Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich be-grüße Sie alle herzlich. Es gibt keine besonderen Vor-kommnisse, folglich auch keine Mitteilungen, die vorEintritt in die Tagesordnung erfolgen müssten, sodassich gleich Tagesordnungspunkt 1 aufrufen kann:Befragung der BundesregierungZwischen den Fraktionen ist vereinbart worden, dassfür die Befragung heute insgesamt 45 Minuten zur Ver-fügung stehen. Dies behandeln wir wie immer mit dergebotenen Flexibilität, je nachdem, wie sich der Frage-bedarf entwickelt.Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Verbesse-rung der Rechte von Patientinnen und Patienten.Das Wort für die einleitenden, je fünfminütigen Be-richte haben zunächst die Bundesministerin der Justizund anschließend der Bundesgesundheitsminister. FrauLeutheusser-Schnarrenberger, bitte.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Recht herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Das Bundeskabinett hat heuteeinen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Rechte vonPatientinnen und Patienten beschlossen. Dieses Vorha-ben beschäftigt den Bundestag schon viele Jahre, eigent-lich die letzten 20 Jahre.Diese Bundesregierung legt zu diesem Thema erst-mals einen Gesetzentwurf vor, der sich – das ist meinAnteil an diesem Gesetzentwurf – mit einer Kodifizie-rung des Behandlungsvertrages zwischen dem Behan-delnden, also dem Arzt, dem Psychotherapeuten odereinem anderen Behandelnden einerseits, und dem Pa-tienten andererseits befasst. Dies wird im BürgerlichenGesetzbuch festgeschrieben, und zwar in der Form, dasssich Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag im Gesetzausdrücklich wiederfinden. Das gibt nicht nur Rechts-sicherheit, sondern schafft auch Transparenz; vor allenDingen stärkt es die Stellung von Patientinnen und Pa-tienten. Wenn die Patientinnen und Patienten nämlichwissen, dass sie umfassend informiert und über dieBehandlungen aufgeklärt werden müssen, dass Wesentli-ches bezüglich Diagnose, Therapie, mögliche Behand-lungen und Untersuchungen in der Patientenakte festge-halten sein muss und sie ein Einsichtsrecht haben, stärktdas ganz klar ihre Position. Der Patient steht damit demBehandelnden auf Augenhöhe gegenüber; er bringt ge-genüber dem Arzt auch kein Misstrauen zum Ausdruck,wenn er gesetzlich festgelegte Rechte wahrnimmt, Ein-sicht in seine Patientenakte nimmt und Abschriften ausdieser Akte verlangt.Über 60 Prozent der Patientinnen und Patienten wis-sen über ihre Rechte nicht Bescheid. Deshalb ist es zumeinen dringend geboten, die Rechte, die sich in den letz-ten Jahren ergeben haben, in das Gesetz zu schreiben,zum anderen aber auch deutlich zu machen, dass wirüber die bisherige Entwicklung der Rechtsprechung hi-nausgehen, zum Beispiel bei den Informationspflichten.Ein ganz wichtiger Punkt für Patienten ist natürlich,wie die Regelungen zur Haftung bei Behandlungsfehlernaussehen. Solche Fehler treffen einen Patienten beson-ders; denn er hat nicht nur eine Behandlung über sich er-gehen lassen müssen, sondern muss auch mit den Folgeneiner möglicherweise fehlerhaften Behandlung kämpfen.Grundsätzlich geht das BGB beim Haftungsrecht davonaus, dass derjenige, der Forderungen geltend macht, Be-weise dafür erbringen muss. Aber diesen Grundsatzhaben wir – auf der Grundlage der sich immer weiterent-wickelnden Rechtsprechung – so nicht ins Gesetz über-nommen. Vielmehr gibt es bei der Geltendmachung vonAnsprüchen eine Verlagerung der Risiken zwischen Pa-tient und Arzt, wobei stärkeres Haftungsrisiko auf denbehandelnden Arzt verlagert wird, juristisch gesprochenalso eine Beweislastumkehr für bestimmte Fälle stattfin-det. Bei den sogenannten groben Behandlungsfehlernmuss der Arzt zukünftig beweisen, dass die Behandlungordnungsgemäß erfolgt ist. Das Gleiche gilt für Berei-che, in denen der Patient selbst nicht die nötige Einsichthat, nämlich das beherrschbare Risiko eines Behandeln-den im Operationssaal oder im Behandlungszimmer im
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Hinblick auf die eingesetzten Geräte. Auch hier liegt dieBeweislast bei dem Behandelnden und nicht beim Pa-tienten. Das soll den Patienten darin bestärken, Ansprü-che geltend zu machen, wenn er eine fehlerhafte Be-handlung vermutet.Im zweiten Teil des Gesetzentwurfs, der sich unteranderem mit den Fragen von Fehlervermeidungsma-nagement und Strukturverbesserung befasst, sind weiterewichtige Punkte hierzu enthalten. Das ist jedoch der Partdes Bundesgesundheitsministers.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Herr Minister Bahr.
Zunächst einmal möchte ich an das anschließen, was
die Bundesjustizministerin gesagt hat: Dieses Gesetz ist
Ausdruck einer jahrzehntelangen Debatte. Es ist ein gu-
tes Gesetz für die Patientinnen und Patienten. Die Bun-
desregierung setzt damit ihre Politik fort, die Patienten
in diesem Bereich zu stärken. Insbesondere werden die
Rechte der Patientinnen und Patienten gegenüber den
Leistungserbringern sowie die Rechte bei Verfahren um
Behandlungsfehler gestärkt. Wir wollen eine Fehlerver-
meidungskultur fördern sowie die Patientenbeteiligung
und die Patienteninformation stärken. Unser Leitbild ist
der mündige Patient.
Das in Deutschland besondere Verhältnis zwischen
Patient und Arzt gilt es weiterhin zu schützen. Ziel soll
sein, dass der Patient dem Arzt möglichst auf Augen-
höhe gegenübertritt und seine Rechte kennt.
Es ist auch vorgesehen, dass der Patient bzw. der Ver-
sicherte gegenüber der Krankenversicherung seine
Rechte und Ansprüche besser geltend machen kann. Uns
erreichen immer wieder Briefe, in denen sich Versicherte
darüber beschweren, dass Entscheidungen der Kranken-
versicherung häufig lange dauern und verzögert werden.
Der Versicherte ist gegenüber seiner Krankenversiche-
rung kein Bittsteller, sondern er hat Rechte und An-
sprüche. Wir gehen davon aus, dass nunmehr mit einer
zügigeren Entscheidung im Sinne der Versicherten und
Patienten zu rechnen ist, da ein Ausbleiben der Entschei-
dungen seitens der Krankenkassen sanktioniert werden
kann. So kann der Patient, wenn er nicht innerhalb von
drei bzw. fünf Wochen, wenn der Medizinische Dienst
hinzugezogen worden ist, eine Entscheidung der Kran-
kenkasse mitgeteilt bekommen hat, eine angemessene
Nachfrist setzen. Danach kann er sich die infrage ste-
hende Leistung selbst beschaffen und der Krankenversi-
cherung in Rechnung stellen.
Weiterhin sind Kranken- und Pflegekassen künftig
verpflichtet, ihre Versicherten bei der Durchsetzung von
Schadensersatzansprüchen bei Behandlungsfehlern zu
unterstützen. Wie kann eine solche Unterstützungsleis-
tung aussehen? Eine Krankenkasse kann beispielsweise
die Beweisführung des Versicherten erleichtern, indem
sie ein medizinisches Gutachten erstellt. Das ist für die
Praxis sehr wichtig. Denn viele Versicherte, die den Ver-
dacht auf einen Behandlungsfehler haben, wissen nicht,
an wen sie sich wenden können und welche Rechte sie
als Patienten haben. Jetzt können sie sich an ihre
Krankenkasse wenden. Diese ist verpflichtet, dem Versi-
cherten zu helfen, entsprechende Stellen zu benennen,
Informationen und gegebenenfalls ein Gutachten zur
Verfügung zu stellen.
Wichtig ist aber: Im Gesundheitswesen arbeiten Men-
schen; da können Fehler passieren. Ziel ist es, so weit
wie möglich Fehler zu vermeiden. Dazu brauchen wir
aber eine offene Fehlervermeidungskultur gerade im Ge-
sundheitswesen in Deutschland. Wir begrüßen es, dass
sich ärztliche Organisationen und mittlerweile auch an-
dere Organisationen dieser Diskussion offen stellen. Aus
Fehlern kann man lernen, um sie das nächste Mal zu ver-
meiden und Konsequenzen daraus zu ziehen. Mit dem
Patientenrechtegesetz fördern wir, dass in der medizini-
schen Versorgung Fehlervermeidungssysteme etabliert
werden und so Fehler gar nicht erst auftreten. So können
zum Beispiel Krankenhäuser Vergütungszuschläge er-
halten, wenn sie ein Fehlervermeidungssystem imple-
mentieren. Außerdem soll in den Krankenhäusern ein
Beschwerdemanagement eingerichtet werden, damit
Versicherte und Patienten ihre Ansprüche besser geltend
machen können.
Auch der Patientenbeauftragte der Bundesregierung
wird im Gesetzentwurf gestärkt. Er wird künftig eine
umfassende Übersicht über die geltenden Patienten-
rechte zur Information der Bevölkerung bereithalten.
Uns geht es beim Patientenrechtegesetz darum, die
bereits bestehenden Rechte der Patienten zu bündeln, zu
erweitern und damit zu stärken. Unser Leitbild ist der
mündige Patient, der selbst entscheiden kann, der seine
Rechte und Pflichten kennt und Ansprüche stellt, anstatt
als Bittsteller gegenüber Leistungsträgern aufzutreten.
Mit diesem Gesetz wollen wir vor allen Dingen eine
Kultur des Vertrauens im Gesundheitswesen etablieren.
Zwischen Arzt bzw. Behandler und Patienten braucht es
ein besonderes Vertrauensverhältnis, um die bestmögli-
che medizinische Versorgung der Patienten zu erreichen.
Vielen Dank. – Ich habe eine Reihe von Wortmeldun-
gen, die ich jetzt der Reihe nach aufrufe. Zunächst Frau
Dr. Volkmer.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Schon im Vorfeld die-ses Gesetzes, also seit mehr als zwei Jahren, wurden beiPatientinnen und Patienten viele Erwartungen geweckt,insbesondere wie die Situation der Patientinnen und Pa-tienten beim Umgang mit Behandlungsfehlern verbes-sert werden kann. Der heute vorgelegte Gesetzentwurfbeinhaltet Regelungen, die bereits heute Anwendungfinden. Dass bei groben Behandlungsfehlern eine Be-weislastumkehr gelten soll, wie die Ministerin der Justizausgeführt hat, ist ja schon heute gängige Vorgehens-weise vor Gericht. Das Problem ist nur, dass grobe Be-handlungsfehler selten attestiert werden.
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Dr. Marlies Volkmer
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Im Vorfeld ist sowohl vom Patientenbeauftragten,Herrn Zöller, als auch vom stellvertretenden Fraktionsvor-sitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Herrn Singhammer,ein Entschädigungsfonds für Härtefälle ins Gespräch ge-bracht worden. Auch die Gründung einer Stiftung warim Gespräch. Dazu ist im Gesetzentwurf nichts zu fin-den. Warum ist das so?
Frau Kollegin Volkmer, ich halte die Beschränkung
auf grobe Behandlungsfehler für genau richtig. Wenn
wir eine generelle Beweislastumkehr vornehmen wür-
den, dann müsste ein Behandler bei jedem Fall darlegen
und begründen können, dass er alles richtig gemacht hat.
Das würde zu einem enormen Dokumentationsaufwand
führen. Ich hätte die Sorge, dass dadurch amerikanische
Verhältnisse entstünden, nämlich dass der Arzt als Erstes
an seine Versicherung denkt und sich davor scheut, Risi-
ken einzugehen. Wir brauchen aber eine offene Fehler-
vermeidungskultur und keine Risikovermeidungskultur;
denn der Arzt sollte das Bestmögliche tun, um dem Pa-
tienten zu helfen.
Eine ähnliche Sorge treibt mich bezüglich der Ein-
richtung eines Entschädigungsfonds um. Derjenige, der
den Schaden verursacht, muss dafür zur Verantwortung
gezogen werden. Es ist nicht die Aufgabe der Solidarge-
meinschaft, denjenigen, der den Schaden verursacht hat,
aus der Verantwortung zu nehmen. Dafür sollten keine
Beitragsgelder verwendet werden. Für heute Nachmittag
wurde eine Aktuelle Stunde zum Thema Schuldenkrise
vereinbart; da sieht man ebenso diese unterschiedlichen
Haltungen. Für uns gilt bezüglich der Schuldenkrise das
Prinzip, dass der Verursacher verantwortlich ist und
nicht die Allgemeinheit dafür herangezogen werden
darf. Wir wollen daher keinen Entschädigungsfonds. Wir
hätten außerdem die große Sorge, dass daraus neue Bü-
rokratie entsteht: Antragsverfahren mit eigenen Krite-
rien, die regeln, wer Geld aus dem Entschädigungsfonds
bekommt. Das ist aus unserer Sicht nur zusätzliche Be-
lastung, zusätzlicher Aufwand und nicht im Sinne einer
wirklichen Stärkung der Rechte der Patienten.
Frau Vogler.
Vielen Dank, Herr Minister, Frau Ministerin. – Ich
finde, man muss diesen Gesetzentwurf auch einmal un-
ter der Perspektive betrachten, aus welcher Ecke er den
meisten Beifall bekommt. Wir haben gehört, dass der
Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Frank Ulrich
Montgomery, gesagt hat, der Gesetzentwurf entspreche
im Wesentlichen dem, was er mit dem Patientenbeauf-
tragten der Bundesregierung abgesprochen habe. Von
Patientinnen- und Patientenorganisationen hingegen hö-
ren wir nicht, dass der Gesetzentwurf im Wesentlichen
das enthalte, was sie mit der Bundesregierung abgespro-
chen bzw. von der Bundesregierung erwartet haben.
Deswegen frage ich Sie: Warum verschließen Sie sich
weiterhin einer weiter reichenden Beweiserleichterung
für Patientinnen und Patienten – ich will nicht von Be-
weislastumkehr sprechen, sondern von Beweiserleichte-
rung –, einer Reform des Gutachterwesens, das es den
Patientinnen und Patienten überhaupt erst ermöglichen
würde, mit den behandelnden Ärzten auf Augenhöhe zu
sein, einer Regulierung der individuellen Gesundheits-
leistung – dieses Thema geht ja momentan auch wieder
durch die Presse –, einer Reform der Schlichtungsstel-
len, die mehr Raum für die Interessen der Patientinnen
und Patienten verschaffen, sowie besseren Mitwirkungs-
möglichkeiten von Patientinnen und Patienten in den
entsprechenden Gremien? All das wäre meiner Ansicht
nach wichtig gewesen.
Ich gehe davon aus, dass sich die Regierung selbstkoordiniert und Sie sich jeweils darüber verständigen,wer die Frage beantwortet.
Notfalls stehe ich für Streitschlichtungen zur Verfügung.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Wunderbar. Das wird aber nicht notwendig sein. Ei-nige der gerade gestellten Fragen fallen natürlich in denZuständigkeitsbereich von Herrn Bahr, aber ich möchtegrundsätzlich sagen: Wir haben diesen Gesetzentwurfmit niemandem in irgendeiner Form vorher abgespro-chen.
Wir haben im Vorfeld keine Forderungen aufgenommenoder einer Seite Zugeständnisse gemacht. So ist der Ge-setzentwurf nicht entstanden.
Das Ziel, das wir mit diesem Gesetzentwurf verfolgen,ist vielmehr, den Patienten die Möglichkeit zu geben, ih-rem Behandelnden auf Augenhöhe gegenüberzutreten.Das ist ein wichtiges Anliegen, und das gelingt. Daswird einmal deutlich, wenn man sich ansieht, welche Re-gelungen wir hinsichtlich Informationspflichten, Einwil-ligung, Aufklärungspflichten, Dokumentation in der Pa-tientenakte und des Rechts zur Einsichtnahme in diePatientenakte in diesen Gesetzentwurf aufgenommen ha-ben. Vor allen Dingen wird das aber deutlich, wenn mansich die Regelung anschaut, die greift, wenn Dinge, diebesprochen worden sind, sich nicht in der Patientenaktewiederfinden: Daraus sollen Vermutungen zugunsten derPatienten und zulasten der Ärzte abgeleitet werden. Beidiesem Gesetzentwurf werden natürlich die unterschied-lichen Interessen in den Blick genommen; das muss beijedem Gesetzgebungsvorhaben der Fall sein. Es gibtaber keineswegs eine einseitige Ausrichtung.
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Wir konzentrieren uns bei diesem Gesetzentwurf– das gilt insbesondere für die vorgesehenen Änderun-gen im Bereich des BGB – auf die drängenden Fragenund auf das, was sich grundsätzlich in unser Haftungs-recht – deliktisch oder vertraglich – einfügen lässt. EinFonds, der Ärzte entlastet, der durch die Hintertür eineGemeinschaftshaftung der Versicherten einführen würde,passt nicht in unsere Rechtsordnung. Deshalb haben wirnach intensiver Erörterung mit diesem Gesetzentwurf ei-nen solchen Weg nicht beschritten.
Darf ich noch einmal an unser Zeitregime erinnern?
Die Lichtsignale bieten eine Orientierungshilfe für die
Annäherung an die Minutengrenze. Dies ist ja keine De-
batte, sondern eine Fragestunde.
Die nächste Frage hat der Kollege Erwin Rüddel.
Herr Präsident! Wir sind froh, dass diese Koalition
nach zehn Jahren Diskussion dieses Projekt jetzt ab-
schließend auf den Weg gebracht hat. Im Gesetzentwurf
wird von effektiv durchsetzbaren und ausgewogenen
Rechten gesprochen. Ich bitte darum, diese Rechte etwas
zu konkretisieren: Sind Sie der Meinung, dass die
Rechtsstellung des Patienten gegenüber seiner Kranken-
kasse ausreichend ausgeprägt ist? Wie wollen Sie sicher-
stellen, dass durch diese Gesetzesinitiative das Ver-
trauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht in
Mitleidenschaft gezogen wird?
Sie haben eben die Fehlervermeidungskultur ange-
sprochen, die im Zentrum dieses Gesetzentwurfs steht.
Könnten Sie auch hierzu noch detailliertere Ausführun-
gen machen?
Herr Kollege, zum ersten Teil Ihrer Frage: Wir stär-
ken die Rechte der Versicherten gegenüber ihrer Kran-
kenversicherung durch geeignete Fristsetzung. Eine
Krankenkasse muss bei einer Leistung, die einer Bean-
tragung bedarf, innerhalb einer Frist eine Entscheidung
treffen, damit der Versicherte nicht lange im Unklaren
gelassen wird. Das habe ich eben beschrieben. Uns errei-
chen viele Schreiben, in denen sich Versicherte darüber
beschweren, dass Entscheidungen zu lange dauern. Eine
geeignete Sanktion ist beispielsweise, dass der Versi-
cherte sich die Leistung selbst beschaffen und der Kran-
kenversicherung in Rechnung stellen kann, sofern inner-
halb der Frist keine Entscheidung getroffen wurde.
Zum zweiten Teil: Uns ist wichtig, dass zwischen Pa-
tient und Arzt eine Kultur des Vertrauens herrscht und
nicht eine Kultur des Misstrauens. Insofern sage ich, an-
knüpfend an die Frage von Frau Vogler: Es bringt nichts,
Ärzte unter Generalverdacht zu stellen und sie gegen die
Patienten zu stellen. Beide, Patient und Arzt, wollen ein
gutes Verhältnis haben. Der Patient möchte möglichst
schnell gesunden und eine gute Behandlung bekommen.
Mehr Dokumentationspflichten würden den Arzt mögli-
cherweise mit mehr Bürokratie belasten, wodurch er we-
niger Zeit für den Patienten hätte.
Schließlich: Fehlervermeidungskultur heißt, dass of-
fen mit Fehlern umgegangen wird, dass in Selbstverwal-
tung geeignete Instrumente gewählt werden. Wir sehen
beispielsweise vor, dass Krankenhäuser Zuschläge bei
der Vergütung erhalten können, wenn sie ein Instrument
zur Fehlervermeidung in ihren Arbeitsablauf integrieren.
Frau Klein-Schmeink, bitte.
Ich habe eine Frage an Frau Leutheusser-
Schnarrenberger. Sie haben die Aufklärungspflichten,
die Informationspflichten besonders hervorgehoben. Ich
frage Sie, wie Sie diese Aussagen damit vereinbaren
können, dass in Ihrem Gesetzentwurf keine Regelungen
vorgesehen sind, um den barrierefreien Zugang zu Infor-
mationen und Aufklärung sicherzustellen. In der Be-
gründung wird beispielsweise darauf abgehoben, dass es
keinen kostenfreien Zugang zu Dolmetscherleistungen
gibt. Wie ist das mit Ihrem Anspruch auf umfassende
Aufklärung und Information zu vereinbaren? Welche an-
deren Regelungen im Sinne der UN-Konvention schla-
gen Sie ansonsten vor?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Wir haben unter „Aufklärungspflichten“ in § 630 e
BGB-E ausgeführt, dass die Aufklärung mündlich durch
den Behandelnden oder eine Person, die zu dieser Be-
handlung oder zu diesem Eingriff befähigt ist, durchzu-
führen ist. Das impliziert doch ganz eindeutig, dass die
Aufklärung in der Art und Weise erfolgen muss, dass der
Empfänger, also der Patient – Aufklärung muss empfän-
gerorientiert erfolgen –, in der Lage ist, diese Infor-
mationen und Aufklärung zu verfolgen. Wenn es auf
Empfängerseite, also bei dem Patienten, eine Beein-
trächtigung des Hörens oder andere Beeinträchtigungen
der Wahrnehmung gibt – ich sage das jetzt so nüchtern –,
dann ist ganz klar – so impliziert es § 630 e Abs. 2 –,
dass eine umfassende Aufklärung des Patienten in einer
entsprechenden Art und Weise zu erfolgen hat; denn der
Patient muss wissen, was ihn möglicherweise erwartet.
Nur so ist diese Verpflichtung erfüllt.
Herr Präsident, darf ich ergänzen?
Kollege Bahr möchte noch ergänzen. Bitte schön.
Ich würde gern ergänzen, Frau Klein-Schmeink. Wirhaben im Kabinettsentwurf der Forderung von Patien-tenorganisationen nach einer stärkeren Berücksichtigungder UN-Behindertenrechtskonvention explizit Rechnunggetragen. Im Gesetzentwurf – Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat darauf hingewiesen – steht das Wort„verständlich“. In der Begründung – Sie nannten dasBeispiel eines Gebärdendolmetschers – haben wir dies
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Bundesminister Daniel Bahr
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explizit aufgegriffen und erwähnt, dass die insoweit be-stehende Kostenübernahme der Sozialleistungsträger ge-mäß § 17 Abs. 2 SGB I auch für den Fall gilt, dass beieinem hörbehinderten Patienten ein Gebärdendolmet-scher hinzugezogen werden muss. Die Frage, ob ein Ge-bärdendolmetscher in Anspruch zu nehmen ist, ist alsogeregelt, und zwar explizit im Gesetzeswortlaut durchdas Wort „verständlich“, aber auch durch entsprechendeErwähnung in der Begründung.
Frau Reimann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie ha-
ben ausgeführt: Die Kosten, die durch das Verschulden
Einzelner entstehen, sollten nicht durch einen Fonds ab-
gedeckt werden. Die Realisierung der Haftung – die
Ministerin hat dies angesprochen – spielt eine große
Rolle für den Patienten. Deswegen frage ich nach der
Berufshaftpflicht, die sehr unterschiedlich gestaltet ist.
Im Patientenrechtepapier der Länder und auch in dem
Papier der Kollegen der Union fand sich deshalb die For-
derung, eine bundeseinheitliche Berufshaftpflicht zu eta-
blieren. Ich frage: Warum haben Sie das nicht aufgenom-
men?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Wir haben eine Verteilung der Zuständigkeiten zwi-
schen Bund und Ländern. Für diesen Bereich sind die
Länder zuständig. Wir haben das in den bisherigen Ge-
sprächen bei der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs na-
türlich angesprochen und auch an die Länder herangetra-
gen; denn wir teilen diese Zielrichtung. Es wäre gut,
wenn es zwischen den Ländern abgestimmte, möglichst
einheitliche Berufshaftpflichtregelungen geben würde.
Von daher wäre es sehr gut, wenn wir im Laufe des Ge-
setzgebungsverfahrens, vielleicht schon bei der ersten
Stellungnahme des Bundesrates, von den Ländern hören
würden, dass sie willens und bereit sind, hier einen tat-
kräftigen Beitrag zu leisten.
Frau Dyckmans, bitte.
Frau Ministerin, könnten Sie noch einmal genau dar-
legen, in welcher Form dieser Gesetzentwurf Hilfe für
Patientinnen und Patienten bei der Wahrnehmung ihrer
Rechte vorsieht, wenn Behandlungsfehler eingetreten
sind, insbesondere in dem Fall, wenn man wirklich von
Ärztepfusch reden kann?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Liebe Frau Kollegin, im Gesetzentwurf sind, korres-
pondierend mit den Pflichten des Behandelnden zur In-
formation und Aufklärung, auch die Rechte der Patien-
ten auf Einsichtnahme in die Patientenakte geregelt und
damit auch das Recht auf Einsichtnahme in das, was do-
kumentiert ist: zum Beispiel das Beratungsgespräch und
die Maßnahmen, die möglicherweise ergriffen werden
sollten. Wir haben das in einem Paragrafen sehr ausführ-
lich aufgeführt. Anamnese, Diagnose, Untersuchungen,
Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre
Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen sind demzu-
folge in die Patientenakte aufzunehmen. Hier besteht ein
Akteneinsichtsrecht. Das stärkt die Patienten. Es handelt
sich ja um ein Recht; die Patienten müssen, wenn sie da-
von Gebrauch machen, kein schlechtes Gewissen haben.
Sie sind, wie Herr Kollege Bahr sagte, nicht Bittsteller.
Bei der Haftung, glaube ich, darf man nicht unter-
schätzen, dass jetzt im Gesetzentwurf steht – das ist in
unserem Haftungsrecht nicht die Regel –, dass in be-
stimmten Fällen die Beweislastführung auf den Behan-
delnden übergeht. Darüber, dass es dabei im Einzelfall
um schwierige Fragen geht, brauchen wir uns überhaupt
nicht zu unterhalten. Aber dass das ausdrücklich festge-
legt ist, zeigt: Das ist nicht nur etwas, was die Rechtspre-
chung entwickelt, sondern es ist ein Bestandteil und soll
auch Grundlage für das sein, was weiterführende Recht-
sprechung nach sich ziehen kann.
Ich glaube, das alles stärkt den Patienten, auch gegen-
über dem Behandelnden. Da gibt es eben keinen Halb-
gott in Weiß. Vielmehr wird auf Augenhöhe über ganz
wichtige Themen gesprochen, die den Patienten unmit-
telbar betreffen.
Kollege Lemme.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Frage richtet
sich an Herrn Minister Bahr. Sie hatten ja im Vorfeld der
Erarbeitung des Gesetzentwurfes die Absicht, die Rechte
der Patientenvertreter, also die Kollektivrechte, im G-BA
zu stärken; die Patientenvertreter sollten stärker einge-
bunden werden, auch in Verfahrensabläufe. Das ist nun
nicht geschehen. Warum haben Sie die Rechte der Pa-
tientenvertreter nicht gestärkt?
Außerdem möchte ich fragen: Wo ist eigentlich Herr
Zöller?
Zunächst einmal: Ich bin nicht für den Terminplanvon Herrn Zöller zuständig. Weil ich mit ihm telefonierthabe, kann ich Ihnen aber versichern: Er ist heute er-krankt und kann deswegen nicht an dieser Sitzung teil-nehmen.
Er lässt sich entschuldigen. Ich weiß ihn allerdings anunserer Seite. Er hat dieses Vorhaben sehr unterstützt,
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Bundesminister Daniel Bahr
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auch heute öffentlich. Ich bin sehr dankbar für die Ar-beit, die der Patientenbeauftragte für das Patientenrech-tegesetz geleistet hat.Ich kann mich an eine Äußerung, in der ich zugesi-chert habe, dass die Verfahrensrechte der Patientenver-treter im Gemeinsamen Bundesausschuss verändert wer-den, nicht erinnern. Ich halte das auch nicht für sinnvoll.Nach all den Erfahrungen, die wir im GemeinsamenBundesausschuss gemacht haben, werden die Patienten-vertreter sehr gut berücksichtigt und in die Diskussioneingebunden. Bei den meisten Entscheidungen – das be-stätigt auch der unparteiische Vorsitzende – würden diePatientenvertreter, wenn sie Stimmrecht hätten, keineandere Entscheidung treffen.Aber: Der Gemeinsame Bundesausschuss trifft Ent-scheidungen, die den Leistungskatalog der gesetzlichenKrankenversicherung betreffen und die ansonsten derGesetzgeber treffen müsste. Dafür braucht es eine Legi-timation der Vertreter im Gemeinsamen Bundesaus-schuss, die ein Stimmrecht haben. Das sind die Vertreterder Krankenversicherten, die Krankenkassen, und dieVertreter der Ärzte und Krankenhäuser, also Vertretervon Organisationen, in denen überwiegend eine Pflicht-mitgliedschaft besteht und die insofern legitimiert sind.Die Patientenvertreter stammen nicht aus Organisatio-nen, in denen eine Pflichtmitgliedschaft besteht. Insofernist es auch richtig, dass sie kein Stimmrecht haben undsomit keine Entscheidung beeinflussen können. Jedochsollen sie beteiligt werden. Ihre Einbindung wird ge-stärkt; das ist so. Die Patientenvertreter werden an derArbeit weiterer Gremien beteiligt, beispielsweise wennes um die Bedarfsplanung auf Landesebene geht. Ein ei-genes Stimmrecht wird aus meiner Sicht dem Charakterdes Gemeinsamen Bundesausschusses und der Legitima-tion der Entscheidung aber nicht gerecht – auch nicht eineigenes Stimmrecht in Verfahrensfragen.
Frau Bunge.
Danke, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren
der Bundesregierung, auch meine Kontakte zu den Pa-
tientenverbänden zeigen, dass nach deren Einschätzung
dieser Gesetzentwurf seinen Namen nicht verdient.
Etliches ist schon angesprochen worden. Ich möchte
aber noch ganz kurz zu einer weiteren Frage kommen.
Ich möchte auf die Ankündigungen von Herrn Zöller
eingehen, auf die sich natürlich auch Erwartungen grün-
den. Eine dieser Erwartungen bezieht sich darauf, dass
im Zusammenhang mit dem Brustimplantateskandal im
Frühjahr dieses Jahres viel davon gesprochen wurde, die
Medizinproduktesicherheit zu steigern und die Haftung
patientenfreundlicher zu handhaben. Die Linke plädiert
dafür, den Selbstverschuldungsparagrafen abzuschaffen.
Wenn man nicht so weit gehen will, sollte man in diesen
Fällen die Patienten zumindest nicht mehr an den Kosten
der notwendigen Behandlung beteiligen. Das findet sich
in diesem Gesetzentwurf nicht wieder. Daher frage ich
Sie: Warum nicht? Wo sonst soll so etwas geregelt wer-
den?
Zunächst einmal wird eine Behauptung durch bloße
Wiederholung nicht richtiger. Auch heute können Sie
den Tickermeldungen entnehmen, dass Patientenorgani-
sationen den Gesetzentwurf durchaus gelobt haben, ge-
nauso wie Ärzteorganisationen und andere Beteiligte.
