzt wur-den. Die damalige SPD-geführte Bundesregierung hattediesen Waffentransfer genehmigt – eigentlich ein un-glaublicher Skandal.
Wir hoffen, dass unsere Regierungen in Zukunft nichtmehr Waffenfabriken genehmigen, sondern sich für diefriedliche Entwicklung der Region einsetzen.
– Jawohl, das alles ist schön. Wir hoffen, dass die Bur-mesen und Burmesinnen bei all diesen Programmen einklares Mitspracherecht haben;
denn sonst werden sie an die Seite gedrückt, und es wirdeine von außen induzierte Entwicklung vorangetrieben.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt vonder Fraktion der Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,wir alle hätten uns vor zwei Jahren den Wandel in Myan-mar vermutlich kaum vorstellen können. Der Wandel istgut. Trotzdem bleibt wahr, Herr Klimke: Dort herrschteine brutale Militärjunta, immer noch. Sie hat die Machtnoch nicht abgegeben.2007 hat sie die Demokratiebewegung unter Führungder buddhistischen Mönche blutig niedergeschlagen. Siekönnen sich vielleicht noch an die schrecklichen Bildererinnern. Tausende mussten ins Gefängnis. Sie haben ge-sagt, vor fünf Jahren sei man dort schon auf dem richti-gen Weg gewesen. Im April 2008 haben die Generälenach dem verheerenden Zyklon ihrem geschlagenenVolk jeden Zugang zu internationaler Hilfe verweigert.Das war ein ganz besonderes Menschheitsverbrechen.Sie haben die internationale Präsenz politisch gefürchtet.Der unermüdliche Druck einer unter der Oberflächewachsenden Opposition hat die Friedhofsruhe der Juntabeendet. Auch der internationale Druck seit 20 Jahrenhat dabei geholfen. Sie haben eben gesagt, das alles seidoch nichts gewesen. Ich kann nur betonen: Ohne diesenDruck wäre der Erfolg heute, den ich überhaupt nicht be-streite, nicht möglich gewesen.
Die Wahlen im November 2010 waren weder freinoch fair.
Zwei Drittel der Sitze im Parlament werden vom Militärkontrolliert. Herr Klimke, da gibt es nichts zu beschöni-gen.
Aber es stimmt auch: Die wenigen Sitze, über die es einewirkliche Abstimmung gab, wurden fast alle von derOpposition erobert.
Aber deswegen die Augen davor zu verschließen – dashaben Sie hier getan –,
dass zwei Drittel des Parlaments sozusagen noch unterdem Einfluss der Diktatur sind,
ist fatal. Das ist fatales Schönreden der Situation.
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Dr. Frithjof Schmidt
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Dass der jahrzehntelange Hausarrest für die Friedens-nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi aufgehoben wurdeund sie bei der Nachwahl im April 2012 mit überwälti-gender Mehrheit ins Parlament gewählt wurde, ist einewirkliche Wende, ja. Jetzt tritt das Land in eine entschei-dende Übergangsphase. Der Weg zur Demokratie istvielleicht möglich, aber entschieden ist noch nichts.
Die Junta hat auch noch nicht abgedankt. Die vielenpolitischen Gefangenen sitzen noch immer in den Ge-fängnissen. Im Norden des Landes finden trotz Waffen-stillstandsgesprächen nach wie vor Kämpfe statt. Inweiten Teilen des Landes herrscht eine humanitäre Not-situation. Herr Klimke, Sie haben gesagt, Sie hätten denEindruck, wir wüssten nicht, was da los ist. Ich muss Ih-nen sagen: Nach Ihrer Rede habe ich eher den Eindruck:Sie haben sich mit all diesen Problemen nicht ernsthaftauseinandergesetzt.
All dies überschattet die Freude über den politischenWandel der vergangenen Monate und verdeutlicht,welch weiten Weg Myanmar noch gehen muss.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aussetzung derSanktionen durch die EU war in dieser Lage dennochrichtig und wichtig; auch das sagen wir ganz klar. Siesignalisiert den Reformkräften in Myanmar Unterstüt-zung. Doch bei der Aussetzung der Sanktionen mussständig überprüft werden, ob die Junta auch politisch lie-fert. Da ist es nicht gut, wenn man die Lage so beschö-nigt, wie ich das hier gehört habe.
Die internationale Gemeinschaft muss jetzt daraufachten, dass der Ressourcenreichtum des Landes nichtzu einem Ressourcenfluch wird. Die Erfahrungen vonKambodscha müssen hier ein sehr warnendes Beispielsein. Die Einführung von bürgerlichen Freiheiten darfnicht mit einer marktradikalen Politik einhergehen, dieder Abholzung der Wälder und dem Abbau der Boden-schätze keine Schranken setzt. Der Run auf die Lizenzenhat bereits eingesetzt. Die Hotels in Rangun sind voll mitLobbyisten.Damit sich Myanmar langfristig stabilisieren kann,muss es einen Weg in Richtung einer nachhaltigen Ent-wicklung einschlagen. Dafür muss sich die Bundesregie-rung aktiv einsetzen. Ich habe die Hoffnung, dass sie dastut. Ökologische, soziale und menschenrechtliche Stan-dards müssen verankert werden und in das Zentrum derpolitischen Zusammenarbeit mit Myanmar gerückt wer-den. Das ist die politische Aufgabe, der sich die Bundes-regierung jetzt hoffentlich aktiv zuwendet.Danke für die Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Manfred Grund von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhundertsvollzogen sich sowohl in Deutschland als auch in Myan-mar, damals noch Burma oder Birma, gravierende politi-sche Veränderungen. 1961 wurde in Deutschland, inBerlin, die Mauer gebaut, der Eiserne Vorhang ging nie-der. 1962 übernahm in Burma das Militär die Herrschaftund blieb nahezu 50 Jahre an der Macht. 1988 kam es zugewalttätigen Protesten gegen die Militärjunta, getragenvon Hunderttausenden junger Leute, von Studenten. Esgab wahrscheinlich mehr als 1 000 Tote. Die Militärsblieben danach weiterhin an der Macht. In Deutschland,in Berlin, fiel die Mauer; der Eiserne Vorhang in Europafiel. Es kam zu Demokratisierungsprozessen und zuHoffnung in diesem Teil der Welt. Myanmar – Burma,Birma – blieb weiterhin unter Militärherrschaft.Im Jahr 2007 kam es erneut zu gewalttätigen Protes-ten gegen die Militärherrschaft; diesmal getragen vonbuddhistischen Mönchen, buddhistischen Nonnen undnatürlich auch von der Zivilgesellschaft. Auch im Jahr2007 wurden die Proteste gegen die Militärdiktatur wie-der blutig niedergeschlagen.Vor wenigen Monaten haben die Militärs ihrerseitsbegonnen, das Land zu öffnen, zu demokratisieren, freieWahlen zu ermöglichen, Gewerkschaften zuzulassen,das Streikrecht wieder einzuführen und Parteien zuzulas-sen. Ein bemerkenswerter Reformprozess. Wir erlebeneine Revolution von oben, angestoßen und mitgetragenvon unten. Alles kann ein gutes Ende nehmen. HerrDr. Schmidt, im Gegensatz zu Ihnen freuen wir uns überdiesen Prozess.
Wir erleben, wie eines der letzten Länder dieser Welt,welches mehr als 50 Jahre unter einer Militärdiktatur ge-lebt hat, sich mit viel Hoffnung aufseiten der Oppositionund der Zivilgesellschaft bewegt. Wir sollten diesen Pro-zess unterstützen.Warum machen die Militärs das? Sie könnten, auf dieBajonette gestützt, weiterhin ihre Herrschaft ausüben.Ich denke, sie sehen, dass sie mit ihrer Form der Politikabgehängt bleiben. Das Land ist zurückgeblieben. Es hatsich wirtschaftlich und sozial nicht weiterentwickelt. Esist stehengeblieben. Die anderen ASEAN-Staaten gehenvoran.Als Zweites möchte ich gern das Thema Boykott auf-greifen. Die Europäische Union, die westliche Staaten-gemeinschaft haben das Land lange boykottiert. Wirhaben damit dieses Land – die Militärs und Teile der
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Manfred Grund
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Wirtschaft – auch in Richtung China getrieben. Chinaseinerseits stillt seinen Rohstoffhunger in Myanmar.Alle Schreckensszenarien, die man sich ausmalen kann– also die Abholzung der Wälder, gigantische Stau-dammprojekte, Herausholen der Bodenschätze –, habenbisher stattgefunden. Unter der Kontrolle der Weltöffent-lichkeit könnten diese Prozesse einen besseren Ausgangnehmen. Dies sind gute Voraussetzungen, die im Ansatzvorhanden sind. Wie gesagt: Wir freuen uns über diesenProzess.
Natürlich sind damit auch Gefahren verbunden. Diesist mehrfach angesprochen worden. Es setzt ein unkon-trollierter Run aus allen Ländern dieser Welt ein, die mitInfrastrukturprojekten und Investitionen das Land über-fallen werden. Es können auch andere Entwicklungeneintreten, die wir von Kambodscha oder Thailand ken-nen. Hier tragen wir eine Verantwortung. Ich bitte dieBundesregierung und das Außenministerium, daraufhinzuwirken, dass das, was an Hilfen im wirtschaftli-chen, sozialen und infrastrukturellen Bereich notwendigist, wenigstens in der Europäischen Union einigermaßenstrukturiert und abgestimmt verläuft. Der britische Pre-mierminister war vor wenigen Wochen in Myanmar undhat schon einmal angekündigt, dass das Königreich eineigenständiges Büro in Myanmar eröffnet, und das ohneAbstimmung mit den anderen Staaten der EuropäischenUnion. Das ist eine Entwicklung, die man so nicht fort-setzen sollte. Das Ganze muss vielmehr koordiniert ab-laufen.Die Hilfen, die wir geben können, sollten wir nichtvorenthalten. Das Goethe-Institut wird wieder eröffnet,Sprachenschulen werden eingerichtet. Für den Bereichder dualen Berufsausbildung sind wir um Hilfestellunggebeten worden sowie um Fortbildung für diejenigen,die bereits eine Ausbildung als Techniker haben, um sieauf den aktuellen Stand der Technik zu bringen. Auchbei infrastrukturellen Projekten können wir Hilfe leisten.Alles das ist möglich.Wir werden diesen Prozess kritisch, aber zugleichsehr freundlich und positiv begleiten. Diese Entwicklungmacht Hoffnung auf eine gute Entwicklung für die Be-völkerung in Myanmar. Immerhin können so 50 Millio-nen Menschen in eine bessere Zukunft blicken. Sie brau-chen und erhalten dabei unsere Unterstützung.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/9735 mit dem Titel „Myanmar – Reformkräfte unter-
stützen, den Wandel beschleunigen, Perspektiven eröff-
nen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal-
tung der Oppositionsfraktionen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9727 und 17/9739 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
Duin, Michael Groß, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öf-
fentlich-Private Partnerschaften differenziert
bewerten, mit mehr Transparenz weiterentwi-
ckeln und den Fokus auf die Wirtschaftlich-
keit stärken
– Drucksache 17/9726 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Öffent-lich-private Partnerschaften sind in den letzten Monatenvermehrt in die Kritik geraten. Der Bundesverkehrs-minister Herr Ramsauer hat mit Beginn der 17. Legisla-turperiode – inzwischen immer häufiger – den Ausbauder Bundesautobahnen mithilfe von ÖPP als Lösung sei-ner Finanzprobleme bei den Verkehrsinvestitionen be-schrieben. Für uns stellt sich jedoch die Frage, auf wel-cher Grundlage zunehmend mehr Projekte mithilfe vonÖPP umgesetzt werden sollen.Auch die SPD-Fraktion hat sich in den vergangenenJahren für ÖPP ausgesprochen. Im Gegensatz zur Bun-desregierung sehen wir jedoch unbedingten Handlungs-und Reformbedarf, und zwar hinsichtlich der Entschei-dungsgrundlagen, der Transparenz, der Rahmenbedin-gungen und der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen.Zwingend erforderlich ist auch ein konstruktiver Dialogzwischen Befürwortern und Gegnern von ÖPP-Maßnah-men.Die SPD-Fraktion befindet sich gerade im Dialogpro-zess zum Infrastrukturkonsens. Es wird immer entschei-dender, aufseiten der Bürgerinnen und Bürger eine Ak-zeptanz der Infrastrukturmaßnahmen zu erreichen. Dasgilt allerdings auch für Projekte, die im Rahmen der öf-fentlich-privaten Partnerschaften durchgeführt werden.
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Michael Groß
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Verträge mit einem Umfang von 17 000 Seiten, die ge-heim und nicht einmal den zuständigen demokratisch ge-wählten Entscheidungsträgern in vollem Umfang zu-gänglich sind, haben absolut nichts mit Transparenz zutun.
Bei einer öffentlich-privaten Partnerschaft geht es,einfach ausgedrückt, darum, den Bau, Erhalt und Betriebeiner Einrichtung, zum Beispiel einer Schule oder einerInfrastruktur wie der Autobahn, an einen privaten Inves-tor zu vergeben. Die privaten Unternehmen erbringeneine Dienstleistung im Auftrag der öffentlichen Hand.Die Verantwortung der politischen Entscheidungsträgerbei ÖPP-Projekten ist enorm und setzt ein umfassendesWissen und umfassende Kompetenz, auch von ehren-amtlichen Kommunalpolitikern, voraus. Zurzeit liegenunterschiedliche Bewertungen und Erfahrungen in Be-zug auf ÖPP vor. Die erste Euphorie ist jedoch nichtmehr ohne Schrammen und Macken. Der Bundesrech-nungshof und die Landesrechnungshöfe haben sich inden vergangenen Monaten immer kritischer geäußert,aber es gibt auch positive Rückmeldungen, insbesonderevon der kommunalen Ebene.Eine zentrale Voraussetzung für die Zukunft der ÖPP-Modelle wird sein, dass es gelingt, neben Transparenzklare Kriterien zu finden, warum eine Beschaffung durchdie öffentliche Hand im Rahmen langfristiger Verträgemit privaten Wirtschaftsunternehmen sinnvoll ist. Wirt-schaftlichkeitsuntersuchungen sollten sich auf harte undnachvollziehbare Fakten stützen. Vergleiche zwischenkonventioneller Beschaffung und ÖPP sollten plausibelund empirisch nachvollziehbar sein. Zurzeit gibt eskaum neutrale Dokumentationen über Erfolge und Miss-erfolge von ÖPP-Projekten. Nur selten sind Auswertun-gen in unabhängigen Studien erhältlich. Für genaue Eva-luationen und Aussagen zur Bewertung der Projektenach Abschluss mangelt es an einer umfassenden Daten-basis, oder diese Daten dürfen nicht zur Verfügung ge-stellt werden, auch nicht den demokratisch legitimiertenVertretern.Durch die geringe Nachvollziehbarkeit und Transpa-renz lassen sich derzeit keine klar anwendbaren Regelnund Kontrollmechanismen etablieren. Dabei erfordertgerade die Komplexität von ÖPP-Projekten in vielenFällen besonderes Wissen. Das bedeutet auch, dass wirder öffentlichen Hand dieses Know-how sachlich undpersonell zur Verfügung stellen müssen. Leider sieht dieRealität in den Kommunen vielerorts völlig anders aus.Knappe Kassen führen zu Personalabbau. Für die Um-setzung der ÖPP-Projekte werden in den öffentlichenVerwaltungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter notwen-dig sein, die hochkompetent und qualifiziert sind. Be-wertungen der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen undder mehrere Aktenordner füllenden Verträge sowie Steu-erung, Monitoring und Evaluierung sind nur einige Auf-gaben, die von den Kommunen zu erfüllen sind.Die langen Laufzeiten von ÖPP-Verträgen, aber auchunvollständige Verträge bergen eine relativ große Gefahrfür Nachverhandlungen. Die öffentliche Hand bindetsich auch finanziell über Zeiträume, die schwer über-schaubar sind.Die Diskussion muss sich in Zukunft stärker an wis-senschaftlichen Erkenntnissen und Fakten orientieren.Auf meine schriftliche Frage an die Bundesregierung, obsie ihre Behauptung wissenschaftlich belegen könne,dass ÖPP-Projekte früher, schneller, effektiver undgrundsätzlich mit volkswirtschaftlich positivenEffekten gegenüber herkömmlichen Realisierungs-arten durchgeführt werden …erhielt ich die Antwort: Die gesammelten praktischenErfahrungen lassen oben genannte Effekte erwarten.
Aber auf schlichte Erwartungen, gerade mit Blick aufdie andauernde Finanzkrise, sollten wir unsere öffentli-chen Haushalte nicht stützen.Die Beschaffung öffentlicher Güter im Rahmen vonÖPP löst nicht die Einnahme- und Ausgabenproblemeder öffentlichen Haushalte. Besonders für den Verkehrs-und Baubereich gilt: ÖPP ermöglicht kein Bauen ohneGeld. Es beseitigt nicht die Finanzierungsenge auf Bun-des- und kommunaler Ebene.Wir beobachten eine wachsende Kluft zwischen ar-men und reichen Kommunen in Deutschland. Insgesamtlässt sich eine strukturelle Unterfinanzierung der Kom-munen feststellen. Der positiven Einnahmeseite in derSumme aller Kommunen stehen 45 Milliarden EuroKassenkredite gegenüber. Die Sozialausgaben belastendie Städte und Gemeinden mit 45 Milliarden Euro. Wiesollen sich die Kommunen helfen? Sie müssen einen In-vestitionsstau bei Brücken, in Schulen, in Rathäusernund Jugendheimen im zweistelligen Milliardenbereichvor sich herschieben. Hier muss die Bundesregierungden Städten und Gemeinden endlich tatsächlich helfen,die strukturelle Unterfinanzierung zu beenden. Konnexi-tät ist hier das Stichwort. Wer auf Bundesebene bestellt,muss die Musik vor Ort auch bezahlen.
Eine vermehrte Anwendung von ÖPP kann nach bis-herigen Erfahrungen keinen nennenswerten Beitrag zurReduzierung der strukturellen Verschuldung der öffentli-chen Haushalte leisten.
Vielmehr besteht die Gefahr einer versteckten Verschul-dung. Deswegen fordern wir erstens die Vorlage einesumfassenden Berichts unter Berücksichtigung der Er-gebnisse der Landesrechnungshöfe und des Bundesrech-nungshofes über den derzeitigen Stand der Entwicklungvon öffentlich-privaten Partnerschaften in Deutschlandauch unter Einbeziehung der jüngsten Erkenntnisse ausdem europäischen Ausland. Da kann man zurzeit einigesfinden.
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Michael Groß
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Wir fordern zweitens, dass eine Beschaffung im Rah-men von ÖPP grundsätzlich nur zu prüfen ist, wenn ingleichem Maße auch die finanziellen Voraussetzungenfür eine konventionelle Realisierung innerhalb der öf-fentlichen Haushalte vorhanden sind.Drittens. Wir fordern, eine von wirtschaftlichen Inte-ressen unabhängige Fachkompetenz im Bereich vonÖPP in der öffentlichen Verwaltung sicherzustellen.Viertens. Wir brauchen eine wissenschaftliche Unter-suchung der bisherigen Wirtschaftlichkeitsuntersuchun-gen. Sie muss unabhängig stattfinden.Wir werden nicht darum herumkommen, für den öf-fentlichen Bereich bzw. für die öffentliche Infrastrukturmehr Geld zur Verfügung zu stellen.Vielen Dank. Glück auf!
Jetzt hat der Kollege Reinhold Sendker von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es tut sich viel bei den öffentlich-privatenPartnerschaften in Deutschland. Damit meine ich nichtnur „ÖPP pur“ beim Hoch- und Straßenbau, sondernauch – wo wir es vor einigen Monaten noch gar nicht fürmöglich gehalten haben – „teilweise ÖPP“ in zahlrei-chen weiteren Bereichen,
angefangen bei der medizinischen Versorgung über dieVerwaltungsmodernisierung bis hin zum Bereich der Si-cherheit.Ich möchte meinen Vorredner ein wenig korrigieren.Das Fazit, das wir heute nach einigen Jahren ÖPP-Pro-jekten in Deutschland ziehen können, lautet: Die mitÖPP gemachten Erfahrungen – allen voran beim Bun-desfernstraßenbau – sind einhellig positiv. Das wollenwir gerne fortsetzen.
Daten und Fakten belegen das für den Straßenbau.
– Sie tun gut daran, wenn Sie zuhören, wenn ich diesenenne. – Es gab bisher 300 Kilometer sechsspurigen Au-tobahnausbau. 1,5 Milliarden Euro sind in sechs ÖPP-Verkehrsprojekte geflossen. Dabei sichern über dieDauer einer Maßnahme 1 Milliarde Euro an Investitio-nen 30 000 Arbeitsplätze.Schauen wir auf weitere positive Botschaften. Da gibtes vor allem die Sicherung und Verbesserung der Quali-tät in der Bauausführung.
Gleiches gilt für einen qualitativ hochwertigen Betriebs-dienst. Ein besonderes Prä – da sollten Sie ganz beson-ders zuhören – ist der schnellere und zeitnahe Ausbau,der volkswirtschaftlich von ganz besonderem Nutzen ist.Bei den ÖPP-Projekten der A 8 – das betrifft die StreckeMünchen–Augsburg – und der A 4 bei Eisenach wurdendie ohnehin engen Terminvorgaben sogar noch deutlichunterschritten. Bei den bisher vorgelegten Wirtschaft-lichkeitsuntersuchungen – das belegen Sie auch in IhremAntrag – erblicken wir deutliche Effizienzvorteile. Dasist also, meine Damen und Herren, unterm Strich eineabsolute Erfolgsgeschichte. Für die Fortsetzung dieserPolitik stehen unser Minister und unsere christlich-libe-rale Koalition.
In Zeiten knapper Haushaltsmittel haben wir – ange-sichts des Szenarios eines zu erwartenden massiven An-stiegs im Bereich des Güterverkehrs – auch allen Grund,an der Option von ÖPP-Projekten festzuhalten. Dabeigeht es vor allen Dingen darum, die gewonnenen Erfah-rungen aus den Projekten zu nutzen und die Standardskontinuierlich weiterzuentwickeln. So ist es hocherfreu-lich, dass wir feststellen dürfen, dass ein beachtlicherTeil der Bauleistungen bereits regional erbracht wird,wovon die lokale mittelständische Wirtschaft profitiert.
Ferner setzen wir weiterhin auf wirtschaftliche, nach-haltige und innovative Lösungen bei ÖPP-Projektendurch Wissensaufbau, Standards und Beratung. Hierkönnen uns die VIFG und die ÖPP Deutschland AG wir-kungsvoll unterstützen. So wurde Letztere vom BMFund vom BMVBS mit einer entsprechenden Grundla-genarbeit und einer Untersuchung zum Thema „Transpa-renz bei ÖPP-Projekten“ beauftragt. Mehr Transparenzschafft mehr Akzeptanz, und hier haben wir bei der In-frastrukturfinanzierung in den letzten Jahren einen gutenWeg beschritten und viel Erfolg gehabt.Im Jahr 2011 hat die Koalition mit der Herstellungdes Finanzkreislaufs Straße mehr Transparenz geschaf-fen und dafür viel Lob erhalten. Seit 2012 werden alleEinnahmen und Ausgaben im Zusammenhang mit derErhebung, Kontrolle und Verwendung der Lkw-Maut ineinem besonderen Kapitel des Bundeshaushalts abgebil-det.Ferner freuen wir uns heute darüber, dass die deut-sche Bauindustrie in einer bemerkenswerten Initiativeausdrücklich zu mehr Transparenz bei ÖPP-Projektenbereit ist. Es gibt im Ergebnis also mehr Information undmehr Kommunikation zwischen dem Auftragnehmer,der Öffentlichkeit und den Betroffenen vor Ort. Vor al-lem aber wird den Spekulationen über Vergabe und Ver-tragsinhalte der Wind aus den Segeln genommen. Das,liebe Kolleginnen und Kollegen, ist zielführend.Weiterhin zeigt der Nachweis einer besseren Wirt-schaftlichkeit bei ÖPP auf, dass es hier nicht um die Ein-
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Reinhold Sendker
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haltung einer Schuldenbremse geht, sondern um einemanches Mal bessere Option für einen schnelleren undeffektiveren Fernstraßenausbau.Mehr Transparenz bedeutet also mehr Rückenwindfür ÖPP. Die Transparenz wird allerdings dort enden– lassen Sie mich das einwenden –, wo es um schützens-werte Interessen von Projektbeteiligten und vor allemum die wirtschaftlichen Interessen des Staates geht. DerWettbewerb um Preis und Kompetenz ist ein elementarerBestandteil des Beschaffungsmodells; will heißen:Transparenz so weit wie möglich, sie darf dieses Er-folgsmodell aber nicht seiner Vorteile berauben.Wenn Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegenvon der SPD-Bundestagsfraktion, in Ihrem Antrag for-mulieren, der Erfolg dieses Beschaffungsmodells lassenoch auf sich warten und dabei den Fokus auf die zweiteStaffel der ÖPP-Projekte im Straßenbau legen – Sie sa-gen, zur Halbzeit der Legislatur seien lediglich bei zweiProjekten die Verträge unterschrieben worden –, dannfrage ich Sie: Wie steht es denn mit Ihrer Verantwortungvor Ort?Beispiel eins: das vom Bund angebotene ÖPP-Projektzum sechsspurigen Ausbau der A 1 zwischen Lotte/Os-nabrück und Münster/Westfalen. Ihr Koalitionspartner inDüsseldorf hat uns und der interessierten Öffentlichkeitschon vor mehr als einem Jahr mitgeteilt – Zitat –, Sieseien keine Freunde dieses Modells. Das ist eine ideolo-gische Absage. Gleichwohl bleibe das Vorhaben in derPrüfung, so hören wir und verharren in Hoffnung.Beispiel zwei: Noch eklatanter ist die Situation beimÖPP-Projekt für die A 6 zwischen Weinsberg und Wall-dorf. Hier soll die Wirtschaftlichkeitsprüfung des Bun-des noch eine gutachterliche Stellungnahme erfahren. Sowill es Winfried Hermann, heute Verkehrsminister imLande Baden-Württemberg. Er will die Untersuchung ei-ner Untersuchung. Für mich ist das ein Stück aus demTollhaus.
Ich darf auf Ihre Einwände hin an dieser Stelle fest-stellen: Für die Finanzierung von Infrastrukturprojektenhaben wir leider – das sei an dieser Stelle beklagt – zuwenig Geld. Auf der anderen Seite haben wir leider zuviel Ideologie. Genau umgekehrt sollte es sein.
Abschließend noch ein Satz zu dem SPD-Antrag. Wirbegrüßen es, dass Sie sich hier überwiegend positiv zuöffentlich-privaten Partnerschaften geäußert haben. Zu-nächst einmal sollten Sie aber dort, wo Sie Verantwor-tung tragen – ich habe Stuttgart und Düsseldorf ange-sprochen –, für eine klare Linie in der Regierung sorgen.Nicht nur reden, sondern auch machen! Das würde IhrenAntrag deutlich glaubwürdiger machen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Ingrid Remmers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Worüber reden wir hiereigentlich? Eine der Hauptaufgaben des Staates ist es,Infrastruktur für die Bürgerinnen und Bürger bereitzu-stellen. Jahrelang hat das relativ gut funktioniert. Kom-munen, Länder und der Bund bauen und betreiben Schu-len, Straßen und vieles andere.Durch die öffentlich-private Partnerschaft, kurz: ÖPP,wird diese Herangehensweise jedoch infrage gestellt.Weil der Staat Geld sparen und keine neuen Schuldenmehr machen wollte, holte man sich einfach private Be-treiber an Bord, die die Leistungen gegen regelmäßigeZahlungen, meist Mieten, erbringen sollten. Dumm nur,dass die beteiligten privaten Unternehmen dabei mög-lichst viel Geld verdienen wollten. Negative Beispielefür misslungene ÖPP gibt es reihenweise – Stichwort„Elbphilharmonie“. Immer waren die Kosten höher alsgeplant und die Leistungen für die Städte nicht zufrie-denstellend. So war es bisher zum Beispiel gar nichtmöglich – wir haben das eben schon von dem KollegenGroß gehört –, die Verträge auch nur einzusehen, um dieUrsache für die Kostenexplosion zu ermitteln.Deswegen fordert die SPD in ihrem vorliegenden An-trag zunächst einmal die vollständige Transparentma-chung der Verträge und der Wirtschaftlichkeitsberech-nungen schon im Vorfeld. Außerdem soll dieWirtschaftlichkeit von ÖPP-Projekten von einer unab-hängigen Stelle evaluiert werden. Nur, das geschah auchbisher, und zwar durch die Landesrechnungshöfe. Diesebemängeln, dass die erwarteten Kosteneinsparungen sel-ten erreicht wurden und die Wirtschaftlichkeitsuntersu-chungen häufig auf falschen Annahmen beruhten. Siekritisieren, dass die langfristigen Zahlungsverpflichtun-gen der Kommunen gar nicht in den Haushaltsplänenvorkommen und so der demokratischen Kontrolle durchdie Haushaltsausschüsse entzogen werden.
Die größte Gefahr besteht jedoch bei dem sogenann-ten Einredeverzicht. Das heißt, die Kommunen ver-pflichten sich zu fest vereinbarten Mietzahlungen unterallen Umständen. Das private Unternehmen darf dieseGelder dann als Sicherheit bei der Bank hinterlegen.Gibt es Probleme mit der Bereitstellung der Leistungoder geht das Unternehmen gar pleite, muss die Kom-mune trotzdem zahlen, nämlich an die Bank. Denn siehat ja auf ihre Einrede verzichtet und kann daher keinePreisminderung geltend machen.Niemand hier in diesem Raum käme auf die Idee, ei-nen Handwerker mit der Reparatur seiner Wohnung zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21581
Ingrid Remmers
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beauftragen und dann einen generellen Verzicht fürMängelansprüche zu erklären. In dem Antrag wird ge-fordert, erst nach Abnahme der Leistung einen Einrede-verzicht zu erklären. Das ist doch Quatsch. Wie solldenn die Haltbarkeit eines Gebäudes oder einer Straßedirekt nach der Fertigstellung ermittelt werden? Wenndie Kommune Pech hat, zahlt sie 30 Jahre lang, ohne diedafür vereinbarte Gegenleistung zu erhalten.
Zurück zu den hinterlegten Krediten für ÖPP-Pro-jekte. Die Banken bündeln die Kredite in sogenanntenInfrastrukturfonds, die natürlich Rendite bringen sollen.Umso geringer die Bau- und Unterhaltungskosten sind,die die privaten Unternehmen aufbringen müssen, umsobesser ist es für den Fonds, aber auf Kosten von Löhnen,Qualität und der kommunalen Haushalte. Wieso das einFortschritt sein soll, versteht kein Mensch.
Die ÖPP Deutschland AG ist eine von Bund und Pri-vaten betriebene Beratergesellschaft. Die SPD fordert inihrem Antrag, den Sinn der Beteiligung Privater an derAG zu überprüfen. Das ist auch dringend nötig; denn43 Prozent der Anteile dieser Beratungsagentur fürKommunen werden von einer Beteiligungsgesellschaftgehalten, die von Banken und großen Baukonzernen do-miniert wird. Natürlich erfolgt diese Beratung völligunvoreingenommen.Abschließend kann man nur zu einem Fazit kommen:Wenn alle Forderungen des SPD-Antrags auf Schadens-ersatzforderungen, unabhängige Überprüfung der Ver-träge, Verhinderung von Lohndumping und Interessen-konflikten umgesetzt werden würden, würde sich keineeinzige Firma mehr an ÖPP beteiligen wollen, und daswäre gut so.Es gibt einen Trost: Die Verantwortlichen in denKommunen sind in dieser Diskussion schon viel weiter.Privatisierungen in Form von ÖPP kommen nach dennegativen Erfahrungen immer mehr aus der Mode. DieKommunen setzen inzwischen verstärkt auf die Rückge-winnung des Öffentlichen, und das mit Erfolg. Wir for-dern deshalb als Linke: Weg von der Lobbyarbeit fürÖPP! Wir brauchen stattdessen eine konsequente Unter-stützung der Kommunen bei der Rekommunalisierung.Herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Werner Simmling von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Effizienz wird unter demDiktat knapper werdender Mittel immer wichtiger. Öf-fentlich-privaten Partnerschaften kommt daher als Fi-nanzierungs- und Beschaffungsmaßnahme in der Infra-struktur eine immer größer werdende Bedeutung zu.Damit stehe ich in vollkommenem Widerspruch zu mei-ner Vorrednerin.Durch ÖPP können wir häufig effizienter, schnellerund wirtschaftlicher agieren als bei konventioneller Ver-gabe und haushaltsfinanzierter Umsetzung. Sie habenrecht, Herr Kollege Groß, man kann nicht ohne Geldbauen, aber der Auftraggeber zahlt in Raten zurück underhöht damit seinen Spielraum. Dass dem so ist, sehenSie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, jaauch so. Man erkennt an Ihrem Antrag, dass Sie eine dif-ferenzierte und bei aller Defensivität auch eine deutlichpro ÖPP eingestellte Politikrichtung vertreten. Das habeich allerdings gerade nicht so herausgehört; vielleicht hatsich in der Kürze der Zeit einiges verändert.Mir missfallen jedoch Ihr populistischer Ansatz undder Tenor Ihres Antrags. Vielleicht liegt dort der Hundbegraben. Sie wissen ganz genau, wie wichtig ÖPP istund dass ÖPP in Zukunft eine deutlich größere Rolle beider Finanzierung spielen muss. Aber anstatt dies deut-lich zu sagen und Position zu beziehen, agieren Sie wieUnternehmen, wenn diese ihre PR-Abteilungen zu einerdefensiven Krisenkommunikation aufstellen. Sie bedie-nen die kritischen Einstellungen Ihrer Stammklientelund drücken sich vor klaren Aussagen. Damit tun Siedem notwendigen Ausbau der Infrastruktur in Deutsch-land keinen Gefallen, ja, damit laufen Sie sogar Gefahr,den weiteren Infrastrukturausbau zu behindern.
Ließen wir den Tenor Ihres Antrags außer Acht,könnten wir zu einer konstruktiven und differenziertenAuseinandersetzung kommen. Denn Sie beschreiben inIhrem Antrag vieles von dem, was bei den Rahmenbe-dingungen und bei der Ausgestaltung von ÖPP berück-sichtigt und verbessert werden muss. Das ist aber nichtsNeues, und das wissen Sie.Natürlich – das ist auch unser liberales Fazit – müssenbei Infrastrukturinvestitionen vermehrt Wirtschaftlich-keitsuntersuchungen durchgeführt werden. Denn Wirt-schaftlichkeitsuntersuchungen schärfen das Bewusst-sein für ein Projekt und führen damit auch zu mehrValidität bei den Entscheidungen. Wir sind uns alle ei-nig, dass ein konstruktiver Dialog mit allen Partnern not-wendig ist, um das Instrument ÖPP weiterzuentwickeln,und dass hierbei klare und transparente Regeln förder-lich sind.Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD:Überziehen Sie doch nicht so! In Sachen Transparenzstellen Sie es so dar, als könne man alles offenlegen. Siestellen sich selbst dar, als sei die SPD der Vorreiter trans-parenter Strukturen. Sie reden von vollständiger Trans-parenz. Aber was meinen Sie damit konkret? ErklärenSie doch lieber, wie es wirklich ist und warum es so ist.Transparenz ist bis zu einem bestimmten Punkt machbar.Aber nicht alles kann offengelegt werden. Private Unter-
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Werner Simmling
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nehmen legen ihre internen Kalkulationen in der Regelnur so weit offen, wie dies nicht ihre Erfolgs- und Wett-bewerbsposition beeinträchtigt. Da Sie von vollständigerTransparenz sprechen, fordere ich Sie auf: Seien Siebitte ehrlich, und legen Sie diese Messlatte auch bei sichselbst an!Im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist das größteProblem, eine ganzheitliche Strategie für das Verkehrs-system umzusetzen. Einer nachvollziehbaren Priorisie-rung stehen Sie aber im Wege.
Als wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent-wicklung den Länderproporz kritisiert haben, war es dieSPD – und nur die SPD –, die ihre verkehrspolitischenSpielchen nicht aufgeben wollte.
Fatal ist in diesem Zusammenhang auch, wenn Kostenvon staatlicher Seite bewusst untertrieben werden, damitpolitisch gewünschte Projekte Eingang in den Bundes-verkehrswegeplan finden.
Im Bereich der Verkehrsinfrastruktur besteht dasHauptproblem – da bin ich wieder bei Ihnen – sichernicht in der Ausgestaltung von ÖPP und in der Unsolidi-tät bei Planung und Handling, sondern – neben der nochfehlenden Gesamtplanung und Priorisierung – darin,dass alternative Finanzierungs- und Beschaffungsinstru-mente heute noch weitgehend vernachlässigt werden.Ich würde an dieser Stelle gerne Ihre Kritik bezüglichder zweiten Staffel beim Ausbau von Bundesautobahnenmit ÖPP ansprechen. Ich finde es im Gegensatz zu Ihnenrichtig, dass man nach dem Abschluss der ersten Staffelder ÖPP-Projekte nicht übereilt weitermacht. Gerade Siefordern ja mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeits-untersuchungen. Insofern muss zuerst eine Auswertungder ersten Staffel erfolgen.
Unser Ziel ist es, dieses Modell so weiterzuentwickeln,dass es einen noch größeren Beitrag zur Leistungsfähig-keit unseres Bundesfernstraßennetzes zu leisten vermag.Machen Sie – bei aller gerechtfertigter kritischer Be-trachtung – bei dem Ansinnen, strukturelle Mängel zubeheben und haushalterische Integrität zu sichern, bittedeutlich, dass ÖPP zunehmende Chancen für den gesam-ten Infrastrukturausbau bietet.Worin wir uns einig sind, verehrte Kolleginnen undKollegen, ist, dass man einigen der Probleme im Zusam-menhang mit ÖPP begegnen kann, indem man die Pla-nungs- und Finanzierungsverantwortung auf eine auto-nome Finanzierungsgesellschaft überträgt. Da ich geradefür den Bundesfernstraßenbau spreche, sage ich Ihnen:Unterstützen Sie uns doch bei unserem Anliegen, derVIFG mehr Kompetenzen zuzuschreiben! Das wäre imGegensatz zu Ihrer defensiven Rhetorik ein konstrukti-ver Ansatz.Lassen Sie mich abschließend feststellen, dass manIhrem Antrag leider anmerkt, dass die SPD wieder ein-mal in der programmatischen Zwickmühle steckt: Ei-gentlich wollen Sie wirtschaftsnah und industriepolitischweitsichtig agieren, haben aber nicht den Mut, dies offengegenüber Ihrer Stammklientel zu kommunizieren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter vonBündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Kollege Simmling, was Sie gesagt haben, istspannend – manchmal ist die Wortwahl nämlich extremverräterisch –: Sie haben gesagt, wenn man ein Projekthat, kann man das Geld nach und nach zurückzahlen,und die Handlungsspielräume bleiben erhalten. – Das istgenau das Gleiche wie bei der Verschuldung: Auf der ei-nen Seite kämpfen Sie angeblich so sehr gegen die Ver-schuldung, auf der anderen Seite finden Sie PPP-Pro-jekte ganz toll. Man muss sich aber genau mit der Fragebefassen: Was ist denn ein PPP-Projekt? Ein PPP-Pro-jekt ist nichts anderes, als Schulden aus dem Haushaltauszulagern und in einen Schattenhaushalt zu stecken.
Wie funktionieren PPP-Projekte? PPP-Projekte sind vonihrem Ursprungsgedanken her relativ klug angelegt.Man denkt sich: Wenn es einen öffentlichen Bauherrengibt, dann wird das immer extrem teuer. Deshalb lassenwir bei einem PPP-Projekt denjenigen, der baut, gleich-zeitig den Unterhalt bestreiten. Da das kurzfristig auchnicht hilft, lässt man denjenigen, der baut, im Idealfall30 Jahre den Unterhalt tragen, denn dann wird derjenige,der baut, es – so ist der Gedankengang – logischerweisevon vornherein gut machen, da er selbst für den Unter-halt sorgen muss. Das klingt zunächst richtig und ver-nünftig. Warum stehen diese Projekte trotzdem so in derKritik, und zwar nicht nur in der Kritik von Attac, son-dern auch in der massiven Kritik sowohl vom Bundes-rechnungshof als auch von den Landesrechnungshöfen?
Die erste Ursache ist die, dass die Verschuldung trotz-dem stattfindet; denn das ist kein Finanzierungsmodell,sondern es ist ein Beschaffungsmodell.
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Dr. Anton Hofreiter
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Die Verschuldung findet durchaus statt. Der Staat ver-schuldet sich allerdings nicht direkt bei Banken, wobeier seine niedrigen Refinanzierungskosten nutzen könnte,sondern für den Staat verschuldet sich in der Regel einBaukonzern, und dieser muss höhere Zinsen zahlen.Dadurch entsteht der erste Block, in dem leicht höhereKosten auftreten. Der Unterschied ist nicht groß, weil estrotzdem eine Zahlungsgarantie des Staates über30 Jahre gibt. Dennoch entsteht ein erster Kostenblock.Weiter ist auffallend, dass alles im Geheimen stattfin-det. Es wurde davon gesprochen, dass nicht alle Ge-schäftsgeheimnisse veröffentlicht werden können. HerrSendker, Sie haben insbesondere die A-Modelle sehr ge-lobt. Woher wollen Sie jedoch wissen, dass die A-Mo-delle wirtschaftlicher sind? Das können wir gar nicht be-urteilen. Alle Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen sindgeheim. Wir dürfen hier gar nicht darüber reden. DieseWirtschaftlichkeitsuntersuchungen liegen in der Ge-heimschutzstelle. Wir können gar nicht beurteilen, obdie Projekte wirtschaftlicher oder nicht wirtschaftlichersind.
Obwohl Projekte in Milliardenhöhe vergeben wordensind, können wir hier im Parlament nicht beurteilen, obsie wirtschaftlicher sind oder nicht. Es gibt allerdingsgewisse Hinweise. Der Bundesrechnungshof hat dieA-Modelle im Detail untersucht. Der Bundesrechnungs-hof empfiehlt, in Zukunft nur noch Projekte zu machen,die wirtschaftlich sind. Der Bundesrechnungshof hat dieZahlen gesehen. Wenn er schreibt, dass in Zukunft nurnoch Projekte verwirklicht werden sollten, die wirt-schaftlich sind, dann ist es eine logische Schlussfolge-rung, davon auszugehen, dass die vergangenen Projekteunwirtschaftlich waren. Die einzige öffentlich zugängli-che Information, von der wir wissen, ist die Aussage desBundesrechnungshofs, dass diese Projekte unwirtschaft-lich waren.
Die erste klare Forderung lautet: Die Wirtschaftlich-keitsuntersuchungen, an denen kein Privater beteiligt ist,müssen öffentlich sein, damit wir darüber diskutierenkönnen.
Die nächste eindeutige Forderung lautet: Das darfnicht zu einer Umgehung der Schuldenbremse genutztwerden. Sie reden immer von der Konsolidierung derHaushalte und weiten PPP-Projekte aus, um sozusagenüber einen Schattenhaushalt erneut massiv Schulden zumachen.
Hinzu kommt das grundsätzliche Problem, dass PPP-Projekte über 30 Jahre laufen. Wenn Sie einen Vertragüber 30 Jahre schließen müssen, dann ist er extrem dick.Für die A 1 umfasst er allein 40 Ordner. Sie müssen irreviele Risiken einpreisen. Dieses Problem prinzipiell zulösen, ist nicht einfach.Das heißt, es muss mehr Transparenz geschaffen wer-den. Die Mittel dürfen nicht zur Vorfinanzierung miss-braucht werden, und PPP-Projekte müssen dann, wennsie überhaupt durchgeführt werden, so gestaltet werden,dass sie funktionieren. Das ist bis jetzt auf Bundesebenenicht der Fall.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu-nächst möchte ich den Ansatz, grundsätzlich für einebessere Akzeptanz von ÖPP-Projekten zu sorgen, lobendhervorheben. Der vorliegende Antrag enthält viele rich-tige und wichtige Aussagen, vor allem im Hinblick aufdie vielfach pauschale, sachlich falsche und damit unbe-rechtigte Kritik an ÖPP-Projekten.Ich möchte an dieser Stelle gerne auf drei aus meinerSicht wesentliche Punkte im Zusammenhang mit ÖPPhinweisen:Erstens. Ich denke, ÖPP darf man nicht als Allheil-mittel und schon gar nicht als Alternative bei klammenöffentlichen Kassen ansehen; denn gerade für solcheFälle ist ÖPP eben nicht gedacht.ÖPP-Modelle sollten tatsächlich nur dort in Betrachtgezogen werden, wo sie Sinn machen und einen echtenMehrwert bringen. Herr Hofreiter, Sie haben es ange-sprochen: Gerade beim Autobahnbau München–Augs-burg – A-Modelle – ist es ein Mehrwert. Sie ärgert nur,dass wir mit den Maßnahmen einfach schneller vorange-kommen sind.
In allen anderen Fällen sollte man vorsichtig sein, umden Kritikern dieser Projekte nicht weiteren Nährbodenfür ihre Kritik zu bieten.Überall dort, wo ÖPP für sinnvolle Projekte ange-wandt wurde, hat es sich auch bewährt. Im Bereich desHochbaus hat man besonders bei Bildungsprojekten– Schulen – sehr gute Erfahrungen mit ÖPP gemacht.Hier waren alle Beteiligten fast ausnahmslos der Mei-
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Karl Holmeier
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nung, dass die Zusammenarbeit hervorragend funktio-niert hat, und auch die Qualität der Leistungen wurdesehr positiv bewertet.Mein zweiter Punkt, auf den ich hinweisen möchte,betrifft das Thema Transparenz. Grundsätzlich unter-stützt die CDU/CSU-Fraktion mehr Transparenz im Be-reich ÖPP. Eine möglichst hohe Transparenz erhöhtnaturgemäß auch die Akzeptanz von ÖPP in der Öffent-lichkeit; denn damit kann vielen Kritikern der Wind ausden Segeln genommen werden. Ich begrüße daher aus-drücklich die Initiative der Deutschen Bauindustrie, diemit ihrer Transparenzinitiative vom Dezember des letz-ten Jahres aktiv auf die Kritiker zugegangen ist und ih-rerseits eine begrenzte Öffnung von ÖPP-Verträgen an-geboten hat.Allerdings – und hier setzt meine Kritik am vorlie-genden Antrag ein – schießt die Opposition mit ihrer un-differenzierten Forderung nach vollständiger Transpa-renz weit über das Ziel hinaus.
Alle guten Ansätze des Antrags werden damit zunichtegemacht. Sie nehmen mit Ihrer Forderung nach uneinge-schränkter Offenlegung aller Verträge keinerlei Rück-sicht auf schutzwürdige Interessen und schon gar nichtauf rechtliche Rahmenbedingungen.Das Vergabeverfahren im deutschen Vergaberecht istauf unbedingte Vertraulichkeit ausgelegt. Dies ist zumSchutz der Bieterangebote gesetzlich vorgeschrieben.Auf diese Weise werden Bieterabsprachen verhindert,und ein effizienter Wettbewerb wird ermöglicht. Ichdenke, diese gesetzlich angelegte Vertraulichkeit ist auchrichtig so.Eine uneingeschränkte Offenlegung der ÖPP-Ver-träge verletzt darüber hinaus auch Betriebs- undGeschäftsgeheimnisse von Unternehmen. Außerdem be-steht die Gefahr, dass fiskalische Interessen der öffentli-chen Auftraggeber beeinträchtigt werden, etwa durchBieterabsprachen. Ich kann diese undifferenzierten For-derungen daher nur zurückweisen.Abgesehen davon, dass Sie die eben genanntenschutzwürdigen Interessen verletzen, erweisen Sie mitIhren Forderungen auch der Zukunft von ÖPP einen Bä-rendienst. Durch die von Ihnen geforderte vollständigeOffenlegung käme der ÖPP-Markt zum Erliegen. Keinprivates Unternehmen würde sich auf dieser Grundlagemehr als Partner zur Verfügung stellen; denn die Unter-nehmen würden ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit ge-fährden.Wenn Sie also mit der Weiterentwicklung von ÖPPeigentlich das Aus von ÖPP meinen, so sind Sie mit die-sem Antrag auf einem guten Weg. Die CDU/CSU-Frak-tion werden Sie dafür nicht gewinnen.Dritter Punkt. Ich möchte für eine weitgehendeGleichberechtigung von ÖPP und konventionellen Auf-trägen plädieren. Bei allem Verständnis für mehr Trans-parenz und mehr Akzeptanz: Die Hürden für ÖPP-Pro-jekte dürfen nicht zu hoch sein, vor allem nicht imVergleich zu konventionellen Beschaffungsmethoden.ÖPP bietet hier schon heute mehr Transparenz. Dasmuss man anerkennen, und man muss sich im Grunde angleichen Rahmenbedingungen orientieren.Wenn es gelingt, hier einen gesunden Mittelweg zufinden, dann sehe ich auch eine realistische Chance, dieAkzeptanz von ÖPP zu erhöhen und die in der letztenWahlperiode gestartete ÖPP-Initiative weiterzuentwi-ckeln. Am Ende kommt es eben, wie so häufig, auf einenguten Mittelweg und das richtige Augenmaß an.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9726 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-
Damerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wasser und Ernährung sichern
– Drucksachen 17/9153, 17/9526 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Dr. Sascha Raabe
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
Niema Movassat
Uwe Kekeritz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Dr. Christiane Ratjen-Damerau von
der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen undKolleginnen! Sehr verehrte Damen und Herren! In denletzten Tagen haben wir wunderbares Sommerwetter ge-nossen: Temperaturen über 30 Grad und strahlend blauerHimmel. Im Radio wurden wir morgens schon ermahnt,ausreichend zu trinken – mindestens 2 bis 3 Liter amTag –, das sei wichtig für die Gesundheit.
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Dr. Christiane Ratjen-Damerau
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Der Hinweis, das Trinken nicht zu vergessen, mussfür Menschen in den Entwicklungsländern befremdlich,ja skurril sein. 2 bis 3 Liter Trinkwasser pro Person ist invielen Regionen dieser Welt ein unerreichbares Ziel.1,6 Milliarden Menschen leben in Gegenden, in denendas Wasser knapp ist. Für diese Menschen entscheidet essich jeden Tag neu, ob sie genügend Wasser zum Trin-ken haben, ob sie genügend Wasser haben, ihre Pflanzenzu bewässern, oder ob sie ihre Tiere tränken können.Allerdings ist Wasser nicht nur für die direkte Nah-rungsaufnahme unerlässlich, sondern es ist auch für dieLandwirtschaft elementar. Ohne Wasser ist Landwirt-schaft nicht möglich und damit auch keine Lebensmittel-produktion. Wir brauchen circa 2 000 bis 5 000 LiterWasser, um die Nahrung eines Menschen pro Tag zu pro-duzieren. In den letzten 50 Jahren wurde die landwirt-schaftlich bewirtschaftete Fläche weltweit um 12 Prozentausgeweitet. Die Agrarerzeugung von diesen Flächenwurde in dieser Zeit um das Dreifache gesteigert.Diese enorme Steigerung der Nahrungsmittelproduk-tion hat aber entscheidend mit der Bewässerung, also mitdem Wasser, zu tun. Sollte die Weltbevölkerung wie vo-rausgesagt weiter wachsen, muss die Agrarproduktion inden nächsten 50 Jahren um 50 bis 70 Prozent gesteigertwerden und in Entwicklungsländern sogar um 100 Pro-zent. Dieses erforderliche Wachstum kann nur über einenachhaltige Produktivitätssteigerung erreicht werden, inder die Bewässerung, eben das Wasser, eine zentrale, jaentscheidende Rolle spielt.Daher benötigen wir erstens verstärkte Investitionenin moderne Methoden der Landwirtschaft, um die vor-handenen Boden- und Wasserressourcen zu schonen, dieWeiterentwicklung und Erforschung nachhaltiger Be-wirtschaftungsmethoden, insbesondere die Entwicklungganz moderner Methoden der Bewässerung, und dieWeitergabe von Wissen über Bewässerungsmethoden andie Bevölkerung in Entwicklungsländern, um Wasser ef-fizienter zu nutzen.Zweitens muss weltweit für eine effizientere Wasser-nutzung gesorgt werden. Hier sind Nutzungskonflikte zulösen und faire Regeln für den Zugang und die Nutzungvon Wasser und Land zu schaffen. Fehlen solche Rechteoder werden sie nicht durchgesetzt, werden Konflikteum Wasser und Land verschärft und eine effiziente Was-sernutzung verhindert; denn dort, wo einzelne Nutzer ei-nen privilegierten Zugang zu Wasser haben, spiegeln dieKosten des Wassers die Knappheit dieser Ressourcenicht wider. Die Folge ist Wasserverschwendung. DasGleiche passiert übrigens, wenn man Wasser kostenlosabgibt.Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Armutund dem fehlenden Zugang zu Wasser und Land, der ineiner fragilen Spirale enden kann: Gerade Kleinbauernbewirtschaften weniger ertragreiche Böden und habeneinen schlechten Zugang zu Bewässerungsmöglichkei-ten. Sie sind damit stärker als alle anderen von Wüsten-bildung und Klimawandel betroffen und können somitauch weniger Nahrungsmittel produzieren.Die entscheidende Antwort auf die Frage, ob es unsgelingen wird, eine wachsende Weltbevölkerung mitNahrungsmitteln zu versorgen, ist eine produktive undgleichzeitig schonende Nutzung der knappen Wasser-und Bodenressourcen. Dies wird uns nur mit einer mo-derneren und besseren Technik, einer guten fachlichenAusbildung und Beratung sowie verbesserten Rahmen-bedingungen gelingen. Dazu ist eine faire Zuordnungvon Zugangs- und Nutzungsrechten unabdingbar.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das siebte Millen-niumsziel, den Anteil der Menschen, die keinen Zugangzu sauberem Trinkwasser und sanitärer Grundversor-gung haben, zwischen 1990 und 2015 um die Hälfte zusenken, haben wir vor einigen Wochen erreicht. Das istein großer Erfolg.
Doch noch immer haben fast 900 Millionen Men-schen weltweit keinen Zugang zu sauberem Trinkwasserund 2,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu adäqua-ten sanitären Einrichtungen. Sauberes Trinkwasser isteine Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben. Viele,auch tödliche Krankheiten ließen sich durch sauberesTrinkwasser von vornherein verhindern. Denn Wasser istdie Quelle allen Lebens. Der Mensch kann fast 30 Tageohne Nahrung leben, aber nur drei Tage ohne Wasser.Unser Antrag zeigt einen Weg auf, wie wir in Zukunftdas Recht auf Zugang zu sauberem Wasser weltweit um-setzen wollen. Ich bitte Sie daher sehr um Unterstützungunseres Antrages.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ist Ihnen vorhin, als Sie eine Tasse Kaffee ge-trunken haben, bewusst gewesen, dass Sie damit 140 Li-ter Wasser verbraucht haben? Das war vielleicht nur einekleine Tasse, aber durch die Bewässerung der Plantagenund das Reinigen der Bohnen war der Verbrauch sohoch.Das geht bei anderen Lebensmitteln nahtlos weiter.Wenn Sie zum Beispiel 1 Kilo Brot essen, dann verbrau-chen Sie 1 000 Liter Wasser. Für die Produktion von1 Kilo Rindfleisch benötigt man 15 000 Liter Wasser.Diese Zahlen machen einen perplex, zeigen aber gleich-zeitig die Dimension des Problems auf. Denn bei einerWeltbevölkerung von etwa 7 Milliarden Menschen – biszur Mitte des Jahrtausends werden es vielleicht 9 Mil-liarden bis 10 Milliarden Menschen sein – müssen wiruns sehr bewusst sein, dass wir verantwortungsvoll undsparsam mit Wasser umgehen müssen.
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Dr. Sascha Raabe
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In Deutschland gibt es zwar klimatisch bedingt vielRegen und keine Wasserknappheit und -not, aber wirtragen durch unsere Konsumgewohnheiten auch zurWasserknappheit in anderen Ländern bei. Ich habe ge-rade das Beispiel Fleisch genannt. Ein großer Teil unse-rer Fleischproduktion erfolgt mit Futtermitteln, die inEntwicklungsländern angebaut werden, wo für die Be-wässerung viel Wasser verbraucht wird.Ein schönes Produkt, das jedes weibliche Herz er-freut, sind Rosen. Bärbel Kofler hat heute Geburtstag.Herzlichen Glückwunsch!
Ich habe dir gestern Rosen geschenkt, Bärbel. Du kannstaber gleich ein schlechtes Gewissen bekommen. DennRosen verbrauchen unwahrscheinlich viel Wasser, näm-lich täglich 60 Kubikmeter pro Hektar. Mehr als dieHälfte der nach Deutschland importierten Rosen stammtaus Kenia. Dort gibt es einen sehr großen Konflikt, weildas Wasser dort einem See entnommen wird, der für diedortige Bevölkerung wichtig ist. Das Grundwasser wirdabgesenkt. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft kommtdort ins Hintertreffen.Insofern dürfen wir nicht losgelöst von diesen Proble-men so weitermachen wie bisher. Deswegen ist es durch-aus gut – das möchte ich loben –, dass die Koalition ei-nen Antrag zu diesem Thema vorgelegt hat und wir dasThema heute auf der Tagesordnung haben. Es ist richtigund gut, dass wir heute im Deutschen Bundestag zumThema Wasser diskutieren.Wenn ich aber zu den einzelnen Punkten des Antragskomme, ist zwar in der Problemanalyse vieles richtig,aber im Forderungsteil werden nicht die Maßnahmenaufgeführt, die umgesetzt werden müssen, um das Pro-blem wirklich anzugehen. Zum Beispiel wird das ThemaLand Grabbing, zu dem auch das Water Grabbing ge-hört, nur am Rande gestreift. Land Grabbing bedeutet,dass sich ausländische Konzerne große Ländereien unterden Nagel reißen und die Produkte dann in ihre Heimat-länder exportieren; die Lebensmittel bleiben somit nichtvor Ort. Das geht auch mit einem hohen Wasserver-brauch einher. Eine wichtige Forderung wäre gewesen,die FAO-Leitlinien entsprechend umzusetzen.Es gibt auch keine konkreten Forderungen zum Be-reich der industriellen Produktion. Es reicht nicht, wennSie das Zusammenspiel zwischen Politik und Wirtschaftfordern, um die Verantwortung auf freiwilliger Basis zuverankern. Nein, wir brauchen verbindliche Regeln, da-mit die Industrie und insbesondere die Agrarindustriemit dem Wasser in den Entwicklungsländern verantwor-tungsvoll umgehen.
Genauso ein Schwachpunkt ist, dass Sie sich in IhremAntrag in erster Linie auf die privaten Versorger bezie-hen. Wasser ist ein Gut der öffentlichen Daseinsvor-sorge. Deshalb kann es nicht sein, dass nur Private, wieSie es wollen, die Wasserversorgung betreiben. Wirbrauchen auch kommunale Versorger und genossen-schaftliche Modelle; denn Wasser sollte nicht an derBörse gehandelt werden, sondern bei den Menschen an-kommen. Dorthin gehört es nämlich.
