Protokoll:
17178

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 178

  • date_rangeDatum: 10. Mai 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:14 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/178 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 178. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Angelika Graf (Rosenheim), Carola Stauche, Dr. Barbara Hendricks und Bärbel Höhn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung des neuen Abgeordneten Manfred Todtenhausen . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Jörg von Polheim als Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunkts 18 b bis d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum G-8-Gipfel am 18./19. Mai 2012 in Camp David und zum NATO-Gipfel am 20./21. Mai 2012 in Chi- cago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Gemeinsam für gute Bildung und Wissenschaft – Grundgesetz für beide Zu- kunftsfelder ändern (Drucksache 17/9565) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Löhrmann, Ministerin (Nordrhein-Westfalen) . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Matschie, Minister (Thüringen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21043 B 21043 B 21043 B 21043 C 21044 C 21044 C 21044 C 21044 D 21049 C 21052 C 21054 C 21056 A 21058 B 21060 C 21061 C 21062 C 21064 A 21064 D 21066 B 21067 B 21067 C 21068 B 21070 B 21072 B 21073 D 21074 D 21075 D 21077 A 21078 A 21079 D 21081 A 21081 B 21081 C 21082 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . Eberhard Gienger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung des Übereinkom- mens vom 9. Februar 1994 über die Er- hebung von Gebühren für die Benut- zung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen (Drucksache 17/9343) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Dr. Christiane Ratjen- Damerau, Helga Daub, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der FDP: Entwick- lung durch Wachstum – Der Beitrag der deutschen Wirtschaft zum Errei- chen der Millenniumsziele (Drucksache 17/9423) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Klimaziel der EU auf 30 Prozent anhe- ben (Drucksache 17/9561) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Europäisches Kli- maschutzziel für 2020 auf 30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen – Überschüssige Emissionsrechte still- legen (Drucksache 17/9562) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Ilja Seifert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Diskriminierungsschutz für chronisch erkrankte Menschen in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufnehmen (Drucksache 17/9563) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Soziale und öko- logische Offenlegungspflichten für Un- ternehmen regeln (Drucksache 17/9567) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kleegras- Verwendung in Biogasanlagen stärken (Drucksache 17/9322) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Alphabe- tisierung und Grundbildung in Deutschland fördern – Für eine natio- nale Alphabetisierungsdekade (Drucksache 17/9564) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nanotech- nologie – Chancen nutzen und Risiken minimieren (Drucksache 17/9569) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: a) – h) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 425, 426, 427, 428, 429, 430, 431 und 432 zu Peti- tionen (Drucksachen 17/9415, 17/9416, 17/9417, 17/9418, 17/9419, 17/9420, 17/9421, 17/9422) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit: zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Par- laments und des Rates zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedro- hungen KOM(2011) 866 endg.; Ratsdok. 18509/11 hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes (Drucksachen 17/8673 Nr. A.13, 17/9447) . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Kitaausbau statt Betreuungsgeld Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 21084 D 21086 A 21086 D 21088 C 21089 C 21089 C 21089 D 21089 D 21090 A 21090 A 21090 B 21090 B 21090 C 21091 A 21091 D 21092 A 21092 A 21093 B 21095 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 III Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Ope- ration Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkom- mens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Okto- ber 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin- dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäi- schen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Ra- tes der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Ra- tes der EU vom 23. März 2012 (Drucksachen 17/9339, 17/9598) . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/9599) . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Gädechens (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Mechthild Rawert, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: In- dividuelle Gesundheitsleistungen eindäm- men (Drucksache 17/9061) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- 21096 C 21097 D 21099 A 21100 D 21102 A 21103 B 21104 B 21105 D 21107 C 21108 C 21109 D 21110 A 21110 B 21111 A 21112 D 21113 D 21115 A 21116 B 21117 A 21118 A 21119 C 21119 D 21120 B 21120 D 21121 B 21121 D 21123 A 21124 A 21125 A 21131 D 21125 B 21125 C 21126 C 21127 C 21128 C 21129 A 21130 B 21134 A 21135 C 21136 C 21138 A IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- Technischen Abkommens zwischen der in- ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Drucksache 17/9505) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Link, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Nord (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Susanne Kastner (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Dr. Barbara Höll, Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Abgeltungsteuer abschaffen – Kapi- talerträge wie Löhne besteuern (Drucksachen 17/4878, 17/7666) . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Steuerliche Abzugsfähig- keit von Managerbezügen einschränken (Drucksache 17/9552) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Sahra Wagenknecht, Sevim Dağdelen, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gerechtere Vertei- lung durch eine 75-Prozent-Reichen- steuer für Einkommensmillionäre (Drucksache 17/9525) . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Ingrid Arndt-Brauer, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Leitlinien für Transparenz und Umweltver- träglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas – zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenz und Kon- trolle bei der Förderung von unkon- ventionellem Erdgas in Deutschland (Drucksachen 17/7612, 17/5573, 17/9450) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Abgeordneten Johanna Voß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Erd- gasförderung auf Kosten des Trinkwas- sers – Fracking bei der Erdgasförde- rung verbieten (Drucksachen 17/6097, 17/9196) . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21139 B 21139 C 21141 A 21142 B 21143 B 21144 C 21145 D 21146 C 21147 C 21148 B 21148 C 21148 C 21148 D 21149 C 21150 A 21151 B 21152 D 21154 B 21155 A 21155 D 21157 B 21158 B 21159 D 21161 B 21161 C 21161 D 21163 C 21165 C 21167 A 21167 D 21169 A 21170 B 21170 C 21171 C, D 21174 C, 21176 D 21179 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 V Tagesordnungspunkt 33: Vereinbarte Debatte: Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“: Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann E. Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vierter Bericht über die Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland (Drucksache 17/8640) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- trag der Abgeordneten Ulla Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die soziale Dimension von Bo- logna stärken (Drucksachen 17/8580, 17/9604) . . . . . . . Dr. Helge Braun, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Dr. Barbara Hendricks, Dr. Bärbel Kofler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- ordneten Ute Koczy, Uwe Kekeritz, Thilo Hoppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Neuausrichtung der Europäischen Entwicklungspolitik für mehr Kohärenz und wirksame Armuts- bekämpfung (Drucksache 17/9553) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Dr. Christiane Ratjen- Damerau, Helga Daub, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Die Neuaus- richtung der EU-Entwicklungspolitik – Für eine wirksame, ergebnisorientierte, länder- und regionenspezifische euro- päische Entwicklungszusammenarbeit (Drucksache 17/9424) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union – Partner- schaft statt interessengeleitete Bevor- mundung (Drucksache 17/9461) . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak- tionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Schweinepest tier- schonend bekämpfen – Notimpfung ersetzt grundloses Keulen (Drucksachen 17/8893, 17/9218) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Freiheit von Forschung und Lehre schützen – Transparenz in Kooperationen von Hoch- schulen und Forschungseinrichtungen mit Unternehmen bringen (Drucksache 17/9064) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten Florian Hahn, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann 21172 A 21172 A 21173 B 21181 B 21182 C 21184 A 21185 A 21186 B 21187 A 21188 A 21189 A 21190 A 21190 A 21190 B 21191 B 21192 B 21194 A 21194 D 21196 B 21197 C 21198 D 21198 D 21199 A 21199 A 21201 A 21202 D 21204 A 21205 B 21206 D 21207 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung für die zivile Sicherheit (Drucksachen 17/8573, 17/9550) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine grundlegende Reform der Pflegeversiche- rung – Nutzerorientiert, solidarisch, zu- kunftsfest (Drucksache 17/9566) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturar- beit gemäß § 96 des Bundesvertriebenenge- setzes in den Jahren 2009 und 2010 (Drucksache 17/9401) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einver- nehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur geplanten Einberu- fung einer Regierungskonferenz und zum geplanten Beschluss der Regierungskonfe- renz über die Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon hier: Stellungnahme des Deutschen Bun- destages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesre- gierung und Deutschem Bundestag in An- gelegenheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/9568) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schutz der biologischen Vielfalt – Die Taxonomie in der Biologie stärken (Drucksachen 17/3484, 17/9549) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: a) Antrag der Abgeordneten Marco Bülow, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Keine deutsche Zustimmung zu einer europäischen Förderung der Atomener- gie (Drucksache 17/9554) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Alexander Ulrich, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Soziale Errungenschaften in der Europäischen Union verteidigen und ausbauen (Drucksache 17/9410) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Systemati- schen Antibiotikamissbrauch bekämpfen – Tierhaltung umbauen (Drucksache 17/9068) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21207 A 21207 B 21207 C 21207 D 21208 A 21208 B 21208 C 21209 C 21210 C 21211 C 21211 D 21212 B 21213 B 21214 A 21214 B 21215 A 21216 A 21217 A 21217 D 21218 C 21219 B 21219 C 21220 D 21222 B 21223 C 21224 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 VII Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Fraktion der SPD: Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 mit einem Rechen- schaftsmechanismus fördern (Drucksache 17/8777) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Schadstoff- belastung durch Abfallmitverbrennung senken – Gleiche Bedingungen für Müll- verbrennung und Abfallmitverbrennung (Drucksache 17/9555) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für gute Arzneimittelversorgung Versand- handel auf rezeptfreie Arzneimittel begren- zen (Drucksache 17/9556) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftli- che, soziale und kulturelle Rechte (Drucksachen 17/8452, 17/9528) . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt unterzeichnen und rati- fizieren (Drucksachen 17/8461, 17/9528) . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, Dagmar Freitag, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Katrin Göring-Eckardt, Viola von Cramon- Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 in Belarus (Drucksache 17/9557) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eberhard Gienger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Dagmar Freitag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig), Sönke Rix, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Rechtswidrige Extremismus- klausel in den Bundesprogrammen gegen Rechtsextremismus sofort aufheben (Drucksache 17/9558) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21225 D 21225 D 21227 B 21228 A 21228 B 21229 C 21230 A 21230 B 21231 D 21233 B 21234 A 21234 D 21235 C 21235 C 21236 D 21237 D 21238 B 21239 A 21239 D 21240 A 21240 A 21241 A 21241 D 21242 C 21243 B 21245 A 21245 A 21246 C 21247 B 21248 D 21250 B 21251 A 21252 A 21252 B 21253 A 21253 D 21254 D 21255 D 21256 C 21257 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Umfassende Teilhabe am Sport für Men- schen mit Behinderung ermöglichen – UN- Behindertenrechtskonvention umsetzen (Drucksache 17/9190) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Unterrichtung durch den Deutschen Ethikrat: Stellungnahme des Deutschen Ethikrates Intersexualität (Drucksache 17/9088) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Um- fassende Visaliberalisierungen für Men- schen in Russland und Osteuropa (Drucksache 17/9191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD) . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin im Auswärtigen Amt anerkennen (Drucksache 17/7488) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fort- setzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera- tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na- tionen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Okto- ber 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/ 437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/GASP des Ra- tes der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesordnungspunkt 5) Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an der EU-ge- führten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. De- zember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 21258 B 21258 C 21260 A 21261 A 21262 A 21262 C 21263 C 21263 D 21264 A 21265 A 21266 C 21300 A 21267 D 21269 B 21269 B 21271 B 21271 D 21272 C 21273 C 21274 A 21274 B 21274 C 21275 B 21276 A 21276 D 21277 D 21279 A 21279 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 IX 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfol- gender Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Ak- tion 2008/851/GASP des Rates der Europäi- schen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/766/ GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Ta- gesordnungspunkt 5) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Peter Beyer, Wolfgang Bosbach, Helmut Brandt, Dr. Ralf Brauksiepe, Ralph Brinkhaus, Cajus Caesar, Ingrid Fischbach. Klaus-Peter Flosbach, Jürgen Hardt, Dr. Matthias Heider, Ursula Heinen-Esser, Rudolf Henke, Ansgar Heveling, Peter Hintze, Thomas Jarzombek, Dieter Jasper, Dr. Günter Krings, Dr. Carsten Linnemann, Philipp Mißfelder, Michaela Noll, Beatrix Philipp, Ruprecht Polenz, Thomas Rachel, Johannes Röring, Dr. Norbert Röttgen, Karl Schiewerling, Bernhard Schulte-Drüggelte, Uwe Schummer, Detlef Seif, Reinhold Sendker, Jens Spahn, Sabine Weiss (Wesel I), Elisabeth Winkelmeier-Becker und Willi Zylajew (alle CDU/CSU) zu den namentli- chen Abstimmungen über die Beschlussemp- fehlung zu den Anträgen: „Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erd- gas“ und „Transparenz und Kontrolle bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas in Deutschland“ sowie über die Beschlussemp- fehlung zu dem Antrag: „Keine Erdgasförde- rung auf Kosten des Trinkwassers – Fracking bei der Erdgasförderung verbieten“ (Tages- ordnungspunkt 10 a und b) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Erklärungen nach § 31 GO zu den namentli- chen Abstimmungen über die Beschlussemp- fehlung zu den Anträgen: „Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erd- gas“ und „Transparenz und Kontrolle bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas in Deutschland“ sowie über die Beschlussemp- fehlung zu dem Antrag: „Keine Erdgasförde- rung auf Kosten des Trinkwassers – Fracking bei der Erdgasförderung verbieten“ (Tages- ordnungspunkt 10 a und b) Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU) . . . . . . . . . Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Schweinepest tierschonend be- kämpfen – Notimpfung ersetzt grundloses Keulen (Tagesordnungspunkt 11) Dieter Stier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Forschung für die zivile Sicher- heit (Tagesordnungspunkt 13) Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Freiheit von Forschung und Lehre schützen – Transparenz in Kooperatio- nen von Hochschulen und Forschungseinrich- tungen mit Unternehmen bringen (Tagesord- nungspunkt 14) 21280 C 21280 D 21281 A 21281 B 21282 B 21283 A 21284 B 21284 B 21285 B 21285 C 21286 B 21286 D 21287 C 21288 B 21288 D 21289 D 21290 C 21291 C 21292 C 21293 C 21295 B 21296 C 21297 C 21298 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebe- nengesetzes in den Jahren 2009 und 2010 (Ta- gesordnungspunkt 15) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung – Nutzerorientiert, solidarisch, zukunftsfest (Tagesordnungs- punkt 16) Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Schutz der biologischen Vielfalt – Die Taxonomie in der Biologie stärken (Ta- gesordnungspunkt 17) Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur geplan- ten Einberufung einer Regierungskonferenz und zum geplanten Beschluss der Regierungs- konferenz über die Zustimmung zum Proto- koll zu den Anliegen der irischen Bevölke- rung bezüglich des Vertrags von Lissabon hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes- tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund- gesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Zusatztagesordnungspunkt 5) Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21298 D 21299 D 21301 A 21302 B 21303 B 21304 A 21305 B 21306 D 21308 A 21308 D 21310 A 21310 D 21311 C 21313 A 21313 D 21315 A 21316 A 21317 A 21317 D 21318 B 21319 B 21320 B 21320 D 21321 B 21321 D 21323 B 21324 A 21324 D 21325 B 21325 C 21326 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21043 (A) (C) (D)(B) 178. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21279 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an der EU- geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Re- solutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Ok- tober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolu- tionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin- dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/ GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/ 907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/ 766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesord- nungspunkt 5) Wir stimmen heute über ein geändertes Mandat für die deutsche Beteiligung an der Anti-Piraterie-Mission Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 10.05.2012 Beckmeyer, Uwe SPD 10.05.2012* Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.05.2012 Birkwald, Matthias W. DIE LINKE 10.05.2012 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 10.05.2012 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 10.05.2012 Buschmann, Marco FDP 10.05.2012 Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 10.05.2012 Ernst, Klaus DIE LINKE 10.05.2012 Dr. Flachsbarth, Maria CDU/CSU 10.05.2012 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 10.05.2012 Grütters, Monika CDU/CSU 10.05.2012 Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 10.05.2012 Höger, Inge DIE LINKE 10.05.2012 Homburger, Birgit FDP 10.05.2012 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 10.05.2012 Kramme, Anette SPD 10.05.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.05.2012 Lay, Caren DIE LINKE 10.05.2012 Leutheusser- Schnarrenberger, Sabine FDP 10.05.2012 Lindemann, Lars FDP 10.05.2012 Lötzer, Ulla DIE LINKE 10.05.2012 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.05.2012 Remmers, Ingrid DIE LINKE 10.05.2012 Rix, Sönke SPD 10.05.2012 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.05.2012 Schneider, Ulrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.05.2012 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 10.05.2012 Dr. Tauber, Peter CDU/CSU 10.05.2012 Vaatz, Arnold CDU/CSU 10.05.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 21280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Atalanta vor dem Horn von Afrika ab. Diese Abstim- mung findet mehrere Monate vor dem eigentlichen Auslaufen des aktuell gültigen Mandats statt. Dies wird damit begründet, dass die Bundesregierung den Bundes- tag um die Zustimmung zur Ausweitung der Mission bittet. Künftig soll Atalanta Piraten nicht nur auf See, sondern auch innerhalb eines zwei Kilometer breiten Küstenstreifens an Land bekämpfen. Unsere Entscheidung haben wir mit Blick auf den zur Abstimmung vorgelegten Mandatstext getroffen. Wir wollen uns nicht von der Tatsache leiten lassen, dass im Zweifel das alte Mandat weiterhin gültig wäre. Spätes- tens im Dezember hätten wir dann erneut über diese Frage entscheiden müssen, ohne Netz und doppelten Boden. Im Dezember 2011 haben wir für die Verlängerung des Atalanta-Mandats gestimmt. Wir lehnen jedoch die nun eingebrachte Ausweitung des Mandats und das da- mit geplante militärische Vorgehen bis zu 2 000 Meter in das Landesinnere hinein ab. Diese Ausweitung birgt hohe Risiken sowohl für die Zivilbevölkerung wie auch für die Soldatinnen und Soldaten. Wir bezweifeln, dass die Ausweitung die gewünschten Ergebnisse liefert. Es ist eher zu erwarten, dass sich die Piraten dem neuen Operationsgebiet anpassen, sich womöglich in Städte zurückziehen, wo Angriffe von Schiffen oder Hub- schraubern aus mit erheblichen Gefahren für die Zivilbe- völkerung verbunden bzw. gar nicht erst möglich wären. Nicht zuletzt wurde eine Ausweitung des Mandats Ende letzten Jahres selbst durch Experten der Regierung äu- ßerst skeptisch beurteilt. Eine Zustimmung zu diesem neuen Atalanta-Mandat ist daher für uns nicht möglich. Die Atalanta-Schiffe sind jedoch nach wie vor uner- lässlich, um die Lebensmittellieferungen für die notlei- dende somalische Bevölkerung zu schützen und die Be- satzungen von Handelsschiffen im Seegebiet vor Somalia und dem Golf von Aden abzusichern. Die Schiffe des Welternährungsprogrammes konnten da- durch bisher ihre somalischen Zielhäfen sicher errei- chen. Von ihren Nahrungsmittel- und Hilfsgüterlieferun- gen sind über drei Millionen Menschen allein in Somalia abhängig. Da wir der Meinung sind, dass der Schutz dieser Schiffe auch weiterhin zwingend nötig ist, um die Versorgung und damit das Leben der Bevölkerung zu si- chern, können wir dieses Mandat auch nicht vollständig ablehnen. In der Konsequenz haben wir uns deshalb entschlos- sen, uns zu enthalten. Der Entschließungsantrag unserer Fraktion legt auch unsere Position näher dar und findet entsprechend unsere Unterstützung. Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsüberein- kommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De- zember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgen- der Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/ 851/GASP des Rates der Europäischen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. De- zember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Be- schluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/ GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Ta- gesordnungspunkt 5) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Unab- hängig von meiner grundsätzlich ablehnenden Position, was den Auslandseinsatz deutscher Soldatinnen und Sol- daten angeht, werde ich auch der Atalanta-Mission nicht zustimmen. Der vorliegende Beschluss bedeutet eine deutliche Ausweitung des Einsatzes unserer Soldaten am Horn von Afrika. Auch Luftangriffe auf Stellungen der Piraten an Land werden jetzt möglich. Damit erhält die Atalanta-Mission eine neue Qualität. Angriffe im Landesinnern schließen die Gefährdung der Zivilbevölkerung mit ein. Aus der bisher eher passiven Rolle im Rahmen der Mission wechselt die Bundesrepublik in eine offensive, aktive Position. Damit nimmt auch die Gefährdung deutscher Soldaten erheblich zu. Dies ist genauso wenig vertretbar wie die Gefährdung der Zivilbevölkerung. Die umfangreiche geleistete humanitäre Hilfe für die Menschen in Somalia ist anzuerkennen. Was jedoch fehlt, ist eine wirtschaftliche Alternative für die Fischer in dieser Region, deren Lebensunterhalt durch die Über- fischung der Fischgründe seit Jahren nicht mehr gesi- chert ist. Kirsten Lühmann (SPD): Der Einsatz der deutschen Marine unter dem Mandat der EU „Atalanta“ hat in der bestehenden Form meine volle Unterstützung. Der heute abzustimmenden Änderung bzw. Erweiterung des Man- dats kann ich jedoch nicht zustimmen. Das Mandat wird dergestalt erweitert, dass auch ein militärisches Vorgehen gegen die sogenannten Piraten auf einer Zone von 2 Kilometern an den jeweiligen Küs- tenstreifen möglich ist. Ich halte ein solches Vorgehen für nicht zielführend. Zum einen ist die Zone von 2 Kilo- metern leicht zu umgehen, indem die Piraten ihre Stütz- punkte einfach in das Landesinnere verlagern können. Zum anderen birgt ein solcher militärischer Einsatz auf fremdem Hoheitsgebiet aus meiner Sicht eine Vielzahl von nicht absehbaren Risiken. Dieses Risiko steht mei- ner Ansicht nach in keinem Verhältnis zu dem Nutzen, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21281 (A) (C) (D)(B) den ein solcher Einsatz haben mag. Daher kann ich dem Antrag der Bundesregierung auf eine Erweiterung des Mandats nicht zustimmen. Gisela Piltz (FDP): Dem Antrag der Bundesregie- rung zur Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streit- kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Be- kämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias stimme ich zu, weil ich die Notwendigkeit erkenne und dem Ziel zustimme, dass sichere Seewege im innen- wie auch außenpolitischen Interesse Deutschlands sind. Die Ge- fährdung des internationalen Seehandels wie auch inter- nationaler Hilfslieferungen auf dem Seewege durch Pira- terie gefährdet die Sicherheit der Seeleute, den friedlichen Handel und die Stabilität der Region, in der die Überfälle stattfinden. Es ist daher auch meine Über- zeugung, dass hier die internationale Staatengemein- schaft und auch die Europäische Union ihren Beitrag zu sicheren und friedlichen Seewegen leisten muss. Die Er- füllung der internationalen Verpflichtung Deutschlands durch die Entsendung deutscher Streitkräfte erkenne ich ausdrücklich als sinnvoll und notwendig an. Zugleich stelle ich aber fest, dass die Ausweitung des Mandats auf die Ermöglichung von Angriffen auf am Land befindliche Stützpunkte von Piraten auch Beden- ken ausgesetzt ist. Wenngleich es unter militärischen Ge- sichtspunkten nützlich erscheinen mag, Bodenangriffe zu erlauben, ist dies nach meiner persönlichen Überzeu- gung unverhältnismäßig. Das Mandat wurde geschaffen, um die sichere Passage von Schiffen zu ermöglichen, nicht, um sich in einen weitergehenden Kampf gegen dort operierende Piratenbanden verwickeln zu lassen. Angriffe auf an Land befindliche Basen von Piraten ber- gen nicht nur die Gefahr einer erheblichen Eskalation des Konflikts und stellen einen weiteren und ungleich größeren Eingriff in die Souveränität Somalias dar, son- dern können leicht auch zahlreiche Unschuldige treffen. Ich stimme dem Gesetz dennoch zu, weil ich erwarte, dass die Bundesregierung sich neben dem Engagement deutscher Streitkräfte weiterhin mit allen Mitteln auf in- ternationaler Ebene dafür einsetzt, für friedliche Verhält- nisse in Somalia zu sorgen und den Staatsaufbau dort voranzutreiben, den internationalen Pirateriegerichtshof endlich zügig zu errichten, gemeinsam mit anderen Staaten der Afrikanischen Union wie etwa Kenia zusam- menzuarbeiten, um eine effektive Strafverfolgung zu er- möglichen und aus der Piraterie erbeutete Mittel zu be- schlagnahmen oder einzufrieren sowie gemeinsam mit den deutschen Reedern für die Nutzung der definierten sicheren Korridore zu werben und Konzepte zur Siche- rung der Schiffe zu entwickeln. Frank Schäffler (FDP): Dem Antrag der Bundesre- gierung kann ich nicht zustimmen. Den bisherigen Ein- satz vor der Küste Somalias habe ich mittragen können. Er diente dem Schutz von zivilen Schiffen im Einsatzge- biet. Nun soll das Einsatzgebiet vom Wasser auf einen begrenzten Küstenstreifen ausgeweitet werden. Ich halte dies aus drei Gründen für nicht geboten. Erstens muss ich die Wirksamkeit der vorgeschlage- nen Ausweitung auf die Piratenbekämpfung zu Lande bezweifeln. Vorgeschlagen wird eine Ausweitung des Einsatzgebietes auf einen 2 Kilometer breiten Küsten- streifen in Somalia. Das wird zu Ausweichreaktionen führen. Zum einen haben die Piraten bereits jetzt Basen nach Eritrea verlegt. Das wird zunehmen. Im somali- schen Küstengebiet sollen mögliche Ziele identifiziert und allein aus der Luft bekämpft werden. Vorrangig soll es um an Land gezogene Boote der Piraten gehen. Diese Boote werden auf See von Mutterschiffen ausgesendet, um Handelsschiffe anzugreifen. Nach den Angriffen kehren sie zu den Mutterschiffen zurück. Diese bringen die Boote anschließend zurück in Küstennähe, wo sie von den Piraten per Hand angelandet werden. Die Boote befinden sich dann in einem ganz schmalen Küstenstrei- fen in unmittelbarer Wassernähe, wo sie aufgrund der bisherigen Grenzen des Mandats nicht bekämpft werden dürfen. Die Ausweitung des Einsatzgebiets auf den Küs- tenstreifen wird diesen Umstand nicht wesentlich verän- dern können. Wenn es um so kleine Boote geht, die von Hand an Land verbracht werden können, dann können sie auch auf Anhänger oder Lastkraftwagen verladen werden, um sie dem militärischem Zugriff im ausgewei- teten Kampfgebiet zu entziehen. Wir dürfen die Piraten- organisationen und ihre Mittel nicht unterschätzen. Sie sind hervorragend finanziert und arbeiten effizient. Es mangelt ihnen weder an Mannschaftsstärke noch an lo- gistischen Fähigkeiten oder anderen Mitteln, um die Ver- legung von Booten aus dem Landesinneren ins Wasser in kürzester Zeit durchzuführen. Dieses zu erwartende Ausweichverhalten der Piraten führt zum zweiten Grund meiner Ablehnung. Der bishe- rige Auftrag birgt eine für militärische Operationen sehr hohe Rechtssicherheit. Die Verteidigung von Handels- schiffen gegen Angriffe von Piraten ermöglicht eine zweifelsfreie Identifizierung, Bekämpfung und Verfol- gung der Verbrecher. Nicht umsonst wurden bisher alle von deutschen Kräften im Rahmen der Operation Ata- lanta in Gewahrsam genommenen Personen auf der ho- hen See in einer Entfernung zum Festland zwischen 50 und 250 Seemeilen aufgegriffen. Diese hohe Rechts- sicherheit bei der Verteidigung