Sie tragen auch Punkte vor, die durch den Gesetzentwurf
geändert werden sollten. Das ist im politischen Diskus-
sionsprozess völlig normal. Deswegen gibt es auch An-
hörungen, in denen jeder noch einmal seine Anregungen
einbringen kann. Insofern stimmt Ihre These nicht. Im
Gegenteil: Patientenorganisationen freuen sich, dass
endlich ein Patientenrechtegesetz im Entwurf vorliegt
und wir an dieser Stelle unser Versprechen gehalten ha-
ben. Ich habe im Übrigen darauf gewettet, dass wir das
machen werden. Diese Wetten habe ich jetzt gewonnen.
Zum Inhaltlichen: Die Erfahrungen aus dem Skandal um
die PIP-Brustimplantate in Frankreich zeigen, dass es krimi-
nelles Handeln gibt. Das muss bestraft werden. Da müssen
die Betreffenden auch zur Verantwortung gezogen werden.
In der letzten Legislaturperiode ist im Sozialgesetz-
buch V die Regelung geschaffen worden, dass bei sol-
chen Leistungen, die medizinisch nicht notwendig waren
und die aufgrund eines Wunsches des Versicherten
durchgeführt worden sind, der Versicherte bei späteren
Komplikationen zu einer angemessenen Eigenbeteili-
gung herangezogen werden kann. Die Krankenkassen
können diese Regelung in Anspruch nehmen. Alle Er-
fahrungen und alle im Moment geführten Debatten zei-
gen uns, dass mit dieser Regelung sehr sorgsam umge-
gangen wird. Es gibt Krankenkassen, die generell darauf
verzichten, und andere Krankenkassen, die sich das im
Einzelfall anschauen. Wir haben keinen Anlass, diese
Regelung im Sozialgesetzbuch V wieder aufzuheben,
wie Sie es gerade gefordert haben.
Frau Kollegin Bas.
Vielen Dank. – Ich würde gerne noch bei den Medizin-
produkten bleiben. Beim Brustimplantateskandal ist deut-
lich geworden, dass selbst dann, wenn der Arzt richtig ope-
riert hat, Probleme beim Patienten dadurch entstehen
können, dass das Produkt, das verwendet wurde, schadhaft
war. Deshalb will ich nachfragen, warum zum Beispiel die
Forderungen nicht aufgenommen wurden, eine amtliche
Zulassung für Hochrisikoprodukte einzuführen, ein Regis-
ter einzurichten, das auch überwacht wird, und bei den
Herstellern von Medizinprodukten deutlich stärkere Kont-
rollen vorzunehmen. Für Patienten ist es wichtig, solche
Regelungen überhaupt erst einmal zu haben; denn sonst
kann man keine Patientenrechte daraus ableiten.
Mich wundert es sehr, dass ich in dem Gesetzentwurf
dazu nichts finde. Vielleicht können Sie noch einmal er-
läutern, wo das Berücksichtigung findet – wenn nicht im
Patientenrechtegesetz, dann möglicherweise woanders.
Zunächst einmal habe ich mich eben explizit auf dieFrage von Frau Bunge bezogen, die die Regelung der Ei-genbeteiligung im Sozialgesetzbuch V ansprach.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21409
Bundesminister Daniel Bahr
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Generell haben Sie recht. Der Skandal um die PIP-Brustimplantate hat uns allen noch einmal gezeigt, dassVeränderungsbedarf besteht. Wir wissen aber, dass dasMedizinprodukterecht europäisch geregelt ist. Da sindnationale Alleingänge nicht sinnvoll.Die Bundesregierung unterstützt ausdrücklich die nunvon EU-Gesundheitskommissar Dalli gestartete Initia-tive, bei der es darum geht, wie das Medizinprodukte-recht besser gestaltet werden kann, wie es europaweitstärker vereinheitlicht werden kann, wie Kontrolleneffektiver stattfinden können und Erkenntnisse besserausgetauscht werden können. Jetzt warten wir die kon-kreten Vorschläge der EU-Kommission ab. Wir werdenuns dort intensiv und aktiv einbringen, um Konsequen-zen aus dem Skandal zu ziehen. Das Ganze ist aber, wiegesagt, eine europäische Aufgabe. Hier liegt auch dieZuständigkeit. Die entsprechende Richtlinie wird geradeohnehin überarbeitet.Sie haben daneben die Kontrollen angesprochen. ImRahmen unserer Zuständigkeit haben wir in der Bundes-regierung auf nationaler Ebene Konsequenzen gezogen.Im Dezember 2011 haben wir den Entwurf einer All-gemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung desMedizinproduktegesetzes beschlossen. Nach Maßgabenim Bundesrat wird die Vorschrift morgen im Bundes-anzeiger veröffentlicht. Hierin ist dargestellt, wie dieÜberwachungstätigkeiten, für die in Deutschland ja dieLänder zuständig sind, gestärkt werden können; denn eszeigt sich, dass die Überwachungen verbessert werdenmüssen, anlassunabhängig sein müssen und unangemel-det erfolgen sollten.Bei den PIP-Brustimplantaten sind wir zu der Er-kenntnis gekommen: Dahinter stand kriminelle Energie.Hier war ein Hersteller tätig, der sich an bestehende Ge-setze bewusst nicht gehalten hat. Diese kriminelle Ener-gie wird man nur eindämmen können, wenn man dieÜberwachungstätigkeit verbessert. Das haben wir in derVerwaltungsvorschrift vorgesehen.
Frau Paus.
Herr Minister, Sie haben gerade darauf hingewiesen,
dass das Thema auf europäischer Ebene erstens angesie-
delt ist und zweitens jetzt auch verhandelt wird. Den-
noch würde es in Bezug auf das Thema Patientenrechte
doch sehr gut passen, wenn Sie durch den Gesetzentwurf
zumindest die Informationsmöglichkeiten verbessern
würden.
Deswegen interessiert uns sehr wohl, inwieweit si-
chergestellt wird, dass die Patientinnen und Patienten
beim Einsatz von Medizinprodukten auch Informationen
zu produktbezogener Gewährleistung und zu den Risi-
ken erhalten. Auch das – so ist jedenfalls unsere Infor-
mation – ist in Ihrem Gesetzentwurf bisher nicht vorge-
sehen, würde aber dort hineingehören. Das ist nicht nur
eine europäische Frage. Warum ist das bisher nicht ent-
halten?
Wir sehen in dem Patientenrechtegesetz ja vor, dass
die Informationspflichten, auch die des Behandlers, er-
weitert werden. Beispielsweise muss bei den individuel-
len Gesundheitsleistungen auf die Behandlungskosten
und auf mögliche Folgen hingewiesen werden. Daneben
geben wir den Patienten jetzt die Möglichkeit, Einsicht
in die Patientenakte zu erlangen, und wir haben auch In-
formationspflichten des Patientenbeauftragten und der
Krankenversicherung vorgesehen.
Insgesamt werden durch diesen Entwurf eines Patien-
tenrechtegesetzes die Informationspflichten der Behand-
ler, also auch derjenigen, die ein Medizinprodukt einset-
zen, erweitert, damit der Patient bessere Informationen
erhält.
– Das gilt natürlich auch für den Einsatz von Medizin-
produkten. Hier müssen ebenfalls entsprechende Infor-
mationen zur Verfügung gestellt werden. Auch das stärkt
der Entwurf des Patientenrechtegesetzes noch einmal
explizit.
Frau Aschenberg-Dugnus.
Vielen Dank. – Herr Präsident, vielleicht gestatten Sie
mir, dass ich an dieser Stelle die allerherzlichsten Gene-
sungswünsche an den Kollegen Wolfgang Zöller über-
mittle. Ich denke, das ist angebracht.
Mich würde interessieren – das Thema wurde gerade
schon behandelt, aber sehr auf Medizinprodukte redu-
ziert –, wie der Gesetzentwurf die Patienten unterstützt,
die sich ganz speziell über mangelnde Informationen
beim Arzt beschweren.
Wir stärken die Patienten beispielsweise dadurch,dass wir vorsehen, im Krankenhausbereich ein Be-schwerdemanagement zu implementieren, sodass sichdie Versicherten dort entsprechend beschweren und in-formieren können. Es ist auch vorgesehen, dass in denQualitätsberichten, die die Krankenhäuser veröffentli-chen, das Thema Fehlervermeidung enthalten sein soll.Daneben fördern wir durch Vergütungszuschläge,dass in Praxen und in Krankenhäusern Fehlervermei-dungsstrategien implementiert werden. Der Patient hatschon jetzt die Möglichkeit, die Krankenversicherung inAnspruch zu nehmen, wenn er Informationen zum Bei-spiel über Leistungserbringer und darüber erhalten will,wo er seine Rechte geltend machen kann und wie er sichinformieren kann.Der Versicherte erhält hier also insgesamt mehr Mög-lichkeiten, an Informationen zu kommen. Er tritt gegen-über dem Leistungserbringer möglichst auf Augenhöheauf. Das wird nie ganz gelingen, weil ein Patient nicht
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21410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Bundesminister Daniel Bahr
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die Ausbildung eines Arztes hat und somit nicht die glei-chen Informationen haben kann. Uns ist es aber wichtig,dass er möglichst viele Informationen hat und dass er vorallem weiß, wo er welche Informationen bekommt.Gleichzeitig werden die Leistungserbringer verpflichtet,möglichst viele Informationen zur Verfügung zu stellen,wie beispielsweise durch die Verpflichtung bei den indi-viduellen Gesundheitsleistungen, auch auf die zu erwar-tenden Behandlungskosten hinzuweisen. In diesemZusammenhang ist das Erfordernis der Textform imple-mentiert, sodass der Patient schriftliche Informationendarüber erhält, was er dort in Anspruch nimmt.
Frau Volkmer, bitte.
Herr Minister, Sie haben vorhin erklärt, dass Sie kei-
nen Entschädigungsfonds wollen, weil die Ärzte nicht
aus der Verantwortung entlassen werden sollen. Warum
sind Sie nicht einer Lösung nahegetreten, bei der die
Ärzte nicht aus der Verantwortung entlassen werden,
aber bei der den Patienten geholfen wird, indem zum
Beispiel der Fonds finanziell in Vorleistung geht? Wir
alle wissen, dass Prozesse, bei denen es um die Haftung
eines Arztes geht, Jahre dauern. Das führt die Patientin-
nen und Patienten abgesehen von der psychischen Belas-
tung vor allen Dingen ganz schnell an ihre finanziellen
Leistungsgrenzen.
Ich habe mich eben explizit darauf bezogen, dass es
meiner Meinung nach nicht sinnvoll ist, dass ein solcher
Fonds mit Beitragsgeldern aus der Solidargemeinschaft
der Krankenversicherten finanziert wird. Unbenommen
davon können ärztliche Organisationen selbst eine sol-
che Stiftung gründen oder einen solchen Entschädi-
gungsfonds schaffen. Es gibt schon heute eine gemein-
nützige Stiftung, die Alexandra-Lang-Stiftung, an die
sich Patienten wenden und von der sie Unterstützung
erfahren können. Diese Stiftung arbeitet sehr gut mit
Krankenkassen zusammen.
Außerdem glaube ich, dass auch Ärzte ein Interesse
daran haben, dass nicht diejenigen, die sich korrekt ver-
halten, für das Fehlverhalten eines anderen Arztes in
Haftung genommen werden. Das ist die grundsätzliche
Fragestellung. Die praktische Fragestellung ist: Nach
welchen Kriterien wird das Geld aus einem solchen
Fonds gezahlt? Diese müssen vorher festgelegt werden.
Man benötigt eine eigene Behörde, die entscheidet, ob
die Kriterien erfüllt sind. Man braucht ein Antrags-
verfahren. All das sind doppelte Verfahren.
Wenn Sie sagen, das sei ein Vorgriff auf eine Leis-
tung, die der Patient später im bestätigten Schadensfall
erhält, stellt sich natürlich umgekehrt die Frage: Was ist
denn, wenn sich im Klageweg herausstellt, dass der
Schaden nicht von dem Arzt verursacht wurde? Muss
dann der Patient das Geld an den Fonds zurückzahlen?
So gut sich das alles im Interesse des Patienten
anhört, so stellt sich doch die Frage, ob hier nicht das
Verursacherprinzip ausgehebelt wird und damit Fehl-
anreize geschaffen werden. Wir wollen, dass die Anreize
zur Fehlervermeidung so stark sind, dass es möglichst
jeder vermeidet, Fehler zu machen, und dass derjenige,
der einen Schaden verursacht, bitte schön zur Verant-
wortung gezogen wird. Risiko und Haftung müssen
zusammengehören. Der Verursacher eines Fehlers trägt
dafür die Verantwortung.
Frau Klein-Schmeink.
Sie schließen einen Härtefallfonds zum Beispiel auch
für die Fälle aus, bei denen es nachweislich einen großen
Schaden gegeben hat, aber die Ursache nicht eindeutig
zu klären ist. Es stellt sich die Frage, warum Sie nicht
wenigstens in den Fällen eine Beweiserleichterung vor-
sehen, in denen es einen Fehler und nachweislich einen
Schaden gegeben hat, in denen aber darüber hinaus der
Geschädigte nachweisen muss, dass es einen Ursachen-
zusammenhang gibt. Warum haben Sie für diese dritte
Stufe keine Erleichterung vorgesehen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Es geht gerade bei den Haftungsregelungen darum,
dass wir – deshalb orientieren wir uns daran, wie sich
das bisher in der Rechtsprechung entwickelt hat – hier
zwischen einfachen und groben Behandlungsfehlern
unterscheiden. Dabei machen wir keine Differenzierung
zwischen einem Fehler und dem eingetretenen Schaden
auf der einen Seite und der Feststellung der Ursächlich-
keit auf der anderen Seite, die dann immer auf den Arzt
oder den Behandelnden zu übertragen wäre. Das wäre
eine generelle Beweislastumkehr; denn die Ursächlich-
keit ist gerade einer der entscheidenden Punkte. Von
daher nehmen wir keine generelle Beweislastumkehr im
Bereich der Ursächlichkeit vor.
Frau Dyckmans.
Es gibt Behandlungen, deren Kosten die Kranken-kassen nicht übernehmen. Über diese Leistungen habenwir in der letzten Zeit oft diskutiert. Ist in dem Gesetz-entwurf vorgesehen, dass Patienten, die Behandlungenwählen, deren Kosten von den Krankenkassen nichtübernommen werden, Informationen darüber bekom-men, welche Kosten auf sie zukommen?Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Dieses Thema hat schon die Beratungen beherrscht.Deshalb sind wir beide hier aktiv geworden. Wir sehenim Gesetzentwurf vor, als § 630 c eine Bestimmung insBürgerliche Gesetzbuch aufzunehmen, dass im Falle vonindividuellen Leistungen, den IGeL-Leistungen, derPatient dann, wenn der Behandelnde weiß, dass eine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21411
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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vollständige Übernahme der Behandlungskosten nichtgesichert ist oder dass es berechtigte Gründe gibt, diesanzunehmen – es genügt also der Anschein, dass das sosein könnte –, vor der Behandlung über die voraussicht-lichen Kosten der Behandlung schriftlich, also in Text-form, informiert werden muss.Es gibt auch die Information auf mündlichem Wege,aber in dem Entwurf ist ausdrücklich vorgesehen, dassein Papier übergeben wird, in dem genaue Informationenüber die Kosten bzw. die Übernahme der Kosten der Be-handlung enthalten sind. Das ist etwas Neues. Das hat esbisher in der Rechtsprechung nicht gegeben. Es klangvereinzelt schon einmal an, aber daraus konnte der Pa-tient bisher kein Recht ableiten. Das Recht bekommt erjetzt mit dieser Neuregelung.
Frau Vogler, bitte.
Herr Bahr, Sie haben vorhin gesagt, dass die Einfüh-
rung eines Entschädigungs- bzw. Haftungsfonds sehr
kompliziert und mit viel Arbeit verbunden sei. Das wür-
den Sie lieber nicht angehen; Sie würden vielmehr auf
freiwillige Lösungen seitens der Ärzteschaft wie die von
Ihnen genannte Stiftung vertrauen. Könnten Sie uns viel-
leicht ungefähr sagen, wie viele Patientinnen oder Pa-
tienten bzw. Versicherte insgesamt von solchen privaten
Lösungen profitieren und welchen Vorteil aus Ihrer Sicht
die Privatisierung eigentlich staatlicher Verantwortung
für Patientinnen und Patienten im Vergleich zur Wahr-
nehmung durch die Politik hat?
Liebe Frau Kollegin, ich glaube, das ist einfach ein
Unterschied zwischen uns. Deswegen sind Sie Mitglied
der Linken, und ich bin Mitglied in einer anderen, einer
liberalen Partei. Ich bin der Meinung, dass derjenige, der
einen Schaden verursacht, auch dafür zur Verantwortung
gezogen werden muss. Sie möchten, dass alle, das heißt
die gesamte Gesellschaft, der Staat und die Versicherten,
kollektiv für die Kosten aufkommen. Da ich diesen An-
satz nicht teile – das betrifft genauso die Schulden in
Europa und andere Fragen –,
bin ich der Meinung, dass es richtig ist, dass derjenige,
der etwas falsch gemacht hat, auch zur Verantwortung
gezogen wird.
Darüber hinaus begrüße ich – das Patientenrechtege-
setz und die Debatte darüber tragen auch dazu bei –, dass
es gemeinnützige Stiftungen wie die Alexandra-Lang-
Stiftung gibt, die sich in der Bürgergesellschaft enga-
giert, um andere zu unterstützen.
Wir verankern hier – das ist eine wesentliche Verän-
derung –, dass Krankenkassen erstmals verpflichtet sind,
ihren Versicherten zu helfen, zum Beispiel durch Gut-
achtenerstellung und Information darüber, wo man Hilfe
bekommen kann. Wie ist das denn in der Praxis? Die
Fälle, in denen es zu Behandlungsfehlern gekommen ist,
zeigen, dass sich die Betroffenen alleingelassen fühlen.
Sie kennen ihre Rechte nicht und wissen nicht, wer ih-
nen hilft. Daher ist die Möglichkeit, dass sie sich an ihre
Krankenkasse wenden können, die ihnen helfen muss,
ein sehr guter Weg, der der Praxis besser entspricht, als
wenn wir ein neues Verfahren mit neuen Beantragungen,
neuen Kriterien und einer neuen Behörde, die wiederum
entscheiden muss, ob jemand Leistungen bekommt,
schaffen würden. Das würde nur viel Geld kosten und
Kapazitäten binden. Hier muss klar das Verursacherprin-
zip gewahrt bleiben.
Wir sind jetzt jenseits der vereinbarten Zeit. Ich habe
noch zwei Wortmeldungen der Kolleginnen Reimann
und Volkmer. Ich schlage vor, dass wir sie noch aufru-
fen. – Das ist offenkundig einvernehmlich. Bitte schön,
Frau Reimann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich habe noch eine
Frage zu den individuellen Gesundheitsleistungen, die
gerade schon angesprochen wurden. Verbraucherzentra-
len, Krankenkassen und auch die Ärzteschaft sind sich
einig und fordern seit langem Regularien und Regeln für
diesen Bereich der individuellen Gesundheitsleistungen.
Das geht weit über die schlichte Information über den
Preis hinaus. Es geht um Leistungen, die häufig einen
medizinisch zweifelhaften Nutzen haben. Deswegen
frage ich: Warum ist im Entwurf des Patientenrechte-
gesetzes entgegen den Ankündigungen und Forderungen
im Vorfeld keine spezifische Regelung gefunden wor-
den?
Die Ankündigungen haben wir mit dem Patienten-rechtegesetz umgesetzt. Wir haben darin Regelungen fürdie individuellen Gesundheitsleistungen vorgesehen.Das Kabinett hat heute den Entwurf beschlossen. Wei-tere Beratungen finden statt. Das, was das Kabinett vor-legt, ist eine Verbesserung. Denn erstmals wird eine Ver-pflichtung verankert, dass die voraussichtlichen Kostender Behandlung durch den Behandler zu benennen sind.Wir sehen ein Textformerfordernis vor. Das heißt, derPatient erhält schriftliche Informationen über die indivi-duellen Gesundheitsleistungen.Ich glaube – das unterscheidet uns vielleicht ein biss-chen –, dass wir individuelle Gesundheitsleistungenbrauchen. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenver-sicherung sollen nach Sozialgesetzbuch V ausreichend,zweckmäßig, wirtschaftlich sein und dürfen das Maß desNotwendigen nicht überschreiten. Das stellen Sie nichtinfrage, und das stelle ich nicht infrage. Das heißt, dasses auch Leistungen oberhalb des Leistungskatalogs dergesetzlichen Krankenversicherung geben kann, die viel-leicht nicht notwendig sind, aber dennoch für den Pa-tienten sinnvoll sein können.
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Bundesminister Daniel Bahr
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Deswegen habe ich gestern auf dem Ärztetag einge-fordert, dass die Ärzteschaft, die hier in erster Liniegefordert ist, nämlich die Selbstverwaltung, mit den in-dividuellen Gesundheitsleistungen entsprechend sorg-sam und verantwortungsbewusst umgeht. Der Arzt istkein Unternehmer, sondern ein Freiberufler. Das Ver-hältnis zwischen Arzt und Patient ist ein ganz besonde-res Vertrauensverhältnis, das nicht durch wirtschaftlicheAspekte belastet werden darf. Der Ärztetag hat schonvor einigen Jahren einen entsprechenden Kodex be-schlossen. Auch auf dem aktuellen Ärztetag befasst sichdie Ärzteschaft mit Regularien und Regeln, die inner-ärztlich die individuellen Gesundheitsleistungen festle-gen sollen.Ich halte aber von Vorschlägen nichts, die beispiels-weise vorsehen, dass ein Tag zwischen Angebot und Be-handlung liegen muss. Ich glaube, der Patient ist mündiggenug, selbst zu entscheiden, wenn er gut informiert ist,die Konsequenzen kennt und sich nicht ausgenutzt fühlt;darauf kommt es an. Das stärken wir mit dem Gesetz.
Frau Volkmer? – Ihre Frage hat sich erledigt. Dann
schließen wir diesen Teil der Regierungsbefragung ab.
Gibt es andere Fragen zur heutigen Kabinettssitzung? –
Das ist offenkundig nicht der Fall. Hat jemand eine sons-
tige, vorher nicht schriftlich eingereichte Frage an die
Bundesregierung? – Nicht einmal das ist der Fall. Es
senkt sich seltener Frieden über den Plenarsaal. Damit
können wir die Regierungsbefragung abschließen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
– Drucksache 17/9677 –
Wir rufen die schriftlich eingereichten Fragen zur
mündlichen Beantwortung in der üblichen Reihenfolge
auf.
Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Manfred Nink auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, bei den Verhandlungen
über das Gesetzespaket zur Umsetzung von Basel III die be-
sondere Struktur der deutschen Wirtschaft zu berücksichtigen,
die sich vorwiegend aus kleinen und mittleren Unternehmen,
KMU, zusammensetzt, die in höherem Maße von Bankkredi-
ten abhängig sind und durch die Einführung der neuen Eigen-
kapitalquoten überproportional belastet werden, und wird sie
sich dementsprechend für die Einführung einer speziellen
Mittelstandsklausel – zum Bei-
spiel durch die Senkung des Risikogewichts bei Mittelstands-
krediten – einsetzen, um die Belastung des Mittelstandes zu
kompensieren?
H
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege
Nink, Sie fragen nach der Haltung der Bundesregierung
bei den Verhandlungen im Hinblick auf die Umsetzung
von Basel III. Dahinter verbirgt sich die Stärkung der Ei-
genkapitalunterlegung der Banken als eine wesentliche
Schlussfolgerung aus der Finanzkrise.
Die Bundesregierung hat das Ziel der Stärkung der
Eigenkapitalbasis der Banken begrüßt. Es war ihr aber
bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene sehr
wichtig, dass die bankenaufsichtsrechtlichen Vorschrif-
ten so ausgestaltet und eingeführt werden, dass vor allem
Sparkassen und Genossenschaftsbanken ihre zentrale
Rolle bei der Finanzierung mittelständischer Unterneh-
men auch in Zukunft umfassend ausfüllen können.
Auch künftig werden die nationalen Aufsichtsbehör-
den über die Intensität der Beaufsichtigung und die
Organisation der bankenaufsichtlichen Überprüfungs-
verfahren das Entscheidungsrecht haben. Es gilt der
Grundsatz der abgestuften Aufsichtsdichte nach Maß-
gabe der Risikoeinstufung des beaufsichtigenden Insti-
tuts. Dieses sogenannte Proportionalitätsprinzip kommt
vor allem den kleineren und mittleren Sparkassen und
Genossenschaftsbanken zugute, die – dafür sind wir
dankbar – der Hauptfinanzierer des Mittelstands in
Deutschland sind.
Die politischen Verhandlungen im Ecofin sind vorerst
abgeschlossen. Die EU-Finanzminister haben sich in der
Ratssitzung am 15. Mai auf einen Kompromisstext ver-
ständigt und die Präsidentschaft beauftragt, die soge-
nannten Trilogverhandlungen zwischen Präsidentschaft,
Europäischem Parlament und Kommission zu führen.
Nach dem bisherigen Verhandlungsstand ist keine Ab-
senkung des Risikogewichts bei Mittelstandskrediten
vorgesehen. Dafür gab es bei den Ratsverhandlungen
keine Mehrheit. Der zuständige Wirtschafts- und Wäh-
rungsausschuss des Europäischen Parlaments hat sich
aber im Zusammenhang mit diesem Vorschlag bereits
am 14. Mai sehr eindeutig für eine deutliche Absenkung
des Risikogewichts für Mittelstandskredite ausgespro-
chen. Das wird von der Bundesregierung begrüßt. Wir
tun alles, was wir tun können, um in den Trilogverhand-
lungen diese Position zum Tragen zu bringen.
Eine Zusatzfrage? – Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 2 des Kollegen Zöllmer auf:
Will die Bundesregierung bei der im Entwurf des Gesetzes
zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht geplanten Reform
des Verwaltungsrates bleiben, wonach die derzeit zehn Reprä-
sentanten der Banken, Versicherer und Fondsgesellschaften
nicht mehr im 21-köpfigen Verwaltungsrat der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht vertreten sein sollen, nach-
dem es hierzu heftige Kritik aus der gesamten Finanzbranche
gibt?
H
Herr Kollege Zöllmer, die Bundesregierung hat in derKabinettssitzung am 2. Mai – das ist Ihnen bekannt –den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der deutschenFinanzaufsicht beschlossen. Zur Stärkung der Unabhän-gigkeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-sicht und übrigens im Einklang mit internationalenAufsichtsstandards sieht der Regierungsentwurf die Än-
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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(C)
(B)
derung der Zusammensetzung des Verwaltungsrats derBaFin vor. Danach sollen dem Verwaltungsrat anstellevon bisher zehn Verbandsvertretern der Finanzindustriein Zukunft sechs Persönlichkeiten mit Expertise im Be-reich der Finanzwirtschaft angehören. Insofern hat dieBundesregierung nicht die Absicht, den bereits beschlos-senen Gesetzentwurf zu ändern.Die parlamentarischen Beratungen bleiben abzuwar-ten. Ich gehe aber davon aus, dass es auch nach denBeratungen eine Mehrheit im Parlament für diesen Neu-gestaltungsansatz bei der Finanzaufsicht und für die Re-form des Verwaltungsrats der BaFin geben wird.
Zusatzfrage? – Bitte.
Nun hat es bei der Debatte über diesen Entwurf von-
seiten der Koalition sehr markige Äußerungen und den
Hinweis gegeben, man dürfe diejenigen, die beaufsich-
tigt werden sollen, nicht in einem solchen Gremium
haben. Auf der anderen Seite gibt es Kritik; denn die
Banken und Versicherer sind die Financiers der entspre-
chenden Einrichtung. Nun gehöre auch ich zufällig dem
Verwaltungsrat der BaFin an und weiß, dass sich dieser
Verwaltungsrat mit allem Möglichen beschäftigt, nur
nicht mit dem Tagesgeschäft der Überwachung von Ban-
ken.
Daher meine Frage: Teilt die Bundesregierung die
Kritik aus den Reihen von CDU/CSU und FDP, die ich
eben erwähnt habe? Sind auch Sie der Meinung, dass mit
den Bankenvertretern und Versicherungsvertretern im
Aufsichtsrat diejenigen an der Aufsicht mitwirken soll-
ten, die beaufsichtigt werden sollen?
H
Ich habe keinerlei Kritik der Koalitionsfraktionen an
dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung beschlos-
sen hat und der die Verwaltungsratszusammensetzung
ändern wird, vernommen. Insofern gehe ich davon aus,
Herr Kollege Zöllmer, dass es für diesen Vorschlag eine
entsprechende parlamentarische Mehrheit geben wird.
Eine Nachfrage.
Die Frage ist: Teilt die Bundesregierung genau diese
Aussage der Koalitionsfraktionen?
H
Herr Kollege Zöllmer, ich versuche es noch einmal:
Wir haben eine veränderte Zusammensetzung des Ver-
waltungsrats der BaFin beschlossen. Es sollen nicht
mehr wie bisher zehn Verbandsvertreter dem Gremium
angehören, sondern Persönlichkeiten mit Erfahrung und
einem Expertisenachweis aus dem Bereich der Finanz-
wirtschaft. Das heißt, die Verbände entsenden nicht mehr
einfach so Vertreter, auf die niemand Einfluss nehmen
kann. Diesem Ansatz der Änderung der Zusammen-
setzung wird, glaube ich, vonseiten der Koalitionsfrak-
tionen nicht mit Kritik begegnet; er findet vielmehr Zu-
stimmung und wird nach meiner Einschätzung eine
parlamentarische Mehrheit erhalten.
Weitere Nachfragen dazu sehe ich nicht.
Wir kommen zur Frage 3:
Wie haben sich die Vertreter der Bundesregierung im Auf-
sichtsrat der Commerzbank AG bzw. die von der Bundes-
regierung hierfür genutzten Vertreter der Münchener Rück-
versicherungs-Gesellschaft und der frühere Bundesbank-
Vorstand M. verhalten, als es aktuell um die Frage der Erhö-
hung der Bezüge des Managements der Commerzbank AG
und die ebenfalls geplante Zahlung von darüber hinausgehen-
den Boni ging?
H
Herr Kollege Zöllmer, die vom Finanzmarktstabilisie-
rungsfonds eingegangenen Beteiligungen an Kreditinsti-
tuten dienen der Stabilisierung des Finanzmarktes. Die
Bundesregierung hat stets betont, dass sie nicht auf das
Geschäft stabilisierter Banken Einfluss nimmt. Deshalb
gibt das Bundesministerium der Finanzen auch keine
Auskünfte und Stellungnahmen zu unternehmensinter-
nen Entscheidungen dieser Institute, zum Beispiel auch
der Commerzbank. Auch über den Inhalt der Tätigkeit
von Aufsichtsräten äußert sich die Bundesregierung
nicht.
Soweit Beschäftigte der Bundesregierung im Rahmen
des rechtlich Zulässigen Auskünfte von Gremienvertre-
tern entgegennehmen, haben sie nach § 395 Aktienge-
setz darüber Stillschweigen zu bewahren und dürfen
keine Auskünfte erteilen. Diese gesetzliche Verschwie-
genheitspflicht schließt auch das Abstimmungsergebnis
und das Stimmverhalten im Aufsichtsrat mit ein. Eine
Verletzung dieser Geheimhaltungspflicht stellt übrigens
nach § 404 des Aktiengesetzes einen Straftatbestand dar.
Bitte schön.