So schön Ihr Antrag in der Beschreibung ist: Wortehelfen nicht. Wir brauchen Taten. Wir sind dazu ver-pflichtet, entsprechend tätig zu werden; denn die Verein-ten Nationen haben 2010 das Recht auf Wasser und Sa-nitärversorgung als Menschenrecht anerkannt. DiesesRecht darf nicht nur auf dem Papier stehen. Es warmeine Fraktion, die im November 2010 – lange vor Ih-nen – einen Antrag in den Deutschen Bundestag einge-bracht hat, der an einer entscheidenden Stelle sehr vielkonkreter ist als Ihr heutiger Antrag. Denn in unseremAntrag wird gesagt, dass es, um die Ziele zu erreichen,notwendig ist, bis 2015 den Anteil der öffentlichen Ent-wicklungszusammenarbeit am Bruttonationalprodukt,die sogenannte ODA-Quote, wie international vereinbartauf 0,7 Prozent zu erhöhen und in Deutschland den ver-einbarten Stufenplan umzusetzen. Genau das machen Sienicht. Sie beschreiben ein Problem und sagen, wir müss-ten etwas dagegen tun, stellen aber nicht das notwendigeGeld zur Verfügung. Das ist heuchlerisch; das geht nicht.
Wenn man die Koalition, die Bundesregierung undden zuständigen Minister dafür kritisiert, wird oft ge-sagt: Geld ist doch nicht alles. – Das ist gerade im Hin-blick auf den Wassersektor eine sehr zynische Aussage.Ich war erst vor einem halben Jahr in Äthiopien undhabe gesehen, dass die Welthungerhilfe dort eine Was-serversorgung für mehrere Dörfer eingerichtet hat. Nungibt es sauberes Trinkwasser aus einem Waldbereich,das über eine entsprechende Leitung transportiert wird.Der dort eingerichtete sogenannte Wasserkiosk sorgt da-für, dass vor allem Frauen nicht mehr stundenlang Was-serkanister tragen müssen oder dass die Menschen – dasist oft noch viel schlimmer – nicht mehr das Wasser ausden Seen und Flüssen trinken müssen. Die Zähne derMenschen, die dieses Wasser trinken, sind sichtbar ge-schädigt und braun verfault.Es ist ein Dilemma, wenn Menschen nur die Wahl ha-ben, verschmutztes Wasser, das Krankheiten verursacht,zu trinken oder privaten Anbietern, die Trinkwasser perTanklastwagen anliefern, überhöhte Preise zu zahlen. Esist daher wichtig, dass wir Geld in die Hand nehmen undsolche Projekte wie das eben erwähnte der Welthunger-hilfe finanziell unterstützen. Es kann nicht sein, dass Sieein Problem richtig benennen, dass 380 Abgeordnete– darunter auch viele von Ihnen – einen Aufruf des Bun-destages unterschreiben, der zum Ziel hat, dass 1,2 Mil-liarden Euro mehr für die Entwicklungszusammenarbeitzur Verfügung gestellt werden, und dass dann der Minis-ter nur 100 Millionen Euro mehr zur Verfügung stellt. Sogeht das nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21587
Dr. Sascha Raabe
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Auch hier muss man ganz klar sagen: Nicht Worte, son-dern Taten helfen. Die Taten müssen auch finanziell un-terfüttert werden.Ich möchte zum Schluss einen Ausblick auf die Kon-ferenz Rio+20 geben. Diese Konferenz eröffnet eineneue Chance, das Thema Wasser und Ernährung interna-tional stärker zu verankern. Wir haben es mit parlamen-tarischem Druck und mithilfe der Zivilgesellschaft ge-schafft, dass der jüngste Entwurf zu dieser Konferenzauch das Menschenrecht auf Wasser beinhaltet. Hoffenwir, dass wir diesen umsetzen werden. Dazu wäre esvielleicht auch nötig, dass sich die Frau Kanzlerin be-quemen würde, persönlich nach Rio zu fahren; denn dortgeht es um die großen Menschheits- und Zukunfts-fragen. Ja, wir Sozialdemokraten sind für das Menschen-recht auf Wasser. Aber Ihren Antrag werden wir ableh-nen, weil er nicht konkret ist, weil er nur die Privaten imAuge hat und weil vor allem nicht die Mittel bereit-gestellt werden, die notwendig sind, um das Wasserpro-blem auf der Welt zu lösen.Danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Keine Frage, es gibteine Trendwende in der globalen Agrar- und Ernäh-rungspolitik. Für die gesamte Öffentlichkeit ist die glo-bale Ernährungslage inzwischen wieder ein zentralesThema. Gerade die aktuellen Beschlüsse von CampDavid zur Agrarpolitik, die ganz oben auf der Agendastanden, zeigen, wie wichtig das Thema ist. Auch dieBeschlüsse von Cannes oder die neuen Aktivitäten derG 20 betonen die Bedeutung der damit zusammenhän-genden Fragen.Wir als Koalition haben seit dem letzten Jahr deshalbintensiv auf die neuen Entwicklungen und Schwerpunktereagiert. In insgesamt drei Anträgen haben wir uns mitdiesem Bereich auseinandergesetzt. Es ging um die Ein-dämmung von Nahrungsmittelspekulation und LandGrabbing, es ging um Forschung zur Welternährung, esging um Sicherung der Welternährung, und mit dem ak-tuellen Antrag „Wasser und Ernährung sichern“ betonenwir speziell die besondere Bedeutung der RessourceWasser als Grundlage für die weltweite Ernährungs-sicherheit. Dass Wasserknappheit der häufigste Auslösereiner unsicheren Ernährungslage in vielen Ländern ist,wird immer noch oft ignoriert. Dabei sind die klima-tischen Herausforderungen, etwa Dürren, tagtäglich inder Praxis zu erleben.Ich freue mich – das muss ich sagen –, dass die Ver-treter der Opposition uns dafür loben, dass wir diesesThema auf die Tagesordnung gesetzt und dazu einen An-trag vorgelegt haben. Ich hatte mir als Resultat der bis-herigen Diskussionen der ersten Runde aufgeschrieben,dass die Opposition nichts anderes als Nörgeleien zu die-sem Antrag vorbringe; aber ich muss feststellen: Sie ha-ben die Brisanz des Themas und die umfassende Darstel-lung des Problems in unserem Antrag erfasst.
Ich muss allerdings auch heute wieder sagen: Das letztevon Ihnen vorgebrachte Argument, warum Sie unserenAntrag ablehnen wollen, kann nicht überzeugen. WennSie sagen, es werde nicht genug Geld zur Verfügung ge-stellt, liegen Sie gerade bei diesem Thema falsch.
Keine andere Regierung weltweit leistet so viel wie diedeutsche Bundesregierung zur Sicherung von Wasser-versorgung und Ernährung im internationalen Rahmen.
Deswegen zieht Ihr Argument nicht so ganz.Warum kommt nun dieser Antrag in dieser Zeit? Siehaben eben schon darauf hingewiesen: Wasser und Er-nährung gehören in den Rio-Prozess. Unsere Initiativensollen dazu beitragen, dass Wasser auch Thema imRahmen des Rio+20-Prozesses wird. Die jüngsten Ver-handlungen machen Hoffnung – um das vorsichtig zuformulieren –, dass Ernährung, Ernährungssicherung,Landwirtschaft und Wasserversorgung Toppunkte derRio+20-Verhandlungen sein könnten. Ich sage das vor-sichtig.Warum ist das von so großer Bedeutung? Die Folgensind regional sehr unterschiedlich. In Bezug auf Wasser-versorgung und Nahrungssicherung sind die Folgen inden ärmeren Regionen der Welt häufig verheerend. Wirmeinen, dass wir deswegen alles unternehmen müssen,um Dürre und Hunger mit langfristigen Maßnahmenvorzubeugen; denn gerade jetzt, da sich das Klima ver-ändert, ist die globale Ernährungssicherung verletzlicherdenn je. Deswegen müssen wir aktiv werden und Maß-nahmen ergreifen.Schon heute sind gut 40 Prozent der ErdoberflächeTrockengebiete. In diesen Regionen leben ungefähr2 Milliarden Menschen. Wir wissen – auch das ist öfterthematisiert worden –, dass verändertes Konsumverhal-ten in den Schwellenländern, seien es China, Brasilienoder andere Staaten, dazu führt, dass verstärkt Fleischals Grundnahrungsmittel nachgefragt wird. Eben ist da-rauf hingewiesen worden: Um 1 Kilo Fleisch zu erzeu-gen, brauche ich ungefähr 15 000 Liter Wasser, um1 Kilo Reis zu erzeugen, brauche ich ungefähr 1 500 LiterWasser. Das heißt, wir werden in Zukunft verstärkt mitder Knappheit der Ressource Wasser zu kämpfen haben.
Deshalb ist auch im Rahmen des UN-Weltwassertags,der am 22. März stattgefunden hat, dieses Problem the-matisiert worden, allerdings nicht in der Form, wie Sie
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21588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Helmut Heiderich
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es in Ihrem Zwischenruf getan haben, nämlich dass wirnichts mehr essen dürfen.
Wir sollten uns vielmehr Gedanken machen, wie wir dieProduktion vernünftiger gestalten können.
Ich will ferner darauf hinweisen, dass die Lage in derBewässerungslandwirtschaft sehr problematisch ist.Etwa 70 Prozent des Wassers werden für die Bewässe-rung landwirtschaftlicher Flächen benötigt. Das Beson-dere dabei ist, dass es weniger in den Industriestaaten,aber viel stärker in den Ländern der noch unterentwi-ckelten Welt zu diesen hohen Prozentsätzen kommt.Dort werden 70 bis 90 Prozent des Wassers benötigt, umNahrungsmittel zu erzeugen. Auch hier muss heuteschon über Wassermangel geklagt werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Siemich noch einmal auf die Argumente der Oppositioneingehen. Wir wollen mit unserem Antrag einen multi-dimensionalen Lösungsansatz bieten. Wir wollen mehrgrenzübergreifende Zusammenarbeit initiieren, damit esauf Ebene der Regierungen und der weltweiten Organi-sationen zu stärkeren Abstimmungen untereinanderkommt und die Versorgung besser wird.In der letzten Woche wurde der Bericht der EU überEntwicklungspolitik veröffentlicht. Herr Piebalgs hat ihnvorgestellt und gelobt. In diesem Bericht werden vieleder Forderungen, die wir in unseren Antrag eingebauthaben, ebenfalls erhoben. Insofern sehen wir uns auch andieser Stelle in guter Gesellschaft und glauben, dass wirmit unserem Antrag richtig und zielgerichtet vorgehen.In diesem EU-Bericht wird ein integriertes Vorgehen fürdie Zukunft gefordert. Ganz konkret heißt es, man brau-che eine neue Wasser-Nexus-Initiative. Das ist zum Bei-spiel auch ein Teil dessen, was wir hier vortragen.Beim Weltwasserforum Mitte März dieses Jahres inMarseille wurde die Forderung erhoben, dass die Um-weltorganisationen einen globalen und verbindlichenAktionsplan zur Lösung der Wasserproblematik, derWasserkrise und möglicher weiterer Konflikte vorlegen.Gerade in Anbetracht des Rio+20-Gipfels muss dasThema Wasser unseres Erachtens stärker in den interna-tionalen Fokus rücken, als das bisher der Fall war.Ich will ein erfolgreiches Beispiel dazu aufführen: dieschon 1999 gestartete Nilbecken-Initiative, deren Ziel esist, die Wasserressourcen im Einzugsgebiet dieses gro-ßen Flusses gemeinsam zu entwickeln und zu nutzen.Diese Initiative hat bisher insbesondere auf vertrauens-bildende Maßnahmen gesetzt und versucht, politischeDialoge und eine abgestimmte Entwicklung zu errei-chen. Dazu hat es eine Reihe von politischen Fortschrit-ten gegeben. Trotzdem ist es bis heute nicht gelungen,darüber ein völkerrechtliches Abkommen zwischen denNil-Anrainern zu schließen. Das zeigt, wie die Dimen-sionen bei solchen Abkommen und solchen Entwicklun-gen sind. Deswegen müssen wir auch immer und ver-stärkt am Ball bleiben, um die Dinge voranzubringen.Ähnliche Initiativen sind inzwischen in Wasserkon-flikten in Senegal, Mali und Mauretanien, in Libyen undAlgerien sowie in Brasilien, Argentinien, Paraguay undUruguay gestartet – und wir alle wissen, dass es interna-tional noch wesentlich mehr Konflikte um das Wassergibt.Auf lokaler Ebene – das ist die dritte Ebene diesesAntrags – muss den Kleinbauern in den Entwicklungs-ländern und den Kleinunternehmern ein besserer Zugangzur Bewässerung ermöglicht werden. Der Schlüssel dazuist, wie eben bereits angedeutet wurde, eine effiziente,kostengünstige und einfache Technologie, die den kli-matischen Veränderungen entgegenwirkt und den Klein-landwirten die Möglichkeit gibt, Ernteausfällen entge-genzuwirken.Ebenso können ausländische Direktinvestitionen hel-fen, wenn sie genutzt werden, um neue und effizienteTechnologien in diese Länder zu bringen. Insofern set-zen wir ebenso wie die G 8 bei ihrem letzten Gipfel da-rauf, diese privaten Direktinvestitionen zu nutzen undsie zusammen mit den öffentlichen Investitionen einzu-bringen.Herr Kollege Raabe, die Bundeskanzlerin hat sich inihrer Regierungserklärung am 10. Mai 2012 – das istnoch nicht so lange her – ebenfalls für verbesserte Rah-menbedingungen für private Investitionen in Entwick-lungs- und Schwellenländern ausgesprochen und insbe-sondere darauf verwiesen, dass die Menschen auf demafrikanischen Kontinent durch diese gemeinsame Vorge-hensweise der G 8 besonders profitieren können. Inso-fern ist auch der Bundeskanzlerin dieses Thema nichtunbekannt.
– Deutschland hat so viel wie kein anderes Land – dashabe ich eben schon einmal gesagt – Geld in die interna-tionale Unterstützung von Wasser und Wasserwirtschaftinvestiert. Dass Sie immer wieder auf die ODA-Quoteund den damit verbundenen allgemeinen Rahmen rekur-rieren, ist diesem Thema nicht angemessen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ist dasZiel unseres Antrags? Wir wollen konkrete Problem-lösungsansätze bieten. Sie haben eben zum Teil zu Rechtgesagt, dass diese Ansätze in unserem Antrag erwähntsind. Wir wollen einen stärkeren Aufbau internationalerOrganisationen und Strategien. Wir wollen auch die Ein-beziehung des Privatbereichs in diese Strategien, damitwir zu einem besseren Wassermanagement und zu einerbesseren Grundlage für die Ernährungssicherung auf un-serem Globus kommen. Wir sind uns sicher, dass dieserAntrag dazu einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Ichwill mit Blick auf die Zukunft sagen: Die Weltwasser-woche in Stockholm, die im August dieses Jahres statt-finden wird, hat zum ersten Mal „Water and Food Secu-rity“ zum Thema. Ich glaube, da sind wir auf dem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21589
Helmut Heiderich
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richtigen Weg. Ich würde mich freuen, wenn die Opposi-tion, soweit es ihr möglich ist, die entsprechenden Initia-tiven mit unterstützt.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Helmut Heiderich. – Nächster
Redner ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
Niema Movassat. Bitte schön, Kollege Movassat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
morgens aufstehen, gehen wir ins Bad und drehen den
Wasserhahn auf. Auf dem Land in Uganda dagegen lau-
fen Frauen morgens stundenlang zum Brunnen, um Was-
ser zu holen. Während dort jeder Tropfen zum Überle-
ben zählt, lassen wir den Wasserhahn hier schon mal
laufen. Diese weltweite Ungerechtigkeit der Wasserver-
teilung gehört entschieden bekämpft.
Über 1 Milliarde Menschen haben zum jetzigen Zeit-
punkt keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jedes
Jahr sterben an den Folgen 2 Millionen Menschen. Jeder
weiß, dass die Weltbevölkerung weiter wachsen wird,
und jeder weiß, dass wir für mehr Menschen mehr Le-
bensmittel und mehr Wasser brauchen. Das lebensnot-
wendige Nass wird in Zukunft noch knapper werden.
Dabei ist Wasser ein Menschenrecht – ein Menschen-
recht, das tagtäglich massiv verletzt wird. Entschiedenes
Handeln ist nötig, um es endlich durchzusetzen.
Aber Ihr Antrag, der der Koalition, ist dazu nicht ge-
eignet. Sie kommen in Ihrem Antrag mit einer Idee, die
hierzulande schon fulminant gescheitert ist: Wasser-
privatisierung. Sie wollen, dass Entwicklungsländer die
Wasserversorgung an Privatunternehmen abtreten, an
Unternehmen, die anschließend auch die Ärmsten der
Armen, die es sich gar nicht leisten können, zur Kasse
bitten. Das ist Hohn auf jedes Menschenrecht.
Wir wissen doch, wo das hinführt: Die Privatisierung
des Wassersektors in Großbritannien in den 1990er-
Jahren hat zu Preissteigerungen von über 50 Prozent
geführt. In Bolivien, in Cochabamba, kam es bei der
Wasserprivatisierung, die auch von der deutschen
Entwicklungsorganisation GTZ empfohlen wurde, zu
Preissteigerungen von 150 Prozent. Dadurch kam es zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen 35 Men-
schen starben.
Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen fordern Sie
von der Koalition die Privatwirtschaft auch noch auf, in
das Wassergeschäft einzusteigen, und Sie unterstützen
das Ganze über öffentlich-private Partnerschaften mit
Steuergeldern. Für die Privatunternehmen wird der Was-
sersektor mit zunehmender Wasserknappheit ja auch in-
teressanter; denn was knapp ist, ist lukrativ. Sie sagen:
Privatunternehmen sind prädestiniert, eine effiziente lo-
kale Wasserversorgung zu gewährleisten. Ich sage: Sie
machen sich damit zu Wasserträgern der Privatunterneh-
mer.
Zu einem zweiten Punkt Ihres Antrags. Um gegen die
Wasserknappheit vorzugehen, möchten Sie verstärkt auf
gentechnisch veränderte Pflanzen setzen.
Das ist ein großer Fehler; denn der Markt für gentechnisch
veränderten Mais, Weizen, Reis und Soja wird von weni-
gen Unternehmen kontrolliert, allen voran Monsanto,
DuPont und Syngenta. Diese beherrschen drei Viertel
des weltweiten Saatguthandels. Deren Technologie treibt
Kleinbäuerinnen und -bauern in die Abhängigkeit. Die
Bauern müssen jedes Jahr neues, teures Saatgut von
Monsanto und Co kaufen; sie können es nicht, wie sonst
üblich, selbst herstellen. Die Ernteerträge sind aber oft
geringer, als ihnen versprochen wurde. Um das teure
Saatgut bezahlen zu können, müssen die Bauern Kredite
aufnehmen. Mangels ausreichender Erträge können sie
diese aber nicht zurückzahlen. Über 200 000 indische
Bauern haben in den letzten Jahren deswegen Selbst-
mord begangen. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, noch
mehr Kleinbauern von einigen wenigen Multis abhängig
zu machen!
Was in Ihrem Antrag zudem ausgeblendet wird und
was auch Sie, Herr Heiderich, in Ihrer Rede ausgeblen-
det haben, ist unsere Wirtschafts- und Lebensweise, die
zu einem großen Teil für den Wassermangel im Süden
verantwortlich ist.
Erdbeeren im Winter aus Marokko, ganzjährig Rosen
aus Äthiopien – für unsere Lebensweise müssen viele
Entwicklungsländer ihr weniges Wasser verschwenden.
Die Ressource Wasser muss zuerst für die Menschen da
sein, die in dem Land leben. Deshalb muss gegen diese
Form von Wasserraub vorgegangen werden.
Wir als Linke sagen Ja zum Menschenrecht auf Was-
ser, Ja zu einer gerechten Verteilung der Wasserressour-
cen, Ja zu einer besseren Unterstützung von Kleinbau-
ern, Nein zu Privatisierungen, Nein zu Gentechnik und
deshalb auch Nein zu Ihrem Antrag.
Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Niema Movassat. – NächsterRedner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
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21590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Kollege Uwe Kekeritz. Bitte schön, Herr KollegeKekeritz.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich auf den Antrag der Koalition eingehen,
den ich zunächst einmal sehr positiv finde. Sie greifen
ein sehr zentrales, wichtiges Thema auf und tragen dazu
bei, dass man darüber diskutiert. Ich hoffe, dass Sie in
Zukunft dann auch für Anregungen offene Ohren haben
und sich ihnen nicht verweigern.
Ihr Antrag enthält partiell sehr richtige Analysen. Er
zeigt sehr gut auf, wie bedrohlich die Situation ist. So
schreiben Sie völlig zu Recht – das ist ein Beispiel; Sie
geben viele an –:
Gerade im Nahen Osten ist zu beobachten, dass die
Frage der Ernährungssicherheit und der Wasserver-
sorgung immer mehr eine Frage von Frieden und
Sicherheit wird.
Sie nennen in Ihrem Antrag auch sehr viele unter-
schiedliche Forschungsansätze, um zukünftig das Was-
sermanagement zu verbessern. Richtigerweise stellen
Sie auch fest, dass die einzelnen Aufgabengebiete viel
zu inkohärent bearbeitet werden.
Das ist allerdings schon der positive Teil Ihres An-
trags.
In Ihrem Antrag verpassen Sie es leider, zentrale Fra-
gen aufzugreifen. Der Kollege Raabe hat das schon er-
wähnt: Sie sprechen nicht das Thema Land Grabbing an.
Sie sprechen nicht die großflächigen Rodungen und die
verminderte Wasser- und CO2-Speicherfähigkeit von
übernutzten Böden an. Mit keinem Wort wird das er-
wähnt. Welch gigantische Wassermengen in Staaten wie
Niger, Tansania, Namibia für die Urangewinnung verlo-
rengehen, wird nicht erwähnt. Das ist ganz wichtiges
Wasser, das die Menschen für ihre Tiere und für ihre
Pflanzen selbst brauchen. Aber dort wird es für unseren
Atomstrom verwendet.
Außerdem sehe ich in Ihrem Antrag sehr viele techni-
sche Lösungsmöglichkeiten. Man gewinnt leicht den
Eindruck, dass Sie deutsches technisches Denken ein-
fach auf afrikanische und asiatische Verhältnisse übertra-
gen. Diese Lösungsvorschläge mögen viel moderne
Technologie beinhalten, aber die dahintersteckende
Denke basiert auf einer völlig veralteten Technologie-
gläubigkeit.
Die Konsequenz, die Sie eigentlich ziehen müssten,
aber nicht ziehen, wäre eine fortschrittliche, moderne
Agrarproduktion, wie sie uns zum Beispiel im Welt-
agrarbericht 2008 aufgezeigt wird.
– Den haben sie schon gelesen; den ignorieren sie nur. –
Auch das Institut für Technikfolgenabschätzung schlägt
in seinem jüngsten Gutachten genau in die gleiche
Kerbe. Wir haben zuhauf Beispiele dafür, wie es funk-
tioniert. Ein Beispiel sei Ihnen genannt: SEKEM, ein
4 000 Hektar großes Projekt in der ägyptischen Wüste,
40 Kilometer südlich von Kairo. Diese 4 000 Hektar
wurden in fruchtbares Land verwandelt. 2 000 Men-
schen haben dort Arbeit gefunden.
Auch fehlt in Ihrem Antrag der Zusammenhang mit
unserer Verantwortung. Wie schaut es denn aus mit un-
serer Wirtschafts- und Exportpolitik? Wir überschwem-
men die Märkte mit hochsubventionierten Lebensmitteln
– das geht von Getreide über Hähnchen bis hin zu
Milchprodukten – und räumen Afrikas Fischbestände
leer. Was bleibt den Menschen dort im ländlichen Raum?
Sie verlassen den Raum, gehen in die Slums und vergrö-
ßern diese.
Sie wissen, dass die Industriestaaten ihre landwirt-
schaftliche Produktion täglich mit 1 Milliarde Dollar
subventionieren. Ich habe mich nicht versprochen: täg-
lich mit 1 Milliarde Dollar. Die Entwicklungsländer ha-
ben überhaupt keine Chance, dagegenzuhalten. Wir ma-
chen sie damit kaputt.
In Ihrem Antrag versäumen Sie ferner, zu erwähnen,
dass unsere Lebensweise Haupt- oder zumindest Mitver-
ursacher vieler Probleme ist. Überall werden Wälder ab-
geholzt. Auf dem gewonnenen Land wird dann Futter
für unsere Schweine, Rinder und Hühner produziert. Ich
gehe nicht darauf ein – Sie haben es gesagt –: Für jedes
Kilogramm Fleisch werden 15 000 Liter Wasser ver-
braucht; dieses Fleisch importieren wir zu einem großen
Teil aus Argentinien.
Ich frage mich – ich bin gleich fertig, Herr Präsident –:
Warum überschreiben Sie Ihren Antrag mit „Wasser und
Ernährung sichern“? Sie gehen auf das Thema „sichern“
mit keinem Wort ein. In diesem Zusammenhang wäre
die Ernährungssouveränität ein zentrales Thema. Dann
wäre der Antrag glaubwürdig. Ihre Politik geht nicht auf
die Ernährungssouveränität dieser Länder ein. Deswe-
gen ist Ihr Antrag lückenhaft. Sie lassen die zentralen
Positionen aus. Daher müssen wir Ihren Antrag negativ
bewerten. Einen Antrag, der nicht das Wesentliche sagt,
kann man nicht unterstützen. Man müsste ihn als einen
Schaufensterantrag bezeichnen. Wenn Sie sich den For-
derungskatalog anschauen, dann sehen Sie –
Sie haben etwas versprochen.
– ich bin fertig –: 90 Prozent Ihrer Forderungen wer-den schon umgesetzt. Deswegen ist ihr Antrag einSchaufensterantrag.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21591
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Vielen Dank, Herr Kollege Uwe Kekeritz. – Sie wa-
ren der letzte Redner in dieser Debatte.
Somit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP mit dem Titel „Wasser und Ernährung si-
chern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9526, den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9153 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-
genprobe! – Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Vorsichtshalber: Enthaltungen? – Keine. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Überweisung des Goldstone-Berichtes an den
Internationalen Strafgerichtshof durch den
UN-Sicherheitsrat
– Drucksachen 17/6339, 17/7532 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Gauweiler
Günter Gloser
Dr. Rainer Stinner
Stefan Liebich
Kerstin Müller
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es wider-
spricht niemand. Dann ist dies auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in dieser
Aussprache ist für die Fraktion der FDP unsere Kollegin
Frau Birgit Homburger. Bitte schön, Frau Kollegin Birgit
Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal möchte ich sagen, dass ich es für schwernachvollziehbar halte, dass dieser Antrag heute Abendim Deutschen Bundestag nochmals diskutiert wird; dennzwischenzeitlich ist allen Beteiligten klar, dass wesentli-che Vorwürfe, wie sie im Goldstone-Bericht enthaltensind, so nicht zutreffen und so nicht erhoben werdenkönnen. Deswegen wäre die richtige Reaktion vonseitender Linken gewesen, nicht auf einer Debatte zu bestehen,sondern den Antrag zurückzuziehen.
Die FDP hat sich im Zusammenhang mit der Aufklä-rung der Ereignisse um die Gaza-Flottille immer für einevollständige und auch unparteiische Aufklärung der Vor-würfe durch die beteiligten Parteien eingesetzt. DieseEreignisse waren mehrfach Thema im Deutschen Bun-destag, sowohl im Plenum als auch in den zuständigenAusschüssen. Diese Diskussion schließt die nötige Kri-tik an Israel, aber eben auch an der Hamas ein.Sie fordern, die Empfehlungen des Goldstone-Berichts dem Internationalen Strafgerichtshof vorzule-gen. Unsere Haltung ist, dass der Menschenrechtsrat derUN der einzige Ort ist, an dem der Goldstone-Berichtbehandelt werden sollte. An dieser Haltung hat sich seitder letzten Beratung nichts, aber auch gar nichts geän-dert. Es war der Menschenrechtsrat der Vereinten Natio-nen, der am 3. April 2009 die Untersuchungskommis-sion einsetzte. Er ist deshalb auch der richtige Ort, andem dieser Bericht behandelt werden sollte. Deshalbsind wir nach wie vor entschieden dagegen, ihn an wei-tere Gremien zu überweisen.
Der Antrag lässt die nötige Ausgewogenheit vermis-sen. Ich will das an einem einzigen Beispiel deutlich ma-chen – man könnte viele Beispiele aus diesem Antragherausziehen –: Sie sagen, dass mutmaßliche israelischeKriegsverbrechen nicht aufgeklärt worden seien.
Der Hamas ersparen Sie solche Vorwürfe. Fakt ist: Na-türlich hat auch die israelische Regierung Fehler ge-macht, aber sie hat immerhin Ermittlungen eingeleitet,sie hat Soldaten bestraft, die sich Verbrechen gegen Zivi-listen schuldig gemacht haben. Die Hamas hingegen hatkeinerlei Untersuchungen über den Raketenbeschuss ausdem Gazastreifen eingeleitet, der klar gegen Zivilistengerichtet war. Diese Unausgewogenheit in Ihrem Antragist so nicht hinzunehmen. Deshalb werden wir diesemAntrag auf keinen Fall zustimmen können.Die Hamas hat von zivilen Einrichtungen, von Wohn-häusern aus operiert; sie hat auf von Menschen bewohn-ten Häusern Waffen platziert. Sie hat also nichts anderesgetan – nicht mehr und nicht weniger –, als Zivilisten alsmenschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Eine sol-che Haltung ist menschenverachtend. Wenn Sie einensolchen Antrag stellen, dann müssen Sie auch diese Tat-sachen berücksichtigen und können nicht nur eine Seiteins Visier nehmen.
Darüber hinaus ist die Asymmetrie des Konfliktsnicht ausreichend gewürdigt. Sie können nicht Hamasund Israel auf eine Stufe stellen. In Ihrem Antrag findetsich kein Wort dazu, dass die Hamas keine normale Or-ganisation ist. Aus meiner Sicht und aus der Sicht mei-ner Fraktion ist die Hamas nach wie vor eine Terrororga-nisation. Das muss an dieser Stelle noch einmalausdrücklich gesagt werden.
Der Antrag ist also unausgewogen; er hat mit derAufklärung der Vorwürfe nichts zu tun. Aus meiner
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21592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Birgit Homburger
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Sicht ist er rein politisch motiviert. Hinzu kommt, dassder Goldstone-Bericht fehlerhaft ist. Man findet darinbeispielsweise kein Wort zum legitimen Sicherheitsinte-resse Israels.
Es ist für Deutschland schlicht und ergreifend undenk-bar, einen solchen Bericht zu unterstützen.Inzwischen geben Sie selbst zu, dass Richard Gold-stone den Bericht mit dem heutigen Wissen ganz andersverfassen würde.
Er hat sich zwischenzeitlich in mehreren Artikeln per-sönlich geäußert und deutlich gemacht, dass der Berichtfehlerhaft ist und dass er ihn mit dem heutigen Wissen sonicht mehr verfassen würde. Unter anderem hat er her-vorgehoben, dass das israelische Militär im Gegensatzzur Hamas eben nicht absichtsvoll auf Zivilisten gezielthabe.
Das ist ein erheblicher Unterschied.Deshalb halte ich abschließend fest: Erstens. DieGrundlage für Ihren Antrag, der Goldstone-Bericht, istfehlerhaft. Zweitens. Ihr Antrag ist unausgewogen. Drit-tens. Darüber hinaus sind etliche Forderungen aus demAntrag zwischenzeitlich erfüllt; beispielsweise hat sichdie Generalversammlung der UN mit dem Thema be-fasst, ebenso wie der Menschenrechtsausschuss der UN.Israel hat einige der Empfehlungen umgesetzt.Allerdings wurde keine der Forderungen umgesetzt,die an die Hamas gerichtet waren. Vor diesem Hinter-grund kann ich nur feststellen: Ihr Antrag ist überholt.Wir werden dem Antrag auch aus diesem Grunde nichtzustimmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Birgit Homburger. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Günter Gloser. Bitte schön, Kollege Günter
Gloser.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sprechen hier und heute nicht zum ersten Mal übereinen Antrag der Linken zum sogenannten Goldstone-Bericht. Schon 2010 nutzte die Linke den Bericht zu ei-ner eingehenden Kritik an Israel. Schon damals wurdenvon der Linken die möglichen Menschenrechtsverlet-zungen Israels ausführlich besprochen, die offensichtli-chen und eklatanten Verbrechen der Hamas und andererPalästinensergruppen aber kaum erwähnt. Das Ungleich-gewicht des ersten Antrags von 2010 bestand in der An-klage des einen Konfliktpartners, nämlich Israels, undim Verschweigen der Verantwortung des anderen, näm-lich der De-facto-Regierung des Gazastreifens, der Ha-mas.Das setzt sich nun bei der Frage der juristischen Auf-arbeitung fort. In Israel sind 400 juristische Verfahren inGang gebracht worden. Viele davon sind bereits abge-schlossen. Der Kommissionsvorsitzende und Namenge-ber des Berichts, Richard Goldstone, hat festgestellt,dass die Kommission viele Einzelergebnisse im Lichteder Erkenntnisse aus diesen Verfahren anders bewertethätte. In Gaza ist nicht ein einziges Verfahren gegen Ra-ketenbauer, Folterer oder Entführer eröffnet worden.Diesen Unterschied muss man doch erkennen und auchklarstellen, wenn man vorgibt, über die Frage der Ge-rechtigkeit verhandeln zu wollen.
Stattdessen ist im vorliegenden Antrag lapidar zu le-sen:Auch gegen bewaffnete palästinensische Gruppenwird der Vorwurf der Kriegsverbrechen und derVerbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben.Sonst steht darüber nichts. Auf diese Art und Weise hel-fen Sie mit, ein Bild Israels als alleiniger Aggressor zuzeichnen. Auf die Raketenangriffe auf das TerritoriumIsraels, die der Militäraktion Israels in Gaza vorausge-gangen waren, wird überhaupt nicht eingegangen. Wennman Ihren Antrag liest, bekommt man den Eindruck, Is-rael hätte gar keinen Grund gehabt, in Gaza einzugrei-fen. Das hilft der Sache nicht. Im Gegenteil: Es diskredi-tiert in vielen Punkten berechtigte Kritik an Israel.Die Tendenz ist erkennbar: Sie überhöhen sich wiedereinmal selbst und fühlen sich gut dabei, weil Sie glau-ben, die alleinige Wahrheit zu kennen und über andereurteilen zu können. Die Kritik an Israel hat für Sie vonder Linken einen besonderen Reiz. Sie meinen, dass Siesich gegen den Mainstream stellen, indem Sie endlicheinmal die Wahrheit sagen. Solche Effekthascherei ver-urteile ich als Sozialdemokrat ausdrücklich; denn in derTradition der historischen Verantwortung Deutschlandsfür die Sicherheit Israels, aber auch in der Verantwor-tung für die Lebensperspektiven der Palästinenser wähleich lieber den Weg des Differenzierens statt der einseiti-gen Anklage.Ich stelle fest: Die Politik der Hamas, Israel mit Rake-ten anzugreifen oder durch geduldete Terrorgruppen an-greifen zu lassen, war purer Terrorismus und durchnichts zu rechtfertigen. Israel hat wie jedes andere Landder Erde das Recht, sich gegen eine solche Aggressionzu wehren, egal ob sie von innen oder von außen kommt.Ich stelle aber ebenso fest: Bei der Erstürmung des Ga-zastreifens ist es zu einer inakzeptabel hohen Zahl vonzivilen Opfern unter der palästinensischen Bevölkerunggekommen. Durch die Weigerung Israels, an der interna-tionalen Aufarbeitung der Vorgänge mitzuwirken, bliebin der Tat lange Zeit der Eindruck bestehen, dass Israel
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21593
Günter Gloser
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bewusst nicht nur militärische Ziele angriff, sondernauch der Bevölkerung die wichtigste Infrastruktur unddamit die Lebensgrundlage entziehen wollte, um die Be-wohner Gazas für ihre Unterstützung der Hamas zu be-strafen.Dieser Vorwurf ist bis heute nicht bewiesen, aberauch nicht endgültig widerlegt worden.
Daran haben auch die erheblichen juristischen Anstren-gungen in Israel zur Klärung der Verantwortung Einzel-ner für bestimmte Vorfälle nichts geändert. Das hat demAnsehen Israels in der Welt in einer wirklich schwieri-gen Zeit nachhaltig geschadet.Die Regierung Israels hat den Interessen des Landesdurch ihre Blockadehaltung einen schlechten Dienst er-wiesen und damit unnötigerweise der Hamas zu weiterenPropagandaerfolgen verholfen. Die Stärke Israels ist dieStärke eines Rechtsstaats, ist die eines demokratischen,eines offenen Landes. Leider hat Israel im Fall des Gaza-Krieges diese Stärke weder während der Kampfhandlun-gen noch danach voll zur Geltung gebracht.Nun zur Kernforderung des Antrags, zur Überwei-sung des Goldstone-Berichts durch den Sicherheitsratder Vereinten Nationen an den Internationalen Strafge-richtshof. Ich spreche Ihnen nicht das Recht ab, so vor-zugehen, aber man muss schon entgegenhalten, dass esaussichtslos ist, den Sicherheitsrat zu einem solchenSchritt aufzufordern. Mindestens die Vereinigten Staatenvon Amerika würden sich dem mit einem Veto entgegen-stellen. Es handelt sich also um einen Schaufensteran-trag, der in dem Bewusstsein gestellt wird, dass sein Zielunerreichbar ist.Zudem fällt es den Antragstellern erkennbar schwer,die schon erwähnten 400 Einzelverfahren, die es auf is-raelischer Seite gegeben hat, wegzudiskutieren. Die Er-gebnisse dieser Verfahren stellen zwar auch mich nichtin jedem Punkt zufrieden, auch ich habe eine MengeFragen an die israelische Regierung, was die Zielrich-tung, die Strategie, die Wahl der militärischen Mittel unddie politische Gesamtverantwortung für diese Militärak-tion angeht. Doch ich kann nicht verstehen, wie man die-ses erhebliche Maß juristischer Aufarbeitung im Rah-men eines Rechtsstaats auf eine Stufe stellen kann mitdem völligen Unrechtszustand, der im Gazastreifen un-ter der Kontrolle der Hamas besteht. Deshalb kann ichdie Aufforderung an den Sicherheitsrat, Israel und dieHamas hier sozusagen gemeinsam auf die Anklagebankder Welt zu setzen, nicht mittragen. Dieser Antrag ist un-ausgewogen. Er trägt auch nicht zur Wahrheitsfindungbei und ist deshalb angreifbar. Deshalb findet er auchnicht die Zustimmung der SPD-Bundestagsfraktion.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Günter Gloser. – Nächster Red-
ner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Johann Wadephul. Bitte schön, Kollege Dr. Wadephul.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich möchte dem Kollegen Gloser ausdrücklichdanken. Ich kann seine Aussagen hier nur unterschrei-ben. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass die sozialde-mokratische Fraktion diesen Antrag heute ablehnenwird. Im Ausschuss sind Sie, wenn ich das richtig gese-hen habe, bei einer Enthaltung stehen geblieben. NachIhren eindeutigen Aussagen heute ist, glaube ich, eineAblehnung konsequent und richtig.
In der Tat diskutieren wir zum wiederholten Male die-sen Antrag der Linksfraktion. Der Sachverhalt muss inmehrerlei Hinsicht richtiggestellt werden. Das ist durchdie Vorredner auch schon geschehen. Dennoch will ichnochmals darauf hinweisen, dass Israel mit militärischerGewalt auf den zuvor länger andauernden Raketen- undMörserbeschuss durch Hamas-Milizen auf israelischeZivilisten – das geschah zum Teil aus Zivilgebäuden –geantwortet hat. Der Einsatz forderte in der Tat zahlrei-che Todesopfer und beklagenswerterweise auch einehohe Zahl von zivilen Opfern. Das kann überhaupt nichtnegiert werden. Wir fanden es auch richtig, dass der VN-Menschenrechtsrat am 3. April 2009 eine Kommissionzur Untersuchung möglicher Verletzungen des humani-tären Völkerrechts bzw. von internationalen Bestimmun-gen zum Schutze der Menschenrechte eingesetzt hat.Am 15. September 2009 legte Richard Goldstone sei-nen Bericht vor, der zu Recht seinen Namen trägt. Er hatdurch seine Tätigkeit in Südafrika, aber auch vor den In-ternationalen Strafgerichtshöfen für das frühere Jugosla-wien und Ruanda eine hohe Reputation. Ich denke, siebesteht auch weiterhin. Er kam zu deutlichen Ergebnis-sen und forderte beide Konfliktseiten auf, innerhalb vonsechs Monaten entsprechende eigene strafrechtliche Un-tersuchungen einzuleiten.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hält das Abstim-mungsverhalten Deutschlands – wie das die KolleginHomburger vorhin schon ausgeführt hat – in der UNnach wie vor für richtig. Wir sind mit der Bundesregie-rung, Herr Staatssekretär, der Auffassung, dass eine Ver-weisung an den Internationalen Strafgerichtshof nichtgeboten ist. Die Bundesregierung hat zu Recht stets be-tont, dass der UN-Menschenrechtsrat als Auftraggeberdas geeignete Gremium ist, welches sich mit der Aufar-beitung und den Folgen eines selbst beauftragten Be-richts zu befassen hätte. Vorverurteilungen und Verwei-sungen an andere Gremien ist die Bundesregierung stetsentgegengetreten. Dies ist und bleibt richtig. Deshalbstimmte Deutschland wie weitere EU-Staaten, die USAund, nicht ganz überraschend, auch Israel gegen diesenBericht.Später hat es dann die Einsetzung eines Expertenko-mitees, der sogenannten Davis-Kommission, gegeben.Dieses Expertenkomitee, auf Beschluss des Menschen-rechtsrats von der Hochkommissarin für Menschen-rechte der Vereinten Nationen eingesetzt, hat dann einen
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21594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dr. Johann Wadephul
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Bericht vorgelegt. Der war aus unserer Sicht sehr inte-ressant und wird von Ihnen, sehr geehrte Kollegen vonder Linksfraktion, in weiten Teilen übersehen.Zum einen ist festzuhalten, dass die israelische Armeeimmerhin 400 Untersuchungsverfahren eingeleitet hat,die auch in 52 Fällen zu strafrechtlichen Ermittlungengeführt haben. In der Tat sind – das soll nicht verschwie-gen werden – eine langsame Durchführung dieser Ver-fahren, eine fehlende Unparteilichkeit und auch einemangelnde Transparenz dieses Verfahrens kritisiert wor-den. Als Freunde Israels stehen wir nicht an, dieses auchanzusprechen.Insbesondere ist aber festgehalten worden – das fehltin Ihrem Bericht völlig –, dass die Palästinenserseite,also die De-facto-Regierung der Hamas, überhaupt keineUntersuchungen durchgeführt hat. Ich fordere Sie aus-drücklich auf, da Sie auf diese Aussprache heute bestan-den haben, diese Gelegenheit zu nutzen und Ihren An-trag in diesem wesentlichen Punkt klarzustellen. StellenSie klar, dass die Hamas überhaupt keine Untersuchungdurchgeführt hat, und beheben Sie diesen klaren unddeutlichen Mangel Ihres Antrags. Im Ausschuss habenSie es nicht getan, und im Antragstext findet sich dasnicht. Sie haben jetzt hier Gelegenheit, das nachzuholen.
Bitte nehmen Sie auch Stellung zu dem, was der ehe-malige Leiter der Kommission in der Washington Postvom 2. April 2011 in einer bemerkenswerten Korrekturseiner Arbeit gesagt hat. Goldstone räumte nämlich ein,dass der Bericht ein anderer geworden wäre, wenn er beiVerfassung des Berichts all das gewusst hätte, was ernun wisse. Ich will ausdrücklich hinzufügen: Es wärewünschenswert gewesen, wenn beide Seiten, auch Israel,der Goldstone-Kommission Gelegenheit gegeben hätten,die Erkenntnisse zu gewinnen, über die man später ver-fügte. Das kann hier durchaus auch einmal gesagt wer-den.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Lin-ken, Sie konnten diese Aussage natürlich nicht vollkom-men übersehen. Dennoch lassen Sie Wesentliches außerBetracht und werten diesen Artikel von Herrn Goldstonein der Washington Post einseitig aus. Das ist das Bemer-kenswerte, was wir an dieser Stelle feststellen müssen:Sie – das gilt zumindest für die Teile der Linksfraktion,die diese Sache vorantreiben – wollen dieses VN-Ver-fahren ganz bewusst politisieren und gegen Israel einset-zen, und das ist nicht in Ordnung.
Ich konnte feststellen, dass etwa Gregor Gysi denVersuch unternommen hat, in der Linkspartei, in dermanches in Unordnung geraten ist, eine positive Einstel-lung zum Staat Israel, zum jüdischen Volk, zum Exis-tenzrecht Israels zu finden. Das findet in Ihrer Fraktionoffensichtlich keinen Rückhalt.
Die Ressentiments gegen Israel sind in Ihrer Fraktionweit verbreitet, und sie finden ihren Ausdruck in einemderart parteiischen Antrag wie dem, der hier vorgelegtwurde. Das muss klar gesagt werden.
Ihre Forderung, den Goldstone-Bericht an den Inter-nationalen Strafgerichtshof zu überweisen, lehnen wirab. Fragen, die der Goldstone-Bericht aufwirft, müssenvom VN-Menschenrechtsrat behandelt werden, da diesdas Gremium ist, welches den Bericht in Auftrag gege-ben hat.Die ausschließliche Behandlung durch den Men-schenrechtsrat hätte die Chance auf eine strafrechtlicheVerfolgung möglicher Rechtsverletzungen im Übrigennicht beeinträchtigt. Wir sind eindeutig dafür, dass Ver-letzungen des humanitären Völkerrechts geahndet wer-den. Wir sind aber auch eindeutig dafür, dass diese Ver-letzungen auf nationaler Ebene strafrechtlich aufge-arbeitet werden. Dazu fordern wir beide Seiten nach wievor auf. Diesbezüglich gibt es überhaupt nichts zu relati-vieren. Eine Überweisung an den Internationalen Straf-gerichtshof wäre in diesem Fall überhaupt keine Hilfe.Ich möchte abschließend feststellen, dass es in Israelpositive Ansätze zur Aufarbeitung gegeben hat. DieseAufarbeitung kann aus unserer Sicht fortgeführt werden.Wir können aber auch feststellen, dass die palästinensi-sche Seite überhaupt nichts unternommen hat. Die paläs-tinensische Seite ist dringend aufgefordert, wenn sieweiterhin ernst genommen werden will, endlich ihrer-seits eine strafrechtliche Aufarbeitung in Angriff zu neh-men. Wenn sie ernsthaft den Anspruch erheben will, ir-gendeine Form der Staatlichkeit zu sein und zubegründen, dann muss sie offenkundige Verletzungendes Völkerrechts strafrechtlich ahnden.Deutschland wird sich mit seinen Partnern in der Eu-ropäischen Union weiterhin für einen konstruktivenFriedensprozess in Nahost, so schwierig er auch ist, ein-setzen. Die Sicherheit und das Existenzrecht Israels sindTeil der deutschen Staatsräson. Wir treten aus Überzeu-gung für eine Zweistaatenlösung mit Israel als jüdischemdemokratischem Staat und einem lebensfähigen Palästi-nenserstaat ein.
Dafür sind beiderseits schmerzhafte Kompromisse nötig.Am Ziel stehen aber sichere Grenzen und ein Leben inFrieden und Freiheit für die Menschen in dieser Regionin Aussicht. Dafür lohnt es sich, Politik zu machen. MitIhrem Antrag leisten Sie nur einen Bärendienst.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21595
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Vielen Dank, Kollege Dr. Wadephul. – Nächste Red-
nerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Annette Groth. Bitte schön, Frau Kollegin Groth.
Verehrte Damen und Herren! Bevor ich jetzt auf diese
ganzen Vorwürfe, die teilweise haltlos sind, eingehe,
möchte ich betonen, dass ich immer und überall Men-
schenrechtsverletzungen verurteile, egal ob sie von der
Hamas, in Israel, in Sri Lanka oder sonst wo auf der Welt
begangen werden. Diejenigen von Ihnen, die mit mir im
Menschenrechts- und im AwZ-Ausschuss sind, wissen
das.
Ich habe hier den berühmten Artikel, auf den Sie sich
stürzen. Goldstone hat nur wenige seiner Feststellungen
zurückgenommen, verehrte Frau Kollegin Homburger.
Sie müssen die Sachen richtig lesen. Zu einem kleinen
Vorfall steht dort, dass nicht ganz klar ist, ob der verant-
wortliche Offizier, der den Befehl für die Attacke auf das
Haus, in dem 21 Menschen umgekommen sind, gegeben
hat, wirklich wusste, was er tat, oder ob dies ein Verse-
hen war. Wortwörtlich heißt es hier – ich habe es über-
setzt –: Ich bin zuversichtlich, dass Israel, falls der Offi-
zier, der den Angriff anordnete, als fahrlässig befunden
wird, entsprechend reagieren wird. – Das steht in dem
besagten Artikel.
Die drei anderen Autorinnen und Autoren – es war ja
nicht nur Goldstone allein – haben mehrmals bekräftigt,
dass sie keine dieser Aussagen in dem Bericht – ich habe
ihn dabei – zurücknehmen.
Man darf auch nicht vergessen, dass bei diesem völ-
kerrechtswidrigen Angriff über 850 Zivilisten und Zivi-
listinnen getötet worden sind, darunter 350 Kinder und
200 Frauen. Hina Jilani, eine der Autorinnen dieses Be-
richts – sie war vorher UN-Sonderberichterstatterin in
Darfur –, hat gesagt, das sei das Schlimmste gewesen,
von dem sie in Zeugenaussagen gehört hat. Sie hat meh-
rere Personen interviewt, die über das bewusste Zielen
auf Kinder während dieses Krieges berichtet haben. Der
Angriff hat zwar nur sehr kurz gedauert, aber es gab
viele Tote.
Wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass die
Straflosigkeit nicht hinnehmbar ist. Diese Überzeugung
teilen Sie; schade, dass Frau Kopp nicht mehr da ist. Ich
lese sehr oft, dass man die Kultur der Straflosigkeit nicht
weiter hinnehmen will. Frau Kopp hat nach einer Reise
nach Nepal im März dieses Jahres kritisiert – das steht in
der Zeitung –, dass Personen, die Kriegsverbrechen be-
gangen haben, frei herumlaufen. Frau Homburger, auch
Sie haben in einem SWR-Beitrag – ich habe mir diesen
angesehen – die Straflosigkeit in anderen Ländern kriti-
siert. Dies kritisieren auch alle Mitglieder des Men-
schenrechtsausschusses; denn wir als Menschenrechts-
aktivisten und -aktivistinnen dürfen so etwas nicht
dulden.
Der schlimmste Vorfall – das wurde von allen ge-
sagt – war in der Tat der Überfall auf das Haus der Fami-
lie al-Samouni, bei dem 21 Menschen umgekommen
sind. Ich war letzten November in Kapstadt. Dort hat der
Direktor des Menschenrechtszentrums in Gaza diesen
Vorfall sehr drastisch geschildert. Zwei Tage lang durfte
keine Ambulanz in dieses Haus. Kinder haben dort zwei
Tage lang in dem Blut ihrer Eltern gelegen. Das müssen
Sie sich einmal vorstellen! Erst nach zwei Tagen wurden
die Toten und Verletzten abtransportiert. Dieser Vorfall
sollte untersucht werden. Am 1. Mai dieses Jahres hat
die israelische Armee beschlossen, keine Untersuchung
durchzuführen und den Vorfall ad acta zu legen. Diese
schlimmen Vorfälle müssen wir genauso kritisieren wie
Raketenangriffe der Hamas auf zivile Ziele in Israel.
Man darf hier doch keine Doppelstandards anlegen.
Vielmehr muss man die Sachen so benennen, wie sie
sind. Dieser völkerrechtswidrige Angriff war ein Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit. Dabei bleibe ich.
Diese Straflosigkeit muss ein Ende haben; sonst wird es
immer wieder solche Vorfälle geben.
Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Groth. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Jerzy Montag. Bitte schön,
Kollege Montag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dersogenannte Goldstone-Bericht war trotz mancher Unzu-länglichkeiten und mancher Fehler ein erster Schritt inRichtung Wahrheitsfindung. Er war das Ergebnis einerFact Finding Mission, um festzuhalten, was genau wäh-rend des Gaza-Krieges passiert ist, ob die beiden kämp-fenden Parteien Verstöße gegen das Völkerrecht began-gen haben könnten und, wenn ja, welche.Wie die Linke in ihrem Antrag richtig feststellt, wardie Goldstone-Kommission nicht mit strafrechtlichenUntersuchungen beauftragt. Sie sollte ausdrücklich nichtfestzustellen versuchen, ob die israelische Armee oderdie Kämpfer der Hamas und anderer bewaffneter palästi-nensischer Gruppen Völkermord, Verbrechen gegen dieMenschlichkeit oder Kriegsverbrechen begangen haben.Der Goldstone-Bericht war in diesem Sinne – ich zitiereaus dem Antrag der Linken – „Teil eines Prozesses derWahrheitssuche“.
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21596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Jerzy Montag
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Dieser Prozess der Wahrheitssuche ist leider nur teil-weise gelungen. Die Möglichkeiten der Zeugen-befragung und Faktensammlung waren erheblich ein-geschränkt. Bedauerlicherweise verweigerte Israel dieZusammenarbeit,
weil Israel nicht an die Objektivität der Untersuchungenglaubte. Beide Seiten, die im Gazastreifen herrschendeHamas und Israel, haben deshalb dazu beigetragen, dassdem Goldstone-Bericht Fehler und Falscheinschätzun-gen nachgesagt und zum Teil auch nachgewiesen werdenkonnten.Es wurde schon erwähnt, dass Goldstone selbst am2. April 2011 erklärt hat, dass er heute viel mehr darüberweiß als zu dem Zeitpunkt, als er der Fact Finding Mis-sion vorgesessen hat, und dass sein Bericht anders aus-gefallen wäre, wenn er diese Fakten damals gekannthätte. Insbesondere bezieht sich diese Aussage auf dieVorwürfe, die israelische Armee habe strategisch und ab-sichtlich zivile Einrichtungen angegriffen und zerstörtund Zivilisten getötet. Der palästinensische Bürgerrecht-ler Dr. Mustafa Barghuthi hat sich nach GoldstonesRichtigstellung wie folgt geäußert: Ich glaube nicht, dassGoldstone seinen Bericht bedauert. Hamas hat Kriegs-verbrechen begangen. Aber Israel hat unverhältnismä-ßige Gewalt angewandt. Israel hat, obwohl es den Gold-stone-Bericht nie als ein objektives Dokument anerkannthat, wenigstens teilweise und zögerlich Konsequenzenaus den glaubwürdigen Berichten und Zeugenaussagenüber tödliche Angriffe auf Zivilisten und über Angriffeauf zivile Einrichtungen in Gaza gezogen.Inzwischen wurden – das ist bereits erwähnt worden –über 400 Vorfälle operativen Fehlverhaltens untersucht.In über 50 Fällen sind strafrechtliche Ermittlungen ge-führt worden. Militärische Dienstanweisungen zumSchutze von Zivilisten im Häuserkampf wurden verän-dert. Selbst die Linke gesteht in ihrem Antrag ein, dasszwei Drittel der im Goldstone-Bericht dokumentierten36 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen aufgeklärtworden sind. Fast versteht es sich von selbst, dass es auf-seiten der Hamas trotz auch auf ihrer Seite festgestelltergravierender Fälle von Menschenrechtsverletzungen– ich meine den Beschuss Israels mit über 8 000 Raketen –bisher keinerlei Untersuchungen und keinerlei Verfol-gung der Täter gegeben hat.Meine Damen und Herren, manch Wahres und Richti-ges steht im Antrag der Linken. Was wir aber nicht ak-zeptieren können, ist die Empfehlung, diesen Berichtnunmehr über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationendem Internationalen Strafgerichtshof vorzulegen. DiesesAnsinnen an die Bundesregierung ist offensichtlich le-diglich als Schaufensterantrag gedacht. Sie wissen sel-ber, dass der Sicherheitsrat einer solchen Empfehlungnicht folgen würde. Eine solche Empfehlung hätte ver-heerende Wirkungen für die Palästinenser,
die gerade eine Versöhnung zwischen der Hamas und derFatah vorantreiben. Es hätte auch eine verheerende Wir-kung auf das Verhältnis Deutschlands zu Israel, das auchnach 65 Jahren noch verletzlich ist.Ich sage Ihnen: Sie sind nicht die Einzigen hier imHause, die sich gegen ein allgemeines Klima der Straflo-sigkeit in internationalen Beziehungen wenden. Sie sindnicht die Einzigen hier im Hause, die sich einer Legiti-mierung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegendie Menschlichkeit widersetzen. Aber was wir nichtwollen, ist, dass Sie sich auf eine solch unverhältnismä-ßige Art dieses Goldstone-Berichts lediglich bedienen,um nach Möglichkeit eine völkerstrafrechtliche Anklageder israelischen Seite zu erreichen.Wir sehen einige gute Ansätze in Ihrem Antrag. Des-wegen werden wir ihn auch nicht ablehnen. So, wie Sieihn geschrieben haben, können und werden wir ihm aberauch nicht zustimmen.