Aber die Erhöhung der Vorstandsvergütung um insge-samt 60 Prozent ist ein Vorgang, der öffentlich gewordenist. Die Commerzbank ist eine Einrichtung, die mit stil-len Einlagen in Höhe von 18,2 Milliarden Euro und16 Milliarden Euro vom Steuerzahler davor bewahrtwurde, Bankrott zu machen. Nun haben wir eine Situa-tion, die aus meiner Sicht der unverschämten Selbstbe-dienungsmentalität von Vorständen geschuldet ist, derenBanken vom Steuerzahler gerettet worden sind und dienoch nicht einmal Zinsen für das eingelegte Kapital ge-zahlt haben. Dazu muss die Bundesregierung doch eine
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Manfred Zöllmer
(C)
(B)
politische Meinung haben. Diese politische Meinunghätte ich gern von Ihnen erfahren. Ist es so, dass dieBundesregierung diese unverschämte Selbstbedienungs-mentalität für richtig hält?H
Herr Kollege Zöllmer, ich darf darauf hinweisen, dass
die Vorstandsbezüge der Commerzbank AG vom Auf-
sichtsrat im Hinblick auf die fixe und die variable Vergü-
tung gemäß der gesetzlichen Vorgabe in den Jahren 2010
und 2011 auf 500 000 Euro pro Jahr begrenzt wurden.
Die gesetzlich festgelegte Begrenzung greift bereits
ab dem Geschäftsjahr 2011 nicht mehr, da die Bank im
Jahr 2011 mehr als die Hälfte der Rekapitalisierungsleis-
tungen des Sonderfonds für Finanzmarktstabilisierung
zurückgeführt hat. Für 2011 galt allerdings auf Be-
schluss des Aufsichtsrats – und damit freiwillig, also
ohne dass dies gesetzlich erforderlich gewesen wäre –
noch die absolute Begrenzung auf 500 000 Euro. Diese
Begrenzung wurde von der Bank eingehalten.
Herr Kollege Zöllmer, die vom Aufsichtsrat in Ein-
klang mit der Rechtslage beschlossene Vergütungsrege-
lung für den Vorstand tritt daher ab 2012 wieder in Kraft
und ermöglicht so für das Geschäftsjahr 2012 ein Über-
schreiten der Vergütungshöhe von 500 000 Euro.
Eine zweite Zusatzfrage wollen Sie nicht stellen?
Doch. – Ich stelle also fest, dass Sie ein Gehalt von
500 000 Euro pro Jahr für etwas halten, von dem man je-
manden erlösen muss?
H
Lieber Herr Kollege Zöllmer, ich glaube, ich habe die
Rechtslage sehr sachlich, so, wie sie ist, dargelegt. Auch
Sie dürften von einer Bundesregierung erwarten, dass sie
Sachverhalte gemäß der Gesetzeslage beurteilt und sich
nicht auf eine polemische Debatte einlässt, wie sie von
Ihnen teilweise geführt wird. Wir haben den Sachverhalt
so zu beurteilen, wie er nach Recht und Gesetz zu beur-
teilen ist, und das habe ich Ihnen gerade dargelegt.
Frau Kressl, bitte.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben dem
Bundestag gerade erläutert, dass Sie auf den Einzelfall
nicht eingehen können. Dennoch bleibt die Frage: Hält
es die Bundesregierung nach diesen Vorgängen nicht für
sinnvoll, grundsätzliche politische Konsequenzen zu zie-
hen? Es werden ja seit längerer Zeit Möglichkeiten dis-
kutiert, Begrenzungen einzuführen, beispielsweise bei
der steuerlichen Absetzbarkeit von sehr hohen Manager-
gehältern.
H
Frau Kollegin Kressl, da Sie mich so allgemein fra-
gen, möchte ich Ihnen antworten: Wir haben in der Gro-
ßen Koalition entsprechende Begrenzungen für Mana-
gergehälter vorgenommen. Die Bundesregierung hält es
nicht für erforderlich, von diesen gesetzlichen Regelun-
gen, die von der Großen Koalition vorgenommen wur-
den, abzugehen.
Kollege Schick.
Herr Staatssekretär, es wurde die Frage nach dem
Handeln der Aufsichtsratsmitglieder gestellt. Nun kann
man grundsätzlich fragen, warum die Bundesregierung
extra jemanden benennt, der nicht Teil der Weisungs-
kette ist, sodass man die Verantwortung gut abschieben
kann. Darüber will ich jetzt aber nicht diskutieren, da-
rüber diskutieren wir an anderer Stelle. Ich möchte je-
doch die Frage stellen, wie der Bund als Eigentümer
agiert.
Auf der Hauptversammlung der britischen Großbank
Barclays haben kritische Aktionäre die überhöhten Vor-
standsbezüge hinterfragt und diese zur Abstimmung ge-
stellt. Warum hat der Bund als Eigentümer mit einer Be-
teiligung von 25 Prozent auf der Hauptversammlung der
Commerzbank, die heute stattfindet, nicht die Möglich-
keit genutzt, in dieser Frage einzugreifen? Heißt das,
dass die Bundesregierung es zumindest stillschweigend
billigt, dass Herr Blessing durch den Aufsichtsrat eine
entsprechende Gehaltserhöhung bekommen hat?
H
Herr Kollege Schick, auch Sie darf ich darauf hinwei-sen, dass eine Intervention des Bundes bzw. der Bundes-anstalt für Finanzmarktstabilisierung aus der Position alsAktionär mit einer Beteiligung an der Commerzbank inHöhe von 25 Prozent plus einer Aktie aus folgendenGründen nicht möglich ist: Über die Vorstandsvergütungentscheidet nach dem Gesetz der Aufsichtsrat in eigenerVerantwortung. Was das Verhalten von Aufsichtsratsmit-gliedern aus dem Bereich der Bundesregierung anbe-langt, auch in rechtlicher Hinsicht, habe ich in meinerAntwort auf die Frage des Kollegen Zöllmer entspre-chende Ausführungen gemacht. Der Bund hat in der Tatzwei Vertreter zur Wahl in den 20-köpfigen Aufsichtsratvorgeschlagen. Die Hauptversammlung, auf die Sie an-spielen, Herr Kollege Schick, kann dem Aufsichtsratkeine verbindliche Empfehlung vorgeben und auch nichtdie Entscheidung des Aufsichtsrats an sich ziehen. Diemit dem Gesetz über die Angemessenheit von Vor-standsvergütungen geschaffene Billigung des Vergü-tungssystems durch die Hauptversammlung hat nach§ 120 Abs. 4 Satz 2 Aktiengesetz keine Bindungswir-kung für den Aufsichtsrat. Das heißt, die Entscheidungund Verantwortung des Aufsichtsrats für die konkreteHöhe und Angemessenheit der Vorstandsvergütung blei-ben von einem etwaigen Votum der Hauptversammlungunberührt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21415
(C)
(B)
Kollegin Höll.
Herr Staatssekretär, Sie haben uns die Rechtslage er-
läutert; das ist richtig. Die Frage bezog sich aber – da-
rauf möchte ich zurückkommen – auf die politische Wer-
tung seitens der Bundesregierung. Wenn ich Sie richtig
verstanden habe, sehen Sie es als rechtens an, dass es
drei Jahre lang eine Begrenzung der Gehälter gab, und
zwar auf 500 000 Euro; das ist nicht ganz wenig Geld.
Die Wirkungen der Finanzkrise auf die öffentlichen
Haushalte und damit auf viele Bürgerinnen und Bürger
gehen weit über diese drei Jahre hinaus. Sie halten es als
Bundesregierung also politisch für richtig, dass die Ma-
nager, das heißt diejenigen, die durch ihr Handeln ganz
konkret mitzuverantworten haben, dass die Finanzkrise
so ausgebrochen ist und so gewirkt hat, jetzt wieder in
die Vollen greifen können, während die öffentliche Hand
weiterhin die Belastungen trägt. Habe ich Sie so richtig
verstanden?
H
Verehrte Frau Kollegin Höll, ich darf noch einmal sa-
gen: Der Vorgang bei der Commerzbank, den ich Ihnen
als Reaktion auf die Fragen anderer Kollegen geschildert
habe, hat sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben be-
wegt. Ich glaube, es ist nicht richtig, wenn die Bundesre-
gierung dann, wenn nach Recht und Gesetz gehandelt
wird, daran Anstoß nimmt und sich in eine politische
Debatte darüber einschaltet.
Kollege Scheelen, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin auf die Frage
der Kollegin Kressl geantwortet, man habe in der Gro-
ßen Koalition entsprechende Regelungen getroffen.
Auch ich war damals dabei, kann mich daran aber ei-
gentlich nicht erinnern. Vielmehr erinnere ich mich da-
ran, dass wir Ihnen vorgeschlagen haben, die Manager-
gehälter in der Weise zu begrenzen, dass man festlegt:
Sie sind nur bis zu einer bestimmten Höhe, zum Beispiel
bis zu 1 Million Euro, steuerlich absetzbar und darüber
hinaus nicht mehr. Dem haben Sie damals, soweit ich
mich erinnere, nicht zugestimmt. Die Frage ist: Warum
haben Sie das nicht getan?
H
Ich glaube, dass die von uns getroffene gesetzliche
Regelung, was die Angemessenheit der Vergütung anbe-
langt, richtig war und dass wir damals auch richtig ent-
schieden haben.
Weitere Fragen hierzu liegen mir nicht vor.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Sieling werden
schriftlich beantwortet.
Somit sind wir bei der Frage 6 des Kollegen
Scheelen:
Wird die Bundesregierung – wie von der Wirtschaft
dringend gefordert – die zur Jahresmitte 2012 auslaufende
Übergangsregelung zur Gelangensbestätigung für innerge-
meinschaftliche Lieferungen nach § 17 a der Umsatzsteuer-
Durchführungsverordnung bis zum Jahresende 2012 verlän-
gern und, falls nein, warum nicht?
H
Herr Kollege Scheelen, ja, die bis 30. Juni 2012 gel-
tende Übergangsregelung, was die Gelangensbestäti-
gung anbelangt, wird nochmals verlängert. Das haben
Bund und Länder auf Fachebene am 15. Mai 2012 ent-
schieden. Ein entsprechendes BMF-Schreiben wird mit
der Wirtschaft zurzeit noch abgestimmt und soll in
Kürze veröffentlicht werden.
Auf Vorschlag der Wirtschaft prüfen wir derzeit auch
eine Änderung der Umsatzsteuer-Durchführungsverord-
nung. Denn es erscheint sinnvoll, dass in erster Linie die
in dem derzeitigen Entwurf des BMF-Einführungs-
schreibens zur Gelangensbestätigung vorgesehenen Ver-
einfachungen und Erleichterungen im Verordnungswege
auch gesetzlich abgesichert werden.
Bitte schön, Zusatzfrage.
Damit das ganz klar ist: Sie verlängern diese Rege-
lung bis Ende des Jahres?
H
Ja.
Das ist ein wichtiger Schritt.
Das Grundsatzproblem wird durch diese Verlänge-
rung aber nicht gelöst. Sie sind daher auch bereit, an der
Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung etwas zu tun,
weil die bisherige Rechtslage gegenüber dem, was jetzt
faktisch noch möglich ist, am Ende einen gewissen Wi-
derspruch erzeugt. Habe ich das richtig verstanden?
H
Nein.
Sie sind bereit, die Umsatzsteuer-Durchführungsver-
ordnung zu ändern. In dem Punkt „Mussvorschrift“ sind
also Öffnungen vorgesehen.
H
Genau. Wir sind bereit, die Umsatzsteuer-Durchfüh-rungsverordnung zu ändern, um dem, was wir in einem
Metadaten/Kopzeile:
21416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(C)
(B)
BMF-Schreiben im Hinblick auf die Handhabbarkeit derGelangensbestätigung jetzt mit den Ländern, aber auchden Wirtschaftsverbänden abgesprochen haben, eine ent-sprechende Rechtssicherheit zu geben. Wir kommen da-mit auch einem Vorschlag aus der Wirtschaft nach.
Weitere Zusatzfrage.
Sehen Sie eventuell vor, dass man den Nachweis der
innergemeinschaftlichen Lieferung auch künftig mit
Speditionsbelegen führen kann, so wie das bisher der
Fall war?
H
Das ist noch in der Prüfung. Wir wollen in Gesprä-
chen mit dem Speditionsgewerbe jedenfalls dafür sor-
gen, dass die letztendlich durch das BMF-Schreiben zur
Anwendung kommende Gelangensbestätigung für die
Unternehmen, gerade auch mit den Anschlussleistungen
im Speditionsgewerbe, handhabbar ist.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 7 der Kollegin Barbara Höll auf:
Stimmt die Bundesregierung damit überein, dass die Ge-
währung des vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich der An-
wendung des Splittingtarifs bei Steuerpflichtigen einer Einge-
tragenen Lebenspartnerschaft bundeseinheitlich zu gewähren
ist, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Einkom-
mensteuerbescheiden nach § 69 Abs. 2 Satz 2 der Finanz-
gerichtsordnung bestehen, in denen die Anwendung des
Splittingtarifs abgelehnt wird – so wie es auch der Bundes-
finanzhof in seinem Beschluss vom 5. März 2012
entschieden hat; siehe www.lsvd.de/fileadmin/pics/Doku
mente/Rechtsprechung5/BFH120305.pdf –, und stimmt die
Bundesregierung damit überein, dass es vor diesem Hinter-
grund geboten ist, zum Zweck einer bundeseinheitlichen An-
wendung des Einkommensteuergesetzes eine Verwaltungsan-
weisung herauszugeben?
H
Verehrte Frau Kollegin Dr. Höll, der Bundesfinanzhof
hat den von Ihnen zitierten Beschluss am 16. Mai 2012
veröffentlicht. Wir prüfen derzeit, welche Folgerungen
aus diesem Beschluss zu ziehen sind. Nach Abschluss
dieser Prüfung wird das Bundesministerium der Finan-
zen das weitere Vorgehen mit den obersten Finanzbehör-
den der Länder abstimmen.
Herr Staatssekretär, danke für die Antwort. – Ich
muss feststellen, dass Sie als Ministerium bei diesem
Thema bisher leider massiv gemauert haben. Ich muss
jetzt einmal aus der Antwort vom 27. April zitieren, die
Sie auf unsere Kleine Anfrage zur Frage zum Rechts-
schutz für alle Betroffenen gegeben haben:
Das Bundesministerium der Finanzen wartet dies-
bezüglich vielmehr die Entscheidung des Bundes-
finanzhofs in den anhängigen Beschwerdeverfahren
zum vorläufigen Rechtsschutz … ab.
Nun haben wir diese Entscheidung. Sie ist eindeutig.
Deshalb meine Frage: Was müssen Sie jetzt noch prü-
fen? Wie lange wollen Sie prüfen? Warum ist es nicht
möglich, eine bundeseinheitliche Regelung bezüglich ei-
nes Rechtsschutzes zu treffen, wie es ja in anderen Be-
reichen, zum Beispiel bei der Pendlerpauschale, von Ih-
nen durchaus getan wurde?
H
Liebe Frau Kollegin Dr. Höll, das ist ein schwieriger
Sachverhalt. Wir müssen diese Prüfung sorgfältig vorneh-
men. Wenn sie abgeschlossen ist, müssen wir die Abstim-
mung mit den obersten Finanzbehörden der Länder leis-
ten. Da geht wirklich Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, es mag schwierig sein, aber wir
haben ja vergleichbare Fälle. Ich wies eben schon auf die
Pendlerpauschale hin. Sie könnten nach § 165 der Abga-
benordnung die vorläufige Steuerfestsetzung auch bun-
deseinheitlich regeln. Das ist ein erprobter Akt, das ist
ein einfacher Akt. Deshalb frage ich Sie, warum Sie das
nicht anstreben, vor allem vor dem Hintergrund, dass,
soweit mir bekannt ist, in einzelnen Bundesländern bis-
her schon ein Rechtsschutz gewährt wird. Da würde
mich auch interessieren: Wie viele Bundesländer sind
das? Welche sind das? Warum diese Nichtübereinstim-
mung zwischen den Ländern und dem Bund?
H
Frau Kollegin Höll, bei Steuerbescheiden ist eine
Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung beschränkt
auf den Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten
Jahressteuer bzw. den festgesetzten Vorauszahlungen
und den anzurechnenden Steuerabzugsbeträgen. Eine
Aussetzung der Vollziehung ist daher nur möglich, wenn
der Bescheid zu einer Steuernachzahlung führt. Eine
vorläufige Erstattung von Steuerbeträgen kann nicht er-
reicht werden. Dies ist besonders für Arbeitnehmerfälle
von Bedeutung.
Die Frage nach den Bundesländern kann ich Ihnen
jetzt aus dem Stegreif nicht beantworten; die Antwort
würde ich Ihnen aber gern nachreichen.
Frau Enkelmann, bitte.
Herr Staatssekretär, die Gleichbehandlung von Einge-tragener Lebenspartnerschaft und Ehe haben Sie bereitsim Koalitionsvertrag angekündigt. Das ist immerhin fastdrei Jahre her. Die Frage ist: Was haben Sie bislang ge-tan, um hier tatsächlich endlich zu einer einheitlichenrechtlichen Regelung zu kommen?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21417
(C)
(B)
H
Frau Kollegin, es gibt eine ganze Reihe von Lebens-
sachverhalten – das haben wir schon in mehreren Ant-
worten auf entsprechende Parlamentsanfragen, auch von
Ihnen, deutlich gemacht –, wo wir den Koalitionsverein-
barungen nachgekommen sind. Bei einer wichtigen
Frage sind wir uns innerhalb der Bundesregierung einig,
dass wir noch die anstehende Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts abwarten wollen und dann im Lichte
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die
notwendigen Konsequenzen aus dieser Rechtsprechung
ziehen werden.
Die weitere Zusatzfrage ist nicht zulässig. Wenn der
Herr Staatssekretär sie freiwillig beantwortet hätte, hätte
ich ihm nicht im Wege gestanden.
Ich rufe nun die Frage 8 der Kollegin Höll auf:
Welche konkreten Tatbestände müssen nach dem im Sep-
tember 2011 unterzeichneten und im April 2012 ergänzten
Steuerabkommen mit der Schweiz nach der Definition in
Art. 2 Buchstabe h – alternative nutzungsberechtigte Person –
vorliegen, damit auch Steuerverkürzungen von natürlichen
Personen über Trusts und Stiftungen erfasst werden können,
und in welchen Fällen greift bei der Anlage über einen Trust
oder eine Stiftung die Ausweitung des persönlichen Anwen-
dungskreises nach Art. 2 Buchstabe h nicht?
H
Frau Kollegin Höll, die Anwendung des Abkommens
hängt in den von Ihnen angeführten Sachverhalten maß-
geblich von der Frage ab, wer die tatsächliche Herr-
schaftsbefugnis über die entsprechenden Kapitalerträge
besitzt. Sofern dies ein in Deutschland unbeschränkt
deutscher Steuerpflichtiger ist, findet das Abkommen
auch Anwendung, wenn ein Trust oder eine Stiftung
zwischengeschaltet ist.
Bitte schön, die Zusatzfragen.
Danke, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär, die In-
terpretation der Ausnahmeregelung ist bisher eher un-
klar; Sie haben jetzt eine Interpretation geboten. Die
Vermögensverwaltung über Trusts und Stiftungen dient
oftmals der Steuerumgehung. Mir ist völlig unklar, wie
Sie das – bei einer völlig unzureichenden Datenlage –
herausfinden wollen, vor allem, da die deutschen Steuer-
behörden keine Möglichkeiten haben, hier Nachprüfun-
gen vorzunehmen. Es erfolgt ja kein automatischer
Informationsaustausch. Ich wüsste gern, wie Sie das ein-
schätzen.
H
Es ist so, Frau Kollegin, dass die Schweizer Finanz-
verwaltung derzeit an entsprechenden Verwaltungsan-
weisungen arbeitet, in denen auch die Problematik, die
Sie angesprochen haben, behandelt werden soll. Der
Entwurf dieser Verwaltungsanweisungen wird uns zuge-
hen, sodass wir hierzu Stellung nehmen können. Wir
werden in unserer Stellungnahme zu diesem Verwal-
tungsanweisungsentwurf gegenüber der Schweizer
Finanzverwaltung darauf hinweisen, dass in Zweifelsfäl-
len zunächst eine Anwendung des Abkommens und
somit zur Sicherung des Steueraufkommens ein Steuer-
abzug zu erfolgen hat. Diese Position werden wir im
Dialog mit der Schweizer Finanzverwaltung einnehmen,
sodass sichergestellt ist, dass in Zweifelsfällen zunächst
das Abkommen so zur Geltung kommt, wie ich es Ihnen
vorhin im Hinblick auf Trusts und Stiftungen beschrie-
ben habe.
Danke. – Es bleibt aber dabei, dass dann de facto eine
Übergabe des Vollzugs und der Kontrolle von der Ver-
waltung an die Schweizer Banken – die sich bisher nicht
unbedingt dadurch ausgezeichnet haben, Steuerhinter-
ziehern Möglichkeiten der Geldanlage zu verweigern –,
also in nichtöffentliche Hände, erfolgt. Kann ich feststel-
len, dass damit deutsche Finanzbehörden de facto keine
Möglichkeit der Kontrolle haben und damit ihre Auf-
gabe nicht wahrnehmen können?
H
Frau Kollegin, ich darf noch einmal darauf hinweisen,
dass wir in Art. 39 des Abkommens, das noch ratifiziert
werden muss, vereinbart haben, dass, sofern zwischen
den Vertragsparteien unterschiedliche Auffassungen
hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Abkommens
bestehen, über diese Frage ein gemeinsamer Ausschuss,
an denen beide Seiten paritätisch beteiligt sind, zu ent-
scheiden hat. Wir wollen an diesem Ausschuss übrigens
auch die Länder beteiligen. Dieser Ausschuss wird dann
in Zweifels- und Streitfällen die Möglichkeit haben, über
konkrete Sachverhalte mit der Schweizer Finanzverwal-
tung zu sprechen.
Frau Enkelmann.
He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn ein deut-
scher Steuerpflichtiger bis zum Stichtag 1. Januar 2013
sein Vermögen aus der Schweiz abzieht und nach Hono-
lulu, auf die Bahamas oder wohin auch immer bringt,
dann haben deutsche Steuerbehörden keine Chance
mehr, hier zu ermitteln und entsprechend zu handeln.
Verstehe ich das richtig, und ist das gerecht?
H
Auch diese Frage ist im Steuerabkommen geregelt.Das heißt, wir haben auch die Möglichkeit geschaffen,dass wir, wenn jemand nach diesem Stichtag zum Bei-spiel nichtversteuertes Vermögen aus der Schweiz ab-zieht, in Form von Auskunftsersuchen Nachrichten vonder Schweiz erhalten.
Metadaten/Kopzeile:
21418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(C)
(B)
– In Bezug auf Stichtage gibt es immer schwierige Ab-grenzungsgesichtspunkte. Verehrte Frau Kollegin, einesmüssen Sie sehen: Würde dieses Abkommen nicht zumTragen kommen, hätten wir überhaupt keine Möglich-keit, an nichtversteuertes Steuersubstrat aus Deutschlandin der Schweiz heranzukommen. Deshalb haben wir einAbkommen geschlossen, das einen Kompromiss zwi-schen unserer Rechtsauffassung und der Rechtsauffas-sung der Schweiz darstellt. Wir konnten von derSchweiz nicht verlangen, dass sie ihre Rechtsauffassungim Nachhinein ändert. Deshalb haben wir einen Weg ge-schaffen, der eine gleiche Besteuerung in der Zukunftermöglicht. Für die Vergangenheit haben wir einenKompromiss geschaffen, der dafür Sorge tragen wird,dass hinreichend Steuersubstrat nach Deutschland zu-rückgeführt wird.
Frau Kressl.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade beschrieben,
dass die Verwaltungsanweisungen, die noch getroffen
werden sollen, um zu verhindern, dass man über Stiftun-
gen und Trusts das Steuerabkommen umgehen kann,
Ihnen – Sie sagten: wir – zur Verfügung gestellt werden.
Ich möchte gerne wissen, wen Sie damit meinen.
H
Das Bundesfinanzministerium.
Okay. – Wenn Sie mit „wir“ das Bundesfinanzminis-
terium meinen, dann frage ich Sie: Werden diese Ent-
würfe auch dem Deutschen Bundestag zur Verfügung
gestellt? Oder erwartet die Bundesregierung, dass das
deutsche Parlament ein Steuerabkommen beschließt,
ohne dass es darüber Kenntnis hat, mit welchen Notnä-
geln die Steuerschlupflöcher geschlossen werden sollen?
H
Ich bin sicher, Frau Kollegin, dass die Bundesregie-
rung in der parlamentarischen Beratung, was die Ratifi-
zierung des Steuerabkommens anbelangt, dem Parla-
ment wie immer alle notwendigen Informationen zur
Verfügung stellen wird, damit es Auskunft darüber er-
hält, wie wir uns das Management unterschiedlicher
Sachverhalte mit der Schweiz auch in schwierigen Situa-
tionen vorstellen.
Kollege Hunko.
Herr Staatssekretär, ich empfinde es als widersinnig
und ungerecht, wenn Steuerbetrüger, die noch nicht ein-
mal freiwillig eine Meldung machen, nachher bessere
Konditionen erhalten als jene, die wenigstens teilweise
aus eigenem Antrieb im Rahmen einer strafbefreienden
Selbstanzeige die Hinterziehung gestehen. Wenn man
schon durch das Abkommen eine Abgeltungswirkung
mit Strafamnestie ermöglicht, wäre es dann nicht das
Mindeste gewesen, in den Verhandlungen dafür zu sor-
gen, dass die Belastungswirkung in etwa jener der straf-
befreienden Selbstanzeige entspricht? Die Anonymität
hätte dann immer noch gewährt werden können. Aus
welchem Grund hat die Bundesregierung das versäumt?
H
Herr Kollege, diese allgemeine pauschale Einschät-
zung, die Sie vornehmen, kann ich so nicht teilen. Es
wird immer im Einzelfall, je nachdem wie lange sich das
unversteuerte Vermögen in der Schweiz befunden hat,
darauf ankommen, ob sich derjenige, der reinen Tisch
machen möchte, mit einer strafbefreienden Selbst-
anzeige besser stellt oder ob er die Regelungen des
Abkommens für sich in Anspruch nimmt.
Wir haben – ich sage es noch einmal – einen Weg ge-
funden, für die Zukunft sicherzustellen, dass nach glei-
chen Grundsätzen wie in Deutschland besteuert wird.
Bezogen auf die Vergangenheit haben wir einen Mittel-
weg gefunden, der dafür Sorge trägt, dass Steuersubstrat
nach Deutschland zurückfließt, gerade auch durch die
Zahlung in einer nicht unbedeutenden Höhe. Wir haben
übrigens auch dafür gesorgt, dass an diesem Aufkom-
men Länder und Kommunen überproportional beteiligt
werden.
Die Frage 9 des Abgeordneten Axel Troost sowie die
Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Richard Pitterle wer-
den schriftlich beantwortet, sodass ich jetzt die Frage 12
der Kollegin Kressl aufrufe:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der
Kritik der Wirtschaftsverbände, dass sich wegen der umfang-
reichen und einheitlichen Gliederungsvorgaben der Elektroni-
schen Bilanz der Bürokratieaufwand insbesondere für kleine
Kapitalgesellschaften stark erhöht, weil sie gegenüber den
bisher auszufüllenden 22 Pflichtfeldern des Handelsgesetz-
buchs künftig 190 Pflichtfelder ausfüllen und an die Finanz-
verwaltung melden müssen?
H
Frau Kollegin Kressl, die Ausgestaltung des Daten-satzes im Sinne von § 5 b Abs. 1 des Einkommensteuer-gesetzes, die sogenannte Taxonomie, war und ist vomGrundsatz bestimmt, Eingriffe in das Buchungsverhaltender Unternehmen weitestgehend zu vermeiden. DieTaxonomie umfasst Positionen für alle Rechtsformen– das heißt Einzelunternehmen, Personen- oder Kapital-gesellschaften – und alle möglichen Berichtsbestand-teile, so zum Beispiel Bilanz, Gewinn- und Verlustrech-nung, Anhang und Lagebericht. Von diesen Positionen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21419
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(C)
(B)
muss der Steuerpflichtige grundsätzlich nur Mussfelderbefüllen, und diese auch nur dann, wenn sie für seineRechtsform und seinen Wirtschaftszweig einschlägigsind. Das haben wir auch in dem entsprechenden BMF-Schreiben zum Ausdruck gebracht.Zudem haben wir die Regelung eröffnet, dass einMussfeld auch dann ohne Wert übermittelt werden kann,wenn sich der betreffende Wert aus der Buchführung he-raus nicht ableitet.Schließlich haben wir neben den Mussfeldern undden fakultativen Positionen auch noch Auffangpositio-nen implementiert. Hier hat es einige Missverständnissedarüber gegeben, ob diese Auffangpositionen zeitlichbefristet sind. Wir haben jetzt, auch im Dialog mit denVerbänden, deutlich gemacht, dass diese Auffangpositio-nen unbefristet gelten sollen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Vielleicht ist
schon beim Zuhören deutlich geworden, dass es sich
nicht gerade um eine einfache Regelung handelt. Des-
halb meine erste Nachfrage: Gerade kleine und mittlere
Unternehmen kritisieren, dass der bürokratische Auf-
wand sie bei weitem überfordere. Haben Sie inzwischen
Rückmeldungen, ob kleine und mittlere Unternehmen
mit Ihrem neuerlichen Regelungsversuch besser zurecht-
kommen?
H
Diesen Eindruck haben wir gewonnen. Ich selber
habe gemeinsam mit dem Kollegen Burgbacher Gesprä-
che mit Vertretern kleiner und mittlerer Unternehmen,
aber auch mit Vertretern der steuerberatenden Berufe ge-
führt.
Ich will Ihnen deutlich machen, wie kleine und mitt-
lere bilanzpflichtige Unternehmen von der Steuerver-
waltung unterstützt werden: Zum einen werden in den
Steuerverwaltungen der Länder E-Bilanz-Betreuer ge-
schult, die anschließend für Fragen rund um die E-Bi-
lanz zur Verfügung stehen werden. Zum anderen wird
auf der BMF-Internetseite eine Informationsbroschüre
mit Fragen und Antworten zur E-Bilanz eingestellt, die
insbesondere kleinen und mittleren bilanzierenden Un-
ternehmen den Einstieg in die E-Bilanz erleichtern soll.
Außerdem wird auf der Webseite www.elster.de eine
kleine Datenbank mit am Markt verfügbarer Steuersoft-
ware mit Elster-Schnittstelle vorgehalten.
Für besonders problematische Fälle sieht § 5 b Abs. 2
des Einkommensteuergesetzes eine Härtefallregelung
vor:
Auf Antrag kann die Finanzbehörde zur Vermei-
dung unbilliger Härten auf eine elektronische Über-
mittlung verzichten.
Vielen Dank für Ihre zweite Antwort. Auch diese
Antwort lässt immer noch nicht den Schluss zu, das
Ganze sei für kleine und mittlere Unternehmen einfach
zu bewältigen. Können Sie sich vorstellen, dass bei-
spielsweise für kleine und mittlere Unternehmen bis zu
einer bestimmten Größenordnung und Personalkapazität
grundsätzliche Ausnahmeregelungen geschaffen wer-
den können? Denn Härtefallregelungen werden ja nicht
so gerne in Anspruch genommen.
H
Das ist teilweise vorgesehen. Dieser Sachverhalt wird
derzeit noch diskutiert.