Vielen Dank, Herr Kollege Montag.Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-nungspunkt.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Überweisung des Goldstone-Berichtes anden Internationalen Strafgerichtshof durch den UN-Si-cherheitsrat“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/7532, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6339 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – DieFraktion Die Linke. Enthaltungen? – Fraktion der So-zialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für einenGerichtsstand bei besonderer Auslandsver-wendung der Bundeswehr– Drucksache 17/9694 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-nen und Kollegen liegen mir vor.1)Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent-wurf auf Drucksache 17/9694 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt esdazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.1) Anlage 3
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21597
Vizepräsident Eduard Oswald
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Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENVerantwortung für die entwicklungspolitischeDimension der EU-Fischereipolitik überneh-men– Drucksachen 17/9399, 17/9714 –Berichterstattung:Abgeordnete Helmut HeiderichDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtNiema MovassatThilo HoppeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist fürdie Fraktion der CDU/CSU unser Kollege HelmutHeiderich. Bitte schön, Kollege Helmut Heiderich.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dervorliegende Antrag verweist zu Recht darauf, dass Er-nährung nicht nur von der Bodenoberfläche, sondernauch aus dem Wasser kommend nachhaltig gesichertwerden muss. Es wird häufig übersehen, dass die Men-schen vor allem in Entwicklungsregionen, insbesondereauf der Südseite des Globus, elementar auf die Versor-gung aus dem Meer angewiesen sind. Die Fischerei bil-det somit einen zentralen Bestandteil der Ernährung derBevölkerung in diesen Ländern. Aber auch in den Indus-triestaaten ist der Konsum von Fisch nicht nur sehr emp-fohlen, sondern unverzichtbar. Weltweit ist insofern seitJahren ein steigender Fischkonsum zu verzeichnen. DieFolge ist, dass trotz aller Bemühungen immer noch mehrFische gefangen werden, als nachwachsen können. Dasheißt, die Fischbestände werden weiter dezimiert.In Zahlen gesprochen reden wir davon, dass drei Vier-tel der heute genutzten Fischbestände bis an ihre Gren-zen ausgebeutet oder bereits überfischt sind.Die FAO hat nachgerechnet und geht davon aus, dassvon den weltweiten Speisefischbeständen 52 Prozent bisan ihre Grenzen genutzt sind, 17 Prozent bereits über-fischt sind und 7 Prozent bereits völlig erschöpft sind.Wir begrüßen deshalb, dass sowohl die Vereinten Natio-nen als auch die Europäische Union als auch die Bundes-regierung seit Jahren neue Wege suchen, um die Überfi-schung zu begrenzen.Die Forderung der Antragsteller, die Festlegung vonFangmengen auf der Basis von soliden wissenschaftli-chen Empfehlungen und unter Einhaltung des Über-schussprinzips zu regeln, ist allerdings schon längst einwichtiger Bestandteil aller Verhandlungen. Dies ist – da-rüber sind wir uns einig – ein richtiger Weg. Dieser mussweiter fortgesetzt werden, um die Fischerei auf einernachhaltigen Basis betreiben zu können.Die im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitikder EU erlassenen Bestimmungen, an welche dieser An-trag der Grünen anknüpft, zielen gleichzeitig auf die Er-haltung der Fangmengen, auf die Förderung einer wett-bewerbsfähigen Fischwirtschaft innerhalb der EU undauf die Stabilisierung der Märkte für die Verbraucher.Wenn man den umfangreichen und offensichtlich mitFleiß gestalteten Antrag der Grünen liest, dann hat manallerdings den Eindruck, als wären sie die Ersten, die dieProblematik der internationalen Fischerei verstanden ha-ben. Der Antrag ist in vielen Teilen aber doch eine Wie-derholung bereits formulierter Ziele und bisheriger Maß-nahmen. Auf der anderen Seite – das macht es uns nichtmöglich, dem Antrag zuzustimmen – stellt er einige fal-sche Behauptungen auf bzw. zieht er falsche Schlussfol-gerungen.Zum Beispiel ist die Behauptung der Antragsteller,die EU-Fangflotte fische vor der Küste Afrikas ohnesubstanziell überprüfbare Fangbeschränkungen, nichtakzeptabel. Die EU selbst stellt fest und verweist aufNachfrage deutlich darauf, dass die EU-Fangflotte vorder Küste Afrikas verpflichtet ist, sich ausschließlich andie im Rahmen der EU-Abkommen festgelegten Fang-mengen zu halten, welche wiederum – auch das steht imAntrag – durch wissenschaftliche Analyse in Höhe undMenge festgelegt und vorgegeben seien.Auch die Behauptung der Antragsteller, durch finan-zielle Förderung aus den EU-Kassen werde das Fang-potenzial der Fischereifahrzeuge erhöht, trifft so nicht zu.Die Förderung der EU, so wird versichert, dient nur derSelektivität des Fangs, das heißt der Verringerung des Ge-samtfangs, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen anBord, der Hygiene, der Erhöhung der Produktqualität undder Energieeffizienz der Fangfahrzeuge. Das alles sindförderbare Maßnahmen, die sinnvoll sind und deswegenvom Antragsteller auch nicht kritisiert werden sollten.
Ebenso sind die Forderungen nach Menschenrechtenund Demokratiestrukturen bereits in der Kommissions-mitteilung enthalten und werden auch in den Rats-schlussfolgerungen entsprechend aufgeführt.Wenn wir die Dinge noch einmal insgesamt betrach-ten, so stellen wir fest, dass wir den Teufelskreis vonÜberfischung und effizientem Wirtschaften nur durch-brechen können, wenn wir mit internationaler Koopera-tion entsprechende Beschlüsse fassen und Veränderungenherbeiführen. Hierzu haben die Vereinten Nationen seit2003 jährliche Resolutionen über nachhaltige Fischereiverabschiedet, und sie setzen sich insbesondere gegen dieschädlichen Wirkungen der sogenannten – dieses Wort istbesonders interessant – Grundschleppnetzfischerei ein.
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21598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Helmut Heiderich
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Der Fischereiausschuss der Vereinten Nationen hatimmer wieder fischereipolitische Empfehlungen an dieRegierungen und an die NGOs gerichtet, um insbeson-dere dieser Thematik zu begegnen. Allerdings – dasmüssen wir konzedieren – sind innerhalb der Europäi-schen Union nach wie vor unterschiedliche Auffassun-gen der Mitgliedsländer erkennbar. Deswegen haben wirauch einige Probleme wegen der Geschwindigkeit derVeränderung und des Umfangs der zu treffenden Maß-nahmen.Ich will nur noch zwei oder drei kurze Bemerkungenmachen. Von besonderer Bedeutung sind die Fischerei-abkommen mit den Nicht-EU-Ländern und die Verhand-lungen innerhalb internationaler Fischereiorganisatio-nen, damit wir auch über den Einzugsbereich der EUhinaus zu solchen Abkommen gelangen, die in die Rich-tung wirken, wie sie von mir eben genannt worden istund wie sie auch von den Antragstellern gefordert wird.In dem Antrag der Grünen wird auch behauptet, dieHochseeflotte sei hoch subventioniert. Auch das trifftnicht zu. Insofern können wir den Antrag auch in diesemPunkt nicht unterstützen. Gleiches gilt für die Forderung,man solle eine zusätzliche Energiesteuer auf Schiffs-diesel einführen. Dies wäre eine Benachteiligung der ge-samten Fischerei gegenüber anderen Wirtschaftszwei-gen. Es ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden,dass diese Steuerbefreiung von Schiffsdiesel keine Re-gelung auf deutscher oder EU-Ebene ist, sondern dassdas eine Regelung auf internationaler Ebene ist. Insofernwäre die EU-Fischerei benachteiligt, wenn man dem An-trag der Grünen folgen würde.Dass immer noch zu viele Schiffe unter falscherFlagge segeln, sehen auch wir als ein Problem. An die-sen Fällen muss weiter intensiv gearbeitet werden.Letzter Punkt. Mit den Antragstellern stimmen wirdarin überein, dass bei internationalen Verhandlungenwie jetzt bei Rio+20 die Auswirkungen der Überfi-schung auf die biologische Vielfalt des Meeres nicht nurdiskutiert werden müssen, sondern dass man auch in die-sen Bereichen endlich zu verbindlichen Richtlinien undErgebnissen kommen muss.Es gibt eine Reihe guter Ansätze bei den genanntenPunkten. Es wäre zu überlegen, ob man zur Beförderungdieser Thematik nicht einen gemeinsamen Antrag allerFraktionen auf den Weg bringen sollte. Der vorliegendeAntrag ist wegen der von mir genannten Punkte für unsnicht zustimmungsfähig, und wir müssen ihn deswegenablehnen.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Helmut Heiderich. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unser Kollege Dr. Sascha Raabe. Bitte
schön, Kollege Dr. Sascha Raabe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Herr Heiderich, Sie haben als Vorrednerzum Schluss gesagt, dass wir hier einen gemeinsamenAntrag machen sollten. In Ihrer Rede haben Sie aber ineiner unglaublichen Art und Weise die aktuellen Zu-stände schöngeredet und erklärt, im Antrag der Grünensei doch alles überzogen und es sei doch alles nicht soschlimm. Dazu kann ich nur sagen: Machen Sie einmaldie Augen auf! Schauen Sie sich einmal an, in welcherArmut die Fischer mittlerweile leben und wie wir denMenschen dort die Meere leer fischen, was zu leerenTellern führt! Daher können wir mit Ihnen bestimmtkeinen gemeinsamen Antrag machen, Herr KollegeHeiderich.Ich sage an die Adresse der Kollegen von den Grü-nen: Dies ist ein guter Antrag, und er kommt zum rech-ten Zeitpunkt; denn die Reform der Fischereipolitik stehtjetzt an. Diese Politik muss dringend verändert werden.Wenn der Kollege Heiderich sagt, in dem Antrag derGrünen würde zum Beispiel nicht stimmen, dass dieFangflotten hoch subventioniert seien, und das sei allesnicht so, dann kann ich nur sagen: Herr Kollege von derCDU, wenn Sie der Opposition nicht glauben, dannführe ich einmal an, was der Europäische Rechnungshofzum Thema EU-Fischereipolitik sagt. Er kommt zu demSchluss, dass die EU-Fischereipolitik – mit Erlaubnisdes Präsidenten zitiere ich – ihre Ziele komplett verfehlthabe. Die EU-Kommission stellt in ihrem Grünbuch die-ser Politik eine Bankrotterklärung aus. Dort heißt es: Ex-zessive Subventionierung, ineffektive Kontrollen undunzureichender politischer Wille haben zu Überkapazitä-ten und einer dramatischen Überfischung geführt.
In dem aktuellen Papier der Kommission heißt es: Wennwir – wohlgemerkt: die EU-Kommission – jetzt nichthandeln, wird der Teufelskreis weitergehen, der zudieser schlechten ökonomischen, sozialen und ökologi-schen Performance geführt hat. So sieht es die EU-Kom-mission. Das müsste doch auch die CDU/CSU zum Um-denken bewegen.
Es ist höchste Zeit für so ein Umdenken. Die Veräu-ßerung der Fangquoten an die großen Flotten ist für afri-kanische Fischer ein Riesenproblem. Ein einziger diesersogenannten Megatrawler kann bis zu 200 000 Kilo-gramm Fisch pro Tag fischen. Dafür müssten 50 einhei-mische Fischer in ihren kleinen Booten mehr als ein Jahrunterwegs sein. Das zeigt die Dimensionen, um die esgeht.Wir haben die schlimmen Beispiele vor Augen. Na-türlich ist die aktuelle Situation der Piraterie in Somalianicht nur ein Problem leer gefischter Fischgründe; aberdie Ursache liegt darin. Denn auch europäische Fang-flotten haben dort die Meere leer gefischt, und dann ha-ben die Fischer irgendwann gesagt: Wir wollen wenigs-tens eine Art Zoll dafür haben, wenn wir schon unsere
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21599
Dr. Sascha Raabe
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Arbeit verlieren. Heute lebt die ganze Entführungsindus-trie – die durch nichts zu rechtfertigen ist – auch davon,dass arbeitslose Fischer anders ihr Geld verdienenmüssen.Deswegen ist es Unsinn, wenn wir erst mit Steuergel-dern die europäischen Fangflotten subventionieren unddann für viel Geld Militär dorthin schicken und das Le-ben unserer Soldaten riskieren. Wir müssen endlich zufairen Bedingungen für die Fischer auf der ganzen Weltkommen.
Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen, weil derKollege Heiderich so tat, als wären es keine hohen Sub-ventionen. Allein Mauretanien erhält jährlich 86 Millio-nen Euro aus Brüssel. Das ist mehr, als dieses Land anEntwicklungshilfe erhält. Dabei gibt es oft das Problem,dass das Geld nicht der Bevölkerung zugutekommt, son-dern in dunklen Kanälen versickert. Da stinkt oft derFisch buchstäblich vom Kopf her. Deswegen brauchenwir dort verbesserte Transparenzmechanismen.Es ist auch gut, dass sich die EU-Kommission jetztauch für eine bessere Mittelverwendung in den Partner-ländern einsetzt und der Antrag der Grünen das themati-siert. Denn wir dürfen nicht einfach dort mit Geld unserGewissen freikaufen, nach dem Motto „Wenn wir derRegierung Geld geben, dann können wir hier alles leerfischen, und dann wird alles gut“. Nein, wir müssen andie Fischer statt an die Eliten denken. Wir sind es denMenschen vor Ort schuldig, zu handeln, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren.
Mit der Veräußerung der Fischereirechte geht in derRegel auch ein Niedergang der fischverarbeitenden In-dustrie an Land einher. Denn der Fisch wird auf denFangschiffen selbst verarbeitet. Dann findet vor Ortkeine Wertschöpfung statt. Selbst wenn die europäischenReedereien immer wieder behaupten, ein großer Teil derFische würde dort wieder verkauft werden, muss manauch sehen, dass der Fisch, den die Megatrawler abfi-schen, zu Dumpingpreisen auf die lokalen Märktekommt und der Kleinfischer, der noch irgendwo ein paarFische findet, diese nicht mehr zu auskömmlichen Prei-sen loswird, sodass wir hier doppelt schädigend wirken.Deswegen ist es auch gut, dass in dem Antrag dieWertschöpfung an Land betont wird. Das sollten wir alleunterstützen, statt eine solche Schönfärberei wie dieCDU/CSU zu betreiben.Wir haben die Hoffnung, dass die EU-Kommissionbei der Reform der Abkommen in stärkerem Maße Men-schenrechtsklauseln verankern will und dass durch eineAusschließlichkeitsklausel geregelt wird, dass die EU-Schiffe nicht außerhalb der Abkommen, die sie mit denLändern haben, noch in anderen Gewässern fischen.Wir wollen auch, dass der Fischereisektor in den Part-nerländern von den Entwicklungsgeldern entkoppeltwird, sodass nicht gesagt werden kann: Wir zahlen euchGeld für die Fischereirechte, und wenn ihr uns die nichteinräumt, dann kriegt ihr keine Entwicklungsgelder.Das sind alles sehr wichtige Maßnahmen. Wenn manberücksichtigt, dass die Europäische Union dafür zustän-dig ist, dann ist es gut, dass wir heute als Entwicklungs-politikerinnen und -politiker darüber reden. Denn das istKohärenz. Wir müssen uns einmischen, auch in die Han-delspolitik, die Landwirtschaftspolitik und die Fischerei-politik.Das ist der größte Vorwurf, den ich auch dem Minis-terium mache. Wir haben es neulich im Ausschuss beider FDP erlebt: Als es um die Frage des öffentlichen Be-schaffungswesens ging, hat der Kollege von der FDP imAusschuss gesagt: Das Thema hat uns nicht zu interes-sieren. Dafür ist der Wirtschaftsausschuss zuständig. Sogeht es eben nicht. Ich erwarte von unserem Entwick-lungsminister, dass er sich in Fragen des Welthandelseinmischt. Wo ist die Stimme des Entwicklungsministerszum Beispiel bei dem neuen Fischereiabkommen? ImRahmen der Kohärenz muss man auch mit den Kollegenim Kabinett reden, die für die Ressorts Wirtschaft, Han-del, Fischerei und Landwirtschaft zuständig sind. Daskann der Kollege Niebel aber nicht machen, weil er sogut wie nie bei den Kabinettssitzungen anwesend ist.Wir haben in einer der letzten Fragestunden danach ge-fragt, wie oft der Minister im Kabinett einen Tagesord-nungspunkt aufgesetzt hat. Wissen Sie, wie oft MinisterNiebel laut Statistik einen Tagesordnungspunkt im Kabi-nett in den ganzen Jahren aufgesetzt hat? Kein einzigesMal! Der Außenminister Westerwelle hat bisher 41 Ta-gesordnungspunkte aufgesetzt, Minister Niebel nie!Minister Niebel ist Minister „Nie da“.
Auch im Parlament ist er so gut wie nie anwesend. SeineStaatssekretärin ist zurzeit auch nicht anwesend. Ernimmt auch so gut wie nie an den Kabinettssitzungenteil, setzt nie einen Tagesordnungspunkt auf und küm-mert sich nicht um die Fragen der globalen Strukturpoli-tik, sondern rennt im Prinzip nur herum, um Außenwirt-schaftsförderung zu betreiben.
Er sollte sich lieber um gerechte Wirtschafts- und Han-delsbedingungen kümmern und nicht nur um Außenwirt-schaftsförderung. Er sollte vor allem einmal da sein, zu-hören und am Kabinettstisch für die ärmsten Menschenstreiten und nicht nur für die Interessen deutscher Unter-nehmen oder deutscher Reedereien.In diesem Sinne werden wir dem Antrag der Grünenzustimmen.
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21600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
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Vielen Dank, Kollege Dr. Sascha Raabe. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der FPD ist unsere Kollegin
Dr. Christel Happach-Kasan. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Happach-Kasan.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist offensichtlich: Wenn man von Fischereipolitik keineAhnung hat, dann reibt man sich an Herrn MinisterNiebel auf. Das ist meines Erachtens ein billiges Spiel.
Sie müssen einfach zur Kenntnis nehmen, welch einenguten Job Minister Niebel macht, insbesondere wenn esum die Ernährungssicherung geht.
Schauen Sie sich doch einmal an, was er für die ländli-chen Räume geleistet hat! Er hat die dort getätigten In-vestitionen auf 10 Millionen Euro angehoben und damitverdreifacht. Er macht einen guten Job, und das hilft denMenschen sehr viel mehr, als wenn er hier sitzen undbeispielsweise Ihrer Rede zuhören würde, die erkennbaran der Sache vorbeigegangen ist; denn es geht um dieErnährungssicherung in wenig entwickelten Ländern.Wir brauchen uns gar nicht so viel zu streiten. Wirsind doch einer Meinung, dass die EU-Fischereipolitikihr Ziel verfehlt hat. Deswegen wird sie novelliert; dasist richtig. Ich bezweifle allerdings sehr, dass der Rech-nungshof der EU aus eigener Kraft wirklich in der Lageist, zu beurteilen, in welchen Gewässern eine Überfi-schung vorliegt und in welchen nicht. Ich glaube, daskann der Rechnungshof nicht beurteilen.
Er hat sich schlicht und ergreifend auf das berufen, waser irgendwo einmal gelesen hat. Damit kommen wirnicht weiter.Offensichtlich wissen Sie auch nicht, dass es zumin-dest unter den fischereipolitischen Sprechern eine ge-meinsame Basis für die Reform der Fischereipolitik gibt.Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Ihre Kolle-gin Frau Rodust aus Schleswig-Holstein, meine ehema-lige Landtagskollegin, bei der Erarbeitung des Vor-schlags der Kommission einen ausgesprochen guten Jobmacht. Warum spucken Sie ihr in die Suppe? Was ist dasdenn für eine Solidarität unter Sozialdemokraten? Dasist doch Murks.
Wir wissen, dass die Europäische Union als weltgröß-ter Importeur von Fischereierzeugnissen eine besondereVerantwortung für die nachhaltige Nutzung eigener wiedrittstaatlicher Meeresressourcen hat; darin sind wir unseinig. Wir wissen aber auch, dass die Europäische Unionnicht in der Lage ist, den Bedarf aus eigenen Gewässernzu decken. Wir importieren, gemessen am Wert, etwa24 Prozent der weltweit produzierten Fischerzeugnisse.Bislang wurde nicht erwähnt, dass das auch Produkteaus der Aquakultur einschließt. Von der marinen Fisch-produktion in Höhe von knapp 150 Millionen Tonnenstammen allein 20 Prozent aus der Aquakultur. JeglicheSteigerung der Produktion geht auf die Aquakultur zu-rück. Die EU hat mit 15 Drittstaaten sogenannte partner-schaftliche Fischereiabkommen geschlossen, um vondiesen Staaten ungenutzte Fischbestände außerhalb dereuropäischen Gewässer bewirtschaften zu können. DieVergütung erfolgt ausdrücklich mit dem Hinweis, dassdie Mittel von den Ländern zur Entwicklung der eigenenregionalen Fischereiorganisationen und Küstengebietengenutzt werden sollen.
Die EU ist sich also ihrer Verantwortung sehr wohl be-wusst.Die Europäische Kommission hat in ihrer Mitteilungüber die externe Dimension der Gemeinsamen Fischerei-politik aus dem letzten Jahr bereits dargelegt, dass siesich noch stärker für den Erhalt und die nachhaltige Nut-zung der Fischbestände einsetzen will. Die Kommissionhat eine Reihe von Themen genannt, die im Rahmen derzukünftigen GFP angemessen behandelt werden müssen.Das allgemeine Menschenrecht auf Nahrung muss in dereuropäischen Fischereipolitik ein wichtiger Schwer-punkt sein und verstärkt beachtet werden. Darin sind wiruns alle einig.
Aber ich muss Ihnen auch sagen: Die Darstellung derweltweiten Situation ist im Antrag von Bündnis 90/DieGrünen trotz einiger richtiger Passagen insgesamt nichtgelungen. Ich sagte schon: Das Thema Aquakultur hateine steigende Bedeutung. Es kommt im Antrag garnicht vor.Dass in diesem Antrag ein direkter Zusammenhangzwischen europäischen Fischern und der Piraterie amHorn von Afrika hergestellt wird, ja europäischen Fi-schern Zusammenarbeit mit mafiösen Strukturen nach-gesagt wird, entbehrt jeglicher Realität. Für die illegaleFischerei in dieser Region waren nicht europäischeFischfangunternehmen verantwortlich. Beschäftigen Siesich doch bitte einmal damit, was beispielsweise Taiwanund China in dieser Region machen.
Beschäftigen Sie sich mit deren Methoden. Dann wissenSie, was dort wirklich los ist. Die Diffamierung europäi-scher Fischereibetriebe ist weder zielführend noch rich-tig. Der somalischen Bevölkerung kann nur durch denAufbau einer handlungsfähigen Regierung und sichererLebensverhältnisse geholfen werden und nicht durch dieEU-Fischereipolitik. Aus diesem Grund hat die deutscheBundesregierung bei der Londoner Somalia-Konferenzim Februar 2012 weitere 6 Millionen Euro für den Wie-
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Dr. Christel Happach-Kasan
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deraufbau des Landes zugesagt. Das ist eine Politik, dieden Menschen in Somalia tatsächlich hilft.
Die illegale Fischerei vor Somalia macht vielmehrzwei grundlegende Probleme deutlich. Diese hängen miteiner übertrieben regulierten und bevormundenden Fi-schereipolitik gegenüber weniger entwickelten Drittstaa-ten zusammen. Erstens führen überzogene Ansprüchevon unserer Seite dazu, dass die entsprechenden StaatenVerträge über die Nutzung ihrer Ressourcen lieber mitStaaten abschließen, die mehr Geld und weniger Skrupelhaben. Damit bremsen wir genau die Politik der Euro-päischen Kommission aus, dass die Entgelte für die Nut-zung von Fischereigewässern auch für den Aufbau dereigenen Fischereiorganisation und für die Unterstützungder eigenen Bevölkerung genutzt werden. Das führtdazu, dass wir den Chinesen das Feld überlassen. Ichhalte das für keine gute Sache.
Wir müssen zweitens feststellen, dass diese Konkur-renz um so größer ist, je schwächer die Good Gover-nance in der jeweiligen Region ist. Wir alle wissen ausallen entwicklungspolitischen Diskussionen, dass guteRegierungsführung der Schlüssel dafür ist, dass in die-sen Ländern tatsächlich für die einheimische Bevölke-rung mehr bewirkt wird, als es im Augenblick der Fallist. Deswegen müssen wir darauf setzen. Wir solltennicht glauben, dass wir mit der Gemeinsamen Fischerei-politik der Europäischen Union die Ernährungsproblemedieser Erde lösen können. Das können wir tatsächlichnicht.Aus entwicklungs- und fischereipolitischer Perspek-tive werden durchaus einige sinnvolle Forderungen ge-stellt. Aber von diesen sind in den Vorschlägen derKommission zur Reform der GFP bereits sehr viele For-derungen enthalten. Wir werden in unserem gemeinsa-men Antrag alle die sinnvollen Forderungen aufnehmen,die zum Ziel führen und die das Instrument der Gemein-samen Fischereipolitik nicht überfordern; denn wir müs-sen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir mit demInstrument der Gemeinsamen Fischereipolitik nicht alleProbleme dieser Erde lösen können.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan. –
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Frau Dr. Kirsten Tackmann. Bitte schön, Frau
Kollegin Dr. Kirsten Tackmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste! Die EU-Hochseefischerei hat wirklich einegroße Bedeutung. Nur etwa 30 Prozent der in der EUverkauften Fische werden tatsächlich auch in EU-Ge-wässern gefischt. 70 Prozent werden importiert. DieHälfte dieser Importe stammt aus Fischgründen inAfrika, in der Karibik oder im Pazifik. Deshalb hat dieEU eine große Verantwortung für die globalen Fischbe-stände genauso wie für die Lebensbedingungen derMenschen vor Ort.
Die Fangerlaubnis wird von Verträgen bestimmt, diezwischen der EU und den Ländern abgeschlossen wer-den, in denen die Fischgründe liegen. Es gibt in den part-nerschaftlichen Fischereiabkommen einen Kerngedan-ken: Von der gesamten Fangmenge dürfen die EU-Schiffe nur die Menge Fisch fangen, die die betreffendenStaaten selbst nicht verbrauchen. Das Problem aber ist,dass die Gesamtmenge und auch der Überschuss nichtverifizierbar sind, dass die Daten nicht vorliegen odernicht berücksichtigt werden. Die Folge ist logischer-weise eine Überfischung.Nach Schätzung der UN-Organisation für Ernährungund Landwirtschaft, FAO, gilt zum Beispiel für fast allekommerziell genutzten Fischbestände in den Gewässernvor der westafrikanischen Küste diese Überfischung.Die Verlierer dieser Überfischung sind zuallererst die re-gionale Fischerei und die Bevölkerung vor Ort. Sie be-zahlen den Raubbau der reichen Länder mit noch mehrArmut. Das hat wiederum für uns Folgen.Deswegen finde ich es gut, dass im Antrag der Grü-nen auch Bezug darauf genommen wird, dass die Pirate-rie natürlich etwas mit sinkenden Fischerträgen der loka-len Fischerei zu tun hat.Die Linke ist lange gescholten und attackiert worden,wenn sie darauf verwiesen hat. Dabei haben wir nie be-hauptet, dass die Überfischung allein oder gar zwangs-läufig zur Armut führt. Aber sie trägt natürlich dazu bei.Sagen wir es doch einmal deutlich: Wenn die EU vorAfrika so viel Fisch fängt, dass die afrikanischen Fische-rinnen und Fischer nicht mehr vom Fischfang leben kön-nen, dann haben wir etwas damit zu tun, dass sie in Ar-mut leben; dann tragen wir dafür eine Mitverantwortung.
Deshalb sind Militäreinsätze wie Atalanta eben keineLösung der Probleme, sondern verschärfen sie weiter.Daher sollten wir das Geld nicht für Militäreinsätze ver-wenden, sondern es nehmen, um die Lebensbedingungender Menschen vor Ort zu verbessern, und zwar wirklichspürbar.Ein weiterer Beitrag wäre es, wenigstens die Fische-reiabkommen fair zu gestalten. Aus Sicht der Linkenmüssten dazu folgende Kriterien erfüllt werden:Erstens. Die EU-Fischerei darf nur die real existieren-den Überschüsse abfischen.Zweitens. Die Verarbeitung der Fänge muss wenigs-tens zum Teil vor Ort passieren, damit dort auch Ein-kommensmöglichkeiten geschaffen werden.
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Dr. Kirsten Tackmann
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Drittens. Die Abkommen müssen den Auf- und Aus-bau der regionalen Fischerei und der küstennahenFischereiwirtschaft unterstützen.Viertens. Die finanzielle Nutzung der Fangrechtemuss den Küstenregionen zugutekommen und darf nichtin Staatskassen oder in Taschen der Eliten versinken.
Fünftens. Die Abkommen müssen – das ist wichtig –menschenrechtlich und völkerrechtlich unbedenklichsein. Deswegen kommen aus unserer Sicht Fischereiab-kommen mit Marokko zu westsahrauischen Fanggrün-den nicht infrage, weil die Westsahara widerrechtlichvon Marokko besetzt ist.
Im Antrag der Grünen finden sich auch weiterefischereipolitische Vorschläge, die uns wichtig sind:Erstens. Die entwicklungspolitische Unterstützungvon Staaten darf selbstverständlich nicht an Bedingun-gen hinsichtlich der Abschließung von Abkommen mitder EU geknüpft sein.Zweitens. Die maritimen Wissenschaften müssendringend unterstützt werden. Selbst die EU erklärt, siehabe zu wenig Daten, um einschätzen zu können, wieviel Fisch überhaupt vorhanden ist.Drittens. Die Abkommen mit Dritten sehen wir eben-falls sehr kritisch. Es kann natürlich nicht sein, dass imgleichen Fischgrund sowohl von der EU als auch zumBeispiel von koreanischen Booten gefischt wird, die ent-sprechende Fischmenge in den Verträgen aber nicht be-rücksichtigt wird.Viertens. Die EU-Fangflotte nutzt die Fischereiab-kommen, die zum großen Teil mit Steuergeldern finan-ziert sind. Wir sind der Meinung, dass das zukünftigaufhören muss. Die EU-Fangflotte muss an der Finan-zierung der Abkommen beteiligt werden. Ich denke, dassman dann auf einem richtigen Weg ist.Wir werden selbstverständlich dem Antrag der Grü-nen zustimmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Tackmann. – Nächster
Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Thilo Hoppe. Bitte schön, Kollege Thilo Hoppe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fürmehr als 1 Milliarde Menschen in den Entwicklungslän-dern ist Fisch eine lebenswichtige Proteinquelle, auf diesie täglich angewiesen sind; für uns ist er nur eine ge-sunde Nahrungsergänzung. Schon heute bestreiten welt-weit 500 Millionen Menschen ihren Lebensunterhaltdirekt oder indirekt von den Einnahmen aus dem Fische-reisektor.Vor diesem Hintergrund sollte es eigentlich dasHauptanliegen der EU sein, den Aufbau einer nachhalti-gen Fischerei in den Entwicklungsländern zu unterstüt-zen und zu fördern, da hier auch ein erhebliches Poten-zial liegt, um die Millenniumsentwicklungsziele zuerreichen.Umso grotesker ist es, dass europäische Fangflottenbereits seit Jahrzehnten die Fischgründe vor den KüstenAfrikas und im Pazifik ausplündern und dabei nach wievor mit Steuergeldern kräftig unterstützt werden. Ichkann die Zahlen auch konkret nennen – sie sind recher-chiert –: 120 Millionen Euro pro Jahr zahlt die EU alleinfür den Zugang zu den Fischgründen von Entwicklungs-ländern. Die davon profitierenden Reeder werden nurmit 10 Prozent daran beteiligt. Darüber hinaus profitie-ren die Reeder – wie alle; das stimmt – von der Steuerbe-freiung für Schiffsdiesel.
Wie absurd und zerstörerisch die EU-Subventions-politik ist, zeigt sich daran, dass der größte Teil der vorAfrika gefangenen Fischmenge zwar in Europa verarbei-tet wird, aber dann wieder zu Schleuderpreisen – EU-Subventionen machen es möglich – auf den afrikani-schen Markt zurückgeht. Im Klartext: EU-Steuerzahlertragen 90 Prozent der Kosten dafür, dass europäischePrivatunternehmen zur Überfischung der afrikanischenGewässer beitragen. Den afrikanischen Kleinfischernwird der Fisch vor der Nase weggefischt. Sie könnenauch die wenigen Reste aufgrund der Dumpingkonkur-renz kaum noch verkaufen.Jetzt haben wir über die EU-Fischereiverträge gespro-chen. Ich selber habe an einer Konferenz in Accra teilge-nommen. Dort hat der damalige Bundespräsident HorstKöhler einige dieser Verträge öffentlich als Schandver-träge gegeißelt.
Wir müssen anerkennen, dass jetzt ein etwas neuer Windin der EU weht. Zum ersten Mal hat die EU jetzt zugege-ben, dass ihre bisherige Fischereipolitik zu schwerenökologischen und sozialen Verwerfungen beiträgt. Esliegen in der Tat Vorschläge auf dem Tisch, die erst ein-mal in die richtige Richtung weisen. Trotzdem fehlt eineganze Menge, und das ist in der Diskussion zu kurz ge-kommen.Das Problem liegt darin, dass nur ein Teil der europäi-schen Fangschiffe im Rahmen dieser Fischereiverträgeunterwegs ist. Viele Unternehmen haben längst privateVerträge mit einigen Küstenländern abgeschlossen undwerden nicht erfasst. Wiederum andere Schiffe sind un-ter fremden Flaggen unterwegs. Notwendig ist also imPrinzip nicht nur, dass die Fischereiverträge in Richtungmehr Sozialverträglichkeit und Nachhaltigkeit refor-
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miert werden, sondern auch – das fordern wir mit diesemAntrag –, dass die EU ernsthafte Anstrengungen unter-nimmt, alles zu kontrollieren, wo Europa mit im Spielist; denn nur mit neueren und besseren Fischereiverträ-gen ist nicht viel erreicht.Wir freuen uns, dass alle drei Oppositionsfraktionendiesem eigentlich sehr sachlich begründeten und diffe-renzierten Antrag zustimmen. Ich habe in einigen Wort-beiträgen der Koalition durchaus Verständnis gehört. EinEinvernehmen ist auch notwendig; denn momentanmacht die Lobby noch kräftig Druck und versucht, dierelativ guten Vorschläge der EU-Kommission zu ver-wässern. Daher wünsche ich mir von der Bundesregie-rung, dass sie diesem Druck der Lobby nicht nachgibt,
sondern eher die guten Vorschläge der EU unterstützt. Jestärker im allgemeinen fraktionsübergreifenden Antragzur Fischereipolitik die entwicklungspolitische Dimen-sion betont wird – dazu fordere ich Sie auf, liebe Kolle-ginnen und Kollegen –, desto besser; dann können wirvielleicht doch noch ein gutes Signal aus dem Parlamentsenden.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Kollege Thilo Hoppe. – Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Verantwortung für die entwick-
lungspolitische Dimension der EU-Fischereipolitik über-
nehmen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9714, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9399
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das
sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? –
Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Hahn,
Albert Rupprecht , Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
, Dr. Lutz Knopek, Dr. Peter Röhlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aktionsplan Nanotechnologie 2015 gezielt wei-
terentwickeln
– Drucksachen 17/7184, 17/9771 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Hahn
René Röspel
Dr. Martin Neumann
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz
– zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wirksamen Verbraucherschutz bei Nano-
stoffen durchsetzen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Einsatz von Nanosilber in verbraucher-
nahen Produkten zum Schutz von Mensch
und Umwelt stoppen
– Drucksachen 17/5917, 17/3689, 17/8821 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Heil
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Erik Schweickert
Karin Binder
Nicole Maisch
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen mir vor. Ich verzichte da-
rauf, sie im Einzelnen vorzulesen.
Vor dem Hintergrund unserer globalen Herausforde-rungen bietet die Nanotechnologie als Schlüsseltechno-logie viele neue Chancen in den Bereichen Klima, Ener-gie, Gesundheit, Ernährung, Mobilität, Sicherheit undKommunikation. Die Nanotechnologie hat unseren All-tag revolutioniert. Durch die speziellen Eigenschaftender Nanostrukturen ergeben sich neue funktionelle Ei-genschaften für Industrie, Kosmetika, neue Diagnostikaund Therapeutika. Nanotechnologie ermöglicht dieSchaffung von neuen Werkstoffen für effiziente Energie-speicherung, neue innovative Speichersysteme, Klima-und Naturschutz. Auch im Bereich Medizin bietet Nano-technologie neue Chancen. So können besser auf denPatienten zugeschnittene Implantate und Prothesen ent-wickelt werden, die eine bessere Funktionalität und Ver-träglichkeit aufweisen.Die Bundesregierung begleitet diese wichtigen tech-nologischen Entwicklungen durch die gezielte Förde-rung von Studien, Verbraucherbefragungen und Dialog-aktivitäten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen.Wichtig ist dabei, eine breite Akzeptanz in der Bevölke-rung zu erzielen. Dafür muss sie mit sachgerechten In-formationen versorgt werden. Der Dialog mit den Bür-
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Florian Hahn
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gern hat nun auch schon Tradition. Das BMU führt zumBeispiel sehr erfolgreich die Plattform Nano-Dialog,und auch andere Projekte stoßen auf großes Interesseseitens der Bevölkerung.So haben wir die zentralen Punkte des AktionsplansNanotechnologie 2015 mit unserem Antrag noch einmalgestärkt. Für uns ist besonders wichtig, dass die Poten-ziale der Nanotechnologie bei Produktivitäts- undWachstumssteigerungen ausgeschöpft werden undgleichzeitig der Nutzen für die Bevölkerung und der Ver-braucherschutz betont werden. Es ist sehr wichtig, dasswir durch konstante Aufklärung ein breites Verständnisund auch Akzeptanz für das Thema schaffen.Dass für die Bundesregierung das hohe Schutzniveauvon Mensch und Umwelt zentral ist, steht außer Frage.Wir müssen verantwortungsbewusst mit der Nanotech-nologie umgehen und vorausschauend handeln. Auf vie-len Gebieten, wie zum Beispiel in der Werkstoff- undOberflächenverarbeitung, ist dies unbedenklicher undeinfacher als auf anderen. So gibt es einige Unsicherheitim Bereich der Lebensmittel. Insgesamt befinden wir unsjedoch auf einem richtigen Weg, und auf EU-Ebene be-steht bereits eine Vielzahl an Regelwerken zu Nanomate-rialien. Horizon 2020 greift so auch in drei von fünf Un-terpunkten die Sicherheit, den Arbeitsschutz sowie dieNachhaltigkeit von Nanotechnologie auf. Im Zusammen-hang mit REACH wird derzeit in den entsprechendenGremien geprüft, ob eine weitere Anpassung notwendigist. Es ist ganz klar, dass sich die Bundesregierung hiermaßgeblich engagiert.Für ein Moratorium, wie es in dem Antrag der Grü-nen verlangt wird, besteht momentan kein Anlass. Wirhaben schon ausreichend Zulassungspflichten im Be-reich der Lebensmittel wie auch bei den Lebensmittel-kontaktmaterialien und bei Bedarfsgegenständen. Esgelten ganz einfach die allgemeinen lebensmittelrechtli-chen Vorschriften. Auch Kosmetikhersteller sind ver-pflichtet, eine Bewertung der Sicherheit der Erzeugnissevorzunehmen. In diesem Bereich wird nun sogar eineNotifizierungspflicht ab 2013 bestehen.Grundsätzlich lässt sich sagen: Es dürfen – obNanopartikel oder nicht – nur solche Produkte auf denMarkt gebracht werden, die sicher sind. Das gilt ganzunabhängig von der Partikelgröße der eingesetzten Ma-terialien oder Rohstoffe. „Nano“ bedeutet nicht auto-matisch eine Gefährdung, sondern weitere Parameter imZusammenspiel mit „Nano“ spielen eine Rolle. Deshalbmachen wir in unserem Antrag die sektorale Prüfungstark. Nanoprodukte müssen sich im Produktrecht, imArzneimittelrecht oder auch im Chemikalienrecht be-währen. Eine spezielle Regelung für Nanomaterialienhalte ich nicht für sinnvoll und auch nicht für rechtlichdurchsetzbar. Dem Antrag der Grünen können wir des-halb auch nicht zustimmen.Daran schließt sich nun auch direkt das Thema derErweiterung der Risikoforschung an. Die Bundesregie-rung hat im Rahmen des Aktionsplans einen Aufwuchsder Mittel vorgesehen. Dies befürworten wir auch in un-serem Antrag. Die Höhe der Mittel hängt jedoch von derExzellenz der eingereichten Projekte ab. Bei der Ver-gabe der Forschungsgelder ist die wissenschaftlicheQualität ausschlaggebendes Kriterium.Auch die Begleitforschung, die sich in Abgrenzungvon der Risikoforschung eher um gesellschaftsrelevanteFragen wie die Akzeptanz in der Bevölkerung kümmert,hat unter dieser Regierung eine Steigerung um 150 Pro-zent erfahren. Im Jahr 2011 bedeutet dies einen Zuwachsauf 14 Millionen Euro.Ich möchte zum Schluss nochmals betonen, dass dieWettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland vonhöchster Wichtigkeit für uns ist. In der Nanotechnologiesehen wir ein immenses wirtschaftliches Potenzial:Denn in Deutschland hängen schon heute mehr als63 000 Arbeitsplätze von der Nanotechnologie ab.Nicht nur die großen Unternehmen, sondern vor al-lem die KMU spielen im Bereich der Nanotechnologieund der neuen Materialien inzwischen eine Schlüssel-rolle im Innovationsprozess. Mit diversen Fördermaß-nahmen verfolgt die Bundesregierung das Ziel, dasInnovationspotenzial der KMU im Bereich der Spitzen-forschung zu stärken und sie für KMU attraktiver zu ge-stalten. Dies gelingt bisher auch schon sehr gut. So wur-den in den letzten 20 Jahren zahlreiche kleineUnternehmen aus der Taufe gehoben.Als exportorientiertes, rohstoffarmes Land hängtDeutschlands Wettbewerbsfähigkeit an Zukunftsmärktenwie der Nanotechnologie. Auf den Weltmärkten gibt eskaum noch ein Hightechprodukt, bei dem keine nano-technologischen Verfahren eingesetzt werden. DieseChance wollen wir wahrnehmen.
Zu Recht ist es parteiübergreifender Konsens, dassdie Nanotechnologie eine der wichtigsten Zukunftstech-nologien ist. Sie ist wichtig für den WirtschaftsstandortDeutschland, für den Wohlstand unseres Landes undnicht zuletzt für das Wohlergehen der Menschen. DieNanotechnologie kann zu enormen Fortschritten bei Ge-sundheit und Landwirtschaft, bei Energie- und Rohstoff-effizienz, bei Umwelt- und Klimaschutz und bei zivilerSicherheit beitragen.Trotz der rasanten Entwicklung steckt die Nanotech-nologie gegenwärtig noch in den Anfängen. Daraus er-gibt sich – auch das konstatieren die Grünen zu Recht –,dass es in diesem Bereich noch große Wissenslücken undForschungsbedarf gibt, nicht zuletzt hinsichtlich der Ri-sikoabschätzungen und Sicherheitsprüfungen. Die Op-positionsparteien stellen aber in ihren Anträgen die Ri-siken unverhältnismäßig in den Vordergrund. Für sielauern überall Gefahren. Sie schüren die Angst der Ver-braucher, und das nur aus einem einzigen Grund: Siewollen sich politisch profilieren. Statt die Verbrauche-rinnen und Verbraucher mit dieser Gespensterdebatte zuverunsichern, sollten Sie sich erst einmal den Aktions-plan Nanotechnologie 2015 anschauen. Wir sind auf ei-nem guten Weg, unsere Ziele zu erreichen.Die christlich-liberale Koalition setzt sich für einennachhaltigen und verantwortungsbewussten Verbrau-cherschutz ein. Dazu gehört auch, dass wir Unsicherhei-Zu Protokoll gegebene Reden
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Mechthild Heil
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ten und Ängste nicht unnötig schüren, nur um Schlagzei-len zu machen. Wir wissen um das enorme Potenzial derNanotechnologie in vielen Bereichen. Die Anwendungs-bereiche reichen von intelligenten Verpackungen übereffizientere Energiespeicherungssysteme bis hin zurKrebstherapie. Grundlage unseres Handelns ist aberstets die Gesundheit und Sicherheit der Menschen undder Umwelt. Das steht selbstverständlich für uns an ers-ter Stelle. Wir brauchen keinen Antrag der Opposition,um uns daran zu erinnern.Wir wissen auch: Wie bei jeder neuen Technologie,kann ein vorschneller Einsatz nanotechnologischer Ver-fahren mit Risiken für die Menschen und die Umweltverbunden sein. Deshalb setzen wir uns auch im Bereichder Nanotechnologie für einen verantwortungsvollenVerbraucherschutz ein:Die Bundesregierung fördert die Forschung zur Be-wertung und Reduktion möglicher Risiken. Im Jahr 2011wurden circa 230 Millionen Euro für Forschungsförde-rung und Risikoanalyse sowie weitere circa 170 Millio-nen Euro für die Grundlagen- und Begleitforschung be-reitgestellt.Am 15. Mai startete ein Kooperationsprojekt der Bun-desanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA,und der BASF mit einem Finanzvolumen von 5 Millio-nen Euro, in dem die Langzeitwirkungen von Nanomate-rialen erforscht werden.Produkte mit Nanomaterialien, mit denen Verbrau-cher und Berufstätige täglich in Kontakt kommen, wer-den durch ein besonderes Forschungsschwerpunktpro-gramm begleitet.Studien und Analysen werden durch Einrichtungendes Bundes mit Ressortforschungsaufgaben sowie durchdie Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin,BAuA, das Umweltbundeamt, UBA, das Bundesinstitutfür Risikobewertung, BfR, die Bundesanstalt für Mate-rialforschung und -prüfung, BAM, und die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, PTB, durchgeführt und koor-diniert.Noch mehr von dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern,haben wir bereits auf den Weg gebracht: Es gibt bereitsauf EU-Ebene umfangreiche Regelwerke, die auch dieNanomaterialien mit umfassen. Es gibt bereits Kenn-zeichnungspflichten für Produkte mit Nanomaterialienfür kosmetische Mittel, Lebensmittel und Biozide. DieEinführung eines branchenübergreifenden Nanoproduk-teregisters befindet sich national wie auch auf euro-päischer Ebene schon seit längerem im Gespräch. Wirwollen hier jedoch einen EU-weiten Ansatz. Momentanwerden die Grundlagen für eine europäische Nano-datenbank geprüft. Die EU-Kommission hat 2011 be-reits eine Definition für Nanomaterialien vorgelegt, dieim Jahr 2014 überprüft werden soll.Für das von den Grünen geforderte Moratorium inBezug auf das erstmalige Inverkehrbringen von ver-brauchernahen und umweltoffenen Anwendungen vonNanomaterialien besteht kein Anlass. Sie haben wohl andieser Stelle Ihres Antrags bereits vergessen, dass Sie imersten Satz die Nanotechnologie als Schlüsseltechnolo-gie bezeichnet haben. Daraus folgt nun trotzdem: imZweifelsfall verbieten. Sie nennen das „Moratorium“,also „Verbot mit Zulassungsvorbehalt“. Das heißt doch,dass deutsche Unternehmen zunächst einmal die For-schungsergebnisse abwarten müssen, bis möglichst alleWissenslücken geschlossen sind. Das würde für diesesLand schlicht den Ausstieg aus der Nanotechnologie be-deuten.Das können wir uns nicht leisten. Deshalb ist ein wei-terer Schwerpunkt des Aktionsplans Nanotechnologie2015 die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutsch-lands im internationalen Vergleich, indem die kleinenund mittelständischen Unternehmen, die 80 Prozent derNanotechnologieunternehmen ausmachen, beispiels-weise mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittel-stand unterstützt werden.Die Linke fordert in ihrem Antrag „Wirksamen Ver-braucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen“, die För-derstruktur des Bundes im Bereich der Nanotechnolo-gien neu auszurichten. Die aktuellen Zahlen entkräftendiese Forderung: Deutschland nimmt beim Fördervolu-men im Nanotechnologiebereich im internationalen Ver-gleich den vierten Platz hinter den USA, Japan undRussland ein. Bei der Risiko- und Begleitforschung stehtDeutschland sogar weltweit an erster Stelle. Deutsch-land ist also führend in der Risikoforschung im Bereichder Nanotechnologie.Es ist besonders wichtig, dass die Nanotechnologievon der Bevölkerung akzeptiert wird. Dafür benötigt siesachgerechte Informationen, wie dies zum Beispieldurch den Nanodialog oder die Internetseite www.nanopartikel.info gewährleistet wird. Durch gute und sachli-che Informationen können Vorurteile abgebaut werden.Ihr Antrag, der die Risiken in den Vordergrund stellt, be-wirkt das Gegenteil.Das Fazit lautet: Einmal mehr hinkt die Oppositionmit ihren Anträgen der Realität hinterher. Einmal mehrverunsichern Anträge, die nicht um der Sache willen,sondern um des Effektes willen gestellt wurden, dieMenschen. Wir wissen, dass die Nanotechnologie eingroßes Potenzial für gesellschaftlichen Fortschritt, Ge-sundheit und Wohlstand bietet. Wir wissen, dass derSchutz von Mensch und Umwelt im Bereich der Nano-technologie an erster Stelle steht. Ich kann Ihnen versi-chern: Wir sorgen für wirksamen und klugen Verbrau-cherschutz.
Zum wiederholten Male diskutieren wir in diesemHause über die Nanotechnologie. Welche großen Chan-cen und Möglichkeiten Nanotechnologie bietet, habe ichan dieser Stelle schon häufig genug betont. Erlauben Siemir deshalb, mich heute schwerpunktmäßig mit dennoch unklaren und teilweise auch problematischen Be-reichen zu befassen.Anfang 2011 hat die Bundesregierung ihren Aktions-plan Nanotechnologie 2015 vorgestellt. Ende 2011 folg-ten die Koalitionsfraktionen mit dem Antrag „Aktions-plan Nanotechnologie 2015 gezielt weiterentwickeln“.Zu Protokoll gegebene Reden
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Man hätte annehmen können, die Koalition würde in ih-rem Antrag die besonders wichtigen bzw. problemati-schen Bereiche herausgreifen und dazu Lösungsansätzevorschlagen. Aber leider weit gefehlt: Der uns hier zumVotum vorgelegte Antrag ist vielmehr ein „Plagiat“ desAktionsplans der Bundesregierung. Er wiederholt inschönen Sätzen das, was die Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter des Ministeriums bereits im Aktionsplan nieder-geschrieben haben, und das ist zum großen Teil eine Be-standsaufnahme der aktuellen Situation. PolitischeLeitlinien findet man weder dort noch im Antrag. Von„Weiterentwicklung“ des Aktionsplans gar, wie dieÜberschrift des Koalitionsantrags verheißt, kann mansomit beim besten Willen nicht sprechen.Dabei wäre es für die Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU doch eigentlich so einfach gewesen, aus ih-rem Antrag aus der letzten Legislativperiode abzu-schreiben: In der Großen Koalition haben wir zusam-men den Antrag mit der Drucksachennummer 16/12695erarbeitet. Viele der dort aufgeführten Forderungen sindnoch heute gültig. Diese hätten Sie nur in Ihren Antragübernehmen und weiterführen müssen.So haben SPD und CDU/CSU in der Großen Koali-tion zum Beispiel gefordert, dass der Anteil der Mittelfür die Risikoforschung bis 2012 auf 10 Prozent der fürdie Nanotechnologieforschung eingeplanten Mittel an-gehoben wird. Diese Forderung hätten Sie, wie ichgleich ausführe werde, aufgreifen und weiterentwickelnkönnen. Die Bundesregierung hat die Nanotechnologienach eigenen Angaben im letzten Jahr mit circa 400 Mil-lionen Euro unterstützt. Laut Aussage des Bundesminis-teriums belaufen sich die Mittel für Begleit- und Risiko-forschung aktuell auf 14 Millionen Euro. Das klingt ersteinmal nach viel Geld. Aber es sind bei weitem nicht dievom Bundestag geforderten 10 Prozent.Darüber hinaus vermischt die Bundesregierung hierRisiko- und Begleitforschung. Diese sind aber nichtidentisch. Bei der Begleitforschung sollen zum Beispielsolche Fragestellungen bearbeitet werden wie, welchesWissen innerhalb der Bevölkerung zum Thema Nano-technologie vorhanden ist oder welche ethischen As-pekte im Bereich der Nanomedizin beachtet werdenmüssen. Unter der Risiko- oder Sicherheitsforschungverstehen wir hingegen zum Beispiel die toxikologischeUntersuchung eines Nanopartikels und die möglichenAuswirkungen auf den menschlichen Organismus. NachAngaben des Bundesministeriums hat diese Bundesre-gierung die Risikoforschung im Zeitraum von 2009 bis2012 anteilig mit gerade einmal 6,2 Prozent gefördert.Das ist in Anbetracht der enormen Chancen, aber auchder immer noch vorherrschenden Wissenslücken einfachzu wenig. In diesem Bereich wäre deshalb eine klareForderung der Regierungsfraktionen angebracht.Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU undFDP, fordern in Ihrem Antrag aber stattdessen nur einen„kurzfristigen Förderschub“ für die Risikoforschung.Entschuldigen Sie, aber etwas Abstrakteres ist Ihnennicht eingefallen? Wie genau dürfen oder sollen dieBundesministerien diese Formulierung denn auslegen?Warum können Sie keine konkreten Zielvorgaben formu-lieren? Unter politischer Führung erwarten die Ministe-rien und die Bürgerinnen und Bürger zu Recht etwas an-deres.Bei der Nanotechnologie gibt es darüber hinaus ge-nug weitere Themen, bei denen es einer politischenPositionierung bedürfte. Wie stehen Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen der CDU/CSU und FDP, denn zumProduktregister oder zur Produktkennzeichnung? Wel-che Forschungsbereiche der Nanotechnologie solltenaus Ihrer Sicht verstärkt gefördert werden? Wie solltendie Ergebnisse der Nanokommission umgesetzt werden?In welchen Strukturen sollten Ihrer Meinung nach dieDialogaktivitäten ausgebaut werden? Wo sehen Sie ge-setzlichen Regulierungsbedarf? Dies sind nur einigeFragen, bei denen eine Positionierung Ihrerseits ange-bracht gewesen wäre.Im Herbst werden wir im Ausschuss für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung ein Fachge-spräch zum Thema Nanotechnologie veranstalten. Viel-leicht hilft dies Ihnen bei der politischen Positionierung.Als Lektüre für die Sommerpause empfehle ich Ihnen an-sonsten den SPD-Antrag zur Nanotechnologie. Bei kor-rekter Zitierweise dürfen Sie sich inhaltlich daraus gernbedienen.
Winzig sind Nanopartikel, riesig sind ihre Potenzialeund Chancen, aber auch die Unsicherheit und Unklar-heit über mögliche Auswirkungen und Risiken aufMensch und Umwelt. Fast unbemerkt werden immermehr verschiedene Nanoteilchen in unterschiedlichenAnwendungen eingesetzt. Wissen Sie, ob in dem neuenantibakteriellen Schuhdeo, im Regenmantel, im Nagel-lack oder in der neuen Nachtpflege Nanopartikel enthal-ten sind? Heute können Verbraucherinnen und Verbrau-cher kaum erkennen, ob sie Produkte kaufen, die mittelsNanotechnologie hergestellt wurden oder in denenNanomaterialien stecken.Nicht ohne Grund hat der Sachverständigenrat fürUmweltfragen in seinem Gutachten vom September2011 einen „Anlass zur Besorgnis“ bei einigen Produk-ten und Verwendungen gesehen, wie das Beispiel Nano-silber in Socken zeigt. Viele dieser Produkte kommenbesonders dicht an die Verbraucherin und den Verbrau-cher heran. Bisher lässt aber die Datenlage eine ab-schließende gesundheitliche Risikobewertung nicht zu.Die vielen Unklarheiten führen dazu, dass die Verbrau-cherin und der Verbraucher in zunehmendem Maße ver-wirrt und ratlos bleiben und die vielen neuen Produkte,die mit den Vorteilen von Nanotechnologie werben,nicht einschätzen können.Doch genau in diesem Punkt bleibt der AktionsplanNanotechnologie 2015 der Bundesregierung hinter denErwartungen an eine sinnvolle Risikovorsorge derVerbraucher weit zurück. Denn außer reinen Lippen-bekenntnissen zu einer „wissenschaftlich fundierten Ri-sikobewertung“ oder zur Sicherheitsforschung in Teil-bereichen ist dort auffallend wenig über den direktenVerbraucherschutz und eine Verbraucheraufklärung inErfahrung zu bringen. Denn nach wie vor ist es den Ver-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21607
Rita Schwarzelühr-Sutter
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braucherinnen und Verbrauchern häufig schlicht nichtersichtlich, ob es sich um ein Produkt mit Nanomateria-lien handelt, welches sie gerade in den Händen halten.Weder über etwaige Wirkungen noch über spezifischeVorteile werden sie in der Regel aufgeklärt.Eine generelle Kennzeichnungspflicht für nanohal-tige Produkte kann hier Abhilfe schaffen. Derzeit istlediglich in der im Sommer 2011 beschlossenen EU-Lebensmittelinformations-Verordnung eine Pflicht zurKennzeichnung aufgenommen worden. Die verpflich-tende Kennzeichnung für Kosmetika innerhalb der Euro-päischen Union wird 2013 umgesetzt. Andere verbrau-chernahe Produkte können ohne jeglichen Hinweis aufNanomaterial vertrieben werden. Wir fordern eine gene-relle und sichtbare Kennzeichnung von Nanostoffen inallen verbrauchernahen Produkten, um eine Abwägungvon Vor- und Nachteilen dem Ermessensspielraum derVerbraucherin oder dem Verbraucher zu überlassen.Dazu müssen sowohl der versprochene Mehrwert alsauch verlässliche Informationen über mögliche gesund-heitliche Schäden benannt werden, um eine bewussteKaufentscheidung zu ermöglichen.Eine weitere Form, um die Interessen der Verbrau-cherinnen und Verbraucher zu wahren und Auskunft da-rüber geben zu können, welche Produkte mit Nanomate-rialien in Deutschland hergestellt oder vertriebenwerden, ist die baldmögliche Einführung eines öffentli-chen Produktregisters. Eine solche Übersicht über Na-noprodukte und deren Spezifikationen ermöglicht es denBehörden, im Rahmen eines Risikomanagements schnellreagieren zu können. Aber auch im Sinne der Markt-transparenz ist eine Übersicht über alle auf dem Marktbefindlichen verbrauchernahen Produkte mit Nanoma-terialien für die Verbraucherinnen und Verbraucher ge-währleistet. Eine EU-weite Einführung eines solchenProduktregisters würde sich anbieten, wobei eine natio-nale Zwischenlösung denkbar ist, sofern sie mit einemzukünftigen europäischen Produktregister vereinbarwäre.Die Bundesregierung ist gefordert, sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass ein öffentliches Nano-produktregister und eine Kennzeichnungspflicht beinanohaltigen Inhaltsstoffen EU-weit eingeführt werden.Parallel dazu ist die Erarbeitung eines nationalen Na-noproduktregisters als Übergang zu einer europäischenLösung notwendig. Denn bereits 2009 hat die GroßeKoalition im Bundestag die Bundesregierung aufgefor-dert, „eine Informationsquelle zu schaffen, die Bevölke-rung, Politik und Wirtschaft über geltende Bestimmun-gen, Vorschriften und Empfehlungen informiert unddurch die zuständigen Bundesbehörden laufend aktuali-siert wird“. Wir halten daran fest.