Kollege Zöllmer.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung ist ur-
sprünglich mit dem Ziel angetreten, Bürokratie abzu-
bauen; jedenfalls ist das im Koalitionsvertrag so festge-
halten. Hier haben wir ein Beispiel für einen massiven
Bürokratieaufbau. Dies ist nicht das erste Beispiel für
eine entsprechende Gesetzgebung dieser Bundesregie-
rung. Ich erinnere nur an die „Hotelierbeglückung“, die
mit massivem Bürokratieaufbau verbunden war, und an
andere Gesetze.
Deswegen meine Frage: Ist das Ziel, Bürokratie abzu-
bauen, jetzt von der Bundesregierung aufgegeben wor-
den?
H
Nein, Herr Kollege Zöllmer. Wir werden ganz sicher
auch bei der Einführung der E-Bilanz dafür Sorge tra-
gen, dass sich der bürokratische Aufwand für die betrof-
fenen Unternehmen in einem vertretbaren Ausmaß hält.
Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Kressl auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der Kritik
von Vertretern der steuerberatenden Berufe, dass die Neurege-
lung der strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 der Abga-
benordnung im Massengeschäft der Umsatzbesteuerung „völ-
lig realitätsfern“
ist, und welche Lösungsansätze der Finanzverwaltung „sind
H
Frau Kollegin Kressl, die Neuregelung der strafbe-freienden Selbstanzeige nach § 371 Abgabenordnungdurch das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz soll verhin-dern, dass die Selbstanzeige als Teil einer Steuerhinter-ziehungsstrategie missbraucht wird. Dabei bestandschon während des Gesetzgebungsverfahrens Einigkeitdarüber, dass Bagatellabweichungen bei Steuererklärun-gen bzw. -anmeldungen unschädlich sind. Dies gilt ins-besondere beim Massengeschäft der Umsatzbesteue-rung. Zur Klarstellung wird derzeit mit den Ländern eineVerwaltungsanweisung abgestimmt, die eine bundesweit
Metadaten/Kopzeile:
21420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(C)
(B)
einheitliche Handhabung der Neuregelung der Selbst-anzeige bei den Massenverfahren der Umsatz- undLohnsteuererhebung praxisgerecht gewährleisten soll.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, die mögliche Pro-
blematik ist bereits während des Gesetzgebungsverfah-
rens in den Anhörungen sehr deutlich thematisiert wor-
den. Deshalb meine Frage: An welchen Eckpunkten
wird sich die Verwaltungsanweisung orientieren?
H
Sie wird sich natürlich am Gesetz orientieren, Frau
Kollegin Kressl.
Sie haben in Ihrer Frage auf die Rede von Dr. Horst
Vinken, dem Präsidenten der Bundessteuerberaterkam-
mer, abgehoben. Ich glaube, dass es gut ist, wenn wir mit
den Länderfinanzbehörden durch eine Klarstellung in ei-
ner entsprechenden Verwaltungsanweisung – die, wenn
sie abgestimmt und erlassen ist, selbstverständlich auch
dem Finanzausschuss und dem Parlament zugeht – eine
praxisgerechte Handhabung gewährleisten.
Vielen Dank. – Ich bin sehr froh, dass Sie uns versi-
chern, dass sich die Regelung am Gesetz orientieren
wird. Mich interessiert: An welchen inhaltlichen Leitli-
nien wird sich die Verwaltungsanweisung orientieren?
Denn die Problematik ist gar nicht so einfach zu lösen.
Es geht mir nicht um die Regelung einzelner Details,
aber es wäre schon sehr sinnvoll, zu wissen, welche
Grundlinie Sie verfolgen, um die vorhandenen Schwie-
rigkeiten zu lösen.
H
Frau Kollegin, ich bitte Sie um Geduld, bis wir Ihnen
die mit den Ländern ausverhandelte Verwaltungsanwei-
sung zugänglich machen werden.
Na ja.
Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Arndt-Brauer auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung vor dem Hintergrund
der Auffassung des Bundesrates, dass die im Rahmen des
Gesetzes zum Abbau der kalten Progression beabsichtigten
Steuersenkungen der unbedingten Notwendigkeit der Haus-
haltskonsolidierung widersprechen und im Hinblick auf die
grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse unverantwortlich
sind, an der Steuersenkung festzuhalten?
H
Frau Kollegin Arndt-Brauer, die Bundesregierung hat
zu dem von Ihnen genannten Gesetz den Vermittlungs-
ausschuss angerufen. Bei dem Gesetz geht es nicht, wie
in Ihrer Frage insinuiert wird, um eine Steuersenkung,
sondern es geht darum, ungerechtfertigte Steuererhöhun-
gen aufgrund des progressiv wirkenden Steuertarifs zu
vermeiden. Die Bundesregierung wird die Schulden-
bremse durch eine solide Haushaltspolitik einhalten. Sie
hält aber nicht gewollte, heimliche Steuererhöhungen für
nicht gerechtfertigt.
Vielen Dank für die Antwort. Trotzdem wurde doch
der ganze Vorgang als Steuersenkung initiiert und auch
verkauft. Bei den Betroffenen kommt das auch so an.
Vielleicht können Sie dazu etwas sagen? Auf alle Fälle
kommt es zu einem Minus im Haushalt, und das ohne
Not. Wir verlangen von ganz Europa, dass gespart wird,
und selber machen wir genau das Gegenteil: Wir geben
Menschen zusätzliches Geld – das könnte man schon als
Steuersenkung bezeichnen – und schaffen damit im
Haushalt Minusstellen.
H
Wir werden im Haushalt keine Minusstellen schaffen.
Vielmehr werden es die wachstumsorientierte Politik
und die Erfolge der Bundesregierung bei der Haushalts-
konsolidierung möglich machen, auf ungewollte, heimli-
che Steuererhöhungen zu verzichten, den Menschen in
unserem Land mehr Leistungsanreize zu geben und
trotzdem den Konsolidierungspfad und die Vorgaben der
nationalen Schuldenbremse einzuhalten.
Tatsache ist aber, dass Sie den Ansatz im Nachtrags-
haushalt verdoppeln müssen, weil das Geld anscheinend
nicht da ist. Sie gehen also in eine Neuverschuldung hi-
nein, um Ihr Vorhaben zu finanzieren. Ist das richtig?
H
Wir sind fest davon überzeugt, dass es die laut jüngs-
ter Steuerschätzung zu erwartenden Steuermehreinnah-
men möglich machen werden, auf ungewollte Steuerein-
nahmen zu verzichten und trotzdem die Vorgaben der
nationalen Schuldenbremse auf Punkt und Komma ein-
zuhalten.
Frau Kollegin Höll.
Her
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ihr Gesetzent-wurf enthält zwei Elemente, die Anhebung des steuer-freien Grundbetrags und die Verschiebung des Tarifs,um die sogenannte kalte Progression etwas auszuglei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21421
Dr. Barbara Höll
(C)
(B)
chen. Stimmen Sie mit mir überein, dass diese Regelungbezogen auf die absoluten Zahlen eindeutig eine Be-günstigung der sehr gut Verdienenden darstellt? Ichglaube nicht, dass man hier von einer Steuerentlastungsprechen kann. Diesbezüglich kann ich meiner Kolleginnicht ganz zustimmen. Ich glaube nicht, dass diejenigen,die ein Einkommen von etwa 2 000 Euro im Monat ha-ben, die Tatsache, dass sie lediglich etwa 5 Euro wenigerSteuern pro Monat zu zahlen haben, als Steuerentlastungwahrnehmen. Fakt ist: Sie entlasten im oberen Ein-kommensbereich – das machen die absoluten Zahlendeutlich – und nehmen dafür eine weitere Belastung desBundeshaushalts in Kauf.H
Diese Wirkung sehen wir nicht.
Kollege Scheelen.
Herr Staatssekretär, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie
Mindereinnahmen bei Bund, Ländern und Gemeinden in
Höhe von 6 Milliarden Euro nicht als Steuersenkung
empfinden, sondern als Nichtrealisierung ungewollter
Steuermehreinnahmen.
Meine Frage an Sie lautet: Von diesem Steuerände-
rungsgesetz ist nicht nur der Bund betroffen, sondern
auch Länder und Gemeinden. Sehen Länder und Ge-
meinden das genauso wie Sie? Sind auch sie der Mei-
nung, dass es sich nicht um eine Steuersenkung handelt,
sondern um die Vermeidung ungewollter Steuermehrein-
nahmen?
H
Davon wollen wir die Länder in dem von uns angeru-
fenen Vermittlungsausschuss überzeugen. Wir bieten an
– das ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen –, diejenigen
Mindereinnahmen der Länder und Gemeinden zu kom-
pensieren, die sich aus der von der Kollegin Höll gerade
genannten prozentualen Verschiebung ergeben, die an-
stelle einer Verschiebung des Festbetrages, also der Ta-
rifeckwerte, vorgenommen werden soll. Wir setzen auf
die Dialogbereitschaft der Länder. Wir wollen – das
möchte ich noch einmal deutlich machen – gerade mit
Blick auf die gute konjunkturelle Entwicklung und auf
die sich daraus ergebenden Steuermehreinnahmen auf
ungewollte, leistungshemmende Steuermehreinnahmen
verzichten.
Ich rufe die Frage 15 der Kollegin Arndt-Brauer auf:
Will die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die
Steuerausfälle der Länder und Gemeinden in Höhe von jähr-
lich circa 2,3 Milliarden Euro vollständig kompensieren und,
wenn ja, wie?
H
Nein, die Bundesregierung will keine vollständige
Kompensation seitens des Bundes für Steuerausfälle der
Länder und Gemeinden. Ich habe gerade gesagt, dass im
vorliegenden Gesetzentwurf steht, dass wir zu einer Teil-
kompensation bereit sind. Wir sehen aber keine Notwen-
digkeit für eine Kompensation der Mindereinnahmen,
die sich aus der verfassungsrechtlich gebotenen Erhö-
hung des Existenzminimums ergeben.
Da wir uns im Vermittlungsverfahren befinden, ist da-
von auszugehen, dass die Länder auf Ihren Vorschlag
nicht freudig eingegangen sind, dass Länder und Kom-
munen das anders sehen als Sie. Ich denke, sie sehen das
so: Wenn man das nicht gemacht hätte, hätte es keine
Ausfälle in Höhe von 2,3 Milliarden Euro gegeben. Von
daher sehen Länder und Kommunen wahrscheinlich die
Notwendigkeit einer Komplettkompensation. Mit wel-
chen guten oder schlechten Argumenten wollen Sie die
Länder und die Kommunen von Ihrer Sicht überzeugen?
H
Das wird das Vermittlungsverfahren zeigen. Ich
glaube, wir haben gute Argumente. Wir bieten eine Teil-
kompensation. Es ist doch so, verehrte Frau Kollegin
Arndt-Brauer, dass die durch die kalte Progression be-
dingten Steuermehreinnahmen den Haushalten von Län-
dern und Kommunen zufließen. Wenn man mehr Steuer-
gerechtigkeit herstellen will, muss man bereit sein, auf
allen staatlichen Ebenen auf ungewollte Steuermehrein-
nahmen zu verzichten. Dann müssen auch Länder und
Kommunen zu einer Teilkompensation bereit sein.
Bitte schön.
Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Sie, wenn die
konjunkturelle Entwicklung wieder schlechter wird,
wieder voll in die kalte Progression einsteigen und Län-
der und Kommunen auf diesem Weg mitnehmen wür-
den?
H
Wir haben im Gesetzentwurf vorgesehen, dass regel-
mäßig ein Bericht vorgelegt wird, in dem aufgezeigt
wird, wie sich das Problem der kalten Progression entwi-
ckelt. Dann wird immer für den Einzelfall und für einen
gewissen Zeitraum zu prüfen sein, wie wir mit den Er-
gebnissen dieses Berichts umgehen. Ein Automatismus
ist jedenfalls nicht vorgesehen.
Kollege Scheelen.
Metadaten/Kopzeile:
21422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
(C)
(B)
Herr Staatssekretär, halten Sie es für verantwortbar,
Kommunen, die auf einem Schuldenberg von etwa
170 Milliarden Euro sitzen und Kassenkredite, also
Überziehungskredite – diese kennt man aus dem Privat-
leben –, von 45 Milliarden Euro vor sich herschieben,
durch dieses Steuersenkungsgesetz – ich bleibe bei die-
ser Bezeichnung; es hat nichts mit ungewollten Mehrein-
nahmen zu tun, sondern ist eine Steuersenkung – zuzu-
muten, auf eine weitere Milliarde Euro zu verzichten?
Damit nehmen Sie in Kauf, dass in den Städten zum Bei-
spiel weitere Schwimmbäder und Büchereien geschlos-
sen werden, dass es zu einer ganzen Palette an Ein-
schränkungen in den Kommunen kommt.
H
Herr Kollege Scheelen, die Bundesregierung ist sich
der Verantwortung des Bundes, obwohl es ja eine direkte
Rechtsbeziehung zwischen dem Bund und den Kommu-
nen nicht gibt, sondern die Länder für die Kommunen
verantwortlich sind, sehr bewusst. Deshalb haben wir,
Herr Kollege Scheelen, einen Zustand, der die Kommu-
nen wirklich fast erdrückt hat, beseitigt. Man hatte sie
mit den Kosten der Grundsicherung im Alter – diese sind
auf die Kommunen entfallen – allein gelassen. Dies hatte
Rot-Grün den Kommunen aufgebürdet. Wir haben das
geändert. Bis zum Jahr 2014 wird der Bund diese Kosten
vollständig übernehmen. Wir meinen, dass wir dadurch
unserer Verantwortung für die Finanzsituation der Kom-
munen in hervorragender Weise gerecht geworden sind.
Die Fragen 16 und 17 des Kollegen Binding werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 18 des Kollegen Hunko auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den griechischen An-
spruch auf Rückzahlung der von den deutschen und italieni-
schen Besatzungsmächten aufgezwungenen Kredite, die im
Unterschied zu Reparationsansprüchen und anderen Kompen-
sationen nicht unter das Londoner Schuldenabkommen von
1953 fallen, und warum wird die Bundesregierung nicht aktiv,
um, wie gegenüber Jugoslawien und Polen 1956 bzw. 1971,
seine unter der Besatzung aufgezwungenen Kredite an Grie-
chenland zurückzuzahlen, die mittlerweile auf mehrere Dut-
zend Milliarden angewachsen sind?
H
Herr Kollege Hunko, ich beantworte Ihre Frage zu-
rückgreifend auf die Antwort der Bundesregierung auf
die Kleine Anfrage der Linken zu Entschädigungs-,
Schadensersatz- und Reparationsforderungen wegen
NS-Unrechts in Griechenland, Italien und anderen ehe-
mals von Deutschland besetzten Staaten. Ich darf auf
diese Beantwortung verweisen, um die mir zur Verfü-
gung stehende Zeit jetzt nicht über Gebühr in Anspruch
zu nehmen.
Ich darf Ihnen aber auch mitteilen, Herr Kollege
Hunko: Der Bundesregierung sind keine Bestrebungen
der griechischen Regierung bekannt, derartige Forderun-
gen geltend zu machen. Es hat in dieser Sache keine Ge-
spräche mit der griechischen Regierung gegeben.
Zusatzfragen?
Wir waren ja als Delegation des Parlaments in Grie-
chenland. Ich darf Ihnen sagen: Offiziell sind wir in der
Tat nicht darauf angesprochen worden, aber inoffiziell
sehr wohl. Es gibt wohl auch – wie soll ich sagen? –
Druck auf griechische Abgeordnete, das Thema in offi-
ziellen Gesprächen nicht anzusprechen. Das Thema ist
aber bei allen Abgeordneten der unterschiedlichen Frak-
tionen und insbesondere auch in der griechischen Bevöl-
kerung präsent. Ist Ihnen bekannt, dass, obwohl in Grie-
chenland ganz offen darüber diskutiert wird – das kommt
auch in den deutschen Medien an –, in irgendeiner Form
Druck ausgeübt wird? Um es noch einmal klarzumachen:
Ich spreche jetzt konkret von den Zwangsanleihen, die
1942 aufgelegt wurden, und nicht von Kriegsverbrechen
und anderem.
H
Herr Kollege, natürlich gibt es über diese und andere
Fragen in Griechenland eine intensive Diskussion. Ich
bitte um Verständnis dafür, dass die Bundesregierung zu
Diskussionen über Sachverhalte, die unser bilaterales
Verhältnis berühren, nicht Stellung nimmt. Aber Forde-
rungen, wie Sie sie in Ihrer Frage artikuliert haben, sind
von der griechischen Seite uns gegenüber nicht gestellt
worden.
Die Bundesregierung hat ja in der Vergangenheit, vor
allen Dingen in den 60er-Jahren, oft gesagt, dass auf die
Forderungen verzichtet worden wäre. Der griechische
Premierminister Karamanlis hat dies dementiert. Am
31. März 1967 wurde dann eingeräumt, dass es einen
solchen Verzicht nie gegeben hat. Ist Ihnen bekannt, dass
jemals von griechischer Seite auf die Forderung nach
Rückzahlung verzichtet wurde? Wie beurteilen Sie den
Status dieses ungeklärten Problems im Augenblick?
H
Ich kann nur nochmals sagen – das ist ja der Aus-gangspunkt Ihrer Frage –, dass im Hinblick auf Repara-tionsansprüche, welcher Art auch immer, oder hinsicht-lich der Frage, die Sie angesprochen haben, nämlich derwährend der Besatzung aufgezwungenen Kredite, vongriechischer Seite keine entsprechenden Forderungengegenüber der Bundesrepublik Deutschland geltend ge-macht worden sind und dass es in dieser Sache keine Ge-spräche zwischen der griechischen Regierung und deut-schen Regierungsstellen gegeben hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21423
(C)
(B)
Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Hunko auf:
Inwiefern ist eine „ungeordnete Staatspleite“, die vom
Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel
Barroso, als einzige Alternative zum Kürzungs- und soge-
nannten Reformkurs beschrieben wurde, im Rahmen der EU-
Verträge nicht erlaubt, und inwiefern könnte eine „ungeord-
nete Staatspleite“ zu einem unfreiwilligen Ausscheiden Grie-
chenlands aus der Euro-Zone und somit auch aus der EU füh-
ren?
H
Herr Kollege Hunko, die Bundesregierung setzt sich
für einen Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone ein.
Dafür braucht Griechenland eine Regierung mit europäi-
scher Grundausrichtung, die bereit ist, die Auflagen des
vereinbarten Anpassungsprogramms umzusetzen. Wir
sind unverändert bereit, Griechenland strukturell und or-
ganisatorisch zu helfen und den vom Internationalen
Währungsfonds, von Europäischer Kommission und Eu-
ropäischer Zentralbank mit Griechenland vereinbarten
Weg fortzusetzen. Vor diesem Hintergrund wollen wir
uns vonseiten der Bundesregierung an Spekulationen
über einen wie auch immer gearteten Austritt Griechen-
lands aus der Euro-Zone nicht beteiligen.
Sie haben gerade gesagt, Sie setzen darauf, dass die
Memoranda in Griechenland umgesetzt werden. Sie
wollen also, dass die Politik, die das Land nach unserer
Auffassung und nach Auffassung vieler Griechinnen und
Griechen in den letzten zwei Jahren in eine Katastrophe
geführt hat, fortgesetzt wird; ich weiß, dass Sie das an-
ders beurteilen, aber wir und viele Griechinnen und
Griechen sehen es so. Wenn es nicht so kommen sollte,
wie Sie wollen, wenn die griechische Bevölkerung also
sagt: „Nein, wir wollen diesen Weg nicht weitergehen“,
welche Möglichkeit sehen Sie dann, um Griechenland,
wie oft angedeutet wird, letztlich aus der Euro-Zone und
damit auch aus der EU auszuschließen?
H
Wir wollen uns an der Diskussion über die Frage,
welche Möglichkeiten wir sehen, um Griechenland aus
der Euro-Zone auszuschließen – ich musste Ihre Frage
wiederholen –, nicht beteiligen. Wir wollen das nämlich
nicht. Wir sind für einen Verbleib Griechenlands in der
Euro-Zone. Wir glauben übrigens – gleich nenne ich Ih-
nen einen prominenten griechischen Zeitzeugen –, dass
der mit der bis zu den griechischen Wahlen im Amt be-
findlichen Regierung ausverhandelte Weg der wirt-
schaftlichen und finanziellen Gesundung Griechenlands
nicht die Ursache der gegenwärtigen auch für die Men-
schen bedrückenden Situation in Griechenland ist.
Herr Kollege Hunko, ich habe seinerzeit, als zwi-
schen der Regierung von Ministerpräsident Papandreou
und den europäischen und IWF-Institutionen über diesen
Weg verhandelt worden ist, die Rede des damaligen Mi-
nisterpräsidenten Papandreou in Übersetzung nachgele-
sen. Er hat gesagt, dass es vor allem die Versäumnisse
wechselnder Regierungen in Griechenland waren, die
Griechenland in diese katastrophale Überschuldungs-
situation und weg von jedem Wachstumspfad geführt ha-
ben und dass der jetzt eingeschlagene und ausverhan-
delte Weg alternativlos ist.
Natürlich ist es die Aufgabe der politischen Führung
bzw. der verschiedenen Parteien in Griechenland, bei
den jetzt anstehenden Wahlen die griechische Bevölke-
rung davon zu überzeugen. Ich muss Ihnen sagen: Es
gibt in Europa Länder, die als sogenannte Programmlän-
der ebenfalls europäische Solidarität erfahren. Ich darf
nur auf Portugal und Irland hinweisen. Auch in diesen
Ländern haben die Menschen Belastungen zu tragen, die
durch die Anpassungsprogramme, die zur finanziellen
Konsolidierung, aber auch zur Freisetzung von Wachs-
tumskräften beitragen sollen, verursacht wurden. Ich
glaube, den Menschen in Griechenland ist nichts anderes
auferlegt worden als das, was auch den Menschen in
Portugal und Irland zugemutet werden muss, um nach
dem Fehlverhalten verschiedener Regierungen, an denen
unterschiedliche Parteien beteiligt waren, für finanzielle
Konsolidierung zu sorgen und die Länder wieder auf ei-
nen Wachstumspfad zu führen.
Sie haben noch eine zweite Zusatzfrage. Bitte.
Wir werden uns hier in der Bewertung der Pro-
gramme natürlich nicht einig. Da können wir hin- und
herdiskutieren. Wir haben bereits vor zwei Jahren, als
das erste Griechenland-Paket beschlossen wurde, hier
davor gewarnt, dass ein massives Kürzungsprogramm in
der Krise diese Krise vertiefen wird und es dann auch zu
einer gesellschaftlichen und einer politischen Krise kom-
men wird.
Nun meine Frage: Sie sagen, das sei alternativlos. Es
ist aber denkbar, dass die griechische Bevölkerung eine
Alternative sieht. Habe ich Sie richtig verstanden, dass
es trotzdem keinen Weg zum Ausschluss aus der Euro-
Zone gibt?
H
Nach der Rechtslage kann man kein Land, das Mit-
glied der Euro-Zone ist, gegen seinen Willen aus der
Euro-Zone ausschließen. Und wir setzen darauf – um es
noch einmal zu wiederholen, Herr Kollege –, dass die
griechischen Parteien, vor allem diejenigen, die in frühe-
rer Regierungsverantwortung diese Vereinbarungen mit
IWF, EZB und Europäischer Kommission getroffen ha-
ben, jetzt bei der Bevölkerung um eine entsprechende
Mehrheit für die Fortsetzung dieses Kurses werben.
Frau Enkelmann.
Wir wollen natürlich keinen Ausschluss Griechen-lands, sondern wirklich Hilfe und Unterstützung. Könnte
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21424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Dr. Dagmar Enkelmann
(C)
(B)
eine Form der Unterstützung für Griechenland nichtauch sein, dass man sich, statt massive Sozialkürzungen,Rentenkürzungen etc. von Griechenland zu fordern, zumBeispiel für ein sozial gerechtes Steuersystem einsetzt,unter anderem für die Einführung der Vermögensteuer?Da könnte man sich gegenseitig helfen. Die Vermögen-steuer bräuchten wir zum Beispiel hier in Deutschlandauch.
H
Verehrte Frau Kollegin Enkelmann, natürlich setzen
wir uns dafür ein, dass es auch in Griechenland zu einer
leistungsgerechten, ordentlichen Besteuerung kommt.
Ich darf darauf hinweisen, dass sich die Bundesrepu-
blik Deutschland – sowohl der Bund als auch die Länder –
an einem Programm von IWF und Europäischer Kom-
mission beteiligt, in dessen Rahmen zum Beispiel Steu-
erfachleute aus dem Bund und aus den Ländern nach
Griechenland entsandt werden. Ich habe selber – das
habe ich im Finanzausschuss schon einmal berichtet,
glaube ich – einen Abiturkollegen in der bayerischen
Steuerverwaltung, der jetzt gerade einen Griechisch-
Schnellkurs absolviert hat, um als ein solcher Berater
nach Griechenland zu gehen.
– Frau Kollegin Enkelmann, das ist wirklich Sache des
griechischen Parlaments. Sie wollen doch nicht von
Deutschland aus dem griechischen Parlament vorgeben,
welche Gesetze es im Hinblick auf eine effizientere
Steuerverwaltung und möglicherweise auch eine gerech-
tere Besteuerung zu erlassen hat.
Da können wir nur mit Rat und Tat zur Seite stehen, in-
dem wir Experten schicken, aber doch nicht von hier aus
Vorgaben machen.
Im Übrigen erkennt man auch etwas an der Art und
Weise, in der man in Deutschland mit dem Gast aus
Griechenland umgeht, der sich zurzeit hier aufhält und
der eine dieser Parteien vertritt, die jetzt einen nicht un-
erheblichen Wahlerfolg erzielt haben.
Sie als Linke haben den Vertreter dieser griechischen
Partei aufgefordert, kräftig weiter Stimmung zu machen.
Ich bin sehr dankbar, dass der SPD-Vorsitzende Gabriel
ihn im Gegensatz zu Ihnen gemahnt hat, die eingegange-
nen Verpflichtungen zu erfüllen.
Vor diesem Hintergrund glaube ich schon, dass wir
weit über Union und FDP hinaus bis hin zu SPD und
Grünen gemeinsam der Auffassung sind, dass jeder
– egal wer –, der in Griechenland regiert, die eingegan-
genen Verpflichtungen erfüllen muss.
Frau Kollegin Enkelmann, es ist im Übrigen nicht so,
dass die Vereinbarungen zwischen dem IWF, der Euro-
päischen Kommission und der EZB mit Griechenland
„nur“ – in Anführungszeichen – harte Sparauflagen vor-
sehen.
Herr Kollege.
H
Vielmehr wird auch überlegt, Wachstumsimpulse zu
setzen. Alle Programme enthalten Wachstumsimpulse.
Diesen Weg wollen wir weiter fortsetzen.
Nun wollen wir einmal gemeinsam zur Kenntnis neh-men, dass die Regierung sich besonders viel Mühe gibt,die Fragen der Kollegin Enkelmann zu beantworten,
und der Präsident dem auch fast unbeschränkte Zeit ein-geräumt hat.Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. –Vielen Dank, Herr Staatssekretär.Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesminis-teriums für Arbeit und Soziales auf. Der Parlamen-tarische Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe steht zurBeantwortung zur Verfügung. Da die Frage 20 der Abge-ordneten Katrin Kunert, die Fragen 21 und 22 der Ab-geordneten Sabine Zimmermann sowie die Fragen 23und 24 der Abgeordneten Anette Kramme schriftlich be-antwortet werden, wird er trotz sicher perfekter Vorbe-reitung keine Gelegenheit haben, das hier vorzutragen.Wir kommen damit gleich zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz. Ich bitte den ParlamentarischenStaatssekretär Gerd Müller, die Fragen zu beantworten.Ich rufe die Frage 25 des Kollegen FriedrichOstendorff auf:Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit, BMU, den im Verhandlungs-prozess um die zukünftige Gemeinsame Agrarpolitik einge-brachten Vorschlag von 15 Staaten – unter anderem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21425
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Deutschland –, der vorsieht, dass jeder Mitgliedstaat drei Op-tionen – A, B, C – zur Ausgestaltung der Agrarzahlungenwählen kann, und wie bewertet das BMU jede einzelne dieser
lungen der Europäischen Union an höhere Umwelt- und Tier-schutzstandards binden wollen?Dr
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerne be-
antworte ich die Frage von Herrn Ostendorff.
Herr Ostendorff, die Bundesregierung unterstützt na-
türlich mit Nachdruck das Ziel der Europäischen Kom-
mission, bei der Weiterentwicklung der Gemeinsamen
Agrarpolitik eine noch stärkere ökologische Ausrichtung
zu erreichen – und dies möglichst europaweit mit nach-
vollziehbaren Standards. Diese Standards müssen nicht
nur bei uns, sondern in allen 27 EU-Staaten gelten.
Dass schon die derzeitige Agrarpolitik hohen Um-
weltstandards genügt und sie auch voraussetzt, zeigt die
aktuelle Situation. Ich darf darauf hinweisen, dass die
GAP in ihrer Gesamtheit bereits heute einen erheblichen
Beitrag zur ressourcenschonenden und nachhaltigen Pro-
duktion – um das einmal auf Deutsch zu sagen: Das
nennt man Greening – leistet: Die Landwirte müssen
schon heute für den Erhalt der Direktzahlungen umfang-
reiche Auflagen des Umwelt- und Tierschutzes sowie
der Lebensmittelsicherheit erfüllen, insbesondere in
Deutschland gelten hohe und strenge Erosionsschutzauf-
lagen, Grünlandstandorte werden differenziert gefördert,
Landschaftselemente, zum Beispiel Hecken, dürfen
nicht beseitigt werden usw. Rund 40 Prozent der Be-
triebe in Deutschland bringen schon heute etwa 25 Pro-
zent der landwirtschaftlichen Gesamtflächen in Agrar-
umweltmaßnahmen ein.
Ich erwähne dies, damit auch den Zuhörerinnen und
Zuhörern klar wird: Die Landwirtschaft ist schon heute
der Nachhaltigkeit in der Produktion in höchstem Maße
verpflichtet.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Präsident, gestatten Sie, dass ich erst einmal
erstaunt darüber bin, dass meine Frage, die ich an das
Bundesumweltministerium gerichtet habe, vom Bundes-
ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz beantwortet wird. Nehmen wir es aber so hin.
Anscheinend ist das Bundesumweltministerium nicht in
der Lage, seine Vorstellungen zur GAP-Reform hier dem
Parlament kundzutun. Das werden wir dann aber woan-
ders noch einmal bewerten.
Das führt aber natürlich zu der Frage – Herr Staats-
sekretär Müller, Sie sind jetzt ja auch der Sprecher des
Bundesumweltministeriums in dieser Frage –: Wie wol-
len Sie – so weit verstehen wir den Ablauf im Kabinett
bisher – das Bundesumweltministerium in den GAP-
Prozess einbinden? Was, denken Sie, wird das Bundes-
umweltministerium zum GAP-Prozess beitragen?
Dr
Herr Präsident! Herr Ostendorff! Meine Damen und
Herren! Natürlich antworte ich für die Bundesregierung –
und dies im Einvernehmen mit dem Bundesumweltmi-
nisterium. Hier gibt es einen engen Schulterschluss und
enge Abstimmungen. Das ist doch selbstverständlich.
Wir haben in der Frage, wie wir die jetzt von der
Kommission gemachten Vorschläge bewerten und wie
wir in diesem Punkt gegenüber Brüssel auftreten und
verhandeln, natürlich eine gemeinsame Linie. Dass es in
beiden Häusern ausgewiesene Fachleute gibt und dass es
da auch einmal zu differenzierten Diskussionen kommt,
wissen Sie als praktizierender Landwirt sehr genau. Je-
der Landwirt hat seine eigene Sicht der Dinge. Die Kom-
mission hat deshalb auch verschiedene Modelle vorge-
schlagen.