Die Nanotechnologie ist eine Zukunftstechnologie mitgroßem wirtschaftlichen und gesellschaftlichem Innova-tionspotenzial, sei es in der Medizin, der Informa-tionstechnologie, der Umwelttechnik, der Energieerzeu-gung oder der Mobilität. Nanotechnologie verfügt überdas Potenzial zur grundlegenden Durchdringung ganzerTechnologiefelder. Deshalb ist die Nanotechnologie eineQuerschnitttechnologie, mit enormer Bedeutung für In-dustrie und den Wissenschaftsstandort Deutschland.Diese Bedeutung wird weiter wachsen; denn Forschungund Entwicklung erschließen immer neue Anwendungs-felder. Aus diesem Potenzial schöpfend bedeutetNanotechnologie für uns Produktions- und Wirtschafts-wachstum.Die Bedeutung der Nanotechnologie erschöpft sichaber nicht nur in Wirtschaftspolitik. Nano bedeutet aucheinen geringeren Ressourcenverbrauch, eine Verbesse-rung von Produkten, Verfahren und Stoffen. Kurzum:Nanotechnologie hat gesellschaftliche Implikationen;denn die Gesellschaft wird in zahlreichen Lebensberei-chen von Anwendungen der Nanotechnologie profitie-ren.Um die Potenziale für Wirtschaft und Gesellschaft zunutzen, braucht es eine Gesamtforschungsstrategie zurNanotechnologie. Als Koalition und Regierung habenwir diese mit dem Aktionsplan Nanotechnologie 2015vorgelegt. Der Aktionsplan Nanotechnologie 2015wurde von acht Bundesministerien übergreifend im Res-sortkreis Nanotechnologie erarbeitet. Anliegen des Ak-tionsplans ist es, die Potenziale der Nanotechnologie zunutzen und in strategischen Schwerpunkten zu fördern.Dabei wird die Förderung der Forschung und Entwick-lung von dieser christlich-liberalen Koalition erstmalsauf die gesellschaftlichen Herausforderungen ausge-richtet. Diese gesellschaftlichen Herausforderungen lie-gen in der Gesundheit, Ernährung und Landwirtschaft,in Fragen zu Umwelt, Klima und Energie sowie in derMobilität, Sicherheit und Informationstechnologie.Daneben zielt der Aktionsplan Nanotechnologie 2015auf die verantwortungsvolle, sichere und nachhaltigeNutzung der Nanotechnologie. Zentraler Bestandteil istaus diesem Grund heraus die Sicherheits- und Risikofor-schung. Denn Nanotoxizität ist ein sensibles Thema, dasweder unterschätzt noch mit übertriebener Furcht ange-gangen werden darf. Aufgrund ihrer geringen Größeund neuen Wirkeigenschaften können einzelne Nanoma-terialien eine Gefahr für Mensch und Umwelt darstel-len. Bislang aber liegen keine einheitlichen Ergebnisseaus wissenschaftlichen Studien vor, die die Toxizität ein-zelner Nanomaterialien eindeutig belegen. Vielmehrkrankt eine Vergleichbarkeit der wissenschaftlichenUntersuchungen und Ergebnisse an der fehlenden Ein-heitlichkeit von Messmethoden und Messtechnik. Diesezuallererst zu entwickeln, muss daher das Anliegen einerumfassenden Sicherheits- und Risikoforschung sein, umeine realistische und verantwortungsvolle Risiko-abschätzung zu gewährleisten.Im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-genabschätzung legten SPD und Grüne dar, dass es überdas Gefahrenpotenzial und die Toxizität einzelner Nano-materialien gesicherte Kenntnisse gebe. Als argumenta-tive Grundlage wurde der Sachverständigenrat fürUmweltfragen mit der im September 2011 veröffentlich-ten Studie „Vorsorgestrategien für Nanomaterialien“herangezogen. Doch auch der überaus nanokritischeSachverständigenrat für Umweltfragen kommt in seinerZu Protokoll gegebene Reden
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21608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dr. Martin Neumann
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Stellungnahme nicht umhin … festzustellen: „PauschaleUrteile über die Risiken von Nanomaterialien sind nichtmöglich. Bisher gibt es keine wissenschaftlichen Be-weise dahin gehend, dass Nanomaterialien – wie sieheute hergestellt und verwendet werden – zu Schädigun-gen von Umwelt und Gesundheit führen“.Nanomaterialien sind nicht per se als risikobehaftetzu verurteilen. Deshalb besteht keinerlei Grundlage fürgesetzliche Maßnahmen, nationale und europäische, wiees die Grünen im Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung oder ihrem eigenen Antragzur Nanotechnologie fordern. Vielmehr sollten nationa-les und europäisches Recht verantwortungsvoll ange-wendet werden. In guter Erinnerung ist mir in diesemZusammenhang die EPTA-Konferenz im September 2011hier im Deutschen Bundestag. Wissenschaftler und Ver-treter der European Chemical Agency plädierten für dieAnwendung bestehenden Rechts. Eine Anpassung oderRevision der REACH-Verordnung oder anderer Gesetzewird als nicht zielführend angesehen. Effektiven undgrößeren Schutz leistet die European Chemical Agencyin ihrer Arbeit und Kontrolle auf Interpretation beste-hender Gesetze.Zudem besteht das Problem, dass Nanomaterialienweder den Stoffen, den Produkten noch den Chemikalieneindeutig zuzuordnen sind. Selbst Nanomaterialien, diesich nach Merkmalen oder bestimmten Eigenschaften inGruppen fassen lassen, wie Nanofasern, Nanostaub oderaktive Nanostrukturen, können nur selten direkt mitei-nander verglichen werden. Daher bedarf es vielmehr derEinzelprüfungen des jeweiligen Nanomaterials. DasBundesministerium für Bildung und Forschung hat andiesem Punkt bereits mit dem Risikoforschungspro-gramm NanoCare einen ersten wichtigen Schritt ge-macht. Untersucht wird, wie einzelne synthetische Nano-materialien auf Organismen wirken. In diesem Zugewurden auch neue Messmethoden und Messtechniken er-arbeitet, die nun die Sicherheitsforschung weiterbrin-gen.Ein weiteres Beispiel dafür, dass wir die Sicherheits-und Risikoforschung überaus ernst nehmen, anders alsvon den Oppositionsfraktionen unterstellt, zeigt die vonder Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizinund weiteren Ressortforschungseinrichtungen aufgelegteForschungsstrategie. Innerhalb dieser Forschungsstra-tegie sind circa 60 Projekte angesetzt, die zwar vereinzeltErgebnisse liefern, jedoch keine Grundlage für gesetzli-ches Handeln nahelegen.Der Aktionsplan Nanotechnologie 2015 setzt ein aus-gewogenes Verhältnis von Förderung und Sicherheits-forschung. Um Akzeptanz in der Gesellschaft und beiden Verbrauchern zu schaffen, sind Transparenz undKommunikation geboten. Eine fortwährende Stigmati-sierung der Nanotechnologie, wie es die Grünen im Aus-schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung, mit Anträgen oder öffentlichen Erklärungenmachen, fördert keinerlei Akzeptanz. Vielmehr ist dervon dieser christlich-liberalen Koalition vorgebrachteAktionsplan Nanotechnologie 2015 richtig, in dem derDialog mit den Bürgern über die Chancen und Risikender Nanotechnologie intensiviert wird. Bereits heuteexistieren eine Onlineplattform und andere Nanodiskus-sionsformate wie der Nanodialog, wo wir mit den Bür-gern in einen ehrlichen Dialog treten.
Der Nanotechnologie wird ein erheblicher gesell-schaftlicher und ein noch höherer wirtschaftlicher Nutzenzugeschrieben. Das Bundesministerium der Verteidigungerhofft sich, mit Nanotechnologie die „Leistungsfähigkeitzukünftiger militärischer Systeme erhöhen“ zu können;sie scheint kriegstauglich zu sein – ein großer Ansporn fürdie deutsche Rüstungsindustrie und ihre Rüstungsfor-schung.Nanotechnologie soll Herstellungsabläufe beschleu-nigen und Kosten senken. Auch Produkte des täglichenBedarfs können ganz neue Eigenschaften aufweisen undlanglebiger werden. Der Energie- und Ressourcenver-brauch kann gesenkt werden. Nanobasierte Verfahrenkönnen vor allem im medizinischen Bereich zur Thera-pie und Gesunderhaltung wie auch im Umwelt- und Kli-maschutz eingesetzt werden.In der Praxis zeigt sich ein sehr viel schlichteres Bild.Nanostoffe werden vor allem in bestehenden Feldern derIndustrie im Herstellungsprozess angewandt. Die Inno-vation besteht für die Unternehmen im Wesentlichen imKostensenkungspotenzial. Wie die Mittelvergabe zurFörderung der Nanotechnologie zeigt, findet von staat-licher Seite keine Lenkung der Mittel statt. Eine Schwer-punktsetzung hin zu gesellschaftlich wichtigen Themen-bereichen fehlt. Das ist nicht im Interesse unserer Ge-sellschaft und fördert ausschließlich die Gewinne derUnternehmen.Bund und Länder bezuschussten dies im vergangenenJahr mit fast 400 Millionen Euro. Allein die Bundesre-gierung förderte Nanotechnologien mit etwa 200 Millio-nen Euro pro Jahr. Nur ein Bruchteil davon wird für ge-sellschaftlich relevante Bereiche aufgewendet. Für denEnergiebereich wurden nur 2 Prozent der Förderungaufgewendet. Der bedeutenden Risikoforschung kamenaus Geldmitteln des Bundes bisher nur 4 Prozent derFörderung zu. Auf die Sicherheitsforschung und Risiko-bewertung im Rahmen der Vorsorge entfielen sogar nur0,2 Prozent der Gelder. Als Linke sage ich: Eine verant-wortungsvolle Entwicklung von Nanotechnologie siehtanders aus.Mit Blick auf die Umwelt- und Gesundheitsrisiken er-weist sich das Programm der Bundesregierung sogar alswirkungslos. Mit Ausnahme von Nanosilber gibt es beimEinsatz von Nanopartikeln in Lebensmitteln oder vonNanotechnologie bei Bedarfsgegenständen keine er-kennbaren Maßnahmen für eine wirksame Gesundheits-vorsorge der Bevölkerung. Die Ergebnisse der Nano-Initiative der Bundesregierung lieferten hierfür nochkeine verwertbare Grundlage. Dem Antrag der Grünenzum Verbot von Nanosilber in verbrauchernahen Pro-dukten stimmen wir daher ausdrücklich zu. Klar ist: So-lange die Pflicht zur umfassenden Risikoforschung nichtgrundlegender Bestandteil der Forschungsstrategie desBundes und der Länder ist, kann der Gesetzgeber tech-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21609
Karin Binder
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nischen Fortschritt und gesundheitliche Vorsorge beiNanostoffen nicht in Einklang bringen.Allerdings stimmt die bisherige Schwerpunktsetzungbei der Förderung mit den im nano.DE-Report 2011 derBundesregierung formulierten Zielen überein: MöglicheRisiken der Nanotechnologie in den Bereichen Verbrau-cher-, Arbeits- und Umweltschutz werden als „Hemmnisbei der Vermarktung nanotechnologischer Produkte“festgemacht. Deshalb gibt es auch keinerlei Bemühun-gen der Koalition um eine Kennzeichnungspflicht. Dasträgt die Linke nicht mit.Verbraucherinnen und Verbraucher wägen Nutzenund Risiken verantwortungsvoll ab. Das zeigt der Falldes Bekleidungsherstellers Jack Wolfskin. Dieser er-klärte im Februar 2010, künftig freiwillig auf Nano-Tex-Produkte verzichten zu wollen. Hintergrund war dieanhaltende öffentliche Diskussion über unerforschteRisiken bei der Anwendung von Nanostoffen. Das Ver-halten der Verbraucherinnen und Verbraucher hat indiesem Fall zu Absatzproblemen geführt, weil die Ziel-gruppe ebenso umweltbewusst wie gesundheitsorientiertist. Hier zeigt sich: Die Vernachlässigung der Risikofor-schung durch die Bundesregierung kann sogar wirt-schaftliche Schäden verursachen.Tatsächlich hat die zunehmende Befassung der Öf-fentlichkeit mit den möglichen Risiken der Nanotechno-logie zu einer gewissen Skepsis bei Verbraucherinnenund Verbrauchern geführt. Die Folge: Unternehmenverschleiern inzwischen Nanobestandteile in ihren Pro-dukten. So findet sich die Kennzeichnung „Nano“ beiLebensmitteln nur in einer 1,2 Millimeter kleinen Schriftin der Zutatenliste auf der Verpackungsrückseite wieder.Die Lebensmittelindustrie behauptet sogar, dass garkeine Nanopartikel auf dem Markt seien, obwohl bereitsnanoskalige Zutaten Verwendung finden. Der Gesetzge-ber ist hier endlich gefordert, die Verschleierung zu ver-bieten. Nanobestandteile in Lebensmitteln und Bedarfs-gegenständen müssen klar und deutlich ausgewiesenwerden.Ich fasse noch einmal zusammen: Nanotechnologiebietet Chancen für Unternehmen in Deutschland. Siekann industrielle Prozesse und Verfahren verbessern.Produkte können weiterentwickelt und mit neuenEigenschaften versehen werden. Wichtige Nutzungs-möglichkeiten ergäben sich in der Medizin sowie imUmwelt- und Klimaschutz. Für Verbraucherinnen undVerbraucher hingegen ist der Mehrwert begrenzt. Ob einZusatznutzen bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenstän-den in einem vernünftigen Verhältnis zu möglichen Risi-ken und Mehrkosten stehen wird, ist derzeit offen.Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an deneigenen Versprechungen vorbei. Wichtige Themen, wieerneuerbare Energien und Umweltschutz, machen einenverschwindend geringen Teil der Förderung aus. DieErforschung und Bewertung von gesundheitlichen undumweltbezogenen Risiken wird vernachlässigt. Der Ge-setzgeber ist derzeit nicht in der Lage, wirksame Vorsor-gemaßnahmen für Gesundheit und Umwelt zu treffen, dadie Datenbasis fehlt.Gleichwohl gibt es ernstzunehmende Befunde zu ge-sundheitsgefährdenden Wirkungen beim Menschen. ImÖkosystem sind Störungen durch Nanostoffe bereitsnachgewiesen. Nanopartikel sind daher für die breiteVerwendung bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenstän-den ungeeignet. Besonders bedenklich ist, dass die In-dustrie versucht, mögliche Risiken herunterzuspielen.Verbraucherschutz kommt im Bereich der Nanotechno-logie praktisch nicht vor. Der Gesetzgeber muss eineKenntlichmachung aller nanobehafteten Produkte sicher-stellen. Dabei reicht ein Hinweis auf der Verpackungs-rückseite nicht aus.Die Linke fordert deshalb die Einrichtung einesöffentlichen Nanoproduktregisters. Jedes erfassteNanomaterial, das bewusst hergestellt wird, muss eineunabhängige gesundheits- und umweltbezogene Risiko-bewertung durchlaufen und behördlich zugelassen wer-den, bevor es als Rohstoff oder Produkt auf den Marktkommt. Gegenüber Verbraucherinnen und Verbrauchernsollen Produkte, die Nanopartikel beinhalten, im Haupt-blickfeld des Produktes auf der Verpackung kenntlichgemacht werden. Der Zusatznutzen und die Unbedenk-lichkeit müssen belegt und in allgemein verständlicherWeise erläutert werden. Die Hälfte der Fördergelder sollunmittelbar in die gesellschaftlich wichtigen BereicheEnergie, Umwelt, Klimaschutz, Ressourcenschonung so-wie in die Medizin fließen. Zur unternehmensunabhän-gigen Erforschung und Bewertung von gesundheitlichenund umweltbezogenen Risiken, die von Nanostoffen undnanobehafteten Produkten ausgehen können, sind min-destens 10 Prozent oder insgesamt wenigstens 40 Mil-lionen Euro bereitzustellen.
Nanopartikel finden sich inzwischen in den unter-schiedlichsten Produkten und Anwendungen und bergenunbestritten hohe Potenziale für innovative Produktent-wicklungen. Auch die wirtschaftliche Bedeutung des in-dustriellen Nanotechnologiesektors ist in den letztenJahren stetig gewachsen, und erfreulicherweise partizi-pieren gerade mittelständische Unternehmen an dieserEntwicklung.Allerdings bestehen große Defizite im Bereich desUmwelt- und Verbraucherschutzes und in der Risikofor-schung. Nanopartikel schlüpfen in weiten Teilen durchdie Kontroll- und Regulierungsregimes, die nicht auf diespezifischen Eigenschaften der Winzlinge hin ausgerich-tet sind, die wegen ihrer geringen Größe deutlich anderephysikalische und chemische Eigenschaften aufweisenals ihre jeweiligen Ausgangsstoffe. Insbesondere der Ein-satz von ungebundenen Nanopartikeln in verbraucher-nahen und umweltoffenen Anwendungen wie Kosmetika,Lebensmittelverpackungen und Reinigungsmitteln isthinsichtlich der Risiken für Mensch und Umwelt zu we-nig erforscht und unzureichend reguliert. Daher mussdas Vorsorgeprinzip zum Leitsatz im Umgang mit derNanotechnologie werden. Das hat auch der Sachver-ständigenrat für Umweltfragen in seinem Sondergutach-ten zu Nanomaterialien betont.Zu Protokoll gegebene Reden
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21610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Nicole Maisch
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Von Schwarz-Gelb kommt erwartungsgemäß nichtviel. Der wenig ambitionierte Aktionsplan der Bundes-regierung berücksichtigt weder die Empfehlungen dereigens eingesetzten Nanokommission, noch geht er aufaktuelle Gefahrenhinweise bezüglich bestimmter Stoffewie etwa Nanosilber ein. Der Antrag der Regierungs-fraktionen macht den Aktionsplan leider auch nicht bes-ser oder konkreter. Das Vorsorgeprinzip oder konkreteMaßnahmen zum Umwelt- und Verbraucherschutz suchtman in dem Antrag vergebens; stattdessen geben sichFDP und Union mit dem Status quo zufrieden.Wir fordern, die Sicherheits- und Risikoforschungdeutlich auszuweiten, um die vorhandenen Wissens-lücken zu schließen und die Unsicherheit in Bezug aufdas Gefahrenpotenzial bestimmter Nanomaterialen zu ver-ringern. 10 Prozent der insgesamt zur Verfügung stehen-den öffentlichen Mittel für die Nanoforschung solltendiesem Zweck gewidmet sein. Wir bedauern, dass sichdie Koalition in ihrem Antrag um eine konkrete Zahlherumdrückt; offensichtlich steht die Union nicht mehrzu den 10 Prozent, die sie noch in der Großen Koalitionmit beschlossen hatte.Wir brauchen nanospezifische Prüf- und Zulassungs-verfahren und Regelungen hinsichtlich der Produkthaf-tung. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hathierzu gute Vorschläge gemacht, die die Bundesregie-rung aufgreifen sollte. Dazu gehören auch angepassteNovellen der Novel-Food-Verordnung und des euro-päischen Chemikalienrechts REACH. Auch die Regelun-gen zum Arbeitsschutz müssen um nanospezifische Re-gelungen ergänzt werden.Verbraucherinnen und Verbraucher haben das Recht,zu wissen, was in den Produkten steckt, die sie kaufen,und wollen wissen, ob diese Inhaltsstoffe neben den be-worbenen Vorteilen auch mögliche Risiken und Neben-wirkungen mit sich bringen. Wir fordern deshalb eineverständliche Kennzeichnung für verbrauchernahe undumweltoffene Nanoprodukte, eine Meldepflicht für Nano-produkte und ein öffentlich zugängliches Nanoprodukt-register, um Transparenz und Wahlfreiheit zu gewähr-leisten und den Regulierungsbehörden einen Überblicküber den Markt zu ermöglichen.Außerdem müssen Behörden die Möglichkeit haben,im Besorgnisfall Maßnahmen zum Schutz von Menschund Umwelt zu ergreifen und gefährliche Produkte vomMarkt zu nehmen bzw. Nanomaterialien, bei denen mög-liche Risiken und Gefahren für die menschliche Gesund-heit bestehen, den Marktzugang zu verweigern. Dastrifft unter anderem für den Einsatz von Nanosilber inverbrauchernahen Produkten zu. Sowohl das Bundes-institut für Risikobewertung als auch das Umweltbundes-amt haben vor den möglichen Gefahren beim Einsatzvon ungebundenem Nanosilber in verbrauchernahenProdukten gewarnt. Nanosilber kann sich nicht nuraußen an menschliche Zellen anlagern, sondern auchbiologische Grenzen überwinden und somit in Zelleneindringen.Wenn die Sicherheit von Menschen und Umwelt nichtoberste Priorität hat, wird es keine breite Akzeptanz fürneue Technologien wie die Nanotechnologie geben.Nachhaltiges Wirtschaftswachstum kann nie gegen dieInteressen von Verbrauchern und Umwelt realisiert wer-den. Deshalb brauchen wir eine vernünftige Regulie-rung der Nanotechnologie, die Chancen nutzt und Risi-ken minimiert.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und
FDP mit dem Titel „Aktionsplan Nanotechnologie 2015
gezielt weiterentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9771,
den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/7184 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Das sind alle drei Oppositionsfrak-
tionen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz auf Drucksache 17/8821.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5917 mit dem
Titel „Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen
durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Frak-
tion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/3689 mit dem Titel „Einsatz von
Nanosilber in verbrauchernahen Produkten zum Schutz
von Mensch und Umwelt stoppen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Bündnis 90/Die Grünen und Links-
fraktion. Enthaltungen? – Fraktion der Sozialdemokra-
ten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Geodatenzugangsgesetzes
– Drucksache 17/9686 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungzur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes betrifft uns– obwohl wir dies auf den ersten Blick nicht annehmen –in vielen Bereichen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21611
Dr. Thomas Gebhart
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Digitale Geodaten werden – gerade in einer vernetz-ten Welt – zu unterschiedlichsten Zwecken benötigt.Räumliche Daten der Erde sind für die Klimaforschung,die Rohstoffgewinnung und die Erschließung von Res-sourcen entscheidend. Sie können aufzeigen, wo Glet-scher schmelzen oder Niederschlagsmengen steigen. Siehelfen erkennen, wo es Potenziale für die Nutzung er-neuerbarer Energien gibt, weil sie beispielsweise aufzei-gen können, wo in Deutschland die Hotspots für die Er-zeugung von Strom aus Geothermie oder Windkraft zufinden sind. Geodaten weisen Gebiete aus, die für öko-logische Ausgleichsmaßnahmen genutzt werden können,oder bilden die Grundlage für politische Entscheidun-gen dort, wo Menschen von Zuglärm betroffen sind. Sieschaffen Mobilität, denn sie sind für GPS- oder Naviga-tionssysteme in mobilen Endgeräten unerlässlich.Ich freue mich daher, dass der Bund mit dem Gesetzseinen Teil zur Bereitstellung dieser Daten beitragenwird. Mit der Änderung des Geodatenzugangsgesetzesschaffen wir die Grundlage dafür, dass Geodaten undGeodatendienste des Bundes künftig grundsätzlich geld-leistungsfrei für die kommerzielle und nichtkommer-zielle Nutzung verfügbar sind. Dadurch können wir dasin den Geodaten des Bundes liegende Wertschöpfungs-potenzial umfänglich nutzen, weil sich unterschied-lichste Akteure in den genannten Bereichen neue Ge-schäftsfelder erschließen können.Nicht nur deshalb wird das Gesetzesvorhaben seitensder Wirtschaft ausdrücklich begrüßt und unterstützt.Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sprichtvon einem richtungsweisenden Schritt, der auf Bundes-ebene mit der Bereitstellung der in der Hand des Bundesliegenden Geodaten vollzogen wird. Die Länder sindnun aufgefordert, nachzuziehen.Hintergrund der Regelungen über den Zugang zuGeodaten und Geodatendiensten ist die INSPIRE-Richt-linie. Mit ihr wurde auf europäischer Ebene ein umfas-sendes Regelwerk geschaffen, das die Nutzung von undden Zugang zu Geodaten für Bürgerinnen und Bürger,Verwaltung und Wirtschaft in der Europäischen Unionvereinfachen soll.Bund und Länder arbeiten bei der fachlich-inhalt-lichen Umsetzung der Richtlinie und in Bezug auf diemethodisch identische Erhebung von Geodaten undGeodatendiensten eng zusammen, wodurch die unter-schiedlichen Belange umfassend berücksichtigt werden.Die Initiative zur Änderung des Geodatenzugangsgeset-zes basiert auf einem Beschluss des InterministeriellenAusschusses für Geoinformationswesen, IMAGI, vom8. Februar 2011, in dem die beteiligten Gruppen enga-giert sind.Mit dem Änderungsgesetz wird der Abbau von Büro-kratie vorangetrieben, indem die Nutzungsbedingungeneinheitlich verbindlich geregelt werden. In einer Rechts-verordnung werden die Bedingungen für die Nutzungder Geodaten und Geodatendienste, insbesondere mitBlick auf Nutzungsrechte sowie Gewährleistung undHaftungsausschluss, geregelt. Eine solche Regelungexistierte bisher nicht. Behördenspezifisch zu formulie-rende Lizenzbedingungen fallen dadurch weg.Alles in allem ist das Änderungsgesetz zum Geo-datenzugangsgesetz eine begrüßenswerte Neuregelung.Vorhandene Daten werden für Nutzer zugänglich ge-macht und neue Synergien dadurch erschlossen. DasÄnderungsgesetz fügt sich in das von der Bundesregie-rung beschlossene Programm „Vernetzte und transpa-rente Verwaltung“ ein und ist somit ein weiterer Beitragzu einer effizienteren Verwaltung.Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Im Vergleich zum Geodatenzugangsgesetz, das derDeutsche Bundestag Ende 2008 verabschiedete, gibt esim jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eine wesentlicheÄnderung: Alle Geodaten und Geodatendienste werdengrundsätzlich geldleistungsfrei für die kommerzielle undnichtkommerzielle Nutzung zur Verfügung gestellt. Wirals SPD-Bundestagsfraktion begrüßen dies.Zu denken gibt uns aber die Begründung der Bundes-regierung. Ihr geht es ausschließlich um Kostensenkungund Bürokratieabbau. Als wir uns mit dem Gesetzent-wurf von 2008 befassten, wurden die Kosten diesesneuen Gesetzes mit 200 000 Euro jährlich, je zur Hälfteauf Bund und Länder verteilt, veranschlagt. Dazu kamennoch nicht quantifizierbare Kosten für den Bund bei derAnpassung vorhandener digitaler Geodaten an diedurch die INSPIRE-Richtlinie geforderte Interoperabili-tät. Außerdem entstanden Kosten, um technische Ein-schränkungen der Darstellungsdienste zu entwickeln,mit dem Ziel, die kommerzielle Nutzung von über diesenDienst bereitgestellten Geodaten zu verhindern.Die jetzt geplante geldleistungsfreie Bereitstellungder Geodaten und Geodatendienste wird durch die Auf-hebung des § 13 GeoZG geregelt. Mit sieben Ab-sätzen ist dieser Paragraf ziemlich umfangreich und re-gelt fast alles zu Lizenzen und Geldleistungen. Was dortnoch nicht geregelt ist, soll im Anschluss durch eineneue Rechtsvorschrift geregelt werden. Auch wenn da-mals die große Koalition für diesen Paragrafen verant-wortlich war, muss man heute selbstkritisch eingestehen,dass dieser Paragraf ein bürokratisches Monster ist. Esist gut, dass er nun aufgehoben wird.Umso erschreckender ist, dass die Bundesregierungim Jahre 2012 immer noch mit Kostensenkung und Bü-rokratieabbau als Begründung für die Änderung desGeodatenzugangsgesetzes argumentiert. Damit keineMissverständnisse aufkommen: Wir begrüßen ausdrück-lich, dass die Kosten reduziert und unnötige Bürokratieund Verwaltungsaufwand abgebaut werden sollen. Dassaber die Bürgerinnen und Bürger, die Verwaltung unddie Wirtschaft nur als Nebenprodukt in den Genuss einergeldleistungsfreien Nutzung der Geodaten kommen, istbezeichnend für das Verständnis der Bundesregierungvon Teilhabe der gesellschaftlichen Gruppen. Das Um-denken vom Ver- oder Behindern der Weitergabe derDaten hin zum geldleistungsfreien Zugriff auf die Geo-daten, weil sich der Staat als Dienstleister für seine Bür-gerinnen und Bürger versteht, hat noch nicht stattgefun-den, und das wundert mich bei dieser Bundesregierungauch nicht mehr.Zu Protokoll gegebene Reden
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21612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dr. Matthias Miersch
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Ich möchte hier nicht der „Umsonstkultur“ das Wortreden; aber im digitalen Zeitalter muss sich die Bundes-regierung schon auf einen anderen Umgang im Hinblickauf die Bereitstellung von Daten, die von der Verwaltungerhobenen wurden, einstellen. Die Gesellschaft erhebtAnspruch auf Teilhabe in vielerlei Hinsicht. Dies betrifftnicht nur den unkomplizierten Zugang zu öffentlichenDaten; es beinhaltet auch die Beteiligung an der Pla-nung von Infrastruktur- und Bauprojekten. Die Bundes-regierung ist gut beraten, dies bei ihren weiteren Gesetz-gebungsvorhaben zu berücksichtigen.Dabei darf es aber keinesfalls dazu kommen, mit denGeodaten, gerade mit den aggregierten, aber doch per-sonenbezogenen Daten wie den Gesundheitsdaten, zufreigiebig umzugehen. Hier auch bei freier Verfügungweiterhin durch eine Verordnungsermächtigung ohneZustimmung des Bundestages oder Bundesrates eineBehörde entscheiden zu lassen, halte ich für diskussions-würdig. Das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung muss gewahrt bleiben. In den folgenden Aus-schussberatungen wird die SPD dieses Thema auf dieTagesordnung bringen und die Novelle hinsichtlich ihresmöglichen Eingriffs in die Privatsphäre von Bürgerin-nen und Bürgern abklopfen.
Die Richtlinie 2007/2/EG bzw. das Geodatenzugangs-
gesetz, GeoZG, dient der Vereinfachung des Zugangs zu
und der Nutzung von Geodaten für Bürger und Bürgerin-
nen, Verwaltung und Wirtschaft sowie der Harmonisie-
rung von Geodaten und Geodatendiensten. Eine Ände-
rung des GeoZG ist notwendig, da auf Bundesebene
derzeit keine spezialgesetzliche Rechtsgrundlage zur
Festlegung von Nutzungsbedingungen für die Bereitstel-
lung von Geodaten und Geodatendiensten existiert. Da-
her wird die Ermächtigungsgrundlage in § 14 GeoZG
gemäß Art. 80 GG entsprechend konkretisiert, wodurch
eine Verordnung des Bundes für die Nutzungsbedingun-
gen von Geodaten und Geodatendiensten, einschließlich
zugehöriger Metadaten, erlassen werden kann.
Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des GeoZG
wird die Grundlage dafür geschaffen, Geodaten und
Geodatendienste, einschließlich zugehöriger Meta-
daten, zukünftig grundsätzlich geldleistungsfrei für die
kommerzielle und nichtkommerzielle Nutzung zur Verfü-
gung zu stellen. Dies ist rechtlich dadurch abgesichert,
dass Geodaten in der Regel Umweltinformationen sind,
die nach dem Umweltinformationsgesetz, UIG, auch für
die kommerzielle Nutzung in aller Regel geldleistungs-
frei abgegeben werden können.
Die vorliegende Gesetzesänderung bedeutet eine
Ausweitung des Zugangs zu und der Nutzung von Geo-
daten. Bisher sah das Geodatenzugangsgesetz lediglich
den Zugang und die Nutzung durch Organe und Einrich-
tungen der Europäischen Union vor. Die vorliegende
Gesetzesänderung sieht die Erweiterung auf natürliche
und juristische Personen des Privatrechts vor. Diese Än-
derung wirkt sich zudem positiv auf die Nutzung des in
den Geodaten des Bundes liegenden Wertschöpfungspo-
tenzials aus. So lag das Marktvolumen von Geodaten
2009 deutschlandweit bei 1,7 Milliarden Euro.
Geodaten spielen in vielen Bereichen eine wichtige
Rolle: in der Verwaltung, bei der Planung von Elektrizi-
täts-, Fernwärme-, Gas-, Wasser- oder Kommunika-
tionsleitungen, in der Meteorologie sowie bei der Berech-
nung von Umweltbelastungen. Luftbilder und weitere
räumliche Informationen sind bei vielen wirtschaft-
lichen Entscheidungen von Bedeutung. Außerdem dient
die Gesetzesänderung dem Abbau von Bürokratie, in-
dem die Nutzungsbedingungen einheitlich und verbind-
lich geregelt werden. So macht die Änderung des GeoZG
die Anwendung gegebenenfalls behördenspezifisch zu
formulierender Lizenzbestimmungen und Lizenzverträge
entbehrlich, indem die Nutzungsbedingungen einheitlich
und verbindlich festgelegt werden. Ebenso entbindet die
Geldleistungsfreiheit die geodatenhaltenden Stellen von
der Verpflichtung, für die Abwicklung des elektronischen
Geschäftsverkehrs entsprechende Programme einzuset-
zen oder verfügbare Plattformen zu nutzen.
Die Gesetzesänderung ist ein wichtiger und richtiger
Schritt hin zu mehr Transparenz. Sie ist in das Projekt
Open Government der Bundesregierung eingebettet und
Teil des Regierungsprogramms „Vernetzte und transpa-
rente Verwaltung“. Einen Schwerpunkt dieses Projekts
bildet der Ausbau von Open Data, also von öffentlich
verfügbaren Datenbeständen der öffentlichen Hand, ins-
besondere zur Weiterverwendung und Weiterverbrei-
tung. Die grundsätzliche Erweiterung des Nutzerkreises
und der Nutzungsmöglichkeiten bedeutet jedoch nicht,
dass die Nutzung von Geodaten und Geodatendiensten
zukünftig ohne Beschränkungen zulässig ist. Die Gren-
zen liegen beim Datenschutz und bei Betriebs- und Ge-
schäftsgeheimnissen.
Es besteht die Notwendigkeit, Rechtssicherheit zu
schaffen, indem die Nutzungsbedingungen für den
Umgang mit den Daten verbindlich formuliert werden.
Dabei gilt es, ein ausgewogenes Maß zwischen den Per-
sönlichkeitsrechten und Interessen der Betroffenen und
dem potenziellen Nutzen für die Gesellschaft zu finden.
Diesem Anliegen wird der vorliegende Gesetzentwurf
gerecht.
Verschiedenste Geschäfts- und Arbeitsprozesse in
Unternehmen und Verwaltungen können durch Geo-
datenanwendungen entscheidend unterstützt und ver-
bessert werden. Geodaten und Geodatendienste leisten
dadurch einen wichtigen Beitrag zur Sicherung des
Wirtschaftsstandorts Deutschland. Bereits vorhandene
Internetportale wie Google Maps oder Open Street Map
zeigen, dass die Nutzer und Entwickler in den letzten
Jahren vielfältige Anwendungen aufgebaut haben, die
vorher nicht denkbar waren. Diese positiven Entwick-
lungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland werden
durch die vorliegende Gesetzesänderung weiter voran-
getrieben.
Big Brother is watching you: Das ist die einzig er-kennbare Zielsetzung der Änderung am Geodaten-zugangsgesetz. Die Richtlinie 2007/2/EG der Europäi-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21613
Ralph Lenkert
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schen Union verlangt eine Vernetzung von Geodatenüber die Grenzen der Einzelstaaten hinweg. Die Behör-den sollen die Daten untereinander austauschen können.Zugrunde liegen Datenformate, die eine maschinelleVerarbeitung ermöglichen und damit eine bessere ge-meinsame Umweltpolitik und Abstimmung in anderenBereichen ermöglichen.Aber um welche Daten handelt es sich, und wer solldarauf Zugriff haben? Klar, es geht, wie der Name essagt, um geologische Daten: Wie ist der Boden? WelcheGesteine oder Rohstoffe sind bekannt? Welche Floraund Fauna ist vorhanden? Welche Bebauung, Straßen,Grundstücksgrenzen sind vorhanden? Es handelt sichaber auch um Adressen mit Straßen und Hausnummern.Als Geodaten werden auch Informationen zu Krankhei-ten, Allergien, Krebsfällen, sozialen Aspekten, Krimina-lität erfasst. Dies alles erfolgt bereits mit dem jetzigenGesetz.Wenn also Max Mustermann an einer meldepflichti-gen Krankheit leidet, dann können dies sein Finanzamt,das Gesundheitsamt, aber auch die EU-Kommission inBrüssel mit wenigen Mausklicks erfahren. Datenschutzist hier Fehlanzeige. Bei der Verabschiedung des Geset-zes hat die FDP, damals in der Opposition, folgerichtigeinen Vorschlag zur Verbesserung des Datenschutzes,des Schutzes der persönlichen Daten, eingebracht, dendie Linke unterstützte. Leider ignorierte die damaligeRegierung den Vorschlag.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Novel-lierung des Geodatenzugangsgesetzes geht jetzt weitüber die Richtlinie hinaus. Während im aktuellen Gesetzdie Daten entsprechend der Richtlinie nur unter euro-päischen Behörden austauschbar und verfügbar sind,sollen die Daten nach der Novellierung zukünftig jedemInteressenten ohne eine Angabe von Gründen zur Verfü-gung stehen. Das schafft einige Chancen; aber es erge-ben sich aus dieser allgemeinen Verfügbarkeit der Datenauch massive Probleme.Zum einen wird das Auffinden von Bodenschätzenjetzt erheblich vereinfacht. Eine erste Suche kann amgrünen Tisch erfolgen. Es wird einen Run auf Sucher-laubnisse geben, aber dafür ist das deutsche Bergrechtnicht ausgelegt. Es fehlen beispielsweise notwendigeBremsen wie der Nachweis der Abbaunotwendigkeiten,ein effektiver Umweltschutz und die Berücksichtigungder Bevölkerungsinteressen. Dieser Mangel ließe sichbeheben, würde das von der Fraktion Die Linke vorge-schlagene neue Bergrecht eingeführt.Auch für Bauherren, Umweltschützer und Städte-planer zeichnen sich Vorteile ab. Aber wo bleibt dasGrundrecht auf informationelle Selbstbestimmung derBürger? – Es wird weggewischt.Über Max Mustermanns Krankheit kann sich nunsein Versicherungsvertreter für die Kranken- oderLebensversicherung informieren; damit steigt seinePrämie, oder er kriegt gar keinen Vertrag. Will er einenneuen Job antreten – oh, er ist krank! –, gewinnt ein an-derer Bewerber. Auch Maxes Nachbar leidet; er wirddas Haus nur mit Preisabschlägen los.Daten zu Kriminalität, Sozialstrukturen usw. kannsich jeder adressengenau besorgen. Damit wird jedervon uns, jede Bürgerin und jeder Bürger, zum Bestand-teil einer „Truman-Show“. Das lehnt die Linke strikt ab.Wir fordern, dass alle persönlich zuordenbaren Daten,also Daten, die zur Stigmatisierung von Menschen bei-tragen können, nicht öffentlich bleiben.Damit die Bundesregierung die Zugriffsrechte zu-künftig ohne Einsprüche aus dem Parlament und demBundesrat im Alleingang regeln kann, lässt sie sich nocheine Verordnungsermächtigung ins Gesetz schreiben.Damit wird jede Entscheidung zum Umgang mit all die-sen Informationen der demokratischen Kontrolle ent-zogen. Das lehnt meine Fraktion entschieden ab, und ichhoffe, geehrte Kolleginnen und Kollegen, dass Sie zu-mindest diese Selbstentmachtung des Bundestages, die-sen Angriff auf unsere Demokratie ablehnen.Ansonsten bliebe mir nur eines zu sagen: Big Brotheris watching us.
Heute beraten wir endlich wieder eine Gesetzesvor-lage aus dem Bundesumweltministerium. Ich würde mirwünschen, dass es in Zukunft wieder mehr Gesetzent-würfe aus diesem Hause gibt. Das vorgelegte Geodaten-zugangsgesetz ist wichtig und auch weitgehend unstrit-tig. Aber – das muss auch gesagt werden – es ist nichtder große Wurf eines aktiv arbeitenden Umweltministe-riums, das Umweltpolitik gestalten will, sondern nur diereine Pflichterfüllung, das heißt die Umsetzung einer eu-ropäischen Anforderung. Aber immerhin wenigstensdas.In anderen Bereichen – ich erwähne hier immer wie-der gerne die notwendige Anpassung des Umweltrechts-behelfsgesetzes, die nun schon mehr als ein halbes Jahrin der Ressortabstimmung ist – versäumen Sie es, einfa-che und klare EU-Vorgaben in deutsches Recht umzuset-zen. Von den wirklich bedeutenden Baustellen wie deneinzelnen Bestandteilen der Energiewende will ich hierim Detail nicht sprechen.Zum Gesetzentwurf konkret möchte ich Folgendes sa-gen: Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung um-fassend freien Zugang zu Geodaten gewährleisten willund sich damit in Sachen Open Government und OpenData konkret etwas traut, freilich wohl nur aufgrund desDruckes einer EU-Richtlinie im Nacken. Wenn Geo-daten kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, könnenzum Beispiel mögliche Doppelerhebungen von Datenvermieden werden, wenn es um ortsbezogene Informa-tionen geht. Damit werden die Hürden zum freien Infor-mationszugang für interessierte Bürgerinnen undBürger merklich niedriger; es wird leichter, mit zuver-lässigem Umweltdatenmaterial zu arbeiten. Bürgerin-nen und Bürger können so selbst kompetente Schlussfol-gerungen ziehen.Eine wichtige Frage beim freien Zugang zu Daten fürdie Öffentlichkeit ist immer die Abwägung zwischen demInformationsinteresse der Öffentlichkeit und demberechtigten Interesse des Einzelnen am Schutz seinerPrivatheit und seiner Daten. Der vorgelegte Änderungs-Zu Protokoll gegebene Reden
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21614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dorothea Steiner
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entwurf des Geodatenzugangsgesetzes hätte Anlass ge-geben, ein wesentliches Manko der bestehenden Rege-lung zu beseitigen, nämlich das völlige Fehlen einer dieAbwägung mit entgegenstehenden Datenschutzrechtensteuernden Regelung. Denn es ist völlig unstreitig undwird insoweit auch in der zugrunde liegenden INSPIRE-Richtlinie vorausgesetzt, dass Geodaten für sich genom-men und je nach Kontext bereits einen Personenbezugim Sinne der Datenschutzrichtlinie 95/46 bzw. der Da-tenschutzgesetze des Bundes und der Länder enthaltenkönnen. Für die besonderen, mit der massenhaften Aus-wertbarkeit bereitgestellter Geodaten verbundenen Risi-ken, zum Beispiel der systematischen Auswertung zu denunterschiedlichsten wirtschaftlichen Zwecken, bedarf esdeshalb einer den Schutzbedarf angemessen berücksich-tigenden grundlegenden Regelung bereits im Geodaten-zugangsgesetz selbst. Damit wird gerade nicht ausge-schlossen, dass in weiteren Bereichen zusätzlicheBestimmungen für konkrete Rechtsgebiete geschaffenwerden.Bedenklich erscheint weiterhin, dass mit dem vorlie-genden Änderungsentwurf eine zumindest in Bezug aufFragen des Datenschutzes nicht näher eingegrenzteVerordnungsermächtigung für nähere Regelungen derGeodatennutzung geschaffen wird. Wir weisen deshalbdarauf hin, dass nach unserer Auffassung mögliche, dasGrundrecht auf informationelle Selbstbestimmung be-treffende Regelungen nach der ständigen Rechtspre-chung des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig demGesetzesvorbehalt unterfallen und dementsprechendnicht allein in der Verordnung erfasst werden dürften.Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Erhebungvon Geobasisdaten Ländersache und mit nicht unerheb-lichen Kosten verbunden ist. Dieser Aspekt war auchSchwerpunkt der Diskussion im Bundesrat, da einigeBundesländer zu Recht befürchteten, hier könnten ihnenMindereinnahmen aus der Abgabe von Geodaten entste-hen. Die Landesvermessungsämter müssen weiter sichersein können, dass ausreichend Finanzmittel für Satelli-tendatenakquise, Befliegungen zur Erstellung von Luft-bildern, zur Nutzung von Satellitenpositionierungs-diensten und Ähnlichem zur Verfügung gestellt werden.Dazu muss auch weiterhin die Möglichkeit bestehen,bestimmte Nutzergruppen, insbesondere in Bezug aufSpezialdaten, an den Kosten der Datengewinnung zu be-teiligen. Hier konnte jedoch die notwendige Klarstel-lung erreicht werden.Wir unterstützen den Gesetzentwurf in den parlamen-tarischen Beratungen, was die Entfaltung des wichtigenZieles von Open Government angeht. Aber wir möchtenunterstreichen, dass wir zeitnah weitere Vorlagen zu dendrängenden umweltpolitischen Fragen erwarten, wiezum Beispiel die Änderung des Umweltrechtsbehelfs-gesetzes. Das Verschieben von Vorlagen in die Warte-schleife Ressortabstimmung, anstatt sie in die parlamen-tarische Beratung zu geben, muss endlich ein Ende ha-ben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9686 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Fraktion der SPD
Nachhaltige Entwicklung in Subsahara-Afrika
durch die Stärkung der Menschenrechte för-
dern
– Drucksachen 17/7370, 17/9711 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Volker Beck
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Sie sind damit einverstanden. Das ist so beschlossen. Die
Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor.1)
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9711, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7370 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion.
Gegenprobe! – Fraktion der Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. Somit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartwig
Fischer , Philipp Mißfelder, Johannes
Selle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Dr. Rainer Stinner, Rainer Brüderle, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Die Republiken Sudan und Südsudan stabili-
sieren
– Drucksache 17/9747 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen mir vor.
Wir haben heute ein Thema von weltpolitischer Di-mension auf der Tagesordnung, leider zu später Tages-zeit.1) Anlage 4
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21615
Johannes Selle
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Ich begrüße es aber trotzdem, dass wir heute unserenAntrag und das Engagement Deutschlands zum Friedenim Sudan diskutieren können. Bereits 2009 haben wir andieser Stelle mit unserem parteiübergreifenden Antragzum Sudan – BT 17/1158 – mit die Grundlage zu einemintensiven Engagement Deutschlands für den Frieden,insbesondere die friedliche Trennung des Sudan gelegt.Der Republik Südsudan ist am 9. Juli 2011 als 193.Staat der Völkergemeinschaft beigetreten. Die Abtren-nung von der Republik Sudan verlief weitgehend fried-lich. Die friedliche Entwicklung aber geriet ins Stocken,und wir erleben wieder Krieg und Gewalt, Menschenmüssen vor Bombenangriffen flüchten – gerade heutebekamen wir Bilder von den zerfetzten Menschenleibernzu sehen –, Menschen werden vertrieben, ihre Lebens-grundlagen, ihre wirtschaftliche Existenz werden zer-stört. Sie leiden Hunger und jeden denkbaren Mangel,von Entwicklung und beginnender Prosperität kannüberhaupt nicht die Rede sein.In den letzten Monaten war die Lage zwischen Sudanund Südsudan sehr angespannt. Immer wieder aufflam-mende Kämpfe zwischen Truppen beider Länder, Rebel-len und Milizen belasten die ohnehin prekäre humani-täre Lage der Zivilbevölkerung. Die Grenzproblemezwischen Nord- und Südsudan, die Aufteilung der Ölein-nahmen und die Abyei-Frage sind ungelöst. In Süd-kordofan und Blue Nile wird nach wie vor gekämpft. DieAfrikanische Union mit Vermittler Thabo Mbeki sowieder Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben dieKonfliktparteien ultimativ aufgerufen, sich ernsthaft undkonstruktiv an Friedensgesprächen zu beteiligen, bisherjedoch ohne zählbaren Erfolg.Nach Informationen der Vereinten Nationen sind inder ersten Jahreshälfte 2012 über 3 000 Menschen imSudan und Südsudan zu Tode gekommen. Der DeutscheBundestag kann und darf hier nicht schweigen. Dieschrecklichen Ereignisse rufen uns auf, unser Engage-ment für Frieden in diesem Land und den Schutz vonZivilisten, insbesondere von Kindern und Frauen, deut-lich zu intensivieren. Die Parlamentarier und die NGOs,die wir in dieser Woche sprachen, blicken uns ebenfallserwartungsvoll an.Durch diesen Antrag kann der deutsche Bundestagein klares Signal für seine Partnerschaft mit Afrika, fürMenschenrechte, den Schutz von Zivilisten und Unter-stützung für die Zivilbevölkerung im Südsudan geben.Dabei werden wir nicht die Augen vor der Realität ver-schließen: Beide Sudans steht vor schweren Herausfor-derungen, und beide müssen erfolgreich sein, soll esFrieden und Stabilität geben. Das alles verpflichtet ei-gentlich zum gemeinsamen Handeln.Sudan und Südsudan müssen deshalb bei allen auf-tauchenden Fragen den Frieden ganz obenan stellenund auf jedwede Gewaltanwendung verzichten. Wir set-zen uns dabei für eine gerechten Ausgleich zwischenKhartoum und Juba ein: in der Frage der Produktionund der Aufteilung der Ölressourcen, beim Grenzverlaufzwischen Nord und Süd und in der Frage des Aufent-haltsrechts von Nord- und Südsudanesen im jeweilig an-deren Staat.Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle auf dieSituation in Südkordofan und Blue Nile aufmerksam ma-chen. Dort wurden die Kämpfe immer noch nicht voll-ständig eingestellt. Noch immer sind Frauen und KinderSchüssen und Bombardierungen ausgesetzt oder müssenin Flüchtlingslagern ohnmächtig der Zerstörung ihrerExistenzgrundlagen zusehen.Lasst uns gemeinsam die Verantwortlichen der suda-nesischen und der südsudanesischen Regierung sowiedie Führer der SPLM in diesen Gebieten auffordern, dieWaffen umgehend niederzulegen und die Vermittlung derAfrikanischen Union anzunehmen.In der umstrittenen Provinz Abyei ist es der Missionder Vereinten Nationen UNISFA gelungen, Kämpfe zwi-schen Nord und Südsudan zu verhindern. Khartoum undJuba haben ein Abkommen geschlossen, das den Trup-penabzug, eine gemeinsame Verwaltung und einen Kri-senlösungsmechanismus vorsieht. Diese Vereinbarunggilt es umzusetzen. Hier haben wir ein Beispiel, das auchfür andere Krisenherde der Region als Lösungsansatzdienen kann.Am 28. Juni und 30. Juni 2011 haben die Konfliktpar-teien, die Regierung in Khartoum und die südsudanesi-sche Regierung, Abkommen über die Einstellung derFeindseligkeiten in Südkordofan und über gemeinsameÜberwachungsmechanismen der Grenze zwischen Nord-und Südsudan getroffen. Die Vereinten Nationen solltendiese durch Beobachter überwachen.In Darfur sollte die Umsetzung des Doha-Friedens-abkommens weiter vorangetrieben werden. Keiner Par-tei in diesem Konflikt darf es erlaubt werden, den Frie-densprozess einseitig für eigene Zwecke zu torpedieren.Die deutsche Beteiligung an UNMISS und UNAMIDist ein wichtiges Zeichen, insbesondere an die VereintenNationen und die Afrikanische Union, dass Deutschlanddas internationale Engagement im Sudan und Südsudanunterstützt.Sie kennen Art und Umfang des deutschen Engage-ments, das eng mit unseren internationalen Partnern ab-gestimmt wurde. Wir haben die Mandate hier im Bun-destag mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Es istgut, dass der Bundestag in dieser Frage geschlossen ist.Dadurch entsteht ein kraftvoller Impuls, den wir an diefriedliche Entwicklung weitergeben können.An dieser Stelle möchte ich den Soldatinnen und Sol-daten, den Polizistinnen und Polizisten, die dort unterextrem schwierigen Bedingungen ihre Aufgaben erfül-len, aufrichtigen Dank sagen und meine tiefe Anerken-nung aussprechen.Dies gilt auch für die engagierten Mitarbeiter vonEntwicklungshilfeorganisationen, humanitären undNichtregierungsorganisationen, die unter schwierigstenBedingungen vor Ort tätig sind.Am wirkungsvollsten wird unser politisches Engage-ment durch konkrete Aufbaumaßnahmen. Der Aufbaudes Südsudan und die entwicklungspolitische Zusam-menarbeit sowie der Stärkung der Zivilgesellschaft soll-ten die besondere Aufmerksamkeit der BundesregierungZu Protokoll gegebene RedenJohannes Selle
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21616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Johannes Selle
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bekommen. Wir können helfen, die Lage der zivilen Be-völkerung zu verbessern. Dadurch entsteht die Ermuti-gung, den friedlichen Weg durchzuhalten. Der Aufbaueiner Wasserversorgung auch in der Fläche im Südsu-dan, der Aufbau funktionierender Verwaltungsstrukturenund die Entwaffnung und Demobilisierung von Soldatenund Milizionären zählen nach wie vor zu den Schwer-punkten der Entwicklungshilfe der Bundesregierung.Wir dürfen aber bei unseren Bemühungen für Nach-haltigkeit den Wiederaufbau in Darfur und in den an-deren Landesteilen Sudans nicht vergessen. Das vonUNAMID erarbeitete Rahmenabkommen für den Frie-densprozess in Darfur muss durch konkrete Hilfsmaß-nahmen vor Ort unterstützt werden. In Darfur müssenwieder Bedingungen herrschen, die es den Menschen er-lauben, die Flüchtlingslager zu verlassen und in ihre an-gestammten Siedlungsgebiete zurückzukehren. Dazu ge-hört die Überführung von humanitärer Hilfe inWiederaufbaumaßnahmen, der Bau von Schulen, Stra-ßen, Gesundheitseinrichtungen und die Förderung vonHandel und Gewerbe. Wir stärken damit Menschen-rechte, Gerechtigkeit, Partizipation und Freiheit.Wir dürfen nicht aufhören, uns für Frieden, Demo-kratie und Menschenrechte einzusetzen. Die fortgesetztedeutsche militärische Beteiligung an UNMISS undUNAMID ist ein Zeichen des deutschen Engagementsfür nachhaltige Entwicklung. Wir müssen die Friedens-prozesse im Sudan und Südsudan stärker unterstützen.Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu unserem An-trag als Zeichen unseres Einsatzes für Frieden und Aus-gleich und den Schutz von Flüchtlingen, Zivilisten, Kin-dern und Frauen.
Wir debattieren heute auf der Grundlage eines An-trags der schwarz-gelben Koalition über die Lage imSudan. Ich will keinen Zweifel daran lassen: Geradejetzt ist es richtig und wichtig, diese Region wieder indas Bewusstsein der Menschen und insbesondere derPolitik zu rufen. Denn der Konflikt zwischen dem Sudanund dem Südsudan hat sich in den vergangenen Wochenzugespitzt. Die Situation ist äußerst explosiv und fragil.Am 10. April eskalierten die militärischen Auseinan-dersetzungen zwischen den beiden Staaten. Südsudane-sische Truppen hatten das strategisch wichtige und öl-reiche Gebiet von Heglig circa 50 Kilometer nördlichder Grenze zum Südsudan besetzt, einer Grenze aller-dings, über deren konkreten Verlauf auch in diesem Ge-biet noch immer keine endgültige Verständigung erzieltwerden konnte. Südsudan hatte Aufforderungen des Si-cherheitsrates der Vereinten Nationen, der AU, der USA,der EU und auch Deutschlands, sich wieder zurückzu-ziehen, anfangs abgelehnt bzw. unter den Vorbehalt derEntsendung von VN-Truppen gestellt. Viele Beobachtersprachen bereits von kriegerischen Verhältnissen undkamen der Realität damit wohl sehr nahe.Unser aller Hoffnung, dass sich die Beziehungen zwi-schen beiden Ländern mit der Unabhängigkeit desSüdsudan verbessern würde, hat sich nicht erfüllt. ImGegenteil: Die Situation wird immer prekärer. DieGründe dafür sind komplex und können hier nur grobskizziert werden: Strittig zwischen Nord und Süd sindimmer noch grundlegende Fragen, wie die Aufteilungder Einnahmen aus den Ölressourcen zwischen beidenStaaten und der genaue Grenzverlauf zwischen Nordund Süd. Auch Entscheidungen über den künftigen Sta-tus der sudanesischen Bundesstaaten Blauer Nil undSüdkordofan sind weiterhin nicht in Sicht. Seit Juni 2011finden aus diesem Grund andauernde Kämpfe in Süd-kordofan statt. Seit September 2011 gilt Gleiches für denBundestaat Blauer Nil. Die humanitäre Lage spitzt sichdeshalb besonders in Südsudan gefährlich zu.Durch den Stopp der Erdölproduktion in der Folgeder gescheiterten Verhandlungen mit Sudan hat diesüdsudanesische Regierung das Problem noch weiterverschärft. Aus der Erdölproduktion bezieht sie schließ-lich 95 Prozent ihrer Staatseinnahmen. Die Versorgungder Bevölkerung, die Zahlung der Gehälter an die Ar-mee, die Polizei und die Beamten sowie die Aufgabendes Staatsaufbaus sind damit nicht mehr zu bewältigen.Die Weltgemeinschaft befürchtet den Ausbruch einerHungerkrise.In der Folge auf die VN-Resolution haben Südsudanam 1. Mai und Sudan am 2. Mai die von der AU entwor-fene Roadmap akzeptiert. Seit dem 5. Mai hält eine Waf-fenruhe. Aber wer weiß, wie lang noch? Auch die ver-bale Aufrüstung zwischen den Kontrahenten sowie dieLuftangriffe der sudanesischen Armee auch auf zivileZiele im Süden, die nach jetziger Erkenntnis zum Glückeingestellt wurden, haben zur Eskalation nicht unerheb-lich beigetragen.In dieser sehr schwierigen Situation ist die Initiativeeines Antrages zur Verbesserung der Lage im Sudansehr zu begrüßen. Die Zustandsbeschreibung im Antragder Regierungskoalition ist weitestgehend zutreffend,viele Forderungen sind unterstützenswert. So ist es indiesem Zusammenhang richtig und wichtig, die Bundes-regierung aufzurufen, die Resolution 2046 desSicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 2. Mai 2012und den Friedensfahrplan der Afrikanischen Union zurLösung der Konflikte zwischen Sudan und Südsudan tat-kräftig zu unterstützen. Auch fordert die SPD-Bundes-tagsfraktion seit jeher, dass sich die Bundesregierung imRahmen der VN weiterhin und vor allem verstärkt füreine ausreichende Ausstattung der VN-Friedensmissio-nen mit finanziellen, personellen und logistischen Res-sourcen zur Ausführung der VN-Mandate einsetzensoll – eine Forderung, der die Bundesregierung auchnach jetzigem Stand völlig unzureichend nachkommt.Eine unserer Hauptforderungen an die Bundesregie-rung war es zudem bereits im interfraktionellen Antragvom März 2010, die internationale Hilfe für die Repu-bliken Sudan und Südsudan stärker mit der Verpflich-tung zur Einhaltung von Menschenrechten sowie zur Be-kämpfung von Korruption zu verbinden und dabei auchDrittstaaten wie China stärker in den politischen Dialogmit einzubeziehen. So ließe sich die Reihe Ihrer Forde-rungen, die wir unterstützen, fortsetzen. Deshalb hättenwir sicher auch einen interfraktionellen Antrag zusam-menbringen können.Zu Protokoll gegebene RedenJohannes Selle
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Christoph Strässer
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Doch warum ist es bei diesem Thema diesmal nicht zueinem solchen interfraktionellen Antrag gekommen?Warum sind Sie, meine sehr geehrten Damen und Her-ren von der Regierungsfraktion, gar nicht auf uns zuge-gangen? Diese Frage haben mir in den vergangenen Ta-gen auch die Vertreter vieler NGOs gestellt, die sich eingemeinsames Vorgehen aller Fraktionen vermutlich wie-der sehr gewünscht hätten, als starkes Signal aus demDeutschen Bundestag, wo doch gerade die jetzigen krie-gerischen Auseinandersetzungen zwischen Nord- undSüdsudan sowie die desaströse humanitäre und men-schenrechtliche Lage ein gemeinsames Handeln erfor-dern. Denn auch ohne die Zuspitzung des Konfliktes waruns das Erfordernis eines gemeinsamen Handelns hierim Parlament bereits im März 2010 bewusst. Deshalbhatten wir seinerzeit einen vielbeachteten und von vielenOrganisationen der Zivilgesellschaft unterstützten ge-meinsamen Antrag zum Sudan eingebracht.Kollege Johannes Selle von der CDU/CSU-Fraktionstellte damals bereits fest: „Ein gemeinsamer Antrag istder sudanesischen Situation angemessen. Wir haben dasgemeinsame Ziel eines dauerhaften Friedens im Blick,und das erwarten wir auch von den Konfliktparteien.“Warum gilt dieser Aufruf zu einem gemeinsamen Han-deln aller Fraktionen vor dem Hintergrund der aktuellabsolut verschärften Konfliktsituation zwischen Süd-und Nordsudan nun nicht mehr? Warum gab es kein Ge-sprächsangebot? Unsere Türen wären offen gewesen,sie sind es übrigens immer noch.Von der Kollegin Schuster von der FDP-Fraktionhieß es im März 2010: „Mit dem interfraktionellen An-trag senden wir ein sehr starkes Signal …“ Weiter sagtesie: „Mit dem Antrag, der heute vorliegt, halten wirWort. Wir haben bei der Podiumsdiskussion am 7. Ja-nuar das Versprechen gegeben, uns zu einem interfrak-tionellen Antrag zusammenzufinden, und wir haben un-ser Versprechen gehalten.“ Aber warum ist dieserAufruf zur gemeinsamen politischen Initiative im Lichteder aktuellen desaströsen Lage im Sudan nun nicht mehrgewollt? Das will vor allem deswegen nicht einleuchten,weil viele Forderungen in Ihrem Antrag, wie bereits er-wähnt, deckungsgleich mit den Forderungen im inter-fraktionellen Antrag von 2010 und mit den gemeinsamgetragenen Anträgen zu UNAMID sind. Viele dieserForderungen wurden also gemeinsam von uns allen be-reits mehrfach auf die Tagesordnung gebracht.Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Denn es ist leidernicht so, wie es von Frau Schuster verständlicherweiseim März 2010 gehofft wurde – ich zitiere –: „Ich freuemich noch mehr, wenn ich sehen kann, dass unsere Bun-desregierung die Forderungen dieses Antrages Schrittfür Schritt umsetzt. Da setze ich große Hoffnungen aufStaatsministerin Cornelia Pieper, Dirk Niebel und na-türlich auch den Außenminister.“Sehr geehrte Frau Schuster, nicht dass Sie michfalsch verstehen: Ich schätze ihre Arbeit sehr und teile,wie die meisten anderen in diesem Hause, ihren damali-gen Wunsch und die Hoffnung, dass die Bundesregie-rung unseren gemeinsamen Forderungen für eine Ver-besserung der Lage im Sudan nachkommen möge. IhrAntrag ist aber der schlagende Beweis dafür, dass IhreErwartungen an Ihre eigene Regierung bitter enttäuschtworden sind; denn diese Regierung, die von Ihnen ge-nannten Personen, sind Ihren und unseren Forderungengerade nicht nachgekommen. Sonst hätten sich weiteTeile Ihres neuen Antrages nämlich bereits durch Regie-rungshandeln erledigt.Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derRegierungskoalition, in Ihrem Antrag auf diese Vorge-schichte aufmerksam gemacht und deshalb ihre eigeneRegierung nachdrücklicher dazu aufgefordert hätten,endlich den nun schon mehrfach geäußerten Forderun-gen nachzukommen, würde das Ganze vielleicht noch ei-nen Sinn ergeben. So aber entlarven Sie, vermutlich un-gewollt, die Untätigkeit der Bundesregierung in weitenBereichen der Sudan-Politik. Zudem enttäuschen sieviele NGOs und ehrenamtlich Engagierte, die auf ein ge-meinsames Handeln aller Fraktionen gebaut haben.Dieses Signal können wir von der SPD-Fraktion deshalbheute nicht mittragen. Es unterschlägt die Tatenlosigkeitder Bundesregierung und beendet die so dringende ge-meinsame politische Initiative für Stabilität im Sudanund Südsudan. Aber selbstverständlich sind wir für einezukünftige Zusammenarbeit immer offen.