Sie haben auch nach den Optionsmodellen und da-
nach gefragt, wie dieser Greening-Prozess umzusetzen
ist. Die drei Modelle werden jetzt in den Arbeitsgruppen
auf Brüsseler Ebene diskutiert. Die Präsidentschaft wird
im Juni einen Fortschrittsbericht dazu vorlegen. Der
nächste Schritt wird dann der der Meinungsbildung in
dieser Frage sein.
Weitere Zusatzfrage.
Entschuldigung, aber heute muss ich die Fragestunde
leider etwas dehnen; sonst rügen Sie mich sofort, Herr
Präsident.
So weit wir das im Parlament bisher mitgeteilt be-
kommen haben, hat nicht die Kommission drei Modelle
vorgelegt, sondern 15 Staaten unter Führung Deutsch-
lands haben diese drei Optionen vorgelegt. Ich glaube, es
ist wichtig, das festzuhalten.
Angesichts der Tatsache, dass zwei Drittel der Bun-
desbürger bei Umfragen sagen, zukünftig seien Zahlun-
gen in Europa an die Landwirtschaft, für die der europäi-
sche Steuerzahler aufkommt, nur noch verantwortbar,
wenn sie an strenge Standards beim Umwelt- und Tier-
schutz gekoppelt sind, lautet meine Frage an das
Bundesumweltministerium: Wie will das Bundesum-
weltministerium aus seiner Sicht diese Anforderung der
Gesellschaft im Greening-Prozess umsetzen?
Dr
Herr Präsident! Herr Ostendorff, Sie haben natürlichrecht: Der Kommissionsvorschlag wurde durch den Vor-schlag der 15 Staaten ein Stück weit erweitert. Darüber
Metadaten/Kopzeile:
21426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
(C)
(B)
diskutiert man im Ministerrat mit der Kommission undin den Ländern. Dies ist sehr wichtig.Das Ergebnis der Umfrage ist nicht erstaunlich. DieBürgerinnen und Bürger im Land erwarten, dass dieLandwirte dann, wenn sie für die Bewirtschaftung ihrerFlächen Direktzahlungen erhalten, deren Mittel aus denSteuertöpfen stammen, bei der nachhaltigen Bewirt-schaftung, beim Umweltschutz, aber auch beim Tier-schutz hohe Standards einzuhalten haben. Ich habe da-rauf hingewiesen, dass bereits heute der Grundsatz derNachhaltigkeit in Deutschland komplett umgesetzt istund wir diese hohen Standards einfordern.Dies ist nicht in allen 27 EU-Staaten in derselbenWeise der Fall, auch nicht in derselben Weise zu kontrol-lieren. Wir befinden uns jetzt an einem Punkt der Neu-konzeption, einer neuen Förderperiode für die euro-päische Agrarpolitik ab 2014. Wir diskutieren in den27 EU-Staaten, mit der Kommission und mit den Land-wirten in ganz Europa: Wo macht es Sinn, weitere Kri-terien in der Frage des ökologischen und nachhaltigenAnbaus und der Landbewirtschaftung sowie des Tier-schutzes einzufordern? Wie sollen wir die neuen Regelnfür Zahlungen noch einmal an neue Auflagen koppeln?Dazu gibt es jetzt drei weitere Modelle, mit denenverschiedene Maßnahmen vorgeschlagen werden. Dassdas ein komplizierter Prozess ist, der die nächsten Mo-nate weiterhin zur Diskussion Anlass gibt, ist selbstver-ständlich. Aber wir sehen das mit großer Gelassenheit.Ich glaube, wir werden nächstes Jahr zum Ziel kommen,um dann den Landwirten ab 2014 Verlässlichkeit in dereuropäischen Agrarpolitik zu bieten.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Ich sehe, dass die
Fragen 26 und 27 der Kollegin Cornelia Behm sowie die
Fragen 28 und 29 des Kollegen Harald Ebner schriftlich
beantwortet werden.
Der nächste Geschäftsbereich ist der des Bundes-
ministeriums der Verteidigung. Auch hier entnehme ich
den Unterlagen, dass die Fragen 30 und 31 der Kollegin
Katja Keul und die Frage 32 des Kollegen Hans-Josef
Fell schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend. Hier werden die Fragen 33 und 34 des Kollegen
Steffen-Claudio Lemme, die Fragen 35 und 36 der Kol-
legin Katja Dörner sowie die Frage 37 des Kollegen
Dr. Ilja Seifert schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit. Die Frage 38 des Kollegen
Dr. Ilja Seifert wird schriftlich beantwortet.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staats-
sekretär Jan Mücke zur Verfügung und freut sich, dass er
schon dran ist. Die Fragen 39 und 40 des Kollegen
Dr. Anton Hofreiter werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 41 unserer Kollegin Frau
Dr. Dagmar Enkelmann auf:
Mit welchen Mehrkosten im Zusammenhang mit der ver-
späteten Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg rech-
net die Bundesregierung, und wer trägt diese Mehrkosten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär Mücke.
J
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Dem Ge-
sellschafter Bund liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt
noch keine belastbare Mehrkostenschätzung der Flugha-
fen Berlin Brandenburg GmbH, FBB, als Vorhabenträ-
gerin vor. Anfallende Mehrkosten wären von der FBB zu
tragen.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Dr. Enkelmann.
Diese Frage stelle ich hier nicht das erste Mal. Ich
habe sie hier schon gestellt, und zwar kurz nach Be-
kanntwerden der Verschiebung der Eröffnung. So lang-
sam müsste deutlich werden, welche Mehrkosten tat-
sächlich entstehen werden. Mehrkosten trägt die FBB,
das heißt in der Konsequenz: Der Steuerzahler zahlt die
Mehrkosten. Das sollte man so deutlich sagen. Die Frage
ist, welchen Anteil dann der Bund übernimmt.
Inzwischen ist aber bekannt geworden, dass die Ge-
samtkosten für das Flughafenprojekt ebenfalls deutlich
steigen werden. Man geht jetzt davon aus, dass es nicht
nur 2,5 Milliarden Euro, sondern mehr als 3 Milliarden
Euro sind. Wer trägt diese Mehrkosten? Das ist die erste
Frage.
J
Frau Kollegin, die Zahlen, die Sie in den Raum stel-
len, sind pure Spekulation. Ich kann nur wiederholen,
dass der Bundesregierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt
keine belastbaren Angaben als Gesellschafter seitens der
FBB zur Verfügung gestellt worden sind. Es wird am
22. Juni eine Aufsichtsratssitzung stattfinden. Die Ge-
schäftsführung der FBB wird zu diesem Zeitpunkt ein
Konzept vorlegen, wie sich diese Mehrkosten gestalten
und wie diese finanziert werden können.
Ich kann ausdrücklich nicht bestätigen, dass der von
Ihnen genannte Finanzrahmen überschritten oder gar
3 Milliarden Euro oder sonst was erreichen wird. Das
sind zurzeit reine Spekulationen. Ich bitte Sie, sich zu-
mindest bis zu der Aufsichtsratssitzung, bis die Ge-
schäftsführung ein solches Konzept vorgelegt hat, zu ge-
dulden.
Frau Kollegin Enkelmann, jetzt schauen wir mal, obSie sich gedulden. Bitte schön, Sie haben Ihre zweiteNachfrage.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21427
(C)
(B)
Eigentlich nicht. Ich finde, wir sollten uns alle nicht
gedulden. Das ist ein Skandal, der dort stattfindet. Es
klingt ein bisschen wie „Niemand hat die Absicht …“,
aber jeder weiß: Es wird Mehrkosten bedeuten. Das nur
so weit, aber ich werde Sie nach dem 22. Juni erneut fra-
gen.
Es geht aber nicht nur um die Frage der Mehrkosten,
sondern um das gesamte Projekt mitsamt seinen Pannen,
die wir in den letzten Jahren verfolgen konnten. Gibt es
schon Schlussfolgerungen, die die Bundesregierung ge-
zogen hat, beispielsweise was die Frage betrifft, den
Aufsichtsrat möglicherweise künftig nicht mit Staatsse-
kretären, sondern zum Beispiel mit fachkompetenten
Vertretern zu besetzen?
J
Frau Kollegin, die Bundesregierung hat ihre Schluss-
folgerungen schon gezogen. Bundesverkehrsminister
Dr. Peter Ramsauer hat eine Sonderkommission einge-
setzt, die sicherstellen soll, dass der neue Flughafen Ber-
lin Brandenburg am 17. März nächsten Jahres, wie jetzt
im Aufsichtsrat beschlossen, den Betrieb aufnehmen
kann. Dabei ist eine Vielzahl von wichtigen Aufgaben zu
beachten. Es geht um Fragen der Flugsicherung, des
Deutschen Wetterdienstes und um die Flughafenkoordi-
nierung. Es ist ein außerordentlich kompliziertes Verfah-
ren, eine solche Verschiebung zu bewältigen.
Ich bin ganz bei Ihnen: Es ist ein außerordentlich
misslicher Vorgang, über den die Bundesregierung au-
ßerordentlich betrübt ist. Darin sind wir, glaube ich, ei-
ner Meinung. Das ist kein Ruhmesblatt gewesen.
Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass die
beiden beamteten Staatssekretäre, die für den Bund im
Aufsichtsrat die Vertretung übernommen haben, ihrer
Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglieder pflichtgemäß nach-
gekommen sind. Wir haben keinen Anlass, darüber
nachzudenken, eine personelle Veränderung vorzuneh-
men.
Im Übrigen verweise ich darauf, dass zum gegenwär-
tigen Zeitpunkt noch keine klare Verantwortlichkeit zu-
gewiesen werden kann, über die Tatsache hinaus, dass
die Geschäftsführung des FBB heute entschieden hat,
dem Generalplaner fristlos zu kündigen. Das ist eine
Entscheidung von heute. Der PG BBI ist heute fristlos
gekündigt worden. Das soll Ihnen vielleicht auch einen
Hinweis darauf geben, wo möglicherweise die Verant-
wortlichkeit für dieses verzögerte Verfahren liegt.
Es gibt noch eine weitere Nachfrage unserer Kollegin
Frau Lisa Paus.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade darauf hinge-
wiesen, dass heute der PG BBI fristlos gekündigt wor-
den ist. Inwieweit können Sie sicherstellen, dass der
neue Termin gehalten werden kann, wenn Sie offensicht-
lich ab dem heutigen Tage kein Planungsbüro mehr ha-
ben, das den Flughafen planerisch begleitet?
Sie haben auch die Verantwortlichkeiten angespro-
chen. Inwieweit sehen Sie auch Möglichkeiten der Re-
gressforderungen gegenüber Dritten, zum Beispiel der
PG BBI? Sehen Sie noch weitere Möglichkeiten der Re-
gressforderungen, und haben Sie den Eindruck, dass das
Management diesen Möglichkeiten derzeit in adäquater
Art und Weise nachgeht?
J
Frau Kollegin, die Regressmöglichkeiten werden
selbstverständlich geprüft werden, und zwar nicht nur
durch die Gesellschaft selber, sondern natürlich auch
durch die Bundesregierung als Gesellschafter. Es ist
ganz wichtig, der Frage nachzugehen, wer wofür Verant-
wortung trägt. Sie selbst haben die fristlose Kündigung
des Vertragsverhältnisses zu PG BBI angesprochen. Das
zeigt, in welche Richtung man möglicherweise nachden-
ken könnte. Es wird auf jeden Fall eine Überprüfung ge-
ben. Wenn sich hier Rechtsansprüche ergeben, werden
diese durchgesetzt werden; das ist ganz klar.
Die Flughafengesellschaft wird – das hat der Ge-
schäftsführer heute im Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung berichtet – ein eigenes Controllingver-
fahren aufbauen und mit über 100 Mitarbeitern dafür
Sorge tragen, dass die Tätigkeit als Generalplaner durch
die Gesellschaft selbst wahrgenommen wird und wir
zum 17. März nächsten Jahres den Flughafen eröffnen
können.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Ich rufe die Frage 42 unseres Kollegen Stephan Kühn
auf:
Welche Unterlagen wurden dem Vertreter des Bundes seit
Juni 2011 in den Aufsichtsratssitzungen der Flughafengesell-
schaft Berlin Brandenburg vorgelegt – bitte einzeln auf-
listen –, in denen auf mögliche Verzögerungen und technische
Probleme bei der Fertigstellung des neuen Hauptstadtflugha-
fens hingewiesen wurde?
Herr Staatssekretär, bitte.
J
Die Antwort der Bundesregierung lautet: Die Ge-schäftsführung berichtete in den Sitzungen des Auf-sichtsrates regelmäßig zum Projektfortschritt. Alle damitverbundenen Informationen flossen in den jeweiligenControllingbericht ein, der in einer aktualisierten Fas-sung zu jeder Aufsichtsratssitzung präsentiert wurde.Von Juni 2011 bis April 2012 sind im Aufsichtsrat insge-samt vier Controllingberichte vorgelegt worden. Überden schriftlichen Bericht hinaus berichtete die Ge-schäftsführung in den Sitzungen des Aufsichtsratesmündlich zum aktuellen Sachstand. In diesem Zusam-menhang erfolgten sachkritische Hinweise zum Brand-schutz in der Sitzung des Aufsichtsrates am 20. April2012. Diese Hinweise zeigten ausdrücklich keine Aus-
Metadaten/Kopzeile:
21428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
wirkungen auf die vorgesehene Inbetriebnahme des BERam 3. Juni 2012 dergestalt an, dass zwingend eine Ver-schiebung vorgenommen werden müsste.
Herr Kollege Stephan Kühn, Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Mücke. – Sie waren
bei den heutigen Beratungen des Verkehrsausschusses
zugegen. Da haben wir seitens der Flughafengesellschaft
und Professor Schwarz erfahren dürfen, dass bereits seit
Dezember letzten Jahres, noch vor Weihnachten, be-
kannt ist, dass die vollautomatische Entrauchungsanlage
nicht zum 3. Juni in Betrieb gehen kann. Deshalb hat
man versucht, mit entsprechender behördlicher Geneh-
migung eine teilautomatische Lösung zu implementie-
ren. Aber es war offen, ob eine solche überhaupt geneh-
migungsfähig ist.
Mich interessiert, ob der Bundesregierung tatsächlich
erst in der Aufsichtsratssitzung am 20. April dieses Jah-
res die Information zuteil wurde, dass die vollautomati-
sche Entrauchungsanlage nicht rechtzeitig in Betrieb ge-
hen kann. Oder wussten Sie bereits vorher von diesem
Sachverhalt, und wenn ja, wie haben Sie ihn bewertet?
Wir haben heute erfahren, dass die Dimension etwas un-
terschätzt wurde. Man hat beispielsweise darauf hinge-
wiesen, dass auch die O2-World-Veranstaltungshalle mit
einer teilautomatischen Entrauchungsanlage betrieben
wird. Aber der Vergleich zwischen einer Veranstaltungs-
halle und einem Flughafen mit mehreren Zehntausend
oder Hundertausend Besuchern pro Tag – es handelt sich
um eines der größten Gebäude in Europa – ist fragwür-
dig. Haben Sie eine Bewertung dieses Sachverhalts tat-
sächlich vorgenommen?
J
Den beiden Mitgliedern des Bundes im Aufsichtsrat
der FBB ist erstmals am 20. April – genau so, wie ich es
ausgeführt habe – zum Thema Brandschutz berichtet
worden. Zu möglichen Schwierigkeiten: Sie sehen, dass
der entsprechende Controllingbericht eine gelbe Signali-
sierung aufweist; dazu ist in der Öffentlichkeit schon
mehrfach berichtet worden. Der Bundesregierung liegen
keine Erkenntnisse darüber vor, ob eine zügigere Infor-
mation erfolgt ist. Wir gehen davon aus, dass sie am
20. April erfolgt ist.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Stephan Kühn.
Ihr Kollege, Herr Staatssekretär Bomba, hat auf den
umfangreichen Briefwechsel zwischen dem BMVBS
und dem Flughafenbetreiber hingewiesen, aus dem her-
vorgeht, dass man sich mit Fragen des Brandschutzes in-
tensiv befasst hat. Hat dieser Briefwechsel tatsächlich
erst nach dem 20. April, also nach Feststellung des Sach-
verhalts, eingesetzt, oder gab es bereits vorher einen in-
tensiven Briefwechsel zu dieser Problematik?
Schließlich haben wir erfahren, dass im Februar eine
sogenannte Task Force Brandschutz eingerichtet wurde,
an der der Bund zwar nicht unmittelbar beteiligt ist; ich
gehe aber davon aus, dass in einem solchen Verfahren
alle Anteilseigner des neuen Flughafens über relevante
Sachstände seitens der Flughafengesellschaft oder über
die Ergebnisse der Arbeit dieser Task Force Brandschutz
informiert werden.
J
Ich muss Sie korrigieren. Die Bundesregierung unter-
liegt dem Geschäftsführungsverbot. Es gilt das Aktien-
recht. Die Geschäftsführung ist zuständig für die opera-
tiven Angelegenheiten dieser Gesellschaft. Deshalb ist
es nicht die Aufgabe des Bundesverkehrsministeriums,
auf mögliche Brandschutzfragen Antworten zu finden.
Das ist vielmehr ausschließlich die Angelegenheit der
Geschäftsführung der Gesellschaft und des jeweiligen
Bauordnungsamtes, das auch glücklicherweise einge-
griffen hat.
Insofern kann sich der von Ihnen erwähnte Schrift-
wechsel zwischen dem BMVBS und der Flughafenge-
sellschaft ausschließlich auf die Controllingberichte oder
andere Aufsichtsratsangelegenheiten beziehen, jedoch
nicht konkret auf ein wie auch immer geartetes Brand-
schutzkonzept. Mich verwundert Ihre Frage. Sie unter-
stellt einen Sachverhalt, der so nicht der Wahrheit
entspricht. Herr Staatssekretär Bomba als Mitglied des
Aufsichtsrats hat Ihnen heute in der Ausschusssitzung
zugesagt, dass Ihnen dieser Schriftwechsel zwischen
dem BMVBS und der Flughafengesellschaft zugänglich
gemacht wird. Ich darf Sie auch in diesem Fall bitten,
die Geduld aufzubringen, bis Ihnen die Einsicht gewährt
wird. Dann können Sie jedes einzelne Schriftstück selbst
nachvollziehen.
Frau Kollegin Lisa Paus, Sie haben eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie und ich haben heute erfahren,dass die Geschäftsführung der Flughafengesellschaft be-reits im Dezember und der Vorsitzende der Geschäfts-führung Herr Schwarz nach seiner eigenen Aussage imJanuar/Februar bereits wussten, dass die Planung zumvollautomatischen Brandschutz nicht mehr einzuhaltensein werde, sondern es eine teilautomatische Lösung ge-ben müsse. Er hat den Aufsichtsrat über diese Informa-tion erst in der Aufsichtsratssitzung am 20. April infor-miert. Wie bewerten Sie diese späte Information desAufsichtsrats?Außerdem würde mich interessieren, wie Sie die Ein-schätzung bewerten, dass es bei einem solchen Neubau– es handelt sich um einen Flughafen, der praktisch Tagund Nacht und 365 Tage im Jahr in Betrieb ist – über-haupt realistisch ist, eine Genehmigung für eine teilauto-matische Brandschutzanlage zu bekommen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21429
(C)
(B)
J
Zu Ihrer zweiten Frage fehlt mir die Beurteilungs-
kompetenz, weil das eine Aufgabe des Bauordnungs-
amts ist. Die Bauordnungsbehörde im jeweiligen Land-
kreis trifft auf kommunaler Ebene die Entscheidung
darüber und nicht die Bundesregierung. Deshalb entzieht
sich diese Frage einer Beantwortung durch mich.
Zu Ihrer ersten Frage kann ich Sie nur auf den Auf-
sichtsrat als Kollektivorgan verweisen. Der Aufsichtsrat
muss sich mit der Frage befassen, ob das eine ausrei-
chende Information gewesen ist. Das wird sicher noch
ein Thema der nächsten Aufsichtsratssitzungen sein. Da-
von bin ich fest überzeugt.
Die nächste Nachfrage kommt von unserer Kollegin
Frau Bettina Herlitzius. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, wir waren sehr überrascht, als wir
vor zwei Wochen von diesen Verzögerungen gehört ha-
ben. Wir als Bau- und Verkehrsausschuss sind nicht in-
formiert worden. Insofern sehen Sie uns nach, dass wir
hier sehr viele Nachfragen haben. Es ist eigentlich keine
Art, wie hier mit Bauvorhaben, an deren Kosten auch der
Bund beteiligt ist, umgegangen wird.
Ich gehe davon aus, dass Sie die Planungsleistungen
und Bauleitungsaufgaben europaweit ausschreiben müs-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wann
meinen Sie, dass Ihnen das neue Büro zur Verfügung
steht? Müssen Sie jetzt die Baustelle so lange stilllegen?
J
Es wird kein neues Büro geben, und die Baustelle
wird nicht stillstehen.
– Die Antwort habe ich vorhin schon gegeben.
Es gibt immer nur eine Nachfrage. Aber ich darf ei-
nen Hinweis geben: Der Kollege Kühn hat noch eine
Frage gestellt, sodass man möglicherweise darauf noch
reagieren kann.
Ich rufe die Frage 43 des Kollegen Stephan Kühn auf:
Wie wurden diese Informationen seitens des Vertreters des
Bundes bzw. der Bundesregierung jeweils bewertet, und wie
flossen die entsprechenden Schlussfolgerungen in die Ent-
scheidungsfindung des Aufsichtsratsgremiums ein?
Bitte, Herr Staatssekretär.
J
Die Bewertung der Vorlagen der Geschäftsführung er-
folgt im Aufsichtsrat als Kollegialorgan. Trotz kritischer
Nachfragen der zwei Bundesvertreter im Aufsichtsrat
bestätigte die Geschäftsführung am 20. April 2012 den
vorstehenden Sachverhalt. Das heißt, sie erklärte, dass
die Erkenntnisse zum Brandschutz keine Auswirkungen
auf die vorgesehene Inbetriebnahme des BER am 3. Juni
2012 haben.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Stephan Kühn.
Herr Staatssekretär, wir haben von Herrn Staatssekre-
tär Bomba erfahren, dass er sich nicht allein durch die
Unterlagen im Aufsichtsrat kämpfen muss, sondern dass
ihm in seiner Behörde, dem BMVBS, Fachleute zur
Seite stehen, die diese Unterlagen bewerten können.
Dies wird im Rahmen der Vorbereitung einer Aufsichts-
ratssitzung auch erfolgen, zumal die Berichte in der Re-
gel vorher verschickt werden. Der Bericht zur Aufsichts-
ratssitzung vom 20. April ist einen Monat alt. Daher
stelle ich noch einmal die Frage: Hat die Bundesregie-
rung keine Probleme dabei gesehen, dass bei einem so
komplexen Vorhaben mit einer solchen Dimension eine
teilautomatische Entrauchungsanlage in jedem Fall ge-
nehmigungsfähig sei?
J
Herr Kollege, ich wiederhole mich. Das ist eine Frage
der zuständigen Fachbehörde, und die zuständige Fach-
behörde ist das Bauordnungsamt im zuständigen Land-
kreis. Ich bitte Sie, die Frage an die zuständige Behörde
zu richten und nicht an die Bundesregierung.
Sie haben eine weitere Nachfrage.
Daran knüpft die Frage indirekt an: Es gibt mittler-
weile den zweiten Verschiebungstermin. Ursprünglich
sollte der Flughafen bereits am 31. Oktober 2011 eröff-
net werden. Ich glaube, davor war ein Eröffnungstermin
im Jahr 2010 Gegenstand der Debatte. Nach der erneu-
ten Verschiebung im letzten Jahr haben Vertreter des
Bundes im Aufsichtsrat darauf hingewirkt, dass die Con-
trollinginstrumente und die Risikobewertungsinstru-
mente ausgebaut werden, sodass der Aufsichtsrat
tatsächlich valide Ergebnisse, Bewertungen und Ein-
schätzungen vorgelegt bekommt. Daher habe ich die
Frage: Welche konkreten Controlling- und Risiko-
managementvorschläge wurden seitens der Vertreter des
Bundes zur Verbesserung eingereicht?
J
Die Aufsichtsratsmitglieder und insbesondere derKollege Bomba, der Mitglied des Aufsichtsrates ist, ha-ben mehrfach nachgefragt, ob die Risiken tatsächlichrichtig bezeichnet worden sind. Herr Bomba hat heuteim Ausschuss mitgeteilt, dass er die Geschäftsführungmehrfach gefragt hat, ob diese Einschätzungen so richtigseien. Die Geschäftsführung hat die Einstufung vorge-
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21430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Jan Mücke
(C)
(B)
nommen, die besagt, dass das Brandschutzthema kritischsei, jedoch erfolgte diese Einstufung unter „gelb“, was inBezug auf den Eröffnungstermin eine nicht kritischeEinschätzung ist.Das war offensichtlich eine Fehleinschätzung der Ge-schäftsführung. Deshalb habe ich vorhin ausgeführt,dass die Art und Weise, wie der Aufsichtsrat hier infor-miert wurde, sicher Gegenstand der weiteren Aufsichts-ratsberatungen sein wird. Ich gehe davon aus, dass dasGanze sehr kritisch gesehen wurde. Das können Sie auchdaraus ableiten, dass einer der zuständigen Geschäfts-führer das Unternehmen verlassen wird.
Wir kommen zu den Einzelnachfragen. – Frau Kolle-
gin Bettina Herlitzius.
Meine Nachfrage lautet: Wer übernimmt jetzt die Pro-
jekt- und Bauleitung? Hat derjenige, der sie übernimmt,
auch die Kompetenz dazu?
J
Ich hatte vorhin schon ausgeführt, dass die FBB nach
der Kündigung von PG BBI jetzt selbst die Bauüberwa-
chung übernimmt.
Eine weitere Nachfrage unserer Kollegin Frau Lisa
Paus.
Wir sind nach wie vor irritiert. Überwachung und
Controlling sind nicht gleichzusetzen mit Planung. Viel-
leicht können Sie noch etwas dazu sagen.
Zu meiner eigentlichen Frage: Ich hatte nicht die Auf-
sichtsratsmitglieder gefragt; denn diese sind hier in der
Tat nicht zu befragen. Ich hatte Sie persönlich als Vertre-
ter der Bundesregierung gefragt, inwieweit Ihnen per-
sönlich bekannt ist, ob in Deutschland bei einer ver-
gleichbaren Einrichtung jemals eine teilautomatische
Brandschutzanlage genehmigt worden ist. Wie bewerten
Sie den Vorgang, dass die Geschäftsführung den Auf-
sichtsrat offenbar erst drei bis vier Monate nachdem der
Geschäftsführung bekannt geworden ist, dass die vollau-
tomatische Brandschutzanlage nicht zum Eröffnungster-
min fertig sein wird, sondern dass man eine Genehmi-
gung für eine teilautomatische Brandschutzanlage
brauchen wird, informiert hat? Wie bewerten Sie es, dass
diese Informationsweiterleitung von der Geschäftsfüh-
rung zum Aufsichtsrat drei bis vier Monate gedauert hat?
Wie bewerten Sie das als Mitglied der Bundesregierung?
J
Meine persönliche Auffassung spielt hier gar keine
Rolle. Entscheidend ist vielmehr, dass die zuständige
Fachbehörde eine fachlich korrekte Beurteilung vor-
nimmt. Die zuständige Fachbehörde ist das Bauord-
nungsamt des zuständigen Landkreises.
– Ich habe dazu keine Meinung, weil wir nicht die Bau-
aufsicht sind. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung,
Bauaufsicht vorzunehmen.
Ich vernehme jetzt Zurufe, die vom Antwortgeber aber
wohl nicht als Zwischenfragen verstanden werden. – Da-
mit sind wir fertig mit den Nachfragen zur Frage 43.
Wir fahren fort im Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Die Fragen 44 und 45 der Abgeordneten Jutta
Krellmann werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 46 unserer Kollegin Bettina Herlitzius
auf:
Aus welchem Grund wird der ursprünglich für die 21. Ka-
lenderwoche geplante Kabinettsbeschluss über das Gesetz zur
Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemein-
den und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts
– BauGB-Novelle – vertagt, und wann ist dieser nun zu er-
warten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
J
Der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Stärkung der
Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und
zur weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts bedarf
nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung der
Abstimmung zwischen den beteiligten Ressorts, bevor er
dem Kabinett zur Beschlussfassung vorgelegt wird.
Diese Abstimmung ist noch nicht abgeschlossen. Sobald
diese Abstimmung abgeschlossen ist, wird der nächst-
mögliche Kabinettstermin angestrebt.
Frau Herlitzius, Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, gibt es Überlegungen vonseiten
der Regierung, den Ausbau von Kraftwerken im Außen-
bereich zur Beschleunigung der Energiewende – es han-
delt sich um eine Privilegierung – noch weiter auszuwei-
ten?
J
Ich möchte Sie bitten, den Kabinettsbeschluss abzu-warten. Es macht keinen Sinn, über Zwischenstände zuberichten, solange die Kabinettsbefassung noch nicht er-folgt ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21431
(C)
(B)
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Woran hakt es? Bei welchem Ihrer verschiedenen
Vorschläge – manche sind ja ganz sinnvoll; manche be-
grüßen wir; aber es gibt auch ein paar, die wir sehr kri-
tisch sehen – hakt es in der Abstimmung mit welchem
Ressort?
J
Die Bundesregierung tritt hier einheitlich auf. Des-
halb darf ich Sie bitten, sich so lange zu gedulden,
bis die Bundesregierung zu einer einheitlichen Auffas-
sung gekommen ist und einen Kabinettsbeschluss über
diesen Gesetzentwurf gefasst hat. Dann können Sie im
Deutschen Bundestag darüber befinden und Ihre Posi-
tion gerne einbringen.
Zunächst einmal wird die Bundesregierung eine ge-
meinsame Position vorstellen. Danach können Sie noch
in diesem Jahr darüber abstimmen.
Ich rufe die Frage 47 unserer Kollegin Bettina
Herlitzius auf:
In welcher Form hat die Bundesregierung die Zielerfül-
lung der Bebauungspläne der Innenentwicklung seit ihrer Ein-
führung in das Baugesetzbuch evaluiert, und welche Erkennt-
nisse zieht die Bundesregierung daraus, insbesondere für
Bürgerbeteiligung und Umweltschutz?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
J
Der aktuelle Gesetzentwurf wurde durch Experten im
Rahmen der Berliner Gespräche zum Städtebaurecht
fachlich begleitet. Hier wurde unter anderem festgestellt,
dass sich das im Jahr 2007 mit dem Gesetz zur Erleichte-
rung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung
der Städte eingeführte Instrumentarium bewährt hat.
Weitere Informationen können dem Bericht zu den „Ber-
liner Gesprächen zum Städtebaurecht“ auf Seite 57 ent-
nommen werden.
Des Weiteren wurde die Beratung des Gesetzes sei-
nerzeit durch ein Planspiel begleitet – so wie das bei Än-
derungen des Baugesetzbuches immer der Fall ist –, des-
sen Ergebnisse dem zuständigen Bundestagsausschuss
vorlagen.
Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, nach unseren eigenen Recherchen
werden mittlerweile fast 70 Prozent der Bebauungsplan-
verfahren nach dem vereinfachten §-13-a-Baugesetz-
buch-Verfahren durchgeführt. Das hat zur Folge, dass
Umweltprüfungen oder auch Bürgerbeteiligungen mar-
ginalisiert werden. Das ist eigentlich nicht im Sinne der
damaligen Erfinder, die diesen Paragrafen eingeführt ha-
ben. Dieser Paragraf ist eingeführt worden, um be-
stimmte Vorhaben zu beschleunigen; er ist nicht einge-
führt worden, um beim Planungsrecht an dieser Stelle
grundsätzlich die Bürgerbeteiligung auszuhebeln. Inso-
fern ist schon interessant, hier weiter nachzufragen. Ich
glaube, dass die Experten da nicht die richtige Adresse
sind.