Zehn Monate nach der friedlichen Teilung haben sichdie Beziehungen zwischen Sudan und Südsudan drama-tisch verschlechtert. Die beiden Länder befinden sicham Rande eines neuen Krieges. Die vergangenen Mo-nate haben gar befürchten lassen, dass sich der Konfliktvollends entfesseln könnte. Wir fordern die Konfliktpar-teien daher auf, die Kämpfe unverzüglich einzustellenund auf Verhandlungen zu setzen, um die verbliebenenFragen des umfassenden Friedensabkommens zu lösen.Das humanitäre Leid der Bevölkerung, insbesonderein den Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan, istunermesslich und nimmt zu. Nach Angaben von UNHCRsind circa 185 000 Flüchtlinge aus Südkordofan undBlauem Nil nach Südsudan und Äthiopien geflohen;mehr als 400 000 Personen sind vertrieben worden.Der Zugang zu den umkämpften Regionen ist interna-tionalen humanitären Organisationen bisher durch diesudanesische Regierung untersagt. Aufrufen der Verein-ten Nationen, der Afrikanischen Union, der ArabischenLiga und des UN-Sicherheitsrats, den humanitären Zu-gang zu gewähren, ist die sudanesische Regierung bis-her nicht nachgekommen. Vor diesem Hintergrund ver-dient die Lage im Sudan und in der Region dringendverstärkte Aufmerksamkeit. Dieser umfassende Antrag,für dessen Unterstützung ich bei der Opposition werbe,soll einen Beitrag hierzu leisten.Die am 10. Februar dieses Jahres von den Staatsprä-sidenten Salva Kiir und Umar al-Baschir unterzeichneteVereinbarung über einen Nichtangriffspakt und ver-stärkte Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten mar-kierte ein erstes positives Zeichen der bilateralen Ver-handlungen. In der Vereinbarung verpflichten sich beideRepubliken, die Souveränität und territoriale Integritätdes anderen Staats zu respektieren. Doch wurde das fürZu Protokoll gegebene Reden
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21618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Marina Schuster
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Anfang April geplante weiterführende bilaterale Ge-spräch beider Präsidenten aufgrund heftigster Zusam-menstöße in Südkordofan, Blue Nile und im GrenzstaatUnity abgesagt. Mit der zunehmenden Eskalation der Si-tuation um die Grenzregion Heglig stehen die Zeichenauf Verhärtung.So bleiben wichtige Fragen des umfassenden Frie-densabkommens bis auf Weiteres ungelöst. Für die um-strittene Grenzregion Abyei ist bisher kein Abhalten ei-nes Referendums vorgesehen, wie es das Abkommenvorsieht. Auch über den künftigen Status der sudanesi-schen Bundestaaten Blauer Nil und Südkordofan sindkeine Entscheidungen in Sicht.Darüber hinaus ist die Bilanz des Entwaffnungspro-gramms, kurz DDR, sowohl auf sudanesischer als auchauf südsudanesischer Seite ernüchternd. Es mangelt anpolitischem Willen, sich entwaffnen zu lassen. Der Wi-derstand der Bevölkerungen gegen die Entwaffnung istgroß. Leider hat die enge und wichtige Zusammenarbeitmit UNMISS und dem UN-EntwicklungsprogrammUNDP bisher keine zufriedenstellenden Fortschritte er-zielen können. Daher müssen unsere Anstrengungen indiesem wichtigen Bereich verstärkt werden.Deutschland unterstützt im Rahmen des Sudan-Kon-zepts die Vermittlungsbemühungen des African UnionHigh-Level Implementation Panel, AUHIP, unter Lei-tung von Thabo Mbeki. Wir setzen uns für einen ver-stärkten politischen Dialog zwischen Sudan und Süd-sudan, die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit sowie dieDurchführung von Sicherheitssektorreformen in beidensudanesischen Staaten ein. Deutsche Soldaten in denVN-Friedensmissionen UNMISS und UNAMID leistenhier anerkannte Beiträge zur Stabilisierung der Lage inbeiden Staaten.Im Südsudan liegt ein weiterer Fokus auf dem Aufbaustaatlicher Strukturen und Institutionen. Hier ist eswichtig, die Führung im Südsudan an die Verantwortunggegenüber ihren Bürgern, egal welcher ethnischer Zu-gehörigkeit, zu erinnern. Denn nötige politische und ad-ministrative Strukturen, die für eine Bereitstellung öf-fentlicher Leistungen nötig wären, fehlen nach wie vor.So bleibt eine Friedensdividende auch für die Bevölke-rung im Südsudan bisher aus.Der Schlüssel zur langfristigen Stabilisierung derLage liegt im politischen Prozess. UNAMID, UNMISSund UNISFA sind wichtige, aber keine ausreichendenBeiträge der internationalen Gemeinschaft, um dieMenschen zu schützen und dauerhaften Frieden zu för-dern. Alle drei Missionen können nur erfolgreich sein,wenn sie auf einen tragfähigen Waffenstillstand sowieeinen umfassenden Friedensprozess aufbauen können.Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich in-nerhalb der EU und der VN, insbesondere im Dialog mitder AU für die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strate-gie für Sudan und Südsudan einzusetzen, die Wege zurpolitischen Lösung der Darfur-Krise mit einschließt unddie vollständige Umsetzung des umfassenden Friedens-abkommens sicherstellt. Seit Jahren begleitet die Bun-desregierung Sudan und seit dem vergangenen JahrSüdsudan. Das Engagement in den verschiedensten Be-reichen findet sich auch im Sudan-Konzept wieder, aufdessen Basis wir den Weg der Zusammenarbeit fortset-zen wollen.Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Situationin Darfur sagen. Nach wie vor sind dort circa 2 Mil-lionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. ImMai 2012 gab es neue Auseinandersetzungen. Mit ande-ren Worten: Die Sicherheits- und Menschenrechtslage inDarfur ist unverändert schlecht. Es ist daher wichtig,dass wir die Situation in Darfur aufgrund der Konflikt-lage zwischen beiden Staaten nicht aus den Augen ver-lieren. Das mag aufgrund der komplexen Gemengelageund der trüben Aussichten in beiden Fällen nicht immerleichtfallen. Doch sind wir es den Menschen schuldig,die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und unermüd-lich nach neuen Lösungswegen zu suchen.
Ein Jahr nach der Sezession des Südsudan vom Su-dan hat sich die Lage dramatisch zugespitzt. Währendim Norden der Zentralstaat gegen eine Koalition ausverschiedenen vom Süden unterstützten Guerillabewe-gungen kämpft, hat der Süden im April mit Heglig dasgrößte Ölfeld auf der anderen Seite der Grenze besetzt,bevor es Khartums Truppen unter Einsatz von Luftbom-bardements zurückgewonnen haben.Ein Waffenstillstand hat den Konflikt für den Momentbeendet. Doch er kann jederzeit wieder in einen offenenKrieg ausbrechen. Niemand braucht diesen Krieg. Docher liegt in der Logik einer vom Westen unterstützten Se-zession, die keines der sozialen Probleme gelöst hat,aber einen zweiten, durch und durch militarisiertenStaat geschaffen hat. Die Sezession fand statt, obgleichdie Grenzziehung ungeklärt war, obgleich sich die Ölfel-der unter der ungeklärten Grenze befinden. Sie fandstatt, ohne dass Fragen der Staatsbürgerschaft geklärtwaren.Nun werden wir Zeuge, wie Hunderttausende vonNord nach Süd und von Süd nach Nord fliehen. Nach wievor werden die Konflikte um Weideland ethnisch aufge-laden und vermengen sich gefährlich mit dem Konfliktzwischen Nord und Süd. Der Sudan zeigt: Alle Versuche,Konflikte durch die Einwirkung der Großmächte von au-ßen zu lösen, funktionieren nicht. Im Sudan sind derzeitbeiderseits der heutigen Grenze seit Jahren mehrereUN-Missionen aktiv. Sie haben nicht dazu beigetragen,den Konflikt zu verhindern.Nun fordert der Antrag der Regierungsparteien dieeigene Regierung auf, „sich im VN-Sicherheitsrat wei-terhin für robuste und der jeweiligen Situation angemes-sene Mandate einzusetzen“. Sie umschreiben hier diplo-matisch die Fortsetzung einer Politik, die vor allem aufEntsendung von Militär setzt. Das verbrennt Unmengenan Geld. Allein die im Darfur tätige UNAMID kostetjährlich 1,8 Milliarden Dollar. Doch genau da eskaliertnun ebenfalls der Konflikt. UNAMID ist, so äußerte sichmir gegenüber ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisationvor Ort, eine große Geldfressmaschine ohne Auswir-kung.Zu Protokoll gegebene Reden
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Christine Buchholz
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Die Bilanz von UNMISS ist genauso erbärmlich. DieBundeswehr hat unter diesem Mandat einige Offiziereim Südsudan, zwei davon sogar in der im April bombar-dierten Stadt Bentiu. Doch deren Anwesenheit trägtnichts zur Dämpfung des Konflikts bei. Sie half nochnicht einmal, die Berichterstattung gegenüber dem Bun-destag zu verbessern. Als der Konflikt zwischen Nordund Süd eskalierte, lasen wir im März und April wo-chenlang in den regelmäßigen „Unterrichtungen“ durchdas Bundesverteidigungsministerium zum Sudan undSüdsudan: keine berichtenswerten Ereignisse. Währendder heißen Phase des Konflikts wurde noch nicht einmaldie offizielle Risikoeinschätzung verändert.Militär ist keine Lösung für die Probleme im sudane-sischen Konflikt. Die Linke fordert deshalb den soforti-gen Abzug aller deutschen Soldaten aus dem Sudan undaus Südsudan.Es gibt noch einen Punkt, der mich an dem Antragwundert. Die Antragsteller tun so, als sei es die Politikder Bundesregierung, gegenüber beiden Staaten einegleichgewichtige Politik zu betreiben. Dem ist nicht so.Während es im Süden neben der unseligen Unterstüt-zung beim Aufbau eines inneren Repressionsapparatesauch sinnvolle Entwicklungsprojekte gibt – ich nennehier die Projekte in den Bereichen Trinkwasser, Abwas-ser und Abfallentsorgung –, findet mit dem Norden keineentwicklungspolitische technische Zusammenarbeitmehr statt.Mein Kollege Paul Schäfer war erst jüngst im Sudanund im Südsudan und musste ebenfalls feststellen, dassdie einseitige Unterstützung des Südsudans durch denWesten kontraproduktiv ist, nicht nur, weil damit, wie dieAntragsteller selber einräumen, eine durch und durchmilitarisierte und korrupte Führung im Süden unter-stützt wird, sondern auch, weil das nordsudanesischeBaschir-Regime den zivilen Widerstand im eigenen Landumso leichter als von außen gesteuert denunzieren kann.Denn wir dürfen nicht übersehen: Bei all dem Leid, dasder Elendskapitalismus an der Nahtstelle zwischenNord- und Südsudan nach sich zieht, haben wir im Nor-den, insbesondere in der Metropole Khartum, einen le-bendigen Widerstand gegen das Regime. Der arabischeFrühling hat auch hier neuen Hoffnungen Auftrieb gege-ben. Es ist dieser Widerstand allein, der einen Ansatz-punkt für eine Verbesserung der politischen Lage bietet.Frieden wird es erst geben, wenn die Grenzen zwi-schen den Ethnien und zwischen Nord und Süd überwun-den werden. Die Mächtigen im Sudan forcieren dieseGrenzen, um für sich selbst einen möglichst großen Teilvom Ölreichtum abzugreifen. Wahrer Frieden kann nurvon unten wachsen, im Widerstand gegen die Regierun-gen in Nord und Süd.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Es ist schon viel zu lange her, dass wir hier im Plenumauf die Lage im Sudan und Südsudan geblickt haben.Deshalb begrüße ich diese Debatte hier sehr. Sie warüberfällig.Denn nach der friedlichen Abspaltung des Südsudansvom Nordsudan vor rund einem Jahr ist das Thema malwieder von den Radarschirmen von Politik und Medienverschwunden. Ganz nach dem Motto, mit der Zweistaa-tenlösung wird schon alles gut.Doch wenig ist gut im Sudan. Beide Staaten taumelnim Streit ums Öl wie vor 20 Jahren wieder in einenKrieg, wetzen weiter die Kriegsmesser erst wegen derÖlfelder um Abyei und jetzt wegen der Ölfelder um Heg-lig. Der Kriegsfürst Harun, der Governeur in Süd-kordofan, der ohnehin schon lange wegen seiner Verbre-chen in Darfur vom Internationalen Strafgerichtshof perHaftbefehl gesucht wird, lässt in den Nubabergen weiterwehrlose Menschen massakrieren und vertreiben, unddas mit der klaren Ansage, keine Gefangenen zu ma-chen. Davon hat sich der UN-Menschenrechtsrat vorOrt selbst überzeugt und an den UN-Sicherheitsrat be-richtet. Tausende fliehen nach Südsudan und in die Re-gion und verschärfen die ohnehin dramatische Lage deran die 200 000 Flüchtlinge. Im Südsudan bekämpfensich immer wieder verfeindete Stämme, weil die Regie-rung mehr damit beschäftigt ist, ihre Pfründe zu sichern,als wirklichen Pluralismus, Mitsprache und Rechts-staatlichkeit umzusetzen. Und in Darfur weigert sich dieRebellengruppe für Gerechtigkeit und Gleichheit, JEM,noch immer, Frieden zu schließen, und kämpft verbissenweiter. Gleichzeitig nehmen die sozialen Spannungen inden großen Flüchtlingsstädten in Darfur weiter zu. VieleFrauen werden Opfer von Vergewaltigungen – und dasalles vor den Augen von UNAMID, der größten Frie-densmission weltweit. Dazu können und dürfen wir nichtwegschauen.Die internationale Gemeinschaft darf die alte krisen-präventive Weisheit nicht immer wieder ignorieren:Nach der Krise ist immer auch vor der Krise. Und jetzträcht sich auch, dass die Lösung der Grenz- und Öl-frage, der Staatsangehörigkeit, der Entwaffnung und dieReferenden in Abyei, Südkordofan und Blauer Nil, wiesie der Friedensvertrag zwischen Nord- und Südsudan,das CPA, noch vor der Unabhängigkeit des Südsudanvorsah, auf den Sanktnimmerleinstag vertagt wurde. Vorsolchen Entwicklungen haben wir schon frühzeitig inunserem interfraktionellen Antrag vom 10. März 2010und auch mehrfach im Unterausschuss Zivile Krisenprä-vention gewarnt. Jetzt sind die UNO und die AU wiedereinmal damit beschäftigt, die Krise nur einzudämmen,anstatt nachhaltige Lösungen voranbringen zu können.Die Streitparteien Sudan und Südsudan müssen dieSicherheitsratsresolutionen 2026 und 2046 jetzt bedin-gungslos erfüllen. Sie müssen die Gewalt sofort been-den, die Roadmap der AU, den Mbeki-Plan zur Beendi-gung der Krise unverzüglich umsetzen, und zwar amgemeinsamen Dialogtisch. Dazu hatten sie sich längstmit ihrem Nichtangriffs- und Kooperationsmemorandumvom Februar 2012 verpflichtet.Doch auch die internationale Gemeinschaft steht inder Mitverantwortung. Nach Jahren intensiver Einmi-schung darf sie die Menschen im Sudan nicht im Stichlassen, nur weil alle gerade nach Syrien blicken. Wirdürfen nicht zulassen, dass jetzt sieben Jahre schwie-Zu Protokoll gegebene Reden
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21620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Kerstin Müller
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rigster Friedensprozess im Nichts enden.Und das giltbesonders auch für die Bundesregierung, die sich zwarengagiert, aber eben nicht genug. Sie müsste und könntemehr machen.Noch immer warten wir auf eine gemeinsame Strate-gie des AA und BMZ für den Südsudan und auf Vor-schläge für eine Verbesserung der Geberkoordination,damit sich nicht alle auf den Füßen herumtreten. Dashatte die Multi-Donor-Evaluierung der OECD/DAC derBundesregierung schon im Dezember 2010 ins Stamm-buch geschrieben. Und noch immer sehe ich auch keinekonkreten Perspektiven für die entwaffneten, ehemali-gen Kämpfer, damit sie nicht wieder zu den Waffen grei-fen, um sich und ihre Familien ernähren zu können.Auch habe ich nichts gehört zu konkreten weiteren per-sonellen Beiträgen – insbesondere auch mehr zivilemPersonal – für UNMISS.Das gilt im Übrigen auch für notwendige Anstrengun-gen, China und Ägypten mehr in eine Krisenlösung ein-zubinden. Und schließlich scheint es so, als sei die EU-Sonderbeauftragte für den Sudan, Rosalind Marsden,für die Bundesregierung schlicht bedeutungslos. Warumunterstützen sie Frau Marsden nicht intensiv?Leider greift auch der Antrag der Regierungskoali-tion an vielen Punkten entsprechend zu kurz. Es findensich keinerlei Kritikpunkte an der Politik der Bundesre-gierung, was vonseiten der Regierungskoalition wenigverwundert. Nicht einmal neue Anregungen oderSchwerpunkte, welche Aufgaben besonders von derBundesregierung unterstützt werden sollen, sind zu er-kennen.Ich bedaure es sehr, dass die Regierungskoalitionohne Not die Chance hat verstreichen lassen, auf die an-deren Fraktionen zuzugehen, um wie 2010 zu einembreit getragenen interfraktionellen Antrag zu kommen.Wir stehen dafür nach wie vor bereit. Denn das ThemaSudan ist nun wirklich kein parteipolitisches Profilie-rungsthema, dafür ist die Sache zu ernst.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9747 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Ulrich Klose, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Für eine Neubelebung und Stärkung der
transatlantischen Beziehungen
– Drucksache 17/9728 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier vor.
„Für eine Neubelebung und Stärkung der transatlan-tischen Beziehungen“, so ist der Antrag der SPD über-schrieben. Schon der Titel versucht den Leser allerdingsauf eine falsche Fährte zu führen und Tatsachen zuverdrehen: Der Bundesregierung wird nämlich unter-stellt, dass sie sich nicht ausreichend um die Pflege unddie Ausgestaltung der transatlantischen Beziehungenbemühe.Es kommt hinzu, dass es sich bei diesem Antrag eherum ein Sammelsurium unterschiedlicher außen-, sicher-heits- und wirtschaftspolitischer Themen denn um einefokussierte Forderung zur Stärkung der transatlanti-schen Beziehungen handelt: ein bisschen Geschichte,ein bisschen EU, ein bisschen Deutschland, etwasNATO, ein paar geostrategische Allgemeinplätze und– natürlich – ein bisschen „Transatlantik“. Ich bin da-her über dieses Papier sehr verwundert – zumal erfah-rene Außenpolitiker der SPD, wie Herr Klose oder HerrErler, diesen Antrag mit unterzeichnet haben.Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich freueich mich, dass auch die Sozialdemokraten die Bedeutungder Beziehungen zu unseren Freunden und Partnern aufder anderen Seite des Atlantiks erkannt haben. Dies sahunter ihrem Bundeskanzler Gerhard Schröder noch ganzanders aus. Ich erinnere insbesondere an die unsäglicheInstrumentalisierung antiamerikanischer Ressenti-ments zu Wahlkampfzwecken. Es war dieses Verhaltender Regierung Schröder/Fischer, welches das transat-lantische Verhältnis nachdrücklich beschädigt hat. Nurdurch die Anstrengungen von Bundeskanzlerin AngelaMerkel haben wir wieder zu einem vertrauensvollenUmgang zurückgefunden. Es kommt daher auch nichtvon ungefähr, dass die Bundeskanzlerin 2011 vonPräsident Barack Obama mit der Presidential Medal ofFreedom, dem höchsten zivilen Orden der USA, ausge-zeichnet wurde.Offen gestanden habe ich allerdings nicht verstan-den, was der Bundesregierung mit diesem Antrageigentlich mitgeteilt oder was von dieser an Verhalteneingefordert werden soll. Ich habe daher versucht, an-hand der von Ihnen unter Punkt 3 aufgeführten „Konse-quenzen“ Ihre Intention zu verstehen. Allerdings findeich dort keinen einzigen Punkt, der ein Defizit be-schreibt, dessen sich die Bundesregierung nicht schonlängst angenommen hätte.Besonders auffällig ist dabei Ihre sehr zaghafte For-derung nach einer transatlantischen Freihandelszone.Schön, dass Sie bei diesem Thema unsere Einschätzungteilen. Die Bedeutung des transatlantischen Handels istkaum hoch genug einzuschätzen. Schließlich erwirt-schaften die USA und die Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union mit nur 10 Prozent der Weltbevölkerunggemeinsam mehr als 50 Prozent des globalen Brutto-inlandsprodukts. Im Jahre 2010 lag der Gesamtumsatzbeider Wirtschaftsräume bei 5 Billionen US-Dollar.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21621
Peter Beyer
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Der Bundesregierung ist diese Bedeutung schon län-ger bewusst, und daher handelt diese auch entspre-chend: Ich darf Sie an den von Bundeskanzlerin AngelaMerkel 2007 initiierten Transatlantischen Wirtschafts-rat, den sogenannten TEC, erinnern. Dieser wird inIhrem Papier an keiner Stelle erwähnt, obwohl es sichdabei um den Schritt hin zur weiteren Institutionalisie-rung transatlantischer Wirtschaftsbeziehungen handelt.Auch die zum TEC gehörende High-Level WorkingGroup on Jobs and Growth, welche 2011 eingesetztwurde, kann ich in Ihrem Papier nirgends finden. DieseArbeitsgruppe wird bis Ende 2012 Schritte identifizie-ren, mit denen die Zusammenarbeit in den BereichenHandel und Investitionen vor allem dort gestärkt wird,wo der Austausch Wachstum und Arbeitsplätze fördert.Überlegungen für ein Freihandelsabkommen zwischender EU und den USA werden ebenfalls vorangetrieben.Zudem hat sich die Bundeskanzlerin Anfang 2012 aufdem Weltwirtschaftsforum in Davos eindeutig für einetransatlantische Freihandelszone ausgesprochen.Anfang Mai – Sie waren ebenfalls dazu eingeladen –hat die CDU/CSU-Fraktion einen vielbeachteten Kon-gress zur Zukunft der transatlantischen Wirtschafts-partnerschaft ausgerichtet. Im Vorfeld dieser sehr er-folgreichen Veranstaltung hat meine Fraktion einPositionspapier verabschiedet, welches sich für die Wei-terentwicklung der für uns so wichtigen Handels- undWirtschaftsbeziehungen mit Nachdruck ausspricht. Ichempfehle Ihnen dieses Papier nachdrücklich zur Lektüre.Sie sehen, mein fehlendes Verständnis für Ihren An-trag ergibt sich daraus, dass sich die Bundesregierungschon seit langem intensiv und mit Nachdruck um dieStärkung der transatlantischen Beziehungen bemüht.CDU und CSU sind die Parteien, welche sich seit Jahr-zehnten kontinuierlich für die transatlantischen Bezie-hungen einsetzen. Für uns sind diese Beziehungen auchdeshalb von besonderer Bedeutung, weil sie auf demFundament gemeinsamer Werte und Interessen auf-gebaut sind. Auch dazu haben wir uns anlässlich deszehnten Jahrestages der Anschläge auf das World TradeCenter und das Pentagon mit einem Positionspapierklar bekannt.Der 25. Jahrestag der historischen Berliner Rede vonRonald Reagan, in welcher er sich unmissverständlichfür die Überwindung der deutschen und europäischenTeilung aussprach, wird von uns ebenfalls durch einenentsprechenden Antrag gewürdigt werden.Die Bundesregierung zu einem – ich zitiere – „kraft-vollen Impuls für eine dringend notwendige Stärkungder transatlantischen Partnerschaft“ aufzufordern, istso notwendig, wie die berühmten Eulen nach Athen zutragen. Wir sind uns der Bedeutung sämtlicher Facettender transatlantischen Beziehungen bewusst und handelnentsprechend. Wenn Sie unsere Auffassungen teilen,freue ich mich schon heute auf Ihre entsprechendeUnterstützung.
Die transatlantische Partnerschaft ist eine tragendeSäule der deutschen Außenpolitik. Es gibt wohl keineBeziehung in der internationalen Politik, die so umfas-send angelegt ist und über einen derart gewachsenenGrundbestand an gemeinsamen Werten und Interessenverfügt. Enge transatlantische Zusammenarbeit ist diebeste Gewähr dafür, dass Freiheit und Demokratie,Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, für die sowohldie USA als auch Deutschland und die EuropäischeUnion stehen, auch künftig über den Westen hinaus An-ziehungskraft besitzen. Sie ist für die Bewältigung derdrängendsten globalen Aufgaben wie der Bekämpfungdes Terrorismus, der Nichtweiterverbreitung vonMassenvernichtungswaffen oder des Klimaschutzes einezwar nicht immer hinreichende, aber in jedem Fall not-wendige Voraussetzung.Deutsche Außenpolitik ist in ihrer Orientierung zu-gleich transatlantisch und europäisch. Dieser doppelteHandlungsrahmen ist kein Widerspruch. Vielmehr ver-fügt die transatlantische Partnerschaft über umso mehrGewicht, je geeinter die Mitgliedstaaten der EU nachaußen auftreten. Auf diesen Zusammenhang weist dieSPD-Fraktion in ihrem Antrag zu Recht hin. Doch offen-bar handelt es sich dabei nur um wohlfeile Worte. Dennwährend die SPD die EU-Mitgliedstaaten zu gemeinsa-mem Handeln in den EU-Außenbeziehungen auffordert,spricht ihr Abstimmungsverhalten im Deutschen Bun-destag eine ganz andere Sprache. Erst vor wenigenWochen hat die SPD den einstimmig gefassten Beschlussder EU zur Ausweitung des Einsatzgebiets im Rahmender Mission Atalanta vor der Küste Somalias abgelehnt.Damit torpediert sie den einheitlichen europäischen An-satz bei der Pirateriebekämpfung – derzeit eine derdrängendsten außenpolitischen Herausforderungen fürdie EU. Es lag allein an den Koalitionsfraktionen, dassDeutschland den europäischen Konsens in dieser Fragenicht aufgekündigt hat.Die transatlantische Partnerschaft geht zurück aufdie Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und die massiveUnterstützung, die Deutschland beim Wiederaufbau undder Reintegration in die Staatengemeinschaft vonseitender USA erhalten hat. Im 21. Jahrhundert werden dieglobalen Rahmenbedingungen, denen sich die transat-lantischen Partner gegenübersehen, fundamental an-dere sein: Das Welthandelsvolumen wird sich bis zumJahr 2030 mehr als verdoppeln, die Weltbevölkerungwird bis zum Jahr 2050 auf 8 bis 9 Milliarden Menschenansteigen, der Energiebedarf wird bis 2030 um mehr als50 Prozent zunehmen und die globale Durchschnittstem-peratur wird sich spürbar erhöhen.Angesichts dieser Entwicklungen darf der Fokus destransatlantischen Dialogs nicht wie in der Vergangen-heit nahezu ausschließlich auf die Sicherheitspolitikausgerichtet sein, sondern muss insbesondere die Wirt-schaftsbeziehungen einschließen. Dies ist die richtigeAntwort auf die Globalisierung, die nicht nur eine geo-grafische Komponente mit der wirtschaftlichen Entwick-lung in Asien und Afrika hat, sondern auch eine mate-rielle Komponente aufweist, wie das Beispiel der NewEconomy zeigt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatauf diese notwendige Neujustierung bereits vor einigenJahren hingewirkt. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkelhat das Projekt einer transatlantischen Wirtschaftspart-nerschaft während der deutschen EU-Ratspräsident-Zu Protokoll gegebene Reden
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21622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Thomas Silberhorn
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schaft im Jahre 2007 auf die Tagesordnung der EU ge-setzt.Dieses Vorhaben gilt es nun mit neuem Elan voranzu-treiben, solange die weltpolitischen Vorzeichen günstigdafür stehen. Die EU und die USA sind weiterhin dieproduktivsten und am engsten miteinander verbundenenWirtschaftsregionen, deren Konsumenten 40 Prozent derglobalen Kaufkraft ausmachen. Das Fenster für die In-tensivierung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehun-gen wird nicht für immer so weit offen stehen. Die Verei-nigten Staaten werden nach Prognosen nur noch bisetwa 2050 die stärkste Volkswirtschaft der Welt sein.Damit ist absehbar, dass Innovationen und Investitionenkünftig in immer stärkerem Maße in Regionen außerhalbEuropas und der USA stattfinden werden. Infolgedessenwerden diese Wirtschaftsräume zunehmend in der Lagesein, weltweit gültige Normen und Standards zu setzen.Die Tatsache, dass dort die über den Atlantik hinweg ge-teilten Werte wie Freiheit, Demokratie und marktwirt-schaftliche Ordnung oft nicht geteilt werden, verdeut-licht die Dimension der Herausforderung, vor der wirstehen.Die Antwort darauf kann nur sein, die transatlanti-schen Beziehungen zu stärken und sich diesem Wett-bewerb gemeinsam zu stellen. Weder für die USA nochfür Deutschland gibt es dafür einen besseren und näher-liegenden Partner. Die USA sind der größte Handels-partner Deutschlands außerhalb der EuropäischenUnion, Deutschland wiederum ist der wichtigste Han-delspartner der USA innerhalb der EuropäischenUnion. Der bilaterale Warenhandel hatte Ende des Jah-res 2011 ein Volumen von rund 150 Milliarden Dollar.An den Investitionen im jeweils anderen Land hängenHunderttausende Arbeitsplätze. Das zeigt: Arbeitsplätzeund Wohlstand sind über den Atlantik hinweg engstensmiteinander verbunden.Das im Ausbau der transatlantischen Wirtschafts-partnerschaft schlummernde Potenzial gilt es gerade mitBlick auf die genannten globalen Herausforderungen zurealisieren. Das erfordert insbesondere den Abbau vonZöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen sowiedie Formulierung und Anerkennung gemeinsamerNormen und Standards. In der EU wissen wir seit derSchaffung des Binnenmarkts aus eigener Erfahrung,welche Wachstumspotenziale durch offene Märkte frei-gesetzt werden können. Gerade im Gefolge der weltwei-ten Finanz- und Wirtschaftskrise können wir es uns nichtlänger leisten, diese Potenziale brachliegen zu lassen.CDU und CSU werden auch weiterhin Impulsgeberfür die Anpassung der transatlantischen Partnerschaftan die neuen weltpolitischen Realitäten sein. Wir werdenmit Nachdruck darauf drängen, die in den transatlanti-schen Beziehungen liegende dynamische und kreativeKraft für unsere gemeinsamen Werte und Interessen zurGeltung zu bringen.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des jüngsten
NATO-Gipfels in Chicago lohnt es sich – mehr noch: ist
es dringlich –, über die transatlantische Zusammen-
arbeit nachzudenken und zu diskutieren. Diese Zusam-
menarbeit hat sich in der Zeit des Kalten Krieges militä-
risch in der NATO und durch sie konkretisiert. Nach der
Zeitenwende von 1989/90 hat sich die Zusammenarbeit
in der NATO aber verändert, ist die wirtschaftliche
Dimension der transatlantischen Beziehungen stärker
ausgeprägt. Das wird auf absehbare Zeit so bleiben,
könnte sogar durch die Einrichtung einer transatlanti-
schen Freihandelszone noch verstärkt werden. Der vor-
liegende SPD-Antrag unterstreicht das zu Recht.
Hingewiesen wird in dem Antrag aber auf die Not-
wendigkeit, die politische Zusammenarbeit nicht nur
fortzusetzen, sondern in besonderer Weise zu pflegen.
Für die Einzelheiten verweise ich auf den Antrag und
beschränke mich für heute auf folgende Bemerkungen:
Erstens. Die Welt verändert sich. Die Europäer müs-
sen diese Veränderungen zur Kenntnis nehmen. Im Klar-
text: Wir erleben heute eine nicht mehr aufzuhaltende
Verschiebung von Macht und Wohlstand in Richtung Pa-
zifik. Amerika reagiert auf diese neue Lage; Präsident
Obama nennt sich inzwischen selbst einen pazifischen
Präsidenten. Europa dagegen hat auf diese Veränderun-
gen bisher allenfalls ökonomisch, nicht aber politisch
reagiert und droht eben deshalb an Einfluss und Rele-
vanz zu verlieren. Einzelne EU-Mitgliedsländer mögen
sich gegen diesen Trend stemmen. Beeinflussen können
sie die neue Lage nur, wenn sie gemeinsam handeln. Von
einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sind
wir aber noch immer weit entfernt.
Zweitens. Amerika wird sich nicht von Europa ab-
wenden. Es wird aber nicht mehr als gütiger Hegemon
bereit sein, europäische Probleme zu lösen und Krisen in
der EU-Peripherie zu entschärfen. Dies wird in Zukunft
allein Sache der Europäer sein. Amerika bleibt der
wichtigste Verbündete Europas, erwartet aber von den
Europäern im Rahmen eines globalen Burden Sharing
reale Taten statt guter Worte.
Drittens. Gerade weil die transatlantische Zusam-
menarbeit sich verändert, müssen die zivilgesellschaftli-
chen Beiträge zur Pflege der transatlantischen Bezie-
hungen der neuen Lage angepasst, will sagen: verstärkt
werden.
Für die Einzelheiten verweise ich nochmals auf den
Antrag der SPD-Fraktion, und ich freue mich auf die
Diskussion, die wir dazu im Auswärtigen Ausschuss füh-
ren werden. Als Vorsitzender der deutsch-amerikani-
schen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag
werde ich mich an dieser Diskussion mit Herzblut betei-
ligen.
Die transatlantische Partnerschaft ist neben der eu-ropäischen Integration der zweite Pfeiler der deutschenAußenpolitik. Das gilt seit Gründung der Bundesrepu-blik, und daran wird sich auch künftig nichts ändern.Grundlage dafür sind gemeinsame Wertvorstellungen,historische Erfahrungen und eine traditionell enge wirt-schaftliche und gesellschaftliche Verflechtung.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21623
Harald Leibrecht
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Laut einer Mitte April 2012 veröffentlichten reprä-sentativen Umfrage des German Information CenterUSA sieht die Mehrheit der Amerikaner Deutschlandund die Deutschen so positiv wie nie seit 2002. Die Wert-schätzung beruht auf Gegenseitigkeit. Die „Transatlan-tic Trends 2011“ des German Marshall Fund vom Sep-tember des letzten Jahres ergaben, dass 72 Prozent derDeutschen die USA positiv sehen.Die Zeiten, damit auch die Themen auf der transat-lantischen Agenda, haben sich während der letzten60 Jahre verändert, und viele Herausforderungen sindhinzugekommen – um nur einige zu nennen –: die Ver-schuldungskrise, regionale Konflikte, Energiesicherheit,Cybersecurity, Bedrohung durch den Terrorismus, dieVerteidigung unserer offenen Gesellschaften. Gemein-sam ist all diesen Themen, dass sie weder auf Deutsch-land noch auf Europa oder den transatlantischen Raumbeschränkt sind. Sie sind global oder haben zumindestglobale Bedeutung oder Auswirkungen. Kein Staat kanndiese Herausforderungen alleine meistern. Nicht nurDeutschland, nicht nur Europa, sondern auch die USAbenötigen Partner, um Lösungen für die drängendenProbleme unserer Zeit zu finden und ihre legitimen Inte-ressen gegenüber Dritten durchzusetzen. Darum habendie transatlantischen Beziehungen auch heute einen ent-scheidenden Stellenwert für die deutsche, aber auch fürdie amerikanische Außenpolitik.Liest man den Antrag der SPD, bekommt man aller-dings den Eindruck, dass alleine auf unserer Seite desAtlantiks Interesse an einer transatlantischen Freund-schaft besteht. Dabei sollten wir uns nicht unnötig klein-reden: Wir brauchen die Amerikaner, aber die Amerika-ner brauchen auch uns. Wer heutzutage in Europa nochein „Wiederaufbauprojekt“ sieht, wie die SPD es tut,denkt rückwärtsgewandt und hat die europäische Reali-tät nicht verstanden. Es ist richtig, dass Europas wohlgrößte Errungenschaft der Frieden zwischen unserenLändern ist. Doch Europa ist viel mehr als ein Frie-densprojekt: Europa ist auch der größte Binnenmarktder Welt, der Wohlstand und Arbeitsplätze schafft undgrundlegende Normen für Innovation, Sicherheit undsoziale Sicherungssysteme setzt. Das haben unseretransatlantischen Partner schon lange erkannt.Die nationale Sicherheitsstrategie der USA vom Mai2010 bezeichnet die transatlantischen Beziehungen, vorallem auch die Beziehungen zu Deutschland, als Grund-pfeiler der US-Außen- und -Sicherheitspolitik und „Ka-talysator“ der internationalen Beziehungen. Daran än-dert auch das verstärkte US-Engagement im pazifischenRaum nichts, wie wiederholt von Vertretern der US-Administration betont wurde.Die USA nehmen Deutschland vorrangig als „Part-ner in Verantwortung“ bei der Bewältigung der globa-len Herausforderungen wahr. Sie messen uns an unse-rem konstruktiven Beitrag bei der Lösung vonweltweiten Konflikten. Die feierliche Verleihung der„Presidential Medal of Freedom“ an BundeskanzlerinMerkel im Juni 2011 hat die Wertschätzung der US-Administration für die deutsche Rolle nachdrücklich un-terstrichen.Das transatlantische Verhältnis hat sich in den letztenJahrzehnten verändert. Das Ende des Kalten Krieges,die Globalisierung, der Aufstieg neuer Gestaltungs-mächte, aber auch die gesellschaftliche und demografi-sche Entwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks führendazu, dass die transatlantischen Beziehungen, um es mitden Worten des ehemaligen VerteidigungsministersRobert Gates ausdrücken, „no longer in the genes ofpeople“ sind. Die SPD behauptet in ihrem Antrag, dassdie Europäer auf diese Veränderungen nur unzureichendvorbereitet sind. Als Koordinator der Bundesregierungfür die transatlantische Zusammenarbeit kann ich Ihnenversichern, dass das zumindest für Deutschland nichtder Fall ist. Im Gegenteil: Für die Bundesregierung hatder zukunftsgerichtete Ausbau der transatlantischenPartnerschaft nach dem Koalitionsvertrag vom Oktober2009 oberste Priorität. Das gilt nicht nur für die sicher-heitspolitische Zusammenarbeit, sondern gerade auchfür die Kooperation im wirtschaftlichen Bereich.Der transatlantische Wirtschaftsraum ist nicht nurdurch die Handelsstränge, sondern vor allem durchgegenseitige Investitionen auf das Engste miteinandervernetzt. Der nächste logische Schritt wäre jetzt einetransatlantische Freihandelszone. Auch hier die Nach-richt in Richtung SPD: Die Bundesregierung strebteinen wirklichen „transatlantischen Marktplatz“ an.Dafür setzen wir uns innerhalb der EU und im Dialogmit unseren transatlantischen Partnern ein. Wir sind zueinem umfassenden Abkommen bereit, das sowohl dieBereiche Zölle, technische Handelshemmnisse sowiesanitäre und phytosanitäre Maßnahmen als auch dieBereiche Dienstleistungen, geistiges Eigentum undöffentliche Beschaffungen einschließt.Auch jetzt schon können wir durch unsere engewirtschaftliche Zusammenarbeit nicht nur unsere eige-nen Beziehungen stärken, sondern gerade im asiatisch-pazifischen Raum gemeinsam viel mehr Einfluss aus-üben als alleine oder gar in Konkurrenz zueinander. Mitdem Transatlantischen Wirtschaftsrat – TransatlanticEconomic Council, kurz TEC – haben wir hier auf deut-sche Initiative schon 2007 ein gutes Instrument geschaf-fen, dessen Potenzial wir nutzen und weiter ausbauenwerden. Ziel ist es, durch frühzeitige Setzung von Nor-men und Industriestandards bei Zukunftstechnologienwie Elektromobilität unter anderem die Positionen voneuropäischen und amerikanischen Unternehmen im glo-balen Wettbewerb zu stärken bzw. diese Standards auchgegenüber Dritten durchsetzen zu können.Bei aller Bedeutung von Sicherheit und Wirtschaftsind es aber die Menschen, die das Fundament dertransatlantischen Beziehungen formen. Deswegen sindzivilgesellschaftlicher Dialog, Kultur und Bildung fürmich ganz besonders wichtige Elemente. Die Bundes-regierung fördert in vielfältigen Programmen denAustausch zwischen Schülern, Studenten und Wissen-schaftlern von beiden Seiten des Atlantiks. Die Begeg-nungen und der Aufenthalt im Gastland hinterlassenbleibende positive Eindrücke und verwandeln die jungenMenschen in Multiplikatoren. Als stellvertretender Vor-sitzender des Unterausschusses „Auswärtige Kultur-und Bildungspolitik“ weiß ich auch um den wichtigenZu Protokoll gegebene Reden
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21624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Harald Leibrecht
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Beitrag zu einem positiven Deutschlandbild, den Institu-tionen wie das Goethe-Institut oder die deutschen Schu-len vor Ort leisten.Eins ist klar: Die transatlantischen Beziehungen sindkein Selbstläufer und stehen vor neuen Herausforderun-gen. Aber sie sind auch schon viel zu oft zu Grabe getra-gen worden. Sie benötigen keine „Neubelebung“, wiedie SPD sie fordert, denn sie sind heute schon vollerLebendigkeit und Vielfalt. Dass dies so bleibt, dafür wirdsich die Bundesregierung auch weiterhin mit Herz undVerstand einsetzen, ohne dass ihr die SPD dabei zurHand gehen muss.
Der Grundstein für das stabile Fundament transat-
lantischer Beziehungen der jüngeren Geschichte wurde
1945 gelegt. Gemeinsam mit den Soldatinnen und Solda-
ten der Roten Armee und der anderen Alliierten befrei-
ten die USA Deutschland von der Nazidiktatur. Die vor-
maligen US-amerikanischen und kanadischen Feinde
wurden zu engen Partnern Europas und der Bundesre-
publik Deutschland. Mit ihrer Hilfe wurde Westdeutsch-
land zu einem demokratischen und wirtschaftlich erfolg-
reichen Land.
Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des
Grundgesetzes, der auch durch den aktiven Einsatz des
damaligen Präsidenten George Bush bei den Zwei-plus-
Vier-Verhandlungen ermöglicht wurde, veränderten sich
die Beziehungen. Der Kalte Krieg war vorbei.
Die transatlantischen Beziehungen von heute basie-
ren auf anderen Grundlagen. Bedauerlicherweise ver-
fallen Sie im ersten Absatz Ihres Antrags zurück in die
Rhetorik der 80er-Jahre. Mehr als 20 Jahre nach der
Beendigung der Teilung Europas halten wir das wirklich
für unnötig.
Die Welt hat sich, nicht nur durch die Beendigung des
Kalten Krieges, massiv verändert, und sie verändert sich
auch weiterhin rasant. Mächteverhältnisse, Kriege,
neue Bedrohungen, die soziale Lage der Menschen sind
anders geworden.
Gerade das Mächteverhältnis hat sich gewandelt. Zu
den vormaligen Supermächten USA und UdSSR, heute
Russland, haben sich andere gesellt. Das geeinte Eu-
ropa ist deutlich stärker als nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, aber auch als am Ende der 80er-Jahre. Dazu
kommen die neuen großen Global Player Brasilien,
China, Indien, um nur die drei Größten zu nennen. Auch
Afrika entwickelt sich – ungeachtet aller Konflikte – mit
seinem Rohstoffreichtum, seinen vielen jungen Leuten,
seinen Potenzialen zu einem wichtigen Mitspieler. Bei
der Behandlung von weltpolitischen Fragen können
diese Länder und der afrikanische Kontinent nicht mehr
vernachlässigt werden. Auch deshalb ändern sich tradi-
tionelle Partnerschaften.
Aber trotzdem verbindet Europa und Amerika viel
mehr als die gemeinsame Geschichte. Daher sollten wir
an unserer strategischen Partnerschaft weiter arbeiten.
Gerade die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sind
relevant. Die USA und Europa sind weiterhin füreinan-
der die wichtigsten Investitionspartner. Und die Wirt-
schafts- und Finanzkrise sollte uns ermutigen, gemein-
sam eine transatlantische Strategie zur Förderung des
Wirtschaftswachstums zu entwickeln. Hier teilen wir Ih-
ren Antrag auch. Fortschrittliche Regelungen hinsicht-
lich sozialer und ökologischer Standards zu treffen, da-
bei kann Deutschland sicherlich eine positive Wirkung
auf beispielsweise die USA haben. Ebenso fordern auch
wir eine Regulierung der Finanzmärkte und deren
Transparenz. Auch bei den kulturellen Aspekten teilen
wir Ihre Einschätzung, beispielsweise in dem Punkt,
dass Sie die schon bestehende Zusammenarbeit auf Re-
gierungs- und Parlamentsebene ergänzen wollen. Denn
für uns gilt: Beziehungen kann man auf unterschiedliche
Weise stärken. Ein Austausch zwischen den Menschen
ist ebenso wichtig wie regelmäßige Treffen von Vertre-
tern der Institutionen. Wir teilen auch Ihre Einschät-
zung, dass sich gesellschaftliche Organisationen wie
Stiftungen hier bewährt haben und gute Dienste leisten.
Ich freue mich daher sehr, dass auch die Rosa-
Luxemburg-Stiftung in diesem Jahr ihr Büro in New York
City eröffnen wird. Auch die Forderung nach Sonder-
programmen zum transatlantischen Jugendaustausch
finden wir richtig.
Ihre Bedenken, dass es an einer verlässlichen außen-
politischen Zusammenarbeit mangelt, weil es an der Be-
reitschaft der Nationalstaaten mangelt, Verantwortung
und Souveränität an die europäische Ebene abzugeben,
sind auch unsere. Linke Politik ist immer internationa-
listisch – daher stehen wir für eine Stärkung der EU.
Was wir aber nicht teilen, ist, dass die Stärkung der
transatlantischen Beziehungen vor allem im Rahmen der
NATO stattfinden sollte. Die NATO als Organisation hat
sich überlebt. 1949 mag die Begründung der NATO für
den Westen im Rahmen der Blockkonfrontation notwen-
dig gewesen sein. Aber – das haben wir nun schon erläu-
tert – der Kalte Krieg ist vorbei, und damit ist ein Mili-
tärbündnis, das sich auf ebendiese nicht mehr
vorherrschenden Weltverhältnisse bezieht, überflüssig
geworden. Mit dem Ende des Warschauer Vertrags wäre
ein gemeinsamer Neustart sinnvoller gewesen. Sie selbst
erkennen diese Veränderungen an, bauen dann aber auf
Strukturen, die veraltet sind. Das finden wir falsch. Im
Zuge der Neustrukturierung der Partnerschaften fänden
wir eine Ersetzung der NATO durch ein alternatives in-
ternationales Sicherheitsbündnis, das Russland einbe-
zieht, zeitgemäßer.
Wir freuen uns gleichwohl auf die Beratung Ihres An-
trags und danken Ihnen für die Initiative.
Das transatlantische Bündnis ist für die deutsche undeuropäische Politik die mit Abstand wichtigste interna-tionale Bezugsgröße. Sie hat tiefe historische Wurzelnund bleibt auch für die Zukunft unverzichtbar.Die Verfassung der Vereinigten Staaten gründet aufIdeen, die aus dem europäischen Denken entstandensind. Die USA haben sich in der Historie gegen die eu-ropäischen Realitäten definiert, die oft von Unterdrü-ckung und Unrecht gekennzeichnet waren. Aber sieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21625
Omid Nouripour
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wussten den europäischen Geist und viele Europäerin-nen und Europäer in ihren Bemühungen um einen freien,toleranten und demokratischen Staat auf ihrer Seite. EinEuropäer, Alexis de Tocqueville, hat diesem Streben mitseinem Buch „De la démocratie en Amérique“ das viel-leicht schönste Denkmal gesetzt.Diese Solidarität war nicht nur eine des Worts, son-dern auch eine der Tat. Amerika bot zuerst Millionen eu-ropäischer Auswanderer eine neue Heimat und späterZehntausenden Verfolgten des Naziregimes und anderereuropäischer Diktaturen und rettete ihre Leben.Seitdem Europa, nicht zuletzt durch die Hilfe derUSA, aus dem deutschen Albtraum des Zweiten Welt-kriegs und des Holocaust aufgewacht ist, stehen die eu-ropäischen Demokratien und die USA in der Welt ge-meinsam für Freiheit und Menschenrechte. Das gilt trotzaller Widersprüche, die die reale Politik beider Seitenimmer wieder ausgezeichnet haben: Demokratien müs-sen zusammenhalten!Diese Feststellung allein ist aber kein Garant dafür,dass das transatlantische Bündnis in Zeiten einer multi-polaren Weltordnung noch sein ganzes Potenzial entfal-ten kann. Beide Seiten müssen sich immer wieder daraufbesinnen, wie sie dazu beitragen können. Die Europäerhaben dabei die größeren Hausaufgaben zu erledigen.Wir müssen uns nur daran erinnern, dass vor kaum20 Jahren auf unserem eigenen Kontinent, auf dem Bal-kan, ein blutiges Jahrzehnt ethnischer Konflikte undMassaker begann, das wir ohne das Eingreifen der USAkaum hätten beenden können.Auch die Amerikaner brauchen uns. Für viele Men-schen, die heute überall auf der Welt nach Demokratiestreben, sind wir Europäer ein glaubwürdiger Ge-sprächspartner. Wir müssen daher gemeinsam mit denUSA an einer Außenpolitik arbeiten, in der die trans-atlantischen Partner als glaubwürdige Vertreter ihrerhehren Werte in der Welt auftreten können.Eine Voraussetzung dafür sind funktionsfähige euro-päische Institutionen und ein Bewusstsein für gemein-same strategische Ziele in der Europäischen Union. Wirsind für den Erhalt und die Förderung von Frieden undFreiheit auf unserem Kontinent selbst zuständig. Heutesollten wir unseren Nachbarn zur Hilfe kommen – wir,die wir dieselbe Hilfe von den USA bekommen haben.Ein zentraler Baustein dafür ist die Überwindung dernicht mehr haltbaren Aufgabenteilung in sogenannteSoft- und Hardpower. Ein selbstbewusstes Europa, dasso erwächst, ist für die USA ein unverzichtbarer Partnerund kann auch einer Polarisierung in einer neuen G 2– USA und China – entgegenwirken, wie es das Gutach-ten der Friedensforschungsinstitute diese Woche skiz-ziert hat.Wir begrüßen daher den Antrag der SPD-Fraktiongrundsätzlich. Wir unterstützen das Ansinnen desBurden Sharing und auch die Betonung des kulturellen,politischen und akademischen Austauschs.Aus dem Ansatz des Burden Sharing sollte aber ge-rade bei den teuren Aufgaben der Sicherheits- undVerteidigungspolitik in Zeiten der dringend nötigenHaushaltsdisziplin eine gesteigerte Effizienz bei denAusgaben folgen. Ein gemeinsames Raketenabwehrsys-tem passt nicht in diesen Rahmen. Die Zukunft der trans-atlantischen Beziehungen kann nicht gegen, sondern nurmit Russland gestaltet werden.Aus der gemeinsamen Geschichte der USA und Euro-pas als der ältesten Industrieländer der Erde folgt aucheine gesteigerte Verantwortung für die Folgen dieserwirtschaftlichen Vorreiterrolle. Gemeinsam müssen wirVorreiter einer wirksamen Umwelt- und Klimapolitiksein. Das geht nur, indem wir gemeinsam die Initiativeergreifen und mit gutem Beispiel vorangehen. Dass diesauch für unsere vielerorts lahmende Wirtschaft ein Se-gen sein kann, bedarf keines Beweises mehr. Damitkönnten wir gemeinsam gleich zwei grundlegende Pro-bleme in unseren Ländern wirksam angehen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9728 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist das auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Notfonds für tierhaltende Betriebe einrichten
– Drucksache 17/9580 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier vor.
Kernforderung des vorliegenden Antrags der Frak-tion Die Linke ist die Einrichtung eines Notfonds inHöhe von 10 Millionen Euro für die Tierhalter, derenTierbestände von Tiererkrankungen betroffen sind unddie nicht unter das Entschädigungsregime der Tierseu-chenkassen der Länder fallen. Dazu gehören alle dieje-nigen Krankheiten, die noch nicht identifiziert sind undsomit amtlich nicht als Tierseuchen anerkannt sind. Erstwenn eine Krankheit international als Tierseuche aner-kannt ist, haben die Tierhalter in der Regel Ansprücheauf Entschädigungen gegen die Tierseuchenkasse.Diese 10 Millionen Euro sollen auf Wunsch derLinksfraktion bereits in den nächsten Bundeshaushalt2013 eingestellt werden, und dieser Haushaltstitel sollin den Folgehaushalten bedarfsgerecht angepasst wer-den.Einem solchen Notfonds stehe ich gemeinsam mitmeinen Kollegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktionsehr kritisch gegenüber. Diese staatlich finanzierteFondslösung kommt einer Sozialisierung von wirtschaft-lichen Verlusten einzelner Tierhalter gleich. Natürlich
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21626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dieter Stier
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ist es bedauerlich, wenn ein Betrieb Verluste erleidet,aber dieses unternehmerische Risiko tragen letztlichalle produzierenden Betriebe in Deutschland – nicht nurdie Tierhalter. Es steht letztlich auch jedem Betrieb frei,sich gegen eventuell auftretende Schäden zu versichern.Somit haben bereits die Tierhalter in vielen Fällen dieMöglichkeit, sich individuell gegen Tierverluste durchKrankheit oder Seuchen privatrechtlich zu versichern.Es ist nach unserer Meinung nicht einzusehen, warumdie Allgemeinheit das unternehmerische Risiko diesereinzelnen Betriebssparte abdecken soll.Zudem stellt sich die Frage, ob der Notfonds vor derWTO – World Trade Organization – überhaupt rechtlichdurchsetzbar wäre, denn grundsätzlich sind für die Ent-schädigungen von Tierseuchen die Länder zuständig.Ein entsprechender Fonds müsste deshalb bei den Tier-seuchenkassen der Länder angesiedelt sein, nicht beimBund.Natürlich gibt es immer Härtefälle, wie im Falle desAnfang dieses Jahres aufgetretenen Schmallenberg-Virus oder beim chronischen Botulismus. Bereits jetzt isterkennbar, dass trotz der EU-weit koordiniertenForschungsaktivitäten der Forschungsverbünde zumSchmallenberg-Virus in nächster Zeit noch kein fertigentwickelter, validierter und zugelassener Impfstoff ver-fügbar sein wird. Es ist erst jetzt gelungen, den Erregersichtbar zu machen. An der Entwicklung des Impfstoffsarbeiten zusätzlich zu den Forschungsinstituten auch ei-nige Pharmaunternehmen mit Hochdruck.Zwar ist der Ausbruch der Krankheit für die Betroffe-nen bedauerlich, dennoch sollte im Hinblick auf den vonden Linken vorgeschlagenen Notfonds die Relation ge-wahrt bleiben. Wenn man bedenkt, dass die Rinderbe-stände in Deutschland in einer Größenordnung von12,5 Millionen Tieren liegen und die Schafbestände bei1,65 Millionen, so ist ein Verlust in Höhe von aktuell1 474 Tieren durch das Auftreten des Schmallenberg-Virus sehr minimal und rechtfertigt nicht die Errichtungeines Notfonds in Millionenhöhe.Wir Agrarpolitiker der Union präferieren vielmehreine individuelle Risikovorsorge der tierhaltenden Be-triebe in Form einer steuerlich begünstigten Risikoaus-gleichsrücklage. Dies wäre ein steuerlicher Anreiz fürdie Tierhalter, eine betriebliche Rücklage für den Fallder Fälle zu bilden.Wir kennen es doch zur Genüge: Die Politiker derLinken rufen bei jeder Gelegenheit den Staat um Hilfean und fordern großzügige staatliche Unterstützung.Der Bund wird es schon richten. – Wer soll es denn be-zahlen?Diese Grundhaltung der Linken, wenn es ums Vertei-len von Steuergeldern geht, lehne ich ab. Vielmehr setzeich auf die Eigenverantwortung der Tierhalter und aufeine vernünftige Risikokalkulation der Inhaber bei derBetriebsführung.
Der Antrag der Fraktion Die Linke greift ein wichti-ges Anliegen unserer tierhaltenden Betriebe auf. Seit ei-nigen Jahren beobachten wir die Ausbreitung von bisherin Europa unbekannten Tierseuchen. Diese haben zumTeil verheerende Folgen und bedrohen die Existenz derbetroffenen Betriebe. Der Schmallenberg-Virus und dieBlauzungenkrankheit stehen nach meiner Einschätzungbeispielhaft für weitere Erkrankungen, mit denen wiruns in Zukunft auseinandersetzen müssen.Vor allem der globale Handel ist heute das Einfallstorfür bisher noch unerkannte Tierseuchen. Der fortschrei-tende Klimawandel stellt ein nicht zu unterschätzendesRisiko dar. In den gemäßigten Zonen schafft er die Vo-raussetzung für die Verbreitung bisher unbekannter In-sekten und Viren. Das Gefährdungspotenzial für die tier-haltenden Betriebe vergrößert sich dadurch erheblich.Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.Neben den Entschädigungszahlungen für die betroffe-nen Betriebe rückt auch der nicht unerhebliche For-schungsaufwand in den Fokus. Die Entwicklung undUmsetzung geeigneter Gegenmaßnahmen kann nurdann erfolgreich sein, wenn Überträger und Vektorenzweifelsfrei und schnell identifiziert werden. Hier müs-sen wir entsprechende Forschungskapazitäten in dendafür zuständigen Institutionen finanziell absichern.Nach meiner Auffassung hat sich das bisherige Sys-tem unserer Tierseuchenkassen hervorragend bewährt.Jeder Tierhalter kann die nicht über Tierseuchenkassenabgesicherten Risiken individuell über Versicherungenabdecken. Aus heutiger Sicht ist dieses System aber nurbedingt für die zukünftige Herausforderung gewappnet.Wir müssen nun schauen, wie wir dieses System zu-kunftstauglich gestalten.Am Beispiel des Schmallenberg-Virus zeigt sich dasgegenwärtige Dilemma der Betriebe: Diese Viruser-krankung ist nach der Tierseuchenkasse eine nicht aner-kannte Tierseuche, da sie durch Vektoren und nicht vonTier zu Tier übertragen wird. Zwar hat der Bundesratam 30. März 2012 einer Änderung der Verordnung überdie meldepflichtigen Tierkrankheiten zugestimmt unddie Meldepflicht für das Schmallenberg-Virus einge-führt; eine Rechtsgrundlage für Entschädigungen derbetroffenen Tierhalter gibt es aber nicht. Das ist für dieTierhalter mehr als unbefriedigend.Wir sollten darüber nachdenken, wie wir angesichtsdieser neuen Herausforderung die Tierseuchenkasseund die Beihilfegewährung reformieren. Das bewährteRisikovorsorgesystem, das wir über Jahrzehnte aufge-baut haben, muss flexibler ausgestaltet werden.Wir sollten auch darüber diskutieren, wie wir dasVerfahren zur Anerkennung von Tierseuchen verbessernkönnen. Gleichzeitig müssen wir Regelungen finden, diekleine Betriebe entlasten, ohne große Betriebe zu be-nachteiligen.Wir sollten darauf achten, dass wir die finanzielleLeistungsfähigkeit der Tierseuchenkassen nicht über-strapazieren. Bei Seuchenzügen, die viele Tausend Be-triebe betreffen, kommen schnell immense Schadens-summen zusammen. Diese kann das System derTierseuchenkassen dann nicht mehr alleine aus eigenenReserven tragen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21627
Dr. Wilhelm Priesmeier
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Hier kommen die Kofinanzierungsoptionen der EUzum Tragen. Ich bin froh, dass EU-AgrarkommissarDacian Ciolos in seinem Vorschlag für eine neueELER-VO ab 2014 mehrere Optionen ausgearbeitet hat,anhand derer die EU-Mitgliedstaaten das betriebsei-gene Risikomanagement sowie Maßnahmen zur Krisen-bewältigung im Seuchenfall mit Mitteln der EU kofinan-zieren können. Diese Optionen prüfen wir gegenwärtigin enger Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kol-legen der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament.Wir werden EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos unddem Agrarausschuss des EP zeitnah eine entsprechendeStellungnahme zukommen lassen.Wenn wir es schaffen, das erprobte System der Tier-seuchenkasse zu reformieren und dessen Handlungsrah-men für die neue Herausforderung auszuweiten, brau-chen wir kein zusätzliches Instrument in Form einesNotfonds.
Ich freue mich über diesen Antrag, der die Chance
bietet, über ein tatsächlich vorhandenes Problem zu dis-
kutieren. Es ist richtig: Tierseuchen können Betriebe un-
verschuldet in existenzielle Notlagen bringen. Dies gilt
besonders bei neuen Tierkrankheiten wie dem sogenann-
ten Schmallenberg-Virus. Hier gibt es eine Absiche-
rungslücke, da die Tierseuchenkassen nur bei anerkann-
ten Tierseuchen entschädigen. Die Identifikation,
Analyse und amtliche Anerkennung von neuen, bislang
unbekannten Seuchen ist aber zeitaufwendig. Tierhalter
haben also im schlimmsten Fall erhebliche Verluste und
müssen lange auf Entschädigungszahlungen warten.
Dies stellt für die Tierhalter ein Problem dar, und es ist
grundsätzlich richtig, zu überlegen, wie man es lösen
kann.
Etwas überrascht hat mich allerdings doch, dass in
dem Antrag der Linken die sogenannte Faktorenerkran-
kung bei Rindern wieder auftaucht, und dies sogar in ei-
nem völlig spekulativen Zusammenhang mit dem Clos-
tridium botulinum. Dies ist schon deshalb falsch, weil
diese Faktorenerkrankung eindeutig keine Tierseuche
ist. Stattdessen handelt es sich um einzelbetriebliche
Krankheitsfälle mit sehr diffusem Krankheitsbild. Wir
haben dieses Thema im Ausschuss ausführlich behan-
delt. Die geladenen Sachverständigen haben sehr deut-
lich festgestellt, dass in auffällig vielen Fällen, in denen
von dieser Krankheit berichtet wurde, mangelhafte
Management-, Haltungs- und Fütterungsbedingungen
festzustellen waren. Die Tierseuchenkassen sollten auch
künftig keine Tierkrankenkassen werden, und sie sind
schon gar nicht dazu da, Tierverluste durch schlechtes
Betriebsmanagement und Hygienedefizite auszuglei-
chen. Für einen Zusammenhang zwischen den Ver-
dachtsfällen auf eine multifaktorielle Erkrankung von
Rindern und dem Clostridium botulinum fehlen auch
weiterhin jegliche belastbaren Hinweise. Ich bitte daher
doch sehr darum, keine haltlosen Spekulationen in
Drucksachen des Deutschen Bundestages hinein-
zuschreiben.
Der Antrag der Linken möchte eine zusätzliche Insti-
tution schaffen, die mit Haushaltsmitteln in Höhe von
10 Millionen Euro bei akuten, aber noch nicht amtlich
anerkannten Tierseuchen hilft. Ich weiß nicht, wie die
Linke auf diese 10 Millionen Euro kommt; es ist aber
auch nicht so wichtig, denn ich halte einen anderen Weg
grundsätzlich für geeigneter.
Ich hielte es für sinnvoll, dass die Tierseuchenkassen
künftig in Fällen wie jetzt mit dem Schmallenberg-Virus
Überbrückungskredite in Höhe der Entschädigung an
die Tierhalter ausreichen können. Diese müssen nur
dann zurückgezahlt werden, wenn sich im Nachhinein
herausstellt, dass es sich um keine Tierseuche bzw. um
Eigenverschulden der Tierhalter gehandelt hat. Diese
Vorgehensweise hat den Vorteil, dass den Tierhaltern
schnell geholfen werden kann und ein existenzielles
Risiko für die Tierhalter künftig abgesichert ist.
Als positiver Nebeneffekt entsteht so außerdem ein
wirksamer wirtschaftlicher Anreiz für die Tierhalter,
Krankheitsfälle auch tatsächlich umgehend zu melden.
Das Lagebild bei Tierseuchen wird so präziser und die
Seuchenbekämpfung wirksamer.
Gerade Tierseuchen zeigen uns übrigens, wie wichtig
in Zeiten des freien Warenverkehrs in der EU und des
Handels mit verschiedensten Regionen der Welt eine
EU-weit koordinierte Seuchenprävention und ein Seu-
chenmonitoring sind. Dabei leisten die Tierseuchenkas-
sen bereits jetzt einen entscheidenden Beitrag.
Den Antrag der Linken sehen wir nicht als zustim-
mungsfähig an und lehnen ihn deshalb ab.
Dieses Jahr ist es das Schmallenberg-Virus. In denvergangenen Jahren sorgten die Blauzungenkrankheitoder das Blutschwitzen der Kälber für Aufregung. Erin-nert sei auch an die Vogelgrippe oder an die ungeklärteFrage, ob es einen sogenannten chronischen Botulismusgibt oder nicht. Immer schneller sehen sich tierhaltendeBetriebe unverschuldet und ungeschützt mit immerneuen Infektionsrisiken konfrontiert.Durch Klimawandel und globale Personen- und Han-delsströme steigt das Risiko von neuen Tierseuchen und-erkrankungen, die existenzbedrohend für landwirt-schaftliche Betriebe sind. In den Fällen, in denen diesebedrohliche Situation nicht selbst verschuldet oder ver-meidbar ist, muss politisch gehandelt werden. SolcheBetriebe müssen in diesen Notsituationen unterstütztwerden, den Landwirtinnen und Landwirten muss unterdie Arme gegriffen werden.Wir Linke bekennen uns zu einer nachhaltigen Tier-haltung, aus zwei Gründen: Erstens sichert die Tierhal-tung die meisten landwirtschaftlichen Arbeitsplätze inden ländlichen Räumen. Zweitens erfüllen Nutztiereauch eine ökologische Funktion; sie nutzen Wiesen undWeiden und betätigen sich als ökologische Kulturland-schaftspfleger. Das ist gut so. Wir wollen, dass das sobleibt.Zu Protokoll gegebene Reden
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21628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dr. Kirsten Tackmann
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Aber tierhaltenden Betrieben geht es oft nicht gut.Die Produktionskosten steigen, und die Erzeugerpreisesind nicht kostendeckend. Immer öfter können sich Be-triebe die Tierhaltung nur noch leisten, wenn sie gleich-zeitig Biogas oder Sonnenstrom produzieren. Zusätzli-che Belastungen durch Tierseuchen und unbekannteErkrankungen sind unter solchen Bedingungen kaum zuverkraften. Darum darf die Politik der existenziellen Be-drohung durch neue Tierseuchen und -erkrankungennicht tatenlos zusehen. Die Linksfraktion schlägt dahererneut vor, einen Notfonds für solche Ausnahmesituatio-nen einzurichten. Dieser soll ab dem Jahr 2013 mit10 Millionen Euro jährlich ausgestattet sein. Entspre-chend dem Bedarf sollte sein Budget jedes Jahr ange-passt werden.Ich möchte betonen, dass es hierbei nicht um einRundum-sorglos-Paket für Landwirtschaftsbetriebe geht.Ein solcher Vorwurf wird schnell erhoben. Doch das ge-naue Gegenteil ist der Fall. Der Notfonds soll dort an-setzen, wo die bisherigen Sicherungsinstrumente versa-gen oder noch nicht greifen. Wenn die Betriebe keineChance haben, bisher unbekannte Infektionsrisiken inder Tierhaltung zu vermeiden, müssen neue Wege derAbsicherung unkalkulierbarer Risiken gesucht werden.Aktuell ist es doch so, dass die Betriebe kein Geld be-kommen, solange die Ursache einer Bestandserkran-kung unbekannt oder nicht amtlich bestätigt ist. Selbstdann werden vor allem die Schäden erstattet, die unmit-telbar durch staatlich angeordnete Bekämpfungsmaß-nahmen entstehen.Der Notfonds kann auch die Existenzbedrohungdurch Bestandserkrankungen entschärfen, die von eini-gen dem sogenannten chronischen Botulismus, derwissenschaftlich immer noch höchst umstritten ist, zuge-ordnet werden. Ich finde, man kann einen jahrelangenwissenschaftlichen Streit nicht auf dem Rücken der Land-wirtschaftsbetriebe und ihrer Beschäftigten austragen.Stellt sich nach Ursachenfeststellung und amtlicherAnerkennung heraus, dass zum Beispiel die Tierseu-chenkasse zuständig ist, soll dieses Geld übrigens in denNotfonds zurückfließen. Stellt sich heraus, dass dieUrsache einer Bestandserkrankung mit den Haltungs-bedingungen oder mangelnder Hygiene im Stall zusam-menhängt, müssen die Agrarbetriebe das Geld an denNotfonds zurückzahlen.Der Notfonds kann auch dann sinnvoll sein, wennHilfe erst verzögert möglich wird, weil leider auch staat-liche Hilfen in Tierseuchensituationen als wettbewerbs-verzerrend bewertet werden; nur in Ausnahmefällenwerden sie von der EU oder der WTO genehmigt. DiesesJahr war dies beim Schmallenberg-Virus der Fall, dasbereits seit November 2011 zu missgebildeten Jungtierenbei Schafen, Ziegen und Rindern führt. Erst durch dasVotum des Bundesrates Ende März wurde die Virusinfek-tion als Tierseuche anerkannt. Bis dahin waren jedochschon Tausende Tiere gestorben bzw. erkrankt. Die Be-triebe blieben zunächst mit ihrem Problem alleine.Das Budget des Notfonds ist eine sinnvolle Investitionin die Zukunft der ländlichen Räume. Darum muss gel-ten: Finanzielle Unterstützung erhält ein Betrieb nur zurFortführung seiner Tierhaltung. Wer die Tiere abschafftund das Personal entlässt, darf nicht mit Geld aus demNotfonds rechnen. Unter diesen Voraussetzungen ist ereine sozial gerechtfertigte und gebotene, aber auchvolkswirtschaftlich sinnvolle Lösung.Wer die Forderung der Linksfraktion für übertriebenhält, sollte sich nicht nur die Entwicklung der neuenoder zurückkehrenden Tierseuchen in den vergangenenJahren anschauen, sondern auch einen realistischenBlick in die Zukunft wagen. Niemand kann genau vor-hersagen, wie sich das Auftauchen neuer Tierseuchen inden kommenden Jahren weiter entwickeln wird. Aller-dings wird seit langem in der Wissenschaft vor den stei-genden Infektionsrisiken durch globale Personen- undHandelsströme gewarnt. Auch die Folgen des Klima-wandels tragen zu neuen Risiken bei, insbesondere beivektorübertragenen Infektionskrankheiten. Die Afrika-nische Pferdepest – African Horse Sickness, AHS –, dieChikungunya-Infektion, die Afrikanische Schweinepestund das West-Nil-Virus, WNV, haben ähnliche Poten-ziale zur Gefährdung der europäischen Tierbestände.Darum ist nun die Zeit, zu handeln. Ich fordere dieanderen Fraktionen auf, im wirtschaftlichen Interesseder tierhaltenden Betriebe und der dort Beschäftigtenunseren Vorschlag sehr gewissenhaft zu prüfen und demAntrag auf Errichtung des Notfonds zuzustimmen.
Neue Seuchen wie das Schmallenberg-Virus führenuns eindringlich vor Augen, wie anfällig unsere Tierhal-tungssysteme sind, wie schnell ein auftretender Erregerzu Tausenden toten Tieren oder, wie im Falle desSchmallenberg-Virus, zu extremen Missbildungen führenkann. Während noch im Januar 2012 nur 32 Betriebevom Schmallenberg-Virus betroffen waren, waren eskaum einen Monat später schon über 700 Betriebe mitmissgebildeten oder toten Lämmern und Kälbern. Bisheute sind allein in Deutschland fast 1 500 Betriebe be-troffen.Die Furcht vor toten und missgebildeten Tieren hatdie Betriebe durch das Frühjahr begleitet, auch meineneigenen. Hohe Tierverluste können schnell das wirt-schaftliche Aus bedeuten, umso mehr, als insbesondereSchäfer, Ziegenhalter und Milchbauern immer am finan-ziellen Limit wirtschaften. Wir in der Politik müssen unsfragen, wie wir mit Betrieben umgehen wollen, die sounverschuldet in finanzielle Notlagen kommen.Vieles deutet darauf hin, dass wir in Zukunft immeröfter neue Tierkrankheiten und Seuchen erleben werden.Längst ist die Globalisierung auch in der Tierhaltungangekommen. Lebende Tiere werden wie Gegenständerund um den Globus gekarrt. Mit Lastwagen oder Schiffgeht es von Australien nach Saudi-Arabien und vonDeutschland bis hinter den Ural. Dadurch drohen unsnicht nur Tierseuchen. Weit gefährlicher sind Zoonosen,also die vom Tier auf den Menschen übertragbaren Er-reger wie die Schweinegrippe.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21629
Friedrich Ostendorff
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Trotzdem ignorieren, Sie, Frau Ministerin Aigner,dass Seuchen, wie das Schmallenberg-Virus oder dieBlauzungenkrankheit, eben nicht ohne Grund in denviehdichtesten Gebieten Deutschlands auftreten, zumBeispiel in der Grenzregion zu den Niederlanden. Es istdoch längst hinreichend bekannt, dass mit der Tierdichteauch die Möglichkeiten zur Übertragung von Krank-heitserregern steigen. Nehmen Sie das doch bitte endlichzur Kenntnis. Sie wissen doch auch, dass es in Nieder-sachsen inzwischen ebenso viele Schweine wie Men-schen gibt. Im Landkreis Cloppenburg sind es sogar sie-benmal so viele Schweine wie Menschen. Auf geradeeinmal 157 000 Menschen kommen 1,1 MillionenSchweine. Masthühner, Legehennen, Puten und Rindersind da noch nicht mal eingerechnet. Erkennen Sie end-lich an, Frau Ministerin Aigner, dass die Menschen indiesen Regionen zu Recht um ihre Lebensqualität undGesundheit fürchten. Diese Tierdichte – riesige Ställemit mehreren Zehntausenden Schweinen oder einer hal-ben Million Hühnern – bietet Seuchen optimale Ausbrei-tungsbedingungen.Der Klimawandel verstärkt das Ganze noch. Wissen-schaftler gehen davon aus, dass durch steigende Tempe-raturen nicht nur die Anzahl der Mücken und Gnitzenzunimmt, sondern sich auch Viren schneller entwickeln.Nach Expertenmeinung würden Temperaturerhöhungenvon 5 Grad zu einer Verdoppelung der Übertragbar-keitsraten führen. Das ist ein wichtiger Grund mehr, dieBetriebskreisläufe des An- und Verkaufs von Tieren sogeschlossen und regional wie möglich zu halten.Wenn es denn aber zu Erkrankungen wie demSchmallenberg-Virus oder auch dem sogenannten chro-nischen Botulismus kommt, müssen wir uns fragen: Wol-len wir Betriebe, die unverschuldet durch neue, bisherunbekannte Erkrankungen in Notlagen geraten, völligalleinlassen, wie das derzeit der Fall ist? Betriebe, dievom Schmallenberg-Virus betroffen sind, erhalten bisherkeinerlei Entschädigung. Der Grund: Damit BetriebeEntschädigungen aus der Tierseuchenkasse erhalten,muss die Krankheit als Tierseuche anerkannt sein undmüssen Tiere auf Anordnung der Kreisveterinäre getötetworden sein. Ansonsten gehen die betroffenen Betriebe,die natürlich ebenfalls in die Tierseuchenkasse einge-zahlt haben, völlig leer aus.Aus unserer Sicht ist klar: Diese Betriebe dürfen nichtim Stich gelassen werden. Für neue Krankheitsgesche-hen brauchen wir neue Entschädigungsmechanismen.Der Antrag der Linken versucht, über einen nationalenNotfonds einen Ansatz zu finden. Doch aus unserer Sichtgehört die Entschädigung und Unterstützung dieser Be-triebe in die Zuständigkeit der Tierseuchenkassen. Statteines Fonds brauchen wir neue Bewertungskriterien,damit diese Krankheiten von den Tierseuchenkassen ab-gedeckt werden. Aus grüner Sicht muss das Ziel sein,den betroffenen Bauernfamilien unbürokratisch zu hel-fen. Es ist nun an Ihnen, Frau Ministerin Aigner, zuüberprüfen, wie wir dies möglich machen können.Vor allem aber müssen wir versuchen, Seuchenrisikenso niedrig wie möglich zu halten. Industrielle Tierhal-tungsanlagen mit Zigtausenden Tieren sind tickendeZeitbomben. Nur durch möglichst geschlossene Be-triebskreisläufe können wir die Verbreitung neuerKrankheiten vermeiden. Das geht nur mit bäuerlichenBetrieben, die in der Region verankert sind.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9580 an den Ausschuss für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. –Sie sind alle damit einverstanden. Dann haben wir dasauch so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfHempelmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPDKeine Hermesbürgschaft für den Bau desAtomkraftwerks Angra 3– Drucksache 17/9578 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger AusschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan vanAken, Dr. Gesine Lötzsch, Ulla Lötzer, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Ute Koczy, SylviaKotting-Uhl, Beate Walter-Rosenheimer, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Bürgschaft für den Bau des Atomkraft-werks Angra 3– Drucksache 17/9579 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger AusschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Sie sind damit einverstanden. Ich verzichte auf die Ver-lesung der Namen der Kolleginnen und Kollegen. DieNamen liegen bei uns vor.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/9578 und 17/9579 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Sie sind alle damit einverstanden. Dann ist die Überwei-sung auch so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,1) Anlage 5
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21630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFörderung eines offenen Umgangs mit Homo-sexualität im Sport– Drucksachen 17/7955, 17/9721 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertMartin GersterDr. Lutz KnopekKatrin KunertViola von Cramon-TaubadelWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen liegen mir vor.
Heute sprechen wir über den Antrag der SPD-Frak-
tion zur Förderung eines offenen Umgangs mit Homo-
sexualität im Sport.
Aufgrund der breiten gesellschaftlichen Bedeutung
des Themas hat sich der Sportausschuss in einer Sitzung
am 13. April 2011 mit dem Thema Homosexualität im
Sport befasst. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht
sich klar gegen jegliche Form von Diskriminierung und
Homophobie im Sport und außerhalb des Sports aus.
Dass einzelne Sportlerinnen und Sportler sich offen zu
ihrer Homosexualität bekennen und so als Vorbild für
andere fungieren, wird von allen Seiten begrüßt. Insbe-
sondere ehemalige Leistungssportler können hier ein
Zeichen setzen und bis tief in die Gesellschaft hinein die
Wirkung erzielen, Gleichgesinnte zu motivieren und sie
in ihrem Mut, offen mit ihrer Homosexualität umzuge-
hen, zu bestärken.
Allerdings darf unter keinen Umständen seitens der
Politik eingefordert werden, dass die Sportlerinnen und
Sportler ihre sexuelle Orientierung zwecks ihrer Vor-
bildfunktion preisgeben müssen. Entgegen der Position
der SPD-Fraktion betrifft die sexuelle Orientierung
nämlich ausschließlich die Privatsphäre von Sportlerin-
nen und Sportlern. Diese gilt es in erster Linie bedin-
gungslos zu respektieren und akzeptieren. Wir müssen
den Sportlerinnen und Sportlern selbst überlassen, mit
welchen privaten Dingen sie in welchem Umfang die Öf-
fentlichkeit suchen.
Natürlich haben wir auch den Eindruck gewonnen,
dass im Bereich Sport das Thema Homosexualität eher
als Tabu zu gelten scheint, als es in anderen gesell-
schaftlichen Bereichen heute der Fall ist. Jedoch kann
und darf die richtige Antwort auf diese Problematik
nicht sein, die sportlichen Akteure zu einem sexuellen
Offenbarungseid über verschiedene öffentlichkeitswirk-
same Programme und Institutionen zu drängen.
Wir müssen uns an dieser Stelle vordergründig mit
der Fragestellung beschäftigen, wie wir den Sportlerin-
nen und Sportlern das Gefühl vermitteln, dass die Tole-
ranz in der Gesellschaft für homosexuelle Sexualität viel
größer ist, als es der Einzelne vermutet. Nur wenn wir
uns mit solchen gesamtgesellschaftlichen Ansätzen über
den Sportbereich hinaus auseinandersetzen, können wir
zu maximaler gesellschaftlicher Toleranz und Akzeptanz
aller sexuellen Orientierungen wirkungsvoll beitragen.
Der Staat hat hier nur in begrenztem Maße Handlungs-
spielraum, um den gesellschaftlichen Umgang mit der
Homosexualität zu steuern.
Der 12. Sportbericht der Bundesregierung gibt einen
umfassenden und lückenlosen Überblick über die zahl-
reichen Programme und Maßnahmen der Bundesregie-
rung, um Projekte für Toleranz im Sport im Rahmen der
Möglichkeiten ideell und finanziell zu fördern.
Der Forderung im SPD-Antrag, die Mittel der Anti-
diskriminierungsstelle des Bundes, ADS, im Haushalt
2012 auf 5,6 Millionen Euro annähernd zu verdoppeln,
steht außerhalb jeglicher Verhältnismäßigkeit und un-
tergräbt die Einigung bezüglich des Gesamthaushaltes.
Trotz der Konsolidierung des Bundeshaushalts wurde
der jetzige Ansatz der ADS nur minimal verändert, um
eine solide finanzielle Ausstattung und breite inhaltliche
Arbeit zu gewährleisten.
Der Deutsche Fußball-Bund setzt sich zusammen mit
verschiedenen Sportvereinen und Organisationen be-
reits umfänglich für die Anliegen homosexueller Sport-
lerinnen und Sportler ein. Für Programme und Initiativen
im Breitensport sind aufgrund der Kompetenzverteilung
grundsätzlich die Bundesländer zuständig. Nichtsdesto-
trotz macht sich die Bundesregierung zusammen mit
dem Deutschen Olympischen Sportbund für Programme
im Bereich Diversity stark und wird hier ihrer gesamtge-
sellschaftlichen Verantwortung über das erforderliche
Maß hinaus gerecht.
Eine breitangelegte Kampagne zusammen mit dem
Deutschen Fußball-Bund und dem Deutschen Olympi-
schen Sportbund gegen Rassismus und Fremdenfeind-
lichkeit im Sport wird zurzeit als oberste Priorität – vor
anderen zukünftig möglichen Initiativen – angesehen.
Die einzelnen Landes- und Stadtsportbünde bilden be-
reits ein dezentrales Netzwerk zur Bekämpfung von Ho-
mophobie und Ausgrenzung. Die Unterstützung der Ein-
richtung entsprechender Beratungsstellen im Sport liegt
in der Zuständigkeit der Bundesländer. Das Bundesinsti-
tut für Sportwissenschaft ist entgegen der SPD-Forde-
rung allein für die Spitzensportforschung zuständig.
Der Antrag der SPD-Fraktion weist leider diverse in-
haltliche sowie formale Schwächen auf. In der vorlie-
genden Form können wir die verfolgte Zielperspektive
aus sportpolitischer Sicht nicht mittragen. Wir lehnen
daher den Antrag ab.
Wir alle, die wir hier sitzen, kennen das: Man ist beieiner Veranstaltung im Wahlkreis und wird plötzlichrüde angegriffen, dass alle Politiker sich nur die Ta-schen vollmachen und korrupt und faul sind. Oder manerhält einen Brief oder eine E-Mail, worin mit grob aus-fälligen Worten Kritik an unserer Arbeit – oder der Ar-beit eines Kollegen – geübt wird, was dann auch gleichmit einem Werturteil über uns als Person verknüpft wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21631
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
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Das kann wehtun. Aber in den beschriebenen Fällenhandelt es sich – zumindest hoffe ich das – immer nur umEinzelfälle. In diesen Fällen werden wir angegangen,weil wir uns für eine bestimmte Tätigkeit entschiedenhaben. Damit kann man leben, denn wir haben es ja sogewollt.Diesen Vorteil haben aber nicht alle Menschen. Stel-len Sie sich vor, wir säßen inmitten einer Arena, vorZehntausenden Zuschauern, und würden für etwas ange-gangen, was wir uns nicht selbst ausgesucht haben. Waswir nicht ändern können, selbst, wenn wir es wollten. Et-was, was Teil dessen ist, was uns selbst ausmacht.„Die schlimmste Armut ist Einsamkeit und das Ge-fühl, unbeachtet und unerwünscht zu sein“, wussteschon Mutter Teresa zu erzählen. Wir alle schätzen denSport dafür, dass er Werte wie Teamgeist und Fair Playvermittelt. Trotzdem gilt im Sport das Wort „schwul“ inallen seinen Variationen häufig noch immer als Schimpf-wort, als Bezeichnung von Schwäche und mangelnderMännlichkeit.Wenn solche Ignoranz sich großflächig auf Transpa-renten austobt, kann von einem offenen und tolerantenKlima keine Rede sein. Dann bestehen wenig Anreize fürhomosexuelle Athleten, sich zu ihrer Orientierung zu be-kennen.Nehmen wir einmal den Profifußball: An jedem Wo-chenende stehen in den beiden obersten Ligen 396 Spie-ler auf den Plätzen. Davon ist offiziell niemand schwul.Zum Vergleich: Von den 620 Abgeordneten des Bundes-tages sind zehn bekennend homosexuell. Rein statistischkann da im Fußball etwas nicht stimmen.Es ist selbstverständlich allen Menschen frei überlas-sen, ob sie über ihre sexuelle Orientierung sprechenmöchten. Aber die freie Entscheidung ist eben nicht frei,wenn ein Klima der Anfeindung herrscht. Wenn jemandAngst haben muss vor den Konsequenzen eines Coming-outs.Auch wenn Funktionäre wie der ehemalige Präsidentdes Deutschen Fußball-Bundes, DFB, Theo Zwanziger,Sportler ermutigt hat, sich zu ihrer sexuellen Orientie-rung zu bekennen, gibt es kaum einen offenen Umgangmit dem Thema. Botschaften wie die des Kapitäns derdeutschen Fußballnationalmannschaft, Philipp Lahm,der homosexuellen Fußballern von einem Outing abge-raten hatte, zeigen leider nach wie vor, wie homophobder Sport sich selbst wahrnimmt.Unsere Fußballer bereiten sich derzeit auf die End-runde der Europameisterschaft in Polen und derUkraine vor. Es ist bereits viel über Menschenrechte inder Ukraine geredet worden. Es ist viel geredet wordenüber Julija Timoschenko und ihre Haftbedingungen,über Menschenrechtsverletzung. Worüber nicht gespro-chen wurde, ist die Tatsache, dass am vergangenenSonntag in Kiew die erste ukrainische Gay Pride statt-finden sollte. Sollte. In letzter Minute sagten die Veran-stalter die Parade ab, weil die Angriffe und Anfeindun-gen durch rechtsextreme und religiöse Gruppenüberhandgenommen hatten.Wieso haben wir darüber so gut wie nichts gehört? Esfällt mir schwer, zu glauben, dass Homosexuelle in derUkraine eine kleinere Minderheit darstellen als blondeEx-Ministerpräsidentinnen in Haft. Anscheinend werdendie Anliegen von Menschen mit anderer sexueller Orien-tierung auch hier weniger deutlich wahrgenommen.In den USA sorgte vor einigen Wochen die Kampagne„It gets better“ für Aufsehen, in der Prominente sich anjunge Menschen, insbesondere an homosexuelle Jugend-liche, gewandt haben, um diesen zu versichern, dassDiskriminierung nicht ihr ganzes Leben bestimmenwird.Wegen ihrer Vorbildfunktion wünschen wir uns offenschwule und lesbische Spitzensportlerinnen und Spitzen-sportler, um den Meinungswandel in der Gesellschaft zubefördern. Sie verdienen Rückendeckung aus Politik undGesellschaft.Vor Ihnen liegt ein Antrag, mit dem wir genau dieseRückendeckung gewährleisten. Wir fordern ganz kon-krete Maßnahmen für mehr Respekt und Toleranz vonhomosexuellen Sportlerinnen und Sportlern:Wir fordern, die Mittel für die Antidiskriminierungs-stelle des Bundes, ADS, im Haushalt 2012 und im kom-menden Haushalt zu erhöhen. Zeigen Sie Flagge; dieHaushaltsberatungen stehen vor der Tür.Die Fortbildung von Trainern sowie die Entwicklungvon Ausbildungskonzepten zur Sensibilisierung für dasThema Homosexualität müssen mehr gefördert werden.Wir fordern ein Netz von Beratungsstellen der Sport-verbände, an die sich von Diskriminierungen betroffenehomosexuelle Sportler und Sportlerinnen wenden kön-nen.Die Frage, die wir uns im Zusammenhang mit diesemAntrag stellen müssen, lautet: In welcher Gesellschaftwollen wir leben? Akzeptieren wir, dass in Teilen unsererGesellschaft Menschen Angst um ihre Karriere habenmüssen, weil sie eine andere sexuelle Orientierung ha-ben als die Mehrheit? In der sie sich nicht trauen, öffent-lich zu sagen, wen sie lieben? Oder treten wir Intoleranzentschieden gegenüber und schaffen die Voraussetzun-gen dafür, dass auch im Spitzensport prominente Sport-lerinnen und Sportler ohne Bedenken an die Öffentlich-keit gehen können und sich zu ihren jeweiligenLebenspartnern bekennen können?Klar ist: Auch wenn alle Forderungen des Antrags er-füllt und umgesetzt werden, wird der erste Fußballprofi,der sich outet, die erste Athletin, die ihre Lebensgefähr-tin zum Wettkampf mitbringt, einen steinigen Weg vorsich haben. Es liegt heute hier an uns, ihnen diesen Wegzu ebnen.Unterstützen Sie diesen Antrag! Helfen Sie dabei, dieArmut der Einsamkeit zu bekämpfen und durch denReichtum der Vielfalt zu ersetzen!
Wir Liberalen unterstützen das Grundanliegen diesesAntrags, den offenen Umgang mit Homosexualität imZu Protokoll gegebene Reden
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21632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dr. Lutz Knopek
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Sport zu fördern, und begrüßen es sehr, dass dieseswichtige Thema kurz vor der Fußballeuropameister-schaft debattiert wird. Homophobie ist leider ein imSport noch immer weit verbreitetes Phänomen, auch,aber nicht nur im Fußball. Der aktive Sport leistet abergleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Entwicklungvon positiven Werten und Normen bei Jugendlichen. DaHomophobie aber nicht nur auf dem Sportplatz anzutref-fen ist, sondern ein allgemeines gesellschaftliches Pro-blem darstellt, muss Toleranz in jeder Generation neuerarbeitet werden. Der Sport leistet auch hier einenwichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion.Die vielfachen Aktivitäten der Sportverbände, derHomophobie entgegenzuwirken, begrüßen wir dahernachdrücklich. Gerade in der Heterogenität der Aktivi-täten liegt eine große Stärke. Ausdrücklich möchte ichan dieser Stelle jedoch das große Engagement schwul-lesbischer Sportvereine und homosexueller Fanprojektehervorheben, die zu Recht große öffentliche Aufmerk-samkeit erhalten.Nun zu den Details des Antrags: Die SPD fordert einegenerelle Erhöhung der Mittel der Antidiskriminie-rungsstelle. Aus Sicht der FDP ist dies nicht sachge-recht, da die ADS im vergangenen Jahr ihre bereitge-stellten Mittel nicht vollständig abgerufen hat und nachunserer Ansicht auch ihren Beitrag zur allgemeinenHaushaltssanierung leisten sollte. Liberale setzen da-rauf, dass die gegebenen Mittel intelligenter eingesetztwerden. Dabei kann sehr wohl eine Schwerpunktsetzungauf Homophobie im Sport erfolgen. Hier ist die ADS ge-fordert, entsprechende Programme zu entwickeln. DenAntrag der SPD lehnen wir daher ab.Des Weiteren sehen wir den organisierten Sport, wieden DOSB, den DFB und die DFL, in der Pflicht, seinebereits erfolgreich eingeleiteten Projekte und Maßnah-men im Kampf gegen Homophobie im Sport konsequentfortzusetzen und zu verstärken. Die FDP ist der festenÜberzeugung, dass die Diskriminierung Homosexuellerin unserer Gesellschaft nur durch Aufklärung undBildung nachhaltig bekämpft werden kann. Daher ist aufunsere Initiative in diesem Jahr die Fördertätigkeit derBundesstiftung Magnus Hirschfeld aufgenommenworden. Wir ermuntern Wissenschaftler und Sportver-eine, Forschungsvorhaben zur Homophobie im Sportsowie Projekte zur Bildung im Sport bei der Stiftungeinzureichen.Durch eine steigende Zahl von Projekten und Initiati-ven der verschiedenen im Sport Beteiligten wird es unshoffentlich gelingen, so viele Menschen wie möglich zuerreichen und dadurch zunehmend und verstärkt derDiskriminierung Homosexueller im Sport und in derGesellschaft entgegenzuwirken. In einer freien und tole-ranten Gesellschaft darf die Diskriminierung homosexu-eller Mitbürger nicht hingenommen werden, denn amEnde bedroht die Diskriminierung von Minderheiten dieFreiheit von uns allen.
2004 haben lesbische Frauen in Südafrika die Fuß-ballmannschaft „Chosen Few“ gegründet, die erste ih-rer Art in Afrika. Die Spielerinnen finden durch denSport zu neuem Selbstvertrauen. Viele von ihnen wurdenwegen ihrer Homosexualität missbraucht oder von derFamilie verstoßen. Der Sport gibt ihnen die Möglichkeit,das Erlebte zu verarbeiten und sich mit Gleichgesinntenauszutauschen.Homo-, Trans- und Intersexualität stoßen häufig aufUnverständnis und Ablehnung. In vielen Ländern istHomosexualität nach wie vor strafbar und in siebenStaaten unter Todesstrafe gestellt. Erst kürzlich wurdenPresseberichten zufolge im Iran vier Männer wegen Ho-mosexualität zum Tode verurteilt.Anfeindungen und Gewalt wegen sexueller Vielfaltgibt es jedoch nicht nur in Afrika oder arabischen Län-dern. Auch in Deutschland ist Homophobie in derGesellschaft weit verbreitet. Die Bandbreite der Diskri-minierungen reicht von verbalen Attacken bis hin zu ge-walttätigen Übergriffen. Die Tatsache, dass homosexu-elle Flüchtlinge in Europa und auch in Deutschland nurschwer Asyl bekommen, zeigt, dass das Problem-bewusstsein noch geschärft werden muss.Diese Thematik macht auch vor dem Sport nicht halt.Insbesondere im Fußball ist sexuelle Vielfalt ein Tabu.Es gibt derzeit keinen aktiven Fußballer in den oberenLigen, der sich als homosexuell geoutet hat. Grund hier-für ist möglicherweise auch die tragische Geschichtedes Justin Fashanu, der sich 1990 während seiner Zeitals aktiver Spieler geoutet hat. Acht Jahre später er-hängte er sich in seiner Garage. Seit damals hat sichviel verändert, und der Umgang mit sexueller Vielfalt istoffener geworden. In Film, Fernsehen und sogar in derPolitik sind homosexuelle Persönlichkeiten keine Beson-derheit mehr. Im Sport sind diese positiven Veränderun-gen noch nicht angekommen. Sportler fürchten um ihrImage in der Öffentlichkeit, um Sponsoren und nicht zu-letzt um die Position innerhalb der Mannschaft. Sie ver-heimlichen ihr Privatleben und bauen sich zum Teil eineDoppelidentität auf. Dieses Versteckspiel hat jedochAuswirkungen auf die Gesundheit. Sie leiden unter derSituation, Depressionen können auftreten, und nicht zu-letzt ist die sportliche Leistungsfähigkeit gefährdet.Die Tatsache, dass in der Nationalmannschaft derFrauen einige Spielerinnen offen zu ihrer Homo- oderBisexualität stehen, heißt nicht, dass hier mehr Toleranzherrscht. Vielmehr ist das ein Ausdruck von ohnehin be-stehenden Vorurteilen. Frauen, die Fußball spielen, sindin den Augen vieler Menschen Mannsweiber und Les-ben. Außerdem geht es bei den Frauen nicht um Millio-nenbeträge bei Ablösesummen und Sponsorengeldernwie bei den männlichen Kollegen.Der Handlungsbedarf liegt also auf der Hand. Betrof-fen sind nicht nur die Sportlerinnen und Sportler, son-dern auch Trainerinnen und Trainer und die Fans. Ini-tiativen wie den Verein der „Hertha Junxx“ begrüße ichdaher ausdrücklich. Nachdem dieser sich 2001 als ers-ter schwul-lesbischer Fußballfanclub gegründet hat,gibt es heute schon etwa zwanzig solcher Fanclubs inDeutschland, Spanien und der Schweiz, die sich als„Queer Football Fanclubs“ zusammengeschlossen ha-ben. Dieser Verein bietet auch eine Plattform für FansZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21633
Katrin Kunert
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im Rahmen der Fußball-EM 2012 in Polen und derUkraine.Die Ukraine als Austragungsort der Fußball-EM istderzeit allgegenwärtig in den Medien. Die Zustände imLand werden kritisiert, und es wird zum Boykott der Ver-anstaltung aufgerufen. Ich bin gegen einen Boykott,denn damit ist niemandem geholfen. Man kann undsollte die Gelegenheit jedoch nutzen, um auf Missständehinzuweisen und einen Dialog anzubieten. Wie sieht esaus mit der sexuellen Vielfalt und der Toleranz in derUkraine? Im letzten Jahr wollten Abgeordnete desukrainischen Parlaments die Propaganda von Homose-xualität unter Strafe stellen. Erst vor wenigen Tagen gabes Angriffe auf Homosexuelle in Kiew und die erste GayParade musste abgesagt werden. Dennoch glaube ich,dass Warnungen an Homosexuelle, wie von einigen Ab-geordneten von Bündnis 90/Die Grünen aktuell ausge-sprochen, nicht zielführend sind. Viel wichtiger ist es,dass die Fans füreinander einstehen und sich gemein-sam stark machen. Es kann nicht sein, dass eine GruppeFans aus Angst zu Hause bleiben muss. In Polen ist dasThema ebenfalls ein Tabu. Einige Studien besagen, dassetwa 94 Prozent der Polinnen und Polen Homosexuali-tät ablehnen. Ich bin gespannt, wie die Stimmung in we-nigen Wochen in diesen beiden Ländern sein wird undob sexuelle Vielfalt beispielsweise durch entsprechendeTransparente sichtbar wird und ein Dialog stattfindet.Ein weiterer sportlicher Höhepunkt dieses Jahressind die Olympischen und Paralympischen Sommer-spiele in London. Ich habe mich sehr gefreut, dass esnach der Premiere bei den Winterspielen 2010 in Van-couver auch in diesem Jahr in London ein Pride Housegeben wird. Ich hoffe, dass viele Sportlerinnen undSportler sowie Sportbegeisterte diese Begegnungsstättefür sexuelle Vielfalt auch besuchen werden. Wer nun je-doch denkt, das Ziel wäre erreicht, der liegt leiderfalsch. Für die Olympischen und Paralympischen Win-terspiele 2014 in Sotschi wurde die Organisation einesPride House von den örtlichen Behörden verboten. Die-ses Verbot wurde kürzlich durch ein Gericht bestätigt.Wir sehen, es gibt viel zu tun. Es reicht zum Beispielnicht, dass der Präsident der Vereinigten Staaten,Barack Obama, sich öffentlich für die gleichgeschlecht-liche Ehe ausspricht. Es müssen umfangreiche Maßnah-men ergriffen und Aufklärungskampagnen gestartetwerden, um aktiv für sexuelle Vielfalt zu werben.Der vorliegende Antrag ist ein guter Anfang. Die auf-gestellten Forderungen unterstützen wir ausdrücklich.Bedauerlich ist allerdings, dass sich der Antrag nur aufHomosexualität bezieht. Trans- und intersexuelle Sport-lerinnen und Sportler sind jedoch gleichermaßen Diskri-minierungen ausgesetzt. Dies zeigt beispielsweise derFall der Läuferin Caster Semenya, die aufgrund einesmaskulinen Erscheinungsbilds medizinische Tests übersich ergehen lassen und ertragen musste, dass die ganzeWelt über ihre Intimsphäre diskutiert. Es bestehen er-hebliche moralische und rechtliche Bedenken gegenderartige Geschlechtertests und damit verbundene zwin-gende Hormonbehandlungen. Hier hätte man die Bun-desregierung auch zu einer deutlichen Positionierungauffordern können. Dennoch stimmen wir dem Antragwegen seines überwiegend positiven Inhalts zu, dennauch der längste Weg beginnt immer mit dem erstenSchritt.Am 17. Mai war der internationale Tag gegen Homo-phobie, und auch in diesem Jahr gab es viele gute Ak-tionen. Ich denke, es hat bereits einen Bewusstseinswan-del in der Gesellschaft eingesetzt. Der Sport kann zwarnicht besser sein als die Gesellschaft, aber man mussdiesen Bereich in den Wandel einbeziehen und hier ganzgezielt Toleranz schaffen und fördern. Sport steht fürFairplay, Teamfähigkeit und Integration. Gewalt undDiskriminierung haben da keinen Platz und verdienendie rote Karte.
Wir stimmen dem Antrag der SPD zu – auch, weil dieGrünen bereits in der letzten Wahlperiode einen Antragmit ähnliche Forderungen eingebracht haben.Dazu zählt zum Beispiel die Einrichtung eines Natio-nalen Aktionsplans gegen Homophobie. Die Schaffungdezentraler Anlaufstellen und eine Anhebung des Bud-gets für die Antidiskriminierungsstelle auf 5,6 MillionenEuro sind auch aus unserer Sicht gute und richtigeSchritte, um das Outing junger Sportlerinnen und Sport-ler zu erleichtern und ihnen ein selbstbestimmtes Lebenzu ermöglichen.Dazu zählt auch, dass Übungsleiterinnen undÜbungsleiter für das Thema Homosexualität sensibili-siert werden. Denn häufig scheitert es an der Kommuni-kation innerhalb des Vereins. Junge Menschen brauchenhier kompetente und vor allem niedrigschwellige Unter-stützung.Vor einem Jahr haben wir gemeinsam in der Anhö-rung im Sportausschuss zum Thema „Homosexualitätim Sport“ diskutiert. Im Juni letzten Jahres wurde vonder Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie zum Thema„Homophobie, Rassismus und Sexismus im Fußball“veröffentlicht. Aber immer noch ist der Umgang mit Ho-mosexualität im Sport besonders im Fußball stark ver-besserungswürdig. Das fängt bei den Vorbildern im Spit-zensport an: Die Beispiele von sich outenden aktivenSportlerinnen und Sportlern kann man an einer Handabzählen. Zur Fußball-WM der Frauen im letzten Jahrwurde eine repräsentative Umfrage veröffentlicht mitdem Ergebnis: 86 Prozent wäre es egal, wenn sie erfüh-ren, dass eine Spielerin der deutschen Nationalmann-schaft lesbisch sei. 10 Prozent fänden das sogar gut. Alsdie Torhüterin des deutschen Nationalteams sich 2011zu ihrer Bisexualität bekannt hat, hofften alle auf einenentspannteren Umgang mit dem Thema.Das Gegenteil ist passiert: Philipp Lahm, den wirbald wieder bejubeln werden in Polen und der Ukraine,hat seinen schwulen Kollegen öffentlich von einemOuting abgeraten. Zitat: „Es ist schade, aber Schwul-sein ist im Fußball – anders als in Politik und Show-geschäft – immer noch ein Tabuthema.“Apropos Polen und die Ukraine: Mein Kollege VolkerBeck ist vor einigen Tagen zur Kiew-Pride gereist. AufZu Protokoll gegebene Reden
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21634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Monika Lazar
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dem Fest sollte für einen offenen und toleranten Um-gang mit Homosexualität in der Gesellschaft geworbenwerden. Am vergangenen Sonntag ist es kurzfristig ab-gesagt worden. Grund sind Angriffe von neonazistischenKosaken und christlich-fundamentalistischen Gegende-monstranten auf die 700 friedlichen Lesben, Schwulenund Transgender in Kiew.Und jetzt fahren „unsere Jungs“ bald in die Ukraineund können sich wahrscheinlich nicht durchringen,mehr als ein paar Phrasen für Toleranz aufzusagen undwieder abzureisen – wenn sie das Thema überhaupt er-wähnen werden und sich nicht doch besser zurückhaltenvor dem Hintergrund der vieldiskutierten politischen Si-tuation im Land.Das ist traurig und wirft kein gutes Licht auf dendeutschen Sport und damit auch auf die Gesellschaft.Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für die verschie-denen Formen von Diskriminierung, Rassismus und Ho-mophobie. Denn wie kann die DFB-Elf offen für einenpositiven Umgang mit Homosexualität in der Ukraineeinstehen, wenn dies sogar im eigenen Land schwer-fällt? Daher finde ich die Unterstützung der Fanpro-jekte, die sich für offenen und diskriminierungsfreienSport einsetzen, eine der zentralen Aufgaben der Politikin diesem Bereich. Nur so kann der Kampf gegen Homo-phobie in Sport von der wachsenden gesellschaftlichenAkzeptanz gegenüber Lesben und Schwulen begleitetwerden und es homosexuellen Sportlerinnen und Sport-lern ermöglichen, offen mit ihrer Sexualität umzugehen.Aus meiner Sicht kann daher ein Antrag für einen Be-wusstseinswandel im Sport nicht oft genug eingebrachtwerden. Gut, wenn sich die SPD auch von unserem An-trag zur Diskriminierung im Fußball Anregungen geholthat. Wenn jetzt noch die Koalition lernfähig bei demThema ist, wäre es noch besser. Aber: Wir bleiben dran!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Sportausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9721, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/7955 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Das sind alle drei Oppositionsfrak-
tionen. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Gabriele Fograscher, Kerstin Griese, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Unterstützung für Initiativen gegen
Rechts in der Gastwirtschaft
– Drucksache 17/9577 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen hier vor.
Der Tourismus in unserem Land steht für Gastfreund-schaft und Toleranz. Ob Gaststätte, Weinschenke, Pen-sion, Jugendherberge oder Hotel – das deutsche Gast-gewerbe ist ein Aushängeschild unserer Kultur. Alleinim Jahr 2011 konnten deutsche Gaststätten und Hotel-betriebe rund 25 Millionen ausländische Gäste begrü-ßen; die Tendenz steigt. Kaum eine andere Branche istso von internationaler und kultureller Vielfalt geprägtwie das Gastgewerbe. Der Deutsche Hotel- und Gast-stättenverband DEHOGA bringt es auf den Punkt: „Un-sere Branche hat kein Problem mit Ausländern, sondernohne.“Aus diesem Grund positioniert sich der DEHOGA so-wohl auf Bundes- als auch auf Landesebene klar gegenRechtsextremismus, was wir als CDU/CSU ausdrücklichbefürworten.Was aber, wenn rechtsextreme Gruppen die Räum-lichkeiten der Gastronomie nutzen, um sie für ihre Zweckewie rechte Konzerte oder Stammtische zu missbrauchen?Dieses Thema versucht die SPD-Fraktion mit ihrem An-trag „Mehr Unterstützung für Initiativen gegen Rechtsin der Gastwirtschaft“, Drucksache 17/9577, aufzugrei-fen. Ich betone noch einmal: versucht. Verehrte Kolle-ginnen und Kollegen von der SPD, wir in der CDU/CSUsind der Meinung, dass sowohl der Staat als auch die Zi-vilgesellschaft gemeinsam in der Verantwortung stehen,wenn es darum geht, Extremismus einzudämmen. Nurdurch das Engagement aller gesellschaftlichen Akteurekönnen wir dem Extremismus den Boden entziehen undDemokratie und Toleranz stärken.Für diesen Demokratiegedanken setzen wir uns in derCDU/CSU seit jeher mit viel Herz und Verstand ein.Nach der gleichen Maxime positioniert sich die deutscheGastronomie gegen Extremismus und gegen Gruppie-rungen, die dem Demokratiegedanken in unserem Landschaden wollen.Dieses Engagement gegen Rechts zeigt die deutscheGastwirtschaft nicht erst seit gestern, sondern bereitsseit Jahren. Kurz gesagt: Die Unterstützung von Initiati-ven gegen Rechts in der Gastwirtschaft, die Sie von derSPD in Ihrem Antrag fordern, ist längst gelebte Realität.Deshalb sind Ihre Forderungen nicht nachvollziehbar,verehrte Kollegen von der SPD.In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,„…auf die Länder einzuwirken, Initiativen von Gast-wirten gegen Rechtsextremismus bekannt zu machenund zu unterstützen“. Keine Regierung hat so viel Geldfür den Kampf gegen Rechtsextremismus ausgegebenwie unsere unionsgeführte Bundesregierung. Ich möchteIhnen dazu gern einige Beispiele nennen:Das Bundesprogramm „Toleranz fördern – Kompe-tenz stärken“ des Bundesfamilienministeriums führt seitJanuar 2011 erfolgreich die Arbeit der beiden Vorgän-gerprogramme „Vielfalt tut gut“ und „kompetent. für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21635
Heike Brehmer
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Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextre-mismus“ unter einem Dach fort. Dafür stehen bis 2013jährlich 24 Millionen Euro zur Verfügung.Im Dezember 2011 hat unser Innenminister Dr. Hans-Peter-Friedrich das Gemeinsame Abwehrzentrum gegenRechtsextremismus, GAR, eröffnet. Das Zentrum soll dieBedrohungen durch Rechtsextremismus in unseremLand besser beurteilen und Maßnahmen wie zum Bei-spiel Festnahmen erleichtern. Die Länder werden sichebenfalls an diesem Zentrum beteiligen.Damit extreme Tendenzen in unserer Gesellschaft garnicht erst entstehen, müssen wir dem vorbeugen. DasBundesprogramm des Innenministeriums „Zusammen-halt durch Teilhabe“ fördert Projekte zur demokra-tischen Teilhabe gegen Extremismus. Das Programmrichtet sich besonders an strukturschwache Regionen inOstdeutschland und setzt seine Förderschwerpunkte inVereinen, Verbänden und Bürgerbündnissen.An ähnlicher Stelle setzt auch das von den Bundes-ministerien des Innern und der Justiz gegründete Bünd-nis für Demokratie und Toleranz an. Jährlich werdenverschiedene Foren und Diskussionsveranstaltungenausgerichtet und Initiativen durchgeführt, um Bürger zuehren, die sich aktiv gegen Extremismus und für Tole-ranz engagieren.Aufklärungsarbeit durch geschultes Personal vor Ortist und bleibt sehr wichtig. Das Beispiel des Hausver-bots für den NPD-Vorsitzenden Udo Voigt durch einenHotelier aus Brandenburg im Jahr 2010 hat uns gezeigt,dass gerade ländliche Gaststättenbetreiber mit demProblem von als harmlos getarnten „Geburtstagsfeiern“oder „Sommerfesten“ konfrontiert werden, die sich alsrechtsextreme Versammlungen entpuppen. Wie Sie sehen,sind unsere Gastwirte sehr aufmerksam bei diesemThema.Um Gastwirte und Hotelbetreiber umfassend überdieses Thema zu informieren, hat unser unionsgeführ-tes Familienministerium in Zusammenarbeit mit demDEHOGA einen Ratgeber für die Gastronomie heraus-gegeben. Der Ratgeber beantwortet Fragen wie: WelcheRechte und Pflichten habe ich als Betreiber, wenn ichvon rechtsextremen Gruppen Notiz nehme? Wie kann ichsolche Gruppen im Vorfeld erkennen? Welche Vertrags-klauseln im Mietvertrag sichern mich von vornehereinab?Die Unterstützung, die Sie in Ihrem Antrag fordern,verehrte Kollegen von der SPD, findet bereits in denLandesverbänden der Gaststätten- und Hotelbetreiberstatt. Die Informationen gegen Rechtsextremismus wer-den aktiv kommuniziert; sie werden publik gemacht undan die Gastwirte herangetragen.Als privatem Vermieter steht es jedem Hotelier frei, zuwelchen Konditionen er einen Vertrag eingeht und seineRäumlichkeiten an Gäste vermietet. Der Fall des NPD-Vorsitzenden Voigt hat gezeigt, dass die Buchungsan-frage eines rechtsradikalen Gastes sofort vom Betreiberabgelehnt werden darf. Der Bundesgerichtshof hat inseinem jüngsten Urteil vom 9. März 2012 entschieden,dass ein Gastronom in seinem Lokal der Hausherr istund sein Hausrecht frei ausüben kann.Im Ratgeber des Familienministeriums ist nachzu-lesen, dass Gastwirte einen eindeutigen Nutzungszweckim Mietvertrag festhalten sollen, für welche Veranstal-tung der Gast die Räumlichkeit mieten will. Dafür wer-den im Ratgeber auch Mustermietverträge zur Ver-fügung gestellt, die im Internet abrufbar sind.Am Beispiel dieses Ratgebers zeigt sich, dass sowohldie Bundesregierung als auch die Gastwirte selbst sehrverantwortungsbewusst und engagiert mit dem Thema„Initiativen gegen Rechts“ umgehen. Politik und Gast-gewerbe setzen sich aktiv dafür ein, dass es in unserenGaststätten und Hotels keinen Platz für rechtsradikalesDenken und rechte Propaganda gibt.Die CDU/CSU unterstützt dieses Engagement sowohlim Bereich Tourismus als auch gesamtgesellschaftlich.Die genannten Bundesprogramme und Initiativen sindder Beweis. Die CDU/CSU hat vieles auf den Weg ge-bracht, und wir werden auch in Zukunft nicht nachlas-sen, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen undentsprechende Maßnahmen und Programme ins Lebenzu rufen. Liebe Kollegen von der SPD, mit Ihrem Antraghoppeln Sie der aktuellen Entwicklung und den Maß-nahmen vor Ort hinterher. Aus diesem Grund lehnen wirIhren Antrag ab.Abschließend möchte ich Ihnen die Worte desDEHOGA-Präsidenten Ernst Fischer mit auf den Weggeben, der zu diesem Thema treffend formulierte: „UnsereBerufung ist Gastfreundschaft und verträgt sich nichtmit ausländerfeindlichen Parolen rechter Gruppie-rungen. … Das Gastgewerbe steht für Weltoffenheit undToleranz.“Die CDU/CSU wird sich auch in Zukunft dafür ein-setzen, dass diese Prinzipien der Weltoffenheit und Tole-ranz in unserer Gesellschaft nachhaltig gewahrt bleiben.