Die Frage ist: Gibt es Unterlagen in Ihrem Ministe-
rium dazu, wie der Paragraf vor Ort wirklich angewen-
det wird? Haben Sie evaluiert, welche Zahlen es gibt,
wie viele Verfahren da durchgeführt worden sind? Ein
reines Experteninterview hilft Ihnen an dieser Stelle
nicht weiter.
J
Grundsätzlich finde ich es nicht verkehrt, wenn sich
die Experten mit diesen Dingen auseinandersetzen. Des-
halb haben wir ja beispielsweise die Berliner Gespräche
zum Städtebaurecht. Wir machen dieses Planspiel auch,
um alle Auswirkungen einer Änderung im Städtebau-
recht sehen zu können.
Ich kann nichts Schlechtes daran finden, dass wir in
den Bauplanungsverfahren eine gewisse Straffung vor-
nehmen. Das war auch der Sinn dieser Änderung. Aus
meiner Sicht ergeben sich daraus keine negativen Ent-
wicklungen. Das haben auch alle Rückmeldungen, die
wir bisher zu diesem Thema haben, bestätigt. Das BBSR
kann Ihnen sicher Auskunft dazu geben, und zwar detail-
lierter, als ich das jetzt hier im Rahmen der Fragestunde
könnte.
Wir sehen grundsätzlich keine negativen Auswirkun-
gen dieser Änderung des Städtebaurechts. Wir begrüßen
es außerordentlich, wenn diese Änderung des Bauge-
setzbuchs dazu führt, dass Investitionsvorhaben schnel-
ler umgesetzt werden können. Wir sprechen auch bei der
Verkehrsinfrastruktur immer davon, dass wir Planungs-
beschleunigung haben wollen, sodass wir Investitions-
entscheidungen schneller herbeiführen können. Das gilt
natürlich ganz genauso auch für private Investitionen im
Innenbereich. Deshalb können wir die von Ihnen konsta-
tierten negativen Auswirkungen dieser Rechtsänderung
nicht nachvollziehen.
Ihre weitere Nachfrage, Frau Kollegin.
Das verwundert etwas, Herr Staatssekretär, weil Siebei der Novellierung des Baugesetzbuchs extra den Pas-sus aufgenommen haben, dass Mediationen im Bauleit-planungsverfahren eingeführt werden. Das heißt, Siemüssen schon erkannt haben, dass die Bürgerbeteiligungin dem Prozess gestärkt werden muss. Wieso führen Siedas an der einen Stelle ein, sehen aber nicht, dass hier eineklatanter Missstand besteht?
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21432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
(C)
(B)
J
Es tut mir leid; ich kann Ihre Analyse nicht bestäti-
gen. Wir gehen davon aus, dass diese Regelung sich be-
währt hat. Gegen neue Instrumente der Bürgerbeteili-
gung wie auch gegen die Mediation ist überhaupt nichts
einzuwenden. Eine vernünftige Stadtplanung ist nur
möglich mit den Bürgern, nicht gegen die Bürger. Dem
muss nicht zwingend entgegenstehen, dass wir zu zügi-
gen Entscheidungen in diesem Bereich kommen. Des-
halb vermag ich Ihre Kritik nicht nachzuvollziehen.
Ja, so ist die Geschäftsordnung.
Damit ist auch der Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ab-
gehandelt.
Die Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
– das sind die Frage 48 der Kollegin Bärbel Höhn und
die Frage 49 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl – werden
schriftlich beantwortet.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie. Ich be-
danke mich beim Staatssekretär Hans-Joachim Otto da-
für, dass er die Antworten gibt.
Die Frage 50 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl sowie
die Fragen 51 und 52 des Kollegen Oliver Krischer wer-
den schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 53 unserer Kollegin Frau Dorothea
Steiner auf:
Welche Position vertritt die Bundesregierung derzeit in
den Verhandlungen zur Energieeffizienzrichtlinie in Brüssel,
und wie beabsichtigt die Bundesregierung in den kommenden
Wochen die Verhandlungen zu beeinflussen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
H
Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Kollegin Steiner
stellt die Frage, welche Position die Bundesregierung
derzeit in den Verhandlungen zur Energieeffizienzricht-
linie einnimmt
und wie sie diese Position dort vertritt. Die Antwort lau-
tet, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen über
die Energieeffizienzrichtlinie sich laufend positioniert
hat. Viele Punkte sind unstreitig; da ist man auf der deut-
schen Linie. Ein zentraler Punkt ist streitig, nämlich die
Frage der verpflichtenden Energieeinsparquote. Dort hat
die deutsche Seite einen Vorschlag zur Formulierung
von Art. 6 der Richtlinie gemacht. Das war in dieser
Form auf europäischer Ebene leider nicht durchsetzbar.
Die Diskussion darüber, wie sich Deutschland nunmehr
zu Art. 6 und Art. 3 verhalten wird, ist noch nicht abge-
schlossen.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Steiner.
Danke. – Herr Staatssekretär, genau dazu möchte ich
nachfragen.
H
Das habe ich befürchtet.
Das Problem war ja, dass die Position der Bundesre-
gierung an dieser Stelle windelweich und wenig präzise
auf Ergebnisse orientiert war, was nicht nur nach unserer
Auffassung vielleicht auch auf die etwas – möchte ich
einmal polemisch sagen – verbohrte Einstellung im
Wirtschaftsministerium zurückzuführen ist. Wenn Sie
jetzt sagen, Sie sind in der Meinungsfindung dazu, wie
Sie weiter vorgehen wollen, dann möchte ich wissen:
Gibt es Anzeichen, dass Sie eher einen konsequenten
Kurs betreiben und sich zu konkreten Einsparquoten be-
kennen, die Sie dann auch gegenüber anderen EU-Län-
dern vertreten werden?
H
Liebe Frau Kollegin Steiner, Ihre Einschätzungen der
Bundesregierung und des Bundeswirtschaftsministe-
riums widersprechen sich ein bisschen. Auf der einen
Seite sagen Sie, wir seien verbohrt, auf der anderen
Seite, wir seien windelweich.
Das passt nicht so recht zusammen.
Zum anderen möchte ich Sie darauf hinweisen, dass
die Position des Bundeswirtschaftsministeriums, die Sie
kritisiert haben, auch von Landesregierungen im Bun-
desrat gestützt wird, in denen die grüne Partei, Ihre Par-
tei, vertreten ist, nämlich die Position hinsichtlich der
Frage, ob es überhaupt mit dem Subsidiaritätsprinzip
vereinbar ist, dass auf europäischer Ebene verpflich-
tende Energieeinsparquoten festgelegt werden. Wir wis-
sen hier also durchaus auch einige Landesregierungen,
an denen die Grünen beteiligt sind, hinter uns.
Frau Steiner, Sie haben eine weitere Nachfrage?
Herr Staatssekretär, Sie werden verstehen, dass wirdem widersprechen müssen. Das würde ich jetzt eher un-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21433
Dorothea Steiner
(C)
(B)
ter politischer übler Nachrede verbuchen, was Sie überan Landesregierungen beteiligte Grüne gesagt haben.H
Ich kann der Wahrheit nicht ausweichen.
Ich muss noch einmal darauf zurückkommen: Sie ha-
ben ja bisher die Ansicht vertreten, dass Sie bereits aus-
reichend für Energieeffizienz tun, auch in der Bundesre-
publik selbst, und dass Sie es deswegen gar nicht nötig
hätten, die Instrumente der Rahmenrichtlinie konsequent
umzusetzen. Andere Mitgliedstaaten berufen sich jetzt
natürlich auf das schlechte deutsche Beispiel und tun erst
recht nichts bzw. verpflichten sich erst recht nicht zu ir-
gendwelchen Maßnahmen der Energieeffizienz und zu
Einsparquoten, die man überprüfen könnte. Besteht die
Möglichkeit, dass die Bundesrepublik ihrer Vorbildfunk-
tion in der EU, die sie zweifellos wahrnehmen muss, ge-
recht wird und auch andere Länder davon überzeugt,
sich zu konkreten Einsparquoten zu verpflichten? Und
wenn nein, warum nicht?
H
Liebe Frau Kollegin Steiner, Sie suggerieren in Ihren
Fragen immer Bewertungen, die ich nicht unwiderspro-
chen stehen lassen möchte.
Das mit der Vorbildfunktion will ich gerne stehen lassen;
aber das ist ein Teil des Problems.
Ich möchte erstens darauf hinweisen, dass der Bun-
deswirtschaftsminister die Ansicht vertritt – und er ist
nicht alleine; auch die Fraktionen des Hauses sind zum
großen Teil dieser Auffassung –, dass hier einem Dirigis-
mus das Wort geredet wird, der nicht vorteilhaft ist.
Zweitens zu der Vorbildfunktion Deutschlands, die
Sie, Frau Kollegin Steiner, angesprochen haben. Gerade
diejenigen Länder, die, wie Deutschland, in den vergan-
genen Jahren in der Tat große Fortschritte bei der Ener-
gieeffizienz erzielt haben, würden bestraft, wenn sie jetzt
sozusagen unter ein ganz starres Regime fielen. Die ers-
ten Prozente an Energieeinsparung sind sehr viel leichter
zu bewerkstelligen, als es später der Fall ist, wenn schon
ein hoher Grad an Energieeffizienz erreicht ist; dann ist
jedes Prozent, das man weiter herunterkommt, mit gro-
ßen ökonomischen Lasten verbunden. Deswegen werbe
ich auch bei Ihnen, liebe Frau Kollegin – vermutlich er-
folglos, aber trotzdem –, dafür, von einem starren Re-
gime Abstand zu nehmen und stattdessen flexiblere
Ziele zu formulieren.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle anderen Fragen
werden schriftlich beantwortet bzw. nach der Geschäfts-
ordnung behandelt.
Da noch Ausschüsse tagen und wir vereinbart haben,
mit der Aktuellen Stunde um 15.45 Uhr pünktlich zu be-
ginnen, unterbreche ich jetzt bis zu diesem Zeitpunkt die
Sitzung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen unsere
Sitzung fort.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Keine Vergemeinschaftung europäischer
Schulden – Euro-Bonds-Pläne der SPD:
Haftung für deutsche Steuerzahler?
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Norbert Barthle. Bitte schön, Kollege
Norbert Barthle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Mit dieser Aktuellen Stunde haben wir die Gelegen-heit, über Euro-Bonds zu sprechen. Lassen Sie mich zu-nächst einmal die Frage stellen: Was sind dennüberhaupt Euro-Bonds?Euro-Bonds sind nichts anderes als gemeinsameStaatsanleihen innerhalb der Europäischen Union oderder Euro-Zone. Das heißt, Euro-Staaten würden gemein-sam Schulden am Finanzmarkt aufnehmen und gesamt-schuldnerisch für die Rückzahlung und für die Zinsendieser Schulden haften. Damit weiß man sogleich, wo-rum es geht: Es geht nämlich um nichts anderes als umein Instrumentarium, mit dem man sich neue Staats-schulden verschaffen kann.Das erweckt schon den allerersten Zweifel, den wirhinsichtlich dieses Instruments haben; denn wir sind derAuffassung: Euro-Bonds sind nicht dazu angetan, dasVertrauen an den Finanzmärkten wieder zurückzugewin-nen und zu festigen, sondern im Gegenteil: Euro-Bondswürden sehr schnell dazu führen, dass das Vertrauen derFinanzmärkte in verschuldete Staaten wieder einbrechenwürde, mit den zu besichtigenden Folgen.
Wir wollen keine Euro-Bonds.Euro-Bonds würden letztendlich nichts anderes be-deuten als die Fortsetzung der Verschuldungspolitik.Wozu diese geführt hat, können wir derzeit ebenfalls inganz Europa besichtigen. Die ganze Welt schaut auf uns.Wir haben eine große Verantwortung, Europa wieder in
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21434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Norbert Barthle
(C)
(B)
sichere Gefilde zu bringen, den Euro zu stabilisieren, dieVerschuldung der Staaten zurückzuführen und damit fürein grundlegendes, dauerhaftes Vertrauen an den Finanz-märkten zu sorgen. Insofern bedeuten Euro-Bonds nichtsanderes als eine Gefährdung dieses Kurses der europäi-schen Politik.Damit sind wir sehr schnell beim Thema Fiskalver-trag. Wir hatten heute früh eine Begegnung mit italieni-schen Kollegen aus Senat und Abgeordnetenhaus. Dabeikam klar zum Ausdruck, dass Italien von uns geradezuerwartet, dass wir möglichst rasch über Fiskalvertragund ESM – und zwar gemeinsam – abstimmen und da-mit für zusätzliches neues Vertrauen in Europa sorgen.
Schauen wir doch einmal, was die Sozialisten wollen,was der neue französische Staatspräsident FrançoisHollande will und was die SPD will.
Bei der SPD bin ich mir nicht mehr so sicher; denn manweiß nie genau, was sie eigentlich will. Noch vor Mona-ten sind Sie vehement für Euro-Bonds eingetreten – HerrGabriel, Herr Steinmeier, Herr Steinbrück, alle –, dannbegann eine vorsichtige Absetzbewegung, und inzwi-schen weiß ich gar nicht mehr, wofür Sie stehen.Der Kollege Schneider hat sich vor wenigen Tagengegen Euro-Bonds ausgesprochen. Spricht er da für sich,für die Haushälter, für die SPD-Fraktion? Ich weiß esnicht. Eigentlich müsste man sich als starke Regierungauch eine starke Opposition wünschen. Aber da dieOpposition noch nicht einmal klar erkennen lässt, wofürsie ist,
ist es schwierig, sich mit der Opposition auseinanderzu-setzen.
Nur in einem bin ich mir sicher: Hätten wir eine rot-grüne Regierung – bei den Grünen höre ich ebenfalls Si-gnale, dass man für Euro-Bonds ist –, dann hätten wir inEuropa schon längst die Euro-Bonds. Man hätte schonvor einem Jahr dem Ansinnen der Parteifreunde nachge-geben und Euro-Bonds eingeführt.
Das wäre eine Katastrophe, nicht nur für Europa, son-dern vor allem für uns in Deutschland.
Wozu sollen Euro-Bonds denn dienen? Sollen sie ei-nerseits dazu dienen, den insolvenzgefährdeten Ländernwieder leichteren Marktzugang zu verschaffen
und damit die Marktmechanismen außer Kraft zu set-zen? Das wäre der falsche Weg. Oder geht es darum, mitEuro-Bonds neue Wachstumsprogramme zu finanzieren,und zwar durch Schulden, also auf Pump, wie die Oppo-sition immer sagt? Das wäre ebenfalls der falsche Weg.Also: Wenn schon neue Wachstumsprogramme, dannnicht durch neue Schulden, sondern durch Einsparungen,durch Strukturreformen. Das wäre der richtige Weg.
Euro-Bonds klingen zunächst verführerisch. Schautman genauer hin, stellt man fest: Sie sind eine gefährli-che Droge. Seien wir ehrlich: Bei der Einführung desEuro hat der Euro ein Stück weit wie Euro-Bonds ge-wirkt. Damals sind die Zinsdifferenzen zwischen deneinzelnen Euro-Ländern auf nahezu null zusammenge-schrumpft. Damit wurde keine Abbildung der Wett-bewerbsfähigkeit mehr gewährleistet. Das hat dazugeführt, dass eine Fehlallokation von hohen Kapitalströ-men stattgefunden hat, deren Auswirkungen wir jetzt be-obachten können und bekämpfen müssen. Das war dieUrsache der Staatsschuldenkrise. Wir dürfen nicht dazubeitragen, dass sich eine solche Schuldenkrise noch ein-mal wiederholt.
Die Einführung von Euro-Bonds wäre ein Weg zurück indie Vergangenheit. Alles wäre wieder auf Anfang. Dasist der falsche Weg.Ich hoffe, dass sich nicht nur Einzelne, sondern diegesamte SPD-Fraktion besinnt und ihrem Parteifreund inFrankreich erklärt, dass es der falsche Weg wäre, das zumachen. Wir sind dagegen. Wir lassen das nicht zu.Danke.
Vielen Dank, Kollege Norbert Barthle. – Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Carsten Schneider.
Bitte schön, Kollege Carsten Schneider.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe mich ernsthaft gefragt, was die von der Koalitionangesetzte Aktuelle Stunde bringen soll. Das Thema lau-tet: Euro-Bonds-Pläne der SPD.
Eigentlich könnte man das ganz schnell abschließen undsagen: Meine Damen und Herren, es gibt keine Euro-Bonds-Pläne der SPD; Punkt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21435
Carsten Schneider
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Herr Kollege Barthle, Sie haben eine ganze Reihe an-derer Punkte angesprochen. Insbesondere angesichts derVorbereitung des Gipfels heute Abend lohnt es sich, aufdiese einzugehen. Lieber Kollege Barthle, lassen Siemich eine klare, rechtliche Bewertung abgeben. Es gibtviele europäische Stimmen, die angesichts der schwieri-gen Kapitalmarktsituation dafür plädieren, gemeinsamgarantierte europäische Staatsanleihen zu begeben, da-runter sind viele Kollegen aus Ihren Reihen. Es gibt ei-nen gemeinsamen Entschließungsantrag von Christli-chen Demokraten, Liberalen und anderen Fraktionen imEuropäischen Parlament vom 17. Januar. Darin heißt es,dass das Europäische Parlament nachdrücklich fordert,dass in dem Abkommen– es geht um den Fiskalpakt –neben Vorschlägen zu einem Tilgungsfonds, … einFahrplan für Stabilitätsanleihen …vorgesehen sein muss …Unterschrift: Elmar Brok, CDU/CSU-Fraktion.
Ich hatte heute ein bisschen Zeit und habe im Han-delsblatt geblättert. Ein EU-Kommissar – er heißtOettinger, er ist übrigens von der CDU; zumindest ist eres noch; ich glaube, er ist noch nicht entlassen worden –äußert sich auf Seite 18:Ich rate allen Beteiligten, sich nicht grundsätzlichgegen Euro-Bonds zu positionieren.
EU-Staatsanleihen seien eine „Frage des Timings“.
Eigentlich müsste man angesichts dieser Verlautbarun-gen das Thema dieser Aktuellen Stunde umbenennen in:Widersprüchliche Position der CDU
auf europäischer und Bundesebene zu Plänen der Ein-führung von Euro-Bonds.
Lesen Sie das deutsche Grundgesetz! Eines ist auchnach den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, die zuden verschiedenen Stabilisierungsmaßnahmen erlassenwurden, klar: Ohne eine neue Verfassung, über die dieDeutschen höchstwahrscheinlich über eine Volksent-scheidung befinden müssten, ohne ein neues Grund-gesetz, wird es keine gemeinsame Haftung für Anleihenanderer Länder geben. Das ist die Rechtslage inDeutschland;
wer das ändern will, muss das Grundgesetz ändern. Tei-len Sie das Ihren Kollegen auf europäischer Ebene mit!Lassen Sie uns über die weiteren relevanten Punktesprechen.Herr Kollege Barthle, Sie haben eben gesagt, daswäre wie Gift für neue Schulden. Wenn Sie sagen, dassEuro-Bonds eine gemeinsame Haftung bedeuten, dannfrage ich mich, was mit den Schulden ist, die mit IhrerZustimmung aufgenommen wurden – das war IhreVorlage –: Griechenland-I-Paket mit 15 Milliarden Euro,Griechenland-II-Paket mit 17 Milliarden Euro, und dieEuropäische Zentralbank hat für 55 Milliarden EuroAnleihen Griechenlands gekauft.
– 55 Milliarden Euro sind es insgesamt, 15 Milliar-den Euro beträgt der deutsche Anteil, sehr geehrter HerrKollege Fricke.
Das sind neue Schulden, für die Sie jetzt gemeinschaft-lich haften. Das ist mit Ihren Stimmen beschlossen wor-den, meine Damen und Herren.
In Wirklichkeit tun Sie das Gegenteil von dem, was Siehier behaupten.Ich finde, dass Sie mit dieser Aktuellen Stunde demProblem Europas nicht gerecht werden. Ich denke dabeiinsbesondere an die schwierige Situation, die nach derParlamentswahl am 17. Juni 2012 in Griechenland aufuns zukommt, wie auch immer sie ausgehen mag. Wirbefinden uns in Europa in einer extrem schwierigen Si-tuation. Es wäre gut gewesen, wenn die Bundeskanzlerinund Herr Sarkozy im Oktober des vergangenen Jahresnicht verhindert hätten, dass in Griechenland eine Volks-abstimmung, ein Referendum, über den Verbleib in derEuro-Zone stattfindet. Das haben Sie verhindert.
Dass das Referendum nicht stattfand, war Folge IhrerIntervention. Herr Papandreou wurde damals nachCannes zitiert. Das war ein politischer Fehler. Heutewollen Sie das ändern, weil das demokratische Grie-chenland andere Entscheidungen getroffen hat. So wirddas nicht gehen. Das ist Resultat Ihrer Politik.
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21436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Carsten Schneider
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Ich glaube, dass die Welt schon in drei Wochen sehrviel anders aussehen wird und wir dann vor schwierige-ren Entscheidungen stehen werden. Dann wird es nichtum die grundsätzliche Frage „Euro-Bonds, ja odernein?“ gehen. Dann wird es um die Frage gehen, ob dieEuro-Zone tatsächlich noch Bestand hat und welcheMaßnahmen notwendig werden. Diese wären, hätte manfrüher und mit politischer Weitsicht agiert, so nicht not-wendig geworden. Dass Sie nicht agiert haben, war eindeutliches Versäumnis und wahrscheinlich der größteFehler in der Regierungszeit von Angela Merkel.
Vielen Dank, Kollege Carsten Schneider. – Nächster
Redner für die Fraktion der FDP: unser Kollege
Dr. Hermann Otto Solms. Bitte schön, Kollege
Dr. Solms.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herrn Schneider möchte ich in Erinnerung rufen, dasswir bei den Hilfen für Griechenland und bei anderenHilfen anteilig haften und nicht gesamtschuldnerisch.Das ist eben der große Unterschied.
Wenn sich Abgeordnete im Europäischen Parlamentfür Euro-Bonds aussprechen, dann sollten Sie wissen,dass für die Kasse in Deutschland der Deutsche Bundes-tag zuständig ist und nicht das Europäische Parlamentund auch nicht ein Landesparlament.
Das ist doch Grundwissen für einen Haushälter. Deswe-gen sollte man das in der Öffentlichkeit sauber darstel-len.
Da ist es wieder, das Ungeheuer von Loch Ness. Ei-gentlich dürfte es das gar nicht geben, aber es tauchtdennoch überraschend immer wieder auf. BezüglichEuro-Bonds war in diesem Haus eigentlich Ruhe einge-kehrt. Die SPD hat ihre Äußerungen mehr oder wenigerverrinnen lassen und sich nicht mehr dazu bekannt.Doch kaum wird ein sozialistischer Präsident in einemSchuldnerland gewählt, hängen sich viele von SPD undinsbesondere den Grünen an ihn und fordern Euro-Bonds.
Was sind denn Euro-Bonds? Man muss einmal ganzklar sagen: Was wird damit gewollt, und was bedeutetes? Gewollt ist, dass die Haftung für die Schulden verge-meinschaftet wird, dass nicht länger das einzelne Landfür seine Ausgaben haftet, sondern die Gemeinschaft derMitglieder der Europäischen Union.
Das Zweite, was man damit erreichen will, ist eineNivellierung der Zinssätze. Es soll nicht jeder einen demjeweiligen Risiko entsprechenden Zinssatz zahlen, son-dern alle sollen den gleichen Zinssatz zahlen. Das ist inetwa so wie in einer Schulklasse: Wenn da einige überdie Stränge schlagen und die gesamte Klasse dafür be-straft wird, dann passiert das Gleiche: In Zukunft wirddie gesamte Klasse über die Stränge schlagen, weil allewissen: Wir werden ja sowieso mit in Haftung genom-men.
Was die Zinsen betrifft, ist es so: Wenn in der Schul-klasse zwar unterschiedliche Leistungen erbracht wer-den, aber alle die gleiche Note bekommen, dann gibt eskeinen Anreiz mehr, eine bessere Leistung zu erbringen.Das ist das Fatale an dem Instrument Euro-Bonds: DieAnreize führen, wie der Ökonom sagt, zu falschem Ver-halten. Euro-Bonds führen dazu, dass man möglichstschnell in die Kasse greift, weil man sich sagt: Die ande-ren müssen es ja bezahlen. Das heißt, in Brüssel wird be-schlossen: Die Südländer greifen in die Kasse, und Ber-lin trägt die Kosten. Das lassen wir nicht zu.
Wir können den deutschen Steuerzahler nicht für dieSchulden von ganz Europa in Haftung nehmen. Das istuns auch gar nicht erlaubt, weil es rechtlich nicht zuläs-sig ist und verfassungsrechtlich schon gar nicht. Das hatuns das Verfassungsgericht mehrfach hinter die Ohrengeschrieben. Wir haben die verfassungsrechtliche Ord-nung einzuhalten. Wir haben auch unsere eigene Kassein Ordnung zu bringen. Das haben wir noch nicht ganzgeschafft; wir sind aber kurz davor.
Wir dürfen die Steuerzahler nicht für Risiken in An-spruch nehmen, die in anderen Staaten entstehen.
Den Staaten, die bis jetzt nicht die Kraft haben, ihrHaus in Ordnung zu bringen, muss man sagen: Nehmteuch doch einmal ein Beispiel an Lettland, an Estland,an der Slowakei und an Island. Diese Länder haben esgeschafft, obwohl sie viel ärmer sind als Italien und Spa-nien. Sie haben schnell Anpassungsmaßnahmen getrof-fen. Die haben wehgetan, aber zwei Jahre später ging esbei ihnen schon wieder aufwärts. – Man kann den Fran-zosen, den Italienern und den Spaniern wirklich nurempfehlen – Griechenland ist ein Sonderfall –: Nehmteuch einmal ein Beispiel an diesen Staaten, wenn ihreuch schon kein Beispiel an Deutschland nehmen wollt.Sie haben gezeigt, dass es geht, dass es funktioniert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21437
Dr. Hermann Otto Solms
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Wir haben das genauso vorgeführt. Verantwortlich fürdie Anpassungsmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt unddie Reformen, auch die Steuerreform, war die RegierungSchröder; das will ich noch einmal in Erinnerung rufen.Die SPD sollte sich das zum Vorbild nehmen und sagen:Das waren richtige Maßnahmen. Wir haben dazu beige-tragen, dass es Deutschland wieder besser geht,
dass die Arbeitslosigkeit verschwindet, dass die Men-schen wieder Lebenschancen haben. Diesen Weg wollenwir weitergehen. Dann sind wir sofort auf dem Weg indie gleiche Richtung und können zusammen die Be-schlüsse zum Fiskalpakt und zum ESM gleichzeitig undzügig treffen, und zwar ohne Euro-Bonds oder ähnlicheMaßnahmen, bei denen die Haftung verschwimmt undsich niemand mehr verantwortlich fühlt.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Solms. – Nächster Redner
ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege Richard
Pitterle. Bitte schön, Kollege Pitterle.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Koalition hat eine Aktuelle Stunde zumThema Euro-Bonds beantragt. Viele Menschen im Wahl-kreis fragen mich: Worum geht es bei diesen Euro-Bonds? Es geht darum, dass die Länder der Europäi-schen Union gemeinsam Staatsanleihen ausgeben unddie Euro-Zone dadurch gegen Spekulationen stabilisiertwird. Auch die schwachen Staaten könnten sich so zuvernünftigen Zinsen finanzieren. Das finden wir gut.
Aber die Koalition ist, wie wir gehört haben, dagegen.Sie plustert sich wieder einmal auf und versucht, alle an-deren in diesem Parlament als unverantwortliche Schul-denmacher hinzustellen. Das wird Ihnen nicht gelingen,weil dieser Versuch allzu durchsichtig ist. Wir haften jabereits über die Europäische Zentralbank, die in erhebli-chem Umfang Staatsanleihen anderer Staaten aufgekaufthat.Was ist das Problem? Sie versuchen, Ihre Politik zu-lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, derRentnerinnen und Rentner, die Sie in Griechenlanddurchgesetzt haben, auf ganz Europa zu übertragen. In-zwischen erleben wir einen Abschwung in ganz Europa.Es geht um Spanien, Italien, Frankreich, Holland undÖsterreich. Die reine Sparpolitik ist gescheitert. Jederweiß: Wenn die Investitionen ausbleiben, dann stottertdie Wirtschaft und steigen – trotz des Sparens – dieSchulden. Die Menschen merken das. Die Ergebnisseder Präsidentschaftswahl in Frankreich und der Parla-mentswahlen in Griechenland waren eine Absage an dieradikale und ökonomisch dumme Sparpolitik der Mäch-tigen in der EU.
In den Niederlanden ist daran die Regierung zerbrochen;sie war bisher der wichtigste Verbündete der Bundes-regierung. Die Knebelstrategie der Bundesregierungwird inzwischen weltweit als Bedrohung wahrgenom-men. Beim G-8-Gipfel am Wochenende stand die Bun-desregierung wieder einmal isoliert da. Jeder Menschweiß doch, dass, wenn sich etwas fortbewegen soll, esnicht ausreicht, auf die Bremse zu treten. Man muss auchGas geben können, und das kommt Ihnen nicht in denSinn.
Die Währungsunion war ein Projekt der politischenEliten, unter anderem auch Ihres früheren Ehrenvorsit-zenden Helmut Kohl.
Jeder Mensch mit ökonomischem Sachverstand weiß in-zwischen, dass die Währungsunion in der jetzigen Formkeine Zukunft hat. Jetzt kommt unter anderem ausBayern die Forderung, einzelne Staaten aus der Wäh-rungsunion zu schmeißen. Die Währungsunion kann da-ran zerbrechen, und dann stünden wir vor einem Scher-benhaufen. Das kann nicht die Lösung sein.
– Das stimmt gar nicht. Die PDS hat immer gesagt:„Euro, so nicht!“
Stattdessen sollten wir die Währungsunion auf einneues Gleis setzen und dafür sorgen, dass die Staaten derWährungsunion eine gemeinsame Wirtschafts- und So-zialpolitik betreiben. Dann müssten wir auch zu eineranderen Steuerpolitik kommen, etwa bei der Besteue-rung von Unternehmen und von großen Vermögen, aberendlich auch zu einer Finanztransaktionsteuer. Wir soll-ten auch aufhören, andere Staaten durch Niedriglöhneniederzukonkurrieren.
Zur Wahrheit gehört, dass wir bei den Nettolöhnen einenRückgang um 4,5 Prozent zu verzeichnen hatten, wasmitursächlich für diese Krise war.
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21438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Richard Pitterle
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Wichtig sind aus unserer Sicht auch neue Instrumentewie Euro-Bonds. Zu diskutieren ist dabei darüber, werdie Bonds zu welchen Bedingungen bekommt, wie dieZinsvorteile aufgeteilt werden und wie hoch die Haftungausfällt. Was aber nicht geht, ist, diese Debatte zu ver-weigern und zuzulassen, dass Finanzinvestoren die Staa-ten der Währungsunion gegeneinander ausspielen.
Aus der jetzigen Situation kommen wir nur heraus, wennwir die Staaten der Währungsunion vor dem Zugriff derSpekulanten und Hedgefonds abschirmen. Dafür brau-chen wir entweder eine Form von Euro-Bonds oder Di-rektkredite der Europäischen Zentralbank.