Wir debattieren heute den Antrag „Mehr Unterstüt-zung für Initiativen gegen Rechts in der Gastwirtschaft“der SPD-Fraktion.Unsere freiheitliche demokratische Grundordnungwird durch Extremismus herausgefordert, von rechtsund von links oder durch religiösen Extremismus. Extre-mismus ist kein Randthema in unserer Gesellschaft. Wirmüssen uns zusammen und aktiv für unsere Demokratiesowie für Toleranz und gegen jede Form des Extremis-mus starkmachen. Nur auf diese Weise verbannen wirihn aus unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung stelltfür präventive Bundesprogramme im Kampf gegen denExtremismus so viele Mittel zur Verfügung wie keine an-dere Bundesregierung zuvor: seit 2008 jährlich 24 Mil-lionen Euro.Die einseitige Fokussierung des Antrags auf rechtenExtremismus ist nicht nachvollziehbar und gefährlich.Darüber hinaus ist die Situation im Gastgewerbe nichtderart, dass hier eine besondere Problematik bestehenwürde. Ganz im Gegenteil: Hotellerie und GastronomieZu Protokoll gegebene Reden
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21636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Rita Pawelski
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sind für das Thema sensibilisiert. Kaum eine Branchesteht derart für Gastfreundschaft und Toleranz wie dasGastgewerbe, und kaum eine andere Branche ist so in-ternational. Nicht nur die Gäste des Gewerbes kommenaus der ganzen Welt, sondern auch die Mitarbeiter. ImGastgewerbe sind 22,4 Prozent der sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigten ausländischer Herkunft. Inder Gesamtwirtschaft liegt diese Zahl bei 7,4 Prozent.Diese Vielfalt ist ein wesentlicher Pfeiler des Branchen-erfolgs.Seit vielen Jahren engagieren sich Hotellerie undGastronomie sowie der Deutsche Hotel- und Gaststät-tenverband, DEHOGA, aktiv gegen Extremismus. Bun-desweit kennen wir zahlreiche couragierte Beispiele vonHotelbetreibern und Wirten gegen Rechts, zum Beispielin Dresden, in Regensburg, in Bad Saarow und so vielenanderen Orten. Gaststättenbetreiber schließen sich zu-sammen und bedienen keine „Nazis und andere Rassis-ten“. Hotelbetreiber verweigern Gegnern unserer demo-kratischen Gesellschaft die Unterkunft oder initiierenProjekte gegen Extremismus. Diese „klare Kante“ istenorm wichtig.Für Extremisten sind öffentliche Auftritte und Veran-staltungen maßgeblich. Dort haben sie Möglichkeiten,sich und ihre Ideologien zu präsentieren, neue Anhängerzu gewinnen und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zustärken. Daher müssen engagierte Bürgerinnen undBürger dieser extremistischen Öffentlichkeit entgegen-treten. Hoteliers und Gastwirten ist es freigestellt, sichbei Reservierungsanfragen von extremistischen Grup-pierungen eine Gewissenfrage zu stellen und diese aufGrundlage der im Bürgerlichen Gesetzbuch garantier-ten Vertragsfreiheit abzulehnen. Wir begrüßen sehr, dassder Bundesgerichtshof am 9. März diesen Jahres dieVertragsfreiheit und damit die Position von privatenGastgebern weiter gestärkt hat. Grundsätzlich kann einprivater Hotelbetreiber „frei darüber entscheiden, wener als Gast aufnimmt und wen nicht“. Das Urteil festigtdas Hausrecht, und kein Gastgeber kann dazu gezwun-gen werden, Mitglieder extremistischer Gruppierungenzu beherbergen oder zu bewirten.Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband,DEHOGA, hat sich auf Bundes- und Landesebene eben-falls klar gegen Rechtsextremismus positioniert. Ge-meinsam mit der Arbeitgebervereinigung sowie derGewerkschaft der Branche wurde die Initiative „Ge-meinsam für Toleranz“ ins Leben gerufen. Sie bietetvielfältige Informationen und praktische Hilfestellun-gen. Zudem unterstützt der DEHOGA auch über seineLandesverbände zahlreiche weitere Initiativen,Broschüren und Expertenrat gegen Extremismus. VorOrt werden den Betroffenen individuelle Beratungen bishin zur Vertragsgestaltung angeboten.Aufgrund der bereits bestehenden zahlreichen Initia-tiven und Hilfen für private Gastgeber in Hotellerie undGaststätten sind die Forderungen des Antrags nichtnachvollziehbar. Ich freue mich auf die Beratungen imAusschuss, denn unser gemeinsames Ziel ist das Enga-gement gegen Extremismus – und dabei ist es egal, obdie Gruppen politisch oder religiös motiviert sind. AllenGegnern unserer freiheitlichen und offenen Gesellschaftmüssen wir gemeinsam und entschlossen entgegentreten,um die Werte unserer demokratischen Grundordnung ankommende Generationen weitergeben zu können.
Im Januar dieses Jahres kam ein Hotel unfreiwillig indie Schlagzeilen. Getarnt als Reisegruppe hielt eine120-köpfige Nazireisegruppe ihren Neujahrsempfang im„Hotel Seegarten“ unweit von Berlin ab. Nach eigenenAngaben wurde der Geschäftsführer Opfer einer Täu-schung: Die Rechtsextremisten seien nicht als solche zuerkennen gewesen. Sie hätten sich als „heiterer Be-triebsausflug getarnt“, um überhaupt noch irgendwo ei-nen Tagungsort zu finden.Heute kämpft das Hotel um seinen Ruf und hat mitden wirtschaftlichen Folgen dieses Januartags zu kämp-fen. Denn die öffentlichen Reaktionen blieben nicht aus:Der Hotelier hätte rechtzeitig von seinem HausrechtGebrauch machen können, sich früher konsequent dis-tanzieren müssen. Doch darf man mit dieser Kritik nichtdas eigentliche Thema aus den Augen verlieren. DasProblem ist nicht der Hotelier, sondern es sind die120 Rechtsextremen unter dem Vorwand eines harmlo-sen Ausflugs.Es besteht zwar allerorts Entschlossenheit, diesemSchrecken ein Ende zu bereiten, doch eines ist klar: Wirbrauchen mehr Unterstützung für Initiativen gegenRechts in der Gastwirtschaft! Das fordern wir Sozialde-mokraten in unserem Antrag.Der beschriebene Fall spiegelt vor allem eine Unsi-cherheit in der gesamten Branche wider, der wir begeg-nen müssen. Denn der Hotelier steht dabei für vieleMenschen in unserer Gesellschaft. Es geht um die ganzpraktischen Fragen: Wie verhalte ich mich gegenüberRechtsextremen? Welche rechtliche Handhabe steht mirzur Verfügung? Wie kann ich mich mit anderen Men-schen vernetzen, die sich aktiv gegen ausländerfeindli-che Einstellungen einsetzen? Initiativen gegen Rechts inder Gastwirtschaft sind richtig und wichtig, doch dabeizugleich selbstverständlich nur ein Baustein von vielen.Rechtsextreme Gruppierungen benutzen die „Normali-tät“ des öffentlichen Raums, um ihre Ideologien zu ver-breiten und neue Mitglieder zu rekrutieren. DiesenRaum müssen wir ihnen entziehen.Zwei Beispiele von herausragendem zivilgesellschaft-lichem Engagement gegen Rechts möchte ich nennen.Diese stehen zugleich für eine Vielzahl an Initiativen,Bildungseinrichtungen, losen Zusammenschlüssen undanderen Gruppen, die doch eines vereint: Zivilcourageund Mut, gegen Intoleranz und Diskriminierung Stellungzu beziehen.Da ist zum einen das Bündnis für Menschenwürde,das in enger Kooperation mit entsprechenden Vereinenund Organisationen das Engagement gegen Rechts-extremismus im Raum Augsburg und Bayerisch-Schwa-ben koordiniert. Wir haben das Thema der Gastwirteaufgenommen, schaffen Öffentlichkeit und Problembe-wusstsein und leisten Aufklärungsarbeit in SachenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21637
Heinz Paula
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Rechtsextremismus. So ist demnächst auch ein runderTisch mit dem Hotel- und GaststättenverbandDEHOGA, der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gast-stätten, NGG, den Hoteliers, den Gastwirten und derStadt Augsburg geplant. Wir leisten ganz konkrete Un-terstützung im Kampf gegen Rechts.Hinsichtlich unseres Antrags möchte ich außerdemdie Regensburger Initiative „Keine Bedienung für Na-zis“ erwähnen, die seit Mitte 2010 existiert. Nach einembrutalen rechtsradikalen Überfall, der sich in einemCafé ereignet hatte, und jagdähnlichen Szenen in derRegensburger Innenstadt schlossen sich spontan rund130 Gastronomiebetreiber zusammen. Unter dem ge-meinsamen Motto „Keine Bedienung für Nazis“ lehnensie Intoleranz und Rassismus ab. Zitat aus der gemein-samen Erklärung: „Nazis und Rassisten haben in unse-ren Räumen nichts zu suchen. Wir dulden keine rassisti-schen, diskriminierenden Äußerungen in unseremLokal.“Diese Initiativen müssen unbedingt unterstützt wer-den. Die Regensburger Gastwirte und das Bündnis fürMenschenwürde wissen, um was es geht: nicht nur umwirtschaftliche Interessen, die im Übrigen durch einengewissen öffentlichen Werbeeffekt sogar unterstützt wer-den. Vielmehr geht es um konkrete Zeichen, Regensburgund Augsburg als weltoffene Städte zu zeigen, in derMenschen verschiedenster Herkunft friedlich undfreundschaftlich zusammenleben und Intoleranz keinenPlatz hat. Es geht um die kulturelle Offenheit einer Ge-sellschaft, die das Miteinander praktiziert, Toleranz ak-zeptiert und dem Hass mutig entgegentritt.Die Regensburger Gastwirte haben dabei das Rechtauf ihrer Seite. Denn hinter ihnen steht das Hausrecht.Erst im März 2012 hat der Bundesgerichtshof entschie-den, dass nicht nur Privatleute, sondern auch Unterneh-mer ihr Hausrecht grundsätzlich als Ausdruck der Pri-vatautonomie frei ausüben können.Häufig ist es für Gastwirte jedoch nicht sofort er-sichtlich, dass es sich um eine Veranstaltung von Perso-nen oder Gruppierungen mit rechtsradikalem Hinter-grund handelt. Immer wieder werden Räumlichkeitenunter falschen Angaben angemietet, beispielsweise fürprivate Geburtstagsfeiern, Sommer- oder Weihnachts-feste. Trotz des Hausrechts der Gastwirte herrscht unterihnen häufig Unkenntnis und Unsicherheit darüber, wieman rechte Veranstaltungen in den eigenen Räumen ver-hindern kann.Um der betroffenen Branche eine Hilfestellung an dieHand zu geben, haben zum Beispiel die Mobile Beratunggegen Rechtsextremismus Berlin, „pro aktiv gegenrechts – Mobile Beratung in Bremen und Bremerhaven“,die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und derDeutsche Hotel- und Gaststättenverband Hamburg An-fang Dezember 2011 einen Ratgeber veröffentlicht, derMerkmale für eine frühzeitige Erkennung und verschie-dene Handlungsmöglichkeiten für Gastwirte, zum Bei-spiel bei der Gestaltung von Mietverträgen, aufzeigt.Derartige Initiativen gilt es zu fördern und bekannterzu machen. Gastwirte müssen sensibilisiert, bestmöglichberaten und unterstützt werden; denn so kann man denRechtsextremisten Publikum und Versammlungsorte ent-ziehen. Das kann zum Beispiel durch Informationsver-anstaltungen, Verbreitung von Broschüren oder im Rah-men des Bundesprogramms „Toleranz fördern –Kompetenz stärken“ erfolgen. Hier gibt es jedoch nocheheblichen Verbesserungsbedarf; denn die Extremisten-klausel von Bundesfamilienministerin Schröder ist kon-traproduktiv und rechtswidrig, wie das Verwaltungsge-richt Dresden erst im April 2012 bestätigte. DieseKlausel verlangt von Personen, die Mittel aus dem Bun-desprogramm beantragen, die Abgabe einer „Einver-ständniserklärung“ mit der demokratischen Grundord-nung. Die Antragsteller werden außerdem aufgefordert,zu versichern, dass sich auch die Partner ihrer Projektedem Grundgesetz verpflichtet sehen. Dies sät eine Kul-tur des Misstrauens, in der Engagement und Zivilcou-rage nicht gestärkt werden, sondern erlahmen. UnsereDemokratie bedarf jedoch dieses alltäglichen Engage-ments der Bürgerinnen und Bürger. Daher muss die För-derung von Initiativen gegen Rechtsextremismus vondem Gedanken des Vertrauens getragen werden.Dies gilt auch für uns. Jedes Mitglied des Bundesta-ges ist dazu aufgerufen, seinen Beitrag zu leisten, unab-hängig von Parteigrenzen und Fraktionen.Zahlreiche Forschungsarbeiten und Publikationenbestätigen, dass rechtsextreme Gruppierungen sich zu-nehmend unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheitvernetzen; rechte Einstellungen zeigen sich im Alltagund rücken vor in die Mitte unserer Gesellschaft. Im Üb-rigen möchte ich an dieser Stelle die hervorragende Ar-beit der Friedrich-Ebert-Stiftung erwähnen, die mit vie-len Mythen aufräumt. Es sind nicht allein diegewaltbereiten Schlägertrupps mit Springerstiefeln undHakenkreuz, die uns Sorge bereiten müssten, sondernauch der alltägliche Rechtsextremismus und rechte Ein-stellungen um uns herum, rechte Milieus, die als solcheerst auf den zweiten Blick erkennbar sind. Immer häufi-ger verdrängen rassistische und autoritäre Ideen denGemeinwohlgedanken und den Glauben an die Demo-kratie – oft auf Kosten von Ausländern, Schwulen, Mus-limen, Armen.Der Staat und dieses Hohe Haus sind damit direktzum Handeln aufgefordert. Wir Abgeordnete des Deut-schen Bundestages, als politische Vertreter der gesam-ten Bevölkerung in Deutschland, stehen in einer tiefenVerantwortung, die sich aus den Erfahrungen der deut-schen Vergangenheit nährt, uns vor allem aber den Wegin eine gemeinsame Zukunft weist. Wir müssen dieDemokratie leben und stärken. Daher bitte ich die Frak-tionen aller Parteien, an dieser Stelle zusammenzuste-hen, sich gegen Rechtsextreme und Rassisten einzuset-zen und das Gaststätten- und Hotelgewerbe zuunterstützen. Unterstützen Sie unser gemeinsames An-liegen – machen Sie unseren Antrag zu einem gemeinsa-men Antrag!
Dass der Rechtextremismus eine nicht zu unterschät-zende Bedrohung in Deutschland ist, zeigen die Ereig-Zu Protokoll gegebene Reden
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21638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Horst Meierhofer
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nisse rund um die kürzlich aufgedeckte Vereinigung desNationalsozialistischen Untergrunds. Hier konntenRechtsextreme jahrelang, ohne dass die Öffentlichkeit,die Polizei oder der Verfassungsschutz etwas davon mit-bekommen hätten, ihre brutalen Verbrechen ausüben.Wir müssen jetzt unbedingt alles in unserer Macht Ste-hende tun, um aufzuklären, wie es dazu kommen konnte.Zusätzlich sollten wir unseren Blick aber auch in die Zu-kunft richten. Die Aufklärung ist wichtig, keine Frage,aber mindestens ebenso wichtig ist es, dafür zu sorgen,dass in Zukunft so etwas nicht noch einmal passiert.Daher ist der Grundgedanke des Antrags der SPDdurchaus richtig: Rechtsextreme und rechtsextremisti-sche Gruppierungen müssen daran gehindert werden,ihre Ideologien zu verbreiten. Schade ist nur, dass indem Antrag nicht wirklich etwas steht, was hierbei hel-fen kann.Die SPD will Gastwirten helfen, zu verhindern, dassihre Räumlichkeiten von der rechten Szene missbrauchtwerden. So weit, so gut. Und jetzt kommt der enttäu-schende Part: Erreicht werden soll dies laut Antragdurch eine bessere Aufklärung der Gastwirte, einen run-den Tisch und eine Infobroschüre.Ich würde mir hier als Gastwirt ein wenig verschau-kelt vorkommen. Die SPD tut ja gerade so, als würdenBetreiber von Gaststätten alle hinterm Mond leben undvollkommen unselbstständig sein. Ich zitiere: „Trotz desHausrechts der Gastwirte herrschen unter ihnen häufigUnkenntnis und Unsicherheit darüber, wie man rechteVeranstaltungen in den eigenen Räumen verhindernkann.“Es wird die SPD vielleicht überraschen, aber das Be-wusstsein der Bevölkerung und vor allem auch der Gast-wirte ist bereits sehr hoch, was den Rechtsextremismusangeht. Stellen Sie sich vor, viele Wirte wissen um ihrHausrecht und machen sogar Gebrauch davon. Die SPDweist sogar selbst auf eine Initiative aus meiner Heimat-stadt Regensburg hin: Hier haben mehr als 100 Gastro-nomiebetreiber eine Erklärung unterschrieben, dass siekeine Rechtsextremen bedienen. Diese Aktion hat auchgleich in der Nachbarstadt mit dem Schwandorfer Bünd-nis gegen Rechtsextremismus einen Nachahmer gefun-den.Geld für Informationsveranstaltungen auszugeben,bei denen den Gastwirten gesagt wird, was sie eh schonwissen – und vermutlich sogar besser als Beamte in Ber-lin –, halte ich für rausgeschmissenes Geld, das ander-weitig weitaus effektiver eingesetzt werden kann, wiezum Beispiel für Aufklärungsmaßnahmen an Schulenund für Programme, die die Integration fördern. DieBunderegierung investiert bereits in Maßnahmen und istauch dabei, diese noch weiterzuentwickeln und auszu-bauen.Runde Tische sind an sich sehr sinnvoll, aber am ef-fektivsten, wenn an diesen Tischen auch wirklich dieMenschen sitzen, die vor Ort betroffen sind. Ein Alibi-Tisch mit Vertretern aus Bund und Ländern ist doch wie-der nur ein riesiges, rein symbolisches Bürokratiemons-ter, das in der Praxis nichts ausrichtet.Und am „besten“ finde ich die Idee, eine weitere In-formationsbroschüre mit Hinweisen dafür herauszuge-ben, wie man potenzielle rechtsextreme Gäste im Vorfeldbesser erkennt. Es gibt bereits eine sehr hilfreiche Bro-schüre der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststättenund der DEHOGA, die genau diese Hinweise enthältund zudem auch noch nützliche Tipps zum Gebrauch desHausrechts und der Gestaltung von Mietverträgen gibt –auch diese erwähnt die SPD selber in ihrem Antrag.Aber anscheinend will die SPD auch hier Geld, dassinnvoller in andere Projekte gegen Rechts investiertwerden kann, ausgeben, um noch eine zweite Broschüreherauszugeben. Aber als Opposition kann man es sich jaerlauben, sinnlos Geld aus dem Fenster zu werfen.Was soll nun dieser absolut überflüssige Antrag derSPD? Anstatt sich ernsthaft mit dem Problem, mit derUrsache des Rechtsextremismus zu beschäftigen undkonstruktive Vorschläge zu machen, verschießt sie ihrPulver, indem sie bereits erfolgreiche Maßnahmen, diezum Teil sogar aus der Bevölkerung selbst kommen, dop-pelt und Vorschläge macht, die nicht weiterführen. Ichmuss zugeben, ich bin ein bisschen überrascht von die-sem überflüssigen Antrag.
Es ist unbestritten, dass das Engagement und derKampf gegen Rechts auf verschiedenen Ebenen ver-stärkt, weiterentwickelt und fortgeführt werden muss.Dazu zählt natürlich auch, dass Nazis kein Raum gege-ben wird, in dem sie ihre menschenverachtende Propa-ganda darstellen und ausbreiten können. Weder auf öf-fentlichen Plätzen oder Straßen – als Kundgebungenoder Demonstrationen – noch in Gaststätten und Knei-pen – als Informationsveranstaltungen, Liederabendeund Konzerte – soll Platz für ewiggestriges Gedanken-gut und seine Verbreitung sein.Leider ist es rechtlich nicht in dem Maße möglich, wiees notwendig wäre, Nazis den öffentlichen Raum zu ver-bieten. Die Losung „Faschismus ist keine Meinung, son-dern ein Verbrechen“ hat seinen Einzug in diesesRechtssystem und teilweise auch in diese Gesellschaftleider noch nicht gefunden. Deshalb ist es umso wichti-ger, im privatwirtschaftlichen Bereich wie zum Beispielin der Gastwirtschaft Nazis geeignete Mittel entgegen-zusetzen.Die Initiative der SPD mit ihrem heute hier debattier-ten Antrag und seinen Forderungen ist generell unter-stützenswert und im Prinzip völlig richtig. Ihr Anliegentragen wir gerne mit! Allerdings stellt sich schon dieFrage, ob es tatsächlich bundesstaatliche Aufgabe ist,runde Tische zu organisieren, oder ob das nicht Aufgabeder Zivilgesellschaft ist, die dabei durch den Bund ge-fördert und unterstützt werden sollte. Ein zu großer Pro-tagonismus staatlicher Akteure birgt die Gefahr, dassdas Engagement und der Protest gegen Nazis „gede-ckelt“ werden. So könnte das wichtige und klare Zeichender Bevölkerung verloren gehen, dass Nazis mit ihrerIdeologie auf breiter Ebene abgelehnt werden.Der doch etwas übereifrige und einem relativ staats-zentrierten Verständnis folgende Antrag greift, obwohlZu Protokoll gegebene Reden
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Kornelia Möller
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er sich eines sehr spezifischen Themas annimmt, nichtalle in diesem Zusammenhang zu beachtenden Aspekteauf. Mit keinem Wort erwähnt die SPD, dass viel früherangesetzt werden muss, um effektiv gegen Rechtsextremevorgehen und der Gesamtheit der Problematik gerechtwerden zu können. Doch dazu später.Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, geht es im Grunde doch hoffentlich auch da-rum, dass Nazis kein Raum zur Verfügung steht, um ihreIdeologie zu verbreiten. Doch leider gehen Sie nicht imGeringsten darauf ein, wie mit Gastronomen und Wirtenumgegangen werden soll, die sich selber der rechtenSzene zugehörig fühlen und explizit rechte Veranstaltun-gen unterstützen bzw. ihre Räumlichkeiten für Veranstal-tungen der extremen Rechten zur Verfügung stellen. Insolchen Räumen finden von der Öffentlichkeit ungestörtVeranstaltungen, Konzerte etc. statt, die den Rechten zurinneren Stärkung dienen. Hier müsste der Staat drin-gend aktiv werden. Solche Orte und Veranstaltungenmüssen frühzeitig ausfindig gemacht und aufgelöst wer-den. So müsste einmal darüber nachgedacht werden, obGastronomen, die ihre Räumlichkeiten wiederholt fürVeranstaltungen der extremen Rechten zur Verfügungstellen und bei denen es zu Straftaten kommt, die Lizenzentzogen werden kann. Ein Beispiel wäre die Kneipe„Zum Henker“ hier in Berlin-Schöneweide. Es ist offen-sichtlich, dass aus dieser Gaststätte heraus schon desÖfteren Straftaten begangen wurden. Hier besteht drin-gender Handlungsbedarf.Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der leider keinenEingang in Ihren Antrag gefunden hat, ist die Sensibili-sierung der Gastronomen im Zusammenhang mit einemleider auch von Ihnen etwas stiefmütterlich behandeltenThema: dem Alltagsrassismus. Dieser tritt in nicht uner-heblichem Maße auch in der Gastronomie zutage. Wich-tig für eine offene, aufgeschlossene Gesellschaft ist ebennicht nur die Auseinandersetzung mit offensichtlichrechtem Gedankengut und klar erkennbaren Rechts-extremen, die ihr braunes Gedankengut zur Schaustellen, sondern eine Auseinandersetzung mit in der Ge-sellschaft tief verwurzelten Rassismen und Fremden-feindlichkeit. Diese spiegeln sich beispielsweise in derSprache wider. So ist es etwa in Bayern leider noch im-mer ganz normal, auf der Getränkekarte einen „Neger“,ein Mischgetränk aus Weißbier und Cola, oder einen„Russen“, ein Mischgetränk aus Weißbier und Zitronen-limonade, zu finden. Leider kommt es auch nicht allzuselten vor, dass an manchen Stammtischen xenophobeÄußerungen fallen und dort zum „guten Ton“ gehören.Hier ist ein entschiedenes Eingreifen der Gastronomenund der Zivilgesellschaft notwendig. Denn dieser All-tagsrassismus bildet einen willkommenen Nährbodenfür die extreme Rechte. Deshalb ist es notwendiger dennje, Aufklärungsarbeit zu betreiben und Fremdenfeind-lichkeit entschieden entgegenzutreten.Ganz wesentlich hierfür ist – wie von uns schon langegefordert –, die Bundesprogramme gegen Rechtsextre-mismus auszubauen, an den entscheidenden Stellen zuverbessern und ihre finanzielle Förderung auszuweitenund zu verstetigen. Das ist die Basis für die Unterstüt-zung des Engagements vor Ort. Diese Programme ha-ben in ihrer Gesamtheit viel Anerkennung gefunden undsind auch vonseiten der wissenschaftlichen Begleitfor-schung als wichtige und richtige Ansatzpunkte zur Aus-einandersetzung mit der extremen Rechten gewertetworden. Es hat sich gezeigt, dass eine langfristige, aufdie Stärkung engagierter Akteure vor Ort setzende Ar-beit die beste Gewähr dafür ist, lokale Strukturen derextremen Rechten abzuschwächen und auszubooten. Andieser Stelle muss die Bundesregierung unterstützendwirken, damit die erfolgreiche Arbeit vor Ort kontinuier-lich weitergeführt werden kann. Geeignete Maßnahmenhierfür wären zum einen, den finanziellen Umfang desBundesprogramms „Vielfalt tut gut“ dem tatsächlichenBedarf entsprechend zu erhöhen.Zum anderen müsste die Zahl der lokalen Aktions-pläne entsprechend dem angemeldeten Bedarf ausge-weitet werden. Hierbei müssen die Förderkriterien da-hin gehend geändert werden, dass nicht ausschließlichKommunen und Landkreise Mittel beantragen können,sondern auch zivilgesellschaftliche Träger. Vor allem dieüber das Bundesprogramm „kompetent. für Demokra-tie“ geförderten mobilen Beratungen und Opferberatun-gen dürfen nicht länger als Modellprojekte laufen. Siemüssen als dauerhafte Aufgabe des Bundes gefördertwerden und eine langfristige Perspektive erhalten. Er-forderlich ist eine auf Dauer angelegte Beratungsarbeitvor Ort, die sich nicht in kurzfristiger Kriseninterven-tion erschöpft.Engagement und Unterstützung von Initiativen gegenRechtsextreme dürfen nicht erst dann zum Tragen kom-men, wenn es bereits zu akuten Fällen von Gewalttätig-keiten und Straftaten gekommen ist. Es muss frühzeitigdamit angefangen werden, die Bevölkerung und natür-lich auch Gastwirte für das Thema Rechtsextremismuszu sensibilisieren und den Widerstand dagegen zu unter-stützen. Wir verfolgen dabei einen zivilgesellschaftli-chen Ansatz; das heißt, die Bürgergesellschaft wird aktivgegen Nazis und setzt sich aktiv mit ihnen auseinander.Der Staat muss ein solches Engagement fördern und un-terstützen; er sollte es aber nicht ersetzen.Das in dem Antrag aufgeführte Beispiel der Regens-burger Initiative „Keine Bedienung für Neonazis“ istwahrlich ein Vorzeigeprojekt, das Ausstrahlungskrafthat und auch für weitere Städte Modellcharakter besitzt.Die Initiatoren und Mitbegründer dieser Initiative ha-ben sich aus zivilgesellschaftlichem Engagement herausselbst ermächtigt, gegen Nazis vorzugehen, und habendiese Kampagne vorangebracht und zum Erfolg geführt.Mittlerweile gibt es Anfragen aus 15 weiteren Städten,um diese Kampagne andernorts zu etablieren.Wesentlich für eine erfolgreiche Anti-Naziarbeit sindeine auf Dauer angelegte Kampagne bzw. Projekte, dienicht nur kurzfristige Effekte haben. Hier muss die Poli-tik ansetzen! Wir müssen das Übel bei der Wurzel pa-cken und dürfen nicht nur Feuerwehrpolitik betreiben.
Schon lange sind Neonazis nicht mehr sicher am äu-ßeren Erscheinungsbild zu erkennen.Zu Protokoll gegebene Reden
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21640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Monika Lazar
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Viele Rechtsextreme verfolgen die Strategie derschleichenden Unterwanderung gesellschaftlicher Be-reiche. Um Kontakte zu knüpfen, in Vereinen Fuß zu fas-sen oder in Elternvertretungen gewählt zu werden, wol-len sie sympathisch und unauffällig wirken.Diese Verschleierungstaktik führt auch in der Gast-wirtschaft immer wieder zu Problemen. Häufig verhal-ten sich Neonazis bei Anmeldungen betont unauffälligund melden eine Veranstaltung unter einem privaten An-lass an.Gastwirte brauchen fundierte Aufklärung, um im Ge-schäftsalltag Neonazis rechtzeitig erkennen und böseÜberraschungen vermeiden zu können. Auch juristi-sches Wissen ist erforderlich. Denn selbst wenn Gast-wirte bemerken, dass sie Rechtsextremisten vor sich ha-ben, herrscht vielfach Unsicherheit: Wie soll man mitihnen umgehen? Ist man berechtigt, Menschen wegenihrer Gesinnung des Hauses zu verweisen, oder verstößtman damit gegen das Gleichbehandlungsgebot und ris-kiert eine Klage?Angesichts solcher Fragen bin ich froh, dass der Bun-desgerichtshof am 9. März 2012 klargestellt hat: SowohlPrivatleute als auch Unternehmerinnen und Unterneh-mer dürfen ihr Hausrecht grundsätzlich frei ausüben.Anlass für diese Entscheidung war der Wunsch des ehe-maligen NDP-Chefs Udo Voigt, sich in einem Branden-burger Wellnesshotel einzubuchen, was der Hotelbesit-zer abgelehnt hatte.Dass man auch mit Kreativität zum Ziel kommenkann, zeigte bereits 2007 ein Hotelier aus Dresden. Dorthatten sich die NPD-Funktionäre Holger Apfel undAlexander Delle online eingemietet. Die Buchung warvorab bezahlt und vom Hotel bestätigt worden. Insofernbot sich eine rechtliche Lösung nicht an. Der Hotelierschrieb stattdessen einen offenen Brief an die beiden.Darin bat er sie, nicht in seinem Hotel zu übernachten,da er seinen Mitarbeitern nicht zumuten wolle, sie be-grüßen und bedienen zu müssen. Für den Fall, sie wür-den dennoch nicht von der Buchung zurücktreten, kün-digte er an, alle durch sie erwirtschafteten Einkünftesofort als Spende an die Dresdner Synagoge weiterzulei-ten. Das wollten Apfel und Co. dann doch nicht und sag-ten den Aufenthalt ab.Mittlerweile haben Gastwirte eigene Initiativen ge-gen Rechts ins Leben gerufen. So schlossen sich unterdem Motto „Keine Bedienung für Neonazis“ in mehre-ren Städten engagierte Gastwirte zusammen.Unterstützung kommt auch von der DEHOGA, derGewerkschaft NGG und der Mobilen Beratung gegenRechtsextremismus Berlin. Ihr Ratgeber ist in der Praxiseine große Unterstützung.Ein aktueller Erfolg ist auch der ausgefallene NPD-Parteitag im sächsischen Plauen. Dort wollte die NPDden Mietvertrag nicht unterzeichnen, da dieser zwei fürdie NPD nicht einlösbare Klauseln enthielt. In einerKlausel wurde der NPD untersagt, in den gewünschtenRäumen der Festhalle rassistisches, antisemitisches undantidemokratisches Gedankengut zu äußern. Der NPD-Landesvorstand war empört und meinte, es werde für sieimmer schwieriger, Veranstaltungsräume anzumieten.Das ist ein großer Erfolg des Engagements und der Sen-sibilisierung in den letzten Jahren.Auch öffentliche Zeichen gegen Rechts sind sehrwichtig, gerade dann, wenn Nazis aggressiv gegen Gast-wirte vorgehen.Ein aktuelles Beispiel gab es kürzlich in Geithain inder Nähe von Leipzig. Dort wurde ein Sprengstoffan-schlag auf die Pizzeria eines pakistanischen Betreibersverübt. Geithains Bürgermeisterin Romy Bauer, eineCDU-Politikerin, bekennt bei einer Gedenkveranstal-tung: „Seit Herr Sayal eröffnet hat, gab es Bedrohungenund Anschläge. Für mich haben diese Taten ganz ein-deutig einen rechtsextremen Hintergrund.“Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen ver-schreckt, angegriffen und verjagt werden, weder in derGastwirtschaft noch anderswo. Dabei geht es nicht nurum die unmittelbar betroffenen Opfer. Rechtsextremis-mus schädigt auch die regionale Tourismuswirtschaft.Studien ergaben Verluste in Milliardenhöhe, weil aus-ländisch Aussehende Reisen in „braune Angstzonen“scheuen. Gerade dort brauchen wir bunte lokale Bünd-nisse, die gegensteuern.Publikationen und Aktionen, die Gastwirte in derAuseinandersetzung mit Rechtsextremismus stärken,müssen bekannter gemacht werden. Hier sind Bund undLänder gleichermaßen gefragt.Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Informations-offensive. Wir Grüne unterstützen diesen Antrag. Beson-ders einen runden Tisch mit Vertreterinnen und Vertre-tern von Bund, Ländern, Kommunen, Gewerkschaften,Branchenverbänden, zivilgesellschaftlichen Akteurensowie betroffenen Gastwirten halten wir für eine guteIdee. Denn Bündnisse ermöglichen Solidarität mit be-drängten Gastwirten – und deren Gästen. Miteinanderkönnen wir ein Umfeld schaffen, das Neonazis in die De-fensive drängt und Vielfalt vor Ort erleichtert.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9577 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damiteinverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBeckmeyer, Hans-Joachim Hacker, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDAusbau der Offshore-Windenergie erfordertmoderne Hafeninfrastruktur– Drucksache 17/9573 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21641
Vizepräsident Eduard Oswald
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Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-ginnen und Kollegen, auf deren Verlesung ich verzichte,liegen mir vor.
Wie immer hat sich die Bundestagsfraktion der SPDin dem vorliegenden Antrag „Ausbau der Offshore-Windenergie erfordert moderne Hafeninfrastruktur“nicht mit realistischen Problemen auseinandergesetztund fordert stattdessen Dinge ein, die wir von der CDU/CSU-Fraktion ohnehin unlängst ins Rollen gebracht ha-ben.Denn wir haben uns erneuerbare Energien ganz großauf die Fahnen geschrieben. Wir wollen in Deutschlandeine sichere und zuverlässige energetische Zukunft ge-stalten und haben schon einige Programme zur Unter-stützung dieser Branchen initiiert. Mit der Photovoltaik-förderung, der energetischen Gebäudesanierung unddem seit Juni 2011 in Kraft getretenen Offshore-KfW-Förderprogramm haben wir einiges in die deutscheEnergiezukunft investiert. Dennoch müssen wir die rege-nerativen Energien und vor allem den Netzausbau wei-ter vorantreiben, um die Energiewende erfolgreich um-zusetzen.Insbesondere im Offshorebereich gibt es derzeit nocheinige Probleme. Anders als zuvor – klug auf dem Pa-pier geplant und gedacht – stellen uns die Realität undder politische Alltag oftmals vor vielschichtige und un-geahnte Herausforderungen. Vor diesem aktuellen Hin-tergrund muss man sagen, dass der Antrag der SPDüberzogen und an den Dringlichkeiten vorbei formuliertist.Gern will ich das begründen: Vor allem im Offshore-bereich gibt es noch viele Kapazitäten und wirtschaftli-che Potenziale, die wir fördern wollen. Trotz bestehen-der Probleme beim Netzausbau und Netzanschlusshaben wir ein 5 Milliarden starkes KfW-Förderpro-gramm auferlegt, welches den Ausbau der Offshoreanla-gen an unseren Küsten vorantreiben wird. Daher ist dieim Antrag der SPD geforderte Öffnung dieses Kreditpro-gramms zugunsten der Hafeninfrastruktur falsch. DasFörderprogramm soll dazu dienen, den Ausbau derWindkraft und die Offshoretechnik voranzutreiben, undsollte keine weiteren Bereiche mit fördern. Das Volumenvon 5 Milliarden wird schließlich vollumfänglich benö-tigt, wenn man bedenkt, was ein Offshorepark kostet – jenach Standort pro 1 installiertes Megawatt Leistungrund 2,5 Millionen Euro.Wir haben den Ausstieg aus der Atomenergie bisEnde 2020 beschlossen und benötigen zum Gelingendieser Energiewende zweifelsohne einen großen AnteilOffshoreenergie. Diesbezüglich plant die Bundesregie-rung, bis 2020 eine Offshorewindkraftleistung von10 000 Megawatt an der deutschen Küste installiert zuhaben. Bis 2030 sollen es sogar zischen 20 000 bis25 000 Megawatt sein. Für das Gelingen dieses ehrgei-zigen Ziels benötigt der Offshoresektor politische Unter-stützung, die er durch unser KfW-Programm erhält. Daszeitlich begrenzte Kreditprogramm wird vor allem dazudienen, die Anschubfinanzierung in diesem Bereich er-heblich zu unterstützen. Die von der SPD in ihrem An-trag geforderte Abzweigung von Geldern aus diesemvolumenmäßig begrenzten Programm halte ich daherfür grundlegend falsch.Nichtsdestotrotz findet die Förderung der Hafen-infrastrukturen meine vollste Zustimmung. Häfen sinddie Tore zur Welt und müssen sowohl über eine gut struk-turierte Hinterlandanbindung verfügen als auch überoptimale seewärtige Zufahrten. Aber deshalb haben wirja auch das Nationale Hafenkonzept auf den Weg ge-bracht. Im Nationalen Hafenkonzept und in der Koali-tionsvereinbarung sprechen wir uns für die vorrangigeBedeutung der Häfen aus und sehen den Ausbau der ha-fenrelevanten Verkehrsinfrastrukturen als ein Kernzielan.Zusätzlich muss man sagen, dass wir bereits mit In-tensität daran arbeiten, die Probleme und Potenzialerund um den Offshore- und den maritimen Wirtschafts-bereich zu untersuchen. Auf Grund der Komplexität undder zahlreichen Komponenten, die bei der Errichtung ei-nes Offshoreparks berücksichtigt werden müssen, gehtso etwas allerdings nicht von jetzt auf gleich. Das Bun-desumweltministerium hat bereits angekündigt, einenFortschrittsbericht zu dieser Untersuchung Mitte desJahres 2012 zu veröffentlichen. In diesem Bericht wer-den die Anforderungen für Häfen und Schiffe überhaupterst einmal untersucht, und hier werden auch die ange-sprochenen Marktpotenziale zum Beispiel der Werftenberücksichtigt.Der Antrag der SPD ist überflüssig, da die Bundesre-gierung bereits an einer Bedarfsanalyse im Bereich derHemmnisse für die maritime Wirtschaft und den Off-shoreausbau arbeitet. Diese Untersuchung wird dieAusbaupotenziale in diesen Bereichen aufzeigen und da-mit zusammenhängende Hindernisse identifizieren.Schließlich kann man sich erst mit hinreichenden Unter-suchungen ein brauchbares Urteil bilden. Zusätzlich ha-ben wir das bereits im Jahr 2009 verabschiedete Natio-nale Hafenkonzept, das ein strategischer Leitfaden fürden Ausbau der See- und Binnenhäfen ist.Auch das angesprochene KfW-Programm sollte indiesem Umfang weiter bestehen, um den Ausbau der er-neuerbaren Energien als signifikanten Wirtschaftsfaktorweiter zu fördern. Vor allem die norddeutschen Länderspielen hier eine Schlüsselrolle, und daher begrüße ichdie Zusammenarbeit der Bundesländer, des Bundes undder Branche. Die maritime Wirtschaft und die Off-shorewindenergiebranche sind wichtige Partner unsererEnergiewende und blicken gemeinsam mit uns für dasselbe Ziel nach vorn.Allerdings bringen uns unbedachte Förderungenquer Beet, ohne zugrundeliegende Kenntnisse kein Stückweiter. Darum bitte ich Sie, liebe Kollegen der Sozial-demokratischen Partei, nicht zu vergessen, dass bei allden Förderungen und den stets von Ihnen gefordertenSubventionen in diesen Bereichen auch immer überSteuergelder und Energiekosten der Bürger geredetwird. Wir wollen keinen Haushalt für unbedachte Ver-sprechen überlasten.Daher ist der Antrag er SPD-Fraktion abzulehnen.
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21642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
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Ich freue mich sehr, dass die wirtschaftlichen Chan-cen, die der Ausbau der Offshorewindenergie für diedeutsche Küste bringt, inzwischen auch von der SPD er-kannt und sogar im Bundestag thematisiert werden. Fürsozialdemokratische Verhältnisse ist das nämlich ziem-lich zeitnah geschehen. Die CDU-geführte niedersächsi-sche Landesregierung und die unionsgeführte Bundes-regierung schaffen auf diesem Gebiet durch einehervorragende Zusammenarbeit und Abstimmung schonseit einigen Jahren Fakten – beeindruckende, überzeu-gende Fakten.Wie gut wir waren, zeigen die wirtschaftlichen Ergeb-nisse, die akribisch und bienenfleißig in dem Antrag auf-geführt werden. Uns von der Union überrascht ja nicht,dass wir eine hervorragende Wirtschaftspolitik machen.Für die Sozialdemokraten müssen diese Zahlen eine Of-fenbarung sein. So, Kolleginnen und Kollegen von derOpposition, geht es nämlich auch.Vieles, was in dem Antrag angesprochen wird, habenwir schon längst auf den Weg gebracht. Dabei waren wirin Niedersachsen viel besser als Landesregierungen mitSPD-Beteiligung. Und ich versichere Ihnen, dass dasganz sicher zuallerletzt an der Geografie lag.Niedersachsen hat nicht nur die Zeichen der Zeit er-kannt, sondern entfaltet schon jetzt vielversprechendeAktivitäten für die Zukunft. Lassen Sie mich auf einigeAspekte ganz konkret eingehen, damit Sie sehen, dasssich im Norden etwas bewegt:Da der Seaports of Niedersachsen GmbH schonlange bewusst ist, dass umfangreiche Logistikdienstleis-tungen für die Windenergiebranche unvergleichlichewirtschaftliche Chancen für unsere Häfen eröffnen, gehtsie offensiv und – wie ich meine – sehr strategisch vor.Ich kann die verdienstvollen Aktivitäten dieser Gesell-schaft hier natürlich nicht alle aufzählen; das würde dieRedezeit der CDU/CSU-Fraktion der nächsten Jahr-zehnte aufbrauchen.Dennoch möchte ich auf einige Vorstöße aus den letz-ten Wochen hinweisen: Die Seaports of NiedersachsenGmbH war im April mit einem eigenen Messestand aufder Windenergiekonferenz EWEA in Kopenhagen vertre-ten. Vertreter von Unternehmen aus den Seehäfen Brake,Cuxhaven, Emden und Nordenham standen in der däni-schen Hauptstadt potenziellen Kunden Rede und Antwortund präsentierten den Fachbesuchern ihre umfangrei-chen Logistikdienstleistungen. Diese beinhalten längstnicht mehr nur den klassischen Hafenumschlag und dieLagerung, sondern sind vielmehr komplexe Logistikpro-zesse geworden, die auch wertschöpfende Tätigkeiten amProdukt und das komplette Supply Chain Managementmit einschließen. Unsere Unternehmen warten nicht aufirgendwelche Koordinationsprogramme mit SPD-Unter-bezirken und Gewerkschaftsfunktionären, deren letztepraktische Tätigkeit in der Beladung von Stückgutfrach-tern bestanden hat. Unsere Unternehmen legen los.Wie gut die Infrastruktur in unseren Häfen schon jetztist, zeigt die Professionalität, mit der eine 220 Tonnenschwere Kabelrolle mit einem Durchmesser von siebenMetern im Hafen von Emden von einem Coaster ausNorwegen mit einem Schwimmkran auf einen Spezialka-belleger verladen wurde. Dies hört sich zunächst viel-leicht banal an. In Wirklichkeit aber haben hier dieLogistikspezialisten aus Emden einen sehr anspruchs-vollen Auftrag perfekt abgewickelt. Wer dies einmal ge-sehen hat, weiß, wie gut unsere Häfen und Unternehmenaufgestellt sind.Auch anderswo geht es an der Küste voran: Das Ter-minal in Cuxhaven wird für Eon der Basishafen für dieInstallationsphase des Offshorewindparks Amrumbank.Deshalb hat Eon mit dem Betreiber des Cuxhavener Ha-fens eine Reservierungsvereinbarung für die Nutzungvon Hafenflächen geschlossen. Eon will sich so Flächenim Hafengebiet und die exklusive Nutzung von einer derdrei Kaianlagen in Cuxhaven für Montage, Transportund Lagerung von wichtigen Komponenten des Off-shoreparks sichern. Unser Ministerpräsident DavidMcAllister, der das Vorhaben sehr intensiv und in engerund vertrauensvoller Zusammenarbeit mit unseremStaatssekretär im Bundesverkehrsministerium EnakFerlemann begleitet hat, hat die vorzüglichen Perspekti-ven Cuxhavens kurz und knapp zusammengefasst: „DieUnterzeichnung der Reservierungsvereinbarung vonHafenflächen für den Aufbau des Offshore-WindparksAmrumbank ist ein wichtiger Schritt, um Cuxhaven zu-nehmend als Hafen der Energiewende zu nutzen. Dasstärkt die Rolle Cuxhavens als ein führender Offshore-Basishafen an der Nordsee.“ Besser kann man gar nichtsagen, dass es in Cuxhaven bald brummen wird.Selbstverständlich gehen durch die Offshorewind-parks auch starke wirtschaftliche Impulse in die StadtWilhelmshaven und die benachbarten Kreise Wittmundund Friesland sowie die Wesermarsch. Das beeindru-ckendste Vorhaben hier ist das Engagement eines chine-sischen Unternehmens, das in Wilhelmshaven rund50 Millionen Euro investieren möchte. Es möchte amNordhafen eine Montagebasis für schwere Stahlfunda-mente für Offshorewindkrafträder bauen. Im August sollmit dem Bau der 260 Meter langen und 45 Meter hohenHalle begonnen werden. Voraussichtlich werden hiermehr als 200 Arbeitsplätze entstehen. Ich bin der festenÜberzeugung, dass von dieser Investition eine erhebli-che Ausstrahlung ausgehen wird. Man kann es auch an-ders formulieren: Die Region nimmt wirtschaftlich wie-der Fahrt auf.Für uns von der Union ist aber auch klar, dass wirdiese Entwicklung mit größter Aufmerksamkeit auchweiterhin verfolgen müssen, damit einzigartige Chancenfür die Region nicht durch zögerliche und zu späte Ent-scheidungen vernichtet werden. Insofern passt es ganzgut, dass wir keine entsprechenden charakterlichen Nei-gungen haben.Ansonsten bietet der Antrag der Sozialdemokratendas, was diese Partei unter Wirtschaftspolitik versteht:Pläne, gesetzliche Vorschriften, Strategien, die mit die-sem und jenem so lange diskutiert werden, bis die ZeitZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21643
Hans-Werner Kammer
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über sie hinweggegangen ist, und natürlich auch Selbst-verständlichkeiten, die jeder normal denkende Menschsowieso berücksichtigt. Manche glauben, dass solcheRezepte aus der sozialdemokratischen Mottenkiste kom-men. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum. So sieht diebrandaktuelle Wirtschaftsvernichtungspolitik der So-zialdemokratie aus.
Der Wechsel im Amt des Bundesumweltministers ist
eine Chance – eine Chance für die Bundesregierung, zu
zeigen, dass die Energiewende unter Schwarz-Gelb
nicht komplett abgeschaltet wird.
Seit Monaten streiten sechs Ministerien und drei Par-
teien mit viel Energie um den richtigen Kurs. Was fehlt,
ist ein Konzept, das den Weg in die Stromversorgung der
Zukunft weist. Dabei drängt die Zeit, und langfristige
Projekte hätten längst angeschoben werden müssen. Das
gilt für den Netzausbau, das betrifft aber auch den Auf-
bau des Zukunftsmarktes Offshorewindenergie.
Der hektisch einberufene Energiegipfel im Kanzler-
amt nach dem unrühmlichen Ministerabgang ändert
nichts daran, dass die Bundesregierung – allen voran
Bundeskanzlerin Angela Merkel – beim Ausbau der Off-
shorestromerzeugung „offline“ ist. Und so war denn
auch das Spitzentreffen in Berlin nur eine Showveran-
staltung: große Worte, wenig Konkretes. Einziges Er-
gebnis: für die Energiewende braucht es mehr Tempo
und mehr Abstimmung. Allein: Diese Erkenntnis ist
nicht neu, und das Treffen kommt viel zu spät.
„Nicht mehr als ein laues Lüftchen“ könnte die Über-
schrift über der Energiepolitik der Bundesregierung lau-
ten. Der Ausbau der Offshorewindenergie wird aber nur
gelingen, wenn die Netzanbindung der Windparks auf
See endlich vorankommt und wenn ausreichende Hafen-
kapazitäten zur Verfügung stehen. Denn die Hafen-
standorte in Deutschland sind bislang nicht genügend
für Offshoreprojekte gerüstet. Dies droht die Entwick-
lung der gesamten Branche zu behindern. Dies gilt umso
mehr, als der Neubau von Hafeninfrastruktur, abhängig
vom Grad der Planungs- und Baureife, durchaus meh-
rere Jahre beanspruchen kann.
Nach aktuellen Studien sind bis zum Jahr 2021 in
Deutschland rund 33 000 Arbeitsplätze in der Off-
shorewindenergiebranche zu erwarten. Schon heute ar-
beiten rund 15 000 Menschen in diesem Segment. Das
Wachstumspotenzial der Offshorewindenergie wird sich
aber nur dann in Umsätzen und Jobs auszahlen, wenn
die Rahmenbedingungen stimmen. Doch die Bundesre-
gierung hat beim Thema Offshoreanlagen den Anschluss
verpasst. Weil die Energiewende zu schleppend voran-
geht, sind Investitionen in die Offshorewindparks und
die Infrastruktur gefährdet.
Aufgrund der geringen Erfahrungen mit der neuen
Technologie zögern viele Banken und Finanzinstitute
derzeit, den Bau von Offshorewindparks zu finanzieren.
Das Sonderprogramm „Offshore-Windenergie“ der
KfW-Bankengruppe stehe ausschließlich zur Verfügung,
um die ersten zehn Windparks vor der deutschen Nord-
und Ostseeküste zu finanzieren.
Um die Jahrhundertchance zu nutzen, die die Off-
shoretechnik für Norddeutschland bedeutet, ist aber eine
breit angelegte Investitionsoffensive erforderlich. Die
Bundesregierung muss sich endlich auf eine einheitliche
Strategie zur Entwicklung der Offshore-Infrastruktur ei-
nigen und diese dann auch entschlossen umsetzen. Sie
muss endlich den bereits für 2011 angekündigten Fort-
schrittsbericht „Offshore-Windenergie“ vorlegen und
insbesondere im Hinblick auf die Hafenkapazitäten eine
umfassende Bedarfsanalyse vornehmen. Vor allem aber
muss sie dafür sorgen, dass das bestehende KfW-Pro-
gramm für den Bereich der Hafen- und Schiffskapazitä-
ten geöffnet wird. Die verfügbaren Mittel müssen bis zu
einer Höhe von 10 Prozent des Gesamtvolumens vorran-
gig für Kreditvergaben in diesem Bereich verwendet
werden, um damit den dringend erforderlichen Ausbau
der Häfen zu finanzieren.
Gemeinsam mit den Küstenländern und der mariti-
men Branche sollte die Bundesregierung zudem so bald
wie möglich einen Expertenkreis einberufen, um weitere
flankierende Maßnahmen zu erarbeiten. Dazu gehört es
auch, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die
Anlagenteile der Offshorewindparks über schwerlast-
fähige Verbindungswege an die Küste verschafft werden
können. Die seewärtigen Zufahrten sind entsprechend
dem sich entwickelnden Bedarf der Offshorewindbran-
che auszubauen. Notwendig sind aber auch einheitliche
Standards beim Bau der Verkehrsinfrastruktur, um den
Transport von großen Offshorekomponenten wie Turm-
segmenten oder Rotorblättern über Land und auf Wasser
schnell und ohne Komplikationen zu ermöglichen.
Der Erfolg von Offshoreprojekten wird künftig we-
sentlich davon abhängen, ob es gelingt, einen möglichst
hohen Anteil der Arbeiten bereits an Land durchzufüh-
ren. Das kann helfen, die Bauzeit „offshore“ zu verrin-
gern und Kosten zu senken, was Investitionsentschei-
dungen positiv beeinflussen dürfte.
Nur weil die schwarz-gelbe Bundesregierung das
Thema Energiewende erst jetzt für sich entdeckt hat,
heißt das nicht, dass wir die Zeit haben, wieder bei null
anzufangen. Die Vorschläge für den Ausbau der Off-
shorewindenergie liegen längst auf dem Tisch. Die Bun-
deskanzlerin muss endlich aufhören, sie vom linken auf
den rechten Stapel zu schieben. Deutschland kann es
sich nicht leisten, beim Offshoreausbau abgehängt zu
werden.
Die Energiewende ist beschlossen und auf dem Wege.Sie stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen.Um die aus dem beschlossenen Atomausstieg entste-hende Versorgungslücke auszufüllen, müssen in dennächsten Jahren umfangreiche Investitionen in Energie-effizienz, neue Stromtrassen und die erneuerbaren Ener-gien getätigt werden.Der Offshorewindenergie fällt beim zukünftigenEnergiemix eine wichtige Rolle zu. Die verhältnismäßigZu Protokoll gegebene Reden
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21644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Torsten Staffeldt
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starken und regelmäßigen Winde auf dem Meer verspre-chen ein immenses Energiepotenzial, das es zu hebengilt. Bis 2030 sind in Deutschland 25 Gigawatt an Off-shorewindleistung geplant, was einer Leistung von15 bis 20 Atomkraftwerken entspricht. Hierfür sind In-vestitionen von bis zu 75 Milliarden Euro notwendig.Die Offshoretechnologie ist eine große Chance fürdie vielerorts strukturschwachen Küstenregionen. Daserforderliche Know-how muss entwickelt und Produk-tionskapazitäten müssen geschaffen werden. Für denBau und Betrieb sind Spezialschiffe nötig, die in Werftengebaut und an den Küstenstandorten bereedert werdenmüssen. Das führt vor Ort zu Beschäftigungseffektenund Steuereinnahmen. Die Küstenländer und ihre Be-wohner können diese Aufgaben gut erfüllen, da sie seitJahrhunderten den Blick seewärts gerichtet haben undmit dem Meer leben.Die Energiewende gibt es aber nicht zum Nulltarif.Neben den Stromkunden und den Energieversorgungs-unternehmen sind auch Bund und Länder gefordert. DieBundesregierung hat große Anstrengungen unternom-men und ist ihrer Verantwortung gerecht geworden, in-dem sie Genehmigungsverfahren strafft und finanzielleMittel zur Verfügung stellt. Das mit einem Kreditvolu-men von 5 Milliarden Euro aufgelegte Sonderprogramm„Offshore-Windenergie“ der Kreditanstalt für Wieder-aufbau fördert die ersten zehn Offshorewindparks. DasProgramm läuft bereits, und Auszahlungen sind auchschon getätigt. Damit können Erfahrungen bezüglichtechnischer Risiken gesammelt werden. Weitere Bei-spiele für die notwendige Unterstützung des Bundes lie-ßen sich anführen. Das ist sehr beachtlich und keines-wegs selbstverständlich, wenn davon ausgegangen wird,dass grundsätzlich Ertrag und Risiko in den Händen derUnternehmen liegen sollten. Von diesem ordnungspoli-tisch richtigen Prinzip weicht die Bundesregierung fürdie Realisierung der Energiewende aus guten Gründenbereits erheblich ab.Und natürlich ist eine angepasste Hafeninfrastrukturnötig, von der aus die Montage und Verschiffung der rie-sigen Komponenten durchgeführt werden kann. In die-sem Punkt geht die Grundüberlegung des SPD-Antragsin die richtige Richtung.Sie müssen dabei aber auch immer im Auge behalten,dass Hafenpolitik und der Ausbau der Häfen in die Kom-petenz der Länder fallen. Die entsprechenden Verant-wortungen sollten nicht vermischt werden. Denn es istzum Beispiel nicht in der Verantwortung des Bundes,dass es beispielsweise in meinem Bundesland Bremendem rot-grünen Senat nicht gelingt, den notwenigen Off-shorehafen in Bremerhaven zu bauen.Dabei geht es in Bremerhaven nicht nur um Geld. Fürden Bau des Hafens sollen nämlich keine öffentlichenMittel eingesetzt werden. Vielmehr soll ein privaterInvestor gefunden werden. Offensichtlich besteht hierder Wunsch, die Risiken der privaten Investoren beimOffshorehafenbau auf den Bund zu verlagern, vermut-lich weil der rot-grüne Bremer Senat nicht in der Lageist, aus eigener Kraft ein attraktives Angebot zu realisie-ren. Leider zeigt uns der im Bau befindliche Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven zurzeit mehr als deutlich, welcheRisiken bei einem Hafenausbau entstehen können.Ein weiteres Argument spricht gegen die Beteiligungdes Bundes an Offshorehafenprojekten. Es muss doch je-dem klar sein, dass derjenige, der zahlt, auch Einflussauf den Hafen haben wird. Das ist eine logische Konse-quenz. Wer glaubt, er kriege den Bund als Finanzier mitins Boot, ohne dass dieser damit auch seinen Einflussgelten macht, ist realitätsfremd. Die norddeutschen Bun-desländer sollten sich sehr gut überlegen, ob ihr speziel-ler Status innerhalb des bundesrepublikanischen Gefü-ges, der nicht zuletzt auch aus der für Deutschlandwichtigen Funktion der Häfen resultiert, leichtfertigaufs Spiel gesetzt werden sollte. Unter föderalen Ge-sichtspunkten sehe ich das kritisch.