Genau hier fehlt der Koalition aber jedes Verständnis fürpragmatische Politik.
Wir hatten gestern in der Fraktion Besuch von AlexisTsipras vom SYRIZA-Bündnis in Griechenland. Er hates auf den Punkt gebracht: Es geht hier nicht um dieAuseinandersetzung zwischen der Bevölkerung unsererLänder, sondern darum, dass die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in allen Ländern Europas ein Interesse da-ran haben, die Spekulanten in die Schranken zu weisenund dafür zu sorgen, dass sie nicht selbst die Zeche fürdie Krise auf dem Finanzmarkt zahlen müssen.Noch ein Wort zur SPD. Wir begrüßen zwar, dass Siejetzt neue Forderungen aufstellen, nur haben Sie das der-maßen ungeschickt und unentschlossen getan, dass eswohl ausgeht wie das Hornberger Schießen.
Vielen in Ihren Reihen muss ich unterstellen, dass sie inRichtung Große Koalition schielen, statt dem Fiskalpaktdie Zustimmung zu verweigern.
So kann man nicht glaubwürdig Politik betreiben. DerFiskalpakt setzt nicht nur die Axt an die parlamentari-sche Demokratie, sondern schnürt auch die Kommunenim Hinblick auf ihre Investitionen ein und gefährdet dieSozialversicherungssysteme. Deswegen lehnt die Linkeden Fiskalpakt ab.
Vielen Dank, Kollege Pitterle. – Nächster Redner ist
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Manuel Sarrazin. Bitte schön, Kollege Sarrazin.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Heute früh um Viertel nach acht ist meine Mit-arbeiterin fast aus der Dusche gefallen,
weil sie im Radio Herrn Brüderle hörte.
Auch sie kommt aus Rheinland-Pfalz; deswegen kannsie dekodieren, was er sagt. Sie hörte ihn sagen – Zitat –:Ich schließe auch nicht aus, wenn man den Fiskal-pakt, also gleiche Regeln, wie man mit dem Haus-halt umgeht, die Schuldenbremse umgesetzt hat,wenn man eine stärkere Kohärenz von Zusammen-wirken und Gleichklang in der europäischen Wirt-schaftspolitik erreicht hat, dass am Schluss einerEntwicklung so etwas– wie Euro-Bonds –stehen kann.
Da hier vom Hornberger Schießen geredet und HerrOettinger erwähnt wurde, muss ich Sie fragen: KennenSie eigentlich Dr. Wolf Klinz? Dr. Wolf Klinz schreibtauf seiner Homepage:Meine praktische Berufserfahrung in der internatio-nalen Wirtschaft hat mich mehr und mehr darinbestärkt, dass sich die FDP rechtzeitig programma-tisch der Probleme annimmt, die sich für unserLand und Europa als wichtig und drängend ab-zeichnen. Sie hat auch den Mut, Lösungen vorzu-schlagen, die sachgerecht, aber nicht immer populärsind. Damit überlässt sie es anderen, den BürgernHonig ums Maul zu schmieren.Er ist dort auch auf einem Foto mit Dr. GuidoWesterwelle zu sehen. – Dr. Wolf Klinz hat vorletztenMontag im Wirtschafts- und Währungsausschuss desEuropäischen Parlaments für den Antrag gestimmt, dassdie Kommission innerhalb eines Monats nach Inkrafttre-ten des Two-Pack einen konkreten Pfad zur Einführungvon Euro-Bonds, von Stabilitätsbonds und eines Alt-schuldentilgungsfonds vorlegt. Das sind vernünftige Li-berale, meine Damen und Herren.
Herr Solms, ich kann ja nichts dafür, dass meine Ten-denz, ob ich die Liberalen hier oder die Liberalen imEuropäischen Parlament besser finde, schon etwas mitihrer Klugheit zu tun hat und nicht nur davon abhängt,wo sie auftreten. So einfach ist das bei uns.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21439
Manuel Sarrazin
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Kollege Schneider hat schon darauf hingewiesen,dass Deutschland im Euro-Raum längst haftet: 1,1 Bil-lionen Euro wurden an Banken gegeben, für 115 Milliar-den Euro wurden Staatsanleihen aufgekauft. – Was ist ei-gentlich der Hintergrund? Wo versagen Sie gerade? Sieversündigen sich gerade am Erbe von Helmut Kohl undmerken es noch nicht einmal. Was wollten Helmut Kohlund Theo Waigel damals in Maastricht? Damals strittendie Deutschen noch für die politische Union und haben– als Ersatz – den Stabilitäts- und Wachstumspakt be-kommen. Es ist nicht so, dass die Opposition gegendeutsche Interessen in der Europäischen Union arbeitet.
Wir wollen mit Euro-Bonds starke Regeln durchsetzen.Wir wollen mit Euro-Bonds einen glaubwürdigen Schul-denabbauplan vorlegen. Das ist der Unterschied zwi-schen uns. Durch Ihre Blockadehaltung, nämlich jegli-che Debatten zu diesem Thema auszuschließen, machenSie es letztlich unmöglich, dass das, was Helmut Kohl inMaastricht leider nicht vorantreiben konnte, jetzt auf dieAgenda kommt. Das sollten Sie sich einmal hinter dieOhren schreiben, Herr Solms.
Ich möchte das Zinsargument noch einmal aufgreifen,weil mich das besonders ärgert. Wir haben das ThemaEuro-Bonds zum ersten Mal im Herbst 2010 in einemAntrag aufgegriffen. Es waren also nicht die Sozis; dieGrünen haben sich das zum ersten Mal getraut. Aber daHerr Oettinger, Herr Rehn, Herr Juncker und HerrVerhofstadt – alles Konservative und Liberale – auch da-für sind, sind wir wahrscheinlich alle Sozis. Aus IhrerSicht ist das dann eine Art Einheitspartei. Wir haben da-bei immer gesagt: Preisstabilität und Vermeidung über-mäßiger öffentlicher Defizite sind die Grundlage jedesEuro-Bond-Konzepts, für das wir uns einsetzen. – Dasnegieren Sie einfach. Sie reden hier von irgendwelchenKonzepten, die Sie sich irgendwo – ich will jetzt nichtsagen: unter der Dusche – ausdenken, und tun so, alsseien das unsere Konzepte. Beschäftigen Sie sich einmalernsthaft mit unseren Konzepten!
Ich gebe zu: Auch wir schreiben ab. Wir schreibenzum Beispiel beim Sachverständigenrat der Bundes-regierung ab, der in seinem Herbstgutachten vomNovember 2011 die Auflegung eines Altschuldentil-gungsfonds vorgeschlagen hat, ohne übrigens das Zins-argument außer Kraft zu setzen, Herr Solms. Art. 125AEUV würde bei Umsetzung des Vorschlags des Sach-verständigenrats der Bundesregierung in Kraft gelassen.Hören Sie auf, hier andere Sachen zu erzählen, dieschlichtweg nicht stimmen.
Zu Ihrem Schattenboxen und Ihrer Schimäre könnteman noch wahnsinnig viel sagen. Ich fürchte, das würdeder Präsident stoppen. Am Schluss möchte ich aber dochnoch eine Bemerkung machen. Wenn die Kanzlerin vordem informellen Abendessen heute Abend erklärt, die-ses Thema stehe gar nicht zur Debatte, frage ich mich:Welche Arroganz und welcher Stil von europäischerPolitik kommt eigentlich zum Vorschein, wenn zwei derwichtigsten Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament,der Chef der Euro-Gruppe, der Chef der liberalen Frak-tion im Europäischen Parlament, Ihre eigenenWirtschaftsweisen und die Mehrheit der Wirtschaftsfor-schungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten über The-men sprechen, Sie hierüber eine Debatte anmelden unddie Kanzlerin dann sagt: „Heute Abend brauchen wir garnicht darüber zu reden; darauf habe ich gar keinen Bock;ich will nur Abendessen gehen“? Entschuldigung, sogeht Europa nicht.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Sarrazin. – Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Dr. Michael Meister. Bitte schön, Kollege Dr. Michael
Meister.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfand die Rede von Herrn Sarrazin im Verhältnis zu derRede von Herrn Schneider erfrischend. Herr Sarrazin hatsich hier eindeutig und klar bekannt: Er will Euro-Bonds. Herr Schneider hat in seiner Rede alles getan, umdie Position der SPD-Fraktion zu verschleiern.
Ich will einmal darauf hinweisen, dass es am 15. Dezem-ber 2010 einen Gastbeitrag des ehemaligen Bundes-finanzministers Peer Steinbrück und des Fraktionsvor-sitzenden der SPD, Frank-Walter Steinmeier, in derFinancial Times gab, in dem sich beide für Euro-Bondsausgesprochen haben.
Ich halte es deshalb für richtig, dass wir über die Frage,ob wir Euro-Bonds wollen oder nicht, auch einmal hierim Parlament diskutieren und nicht nur in Medien.
Was ist eigentlich unser Problem in Europa? Wir ha-ben auf der einen Seite Volkswirtschaften, die nichtwettbewerbsfähig sind. Wir haben auf der anderen SeiteHaushalte, die total überschuldet sind. Das sind die Ur-sachen. Meine Frage ist: Wie hilft ein Euro-Bond, an
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21440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Dr. Michael Meister
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diesen beiden Ursachen etwas zu ändern? Der Euro-Bond hilft überhaupt nicht, die eigentlichen Probleme zulösen.
Das wäre ein Schmerzmittel, das die Schmerzen etwaslinderte, aber die Probleme nicht löst; nebenbei nähmendie mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und die Überschul-dung zu. Das heißt, wenn wir dieses Schmerzmittel näh-men, bekämen wir noch größere Probleme. Das wollenwir nicht.
Lieber Herr Sarrazin, ja, die Väter des Euro haben ge-sagt: Wir wollen eine gemeinsame Währung. Sie habenaber gleichzeitig deutlich gesagt: Wir wollen keine ge-meinsame Haftung. Das steht in den internationalen Ver-einbarungen,
und genau daran werden wir uns halten. Wir haften fürdas, was wir tun, weil wir es entscheiden; jeder, deranderes entscheidet, muss für seine Entscheidungen ein-stehen und haften. Deshalb sagen wir an dieser Stelle:Teilhaftungsgemeinschaft, aber keine Gesamthaftungs-gemeinschaft.
Hier wird ja auch über Solidarität gesprochen. Ichmöchte einmal fragen: Bedeutet Solidarität eigentlich,dass, wenn wir Euro-Bonds einfordern – was ja höhereZinsen für uns und etwas niedrigere Zinsen für anderezur Folge hat –, in anderen Ländern Konsum gelebtwird, den der deutsche Steuerzahler, der Rentner, der Ar-beitnehmer, der Sparer, bezahlen muss? Ist das Solidari-tät? Aus meiner Sicht nicht!
Das führte nämlich dazu, dass der deutsche Bürger, derkleine Mann, dazu verpflichtet wird, sozialistische Träu-mereien in anderen Ländern zu bezahlen, und das kannnicht sein.
Herr Schneider hat zu Recht darauf hingewiesen, dassdie Rechtslagen in Deutschland und Europa Euro-Bondsgegenwärtig nicht hergeben.
Das ist richtig, und das ist auch gut so.
Das hat nämlich etwas mit funktionierender Demokratiezu tun. Solange die Menschen in Deutschland überhauptnicht abstimmen können in der Frage, was mit dem Geldin Europa geschieht, und solange sie keine Chance ha-ben, über den Deutschen Bundestag oder ein anderesParlament Einfluss darauf zu nehmen,
so lange kann ich ihnen auch nicht zumuten, dass anderemit ihrem Geld irgendwelche Ausgaben tätigen. Ent-scheidung und Verantwortung gehören zusammen; des-halb sind die Rechtslage in Europa und die Rechtslagenach dem Grundgesetz sehr gut. Wir freuen uns darüber,dass dies das Bundesverfassungsgericht eindeutig bestä-tigt hat.
Ich glaube, in dieser Debatte wäre es aktuell viel bes-ser, nicht verantwortungslosem Umgang mit deutschemGeld das Wort zu reden, sondern über die notwendigeVerantwortung zu sprechen. Die notwendige Verantwor-tung ist, dass wir uns gemeinsam zu Fiskaldisziplin ver-pflichten.
Das haben wir in Deutschland mit der Verankerung derSchuldenbremse im Grundgesetz gemeinschaftlich ge-tan. Jetzt steht die verantwortliche Entscheidung an, denFiskalpakt zu ratifizieren. Jeder, der an einer gemeinsa-men Zukunft in Europa interessiert ist, sollte jetzt seinenkonstruktiven Beitrag dazu leisten, den Fiskalpakt um-zusetzen.
Wer ein Interesse daran hat, dass dieses Europa funk-tioniert, und wer von Solidarität spricht, der sollte aufdem Fundament des Fiskalpakts auch zum ESM Ja sa-gen. Das ist die nächste Aufgabe, die ansteht, wenn die-ses Europa funktionieren soll. Deshalb ist meine Bitte anSie: Sagen Sie Ja zu dem, was auf der Agenda steht, undfordern Sie nicht Dinge, die in die falsche Richtung füh-ren.
Ein letztes Argument war die Isolation. Kann es dennsein, dass etwas Falsches dadurch, dass es viele wollen,plötzlich richtig wird? Ich bin der Meinung, wenn etwasfalsch ist, dann ist es falsch. Das muss man dann auchsagen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21441
Dr. Michael Meister
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– Ja, es entscheidet die Mehrheit. Deshalb habe ich auchöffentlich den Vorschlag gemacht, niemanden in Europadaran zu hindern, Euro-Bonds einzuführen.
Wenn die Franzosen, die Italiener und andere sagen:„Wir wollen gemeinsame Anleihen ausgeben“, danndürfen sie das gerne tun. Wir werden sie nicht daran hin-dern.
Ich bin sehr auf das Ergebnis einer solchen Unterneh-mung gespannt.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Meister. – Nächste Redne-
rin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Sozialdemo-
kraten unsere Kollegin Nicolette Kressl. Bitte schön,
Frau Kollegin Kressl.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Meister, Sie haben gerade von der Ver-antwortung für Europa gesprochen. Ich finde, wer Ver-antwortung für Europa übernehmen will, hat hier nicht,innenpolitisch motiviert, mit Nebelkerzen zu werfen,sondern hat sich gefälligst mit den besten Möglichkei-ten, wie wir die Euro-Zone stabilisieren, zu befassen.Das tun Sie hier nicht.
Ich will mit einem oft wiederholten Zitat des „Sozia-listen“ Oettinger beginnen, Herr Meister, der gestern ge-sagt hat:Euro-Bonds sind eine Frage des Timings. Ich rateallen Beteiligten, sich nicht grundsätzlich dagegenzu positionieren.
So viel dazu, eine Debatte darüber seien sozialistischeBlütenträume. Ich könnte noch weitere Zitate bringen.Auch der Titel dieser Aktuellen Stunde steht für dasWerfen von Nebelkerzen. Herr Solms hat eben vom Un-geheuer von Loch Ness gesprochen, das es nicht gibt.Ich habe den Eindruck: Weil Sie innenpolitisch so vieleSchwierigkeiten haben, haben Sie sich gedacht: „Suchenwir einmal das Ungeheuer im Teich“ und haben es mitdiesem Thema gefunden. Das ist doch die Linie, die Siein dieser Aktuellen Stunde vertreten.
Um es klar zu sagen: Es gibt keinen Ruf der SPDnach völlig unkonditionierten Euro-Bonds und auchnicht nach Euro-Bonds im Moment.
– Ich finde, Sie sind reichlich nervös. Das beweist, dassSie mit dieser Aktuellen Stunde nichts anderes wollen,als von Ihren innenpolitischen Verdrehungen abzulen-ken.
Lassen Sie es mich klar und deutlich sagen: Es istrichtig; es gibt äußerst enge verfassungsrechtliche Ein-schränkungen in der Frage der gemeinsamen Haftung.Diese gibt es auch im Europarecht. Ich finde, das ist inOrdnung. Was nicht in Ordnung ist, ist die Weigerung,sich gemeinsam Gedanken über bestmögliche Lösungenzu machen, wie wir die Euro-Zone stabilisieren können.
Der Beweis dafür, dass Sie sich hier verweigern, ist, dassSie die Vorschläge Ihres eigenen Sachverständigenratsohne argumentative Debatte einfach zur Seite geschobenhaben. Als führende Wirtschaftsnation in Europa solltenwir Verantwortung übernehmen und Leitideen auf denWeg bringen, anstatt sachlich gute Argumente, innen-politisch motiviert, beiseitezuschieben. Das hat Europanicht verdient.
Womit Sie aufhören sollten, ist diese plumpe Ableh-nungslinie, völlig verschweigend, dass bereits eine Ge-meinschaftshaftung über den Ankauf von Staatsanleihenexistiert, und zwar in einer Form, die es nicht einmal zu-lässt, über politische Konditionen zu reden. Das ist dochdas Problem.
Das entsteht, wenn man nicht bereit ist, sich fachlich mitArgumenten auseinanderzusetzen.Wir haben es schon mehrfach gehört, aber es ist völligklar: Diese Aktuelle Stunde ist ein Ablenkungsmanöver.Allerdings hat das Thema dieser Aktuellen Stunde einenkleinen Vorteil:
Ich kann mich auf diese Art und Weise verabschieden;denn dies wird meine letzte Rede im Bundestag sein. Beiallem Streit bedanke ich mich für die meistens gute Zu-sammenarbeit, die wir im finanzpolitischen Bereich imBundestag hatten. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft al-les Gute. Sie können sicher sein: Auch aus Baden-Würt-temberg werde ich immer schauen, was der Finanzaus-schuss so auf den Weg bringt.Vielen Dank.
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21442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Nicolette Kressl
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Vielen Dank, Frau Kollegin Nicolette Kressl. Auch
wir wünschen Ihnen alles erdenklich Gute für die Zu-
kunft. So, wie Sie zu uns in den Bundestag schauen,
werden wir natürlich auch zu Ihnen und Ihrer neuen Auf-
gabe in Baden-Württemberg schauen. Wir wünschen Ih-
nen alles Gute. Vielen Dank für die gute Zusammenar-
beit und im Namen des ganzen Hauses alles Gute und
viel Erfolg bei der Arbeit für unser Land.
Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser
Kollege Marco Buschmann. Bitte schön, Kollege
Buschmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Kollegin Kressl, auch ich wünsche Ihneneine glückliche Hand und viel Erfolg bei der neuen Auf-gabe. Wenn man neue Aufgaben wahrnimmt, muss manviel dazulernen.Ich habe in dieser Aktuellen Stunde schon jetzt vieldazugelernt. Dafür hat sie sich gelohnt. Ich habe nämlichgelernt, dass sich die Grünen mit Stolz brüsten, die geis-tigen Urheber – ich könnte auch sagen: die geistigenBrandstifter – beim Euro-Bonds-Thema zu sein. WerEuro-Bonds möchte, muss also Grün wählen.
Ich habe auch etwas Bemerkenswertes über die Hal-tung der SPD-Fraktion gelernt. Der Kollege CarstenSchneider hat vorhin sehr schneidig und richtig gesagt:Mit unserer Verfassung ist das Konzept der Euro-Bondsnicht zu machen. Ich bin jetzt aber ein Stück weit ver-wirrt, weil die Kollegin Kressl genau diesen klaren undeindeutigen Satz sofort wieder aufgebohrt und gesagthat: Vielleicht geht es jetzt aber doch. Wie immer in derEuropapolitik der SPD gilt: Ob linksrum oder rechtsrum –man weiß nicht recht, wohin Sie gehen. So werden wirgarantiert kein Vertrauen in Deutschland und die Euro-Zone zurückgewinnen.
Aber dem Kollegen Schneider glaube ich, weil erwahrscheinlich die bessere Einsicht gegenüber den Grü-nen hat. Ich glaube dem Kollegen Schneider, dass er ge-gen Euro-Bonds ist. Ich glaube, dass der KollegeSchneider verstanden hat, dass derjenige, der die Pro-bleme, die sich aufgetürmt haben, mit Euro-Bonds be-kämpfen will, auch mit Benzin Feuer löschen würde. Ichglaube, dass der Kollege Schneider das mittlerweile ver-standen hat.Ich glaube auch, dass die Sozialdemokratie diesesProblem verstehen wird. Der Kollege Solms hat auf denZinseffekt hingewiesen. Was bedeutet der Zinseffekt fürdie Kernbereiche sozialdemokratischer Politik? DerZinseffekt wird bedeuten, dass die Zinsbelastung fürDeutschland steigt. Wer dann trotzdem die Schulden-bremse unseres Grundgesetzes einhalten will – das kannman auf zweierlei Weise tun –, der muss entweder nochmehr sparen, als wir das tun,
oder jegliches Wachstum durch zusätzliche Steuern ab-würgen. Spätestens dann haben Sie Einnahmeausfälleund einen Spardruck auf den größten Einzeletat, nämlichden Sozialetat. Wie wollen Sie die Schuldenbremse desGrundgesetzes einhalten, wenn Sie die Zinslasten syste-matisch erhöhen, ohne an den Sozialetat heranzugehen?Ich warne Neugierige in den Reihen der SPD: Wie wol-len Sie Ihre Kernmarke bewahren und sozialdemokrati-sche Politik machen?
Deshalb glaube ich Ihnen, dass es immer mehr Zweiflergibt. Deshalb glaube ich dem Kollegen Schneider, dasser mittlerweile gegen Euro-Bonds ist. Sie haben es näm-lich verstanden.Auch die Grünen werden es noch verstehen. Sie ha-ben nämlich viele kluge Kommunalpolitiker in Ihrer Par-tei. Ihre klugen Kommunalpolitiker wissen mittlerweile,dass dieser Zinseffekt nicht nur den Bund treffen wird,sondern auch die Kommunen.
Reden Sie mit Ihren Kommunalpolitikern im Ruhrgebietund in Ostdeutschland darüber, wie dort Haushalte ge-macht werden sollen, wenn sich das Zinsniveau um2 oder 3 Prozentpunkte erhöht! So kann man keine Poli-tik mehr machen.
Letztendlich bin ich auch ein Stück weit entsetzt, dassSie sich trotz der Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts, die der Kollege Schneider völlig korrekt wie-dergegeben hat, damit brüsten, das Bundesverfassungs-gericht Lügen strafen zu wollen. Ich zitiere in Auszügenaus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsvom 7. September 2011:Es ist insoweit auch dem Bundestag als Gesetzge-ber verwehrt, dauerhafte völkervertragsrechtliche
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21443
Marco Buschmann
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Mechanismen zu etablieren, die auf eine Haftungs-übernahme für Willensentscheidungen anderer Staa-ten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwerkalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind.
Wenn Sie die Entscheidung über die Schuldenlasten desdeutschen Steuerzahlers den Trägern fremder hoheitli-cher Gewalt überlassen wollen, wenn Sie die Frage, wo-für der deutsche Steuerzahler haftet, den ParlamentenSpaniens, Italiens, Griechenlands oder wem auch immerüberlassen wollen, dann verstoßen Sie gegen diesesPrinzip und dann verstoßen Sie auch gegen die Rechtedes Deutschen Bundestages. Ich würde, wenn ich einesolche Position für richtig hielte, im Deutschen Bundes-tag die Backen nicht so weit aufblasen, stolz darauf zusein, das Bundesverfassungsgericht Lügen strafen zuwollen. Das ist jedenfalls meine Auffassung von Rechts-staatlichkeit.
Vielen Dank, Kollege Buschmann. – Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Bundesregierung
der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter.
Bitte schön.
S
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa mussin diesen Monaten seine Hausaufgaben umfassendmachen. Ein umfassender Ansatz, wie ihn die Bundesre-gierung gegenüber unseren europäischen Partnernvertritt, muss zuallererst auf nationaler Verantwortung,nationaler Politik und nationalen Mehrheiten beruhen.Unser europapolitischer Ansatz ist umfassend, weil er inden Mittelpunkt mehrere Politikfelder stellt, die nichtgegeneinander ausgespielt werden können, sondern imZusammenhang betrachtet werden.Das erste Politikfeld ist die Haushaltskonsolidierung.Es verwundert mich schon, dass aufseiten der Sozial-demokratie sehr viel über neue Finanzierungsformennachgedacht wird, aber weniger über die Senkung vonAusgaben und die Reduzierung von Defiziten. Im Kernder europapolitischen Debatte geht es darum, dass wirFiskaldisziplin in allen Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion wollen. Deswegen ist es ein gutes Signal, dass25 von 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union denFiskalpakt unterzeichnet haben. Alle, die für Fiskaldiszi-plin hier in Deutschland sind, sollten für eine rascheRatifikation des Fiskalpakts im Bundestag und im Bun-desrat sorgen.
Das zweite Politikfeld ist die Steigerung der Wett-bewerbsfähigkeit, und das nicht erst seit wenigen Tagen.Wir Deutsche haben ganz gute Erfahrungen damitgemacht. Das ist ein Teil der Politik, an den sich die So-zialdemokraten in diesem Haus nur ungern erinnern.Dass Deutschland, das einst als kranker Mann Europasbezeichnet wurde, nun ein Jobwunder erlebt, hat etwasdamit zu tun, dass die Tarifvertragsparteien und diedeutsche Politik – Regierung und Opposition in weitenTeilen gemeinsam – unter dem Oberbegriff Agenda 2010die nationalen Hausaufgaben erledigt haben. UnsereAufforderung ist, dass auch die Staaten, die an einemMangel an Wettbewerbsfähigkeit leiden, in nationalerVerantwortung Wettbewerbsstrategien entwickeln. Wirwerden in den nächsten Jahren davon profitieren. Wirsind aber noch nicht am Reformende. Der zweite Politik-bereich ist also eine nationale Strategie zur Steigerungder Wettbewerbsfähigkeit in allen Staaten Europas. Dazurufen wir auf. Das ist unser politischer Beitrag zur euro-päischen Integration.
Schließlich geht es um die Stabilisierung der Finanz-märkte. Wir haben darüber oft geredet. Ein Kernelementist, dass wir Solidarität und Solidität miteinander in Ver-bindung bringen müssen. Die Bundesregierung steht zueiner solidarischen Absicherung von Risiken nicht nurim Inland, sondern auch im europäischen Kontext. Wirsind diejenigen, die den Steuerzahlerinnen und Steuer-zahlern beispielsweise sagen: Wir haben gute Gründe,Solidarität mit Griechenland zu zeigen. Aber diese Soli-darität bedarf einer Verhaltensänderung. – Solidarität be-darf Solidität. Beides muss zusammen gesehen werden.Das Konzept, über das wir heute unter dem StichwortEuro-Bonds diskutieren, berücksichtigt nicht, dass einegemeinschaftliche Haftung einen Fehlanreiz gibt, undführt nicht zu einer Politikänderung bei denjenigen, dievon Euro-Bonds profitieren. Wer meint, niedrige Zinsenohne Auflagen führten zu einer Änderung der Politik,der hat aus der Entwicklung in Griechenland in den letz-ten zehn Jahren überhaupt nichts gelernt. Zuerst Verhal-tensänderung, dann Solidarität, das ist die klare Positionder Bundesregierung.
Ich habe mit Interesse gehört, dass der KollegeSchneider erklärt hat, niemand in der SPD sei für Euro-Bonds. Das muss aber dann eine andere sozialdemokra-tische Partei sein als die, auf deren Homepage ich heutewar. Unter der Überschrift „Direktkommunikation“ gibtes die Rubrik „Häufig gestellte Fragen zu Eurobondsund zu Rechtsextremismus“. Was das miteinander zu tunhat, will ich hier nicht weiter erörtern.
Auf die Frage „Warum ist die SPD für Eurobonds?“ wirddie Antwort gegeben.Wir Sozialdemokraten sind der Überzeugung: Das„ewige Retten“ von finanziell unter Druck gerate-nen Staaten durch immer neue … Rettungspaketedarf so nicht weitergehen. … Eurobonds könntendiese Abwärtsspirale beenden. Die Grundidee …ist, dass alle Euro-Staaten gemeinsame Staatsanlei-hen herausgeben und damit Euro-Staaten mit gro-ßen Finanzierungsproblemen eine Refinanzierungzu günstigeren Zinsen ermöglichen, weil alle Staa-ten gemeinsam für die Anleihen bürgen.
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21444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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Es ist schon interessant: Wir glauben dem KollegenSchneider, dass er diesen Unsinn nicht will. Aber dannsoll er bitte auf der Homepage seiner Partei der deut-schen Bevölkerung nicht das Gegenteil von dem erklä-ren, was er als Hauptredner der SPD in dieser Debattefür die SPD-Bundestagsfraktion erklärt.
Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass es inder Fraktionssitzung der SPD in dieser Woche offen-sichtlich dazu eine Debatte zwischen Herrn Münteferingund Herrn Gabriel gegeben hat. Herr Oppermann, Siehaben sich, wie ich lese, nicht nur die Krawatte gespart,sondern Sie haben sich auch eine eigene Meinung be-wahrt, nämlich die, dass Sie gegen Euro-Bonds-Pläneder SPD sind. Nur: Wer mit so viel Verve die französi-schen Sozialisten unterstützt, die – so ist deren Wahrneh-mung in Europa – die Welt mit Euro-Bonds verändernwollen, die weniger sparen und die an Verhaltensände-rungen anderer Staaten, beispielsweise Griechenlands,nicht mehr so aktiv mitwirken wollen, wie es nach unse-rer Auffassung notwendig erscheint, der sollte den Deut-schen auch sagen, dass das eine Rechnung zulasten derSteuerzahlerinnen und Steuerzahler ist. Wenn Sie daswollen, dann sprechen Sie es klar und deutlich aus, sowie Herr Sarrazin es hier gemacht hat. Aber flüchten Sienicht vor den Konsequenzen der Politik, die Sie auf IhrerHomepage und in Ihrer Fraktion hoffentlich intensivweiter diskutieren werden.
Die Bundesregierung freut sich, dass es auch in derSPD-Fraktion einige wenige gibt, die darauf hinweisen,dass man sich an das Grundgesetz halten muss, auchwenn sozialistische Parteitage in Europa anderer Auffas-sung waren.
Der gemeinschaftlichen Übernahme von Schulden sindnicht nur nach dem EU-Vertrag, sondern auch nach denletzten Verfassungsgerichtsurteilen – ich empfehle diesorgfältige Lektüre – enge Grenzen gesetzt, die eine ge-meinschaftliche Haftung durch Euro-Bonds ausschlie-ßen. Wenn der Kollege Schneider sagt, dann wolle er dieVerfassung ändern, dann müssen wir klarstellen, dass dieSPD zwar sagt, sie sei nicht für Euro-Bonds, aber sie seifür eine Verfassungsänderung ist, die die gemeinschaft-liche Schuldenübernahme zulasten des deutschen Steu-erzahlers ohne Verhaltensänderung anderer Staaten mög-lich macht.
Wer gegen den Fiskalpakt ist, aber gleichzeitig dasGrundgesetz ändern möchte, sodass eine gemeinschaft-liche Verschuldung möglich ist, wie Herr KollegeSchneider hier angekündigt hat, hat nicht nur die euro-päischen Interessen unscharf im Blick, sondern er hatauch die nationalen Interessen der Steuerzahlerinnen undSteuerzahler in der Bundesrepublik Deutschland offen-sichtlich vergessen.
Wir haben im Augenblick eine schwierige Situationin Europa. Ich finde, wir müssen jetzt aufpassen, dasswir denjenigen, denen wir vieles abverlangen, beispiels-weise den Griechen, jetzt nicht den Eindruck vermitteln,als würde Deutschland in dieser Debatte wieder auf deneinfachen Weg zurückkehren. Staatsverschuldung istnichts anderes als die geronnene politische Mutlosigkeit,in einem Land der Bevölkerung die notwendigen Politik-wechsel zu erklären. Staatsverschuldung ist eine übleLast für die nachfolgende Generation. Wir müssenselbstkritisch über alle Fraktionsgrenzen hinweg sagen:Wir haben in den vergangenen Jahren gesündigt. Jetzthat uns diese Krise eindrücklich vor Augen geführt, wel-che negativen Auswirkungen diese Politik hat, wenn dasVertrauen flöten geht, wenn ungeordnete Prozesse Poli-tik und Parlament in eine Richtung drängen, in die siesich ungern drängen lassen.Deswegen stehen wir jetzt an einer Weggabelung. Wirhaben mit dem Fiskalvertrag die Chance, nicht nur inDeutschland die Schuldenbremse umzusetzen, sondernauch international Standards zu setzen. Dies ist dieGrundvoraussetzung dafür, dass wir den EuropäischenStabilitätsmechanismus auch gegenüber den Steuerzah-lerinnen und Steuerzahlern tatsächlich begründen. Bei-des gehört zusammen. Wer wie die deutschen Sozialde-mokraten hier auf Zeit spielt, wer eine Taktik zumMaßstab der Europapolitik macht, der versagt nicht nurvor der Herausforderung der Europapolitik, sondernauch gegenüber den nachfolgenden Generationen. Des-wegen werbe ich für die Unterstützung der Politik derBundesregierung.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Klaus
Hagemann. Bitte schön, Kollege Klaus Hagemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Kampeter, Sie finden als Regie-rungsmitglied starke Worte. Ich sehe mir aber Ihre Tatenzum Thema Nachtragshaushalt an, über den wir in weni-gen Minuten im Haushaltsausschuss beraten.
Lieber Kollege Kampeter, die Nettokreditaufnahme unddie Neuverschuldung werden auf mehr als 35 MilliardenEuro verdoppelt, obwohl wir die höchsten Steuereinnah-men haben, die wir in dieser Republik je gehabt haben.
Das ist der erste Punkt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21445
Klaus Hagemann
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Ein zweiter Punkt: Der Kollege Schneider hat nichtgefordert, das Grundgesetz zu ändern, sondern er hat ge-sagt: Wenn man Bonds einführen will, dann müsste mandas Grundgesetz ändern. Das ist ein großer sprachlicherUnterschied. Darauf hat beispielsweise auch der Präsi-dent des Bundesverfassungsgerichts, Herr ProfessorVoßkuhle, hingewiesen.Ich habe bei dieser Debatte gut zugehört. Es scheintmir, dass sie so notwendig ist wie ein Kropf, denn esging nur darum, hier einen Popanz aufzublasen, um vonSchwierigkeiten in der Europapolitik abzulenken oder,wie ich mir auch vorstellen kann, Herr Buschmann undHerr Kampeter, von den Problemen, die Sie in der ver-gangenen Woche in NRW hatten.Das Thema der Debatte lautet: Euro-Bonds-Pläne derSPD. – Dazu ist aber wenig gesagt worden. Ich frageSie: Welche Bonds meinen Sie? Meinen Sie die Merkel-Bonds, über die diskutiert wird? Meinen Sie die Bonds,die der Präsident der Kommission, Herr Barroso, derEVP-Mitglied ist, vorschlägt? Meinen Sie die Bonds, dieHerr Rehn als Kommissionsmitglied vorschlägt? Aucher schlägt Euro-Bonds vor. Oder meinen Sie die Vor-schläge von Jean-Claude Juncker, der auch ein christ-lich-demokratischer Politiker ist? Meinen Sie dieseBonds? Ich habe von Ihnen nichts dahin gehend gelernt,welche Bonds Sie meinen.
Es wurde vom Kollegen Schneider auch auf die Ent-scheidung des Europäischen Parlaments hingewiesen.Dort wurde mit den Stimmen der Union und der Libera-len gefordert, Euro-Bonds einzuführen. Das wurde imJanuar so beschlossen. Es gibt viele andere Vorschläge,die in diese Richtung gehen.Ein weiterer Punkt ist in der Debatte nicht klar gewor-den: Meinen Sie vielleicht Projekt-Bonds, über die manjetzt zur Finanzierung größerer europäischer Investitio-nen diskutiert? Dazu haben Sie nichts gesagt. DerKommissar Hahn aus Österreich hat in diesem Zusam-menhang interessante Vorschläge zur Regionalpolitikgemacht. Es kam kein Wort von Ihnen darüber, wie manmit mehr Geld aus Europa, mit umgewidmetem Geld ausdem Europahaushalt, dringend notwendige Projektefinanziert, um Wachstum zu generieren und Arbeits-plätze zu sichern. Dazu haben Sie nichts gesagt. Sie ha-ben auch nichts darüber gesagt, dass man dies über dieEuropäische Investitionsbank finanziert. Sie haben dazunichts gesagt, Sie haben sich nur aufgeregt.
Herr Hahn hat darauf hingewiesen, die EU-Kommis-sion habe bereits eine Liste mit 190 Projekten für Grie-chenland erstellt und man habe einige davon bereits um-gesetzt oder eingeleitet. Man holt 11 Milliarden Euroheraus, um Maßnahmen in Griechenland zu finanzieren.Zu all dem haben Sie nichts gesagt.Wir sollten eher über die angeblichen Pläne der SPDzu Euro-Bonds reden. Wir sollten beispielsweise überdas Gutachten der OECD reden. Gestern war zu lesen:Die OECD warnt vor einer schweren Rezession. Wo sindIhre Konzepte, die Sie hierzu vorlegen wollen? Der frü-here Chefökonom Stark sagt in einem Interview mit derWelt, schon seit Frühjahr 2010 habe man hier falscheEntscheidungen getroffen. Das hat Herr Stark gesagt; einMann, der Ihnen sicherlich nähersteht als mir. Auch dasInstitut der deutschen Wirtschaft hat deutlich gemacht:Wenn die Länder zu hohe Einsparungen in kurzer Zeitstemmen müssen, bricht in wirtschaftlich schwierigenZeiten die Konjunktur ein. – Das ist richtig, das könnenwir in Spanien und in Griechenland beobachten.Meine Damen und Herren, wir sollten uns mit derFrage der Jugendarbeitslosigkeit näher beschäftigen undsie ernster nehmen; ich meine nicht die in unserem Land,obwohl wir auch sie im Blick haben sollten. Das wurdein der Diskussion im Haushaltsausschuss mit HerrnWeise von der Bundesagentur für Arbeit deutlich. In vie-len Ländern gibt es eine galoppierende Jugendarbeits-losigkeit von 40, 50 oder 60 Prozent, und zwar nicht nurin Spanien, Griechenland oder Italien, sondern auch inder Slowakei. Wie ich gestern Abend gelernt habe, istdie Jugendarbeitslosigkeit auch in Luxemburg hoch:18 Prozent. Viele junge Menschen in Europa werden indie Arbeitslosigkeit entlassen. Kann das unser Ziel sein?
Bieten wir ihnen eine Zukunft? Nein! Gewinnen wir sojunge Menschen für die Idee Europas? Nein!Der letzte Punkt, den ich noch ansprechen will: Im Ja-nuar 2012 hat die Bundesregierung auf europäischerEbene, Kollege Kampeter, einen „Pakt für mehr Be-schäftigung und Wirtschaftswachstum“ beschlossen. ImMärz habe ich mir einmal erlaubt, die mündliche An-frage zu stellen, was vorgesehen sei und was umgesetztwerden soll. Die Antwort lautete – ich zitiere –:Der Bundesregierung liegen hierzu noch keine In-formationen vor.
Das war die Antwort auf eine Frage zum Thema Pakt fürmehr Beschäftigung und Wirtschaftswachstum.Das können wir so nicht hinnehmen. Wir sollten dasachten, was der aus der Parteifamilie der Liberalen stam-mende britische Politiker Nick Clegg in einem Spiegel-Interview, das in dieser Woche erschienen ist, gesagt hat– ich darf das abschließend zitieren –:Wirtschaftliche Unsicherheit und politische Läh-mung, das lehrt die Geschichte unseres Kontinents,sind der ideale Nährboden für Extremismus undFremdenhass.Recht hat Herr Nick Clegg. Hier muss gehandelt wer-den, und es dürfen keine Scheindebatten geführt werden.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist fürdie Fraktion der FDP unser Kollege Joachim Spatz.
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21446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-rade weil Nick Clegg recht hat, geht es um die wirklichbesten Wege zur Lösung der Probleme, und es geht nichtum Scheindebatten. Ich habe in der heutigen Debatte et-was gelernt: Die Grünen sind eindeutig für Euro-Bonds,die Linken halten den Euro für gescheitert, und die SPDist völlig unentschieden. Man hört doch aus jedem Wort-beitrag bei Ihnen, den Sozialdemokraten, das Bedauernheraus, dass das Grundgesetz diese Möglichkeit verbie-tet. Aus jeder Äußerung hört man das Bedauern, sie indieser Verfassungslage nicht einführen zu können. Be-kennen Sie sich doch zu dem, was Sie offensichtlich inaller Ehrlichkeit auf Ihrer Website verzeichnet haben!Angesichts dessen, Herr Kollege Schneider, ist dieseDebatte nicht überflüssig. Sie hat deutlich gemacht:Hier, in diesem Deutschen Bundestag – egal was dereine oder andere Vertreter der Parteienfamilie woanderserzählt –, gibt es eine verlässliche Mehrheit gegen Euro-Bonds, und diese Mehrheit stellt Schwarz-Gelb.
Herr Kollege Sarrazin, wir müssen uns doch erinnern:Wieso stehen wir denn hier und debattieren über dieseeuropäische Herausforderung?
Weil die Finanzmärkte den alten Weg nicht mehr mitge-gangen sind! Wir haben doch Rechnungen ohne denWirt gemacht. Wir haben doch gedacht: Verschuldung istgewissermaßen ein Naturrecht von Politik. Es gibt ge-wissermaßen die Erwartung, dass einem auf diesem Wegimmer gefolgt wird. Die Märkte haben uns die Aufgabegestellt, in die Gegenrichtung zu gehen. Da gilt der alteSatz: Schulden machen unfrei. Wir alle haben schmerz-lich und nicht aus besserer Einsicht gelernt, dass derWeg des immer neuen Schuldenmachens schlicht nichtfunktioniert.Wenn Sie Euro-Bonds als Lösungsansatz sehen, dannkann ich nur sagen: Beim Eintritt, gerade der Helleni-schen Republik, in den Euro waren die Zinsabweichun-gen nahe null. Was ist passiert? Die griechische Nationhat den Vorschusskredit der Finanzmärkte offensichtlichnicht im Sinne einer an Gemeinsamkeit orientiertenWirtschafts- und Finanzpolitik genutzt. Wollen Sie, dasses wieder so kommt, dann allerdings ohne Ausstiegsop-tion? Das ist doch überhaupt keine Lösung. Das heißt,Zinssozialismus ist wie weiße Salbe und nicht die Lö-sung der Probleme. So einfach ist das.
Der einzige Weg, zu den bestmöglichen Lösungen zukommen, Frau Kressl, ist erst einmal eine schonungsloseAnalyse.
Wer sich dem verweigert, wird die richtigen Lösungennicht finden.Jetzt komme ich auf das Thema – es wird oft ange-sprochen – EZB-Anleihen-Aufkauf. Meine Damen undHerren, das mag als Notmaßnahme – als Notmaß-nahme! – mal hinzunehmen sein, aber Sie wollen ausdem Wahnsinn ja noch Methode machen, und das kannnicht funktionieren. Es muss dabei bleiben, dass dieseArt von Maßnahmen Notmaßnahmen sind.Sie haben den Kollegen Brüderle zitiert. Dazu kannich nur betonen: Der sagt auch nichts anderes als dieKanzlerin,
nämlich dass am Ende eines langen Weges,
am Ende eines ganz langen Weges der Harmonisierungder Wirtschaft und der Wirtschaftspolitiken und bei soli-der Finanzierung,
dieses gemeinsame Instrument eingeführt werden kann.
Nur, da braucht man es nicht mehr. Herr Kollege, wennwir so weit sind, dann brauchen wir es nicht mehr; wirwerden das erleben.
Wenn der Fiskalpakt von allen Verantwortlichen hier indiesem Hause beschlossen wird und nach Jahren derWirkung die Konvergenz der Politiken stattgefunden ha-ben wird, wird keiner mehr nach Euro-Bonds rufen;denn dann sind die Spreads, die Zinsabweichungen, beinull, und dann braucht das keiner mehr.Für diese Politik der Solidität, bei der man über einsolches Instrument als Schlussstein nachdenken kannoder auch nicht, verbunden mit Solidarität und Wachs-tumsimpulsen, werben wir nachhaltig.Zum Thema Wachstumsimpulse. Herr KollegeHagemann, ich verstehe gar nicht, dass Sie die Stellung-nahme des Deutschen Bundestages zum mehrjährigenFinanzrahmen nicht kennen. Sie ist am 1. Dezember aufVorschlag der Koalition verabschiedet worden. Darinstehen genau die neuen Schwerpunktsetzungen für denHaushalt, eben auch zulasten alter Schwerpunkte. Ichkann nur alle aufrufen, bei der Umgestaltung so viel Mutzu haben, wie wir das jetzt anderen Staaten abverlangen.Wenn wir so vorgehen, dann gibt es, verbunden mit derFinanzierung durch die Europäische Union, Möglichkei-ten, Wachstumsstimulierung zu betreiben. Da kann ich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21447
Joachim Spatz
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nur jeden aufrufen, mitzumachen. Das ist der Weg vonSolidarität, Solidität und Wachstumsimpulsen.Danke schön.
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Frank
Steffel. Bitte schön, Kollege Dr. Frank Steffel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,dass es Kollegen bei der FDP gibt, die heute etwas ge-lernt haben.
Ich muss für mich bekennen: Ich hatte gehofft, dass ichirgendein Argument für Euro-Bonds höre, auch von Ih-nen, Herr Sarrazin. Sie haben sich bemüht, den Eindruckzu erwecken – das mag politisch geschickt sein –: Esgibt da einige abweichende Stimmen bei FDP und CDU/CSU,
die vielleicht unter gewissen Bedingungen irgendwanneinmal sagen könnten, Euro-Bonds könnten ein Wegsein. Ich will Ihnen in aller Sachlichkeit sagen: Die He-rausforderungen, vor denen Europa steht, sind soschwierig, dass es auch bei uns zu bestimmten Themenin der Tat sehr unterschiedliche Auffassungen gibt.Richtig ist: Man hat manchmal den Eindruck, dieBrüsseler Lust vernebele einige Dinge, die wir hier imBundestag sehr klar und präzise sehen.
Nur – um das ganz klar zu sagen –: Hier im DeutschenBundestag gibt es nach meiner Kenntnis weder in derFraktion von CDU/CSU noch bei den Kolleginnen undKollegen der FDP eine wirklich ernsthafte Stimme, diesagt, dass der Weg aus der heutigen Krise die Einfüh-rung von Euro-Bonds in Europa wäre, so wie Sie alledrei uns das seit zwei Jahren hier vortragen. Das ist dieganz klare Position.
Wenn man hier als fünfter oder sechster Redner zu ei-nem Thema spricht, muss man sich überlegen: Waskönnte es Neues geben? Eben waren hier einige jungeMenschen,
Schulklassen, die verpflichtet wurden, sich unsere Argu-mentation anzuhören, oder vielleicht sogar freiwillig ausInteresse hier waren. Jetzt stelle ich mir die Frage: Washaben die eigentlich eben gelernt? Die haben gelernt,dass die Linkspartei wieder von der PDS redet, aber im-mer noch die Positionen vertritt, die ich seit 20 Jahrenkenne. Sie haben gelernt, dass Sie, Herr Sarrazin, derMeinung sind – ob das die Position der Grünen insge-samt ist, weiß ich nicht –, Euro-Bonds seien der richtigeWeg für Europa. Bei den Sozialdemokraten gibt es of-fensichtlich einen Sinneswandel. Darüber freue ichmich, Herr Schneider, Frau Kressl. Das wundert michübrigens nicht, weil ich Sie beide als sehr kompetenteKollegen kennengelernt habe.Es tut doch Deutschland gut, wenn in dieser Frageauch die große Sozialdemokratische Partei Deutschlandszur Vernunft kommt und mit uns gemeinsam die wichti-gen europapolitischen Weichenstellungen für die nächs-ten Jahre vornimmt.
Es ist ein guter Tag, wenn Sie hier im Bundestag bereitsind, uns auf dem Weg der Vernunft für Europa zu fol-gen; das will ich ausdrücklich positiv unterstreichen.
Ich habe kein Argument für Euro-Bonds gehört. Des-wegen bemühe ich mich, den Schülerinnen und Schülernund den Menschen einmal zu erklären, was die Konse-quenzen sind.Meine Damen und Herren, ich mache es ganz einfach:Der eine hat eine schlechte Bonität und zahlt 10 ProzentZinsen, der andere hat eine gute Bonität und zahlt 2 Pro-zent Zinsen. Nun nimmt jeder 100 Euro, und sie nehmengemeinsam einen Kredit auf. Was ist die Konsequenz?Vermuten könnte man, sie zahlen im Durchschnitt 6 Pro-zent Zinsen. Jetzt werden Sie sagen: Nein, der mit derguten Bonität reißt das raus; deshalb zahlen sie nur5 oder 4 Prozent Zinsen. Gemeinsam – das ist ja Ihre Ar-gumentation – zahlen sie also möglicherweise wenigerZinsen, als wenn jeder für sich einen Kredit aufnehmenwürde.Aber dazu gibt es eine klare Untersuchung fürDeutschland: Deutschland würde mit einer hohen Wahr-scheinlichkeit 2 bis 2,5 Prozent mehr Zinsen bezahlenals heute. Das bedeutet – wir haben alle einmal den Drei-satz gelernt, und wir kennen die Schuldenlast von Bund,Ländern und Gemeinden – für die BundesrepublikDeutschland, dass wir roundabout 50 Milliarden Euromehr Zinsen pro Jahr zahlen müssten, wenn der durch-schnittliche Zins für deutsche Staatsanleihen durch dieVergemeinschaftung in Europa um 2 Prozent stiege.
Wie wollen Sie mit 50 Milliarden Euro mehr Zinslast je-mals die Schuldenbremse einhalten? Damit können Sie5 000 oder 6 000 Schulen bauen, und zwar jedes Jahr.
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21448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Dr. Frank Steffel
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Ich könnte als Berliner ein bisschen locker sagen: Davonkann man 15 Flughäfen bauen, pro Jahr. Aber wir – bes-ser gesagt: der Aufsichtsratsvorsitzende – haben in denletzten zehn Jahren nicht einmal einen geschafft.
Aber nichtsdestotrotz ist die entscheidende Frage: Woliegt ein denkbarer Nutzen der Euro-Bonds? Eines istklar: Beim deutschen Steuerzahler, bei den Schülerinnenund Schülern, die eben auf der Tribüne saßen, liegt derNutzen definitiv nicht. Herr Kollege von der Linksfrak-tion, Sie haben gesagt, wir müssten den Schwachen inEuropa helfen. Damit meinten Sie insbesondere dieschwachen Staaten, nehme ich an. Ich sage Ihnen eines:Mit Euro-Bonds mögen Sie schwachen Staaten in Eu-ropa helfen; aber die Zeche für Euro-Bonds zahlen diewirtschaftlich Schwachen in Deutschland. Den Bankenund den Wohlhabenden sind die Schulden von morgenvöllig egal.
Die Zeche zahlen Rentnerinnen und Rentner, Hartz-IV-Bezieher, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Daswird es mit CDU und CSU weder heute noch in dennächsten Jahren geben; denn das sind die Menschen, diein Deutschland die Steuern bezahlen, mit denen wir inEuropa helfen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Frank Steffel. Lieber Herr
Kollege Dr. Steffel, es sind nicht nur die hier anwesen-
den Schülerinnen und Schüler, die die Debatte verfol-
gen. Die Debatte wird von Phoenix übertragen, und sie
wird zunehmend auch im Internet verfolgt.
Auch dort sind die Beiträge also aufmerksam verfolgt
worden.
Nächster Redner ist Kollege Dr. Georg Nüßlein für
die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Zu-nächst freue ich mich, dass Kollege Carsten Schneiderklar gesagt hat, dass er keine Euro-Bonds will.
Ich hoffe, dass das eine tiefere Erkenntnis ist, die auf denZusammenhängen beruht, die heute hier ausführlich dis-kutiert wurden, und nicht nur der Tatsache geschuldetist, dass die verfassungsrechtliche Problematik so klar istwie selten.
Ich gestehe Ihnen, Herr Schneider, zu, dass Sie sehr ge-nau wissen, dass die gesamtschuldnerische Haftung, diesich ergebende gemeinsame Bonität, die gemeinsamenZinsen am Ende, so wie gerade vom Kollegen Steffel an-schaulich erläutert, dazu führen, dass ein disziplinieren-des Element der Märkte, nämlich höhere Zinsen für die-jenigen, die mehr Geld ausgeben und höhere Schuldenmachen, wegfällt und das der Anreiz für ein Weiter-sound für noch mehr Schulden wäre.Nun gebe ich zu, dass es auf den allerersten Blick soaussieht, dass durch die Euro-Bonds mehr Vertrauen indie Märkte kommt, weil jeder gesamtschuldnerisch invollem Umfang haftet; deshalb muss der Markt im erstenMoment zufrieden sein. Aber es geht ja weiter: Wenn dieSchulden so wachsen, wie es damit programmiert ist,dann wird irgendwann der Moment kommen, in dem dasVertrauen in die Märkte wieder zurückgeht, weil mansich nicht vorstellen kann, dass alles bedient wird. Dannhaben Sie keine Möglichkeit mehr, irgendetwas zu ma-chen. Denn letztendlich haben Sie dann alles aus derHand gegeben, ohne Gegenleistungen zu fordern. Wiewollen Sie, wenn Sie alles aus der Hand gegeben haben,die dann noch einfordern? Die Diskussionen, die wirmomentan nicht nur in Griechenland erleben, zeigen,wie schmerzlich es auf der einen Seite ist, auf den Pfadder Tugend zurückzukommen,
und wie dringend notwendig es auf der anderen Seite ist,das einzufordern und zu erzwingen; denn freiwillig wirddieser Schritt nicht vollzogen.Dass das Schuldenmachen dann wieder weitergeht, istso offenkundig wie selten; denn die Diskussion über dieFrage, wie man weitere Schulden finanzieren und wiederWirtschaftsprogramme auflegen könnte, ist seit der WahlHollandes so virulent wie nie zuvor. Ich möchte deshalbauf das hinweisen, was jetzt in der Presse steht – das istnämlich wichtig –: Franz Müntefering, ein Mitglied derSPD-Fraktion, hat gesagt, wir sollten nicht zu sehr dieNähe zu Hollande suchen, nicht zu sehr dessen Weg mit-gehen, nicht zu sehr darauf setzen, dass es an dieserStelle richtig ist, neue Schulden aufzunehmen, um Wirt-schaftsprogramme aufzulegen.
Es ist doch offenkundig, dass diejenigen, die ammeisten Geld ausgegeben haben, die die größten Haus-halte und die höchsten Schulden haben, nicht die best-laufende Wirtschaft haben. Das Gegenteil ist doch derFall. Diese Vorgehensweise hat uns erst in die jetzigenSchwierigkeiten gebracht. Man tut so, als ob nur die eineHälfte des Keynesianismus reichen würde, also Ausge-ben in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, während dasSparen in guten Zeiten unterbleiben könnte. In Demo-kratien sollte man mit diesem Thema kritischer umge-hen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012 21449
Dr. Georg Nüßlein
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Ich gehöre der Enquete-Kommission an, die sich mitdem Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Ge-sellschaft beschäftigt. Ich finde es interessant, wie vielePolitiker auf der linken und der grünen Seite dieses Hau-ses wachstumsskeptisch sind. Sie sagen: Man mussWachstum begrenzen; das darf nicht mehr steigen usw. –Wenn es um die europäische Schuldenkrise geht, sagendieselben Politiker: Jetzt brauchen wir schuldenfinan-zierte Wachstumsprogramme.
Wie passt denn so etwas zusammen? Das ist doch un-glaublich.Ich wünsche mir, dass wir sachlich über die Fragendiskutieren,
wie Ursache und Wirkung zusammenhängen und wasman letztlich tun kann, um Europa konjunkturell voran-zubringen. Wir Deutschen hätten hier viel zu bieten. Wasbei uns im Bereich der Flexibilisierung des Arbeitsmark-tes stattgefunden hat, ist beispielhaft. Dies könnte man-ches Problem der europäischen Partner lösen. Auch dieFrage, wie die Rentenpolitik gestaltet wird, muss beant-wortet werden. Sie können doch nicht verlangen, dassdie Deutschen mit 67 Jahren in Rente gehen und gleich-zeitig diejenigen mitfinanzieren sollen, die mit 60 Jahrenoder früher in Rente gehen wollen.
Das kann es letztendlich nicht sein.Auch das Thema Jugendarbeitslosigkeit, das vorhinangesprochen wurde, muss man von einer anderen Seiteangehen. Hier hilft kein Strohfeuer, da hilft kein Kon-junkturprogramm. Hier hilft nur die Einführung einerdualen Ausbildung, so wie wir sie in Deutschland vor-bildlich haben. Bildungspolitisch ist dies nämlich ein Al-leinstellungsmerkmal unserer deutschen Wirtschaft.Ich empfehle dringend, über diese Themen zu reden.Das macht aus meiner Sicht mehr Sinn. Wir könntenauch darüber reden, wieso die Verwaltungen anderswonicht funktionieren. Dann geht es nämlich gar nichtmehr darum, einfach nur mehr Steuern einzunehmen,sondern darum, sie überhaupt erst einmal einzunehmen.Abschließend: Mich ärgert es maßgeblich, dass bei-spielsweise Irland über Jahrzehnte Steuerzahler mitniedrigen Steuersätzen von uns abgeworben hat, manjetzt aber daherkommt und fordert, den Haushalt Irlandsauszugleichen. Das muss man abstellen.
rung war das! Ihre Kollegen!)Darum sollten wir uns alle gemeinsam und insbesondereauch die Kommission kümmern.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. – Letzte Rednerin
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/
CSU unsere Kollegin Bettina Kudla. Bitte schön, Frau
Kollegin Bettina Kudla.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Lassen Sie mich als letzte Rednerin dieserDebatte die wesentlichen Punkte zusammenfassen.Was sind Euro-Bonds? Euro-Bonds sind die Soziali-sierung von nationalen Schulden und Risiken auf euro-päischer Ebene. Die Forderung, Euro-Bonds einzufüh-ren, verwundert. Sie ist verantwortungslos. Sie zeigtauch, dass SPD und Grüne aus den Fehlern der Vergan-genheit nichts gelernt haben.
Im Übrigen wurden mehrfach die unterschiedlichenBlickwinkel einzelner Abgeordneter der gleichen Parteiaus dem Europäischen Parlament und aus dem Deut-schen Bundestag angesprochen. Es liegt in der Natur derSache, dass die unterschiedlichen Parlamente die Dingeauch aus einem unterschiedlichen Blickwinkel betrach-ten. Insofern ist das nicht das zentrale Problem.Herr Hagemann, Sie hatten nachgefragt, warum un-sere Redner nichts zu Projektbonds gesagt haben. In die-sem Zusammenhang möchte ich betonen: In dieser De-batte geht es um die Staatsschuldenfinanzierung. DerVorschlag lautet, Staatsschulden mit Euro-Bonds zufinanzieren. Das ist von Projektbonds zu unterscheiden;Projektbonds sind etwas ganz anderes. Hierbei handeltes sich um Finanzinstrumente, mit denen die EU Investi-tionen finanzieren kann. Dabei geht es um öffentlicheund private Partnerschaften. In erster Linie geht es umInvestitionen, die gegebenenfalls mit Hilfe von Projekt-bonds finanziert werden sollen. Man sollte die Men-schen nicht verunsichern, indem man alles durcheinan-derwirft.Mehrfach wurde heute nach der Position der SPD ge-fragt. In Vorbereitung meiner Rede habe ich mir die In-ternetseite der SPD angesehen. Unter der Rubrik „Ak-tuelles“ definieren Sie genau, was Euro-Bonds sind – ichzitiere –: Damit der Druck der Märkte erhalten bleibtund Staaten nicht, wie in der Vergangenheit, Konsum
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21450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 180. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 23. Mai 2012
Bettina Kudla
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und Verschuldung über extrem niedrige Zinsen finanzie-ren, dürfen Euro-Bonds nur einen Teil der Verschuldungrefinanzieren.Das zeigt: Sie relativieren Ihren Vorschlag zwar, aberSie machen ihn dennoch. SPD und Grüne möchten gene-rell und für die Zukunft deutsches Steuergeld für dieSchulden anderer ausgeben, und dies völlig bedingungs-los.
Sie möchten die Marktsignale, die von Zinsspreads aus-gehen, abschaffen. Zins ist die einzige automatischeSanktion des Finanzmarktes, die es gibt. Zins ist Risiko-prämie. Wer einen niedrigen Zins zahlen will, der mussseine Bonität verbessern.
Der Mechanismus des Zinses ist ein Anreiz für gutesWirtschaften. Setzt man diesen quasi natürlichen Mecha-nismus außer Kraft,
tritt eine Störung im Wirtschaftssystem ein. Das sindGrundlagen der Betriebs- und der Volkswirtschaft. DieseGrundlagen scheinen Ihnen offenbar nicht mehr in Er-innerung zu sein.
Das zeigte Ihre Rede, Frau Kressl. Sie machen keinenUnterschied zwischen gesamtschuldnerischer Haftungund anteiliger Haftung.
Ihre Argumentation lautet: Weil wir mit den Ret-tungsschirmen schon Risiken eingegangen sind, solltenwir doch gleich noch weitere Risiken eingehen,
indem wir gesamtschuldnerisch haften. Das ist eineabenteuerliche Argumentation.
Man kann nicht neue Finanzierungsinstrumente vor-schlagen, wenn die notwendigen Voraussetzungen dafürnicht gegeben sind. Gerade das Beispiel Griechenlandzeigt doch, welche fatalen Folgen eine solche Fehlent-scheidung haben kann.SPD und Grüne senden mit dieser Forderung auchverheerende Signale an die europäischen Partner.
Dabei scheinen Sie den Bürger völlig vergessen zu ha-ben. Mit welchem Recht fordern Sie, dass die Bürger fürSchulden anderer Länder haften sollen?
Mit welchem Recht?
– Hören Sie bitte zu. – Sie regen sich auf, wenn Familienmit dem Betreuungsgeld zusätzliches Geld bekommensollen. Gleichzeitig schlagen Sie vor, dass Bund, Länderund Kommunen höhere Zinsen im zweistelligen Milliar-denbereich zahlen sollen.
Das ist völlig verrückt.Euro-Bonds bekämpfen nicht die Ursachen der Krise.Die Wettbewerbsfähigkeit ganz Europas würde ge-schwächt. Euro-Bonds sind keine Lösung; denn Euro-Bonds ignorieren die Kernprobleme und sind daher ab-zulehnen.
Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen.
Handeln Sie im Interesse der Menschen, denen Sie
verpflichtet sind, nämlich im Interesse unserer eigenen
Bevölkerung! Arbeiten Sie mit an der Umsetzung des
Fiskalpakts, und lassen Sie die Hände weg von Scheinlö-
sungen, die Deutschland massiv schädigen könnten!
Vielen Dank, Frau Kollegin. Die Aktuelle Stunde ist
hiermit beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 24. Mai 2012,
9 Uhr, ein und freue mich darauf, Sie alle begrüßen zu
können.
Die Sitzung ist geschlossen.