Die Bundeskanzlerin hat die Energiewende zu einemzentralen Projekt ihrer Regierung gemacht. Die Wind-energie auf See mit sogenannten Offshoreanlagen bildetdessen Kern. Bis zum Jahr 2030 sollen 15 Prozent desgesamten deutschen Strombedarfs auf See produziertwerden. Doch diese Pläne der Bundesregierung stehenvor dem Scheitern. Ob das mit dem Austausch desMinisters abgewendet werden kann, weiß ich nicht.Für das Problem sind die großen Energiekonzerneverantwortlich. Sie haben viel versprochen, aber danndoch nicht geliefert. Seit Jahren gibt es einen Boom inder Offshorebranche. Aber es ist ein Planungsboom.Bauanträge wurden eingereicht und veraltete Genehmi-gungen immer wieder verlängert. Aktuell liegen für diedeutsche Wirtschaftszone der Nord- und Ostsee 28 Geneh-migungen von Offshorewindparks mit über 2 000 Anlagenvor. Anträge über weitere 93 Parks mit über 6 500 Anla-gen befinden sich in der Bearbeitung. Wissen Sie, wieviele sich davon in Bau befinden? Grade einmal zweiParks mit 160 Anlagen.Es gibt viele Fragen in Sachen Offshorewindenergiezu klären. Die Kolleginnen und Kollegen von der SPDgehen aber schon davon aus, dass alles so kommt, wie esdie großen Energiekonzerne planen. Das ist noch langenicht ausgemacht. Aber egal. Es ist ja richtig, dass mansich mit der Frage beschäftigt, wie wir es eigentlich hin-kriegen wollen, Tausende Windenergieanlagen aufsMeer zu transportieren und dort aufzubauen.Die Häfen und auch die Werften an den norddeut-schen Küsten werden eine herausragende Rolle über-nehmen, wenn die Offshorewindparks weiter wachsen.Es stimmt, dass die Hafenstandorte Deutschlands unzu-reichend auf die Offshoreprojekte eingestellt sind. Hiermuss sich etwas tun.Hafenbau ist langwierig und schwierig. Der Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven ist das Paradebeispiel.Viel, viel teurer als geplant, viel später fertig als vorge-sehen und jetzt auch noch Pfusch am Bau.Darum ist es sinnvoll, sich rechtzeitig mit den Anpas-sungen der Häfen zu beschäftigen. Die SPD fordert des-halb zu Recht von der Bundesregierung, dass sie endlichZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21645
Herbert Behrens
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den Fortschrittsbericht „Offshore-Windenergie“ vor-legt. Dieser war schließlich schon für 2011 angekündigt.Es ist richtig, wenn gefordert wird, dass der Bundsich in die Planung notwendiger Baumaßnahmen in Hä-fen stärker einmischt. Genauso richtig wäre es, wenn dieBundesregierung der Forderung nachkäme, das Natio-nale Hafenkonzept für die See- und Binnenhäfen weiter-zuentwickeln.Die Vorlage von Fortschrittsberichten, die Unterstüt-zung der Bundesländer bei ihren Planungen, die Vorlagevon Markteinschätzungen und Treffen mit Branchenver-tretern, das alles ist schön und gut. Aber es hilft am Endenur, wenn auch das notwendige Geld für die wichtigenAufgaben zur Verfügung steht. Mit Schuldenbremse undMilliardenausgaben für die Bankenrettung wird es dasnotwendige Geld nicht geben.Darum würden wir Ihren Antrag zur Schaffung einermodernen Hafeninfrastruktur gern mit einem Finanzie-rungskonzept unterlegen. Wir brauchen auch in derHafeninfrastruktur ein Investitionsprogramm zum Baunotwendiger Anlagen und zum Aufbau guter Arbeits-plätze in der Hafenwirtschaft. Gerade diese sind aktuellin der Offshoreindustrie nur selten zu finden.Der Bau von Hafeninfrastruktur ist häufig mit großenökologischen Problemen verbunden. Herr Beckmeyer,Sie wissen um die Schwierigkeiten beim ProjektOffshorehafen in Bremerhaven, mittendrin im FFH-Schutzgebiet. Das ist nicht akzeptabel und nicht notwen-dig.Ein weiterer Punkt: Sie wollen die seewärtigen Zu-fahrten ausbauen und meinen damit vermutlich die Ver-tiefung der Fahrrinnen von Weser und Elbe. Die Kostendafür sind extrem hoch und die Risiken für die Men-schen, die an den Flüssen leben, enorm. Das Ausbag-gern der Flüsse ist nicht notwendig, wenn es eine ver-nünftige Kooperation zwischen den Häfen gibt.Moderne Infrastruktur in den Häfen? Ja, die wollenwir. Aber wir wollen eine Stromproduktion, die wir alsBürgerinnen und Bürger auch in der Hand behalten.Riesige Windparks auf dem Meer sind Geschäfte fürGroßinvestoren. Die öffentliche Hand soll die Infra-struktur bezahlen. und die Konzerne machen das Ge-schäft. Das ist nicht sinnvoll.Die Windenergiebranche ist nicht nur eine Offshore-branche. Windenergie an Land, betrieben von kommu-nalen Stadtwerken oder von Genossenschaften, ist einvernünftiges Modell. Das erspart uns manche Groß-investition. Das stärkt den Mittelstand und bringt mehrArbeitsplätze – auch an der Küste.
Die Offshorewindenergie ist eine wichtige Erneuer-bare-Energien-Technologie und gewinnt weltweit anBedeutung. Etwa 40 Prozent der Menschheit lebt küsten-nah und benötigt dort viel Strom. Deshalb ist gerade fürdie an der Küste gelegenen Megacitys die Entwicklungder Offshorewindenergie zusammen mit anderenMeeresenergietechniken von zentraler Bedeutung. Eingroßer Teil der Atomkraftwerke liegt ebenfalls an denKüsten, was, wie in Fukushima zu sehen, fatale Folgenhaben kann. Offshorewindenergie kann daher einen gro-ßen Beitrag leisten, die Bewohner der Küsten mit Stromzu versorgen und den Ausstieg aus der Atomenergie undden fossilen Energien zu ermöglichen. So hat die Ent-wicklung der Offshoretechniken nicht nur für die natio-nale Energiewende hohe Bedeutung, sondern auch alsExporttechnologie für die weltweit schnell wachsendenWindenergiemärkte.In Deutschland soll die Offshorewindenergie nachden Plänen der Bundesregierung eine tragende Säuleder Energiewende werden. Bis 2020 sollen 10 GigawattLeistung installiert sein. Dass diese von Rot-Grün be-gründeten Planungen eingehalten werden können,glaubt jedoch niemand mehr. Zu viele Versäumnisse ha-ben sich vor allem unter Schwarz-Gelb aufgetürmt.Da ist zum einen die Infrastruktur für den Ausbau derOffshore-Windenergie, bei der wir nur wenig Fortschrittsehen. Über die Probleme bei der Netzanbindung kön-nen wir seit Monaten in den Zeitungen lesen. Im Novem-ber letzten Jahres hat der Netzbetreiber Tennet bekanntgegeben, dass sich die Anbindung der Windparks aufSee über Jahre verzögern wird. Jedoch sind die notwen-digen Aufgaben zur Offshorenetzanbindung nicht erstseit heute, sondern schon seit Jahren bekannt. Aberdiese schwarz-gelbe Regierung handelte ähnlich wie dieFlughafenbetreiber in Berlin nach dem Motto: Wennsich keiner beschwert, wird es schon gut gehen.Bei der Netzanbindung kann man auch infrage stel-len, ob es eine gute Idee war, die Verantwortung für dieNetzanbindung der Windparks in der Nordsee einemUnternehmen anzuvertrauen, welches die Anbindungaufgrund seiner Größe finanziell gar nicht stemmenkann. Vielleicht sollte man die Anbindungen neu aus-schreiben. Auf jeden Fall müssen neue Wege der Finan-zierung gefunden werden.Darüber hinaus muss, wie im Antrag der SPD gefor-dert, auch die weitere Infrastruktur koordiniert ausge-baut werden. Häfen, Werften und Spezialschiffe sindnötig, um das Ausbautempo zu erhöhen.Neben der Infrastruktur müssen aber auch die weite-ren Rahmenbedingungen stimmen. Das für die Offshore-genehmigungen zuständige Personal beim Bundesamtfür Seeschifffahrt und Hydrographie wurde nach Jahrennun endlich aufgestockt. Aber die anderen Behörden, so-wohl auf Landes- als auch auf Bundesebene, und ebensodie zuständigen Abteilungen in den Bundesministeriensind immer noch nicht mit ausreichend Personal aus-gestattet. Man könnte meinen, der Ausbau der Off-shorewindenergie wurde für diese Regierung erst mitdem Atomausstieg ein echtes Ziel. Vorher galt die De-vise: Verzögern durch Passivität. Jetzt läuft die Bundes-regierung ihren Versäumnissen hinterher und die Zeitdavon. Ganz zum Schaden von Unternehmen, wie Sie-mens, wofür letztendlich die schwarz-gelbe Bundesre-gierung die Verantwortung trägt.Die Offshorewindenergie wird neben der Photovol-taik weltweit eine der wichtigsten Stützen im Gesamt-Zu Protokoll gegebene Reden
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21646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Hans-Josef Fell
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konzept der erneuerbaren Energien. Deutschland kannin der Offshorewindenergie, wie bei der Photovoltaik,eine technologische Vorreiterrolle einnehmen. Damit dieOffshorewindenergie ihr enormes Potenzial verwirkli-chen kann, muss diese Regierung endlich die Zügel indie Hand nehmen und die Voraussetzungen schaffen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9573 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Alle sind damit
einverstanden. Dann ist es auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Polarregionen schützen – Polarforschung stär-
ken
– Drucksachen 17/5228, 17/9722 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ewa Klamt
René Röspel
Dr. Martin Neumann
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott,
Dr. Valerie Wilms, Omid Nouripour, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Abkommen zum Schutz der Arktis unverzüg-
lich auf den Weg bringen – Internationale Zu-
sammenarbeit zum Schutz der Arktis
– Drucksachen 17/6499, 17/7987 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Frank Schwabe
Angelika Brunkhorst
Sabine Stüber
Dr. Hermann E. Ott
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle-
ginnen und Kollegen liegen mir vor.
Bei der Entwicklung des Weltklimas spielen die Po-larregionen eine entscheidende Rolle. Sie werden daherauch die Klimakammern der Erde genannt. Der Polar-forschung kommt damit eine Bedeutung zu, die weit überdas regionale Interesse hinaus wirkt. Nahezu täglich le-sen wir neue beunruhigende Nachrichten über zuneh-mend schneller schmelzende und immer größere Eisflä-chen.Für das europäische Klima spielt insbesondere dieArktis eine entscheidende Rolle. Sie ist die KlimakücheEuropas. Auch hier müssen wir feststellen, dass dieTemperaturen weiterhin ansteigen. Welche Folgen bei-spielsweise ein Auftauen des Permafrosts und die vo-raussichtlich damit einhergehende Freisetzung großerCO2-Mengen haben wird, muss erst noch erforschtwerden. Jüngste Erkenntnisse lassen befürchten, dassgrößere Methanmengen auch aus Seen, Fjorden undMoränen austreten, die die schrumpfenden Gletscherfreigegeben haben. Die schonende und nachhaltige Nut-zung der arktischen Ressourcen muss ebenfalls Gegen-stand künftiger Forschung sein.Deutschland betreibt mit seiner Polarforschung so-wohl in der Arktis als auch in der Antarktis Unter-suchungen. Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- undMeeresforschung, AWI, koordiniert die deutsche Polar-forschung mit großem international anerkanntem Er-folg. Als zentrales Forschungsinstitut für die Polar-regionen leistet es in der Helmholtz-Gemeinschaft imRahmen der programmorientierten Forschung interdis-ziplinäre Arbeiten von hohem internationalem Stellen-wert in den Polarregionen.2011 hat das BMBF allein die Arktis-Forschung mit32 Millionen Euro gefördert. Davon erhielt das AWI imRahmen der institutionellen Förderung 25 MillionenEuro. 94 Millionen Euro erhielt das AWI insgesamtvom Bundesforschungsministerium. Zusätzlich standen7 Millionen Euro im Rahmen der Projektförderung desBMBF für Vorhaben der Arktis-Forschung verschiede-ner Institutionen zur Verfügung. Dass dieser Betrag imlaufenden Jahr um 5 Millionen geringer ist, liegt ledig-lich an einer einmaligen Anschaffung des Polarflug-zeugs im Jahr 2011. Die Anzahl der geförderten Projektehat sich nicht verringert.Diese Zahlen belegen, dass das AWI gut finanziert ist.Vor wenigen Tagen hat der Haushaltsausschuss desDeutschen Bundestages den Weg für die neue maritimeForschungsflotte frei gemacht. Dafür wird die Bundes-regierung in den kommenden acht Jahren rund 850 Mil-lionen Euro bereitstellen. Besonders relevant für denBereich der Polarforschung ist der Bau des Nachfolgersder in die Jahre gekommenen „Polarstern“, der bis zumJahr 2017 mit einem Budget von 450 Millionen Euro re-alisiert werden soll.Bedauerlicherweise konnten internationale Koopera-tionspartner für die Finanzierung eines – wie vom Wis-senschaftsrat vorgeschlagen – parallelen Einsatzes deralten und neuen „Polarstern“ nicht gefunden werden,sodass die parallele Erforschung von Arktis und Antark-tis nicht umsetzbar ist. Nach Übergabe der neuen „Po-larstern“ an die Wissenschaft wird daher der Verkaufder jetzigen „Polarstern“ angestrebt.Das AWI profitiert auch vom Pakt für Forschung undInnovation, der außeruniversitären Forschungseinrich-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21647
Ewa Klamt
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tungen einen jährlichen Mittelzuwachs von 5 Prozentgarantiert.Im Hinblick auf die Nachwuchsförderung hat sichinsbesondere die Deutsche Gesellschaft für Polarfor-schung verdient gemacht. Sie ist ein wichtiges Instru-ment interdisziplinärer Koordination und Zusammenar-beit. Entsprechend finden Kapazität und Expertisedeutscher Polarforschung heute internationale Aner-kennung.Festzuhalten ist, dass die Bundesregierung der he-rausragenden Bedeutung der Polarforschung bereitsheute mit einer Vielzahl von Projekten, Programmen undInitiativen Rechnung trägt.Innerhalb des Rahmenprogramms „Forschung fürnachhaltige Entwicklung“ fördert das Bundesministe-rium für Bildung und Forschung die Polarforschung mitcirca 10 Millionen Euro je Projektförderung an außer-universitären Institutionen und Universitäten. Sie istBestandteil der Erdsystemforschung. Eine Aufteilung inEinzelprogramme halten wir hier nicht für angezeigt.Zudem fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaftdie Polarforschung zusätzlich mit einem eigenenSchwerpunktprogramm „Antarktisforschung mit ver-gleichenden Untersuchungen in arktischen Eisgebie-ten“. Weiterhin finden Kooperationen auf europäischerEbene unter anderem im Rahmen des Polar-Climate-Programms statt, die das Forschungsministerium der-zeit mit 2,3 Millionen Euro fördert.International arbeitet Deutschland im Bereich derArktis-Forschung insbesondere mit Russland zusam-men. Ziel sind die effizientere Nutzung vorhandener In-frastruktur einerseits sowie die Sicherstellung des Zu-gangs deutscher Meeresforscher zu den relevantenGebieten andererseits. Gemeinsam betreiben die beidenPartner das Otto-Schmidt-Labor für Polar- und Meeres-forschung in St. Petersburg.In der von Ihnen geforderten internationalen Vernet-zung, insbesondere auf europäischer Ebene, sind wiralso bereits sehr gut aufgestellt. Die Kooperation undKoordination funktionieren. Ich bin überzeugt: Auch inZukunft wird die Bundesregierung sich dafür einsetzen,dass internationale Vereinbarungen getroffen werden,die – analog zum Antarktis-Vertrag – die Freiheit derForschung in der Arktis-Region garantieren.
Die Arktis ist ein Lebensraum, der genauso einzigar-tig wie sensibel ist. Hier macht sich der Klimawandelbesonders drastisch und stark bemerkbar. Die Durch-schnittstemperatur in dieser Region der Erde steigt, dieEisberge schmelzen, die Meereisbedeckung sinkt. Wech-selwirkungen mit dem globalen Klima sind nicht ausge-schlossen.Mit den klimatischen Veränderungen einher geht derfreiwerdende Zugang zu Schifffahrtsrouten und Ressour-cen. Die Arktis verfügt über gewaltige Öl- und Gasvor-kommen, die ihrerseits wiederum den Klimawandel be-schleunigen. Kurzum: Die Arktis ist zur Zielscheibewirtschaftlicher und verkehrspolitischer Interessen ge-worden. Die menschlichen Aktivitäten in der Arktis neh-men zu. Ihr Schutz erscheint dringender denn je.Dem vorliegenden Antrag der Grünen halte ich zu-gute, dass er diese Grundproblematik und die damit ver-bundenen Probleme weitestgehend korrekt beschreibt.Die Ausschussberatungen haben deutlich gemacht: Wirsind uns darin einig, dass nichts getan werden darf, wasdas ökologische Gleichgewicht und die Ökologie derArktis gefährdet. Dies gilt im Übrigen für alle Meere.Deutschland ist bereit, seinen Beitrag für den Schutzund die nachhaltige Nutzung der Arktis zu leisten. Dader Schutz der Arktis jedoch über Umweltschutzinteres-sen hinausgeht, ist ein abgestimmtes Handeln innerhalbDeutschlands erforderlich – eingebettet in die Aktivitä-ten der EU. Gerne möchte ich an dieser Stelle die Bun-desregierung in ihren Bemühungen bestärken, eineübergreifende, eigene Arktis-Strategie zu entwickeln.Neben den Bereichen Wirtschaft, Umwelt und Sicherheitsoll hier insbesondere die Forschung im Vordergrundstehen.An dieser Stelle möchte ich das Alfred-Wegener-Institutfür Polar- und Meeresforschung als eines der weltweitanerkannten Polarforschungsinstitute hervorheben. Diedeutsche Polarforschung wird durch eine Vielzahl vonProjekten gefördert. Sie ist auf ihrem Gebiet internatio-nal führend.Darüber hinaus nimmt Deutschland an den Beratun-gen des Arktischen Rats teil, des gemeinsamen Konsul-tationsgremiums der acht Staaten mit Gebieten – Landund Wasser – nördlich des Polarkreises. Hier verfügenwir nur über einen Beobachterstatus, denn wir reden beider Arktis nicht über eigenes Territorium. Es gibt fünfAnrainerstaaten – Dänemark/Grönland, Russische Fö-deration, Kanada, Norwegen, USA –, die über ihr arkti-sches Territorium souverän entscheiden. Diese Staatenlassen sich ihr Handeln auf eigenem Territorium nichtdiktieren. Dies beschränkt auf natürliche Weise unsereEinflussmöglichkeiten; das müssen wir anerkennen. Wirbewegen uns auf sehr dünnem Eis, wenn wir glauben,andere Staaten zu einem bestimmten Handeln auf ihremeigenen Territorium zwingen zu können. An dieser Tat-sache kommen wir nicht vorbei.Dieser Umstand wirkt sich auch auf die Kernforde-rung des Antrags nach einem Arktis-Vertrag aus, eineüberaus schwierige Forderung. Ein Arktis-Vertrag soll,so fordern die Grünen, nach dem Vorbild des Antarktis-Vertrags von 1959 ausgehandelt werden und die wirt-schaftliche Ausbeutung durch die Anrainerstaaten ver-hindern. Der Vergleich hinkt: Im Gegensatz zur Arktishat in der Antarktis kein Staat direkte Ansprüche ange-meldet; hier gibt es keine nennenswerten Rohstoffe oderVerkehrswege.Solange also der Abschluss eines solchen Arktis-Ver-trags durch die Anrainerstaaten, über deren Hoheitsge-biet wir reden, nicht realistisch ist, werden auch Be-Zu Protokoll gegebene Reden
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21648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Ingbert Liebing
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schlüsse des Deutschen Bundestages dieses Ziel nichterreichen können.Wichtig ist und bleibt, dass Deutschland weiterhinmit Nachdruck seine Interessenlage in die Gesprächemit den Anrainerstaaten einbringt und die Arktis als ge-meinsames Erbe der Menschheit erhalten bleibt. Hier istdie Bundesregierung aktiv und bestrebt, im Rahmen ih-rer Möglichkeiten ein Optimum an Schutz für die Arktissicherzustellen. Hier kann sie auf unsere volle Unter-stützung zählen.Den Eindruck, den der Antrag der Grünen erweckenwill, die Bundesregierung würde ausschließlich die wirt-schaftliche Ausbeutung der Meere verfolgen und denSchutz der Arktis vernachlässigen, verkennt eindeutigdie Realität. Die Bundesregierung verfolgt die Entwick-lung der Arktis aufmerksam und verantwortungsbe-wusst: mit Blick auf die ökonomischen Chancen und aufden Schutz des sensiblen Ökosystems.Konkret wirkt Deutschland beispielsweise aktuell ander Ausarbeitung internationaler Sicherheitsstandardsmit. Das Ziel ist ein verbindlicher Polar Code im Rah-men der International Maritime Organization, IMO.Dessen Fertigstellung scheint bis 2014 möglich zu sein.Bei der Gestaltung des Umweltkapitels des Polar Codeshat sich das Umweltbundesamt, UBA, bereits aktiv ein-bringen können.Der Schutz der Arktis ist ein wichtiges Thema.Deutschland nimmt Einfluss – im Interesse der Arktisund im Rahmen seiner Möglichkeiten. Den uns vorlie-genden Antrag der Grünen lehnen wir ab. Obwohl die-ser in Teilen über gute Ansätze verfügt, zeugt er schluss-endlich von Unkenntnis der rechtlichen Situation und istaus diesem Grund nicht hilfreich. Hingegen danken wirder Bundesregierung und dem Bundesumweltministe-rium für ihre Bemühungen zum Schutz und zur nachhal-tigen Nutzung der Arktis und sichern weiterhin unsereumfassende Unterstützung zu.
Nach unseren Diskussionen im Plenum und Aus-schuss kann man wohl sagen, dass alle hier vertretenenFraktionen die Überzeugung eint, dass die Polarfor-schung einen wichtigen und notwendigen Forschungs-zweig darstellt. Mit Freude habe ich darüber hinauswahrgenommen, dass alle Fraktionen ebenfalls das Zielunseres Antrages, die Polarforschung weiter zu stärken,unterstützen. Bei der Entscheidung über die notwen-digen Instrumente zur Stärkung der Polarforschung ver-abschiedet sich hingegen die Regierungskoalition ausder Einigkeit der Fraktionen.Für das Jahr 2012 hat die Bundesregierung circa12 Millionen Euro als Projektförderung für die Meeres-und Polarforschung eingeplant. Das begrüßen wir alsSPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Doch angesichtsder zu stemmenden Herausforderungen, insbesondereim Bereich des Klimawandels, wird diese Summe nichtausreichen. Als SPD-Bundestagsfraktion fordern wir inunserem Antrag deshalb eine Verstärkung der nationa-len Mittel. Eine zentrale Rolle spielen wie so häufig dieMenschen. Ich weiß, dass viele junge Menschen gerneengagiert und begeistert in diesem Bereich arbeiten undforschen würden. Aber es fehlt an Stellen und damit anPerspektiven. Deshalb fordern wir eine verstärkte För-derung des wissenschaftlichen Nachwuchses auch indiesem Bereich. Da kann doch ernsthaft auch die Regie-rungskoalition nichts dagegen haben.In meiner letzten Rede zum Thema habe ich bereitsauf die wissenschaftliche Notwendigkeit einer ganzjäh-rigen Polarforschung in der Arktis und Antarktis hinge-wiesen. Möglich würde dies zum Beispiel durch die zeit-lich begrenzte Parallelnutzung der Forschungsschiffe„Polarstern I“ und der neu zu bauenden „Polarstern II“.Der Wissenschaftsrat hat diese Parallelnutzung eben-falls vorgeschlagen. Arktis-Forschungsfahrten imHerbst, Winter und frühen Frühjahr würden helfen, diedringend notwendigen Klima- und Meereismodelle zurErmittlung zukünftiger Entwicklung zu optimieren.Diese notwendigen Messungen können aktuell nicht er-hoben werden, da die „Polarstern I“ in diesem Zeitraumnormalerweise in der Antarktis unterwegs ist und andereForschungsschiffe für den ganzjährigen Arktis-Einsatznicht einsetzbar sind. Das Bundesministerium für Bil-dung und Forschung, BMBF, hat sich nun in der aktuel-len Gesamtschiffsstrategie gegen die parallele Nutzungzweier Schiffe ausgesprochen. Als SPD-Bundestagsfrak-tion halten wir diese Entscheidung für falsch. Insbeson-dere in Anbetracht der Tatsache, dass fast alle europäi-schen Staaten eigene Polarforschungsprogrammehaben, gleichzeitig aktuell aber nur die Schweden eineneigenen Forschungseisbrecher besitzen, hätte Deutsch-land somit durch die Bereitstellung von Forschungs-schiffszeiten eine koordinierende Rolle in Europaeinnehmen können. Diese Chance für den Forschungs-standort Deutschland nutzt das BMBF leider nicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU undFDP, warum steuern Sie bei diesem Thema nicht gegen?In der Gesamtschiffsstrategie schreibt das BMBF,dass die Regierung plant, die „Polarstern I“ zu verkau-fen. Ein Käufer wird sich sicherlich finden. Denn nichtohne Grund beneiden uns viele Staaten um die „Polar-stern I“. Aber wir sollten hier nichts überstürzen. EinVerkauf sollte erst vonstatten gehen, wenn klar ist, dassdie „Polarstern II“ ein ebenso gelungenes Forschungs-schiff ist wie ihre Vorgängerin. Schiffbauliche Nach-besserungen können wir uns nicht leisten. Deshalb istdie enge und gute Zusammenarbeit des Alfred-Wegener-Instituts, des BMBF, der noch zu beauftragenden Reede-rei und Werft so wichtig. Nur so wird gewährleistet, dassdie neue „Polarstern II“ auch wirklich wie angekündigt2017 in See stechen kann. Als SPD-Bundestagsfraktionwerden wir diesen Prozess weiter positiv-kritisch beglei-ten.In unserem Antrag sprechen wir uns als SPD-Bundes-tagsfraktion für ein fokussiertes europäisches Polarfor-schungsprogramm innerhalb „Horizon 2020“ aus. DieKoalition lehnt diese Forderung ab. Wieso, ist mir ehr-lich gesagt schleierhaft. In der Wissenschaftscommunitywird nach einem europäischen Arktis-Forschungspro-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21649
René Röspel
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gramm und damit nach einer politischen Aufwertung dereuropäischen Polarforschung gerufen. Um die Chancendafür zu erhöhen, benötigen die Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler aber die politische Unterstützunginsbesondere der Bundesregierung. Leider warten sieauf diese bisher vergebens. Das muss sich ändern!Am Ende meiner Rede möchte ich noch auf einenPunkt eingehen, der mich in der Diskussion über die Po-larforschung erschreckt hat. Bei der ersten Lesung spe-kulierte ein Kollege aus der CDU/CSU ganz offen überdie Chancen der unerschlossenen natürlichen Ressour-cen der Arktis. Dabei müssten doch eigentlich alle wis-sen, wie sensibel dieses Ökosystem ist. Wollen wir dieswirklich für kurzfristige wirtschaftliche Interessen aufsSpiel setzen? Die Forderungen nach einem stärkerenSchutz der Arktis, die sich unter anderem in dem unshier vorliegenden Grünen-Antrag wiederfindet, könnenwir als SPD-Bundestagsfraktion deshalb nur voll unter-stützen. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen derRegierungsfraktionen, kann ich für beide hier vorliegen-den Anträge aus diesen Gründen nur ans Herz legen:Stimmen Sie zu!
Wie der Kollege Röspel schon deutlich gemacht hat,hat der Antrag „Polarregion schützen – Polarforschungstärken“ in der Grundbewertung in der ersten Lesungund im Ausschuss auch bei den übrigen Fraktionen desBundestages eine positive Beurteilung und Unterstüt-zung bekommen. Wir sind uns auch darin einig, dass diePolarforschung in Deutschland traditionell eine starkePosition und eine sehr hohe Leistungsfähigkeit hat. Diesbezieht sich nicht nur auf die langjährigen Forschun-gen, bei denen Deutschland echte Pionierleistungen er-bracht hat, sondern auch auf das europa- und weltweiteAnsehen exponierter deutscher Forschungsinstitutionenwie zum Beispiel das Alfred-Wegener-Institut für Polar-forschung in Bremerhaven oder auch das Institut fürMeereswissenschaften/GEOMAR in Kiel, auf die ich alsnorddeutscher Abgeordneter und häufiger Besucher die-ser Einrichtungen besonders stolz bin. Wenn wir seiner-zeit, jetzt schon vor einem Jahr, mit diesem Antrag einezusätzliche Initiative ergriffen haben, so will ich hierzunoch einmal vier Punkte deutlich und konzentriertzuspitzen:Erstens. Zu den schriftlichen Debattenbeiträgen derersten Runde hier im Parlament wurde von den Regie-rungsfraktionen vielfach darauf hingewiesen, dassDeutschland ja gar nicht unmittelbarer Anlieger vonArktis und Antarktis sei. Das ist natürlich richtig, ändertaber doch nichts an der Bedeutung dieser Aufgabe undden Chancen, die gerade auch für die deutsche Mitwir-kung an der Polarforschung und dem Polarschutz lie-gen, in der Rolle als beobachtende und beratende Teil-haber an den Forschungsanstrengungen, aber genausoan den ökonomischen Perspektiven, die sich auftun unddie bereits jetzt zu intensiven Kooperationen, aber auchKonkurrenzen zwischen den verschiedenen Anlieger-staaten speziell bei der Arktis geführt haben. DieAussicht auf ganz andere Verkehrsverbindungen undTransportwege wie auf Rohstoffe zur Energieversorgungoder auch auf seltene Metalle etc. lässt diese Konkur-renz absehbar noch stärker anwachsen. Umso wichtigerist uns – und hierauf wollten wir auch mit unser Initia-tive und den darin enthaltenen Forderungen noch ein-mal deutlich hinweisen –, dass Europa im Forschungs-bereich die Möglichkeiten nutzt, sich hier seinerseits inVerantwortung für Verständnis, Erklärung und Projek-tion ganz wichtiger klimatischer und ökologischerZusammenhänge zu positionieren, dieses aber auch ein-zubringen in die Forschungsarbeit, die von unmittel-baren Anliegerregionen und -nationen – speziell wieRussland und den USA – an vorderster Interessenlagemit geleistet wird. Europa kann damit auch seinen Teildazu beizutragen, über Forschung nicht nur Problembe-wusstsein, sondern auch Kooperationsbereitschaft zustärken.Dieses ist das eigentliche politische Anliegen, das wirmit der Forderung verbinden, die Polarforschung mit ei-ner sehr prominenten Perspektive im 8. EuropäischenForschungsrahmenprogramm, dem sogenannten Hori-zon 2020, zu verankern.Wenn Sie allerdings in die wichtigsten Dokumente,die hierzu bisher vorgelegt worden sind, hineinschauen,dann sehen Sie, dass, wie die Kolleginnen und Kollegenin der bisherigen Debatte richtig angesprochen haben,es dort einen Schwerpunkt Klimaschutz, Ressourceneffi-zienz und Rohstoffe unter den sechs genannten gesell-schaftlichen Herausforderungen für die Kommissiongibt, aber in den einschlägigen Dokumenten der Euro-päischen Kommission vom 2. Dezember 2011 eben diePolarforschung und die Konzentration auch auf dieProbleme, die sich gerade um die Pole und speziell dieArktis ergeben, nicht herausgestellt werden. Deshalbgeht die Forderung auch nicht dahin, an erster Stelle eineigenes Polarforschungsprogramm zu machen, sondernwir haben bewusst vom fokussierenden Polarfor-schungsprogramm gesprochen, und das heißt hier, sichin der allgemeinen Klimaforschung eben besondersauch auf die Polarforschung zu konzentrieren. Dass die-ses notwendig ist, zeigt sich nicht nur in den Dokumen-ten der Kommission vom 2. Dezember 2011, sondernauch in einem Beschluss des Rates über das spezifischeProgramm zur Durchführung des Rahmenprogrammsfür Forschung und Innovation, bei dem weder in demTeil, der die internationale Zusammenarbeit anführt,speziell Projekte der Polarforschung benannt wordensind, wohl aber solche der Raumfahrt, der seltenenKrankheiten oder der Biowirtschaft, noch in dem Teildes Dokumentes, der vor allem die führende Rolle derIndustrie mit herausarbeitet und dort allerdings die ma-ritimen Industrien leider nicht mit benennt.Allein aus diesem Grund werben wir noch einmaldafür, dass sich auch die Bundesregierung in ihren Be-ratungen gegenüber der Europäischen Kommission undauch in den Ministerräten sehr nachdrücklich dafür ein-setzt, die Polarforschung als ein Fokusthema stärkerherauszuarbeiten.Zu Protokoll gegebene Reden
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21650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Zweitens. Einigkeit herrschte in der ersten Debatten-runde zu unserem Antrag im Juni letzten Jahres auchdarüber, wie wichtig die Verfügbarkeit von guten eisbre-chenden Forschungsschiffen ist. Es war unser KollegeRené Röspel, der daran erinnerte, dass nicht zuletzt inso renommierten Organen wie der US-amerikanischenZeitschrift „Nature“ zu lesen war, dass das Polar Re-search Board der US-amerikanischen National Aca-demy of Science in einem Bericht dazu aufgeforderthatte, die Forschung an beiden Polen stärker zu verzah-nen. Durch mehr bipolare Forschung besteht dieChance auf schnellere Ergebnisse über die Auswirkun-gen des Klimawandels. Dass sich diese schnelleren Er-gebnisse gerade an den Polen gewinnen lassen, ist jaauch dadurch evident, dass die Pole nicht nur Treiberdes Klimawandels sind, sondern auch in besondersdrastischer Weise aufzeigen, was sich im Umfeld desKlimawandels an Veränderungen vollzieht und welcheRückwirkungen auf andere Ökosysteme, auf den Zustandder Ozeane, auf die Belastungen der Ökosphären undmaritimen Küstenzonen zu erwarten sind.„Polarforschung first“ ist deshalb vielleicht für einewissenschaftliche und wissenschaftspolitische Argumen-tation zu sehr verkürzt, trifft aber unseres Erachtenseinen entscheidenden Punkt, nämlich die zeitliche Prio-rität, die Polarforschung im Gesamtkonzept von Polar-,Meeres- und Küstenforschung im engeren Sinne und Kli-maforschung im weiteren Sinne auch haben sollte.Ganz konkret hat deshalb auch der deutsche Wissen-schaftsrat in seiner Stellungnahme vom Jahresanfang2011 zu den deutschen Forschungsschiffen darauf hin-gewiesen, dass zwei eisbrechende Forschungsschiffe,die beide Polargebiete ganzjährig erforschen könnten,sehr sinnvoll seien. Denn aktuell wird die „Polarstern“,dieses unverwüstliche und hochleistungsfähige deutscheeisbrechende Forschungsschiff, für die gesamte Band-breite der Meeresforschung in der Arktis und Antarktiseingesetzt. Sie diente sowohl der Antarktis-Station Neu-meyer III wie der Koldewey-Station auf Spitzbergen alsVersorgungsschiff und nähert sich damit allmählich derGrenze für ihre schiffbaulich und wirtschaftlich sinn-volle Nutzung, auch wenn sie von 1998 bis 2002 nocheinmal eine gute Generalüberholung erfahren hat. Nunhat die Ministerin kürzlich verkündet und der Haus-haltsausschuss des Bundestages hat es entsprechend be-schlossen, dass noch in diesem Jahrzehnt drei neue For-schungsschiffe auf Kiel gelegt und fertiggestellt werdensollen. So soll die „Sonne“ für Wilhelmshaven 2015 fer-tig sein, das Ersatzschiff für die „Polarstern“ inBremerhaven 2017 und eine Nachfolgerin für die Ham-burger „Meteor“ 2020. Dieses ist sicherlich ein ambi-tioniertes, aber auch notwendiges Programm für diesesJahrzehnt.Mit unserem Antrag wollen wir seitens der SPD-Fraktion dennoch einmal mehr darauf drängen, für einebegrenzte Zeit zwei eisbrechende Forschungsschiffe zurVerfügung zu stellen und damit neben der neuen „Polar-stern“, die in 2017 fertiggestellt sein soll, eben auch diealte „Polarstern“ für eine tragfähige Zeit weiter zu be-treiben, um damit mindestens für ein vier- bis fünfjähri-ges Zeitfenster eine ganzjährige Forschung an beidenPolen möglich zu machen.Dieses wäre eine sehr große Chance und fast eineVerpflichtung, angesichts der rasanten Veränderung inder Sphäre den Polen die entsprechenden Forschungs-kapazitäten und Gerätschaften gleichzeitig und ausrei-chend zur Verfügung zu stellen.Drittens. Kritiker der letzten Debatte, so unter ande-rem die Kollegin Sitte von der Fraktion Die Linke, habengegenüber dem SPD-Antrag eingewandt, dass dort zwarvon der Stärkung der Polarforschung, aber nicht ausrei-chend vom Schutz der Polarregion die Rede war. Nunmeinen wir allerdings, dass unter Forschungsgesichts-punkten die Stärkung der Polarforschung eine wesentli-che Voraussetzung dafür ist, um dann politisch diePolarregionen besser zu schützen, zumal wenn der For-schungsansatz die ganze Breite mit einschließt und ent-wickelt, die jetzt schon von vielen Forschungsmissionenmit ausgefüllt wird.Wir unterstützen auch nachdrücklich, wenn der Bun-desaußenminister bei verschiedenen geeigneten Gele-genheiten, so unter anderem bei der Zweiten Internatio-nalen Arktiskonferenz des Auswärtigen Amts im Jahr2011, deutlich gemacht hat, dass der arktische Ozean alsgemeinsames Erbe der Menschheit zu erhalten ist unddie Forschung nicht durch künftige wirtschaftliche Nut-zung der Arktis eingeschränkt werden darf. Gleichzeitigwissen wir, dass das ressourcenökonomische Erforder-nis wie der wirtschaftliche Druck auf die Nutzung vonEnergiequellen und Bodenschätzen wachsen wird unddeshalb höchste Anforderung nicht nur an die rechtlicheund politische Klärung von Umweltschutzerfordernissenzu stellen sind, sondern es auch eine höchste technologi-sche Qualität geben muss, damit in der Exploration vonBodenschätzen und Energieressourcen nicht eine unwie-derbringliche Zerstörung in der Arktis stattfindet.Wir brauchen ganz hohe Umweltschutzauflagen, wirbrauchen umfassende Schutzzonen, und wir brauchenhöchsten technologischen Standard dort, wo ökonomi-sche Interessen befriedigt werden. Aus diesem Grundemuss zumindest in dieser Debatte darauf hingewiesenwerden, dass über die Verstärkung der Polarforschungund den Schutz der Polarregionen durch entsprechendeForschung auch die Seite der maritimen Technologienmit im Auge zu behalten sein wird. Schaut man in ein-schlägige Organe von Unternehmen und Initiativen ausder maritimen Industrie, wird schnell sichtbar, dass hierein großer, auch ökonomisch relevanter Sektor an indus-triellen Ausrüstungsgütern aufgebaut wird, der noch vielmehr politische und öffentliche Aufmerksamkeit ver-dient. Ein Beispiel hierfür ist die Technologieplattform„Polar“ aus Mecklenburg Vorpommern in Rostock, woin einem umfassenden Konsortium von Partnern ausWissenschaft und Wirtschaft unter dem Stichwort „Po-lar“ ein Baukasten von zentralen Systemkomponentenfür Transport, Lagerung und Verarbeitung von Energie-trägern und Rohstoffen entwickelt wird, dessen Fokusgerade auf Regionen mit extremen UmweltbedingungenZu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Ernst Dieter Rossmann
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gelegt wird, wie sie typischerweise im Nordatlantik, imNordpolarmeer und in der Antarktis vorkommen.Wenn wir aber die Polarregionen bei den sichzwangsläufig abzeichnenden Formen der wirtschaftli-chen Erschließung und Ausbeutung weiterhin schützenwollen, so müssen gerade an die Technologieträger immaritimen Bereich die größten Umweltstandards undSicherheitsstandards angelegt werden. Auch dieses istforschungsrelevant, und hier müssen die klassischePolarforschung und die maritime Technologie noch en-ger zusammenarbeiten. Die SPD wird dieses Engage-ment für höchste Qualität bei den maritimen Technolo-gien noch in weiteren Initiativen und Anträgenuntermauern.Viertens. Als die SPD-Bundestagsfraktion vor einigerZeit einen Workshop mit Fachleuten aus dem Bereichder Meeres- und Polarforschung veranstaltete, kamennicht nur die große Attraktivität diese Forschungsgebie-tes zur Sprache, sondern auch die hohen Anforderungen,die an das wissenschaftliche und technische Personal imBereich von Polar- und Meeresforschung gerichtet sind.Weil Forschung nur so gut sein kann, wie die Forsche-rinnen und Forscher Exzellenz haben, möchten wir andieser Stelle noch einmal eine koordinierte und gezielteNachwuchsförderung für dieses zukunftsträchtige For-schungsgebiet ansprechen. Dazu gehören dann aller-dings nicht nur die internationale Öffnung und der Aus-bau von Mobilität junger Forscherinnen und Forscher,sondern auch die Unterstützung dieser ambitioniertenjungen Wissenschaftler bei einer verlässlichen Lebens-planung, die durch lange Forschungsaufenthalte ohne-hin schon stärker belastet ist, als dies bei anderer, stär-ker ortsgebundener Forschung der Fall ist. Dies darfsich dann nicht nur auf die Spitzenkräfte beziehen, son-dern muss genauso den wissenschaftlichen Nachwuchsund die Doktoranden mit einbeziehen. Hier sind wirdann bei vermeintlich banalen Themen wie den Wissen-schaftszeitvertragsregelungen oder dem sogenanntenWissenschaftsfreiheitsgesetz, bei der Frage von Verträ-gen, Laufzeiten und Finanzierungen. Dieses Anliegenwird uns über die Polarforschung hinaus auch beschäf-tigen, wenn es demnächst zur Debatte über Aufgabenund Schwerpunkte der Meeresforschung kommen wird,für die wir auch einen Antrag in dieses Parlament einge-bracht haben, und wenn wir die Hardwaregesetze zur Si-tuation des wissenschaftlichen Nachwuchses diskutierenwerden.Gerade weil die Zukunft der Pole und der Meere vonexistenzieller Bedeutung für das Klima und damit dasLeben der Menschheit auf diesem Planeten ist, bringenwir von der SPD-Fraktion diese Forschungsfragen im-mer wieder in das Parlament ein. Dass unsere Anträgediesmal noch nicht die Zustimmung der Regierung fin-den konnten, bedauern wir. Es wird uns nicht daran hin-dern, konstruktiv-kritisch das zu begleiten, was die Bun-desregierung unserer Auffassung nach mit nochgrößerer Anstrengung und klareren Perspektiven zumSchutz von Polen, von Meeren und des Klimas betreibenmuss.
Die Polarregionen sind außerordentlich wichtige Ge-biete; das ist in diesem Antrag durchaus eindrucksvollbeschrieben. Ihre Bedeutung hat in den letzten Jahrenvor allem im Zusammenhang mit dem Klimawandel undaufgrund geopolitischer Entwicklungen noch zugenom-men. Dass es sinnvoll ist, die Polarregionen weiterhin zuerforschen, ist unbestritten. Die Frage ist aber, obDeutschland jetzt wirklich ein eigenes Polarforschungs-programm braucht.Aus unserer Sicht ist ein eigenständiges Polarfor-schungsprogramm, wie es die SPD in ihrem Antrag for-dert, nicht zielführend. Denn einerseits haben wir be-reits mit dem Rahmenprogramm „Forschung fürnachhaltige Entwicklungen“, FONA, des BMBF einProgramm, mit dem die Polarforschung stark gefördertwird. Im Rahmen dieses Programms fließen etwa10 Millionen Euro pro Jahr in Projekte zur Erforschungbeider Polarregionen, der Arktis und der Antarktis. An-dererseits existiert mit dem Alfred-Wegener-Institut fürPolar- und Meeresforschung eine bundesfinanzierte In-stitution mit hervorragender technischer Ausstattungund wissenschaftlicher Kompetenz.Neben der nationalen Förderung gibt es außerdemeine europäische Förderung. Aus dem Umweltteil deslaufenden europäischen Forschungsrahmenprogrammswerden auch Polarforschungsprojekte gefördert, an de-nen deutsche Forschungseinrichtungen ebenfalls parti-zipieren.Der Wissenschaftsrat hat in seinem Gutachten „Emp-fehlungen zur zukünftigen Entwicklung der deutschenmarinen Forschungsflotte“ bestätigt, dass Deutschlandin der Polarforschung international eine führende Rolleeinnimmt. Deutschland verfügt wie nur wenige andereStaaten über ein modernes Forschungsschiff, das dieArktis befährt – das Forschungsschiff „Polarstern“. Esist Teil der deutschen Forschungsschiffflotte, die im eu-ropäischen und internationalen Vergleich als sehr starkund leistungsfähig gilt.Das Gutachten des Wissenschaftsrats, das dem SPD-Antrag offensichtlich zugrunde liegt, empfiehlt aber kei-neswegs eine bevorzugte Förderung der Polarfor-schung. Vielmehr weist der Wissenschaftsrat darauf hin,dass die maritime Forschung und die ihr dienende For-schungsschiffflotte auf die langfristigen Forschungsfra-gen ausgerichtet sein sollten. Der Wissenschaftsrat stelltfest, dass zwar momentan die Polarforschung sehr ak-tuell ist, dass aber nicht absehbar ist, welche For-schungsfragen sich mittel- und langfristig als besonderswichtig erweisen werden. Deshalb soll die maritimeForschung auch in anderen Bereichen auf hohemNiveau gehalten werden, zum Beispiel die Meeresboden-forschung, die Tiefseeforschung oder die Küstenfor-schung. Auch diese Bereiche sind für Deutschland vongroßem Interesse. Die Küstenforschung spielt eine wich-tige Rolle bei der Errichtung von Offshorewindparks.Die Tiefseeforschung erschließt neue Potenziale durchdie Erkundung und Erforschung mariner Ressourcenwie zum Beispiel Mangan, Edelmetalle oder Gashy-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Peter Röhlinger
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drate. Eine weitere Priorisierung der Polarforschung istdeshalb aus unserer Sicht nicht angebracht; vielmehrgeht es um eine Gesamtstrategie für die deutsche Mee-resforschung.Abschließend weise ich darauf hin, dass die deutschePolarforschung in die europäische und internationaleForschungslandschaft eingebettet ist. Deutschland istMitglied im 1995 gegründeten European Polar Board,EPB. Hier werden gemeinsam die strategischen Priori-täten für die Forschung in Arktis und Antarktis festge-legt. Diese internationale Zusammenarbeit halten wirfür richtig und zukunftsweisend. Die Zusammenführungvon nationalen Projekten, die Zusammenarbeit von For-scherinnen und Forschern in internationalen Projektenund einen verstärkten Informationsaustausch über Pro-jekte, Programme und Ergebnisse halten wir für wichti-ger als das Auflegen neuer Polarforschungspro-gramme – sei es in Deutschland oder in der EU.Die SPD geht in ihrem Antrag nur im Ansatz auf dieSynergieeffekte einer europäischen und internationalenKooperation und Koordination ein. Darin liegt aber dasPotenzial für eine intensivere und verbesserte Polarfor-schung. Hier müssen und wollen wir das Potenzial auchabrufen. Der Antrag wird diesem Anspruch nicht ge-recht. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Die Arktis zählt zu den letzten nahezu unberührten
Regionen der Erde, ein sensibles Ökosystem, das stark
vom Klimawandel bedroht wird. Die Eismassen des
Nordpols schmelzen immer schneller. Unter dem gewal-
tigen Eispanzer der Arktis ruhen beträchtliche Ressour-
cen, die bei den Anrainerstaaten Begehrlichkeiten
wecken: Edelmetalle, Seltene Erden, Erdöl- und Erdgas-
reserven, die weltweit knapp werden. Zudem eröffnen
die schmelzenden Eisflächen neue Perspektiven für
Schiffspassagen durch bisher unzugängliche Regionen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Abkommen
zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen –
Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis“
hat eine gute Intention. Er zielt darauf ab, die Arktis zu
schützen. So weit sind wir einer Meinung; denn wir müs-
sen uns auf die zukünftige Nutzung der Arktis vorberei-
ten. Viele Forderungen sind gut gemeint, jedoch jenseits
des Umsetzbaren.
Vor dem Hintergrund immer knapper werdender Roh-
stoffe werden sich die USA, Kanada, Norwegen, Russ-
land und Dänemark/Grönland von Deutschland keine
vertraglichen Fesseln anlegen lassen.
Wir Liberale setzen uns für einen Schutz der Arktis
ein. Wir wollen keinen Raubbau am Ökosystem Arktis.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Nutzung der Ressour-
cen im Einklang mit der Natur stattfindet. Es liegt ins-
besondere in den Händen der Anrainerstaaten, eine um-
weltverträgliche Nutzung der Region zu regeln. Wir soll-
ten über unsere wissenschaftliche Kompetenz diesen
Prozess begleiten. Mit dem Alfred-Wegener-Institut für
Polar- und Meeresforschung bietet Deutschland ein
international anerkanntes Zentrum der Polarforschung.
Wir wollen diese Expertise einfließen lassen und bera-
tend beim Schutz der Arktis zur Seite stehen.
Unrealistische Forderungen, wie sie im Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen erhoben werden, können wir je-
doch nicht mittragen. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Der Haushaltsausschuss hat in der vergangenen Wo-che die vier bedeutenden Nachfolgebauten für die jet-zige Forschungsflotte der Bundesrepublik gebilligt, da-runter auch den Neubau eines Forschungseisbrechers.Dieser soll ab 2017 die „Polarstern“ ersetzen und wirdnach den derzeitigen Planungen etwa 450 MillionenEuro kosten. Fast 1 Milliarde Euro wird überwiegendder Bund für die neue Flotte insgesamt ausgeben. Damitkönnte man den hier vorliegenden Antrag der SPD fastfür erledigt erklären, denn auch weitere Forderungender Kolleginnen und Kollegen an die Bundesregierungkönnen als erfüllt angesehen werden. So wird es im8. Forschungsrahmenprogramm „Horizont 2020“ eineFörderlinie zur Polarforschung geben, auch Preise fürbesondere Leistungen auf diesem Gebiet existieren.Was jedoch fehlt, sowohl bei der Bundesregierung alsauch im Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, sindkonkrete Forschungsfragen für den Schutz der bedroh-ten Regionen. Vor etwa zwei Wochen schreckten mehrereStudien die Wissenschaftsszene auf: Deutsche und briti-sche Forscher hatten bestätigt, was auch früher nur ge-mutmaßt wurde: Auch der Eisdecke der Antarktis, dieman bisher eher unbeeindruckt von der Erderwärmunggeglaubt hatte, droht eine umfangreiche Schmelze. DieForscher vermuten, dass dieser Prozess von warmenStrömungen ausgelöst werden könnte, die das Schelfeisvon unten angreifen.Die genaue Erforschung solcher Prozesse ist ohneeine entsprechende Infrastruktur, zu der auch die For-schungsschiffe gehören, nicht möglich. Sollten sich dieAussagen verifizieren lassen, dürfte das eine ganz neueDynamik in die Debatte um den Klimawandel bringen.Denn für den schlimmsten Fall kann die beschleunigteSchmelze dieser Eismassen den Meerespegel bereits inden kommenden 100 Jahren um etwa 40 Zentimeter stei-gen lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Forde-rung berechtigt, zeitweise zwei eisbrechende For-schungsschiffe parallel zu betreiben, um in beidenPolarregionen arbeiten zu können.Denn auch der Arktis, bereits seit Jahrzehnten vomKlimawandel betroffen, drohen weitere zerstörerischeEingriffe durch den Menschen. Die UmweltorganisationGreenpeace blockierte vor wenigen Wochen das Auslau-fen eines gemieteten Eisbrechers in Dänemark. Mieterwar der Konzern Shell, der im Arktisraum neue Förder-stätten für die am Meeresboden vermuteten riesigen Öl-und Gasvorkommen erkunden will. Greenpeace verweisthingegen darauf, dass die Risiken einer dortigen Förde-rung von Öl und Gas unkalkulierbar seien. Niemandkönne derzeit sagen, was im Falle einer Havarie anSchutzmechanismen funktioniere und wie groß das öko-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012 21653
Dr. Petra Sitte
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logische und ökonomische Risiko eines solchen Unfallswie etwa der der als sicher geltenden Plattform „Deep-water Horizon“ sei.Der Hunger auf die nach Schätzungen der amerikani-schen Rohstoffbehörde etwa 22 Prozent der weltweitenunentdeckten Ölvorkommen und auf die weiteren Basis-metalle unter der arktischen Landschaft erzeugt einenstarken ökonomischen Druck. Von der Bundesregierungwar in der Ausschussberatung ebenfalls zu hören, dassnatürlich die wirtschaftlichen Interessen unseres Landesin der Arktis gewahrt werden müssten. Auch im SPD-An-trag findet sich zur Verpflichtung der Forschungstätig-keit auf den Schutz von Umwelt und Klima nichts Kon-kretes. Wir unterstützen hingegen den Vorschlag derGrünen, dem Arktischen Rat mehr Kompetenzen für denSchutz dieser Region einzuräumen und in der deutschenPolitik Schutzbedarfen Vorrang vor ökonomischen Zie-len einzuräumen.Für die Forschung heißt das: Eine staatliche Unter-stützung risikoreicher Explorationsvorhaben oder zurSicherung eines irgendwie gearteten geopolitischen In-teresses kann nicht infrage kommen. Wenn wir der Be-reitstellung großer Summen für Forschungsinfrastrukturzustimmen, dann unter der Voraussetzung, dass dieseausschließlich für Erhaltung und Rettung dieser für un-ser Klima und die Diversität unserer Umwelt so wichti-gen Regionen eingesetzt werden.Wir erinnern uns alle noch an das umstrittene Eisen-düngungsexperiment LOHAFEX in südatlantischen Ge-wässern. Dieses hat uns hier im Bundestag eine kontro-verse Debatte beschert, für deren Laufzeit das Experimentvor Ort sogar gestoppt wurde. Dieser Fall zeigt, wieschmal der Grat zwischen Grundlagenforschung und ri-sikoreichen menschlichen Eingriffen in ein hochkomple-xes Ökosystem ist.Wir brauchen auch und gerade für die Polarfor-schung eine transparente Mission für mehr Nachhaltig-keit und eine fundierte Folgen- und Risikoabschätzung.
Grönland wird wieder grün. Und ausnahmsweise ist
dies kein Grund zur Freude. In der Arktis lässt sich das
Fortschreiten des Klimawandels deutlicher als an-
derswo erkennen. Die Eisbedeckung der Arktis-Region
ist seit Anfang der 1970er-Jahre um die Hälfte ge-
schrumpft. Der Verlust des Eises verstärkt wiederum den
Klimawandel; denn das Eis bestimmt den Grad der
Reflektion des Sonnenlichtes, regelt den Austausch von
Wärme und Feuchtigkeit zwischen Meeresoberfläche
und Atmosphäre und beeinflusst die Verdunstung. Auch
weitere Effekte wirken sich auf den Klimawandel aus. So
wird durch das Freilegen von Seen, Fjorden und Morä-
nen Methan frei, das seit Jahrtausenden eingeschlossen
war und jetzt seine klimaschädliche Wirkung entfalten
kann. Das Abtauen des Eises führt nicht nur zu Besorg-
nis, sondern weckt auch Begehrlichkeiten. Neue Schiff-
fahrtsrouten werden möglich, neue Zugänge zum Fest-
land werfen auch sicherheitspolitische Fragen auf.
Ressourcen, die überhaupt erst durch den Klimawandel
verfügbar werden, sollen ausgebeutet werden, was wie-
derum den Klimawandel verstärkt. Das kann man ge-
trost als Wahnsinn bezeichnen.
Will man die globale Erwärmung auf maximal 2 Grad
Celsius begrenzen, so kann dies nur durch eine Abkehr
der fossilen Wirtschaft geschehen und ganz sicherlich
nicht dadurch, dass die gewaltigen fossilen Ressourcen,
die in der Arktis vermutet werden, nun auch noch ausge-
beutet werden. Ein Arktis-Vertrag, der diese wirtschaft-
liche Ausbeutung verhindert, ist für eine erfolgreiche
Klimapolitik absolut notwendig und auch zum Schutz
der arktischen Biodiversität unabdingbar. Die Bundes-
regierung muss sich hier klar positionieren. Das gehört
auch zu einer glaubwürdigen internationalen Klimapoli-
tik. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal
an die Bilder der Bundeskanzlerin erinnern, die sich mit
roter Rettungsweste vor den Eisbergen Grönlands als
„Klimakanzlerin“ fotografieren lassen hat. Von Rettung
bisher keine Spur. Es ist endlich an der Zeit, konkret
etwas für die Polarregion zu tun. Wir brauchen eine
Arktis-Politik, die sich nicht von Handels- und Ressour-
ceninteressen leiten lässt, sondern den Umwelt- und
Klimaschutz in den Mittelpunkt stellt. Wir brauchen ei-
nen Arktis-Vertrag, der den Herausforderungen des fort-
schreitenden Klimawandels und des Schwundes der
Biodiversität Rechnung trägt. Dabei kommt auch der
indigenen Bevölkerung eine tragende Rolle zu, und die
Wahrung ihrer Rechte muss ein zentraler Bestandteil der
Arktis-Politik sein.
Retten und schützen kann man nur, was man auch
kennt. Unser Wissen über die Arktis verdanken wir der
Polarforschung, die besonders in Deutschland einen
guten Ruf hat. Es gilt, diesen zu bewahren und die For-
scherinnen und Forscher in ihren Bemühungen um ein
besseres Verständnis dieses Lebensraumes und seiner
Bedeutung bei den Abläufen des Klimawandels zu unter-
stützen. Insbesondere auch die internationale Vernet-
zung und Zusammenarbeit muss noch verstärkt werden.
Doch Forschung und Verständnis der Region und ih-
rer Prozesse alleine können die Arktis nicht retten. Die
Politik muss die Forschungsergebnisse ernst nehmen
und konkrete Maßnahmen treffen, damit der Club of
Rome mit seiner wahrhaft düsteren Prognose für das
Jahr 2052 nicht recht behält: eine eisfreie Arktis und ein
zerstörtes Ökosystem mit schwerwiegenden Konsequen-
zen für den ganzen Planeten.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/9722, den Antrag der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/5228 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind dieKoalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sind die Frak-tionen der Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grü-nen. Enthaltungen? – Das ist die Fraktion Die Linke. DieBeschlussempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 30 b: Der Ausschuss für Um-welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
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21654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 181. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Mai 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7987,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/6499 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-nen. Gegenprobe? – Das sind alle drei Oppositionsfrak-tionen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? – Keine. Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nichtglauben, aber es ist so: Wir sind damit am Schluss unse-rer heutigen Tagesordnung.
Ich darf Sie auch überraschen: Ich berufe die nächsteSitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag,25. Mai 2012, bereits um 8.30 Uhr, ein.Wir sehen uns in alter Frische.Die Sitzung ist geschlossen.