gegen einen Angriff oder beim Leisten von Nothilfe geht durch die Ausweitung auf den Küstenstreifen verloren. An Land lassen sich Pi- ratenboote nicht von zivilen Booten unterscheiden, denn nur ihre Verwendung macht den Unterschied. Da die An- griffe nur aus der Luft erfolgen dürfen, ist die Gefahr des Verlusts von – auch unschuldigen – Menschenleben wahrscheinlich. Wo Boote sind, da sind auch Menschen. Wenn man die Menschen nicht bekämpfen will, dann kann man die Boote nicht bekämpfen, wodurch die Aus- weitung sinnlos wird. Will man die Boote bekämpfen, dann muss man menschliche Verluste in Kauf nehmen. Das gilt insbesondere für die Piratenhäfen. Es drängt sich die ethische Frage auf, ob die Piraten oder von ih- nen eingesetztes logistisches Hilfspersonal mit poten- ziell tödlichen Mitteln bekämpft werden dürfen, ohne dass ein gegenwärtiger Angriff stattfindet. Auch hier gilt es wieder, den praktischen Erfindungsreichtum der Pira- ten nicht zu unterschätzen. Es liegt nahe, dass sie Zivilis- ten als menschliche Schutzschilde für die Boote im Zeit- 21282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) raum zwischen Anlandung und Verbringung außerhalb des 2 Kilometer breiten Einsatzgebietes verwenden. In Frage steht der ungerechtfertigte Tod von Piraten oder Zivilisten. Auch aus Rücksicht auf das Wohlergehen un- serer eigenen Einsatzkräfte bin ich dagegen, unsere Sol- daten in eine solche Gewissensbedrängnis zu bringen. Drittens gibt es mildere und besser geeignete Mittel. Bezogen auf das Einsatzgebiet von Atalanta ist die Zahl der erfolgreichen Piratenangriffe gegenüber dem Vorjahr rückläufig. Geschuldet ist dies auch dem zunehmend er- folgreicheren Einsatz von Vessel Protection Detach- ments – VPD. Im Rahmen der Operation Atalanta konn- ten schon bisher VPD an Bord von Handelsschiffen eingesetzt werden. Von insgesamt 18 solchen Einsätzen im Jahr 2011 wurden 6 durch deutsche VPD durchge- führt. Diese dezentrale Sicherungsmaßnahme ist zu be- grüßen. Obwohl das Mandat den Einsatz auf jedem zu schützenden Handelsschiff erlaubt, wurden VPD nur an Bord von Schiffen des Welternährungsprogramms statio- niert. Eine Ausweitung und zufällige Verteilung auf an- dere Handelsschiffe wäre eine vorzugswürdige mildere Maßnahme mit Abschreckungseffekt, weil die Piraten nicht wüssten, wo sie auf Widerstand treffen. Begleitet werden müsste diese Maßnahme von einer Liberalisie- rung des Waffenrechts auf Handelsschiffen unter deut- scher Flagge. Immer mehr Handelsschiffe am Horn von Afrika haben private bewaffnete Sicherheitskräfte – PBS – zum Schutz gegen Piraterie an Bord. Das deutsche Recht steht ihrem Einsatz auf Schiffen unter deutscher Flagge nicht entgegen. Ein Drittel der deutschen Reeder setzt sie bereits ein. Bislang ist kein Schiff, das PBS an Bord hatte, erfolgreich gekapert worden. PBS dürfen bereits heute Gewalt zur Notwehr anwenden. Ihr Einsatz würde bei einer Liberalisierung des Marktes für maritime Si- cherheit selbst entsprechend erleichtert und die Sicher- heit der Handelsschifffahrt maßgeblich erhöht. Nach alledem bleibt die Ausweitung des Einsatzes auf die Küstenregion im besseren Fall weitgehend wir- kungslos. Im Fall des größten Unglücks droht uns jedoch der Verlust vieler Menschenleben. Diesen abschüssigen Weg sollten wir nicht gehen. Zuvor sollten wir weiter und schneller den unkonventionellen Weg über den Ein- satz privater und militärischer Sicherheitskräfte be- schreiten, die dezentral an Bord von Handelsschiffen stationiert werden. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Den Antrag lehne ich ab. Die Erweiterung des Mandats der Bundesmarine für Kriegseinsätze vor der Küste Somalias jetzt auch auf das Land in einem Küstenstreifen von 2 Kilometer Breite ist verhängnisvoll und nicht zu verantworten. Diese Erwei- terung folgt allenfalls einer militärischen Logik. Die Politik darf ihr nicht folgen. Die Eingrenzung dieser Erweiterung des Mandats auf Angriffe nur aus der Luft mittels Hubschraubern, ledig- lich auf die Logistik von Piraten und ohne Menschen ge- fährden zu wollen, macht sie nicht besser. Einerseits enthält sie die Ausnahme, dass Operationen an Land zum Zwecke der Nothilfe etwa für abgeschos- sene Hubschrauber erlaubt bleiben. Selbst wenn Hub- schrauberabstürze weitgehend vermieden werden kön- nen, können solche Nothilfeoperationen zu häufigen Landeinsätzen der Bundeswehr führen, weil EU- und NATO-Verbündete nicht gehindert sind, Operationen an Land durchzuführen. Landeinsätze aber bringen das Ri- siko einer immer weiteren Eskalation mit sich. Zum anderen werden Piraten versuchen, ihre Logistik durch die Anwesenheit von Menschen – Männern, Frauen und Kindern – zu schützen. Damit wird die Ge- fahr von „Kollateralschäden“ an Menschenleben erheb- lich, selbst wenn beabsichtigt ist, Menschen nicht zu treffen, zu töten oder zu verletzen. Der gesamte kriegerische Einsatz der Bundesmarine und der Armada von Kriegsschiffen aus 27 Nationen vor der Küste Somalias und in weiten Teilen des Indischen Ozeans ist politisch falsch und unverantwortlich. Er ist nicht notwendig zur Sicherung des Welternährungspro- gramms für Somalia, wie immer wieder behauptet wird. Er ist auch mit der Beteuerung unvereinbar, dass Militär- einsätze und kriegerische Mittel immer nur die letzte Maßnahme sind, wenn alle anderen Mittel versagt haben oder nicht geeignet sind, Sicherheit herzustellen. Es gibt gegen die Gefahr von Piratenangriffen vor Somalia auf Schiffe und Schiffsbesatzungen andere, weniger gefähr- liche und weniger kriegerische Alternativen. Es gibt die Möglichkeit, dass Handels-, Passagier- und Versorgungsschiffe diese Gewässer passieren, ohne von Piraten gekapert zu werden. Internationale Organisationen haben Best-Practice- Regeln genannt, an denen sich die Schifffahrt orientieren soll, um nicht von Piraten aufgebracht zu werden. Dazu gehören die Einreihung von Schiffen in Konvois, die mit hoher Geschwindigkeit fahren und die Absicherung von Reling und Außenbord etwa durch Stacheldraht. Bisher ist in den letzten Jahren noch kein einziges Schiff von Piraten aufgebracht worden, das sich an diese Regeln ge- halten hat. Die Bundesregierung und ihr unterstellte Stellen haben dies auf Fragen von mir bestätigt. Es gibt ferner die Möglichkeit, dass Handelsschiffe drei bis fünf Personen von zivilen Sicherheitsdiensten für gefährliche Passagen an Bord nehmen, die nicht schwer bewaffnet sein müssen. Auch für so zivil gesi- cherte Schiffe gilt, dass bis heute kein einziges von Pira- ten gekapert worden ist. Die Bundesregierung hat dies ebenfalls ausdrücklich auf Fragen von mir bestätigt. Da es diese zivilen Alternativen gibt, die sich für die Herstellung von Sicherheit auf See vor der Küste Soma- lias seit Jahren bewährt haben, dient der Einsatz der in- ternationalen Kriegsflotten im Indischen Ozean letztlich nur den unwilligen Reedereien und dem Schutz ihrer Schiffe. Es geht um die Schiffe, die entgegen der Best- Practice-Empfehlungen einzeln und nicht im Konvoi so- wie, um Kosten zu sparen, mit reduzierter Geschwindig- keit und ohne zusätzliche Sicherungsmaßnahmen durch gefährliche Meeresgebiete fahren. Die kriegerischen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21283 (A) (C) (D)(B) Einsätze sind dafür zu teuer, zu gefährlich und nicht richtig, sondern falsch. Stattdessen sollten die Ankündigungen des Außen- ministers endlich angegangen und realisiert werden, die internationalen Finanzströme der Erlöse aus Erpressung und Raub für gekaperte Schiffe und die als Geiseln ge- nommenen Besatzungen zu kappen und die Gelder ein- zuziehen. Angeblich sind die Transferstationen dieser Gelder in einem Scheichtum zu den Hintermännern in Kenia und London längst bekannt. Aber es geschieht nichts, die Kriegseinsätze scheinen die naheliegendere Alternative. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Peter Beyer, Wolfgang Bosbach, Helmut Brandt, Dr. Ralf Brauksiepe, Ralph Brinkhaus, Cajus Caesar, Ingrid Fischbach, Klaus-Peter Flosbach, Jürgen Hardt, Dr. Matthias Heider, Ursula Heinen- Esser, Rudolf Henke, Ansgar Heveling, Peter Hintze, Thomas Jarzombek, Dieter Jasper, Dr. Günter Krings, Dr. Carsten Linnemann, Philipp Mißfelder, Michaela Noll, Beatrix Philipp, Ruprecht Polenz, Thomas Rachel, Johannes Röring, Dr. Norbert Röttgen, Karl Schiewerling, Bernhard Schulte-Drüggelte, Uwe Schummer, Detlef Seif, Reinhold Sendker, Jens Spahn, Sabine Weiss (Wesel I). Elisabeth Winkelmeier-Becker und Willi Zylajew (alle CDU/CSU) zu den namentlichen Abstimmun- gen über die Beschlussempfehlung zu den An- trägen: „Leitlinien für Transparenz und Um- weltverträglichkeit bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas“ und „Transparenz und Kontrolle bei der Förderung von unkon- ventionellem Erdgas in Deutschland“ sowie über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: „Keine Erdgasförderung auf Kosten des Trink- wassers – Fracking bei der Erdgasförderung verbieten“ (Tagesordnungspunkt 10 a und b) Den Anträgen der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und Die Linke können wir in der vorliegen- den Form nicht zustimmen und folgen deswegen den Be- schlussempfehlungen der Ausschüsse für Umwelt, Na- turschutz und Reaktorsicherheit sowie für Wirtschaft und Technologie. Unsere Position in der Sache erklären wir wie folgt: Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter- rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung liegt. Wir setzen uns für eine nachhaltige Energiepolitik ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor- gung auch in Zukunft. Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis von Kohle oder Gas notwendig. Bislang wird in Nord- rhein-Westfalen kein Erdgas gefördert. Allerdings be- steht bei verschiedenen Unternehmen Interesse, die Potenziale sogenannter unkonventioneller Erdgasvor- kommen zu untersuchen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat bereits 19 Genehmigungen zur Erkundung sogenann- ter unkonventioneller Lagerstätten zu gewerblichen Zwecken erteilt, insbesondere in Ostwestfalen, Südwest- falen und im Münsterland. In den betroffenen Regionen besteht ein hohes Maß an Unsicherheit im Hinblick auf die Risiken, die mit der Gewinnung von Gas verbunden sind. Dabei geht es ins- besondere um eine mögliche Belastung des Grund- und Trinkwassers durch das sogenannte Fracking – ein Ver- fahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand und chemischen Zusätzen in das umlagernde Gestein des Un- tergrundes gepresst wird, um den Gasfluss hin zum Bohrloch zu stimulieren und die Förderung zu ermögli- chen. Als Energieland Nummer eins haben wir in Nord- rhein-Westfalen ein großes Interesse an Erhaltung und Entwicklung neuer energiepolitischer Optionen. Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um- weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län- der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss das Land Nordrhein-Westfalen sicherstellen, dass der je- weilige Antragsteller verpflichtet wird, alle für die Ent- scheidung erforderlichen Informationen bereitzustellen und die Auswirkungen auf die Umwelt umfassend zu do- kumentieren. Solange keine ausreichend fundierten wissenschaftli- chen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von „Fracking“ vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen werden. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Auf- suchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventio- nellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege- benen Studien vorliegen. Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi- schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför- derung angepasst werden. Insbesondere halten wir eine Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt- verträglichkeitsprüfung – UVP –, die im Bergrecht für die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist aus unserer Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhal- tet dann auch eine verpflichtende, transparente und effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi- gung des Probefrackings. Zudem sind die Wasserbehör- den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können, ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den Mit- gliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Wir un- 21284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) terstützen daher die Bemühung im Europäischen Parla- ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards. Eine Erdgasförderung in Nordrhein-Westfalen kommt nur infrage, wenn sie von der Bevölkerung in der Region akzeptiert wird. Dafür ist eine umfassende Transparenz eine zentrale Voraussetzung. Die Landesregierung ist in der Pflicht, die Aufklärung der Bevölkerung über die Ri- siken des „Fracking“ deutlich zu verbessern. Für uns hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmigun- gen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwortliche Risiken für Mensch und Natur vollständig ausgeschlos- sen werden können. Anlage 5 Erklärungen nach § 31 GO zu den namentlichen Abstimmungen über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen: „Leit- linien für Transparenz und Umweltverträglich- keit bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas“ und „Transparenz und Kontrolle bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas in Deutschland“ sowie über die Beschlussemp- fehlung zu dem Antrag: „Keine Erdgasförde- rung auf Kosten des Trinkwassers – Fracking bei der Erdgasförderung verbieten“ (Tagesord- nungspunkt 10 a und b) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich lehne den oben genannten Antrag der SPD-Bundestagsfraktion nicht aus inhaltlichen, sondern vor allem aus formalen Gründen ab. Eine Abstimmung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht sinnvoll, weil die Ergebnisse der vom Bundesumweltmi- nisterium in Auftrag gegebenen Studie zum Fracking noch nicht vorliegen. Leider ist der Zeitpunkt der Ab- stimmung offenbar dem Wahlkampf in Nordrhein-West- falen geschuldet. Ich kritisiere in diesem Zusammen- hang ebenso, dass der Antrag der SPD auf die Alternative verzichtet, Fracking ganz zu verbieten. Für mich bleibt es bei meiner Haltung, die ich verschiedent- lich in meinem Wahlkreis vertreten habe: Fracking kommt für mich nicht in Betracht, wenn nicht durch Umweltverträglichkeitsprüfungen jegliche schädlichen Umwelteinwirkungen ausgeschlossen sind, keine Trink- wasserschutzgebiete betroffen werden und eine Beteili- gung aller kommunal- und wasserrechtlich zuständigen Behörden und damit auch eine umfassende Bürgerbetei- ligung gewährleistet sind. Ich beziehe mich im Übrigen auf den Bericht des Umweltausschusses zum Antrag der SPD-Bundestags- fraktion und schließe mich den dort genannten Gründen der Ablehnung durch die CDU/CSU-Bundestagsab- geordneten im Umweltausschuss an. Aus den gleichen Gründen lehne ich die ähnlichen Anträge zum Thema Fracking von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke ebenso ab. Axel Knoerig (CDU/CSU): Den Anträgen der Frak- tionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke kann ich in der vorliegenden Form nicht zustimmen und folge deswegen den Beschlussempfehlungen der Ausschüsse für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie für Wirtschaft und Technologie. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter- rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor- gung auch in Zukunft. Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis von Kohle oder Gas notwendig. Bislang wird in Nieder- sachsen kein Erdgas aus unkonventionellen Quellen – Schiefergas, Sandstein – gefördert. Allerdings besteht bei verschiedenen Unternehmen Interesse, die Poten- ziale sogenannter unkonventioneller Erdgasvorkommen zu untersuchen. In den betroffenen Regionen besteht ein hohes Maß an Unsicherheit im Hinblick auf die Risiken, die mit der Gewinnung von Gas verbunden sind. Dabei geht es ins- besondere um eine mögliche Belastung des Grund- und Trinkwassers durch das sogenannte Fracking – ein Ver- fahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand und chemischen Zusätzen in das umlagernde Gestein des Un- tergrundes gepresst wird, um den Gasfluss hin zum Bohrloch zu stimulieren und die Förderung zu ermögli- chen. Als das am meisten betroffene Bundesland hat Nie- dersachsen ein großes Interesse an Erhaltung und Ent- wicklung neuer energiepolitischer Optionen. Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und umweltrechtli- chen Vorschriften sind die Behörden der Länder. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss das Land Nie- dersachsen sicherstellen, dass der jeweilige Antragsteller verpflichtet wird, alle für die Entscheidung erforder- lichen Informationen bereitzustellen und die Auswirkun- gen auf die Umwelt umfassend zu dokumentieren. Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft- lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer- den. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsu- chung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionel- len Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gegebenen Studien vorliegen. Eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung – UVP –, die im Bergrecht für die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist aber unerlässlich. Umweltri- siken bestehen vor allem dann, wenn unter Einsatz was- sergefährdender Stoffe gefrackt wird. So müssen neben Grund-, Trink- und Heilwasserquellen auch Mineralwas- serquellen in die UVP-Prüfung aufgenommen werden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21285 (A) (C) (D)(B) und in diesen Gebieten ein umfassendes Fracking-Verbot gelten. Deshalb soll für diese Fälle sowohl bei der Erdgasge- winnung als auch bei der Geothermie eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhaltet dann auch eine verpflichtende, transparente und effektive Öffentlich- keitsbeteiligung vor einer Genehmigung des Probefra- ckings. Zudem sind die Wasserbehörden verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können, ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Wir unterstützen daher die Bemühung im Europäischen Parlament um ver- gleichbar hohe Sicherheitsstandards. Eine Förderung unkonventionellen Erdgases in Nie- dersachsen kommt nur infrage, wenn die bundesrechtli- chen Bedingungen nach dem Auslaufen des Moratori- ums schnellstmöglich geregelt werden. Nach dem Vorliegen der Fracking-Gutachten des Bundesumwelt- ministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums muss unverzüglich ein Gesetzentwurf dem Bundestag vorgelegt werden. Ebenso muss erwartet werden, das Fracking von der Bevölkerung in der Region akzeptiert wird und Öffentlichkeitsarbeit geleistet wird. Dafür ist umfassende Transparenz eine zentrale Voraussetzung. Die Landesregierung ist in der Pflicht, die Aufklärung der Bevölkerung über die Risiken des Fracking deutlich zu verbessern. Für mich hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmi- gungen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwortli- che Risiken für Mensch und Natur vollständig ausge- schlossen werden können. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Als eine der großen Wirtschaftsnationen der Welt hat Deutschland ein großes Interesse an Erhaltung und Entwicklung neuer energiepolitischer Optionen. Dies gilt für das Energieland Nordrhein-Westfalen in besonderer Weise. Solange keine ausreichend fundierten wissenschaftli- chen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer- den. Ich begrüße, dass die Bundesregierung die Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsu- chung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionel- len Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gegebenen Studien vorliegen. Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi- schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför- derung angepasst werden. Insbesondere halte ich eine Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt- verträglichkeitsprüfung, UVP, die im Bergrecht für die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist aus meiner Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhal- tet dann auch eine verpflichtende, transparente und ef- fektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi- gung des Probefrackings. Zudem sind die Wasserbehör- den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können, ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Ich unterstütze daher die Bemühung im Europäischen Parla- ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards. Eine Erdgasförderung in Nordrhein-Westfalen kommt nur infrage, wenn sie von der Bevölkerung in der Region akzeptiert wird. Dafür ist eine umfassende Transparenz eine zentrale Voraussetzung. Die Landesregierung ist in der Pflicht, die Aufklärung der Bevölkerung über die Ri- siken des Fracking deutlich zu verbessern. Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um- weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län- der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss das Land Nordrhein-Westfalen sicherstellen, dass der je- weilige Antragsteller verpflichtet wird, alle für die Ent- scheidung erforderlichen Informationen bereitzustellen und die Auswirkungen auf die Umwelt umfassend zu do- kumentieren. Genehmigungen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwortliche Risiken für Mensch und Natur vollständig ausgeschlossen werden können. Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Den Anträgen der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke kann ich in der vorliegenden Form nicht zustimmen und folge deswegen den Beschlussempfehlungen der Aus- schüsse für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit sowie für Wirtschaft und Technologie. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter- rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor- gung auch in Zukunft. Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis von Kohle oder Gas notwendig. Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um- weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län- der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss das Land Niedersachsen sicherstellen, dass der jeweilige An- tragsteller verpflichtet wird, alle für die Entscheidung er- forderlichen Informationen bereitzustellen und die Aus- wirkungen auf die Umwelt umfassend zu dokumentieren. Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft- lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen werden. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsuchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonven- 21286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) tionellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege- benen Studien vorliegen. Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi- schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför- derung angepasst werden. Insbesondere halte ich eine Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt- verträglichkeitsprüfung – UVP – die im Bergrecht für die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist aus meiner Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese bein- haltet dann auch eine verpflichtende, transparente und effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi- gung des Probefracking. Zudem sind die Wasserbehör- den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können, ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Ich unterstütze daher die Bemühung im Europäischen Parla- ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards. Auch die Entsorgung der Fracking-Flüssigkeiten so- wohl bei der Förderung von Erdgas aus unkonventionel- len als auch aus konventionellen Gasvorräten muss so erfolgen, dass davon keine Gefahren für Mensch, Tier und Umwelt ausgehen. Bei dem Transport durch unter- irdische Leitungen kam es in der jüngsten Vergangenheit vielfach im Land Niedersachsen zu Leckagen. In Langwedel-Völkersen, das in meinem Wahlkreis liegt, haben diese Leckagen zu einer Kontaminierung des Bodens mit krebserregendem Benzol geführt und so Mensch, Tier und Umwelt gefährdet. Äußerst kritisch ist zudem die Verpressung von kontaminiertem Wasser in Trinkwasserschutzgebieten. Das bisher praktizierte Verfahren, dass das mit hoch- giftigen Stoffen kontaminierte Wasser kilometerweit durch unterirdische Leitungen zum Ort der Verpressung im Boden transportiert wird, ist zu überprüfen. Bereits jetzt ist es technisch möglich, das bei der Erdgasförde- rung anfallende Lagerstättenwasser an der jeweiligen Bohrstelle so aufzubereiten und zu reinigen, dass das ge- reinigte Wasser anschließend in einer normalen Kläran- lage entsorgt werden kann. Es muss das Ziel sein, die Entsorgung des Lagerstättenwassers so vorzunehmen und nicht weiter das kontaminierte Wasser in kilometer- langen Leitungen zu transportieren und im Boden zu verpressen. Für mich hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmi- gungen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwort- liche Risiken für Mensch und Natur vollständig aus- geschlossen werden können. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Den Anträgen der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke kann ich in der vorliegenden Form nicht zustimmen und folge deswegen den Beschlussempfeh- lungen der Ausschüsse für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie für Wirtschaft und Technologie. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter- rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik ein sowie für eine sichere und bezahlbare Energieversor- gung auch in Zukunft. Als Ergänzung der erneuerbaren Energien wird noch über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hoch effizienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraft- werke auf der Basis von Kohle oder Gas notwendig sein. Vielerorts bestehen jedoch Bedenken angesichts mög- licher Gefahren, die mit der Gewinnung von Gas verbunden sind. Dabei geht es insbesondere um eine mögliche Belastung des Grund- und Trinkwassers durch das sogenannte Fracking – ein Verfahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand und chemischen Zusät- zen in das umlagernde Gestein des Untergrundes ge- presst wird, um den Gasfluss hin zum Bohrloch zu sti- mulieren und die Förderung zu ermöglichen. Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft- lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer- den. Ich begrüße es daher, dass die Bundesregierung die Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Auf- suchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventio- nellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege- benen Studien vorliegen. Dies ist nach meiner Überzeu- gung der richtige Weg, um den in der Bevölkerung be- stehenden Bedenken hinsichtlich möglicher Gefahren, die mit dieser Fördermethode verbunden sein können, gerecht zu werden. Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Erstens. Ich werde die Anträge von SPD und Die Linke ablehnen. Zweitens. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen kann eine Grundlage für weitere Diskussionen sein. Drittens. Solange keine ausreichend fundierten wis- senschaftlichen Kenntnisse zu den möglichen Auswir- kungen von Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten ge- schaffen werden. Ich begrüße, dass die Bundesregierung die Studie Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsuchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonven- tionellen Lagerstätten in Auftrag gegeben hat und erst dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die Studien vorliegen. Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi- schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför- derung angepasst werden. Insbesondere hält die CDU/ CSU eine Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung – UVP –, die im Berg- recht für das Probefracking derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist aus unserer Sicht unerlässlich. Umweltrisiken be- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21287 (A) (C) (D)(B) stehen vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefähr- dender Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll bei der Erdgas- gewinnung eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhaltet dann auch eine verpflichtende, transpa- rente und effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmigung. Zudem sind die Wasserbehörden ver- pflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen Land- kreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können, un- terstütze ich die Bemühung des Mitglieds des Europäi- schen Parlaments Dr. Peter Liese im Europäischen Parla- ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards. Viertens. Die beiden Anträge von SPD und Die Linke sind sowohl materiell-rechtlich als auch verfassungs- rechtlich zu beanstanden. Zudem ist die Einbringung beider Anträge zum jetzigen Zeitpunkt offensichtlich dem Umstand geschuldet, dass am 13. Mai 2012 in Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen stattfinden. Dass sich die SPD nun ereifert, ist heuchlerisch, hätte sie doch zu ihrer Regierungszeit bereits Regelungen treffen kön- nen. Was hat Herr Gabriel als Umweltminister von 2005 bis 2009 eigentlich gemacht? Kurz vor den Landtagswahlen nun Vorschläge einzu- bringen, kann nur einem Zweck dienen, dem Wahl- kampf. Dies ist abzulehnen. Die Anträge vermögen es darüber hinaus nicht, den verfassungsrechtlichen Auf- trag, die Umwelt zu schützen, gemäß Art. 20 a Grundge- setz im Verhältnis zu anderen Interessen abzuwägen und eine sachorientierte Lösung zu schaffen. Vielmehr fordert die SPD, dass durch das Fracking eingetretene Schäden nicht von der Allgemeinheit, son- dern von den jeweiligen Betreibern getragen werden. Dies bedeutet, dass die SPD Schäden durchaus in Kauf nehmen will, Hauptsache jemand bezahlt dann dafür. Hier geht es aber um den Schutz unseres Trinkwassers. Dieses darf nicht verunreinigt werden. Wenn man im Nachgang dafür Geld bekommt, wird nichts besser, dann nämlich ist bereits ein unbezahlbarer Schaden eingetre- ten. Im Gegensatz hierzu steht der Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen. Dieser Antrag ist zumindest als Grundlage für weitere Beratungen als unterstützungswürdig anzuse- hen. Vor allem die Forderung nach einer Aussetzung des Verfahrens, bis weitere Erkenntnisse zum Fracking vor- liegen, die Forderung, die Öffentlichkeitsbeteiligung und Transparenz zu erhöhen, und die Forderung nach einer Umweltverträglichkeitsprüfung decken sich mit den For- derungen der CDU/CSU. Letztlich fordert dieser Antrag, in Anlehnung an die Initiative der Europäischen Kom- mission eine grundlegende Überprüfung des deutschen Rechtsrahmens für die Förderung von unkonventionel- lem Erdgas einzuleiten. Auch diese Forderung muss ich nicht ablehnen. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen trägt mithin ausreichend Potenzial für einen weiteren verantwor- tungsvollen Umgang bei der Förderung von Erdgas in sich. Daher werde ich diesen Antrag nicht ablehnen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Schweinepest tier- schonend bekämpfen – Notimpfung ersetzt grundloses Keulen (Tagesordnungspunkt 11) Dieter Stier (CDU/CSU): Ich begrüße ausdrücklich diesen interfraktionellen Antrag mit dem tierschonenden Ansatz „Impfen statt keulen“ beim Auftreten der Schweine- pest. Dieser gemeinsame Antrag, welchen wir heute hier beraten, beweist einmal mehr, dass wir über Parteigren- zen hinweg ein gemeinsames Ziel haben: Ein Maximum an Tierschutz auch bei der Seuchenbekämpfung! Unvergessen sind die Bilder von Bergen gekeulter Schweine, die in der Vergangenheit durch die Medien gingen. Wie verheerend die Dimension der Schweine- pest sein kann, zeigte uns ein Seuchenausbruch in den Niederlanden 1997/1998, der zu einer Tötung von über 12 Millionen Schweinen führte. Die direkt entstandenen Kosten wurden dabei auf circa 2,3 Milliarden Euro be- ziffert. Aus ökonomischer und tierschutzrelevanter Sicht eine Katastrophe! Diese Bilder haben die Verbraucher entsetzt und na- türlich zu Recht fragen lassen, ob eine Keulung wirklich auch heute noch zeitgemäß und das einzige Mittel zur Eindämmung der Schweinepest sei. Diese Frage ist be- rechtigt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Wissenschaft in den letzten 15 Jahren wichtige Fort- schritte gemacht hat. Dank intensiver Forschungen ste- hen mittlerweile Markerimpfstoffe zur Verfügung, durch welche die Schweine wirkungsvoll vor der Tierkrankheit geschützt werden können. Des Weiteren kann mittlerweile auch der Erreger durch neue Verfahren schnell und zuverlässig nachge- wiesen werden. Dank des wissenschaftlichen Fortschritts haben wir nun eine wirksame und akzeptable Alternative gefunden, die Massenkeulungen zur Eindämmung der Seuche un- nötig machen. Notimpfungen tragen also entscheidend zu einem Mehr an Tierschutz bei. Die bisherige „Nichtimpfpolitik“ der Europäischen Gemeinschaft bei der Klassischen Schweinepest ist folg- lich nicht mehr zeitgemäß. Deshalb muss die Bundesre- gierung nun auf EU-Ebene Überzeugungsarbeit leisten, die in einen Paradigmenwechsel „Impfen statt keulen“ münden soll. Diese neue Impfstrategie muss im EU- Tiergesundheitsrecht verankert werden. Auf nationaler Ebene ist eine Anpassung an das Tierseuchenrecht not- wendig. Dieser klare gesetzliche Rahmen ist die Vorausset- zung dafür, dass die EU-Kommission und die Mitglied- staaten keine Handelssperre für die Impfregionen erlas- sen können. Ebenso müssen die bilateral mit Dritt- ländern geschlossenen Veterinärabkommen entspre- chend angepasst werden. 21288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Der Lebensmitteleinzelhandel ist jedoch nur dann be- reit, eine Notimpfstrategie mitzutragen, wenn das Fleisch geimpfter Tiere auch ohne Einschränkungen in allen EU-Mitgliedstaaten zu verkaufen ist. Dieser tier- schonende Ansatz darf sich deshalb keinesfalls negativ auf den Handel auswirken. Um die Wirtschaftlichkeit und Vermarktung von Fleisch geimpfter Tiere sicherzu- stellen, bedarf es einer genauen Aufklärung zur Ernäh- rungssicherheit. Wirtschaft, Handel und insbesondere die Konsumenten sind über die Unbedenklichkeit des Fleisches notgeimpfter Tiere zu informieren. Diese Bot- schaft muss in aller Deutlichkeit kommuniziert werden. An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal auf die Bedeutung der Prävention bei der Bekämpfung der Schweinepest aufmerksam machen. Seit 2011 sind wie- der verstärkt Ausbrüche der Schweinegrippe an den Au- ßengrenzen der EU gemeldet worden. Im Februar 2012 fielen der Afrikanischen Schweinepest in Russland bis- her rund 40 000 Schweine zum Opfer. Das Friedrich-Löffler-Institut warnt vor allem vor dem Einschleppungsrisiko des Virus durch verunreinigte Lebensmittel und Speiseabfälle im Personen- und Güter- verkehr. Auch kontaminierte und unzureichend desinfi- zierte Transportfahrzeuge bergen ein erhöhtes Ein- schleppungsrisiko. Perfektes Betriebsmanagement, ein hohes Hygieneniveau in den Ställen, stetige Kontrollen sowie die Verfütterung sicherer Futtermittel sind hier im- mer noch die besten Mittel, um einen Ausbruch von Schweinepest vorzubeugen. Ein erfolgreiches Umsetzen der EU-Notimpfstrategie könnte insbesondere auch unsere osteuropäischen EU- Nachbarstaaten motivieren, sich an diesem Konzept zur Notimpfung zu orientieren. Ich würde mir in anderen Bereichen der Tierschutzde- batte ebenfalls eine derart breite inhaltliche Übereinstim- mung mit der Opposition wünschen. Bei den Kollegen bedanke ich mich deshalb, dass wir diesen gemeinsamen Antrag heute auf den Weg bringen können. Denn letzt- lich haben wir alle das gemeinsame Ziel, dem Wohle der Tiere, der Wirtschaftlichkeit der Betriebe und der Ge- sundheit der Verbraucher Rechnung zu tragen. Auf EU-Ebene wird Deutschland mit dieser Impfstra- tegie seine Vorreiterfunktion in Sachen Tierschutz in vorbildlicher Weise erneut unter Beweis stellen. Marlene Mortler (CDU/CSU): Erst kommen die Tiere und dann die Familie. So sind die Prioritäten in un- seren landwirtschaftlichen Familienbetrieben seit eh und je gesetzt. Das heißt, erst wenn es meinen Tieren gut geht, kann ich mich um meine Familie kümmern. Sie mögen das für übertrieben halten. Als Bäuerin weiß ich: Das ist gelebte Praxis! Das Tierwohl ist für uns alle ein wichtiges Anliegen. Daher ist unser gemeinsamer Antrag ein wichtiges Si- gnal nach außen: an unsere Bäuerinnen und Bauern, an die Handelspartner, an die OIE – die Weltorganisation für Tiergesundheit. Warum? – Nach der geltenden Schweinepestverord- nung werden bei einem Seuchenfall auch viele gesunde Schweine im Sperrbezirk getötet, um eine Weiterverbrei- tung der Seuche zu verhindern. So wurden zum Beispiel beim letzten Seuchenzug in Nordrhein-Westfalen in acht Fällen der Klassischen Schweinepest über 150 000 Schweine gekeult. Ein verantwortungsvoller Umgang mit unserer Schöpfung sieht anders aus. Das ist ethisch fragwürdig und im wahrsten Sinne des Wortes eine tödli- che Verschwendung unserer Ressourcen. Gerade als Bäuerin kann ich nachempfinden, wie sich meine Bau- ern dabei gefühlt haben müssen. Es gibt nichts Schlim- meres, als mitzuerleben, wie die eigenen gesunden Tiere vorbeugend vernichtet werden müssen. Ich finde es hervorragend, dass sich in dieser Angele- genheit eine so breite politische Mehrheit gefunden hat. Das ist ein klares Zeichen, dass wir uns unserer mora- lisch-ethischen Verantwortung bewusst sind. Die bisherige Praxis lässt sich auch angesichts der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht aufrechter- halten. Insbesondere durch moderne Nachweisverfahren haben wir die Möglichkeit, befallene Bestände schnell einzugrenzen und mit dem Instrumentarium der Notimp- fung dem Tierschutz gerecht zu werden. Dafür kämpfen wir! Das ist unser gemeinsames Ziel! Damit im Ernstfall der Grundsatz „Impfen statt Keu- len“ in der Tierseuchenbekämpfung durchgreifend wirk- sam umgesetzt wird, müssen alle Beteiligten mitmachen. Es ist positiv, dass die Bundesregierung hier bereits Vor- bereitungen getroffen hat, damit im Ernstfall eine Eilver- ordnung, ein großflächiges „Stand still“ einleiten kann. Die Länder, denen die Entscheidung für oder gegen eine Notimpfung im Seuchenfall obliegt, müssen in diesem Fall auch vom Bund durch die Versorgung mit entspre- chenden Impfstoffen unterstützt werden. Von entschei- dender Bedeutung wird aber sein, dass das Fleisch von geimpften Tieren im Vergleich zum Fleisch von nicht ge- impften Tieren bei der späteren Verwendung keinerlei Beschränkungen unterliegt. Wir haben mit dem heutigen Tag zusammen mit dem BMELV den Rahmen gesetzt. Nun kommt der nächste Kraftakt. Die Wirtschaft kann und muss hier ihren Beitrag leisten. Klar ist: Das Fleisch geimpfter Tiere ist qualitativ absolut gleichran- gig mit dem ungeimpfter Tiere. Hier muss auch vonsei- ten der Wirtschaft unbegründeten Sorgen mit offensiver Aufklärung begegnet werden. Notgeimpfte, aber gesunde Tiere dürfen nicht länger auf internationaler Ebene Verkaufs- und Handelsbe- schränkungen unterliegen. Wir werben deshalb für einen Paradigmenwechsel in der Tiergesundheitspolitik. Nur so können wir unser Ziel erreichen, dass auf Dauer EU- weit das Prinzip „Impfen statt Keulen“ durchgesetzt wird. Gerne sind wir hier Vorreiter – im Sinne des Tier- schutzes europa- und weltweit. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Als Tierarzt war ich vor knapp zwanzig Jahren unmittelbar von den dramati- schen Auswirkungen der Klassischen Schweinepest in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21289 (A) (C) (D)(B) Niedersachsen betroffen. Wozu hat die europäische Tier- seuchenpolitik des Stamping-out in der Vergangenheit geführt? Nach dem Ausbruch der Klassischen Schweine- pest wurden Hunderttausende gesunder Tier gekeult, um die Seuche in den Griff zu bekommen. Beim letzten Seu- chenzug 2006 in NRW wurden acht betroffene Schwei- nebestände identifiziert. Insgesamt wurden jedoch fast 130 000 Schweine gekeult. Die Folgekosten für die acht infizierten Bestände lagen bei etwa 25 Millionen Euro, die zum Teil aus öffentlichen Mitteln getragen wurden. Weitere geschätzte 30 bis 40 Millionen Euro Verluste mussten die deutschen Schweineerzeuger durch Han- delsbeschränkungen hinnehmen. Auch bei den anderen Seuchenzügen wurden im Regelfall zehnmal mehr Schweine gekeult, als erkrankt waren. Das ist nicht mehr hinnehmbar. Auch die handelspolitischen Folgen in Bezug auf die internationalen Vereinbarungen zum Tierseuchenschutz sind teilweise absurd: So wurde im jüngsten Fall beim Schmallenbergvirus Schweinefleisch für den Export ge- sperrt, obwohl Schweine überhaupt nicht von diesem Virus infiziert werden können. Wenn zweifelsfrei nach- gewiesen wird, dass die Tiere nicht mit einem Feldvirus infiziert sind, gibt es keine Notwendigkeit mehr für Han- delsverbote. Das muss in internationalen Vereinbarun- gen umgesetzt werden, damit handelspolitische Restrik- tionen im bilateralen Handel entfallen können. Wir müssen international im Rahmen der Weltorganisation für Tiergesundheit und innerhalb der Handelsabkommen der EU mit Drittstaaten in diesem Bereich zu verbindli- chen Vereinbarungen kommen. Wir müssen jetzt eine neue Tierseuchenbekämpfungs- strategie umsetzen. Die Bekämpfung der Klassischen Schweinepest muss an neuen wissenschaftlichen Er- kenntnissen ausgerichtet werden. Die Forschung und Impfstoffentwicklung hat in den letzten zwanzig Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Die kostengünstigen Hochdurchsatznachweisverfahren wie das PCR-Verfah- ren sind mittlerweile so weit ausgereift, dass mit dem Feldvirus infizierte Schweine von nicht infizierten ver- lässlich und sicher unterschieden werden können. Au- ßerdem bietet die Entwicklung eines neuen gentechnisch hergestellten Markerimpfstoffs, der voraussichtlich 2014 zugelassen wird, eine gute Perspektive für eine verbes- serte und moderne Bekämpfungsstrategie gegen die Klassische Schweinepest. Der bestehende Rechtsrahmen ist auf nationaler und europäischer Ebene anzupassen. Die Bundesregierung hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in Zu- kunft eine effektive und tierschonende Bekämpfung der Klassischen Schweinepest möglich wird. Die Bundesregierung muss sich jetzt gemeinsam mit den anderen europäischen Mitgliedstaaten dafür einset- zen, dass Impfung und Diagnostik in eine europäisch einheitliche Bekämpfungsstrategie einfließen. Prophy- laktische Impfungen wird es sicher auch in Zukunft nicht geben. Die sogenannten Notimpfungen werden aber nach meinem Kenntnisstand von vielen Mitgliedslän- dern befürwortet. Voraussetzung ist jedoch, dass die ge- impften Tiere in der EU in den Verkehr gebracht werden dürfen. Um dies abzusichern, ist vor allem auch die ge- samte Kette vom Schlachtunternehmen über die Verar- beitungsunternehmen bis zum Lebensmitteleinzelhandel gefordert. Vermeintliche Handelsrestriktionen sind nach meiner Einschätzung kein vernünftiger Grund für das sinnlose Töten von Tieren. Ich halte die bisherige Vorgehens- weise auch für einen eklatanten Verstoß gegen das Tier- schutzgesetz. Wenn wir an dem bisherigen Verfahren festhalten und die Praxis nicht an die wissenschaftlichen Entwicklungen und neuen Möglichkeiten der Tierseu- chenbekämpfung anpassen, riskieren wir die gesell- schaftliche Akzeptanz der Tierhaltung. Das massenhafte Keulen gesunder Tiere wird bereits heute nicht mehr ak- zeptiert, weder von Landwirten noch von Verbrauchern. Wenn wir Wertschöpfung und die tierische Veredelung in ländlichen Regionen in der bisherigen Form erhalten, müssen wir dafür sorgen, dass die landwirtschaftliche Tierproduktion gesellschaftlich akzeptiert bleibt. Darüber hinaus ist es auch volkswirtschaftlich voll- kommen unsinnig, zum Verzehr geeignete Tiere mit fi- nanziellen Mitteln aus öffentlichen Haushalten in der Tierkörperbeseitigungsanlage zu entsorgen. Das Tierseu- chenrisiko in der Produktion muss auch durch die Ver- besserung des Hygienemanagements gesenkt werden. Die regionale Verdichtung von Tierhaltungsanlagen mit gleichen Tiergattungen und damit die Potenzierung des Ansteckungsrisikos ist zukünftig bei der Genehmigung neuer Stallanlagen zu berücksichtigen. Erfahrungen aus der Bekämpfung des porcinen reproduktiven und respi- ratorischen Syndroms in Dänemark und den USA zei- gen, dass PRRS-sanierte Bestände regelmäßig wieder neu infiziert werden, wenn sie nicht 2 Kilometer von an- deren entfernt liegen. Das macht deutlich: Zu geringe Abstände und eine zu hohe Verdichtung der Tierproduk- tion erhöhen das Tierseuchenrisiko, und die Folgen eines Tierseuchenausbruchs potenzieren sich. Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiative des Deutschen Bauernverbands, des Zentralverbands der Geflügelwirtschaft, der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands, der Tierärzteverbände, der Fleischwirtschaft und vor allem auch des Deutschen Tierschutzbundes. Sie haben mit ihrer Resolution die Fragen nach einer neuen Bekämpfungsstrategie auf die politische Agenda gesetzt. Wir Sozialdemokraten haben diese Initiative im Parlament aufgegriffen und führen sie jetzt zum Erfolg. Eigentlich wäre bei diesem wichtigen Thema die Regierung gefordert gewesen. Manchmal muss man sowohl Regierung als auch Regierungspar- teien zum Jagen tragen. Ich glaube, dass dies in diesem wichtigen Themenfeld gelungen ist. Hans-Michael Goldmann (FDP): Ist in einem Schweinestall die Klassische Schweinepest ausgebro- chen, muss zurzeit der gesamte Tierbestand gekeult wer- den. Getötet werden nicht nur kranke Tiere, sondern auch vorbeugend die gesunden – auch im Umkreis von 3 Kilometern von dem betroffenen Stall. So wurden 2006 mehrere Tausend Schweine allein in Deutschland gekeult. 21290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Für uns ist das Keulen ganzer Bestände keine über- zeugende und zeitgemäße Antwort auf die Schweine- pest. Das ist eher ein tierschutz- und agrarpolitischer Irr- weg. Dass da eine Ab- und Umkehr überfällig ist, habe ich schon vor mehreren Jahren erkannt und gefordert. Entsprechende Anträge hat die FDP bereits in der 14. und 15. Wahlperiode in die parlamentarische Bera- tung eingebracht. Umso mehr freue ich mich, dass wir heute einen interfraktionellen Antrag in diese Richtung verabschieden. Damit stellen wir die Weichen für einen dringend notwendigen Modernisierungskurs in der Tier- seuchenbekämpfung. Denn ohne den Paradigmenwech- sel werden wir nicht eine moderne und tierschutzfreund- liche Bekämpfungsstrategie herbeiführen können. Die Klassische Schweinepest ist eine hochgradig an- steckende Viruserkrankung, die zu hohen Tierverlusten und schweren wirtschaftlichen Schäden in der Agrar- wirtschaft führen kann. Deswegen muss der Seuche mit präventiven Maßnahmen vorgebeugt werden, und jeder Verdacht muss von den Landwirten ernst genommen und gemeldet werden. Im Fall eines Ausbruchs zählt jeder Tag. Bei einem chronischen Verlauf ist die Erkennung häufig schwieriger als in der akuten Form. Infizierte Be- stände müssen getötet und unschädlich entsorgt werden. Damit keine gesunden Tiere unnötig getötet werden, for- dern wir in unserem Antrag, dass Keulungen auf das un- erlässliche Maß reduziert werden. Gesunde Tiere be- kommen eine Notimpfung verabreicht. Fleischprodukte, die von notgeimpften Tieren herge- stellt wurden, sind gesundheitlich unbedenklich und eig- nen sich für den menschlichen Verzehr. Durch verstärkte Aufklärung müssen die Verbraucher über die Unbedenk- lichkeit solcher Nahrungsmittel informiert werden. Es darf nicht dazu kommen, dass die Konsumenten das Ver- trauen in die Lebensmittel verlieren und die Produkte ab- lehnen. Nur mit einer breiten und offensiven Kampagne lassen wir Unsicherheiten nicht aufkommen. Informieren und aufklären müssen wir auch die Han- delspartner aus dem EU-Ausland und aus Drittländern. Da Fleisch von geimpften Tieren nicht die gebotene Ak- zeptanz findet, muss alles getan werden, damit es zu kei- nen Problemen beim Absatz oder Export von Schweine- produkten kommt. Nur durch Gespräch und Aufklärung können wir Marktstörungen bzw. Handelshemmnissen entgegenwirken. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel muss sich auch der Problematik stellen und das Fleisch von geimpften Tieren vermarkten. Denn – um es noch- mals zu betonen – die Produkte von geimpften Schwei- nen sind hundertprozentig gesund und sicher. Es wäre verfehlt, aus handelspolitisch bedingten Gründen dieses praktikable Notimpfkonzept scheitern zu lassen. Unsere Fleischwirtschaft muss von der Regierung bei der Kon- zeptentwicklung zur Schlachtung und Verarbeitung ge- impfter Tiere unterstützt werden. Auch auf europäischer Ebene muss sich die Bundes- regierung entschieden für eine Änderung der Nichtimp- fungspolitik in ganz Europa einsetzen. An die Stelle der Nichtimpfungspolitik muss der Grundsatz „Impfen statt Keulen“ treten. Nur durch eine gezielte Impfung lässt sich die Ausbreitung der Schweinepest tierschonend ver- hindern und großer Schaden von der Land- und Ernäh- rungswirtschaft abwenden. Das Ministerium muss sich bei den Verhandlungen über die neue Tiergesundheits- strategie der Europäischen Union ab 2014 stark dafür einsetzen, dass das Notimpfkonzept deutlicher zum Tra- gen kommt. Durch verbesserte Rahmenbedingungen für die Notimpfung gegen die Schweinepest in der gesamten EU wäre auch die Frage der Vermarktung in den Mit- gliedstaaten vom Tisch. Der Ansatz „Impfen statt Keulen“ ist aus Verantwor- tung für die Ernährungssicherheit und unter tierethischen Aspekten eine praktikable Maßnahme, die einstimmig von der Tierärzteschaft, der Landwirtschaft und von den Tierschutzorganisationen befürwortet wird. Erfreuliche Einstimmigkeit ist auch in den Reihen der Bundestags- fraktionen festzustellen. An der Stelle möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die gute fach- liche Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Antrags bedanken. Ich freue mich auf eine weitere konstruktive Zusammenarbeit in unserem Ausschuss. Im Tierschutz- und Tiergesundheitsbereich steht noch einiges an, und das können wir im kollegialen Austausch zum Wohl von Mensch und Tier gut meistern. Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Europäi- sche oder Klassische Schweinepest ist eine der bedroh- lichsten Tierseuchen für Haus- und Wildschweine, vor allem deshalb, weil sie sehr leicht von Tier zu Tier, von Stall zu Stall übertragbar ist. Wird sie amtlich festge- stellt, kommt es zu drastischen Gegenmaßnahmen. Um eine weitere Ausbreitung zu vermeiden, werden auch ge- sunde Schweine unverzüglich getötet. Keulen nennt man das. Das hat fatale Folgen, vor allem dort, wo viele Schweine gehalten werden. So mussten zum Beispiel im März 2006 in NRW mehr als 92 000 Schweine gekeult werden. Das sind gigantische Mengen. Ein Teil solcher vorsorglichen Tötungen könnte ver- mieden werden, zum Beispiel mittels sofortiger Impfung der Schweine. Wirksame Impfstoffe dafür gibt es, aber solche Notimpfungen sind derzeit verboten, weil früher geimpfte Schweine nicht sicher von infizierten Tieren unterschieden werden konnten. Doch mittlerweile kann man durch sogenannte Mar- kerimpfstoffe die Antikörper aus natürlichen Infektionen von solchen aus Impfungen unterscheiden. „Impfen statt Keulen“ heißt daher das Gebot der Stunde. Deshalb unterstützt die Linke ausdrücklich das Anlie- gen des fraktionsübergreifenden Antrags. Notimpfungen müssen endlich möglich sein. Dieser Antrag wurde von allen fünf Fraktionen erar- beitet. Leider wird die Linksfraktion im Autorenkollek- tiv nicht mehr genannt. Auf Druck der Unionsfraktion wurde nun schon zum dritten Mal in diesem Jahr ein ge- meinsam erarbeiteter, interfraktioneller Antrag ohne die Linksfraktion eingereicht. Deshalb auch heute meine Forderung an die Union: Beenden Sie den kalten Krieg. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21291 (A) (C) (D)(B) SPD, Grüne und FDP frage ich: Wie lange wollen Sie eigentlich dieses vordemokratische Spiel mitmachen? Das nagt auch an Ihrer Glaubwürdigkeit! Doch zurück zum Antrag. Der greift leider insgesamt zu kurz. Er blendet aus, dass ein strategischer Ansatz zur Bekämpfung der Schweinepest nötig ist. Infektions- und Verbreitungsrisiken müssen minimiert, effektive Be- kämpfungsstrategien entwickelt und erprobt werden. Wir brauchen dafür erstens mehr Forschung und zweitens eine andere Marktausrichtung. Das will ich gern näher erläutern. Zur Forschung: Noch wichtiger als die Erlaubnis von Notimpfungen ist die Vermeidung von Schweinepestin- fektionen. Dazu werden wissenschaftlich begründete Konzepte zur Risikovermeidung und effektiven Be- kämpfung gebraucht. Kosten und Nutzen solcher Maß- nahmen müssen sachlich fundiert für jede Einzelsitua- tion abgewogen werden können. Wie groß muss zum Beispiel ein Sperrbezirk sein, damit eine Weiterverbrei- tung verhindert, der wirtschaftliche Schaden durch die Sperrung aber begrenzt wird? Welche Risikofaktoren müssen wie berücksichtigt werden? Angewandte Tier- seuchenforschung, insbesondere epidemiologische For- schung, muss deshalb gestärkt, erworbene Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt sowie in Lehre und Ausbildung eingeführt werden. Stattdessen bauen alle Bundesregierungen seit 1996 in der Agrarressortforschung kräftig Personal ab und schließen Forschungsstandorte. Vermeintlich prestige- trächtige Grundlagenforschung und Exzellenzinstitute pflegt man. Dagegen fristet das Epidemiologische Insti- tut des FLI in Wusterhausen/Dosse seit Jahren ein gedul- detes Schattendasein. Ende 2013 soll dort endgültig der Letzte das Licht ausmachen und zur Insel Riems umzie- hen. Regional- und sozialpolitisch ist das ein Desaster. Kurzfristiges haushalterisches Denken hat hier wieder einmal über wissenschaftliche Arbeitsfähigkeit und Standortpolitik gesiegt. Zurück zum Antrag: Er verschweigt auch die eigentli- chen Gründe für die Nichtimpfpolitik in der EU. Imp- fungen wären ein Handelshemmnis. Es ist sicherer, Tiere mit Infektionsverdacht zu töten als das Restrisiko einer Infektionsverbreitung einzugehen. Aber können Han- delswünsche vernünftige Gründe zur Tötung gesunder Tiere sein, die das Tierschutzgesetz vorschreibt, mal ganz davon abgesehen, dass der Export und damit Trans- port lebender Tiere ohnehin zu hinterfragen ist? Leider klammert der Antrag diesen Aspekt größten- teils aus. Die Antragsteller machen sich vor allem Sor- gen darüber, ob skeptische Verbraucherinnen und Ver- braucher innerhalb der EU von der Unbedenklichkeit des Fleischs geimpfter Schweine überzeugt werden können. Wenn wir über das Schweinepestrisiko reden, ist auch ein Blick auf den gesamten Schweinemarkt erhellend. Zur Infektionsvermeidung müsste er komplett anders ausgerichtet werden. 257 Millionen Schweine werden dieses Jahr in der EU produziert, davon 46 Millionen in Deutschland. Zwar ist die Produktion damit leicht gesunken. Aber noch immer wird in der EU Schweinefleisch deutlich über der einheimischen Nachfrage produziert: 110 Pro- zent. Da innerhalb der EU immer weniger Schweine- fleisch gegessen wird, muss immer mehr exportiert wer- den. Der weltweite Handel mit Schweinefleisch ist im Jahr 2011 auf ein Rekordniveau gestiegen und wuchs ge- genüber 2010 um über 10 Prozent. Das hat neben dem Risiko einer Infektionsverbreitung eine weitere Schattenseite: Das für diese Überproduktion benötigte Futter wird nur zum Teil in der EU produziert. Über 80 Prozent der Eiweißfutterpflanzen werden ak- tuell in die EU importiert. Das sind 40 Millionen Tonnen pro Jahr. Weil Europa reich ist, kann das Futter billig auf dem Weltmarkt eingekauft werden. Nachhaltig ist das nicht. Dabei brauchen wir mehr soziale und ökologische Verantwortung. Fleischproduktion muss sich klarer am einheimischen Bedarf orientieren. Eine strategische Ausrichtung auf Export lehnt die Linke ab. Wir müssen wieder mehr selbst Futtermittel anbauen, natürlich gen- technikfrei. Auch über eine Beschränkung der Futtermit- telimporte müssen wir nachdenken. Fazit: Der Antrag hat seine Schwächen, aber das An- liegen teilen wir. Daher enthält sich die Linke. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wer nach dem massiven Schweinepestausbruch vor nun bald 15 Jahren die Mengen zwangsgetöteter Tiere gesehen hat, wer mit den psychisch Betroffenen in den leeren Ställen gesprochen hat, wer den riesigen volkswirtschaftlichen Schaden wahrgenommen hat, den das zigtausendfache Töten von absolut gesunden Tieren in der Nähe von betroffenen Betrieben angerichtet hat, der kann nur zustimmen, dass „Impfen statt Keulen“ der richtige Ansatz für die Bekämpfung der Schweinepest ist. Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, die wir durch neue Marktimpfstoffe haben. Die erheblichen Handels- hemmnisse für geimpfte Tiere müssen abgebaut werden. Es ist nicht mehr einzusehen, warum geimpfte Tiere nicht vom Handel akzeptiert werden. Wir können durch Notimpfungen das massenhafte Töten von gesunden Tieren vermeiden. Daher unterstützen wir Grüne diesen fraktionsübergreifenden Antrag. Die Seuchenausrottungsstrategie – wie bei der Schweinepest – ist in Zeiten des globalisierten Tierhan- dels nicht mehr zeitgemäß. Im Extremfall, wie bei BSE, dieser Herausforderung mit der Verbrennung von Tier- kadaverscheiterhaufen entgegentreten zu wollen, ist äu- ßerst widerwärtig, brutal und aussichtslos; auch weil zum Beispiel die zahlreichen Wildschweinpopulationen in unseren Wäldern und auf unseren Maisäckern ein end- loses Reservoir für die Schweinepest sind. Übrigens: Mit der Variante der Vogelgrippe haben wir ein ganz ähnliches Problem. Obwohl große Einigkeit be- steht, dass das Fleisch der befallenen Tiere für Verbrau- cher völlig ungefährlich ist, wird weiterhin gekeult. Zu- letzt 2010 in Mecklenburg-Vorpommern. Der ganz banale Grund lautete: Weder Schlachthöfe noch Fleisch- 21292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) verarbeiter waren bereit, die 17 000 Tiere und deren Fleisch abzunehmen. Als ersten Schritt brauchen wir eine Änderung der ge- setzlichen Vorgaben auf EU-Ebene. Die Einstufung als Land mit Schweinepest wird bisher durch eine Impfung verlängert. Impfen muss – wo immer möglich – zur Re- gel werden, Keulen die Ausnahme. Gemeinsam mit Fleischverarbeitern und Verbrauchervertretern müssen wir nach Möglichkeiten suchen, das Fleisch geimpfter Tiere zu vermarkten. Doch vordringlich müssen wir uns mit aller Kraft der Vermeidung von Tierseuchen widmen. Deshalb müssen wir die regional viel zu hohen Konzentrationen von In- tensivmassentierhaltung abbauen. Riesige Ställe mit mehreren Zehntausenden von Schweinen, Regionen mit Viehdichten von mehr als zwei Großvieheinheiten je Hektar, in denen Tiere nur noch Produktionsfaktor sind, sind eine ideale Voraussetzung für massive Seuchenaus- brüche, weil die Viren sich sehr schnell verbreiten kön- nen. Sie, Frau Ministerin Aigner, leisten dieser Tierhal- tungsform nach wie vor Vorschub – gegen den Willen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger –, durch Ihr ewiges Postulat: Wir wollen die Welt mit Fleisch ernäh- ren. In den viehdichten Regionen Nordwestdeutschlands sind die Seuchengefahren eine immerwährende, massive Bedrohung. Die sorglose oft prophylaktische Verabrei- chung von Antibiotika erhöht die Probleme zusätzlich. Nicht zuletzt spielen wir ein gefährliches Spiel, indem wir Tiere kreuz und quer durch Europa und bis an den Ural karren. Völlig zu Recht bezeichnen die EU-Chefve- terinäre Tiertransporte als den wichtigsten Faktor für die Verbreitung von Tierseuchen. Beim Treffen der EU-Ve- terinäre mit den russischen Veterinären wurde insbeson- dere der mangelnde Seuchen- und Hygienestatus der deutschen Lieferungen beklagt. Trotzdem werden immer mehr Tiere transportiert. Allein zwischen 2005 und 2009 haben Schweinetransporte in Europa um 70 Prozent zu- genommen. Und Deutschland hat hier die unrühmliche Spitzenposition: Wir erhalten 50 Prozent aller in der EU transportierten Schweine. Damit öffnen wir Krankheits- erregern Tür und Tor. Die Kosten, die durch Ausbrüche von Krankheiten wie der Schweinepest entstehen, für die Tötung und Ent- sorgung der Schweine lagen zwischen 1993 und 1996 bei 660 Millionen Euro; vom unnötigen Töten der 1,2 Millionen meist gesunden Lebewesen ganz zu schweigen. In den Niederlanden lagen die Kosten für den Ausbruch 1997/1998 sogar bei 2 Milliarden Euro! Eine erhebliche Belastung für die niederländische Wirt- schaft. Einmal mehr wird deutlich, wie absurd das System der industriellen Tierhaltung ist. Die Billigfleischpro- duktion ist nur möglich, weil Schäden durch industrielle Tierhaltung kaum auf die Produktion umgeschlagen werden. Erkennen Sie endlich an, Frau Ministerin Aigner, dass wir an die Grenzen des Systems gestoßen sind! In den viehdichten Regionen Niedersachsens weiß Ihr Parteikollege Lindemann schon nicht einmal mehr, wohin mit der Gülle. Dem zusätzlichen wilden Wachs- tum der Anlagen ohne eigene Fläche müssen wir einen Riegel vorschieben. Wir brauchen eine bäuerliche Land- wirtschaft und Tierhaltung, die auf regionale Kreisläufe setzt und damit auch das Seuchenrisiko für Tiere und Menschen minimiert. „Klasse statt Masse!“ muss endlich der Leitsatz unse- rer Landwirtschaft werden. Frau Ministerin Aigner, zei- gen Sie endlich den Mut zu einer wirklichen Umgestal- tung der Landwirtschaft! Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Forschung für die zi- vile Sicherheit (Tagesordnungspunkt 13) Florian Hahn (CDU/CSU): Sicherheit ist die Basis unserer Demokratie. Damit wir auch in Zukunft in einer zunehmend globalisierten Welt ein freies Leben ohne Bedrohungen führen können, forschen wir unentwegt an neuen Sicherheitsstrategien. So konnte sich dank des Engagements der Bundesre- gierung die zivile Sicherheitsforschung in Deutschland als eigenständiges Forschungsgebiet mit einer gut ver- netzten Akteurslandschaft etablieren. Im Mittelpunkt des Rahmenprogramms „Forschung für die zivile Sicherheit“ stehen Lösungen, die die Sicherheit des freiheitlichen Lebensstils der Bevölke- rung gewährleisten sollen. Die Sicherheitsrisiken haben sich in den letzten Jah- ren drastisch verändert: Naturkatastrophen und Großun- fälle, rasante Fortschritte in den Informations- und Kom- munikationstechnologien oder der Klimawandel stellen ganz neue Herausforderungen an den Staat. Das zunehmende Wachsen von Ballungszentren so- wie die steigende Vernetzung unterschiedlicher Lebens- bereiche haben eine neue Qualität der Verletzlichkeit zur Folge. So geraten vor allem Fragen der urbanen Sicherheit gerade bei Massenveranstaltungen wie Public Viewing, aber auch beim täglichen Gebrauch von öffentlichen Verkehrsmitteln immer wieder in den Mittelpunkt. Aufbauend auf den Erfolgen des ersten Programms und vor dem Hintergrund neuer globaler Herausforde- rungen wurde die zivile Sicherheitsforschung um gesell- schaftswissenschaftliche Aspekte erweitert. So fließen ganze 50 Millionen in die Erforschung gesellschaftlicher Fragestellungen wie Katastrophenkommunikation und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung. Auch die in- ternationale Kooperation mit Ländern wie den USA, Frankreich und Israel soll um diese sozialen Aspekte er- gänzt werden. Ich denke, so ist es noch deutlicher geworden, dass es in diesem Programm nicht um Wehrforschung geht, wie Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21293 (A) (C) (D)(B) einige Kollegen – Röspel, SPD – kritisierten, sondern um die Sicherheit der Bürger im zivilen Leben. Von einem engen Sicherheitsbegriff kann nicht die Rede sein. Genannte Schwerpunkte wie urbane Sicher- heit, Sicherheit von Infrastrukturen und Wirtschaft, IT- Sicherheitsforschung sprechen für sich und haben keinen militärischen Charakter. Ich bitte Sie daher, das Programm, welches einer zivi- len Gesellschaft zugute kommt und viele Arbeitsplätze in mittelständischen Betrieben schafft, in seiner Gesamt- heit zu betrachten. Wir wollen die kritischen Infrastrukturen einer zivilen Gesellschaft schützen. Diese befinden sich in einer digi- tal vernetzten Welt vor allem online. Deshalb freue ich mich auch besonders über die neu aufgenommene IT- Forschung im Rahmenprogramm. In der Tat gibt es in diesem Bereich großen Forschungsbedarf. Gerade hat die vbw – die Vereinigung der Bayeri- schen Wirtschaft – im Vorfeld der Münchner Sicher- heitskonferenz dieses Jahres über die Risiken moderner Kommunikations- und Informationstechnologien für die Wirtschaft aufgeklärt. Die globale Vernetzung und IT- Trends, wie Cloud oder Mobile Computing, stellen die Unternehmen vor ganz neue Herausforderungen. Cyberangriffe lösen bisherige Formen der Wirt- schaftskriminalität zunehmend ab. Deshalb ist es wich- tig, die Betriebe dafür zu sensibilisieren und ihnen auf- zuzeigen, wie sie ihre IT-Sicherheitsstrukturen gegen virtuelle Überfälle rüsten können. Dafür braucht Deutschland gut ausgebildete Fachkräfte. Das BMBF fördert auch schon drei Kompetenzzentren für IT- Sicherheitsforschung. Trotzdem beklagt ein Unternehmen aus meinem Wahlkreis, welches Vorreiter bei dem Thema IT-Sicher- heit ist, schon jetzt einen Fachkräftemangel. Tatsächlich ist das Thema IT-Security nur an 44 Informatikstudien- gängen vertreten und kommt in der Elektrotechnik und generell in den Ingenieurswissenschaften noch seltener vor. Ich möchte an dieser Stelle an die Universitäten ap- pellieren, das Lehrangebot an den Informatik-, aber vor allem auch an den Ingenieurslehrstühlen zu erweitern! Wir haben das auch schon in unserem Antrag hervor- gehoben und halten es nach wie vor vor allem für die mittelständische Wirtschaft für wichtig, die Forschung auszubauen. Sie profitiert nämlich in zweierlei Hinsicht: einerseits, weil sie durch die Sicherheitstechnologien besser geschützt wird, andererseits weil sie es ist, die an der Entwicklung maßgeblich beteiligt ist. Wir erwarten eine 50-prozentige Volumensteigerung des Markts für zivile Sicherheitsforschung bis 2020 – 2010: 20 Milliar- den. Die teilnehmenden Firmen, die zu 60 Prozent aus kleinen oder mittelständischen Unternehmen bestehen, schauen guten Zeiten entgegen. Deshalb möchten wir mit unserem Antrag die Fort- schreibung des Rahmenprogramms Sicherheitsfor- schung der Bundesregierung unterstützen. Lassen Sie mich noch zuletzt sagen, dass ich es per- sönlich für verheerend halte, wenn wir in eine hysteri- sche Angstdiskussion über die Beschneidung von Frei- heitsrechten abdriften und das Programm mit seinen vielen innovativen sicherheitstechnische Lösungen da- mit ersticken. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit muss unbedingt gewahrt bleiben. Gerade deshalb brauchen wir Sicherheitslösungen, die die Bürger schützen und sie dadurch erst befähigen sich in einer modernen Gesell- schaft frei zu entfalten. Der vorliegende Antrag zur Fortführung der zivilen Sicherheitsforschung steht hiermit im Einklang und da- her bitte ich Sie um Zustimmung! Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Die erste Debatte zum vorliegenden Antrag und auch die Unterrichtung der Bundesregierung zur Fortsetzung des Rahmenpro- gramms „Forschung für zivile Sicherheit“ hat bereits deutlich gemacht, dass es bei der Forschung zur zivilen Sicherheit insbesondere um das grundlegende Verhältnis von Sicherheit und Freiheit in unserer Gesellschaft geht. Es geht darum, die Balance von Freiheit und Sicherheit zu wahren. Wir sind uns zum Glück ja alle einig: Auf- gabe der Politik ist es, für die Sicherheit der Bürger in ei- ner freien und offenen Gesellschaft zu sorgen. Dabei müssen wir die Frage nach der Balance zwischen not- wendiger Sicherheit und persönlichen Freiheitsrechten der einzelnen Bürger beantworten. Es ist eben nicht so, wie Westernhagen in einem Song von 2005 singt: „Alles ist möglich. Alles ist erlaubt!“ Die technische Möglichkeit, etwas zu tun, ist nur die eine Seite der Medaille, die gesellschaftliche Machbar- keit die andere. Unser Kollege Professor Neumann hat in seiner Rede in der 158. Sitzung am 9. Februar 2012 die interessante Frage aufgeworfen, ob wir bereit sind, ein Restrisiko hinzunehmen. Auf dem „Innovationsforum zivile Si- cherheit“ im April 2012 des Bundesministeriums für Bil- dung und Forschung hat der ehemalige Verfassungsrich- ter Udo Di Fabio dazu die passende Antwort gegeben: Nach der Verfassung schuldet der Staat dem Bürger keine absolute Sicherheit. Er übernimmt aber die Gewährleistungsverantwortung für die Infrastruktur einer modernen Gesellschaft, was vom Straßenver- kehr bis zur Datensicherheit und der Absicherung des Urheberrechtes reicht. Udo Di Fabio hat auch deutlich betont, dass das ei- gentliche Problem dabei die Akzeptanz der jeweiligen Lösungen durch die Bevölkerung ist. Diese muss der Gesetzgeber im Dialog mit der gesamten Gesellschaft erreichen. Uns ist klar: Die Gewährleistungsverantwortung, die der Staat und die Politik gegenüber den Bürgern haben, ist groß, und gerade in heutiger Zeit wird es immer schwerer, ihr gerecht zu werden. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein hochkomplexes Netzwerk kritischer Infrastrukturen aus. 21294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Sichere Energienetze, funktionierende Wasser- und Le- bensmittelversorgung, Verkehrsträger, Transportwesen und Kommunikationsnetze sind die Lebensadern aller hochtechnisierten Industrienationen. Die Bedrohungen sind vielfältig und unterliegen ei- nem ständigen Wechsel. Mitunter können kleine Störun- gen große Auswirkungen haben. Der Staat und seine Si- cherheitsbehörden, aber auch die gesamte Gesellschaft sehen sich einem andauernden Anpassungsdruck ausge- setzt. Neue Sicherheitsvorkehrungen und -konzepte sind notwendig, um die Sicherheit und Freiheit der Menschen gegen die sich drastisch veränderten Risiken zu bewah- ren. Die Abhängigkeit der Gesellschaft von diesen kriti- schen Infrastrukturen hat sich anhand verschiedener Na- turkatastrophen und technischer Störungen in den letzten Jahren immer wieder gezeigt. Sehr deutlich illustriert wurde die Problematik in dem Bericht „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Ge- sellschaften – am Beispiel eines großräumigen und lang andauernden Ausfalls der Stromversorgung“ des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundes- tag, der einen sehr guten Überblick über Probleme und Handlungsnotwendigkeiten im Falle eines solchen Stromausfalls gibt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen solchen großflächigen und langandauernden Stromausfall gering ist, Deutschland über ein leistungsfähiges und hochent- wickeltes Katastrophenmanagementsystem verfügt und die Ausfallsicherheit der kritischen Infrastrukturen in Deutschland auf einem hohen Niveau ist, macht der Be- richt deutlich, dass auf allen Ebenen weitere Anstren- gungen erforderlich sind, um die Widerstandsfähigkeit kritischer Infrastrukturen kurz- und mittelfristig zu erhö- hen sowie die Kapazitäten des nationalen Systems des Katastrophenmanagements weiter zu optimieren. Insbesondere besteht ein erheblicher Forschungsbe- darf in technischen und gesellschaftswissenschaftlichen Feldern, die angegangen werden müssen. Daher bin ich sehr froh, dass es ein Forschungspro- gramm für die zivile Sicherheit gibt, bei dem gemeinsam mit allen Akteuren nach Präventions- und Handlungs- konzepten für mögliche Bedrohungen, Schadensfälle und Ähnliches gesucht wird. In den letzten fünf Jahren wurden dafür 250 Millio- nen Euro in 120 Verbundprojekte investiert. So wird beispielsweise eine Vielzahl der im TAB-Bericht aufge- worfenen Fragestellungen bereits in verschiedenen Pro- jekten untersucht und durch die Bundesregierung finan- ziert. Die Schwerpunkte der Förderung liegen in der For- schung zur Prävention und Früherkennung von Bedro- hungen, zur Verhinderung von Kaskadeneffekten, zur Krisenbewältigung durch zeitnahe und effiziente Siche- rungs- und Entkoppelungsmaßnahmen und zum Aufbau einer wirksamen Notfallversorgung. Ein gutes Beispiel ist das Projekt „Intelligente Not- stromversorgungskonzepte unter Einbeziehung Erneuer- barer Energien (Smart Emergency Supply System SES²)“, bei dem Wissenschaftler der Fachhochschule Südwestfalen aus technischen Fachbereichen gemein- sam mit Sozialwissenschaftlern der Leuphana Universi- tät Lüneburg und Unternehmen wie den Stadtwerken Geesthacht GmbH versuchen, mithilfe dezentraler Wand- lersysteme und regenerativer Energiequellen neue de- zentrale Notstromversorgungsstrukturen aufzubauen, die eine Minimalversorgung von Haushalten sicherstellen sollen, um so die Gefahr einer sozialen Destabilisierung zu vermeiden. Dieses Projekt ist deshalb ein gutes Beispiel, weil es die wichtigen Merkmale des alten Rahmenprogramms, die im neuen fortgesetzt und weiter fokussiert werden, deutlich zeigt: Die Wichtigkeit der Einbindung aller Ak- teure von Forschern bis hin zu den letztendlichen An- wendern und die Einbindung von gesellschaftlichen und ethischen Aspekten von technischen Neuerungen und Lösungen gehören von Anfang an in den Blick genom- men. Durch die Einbindung der Geistes- und Sozialwissen- schaften muss zudem sichergestellt werden, dass keine Konzepte entwickelt werden, die nicht umsetzbar sind, weil ihnen die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt. Um realisierbare und zugleich innovative Konzepte entwickeln zu können, muss die zivile Sicherheitsfor- schung richtigerweise interdisziplinär angelegt sein und den Dialog aller Wissenschaftsdisziplinen fördern. Durch das Zusammenspiel von Natur- und Technikwis- senschaften mit den Geistes-, Sozial- und Kulturwissen- schaften sind Lösungen erreichbar, die technisch sinn- voll und ethisch zu verantworten sind. Rund 20 Prozent der Gesamtfördersumme, also 50 Millionen Euro, wurden deshalb für gesellschaftswis- senschaftliche Forschungsfragen verwendet. Das finden wir sehr richtig und wichtig. Deshalb fordern wir für die jetzt beginnende zweite Programmphase ausdrücklich in unserem Antrag zur „Forschung zur zivilen Sicherheit“, die Forschungsanstrengungen im Bereich der gesell- schaftlichen Aspekte weiter zu intensivieren. Neben allen technischen Problemlösungsstrategien hat der TAB-Bericht zum Stromausfall eines deutlich gezeigt: Das empirische Wissen über menschliches Ver- halten beispielsweise in Gefahrensituationen ist sehr ge- ring. Deshalb unterstütze ich den Ansatz des neuen Rah- menprogramms, gesellschaftliche Aspekte als zentrales Problem stärker zu adressieren. Lassen Sie mich noch kurz auf einen spezifischen An- satz eingehen: das Problem der Kommunikation. Ich finde es richtig und notwendig, dass nicht nur an neuen und effizienten Kommunikationsprozessen für Behörden, sondern eben auch für die Bevölkerung ge- forscht wird. Ganz im Sinne des bereits erwähnten TAB-Berichts geht die Bundesregierung von der folgenden Grundan- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21295 (A) (C) (D)(B) nahme aus: Menschen sind nicht nur als Opfer zu sehen, sondern auch als potenzielle Helfer und aktiv Handelnde zu betrachten, die zur Bewältigung einer Krise beitragen können. Die Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen sind noch nicht ausreichend untersucht. Annahmen, die davon ausgehen, dass die Menschen überwiegend unso- zial und panikartig reagieren werden, sind bestenfalls fragwürdig. Fakt ist, dass ein Großschadensfall wie ein plötzlicher Stromausfall, der Zusammenbruch der Versorgung und Kommunikation zu Angst, Stress und Ungewissheit führt. Dies kann ein breites Spektrum von unterschiedli- chen und widersprüchlichen Reaktionen zur Folge haben und muss nicht zwingend zu negativem Verhalten füh- ren. Wir müssen vielmehr weitere Forschungsanstrengun- gen im präventiven Sinne unternehmen, um Menschen auf besondere Situationen vorzubereiten. Angst und Un- sicherheit werden dann minimiert, wenn Menschen die Gewissheit haben, dass sie im Ernstfall zielgerichtet un- terstützt werden. Wir sollten daher neue Kommunikationsstrategien und Selbstschutzkonzepte erforschen, um die Kommuni- kation mit der Bevölkerung in Krisensituationen zu ge- währleisten und die Menschen in die Lage zu versetzen, sich da, wo es geht, selbst zu helfen. Dies ist ein interdis- ziplinärer Ansatz, der Forscher und Anwender aller Fachbereiche gleichermaßen fordert. Ich bin mir sicher: Wenn Menschen aufgeklärt sind und im Krisenfall mit Informationen versorgt werden, kann jeder selbst einen Beitrag zur Bewältigung von schwierigen Situationen leisten. Sinnvolle Ansatzpunkte hierfür sind meines Erach- tens die neuen Medien. Allerdings muss man sich auch über die Krisenkommunikation im Schadensfall Gedan- ken machen, die gegebenenfalls ohne Strom und damit ohne Internet, Telefon und Fernseher auskommen muss. Die Forschung zur zivilen Sicherheit setzt hier die richtigen Akzente. René Röspel (SPD): Stellen Sie sich einmal vor, in Ihrer Region würde plötzlich über mehrere Tage der Strom ausfallen. Auf was müssten Sie plötzlich alles verzichten? Könnten Sie noch kochen und heizen? Wie viele und welche Vorräte haben Sie zu Hause, und könn- ten Sie sie noch nutzen? Wie lang, meinen Sie, wäre ihr Supermarkt ohne Strom funktionsfähig? Wie viel Geld besitzen Sie, falls die Bankautomaten ausfallen? Wie könnten Sie sich fortbewegen, wenn der öffentliche Nahverkehr zusammenbricht und die Tankstellen kein Benzin mehr verkaufen? Welche Medikamente benöti- gen Sie, und woher erhalten Sie diese im Notfall? All diese Fragen haben sich Bürgerinnen und Bürger 2005 im Münsterland gestellt. Die möglichen katastrophalen Folgen eines flächendeckenden Stromausfalls hat in ei- ner vielbeachteten Studie vor kurzem das Büro für Tech- nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, TAB, aufgearbeitet. Das Szenario Stromausfall ist für unsere Gesellschaft also durchaus realistisch. Deshalb müssen wir uns darauf vorbereiten. Die Vermeidung bzw. der Umgang mit einem großflä- chigen Stromausfall ist nur ein Thema des zivilen Sicher- heitsforschungsprogramms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, BMBF. Die Bandbreite der zu bearbeitenden Themen und Ansätze ist größer. Umso un- verständlicher ist es, dass die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP sich in ihrem uns vorliegenden An- trag einseitig auf die realitätsferneren Szenarien konzen- triert. Nach Ansicht dieser Fraktionen sollen in erster Li- nie Terrorismus, Sabotage, organisierte Kriminalität und Piraterie bekämpft werden, wichtige Themen durchaus. Aber das sind doch nicht die primären Aspekte, die un- sere Gesellschaft gefährden! In den letzten Jahren haben vielmehr Massenpaniken, Naturkatastrophen, Großun- fälle oder natürliche Erreger Menschleben in Deutsch- land und Europa gefährdet. Genau deshalb gibt es we- nigstens im BMBF Ansätze für ein Umdenken. Nur leider scheinen diese Erkenntnisse in der Regierungsko- alition noch nicht angekommen zu sein. Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir aber noch weitere Kritikpunkte hinsichtlich des vorliegenden An- trags. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben seit Beginn des Programms die Techniklastigkeit des Sicherheitsforschungsprogramms bemängelt. Denn Phänomene wie Massenpaniken oder die Auswirkungen des demografischen Wandels auf unsere Rettungskräfte müssen mindestens genauso intensiv von Psychologen oder Soziologen bearbeitet werden. Erst danach kann nach adäquaten Lösungen gesucht werden. Wenn die Bundesregierung im Ausschuss ein Projekt erwähnt, bei dem mit Sensoren in U-Bahn-Tunneln Rauchschwaden detektiert werden können, so ist das interessant und technisch sicherlich anspruchsvoll. Vermutlich aber werden Sie die Sicherheit und das Sicherheitsempfinden von U-Bahn-Fahrern deutlich erhöhen, wenn Sie ein- fach wieder mehr Schaffner und Personal einsetzen würden. Wäre das nicht eine bessere Antwort auf die Herausforderung „mehr Sicherheit“? Zugutezuhalten ist der Bundesregierung beim Lesen des Rahmenpro- gramms der Eindruck, dass hier wenigstens teilweise un- sere Kritik gewirkt hat. Denn das aktuelle BMBF-Pro- gramm räumt dem nichttechnischen Ansatz jetzt einen viel größeren Anteil ein. Leider haben CDU/CSU und FDP auch diese Präferenzverschiebung des BMBF in ih- ren Antrag nicht aufgenommen. Die im Sicherheitsforschungsprogramm entwickelten Techniken und Erkenntnisse sollten natürlich so schnell wie möglich in die Praxis überführt werden. Der Groß- teil der staatlichen Rettungskräfte liegt aber in der Ver- antwortung der Länder und Kommunen. In beiden sind, unter anderem dank schwarz-gelber Steuergeschenke, die Haushaltskassen leer. Ob die neuen Techniken und Erkenntnisse am Ende den Bürgerinnen und Bürgern überhaupt zugutekommen, bleibt somit leider fraglich. Auch zu dieser Problematik schweigt sich der uns hier vorliegende Antrag aus. 21296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Bei der Sicherheitsdebatte muss uns allen aber auch klar sein, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt. Auch die besten Sicherheitstechniken oder Programme können darüber nicht hinwegtäuschen. Es wird deshalb vermehrt darum gehen, das individuelle Verständnis von Risiko und Wahrscheinlichkeiten zu verbessern, so wie es Professor Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung vor Jahren angesprochen hat. Inso- fern ist es nur folgerichtig, dass man sich nach Ansicht des BMBF im aktuellen Forschungsprogramm verstärkt mit diesem Ansatz beschäftigen soll. Aber auch zu die- sem richtigen Punkt findet sich in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, leider nichts. Am Ende Ihres Antrags schreiben Sie, dass sich die technologischen Forschungsaktivitäten an das Prinzip „Security by Design“ halten sollen. Das ist nicht falsch. Aber wie steht es mit dem Prinzip „Privacy by Design“? Sprich: dass bei der Technologieentwicklung von An- fang an der Datenschutz mit zu bedenken ist, um so auch nichtintendierte Folgen zu verhindern. Die gesellschaft- liche Debatte um den sogenannten Nacktscanner hat das Problem noch einmal verdeutlicht. Aber zu diesem An- satz findet sich im Antrag leider auch kein einziges Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, hätte nicht gerade das der Schwerpunkt eines liberalen An- trags sein müssen? Ihr Schweigen ist mir bei diesem Thema wirklich unerklärlich. Problematisch finden wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch, dass CDU/CSU und FDP explizit fordern, dass die Evaluation des alten Sicher- heitsforschungsprogramms erst jetzt, also nach dem Be- ginn des neuen Sicherheitsforschungsprogramms, be- ginnen soll. Wie sollen denn so mögliche Evaluations- ergebnisse in das neue Programm eingearbeitet werden? Hätte man nicht bereits wenigstens Teile des Pro- gramms evaluieren können? Viele Fragen, im Antrag finden sich leider auch dazu keine Antworten. Bei den Sicherheitsforschungsprogrammen geht es explizit um zivile Sicherheit, sprich: Prävention und Un- terstützung von Polizei, Feuerwehr oder THW. Militäri- sche Anwendungen der Forschungsergebnisse sind nicht Ziel des Programms – und das ist auch gut so. Als ehe- maliges Mitglied des Unterausschusses für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ist mir aber die Dual-use-Problematik sehr gut bekannt. Produkte wie zum Beispiel bestimmte Fahrzeugmotoren können eben in Lkw oder Panzer eingebaut werden. Die aktuelle Dis- kussion um die Veröffentlichungen der Forschungser- gebnisse hochansteckender Grippeviren zeigt, dass die Dual-use-Problematik auch in anderen Bereichen der zi- vilen Forschung thematisiert werden muss. Mit dieser Problematik dürfen wir Politikerinnen und Politiker die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber nicht al- leinlassen. Auch zu diesem Thema hätte man sich in ei- nem Antrag zur Sicherheitsforschung äußern können. Umso wichtiger finde ich es, dass wir als Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgeabschätzung nun beschlossen haben, uns diesem Thema in einem Fachge- spräch näher zu widmen. Auf die Ergebnisse bin ich be- reits jetzt gespannt. Um zum Schluss zu kommen: Das von der Bundesre- gierung vorgelegte Rahmenprogramm zur zivilen Si- cherheitsforschung klingt im Ganzen erst einmal positiv. Scheinbar hat das Ministerium aus der Kritik an dem letzten Programm gelernt. Aber leider wissen wir bei dieser Regierung auch, dass Texte schnell geschrieben sind, es dann aber an der Umsetzung hapert. Die Regie- rungsfraktionen CDU/CSU und FDP hingegen sind be- reits beim Schreiben eines Antrags überfordert. In ihrem Text werden zwar durchaus bekannte und richtige Fak- ten widergegeben; aber die neuen und entscheidenden Akzente des Programms sucht man in diesem Antrag ver- geblich. Aus diesem Grund werden wir als Sozialdemo- kratinnen und Sozialdemokraten den vorliegenden Antrag der Koalition ablehnen. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Die christ- lich-liberale Koalition hat mit dem vorgelegten Antrag „Forschung für die zivile Sicherheit“ ein überaus aktuel- les Thema aufgegriffen, dessen Bedeutung in den zu- rückliegenden Jahren stetig zugenommen hat. Denn die Frage nach der zivilen Sicherheit stellt sich neu, weil sich das Sicherheitsumfeld für eine offene Gesellschaft verändert hat. Neue Risiken, neue Bedrohungs- und Ge- fahrenlagen sind entstanden, durch terroristische An- schläge ebenso wie durch Pandemien oder durch Kata- strophen bei Großveranstaltungen. Schmerzlich haben wir in der Vergangenheit lernen müssen, dass unsere Ge- sellschaft nicht ausreichend auf diese Herausforderun- gen eingestellt ist. Zudem haben wir anerkennen müssen, dass die Glo- balisierung, eine gestiegene gesellschaftliche Mobilität genauso wie der technologische Fortschritt zu diesem veränderten Sicherheitsumfeld beigetragen haben. Das Verkehrssystem, die zentral aufgestellte Stromversor- gung oder die Anbindung vieler Anwendungen an IT sind in einer vernetzten Gesellschaft zu bedeutenden In- frastrukturen geworden. Mit diesem Wandel verstärkt sich gleichzeitig auch die Abhängigkeit und Anfällig- keit. Eine Gesellschaft, die frei und offen bleiben möchte, muss sich demnach fragen, welche Vorstellung sie von ziviler Sicherheit hat und welche Kriterien angelegt wer- den sollen. Einen bedeutenden Impuls zur Beantwortung dieser Frage setzen wir als christlich-liberale Koalition mit dem vorgelegten Antrag und dem von der Bundesre- gierung beschlossenen Sicherheitsforschungsprogramm. Im Fokus steht die Balance von individueller Freiheit und ziviler Sicherheit. Denn wir wissen, dass der Schutz zur Wahrung der Freiheit gleichzeitig das Gefahrenpo- tenzial für Persönlichkeitsrechte birgt. Deshalb setzen wir Liberale in der zweiten Programmphase des nationa- len Sicherheitsforschungsprogramms – 2012 bis 2017 – auf jene austarierte Abwägung zwischen persönlicher Freiheit und Sicherheit. Unser Antrag und das Forschungsprogramm für die zivile Sicherheit greifen, anders als es die Oppositions- fraktionen glauben machen wollen, keine Szenarien aus der Luft. Die thematischen Schwerpunkte sind in Vorbe- reitung des Forschungsprogramms mit allen relevanten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21297 (A) (C) (D)(B) Akteuren gemeinsam erarbeitet worden, unter Beratung von Wissenschaftlern und den Endnutzern wie den Ein- satzkräften von THW und Feuerwehr. Zur Erarbeitung wurden, wie die Bundesregierung im Ausschuss erklärte, auch zahlreiche Workshops durchgeführt – im Übrigen wie üblich bei Erarbeitung eines Forschungsprogramms. Die Kritik, es gebe keinen Bottom-up-Prozess, ist schlichtweg falsch. Anstoß und Grundlage des Forschungsprogramms war auch das überfraktionell erarbeitete Grünbuch „Risi- ken und Herausforderungen für die öffentliche Sicher- heit in Deutschland“. Das Grünbuch wurde gemeinsam von Innenpolitikern der CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen in 2008 verfasst. Gemeinsam hat man sich zu Leitfragen und Zielsetzungen der zivilen Sicherheit verständigt. Es wurde im Konsens festgehal- ten, dass sich die Sicherheitsarchitektur in Deutschland wandeln muss, dass es neue Lösungen braucht. Insofern ist die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorge- brachte Kritik im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung etwas schizophren. Denn man widerspricht gemeinsam festgestellten innenpoliti- schen Vorstellungen. Man konterkariert politische Ab- stimmungen. Die darüber hinaus in der Ausschussberatung vorge- brachte Kritik vonseiten der Opposition, das For- schungsprogramm sei zu technologieorientiert, ist ebenso unverständlich. Denn das Forschungsprogramm zielt auf den Schutz kritischer Infrastrukturen, auf Si- cherheit im urbanen Raum und bei Großveranstaltungen. Hierzu bedarf es zuvorderst technologischer Lösungen. Das hat nichts mit einer Affinität oder starker Technolo- gieorientierung zu tun, sondern mit dem einfachen Wissen, dass es zuvorderst neuer Technologien und As- sistenzsysteme bedarf. Bei alledem ist eine geisteswis- senschaftliche Begleitung in diesem Programm imple- mentiert und auch gewollt. Denn wir erkennen natürlich die sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Frage- stellungen in diesem Zusammenhang an. Einem weiteren Kritikpunkt der Opposition muss ich widersprechen. Die Beurteilung, das Forschungspro- gramm sei unscharf und die Ausrichtung zu unkonkret, ist ebenso falsch wie der von der SPD vorgebrachte Kri- tikpunkt, dass die Bedrohungsszenarien für die Bevölke- rung nicht ausreichend definiert seien. Wie beliebig diese Kritik ist, brauche ich nicht weiter zu erwähnen. Aber anscheinend hat man in den Oppositionsfraktionen nicht verstanden, dass es sich um eine Programmfor- schung handelt und nicht um Auftragsforschung. Es gibt Programmlinien und thematische Schwerpunkte, die den Rahmen setzen. Es besteht Offenheit für Vorschläge und Ideen aus der Wissenschaft und Wirtschaft für For- schungsprojekte. Denn das ist das Ziel der Programm- forschung – Forschungsfragen im Vorhinein nicht einzu- schränken. Insofern besteht keine Berechtigung, die vorgebrachte Kritik ernst zu nehmen. Das Forschungsprogramm für die zivile Sicherheit hat die volle Unterstützung der christlich-liberalen Ko- alition. Dies bekräftigen wir mit dem vorgelegten An- trag. Die von den Oppositionsfraktionen geäußerte Kri- tik ist wenig hilfreich. Anscheinend findet man keinen wirklichen Ansatz, das Sicherheitsforschungsprogramm zu kritisieren, und zieht sich deshalb an Beliebigkeiten hoch. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Bei der Debatte des vorliegenden Koalitionsantrags im Ausschuss hob Staatssekretär Rachel hervor, dass immerhin 20 Prozent der Mittel für die gesellschaftswissenschaftliche For- schung ausgegeben werden. Das war unter anderem an uns adressiert. Denn seit Beginn der Förderlinie im BMBF verlangt Die Linke, dass zunächst die Nachfrage nach Sicherheit und Quellen von Unsicherheit in der Be- völkerung wissenschaftlich geklärt werden, bevor man Millionen Steuergelder in teure Überwachungskonzepte und in eine gut prosperierende Industrie steckt. Ich sehe bei den 20 Prozent keinen Grund zum Feiern. Im Umkehrschluss gehen fast 200 der bewilligten 240 Millionen Euro in Technologieentwicklung oder technikzentrierte Infrastrukturprojekte. Das Programm bedient weiterhin in erster Linie das selbsterklärte Ziel der Markterschließung für die Sicherheitswirtschaft. Zu wenig trägt es aber dazu bei, die hoheitliche Aufgabe „Sicherheit“ mithilfe aktueller Forschungserkenntnisse zu durchdenken und zu modernisieren. Denn: Dass man in europäischen Gesellschaften beim Thema Sicherheit mit dem bislang dominanten Blick der Ingenieure und IT-Spezialisten nicht weiterkommt, haben die geschei- terte Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und das Nacktscannerdesaster ausreichend deutlich gemacht. Wohin die Reise gehen kann, machen aber gerade ak- tuelle Ergebnisse der BMBF-geförderten gesellschafts- wissenschaftlichen Forschung deutlich. Beim „Innova- tionsforum Sicherheit“ des BMBF im April dieses Jahres machten Forscherinnen und Forscher unter anderem klar, dass Unsicherheit für die allermeisten Menschen mitnichten von Lieblingsthemen der Koalition wie Ter- roranschläge, organisierte Kriminalität oder Krankheits- epidemien bestimmt ist. Sicherheitserwartungen richten sich vielmehr auf Alltagsdelikte wie Diebstahl und Stö- rungen der öffentlichen Ordnung, auf Unsicherheitsku- lissen wie schlecht beleuchtete Bahnhöfe etc. Mehrere Forschungsteams fanden heraus, dass es die Kommuni- kation und Bilder von Unsicherheit sind, die das Sicher- heitsempfinden maßgeblich beeinflussen. Mit der fak- tischen Unsicherheitslage vor Ort, die man in Kriminalstatistiken nachschlagen kann, hat das subjek- tive Empfinden hingegen wenig zu tun. Positiv aus- schlaggebend ist aber sehr wohl die soziale Sicherheit wie gutes Auskommen und gut ausgebaute zivilgesell- schaftliche Netzwerke. Hier also sollte ein vorsorgender Staat wirklich ansetzen! Auch beim Thema Krisenbewältigung haben For- scherinnen und Forscher den Ministerien Hausaufgaben mitgegeben. So gäbe es zurzeit weder ausreichend Wis- sen noch Willen in Behörden für eine gute Risikokom- munikation im Krisenfall. Pate stehen hier die Schwei- negrippe und unnötige Millionenausgaben für Impfstoffe, die am Ende keiner haben wollte und nie- mand brauchte. Der Grund dafür lag nicht zuletzt darin, 21298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) dass die traditionell hierarchische Kommunikation der Behörden die soziale Dynamik im Internet völlig außen vor ließ und dringend nötiges Vertrauen verspielt hat. Die Forschung empfiehlt hier eindeutig mehr Trans- parenz, weniger Allwissenheit und den Dialog mit den Bürgern über Vorgehensweisen der Behörden, beispiels- weise via Web 2.0. Zur Selbsthilfe fähige und wider- standfähige Bürger, die ja ganz oben auf der Agenda der Katastrophenschützer stehen, erhalte man nur, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet und an Prozessen beteiligt, so das Credo. Das neue Rahmenprogramm für Sicherheitsforschung verspricht „Sicherheitslösungen so zu gestalten, dass sie die Bedürfnisse, Bedenken und Erwartungen der Bürge- rInnen berücksichtigen“. Die Schwerpunktsetzung des auslaufenden Programms hat das nicht geleistet, so mein Fazit. Ob es die neue besser vermag, hängt stark damit zusammen, ob gewonnene Forschungsergebnisse tat- sächlich in die Ministerien zurückgespiegelt werden. Das betrifft insbesondere das mitunter neue Verständnis davon, wie Sicherheit und Unsicherheit im Alltag reflek- tiert werden. Mehr Beteiligungskultur und Bedarfsorien- tierung statt Hinterzimmerpolitik mit Lobbyisten ist nach wie vor die größte Herausforderung beim Thema zivile Sicherheit. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dem weiterentwickelten Bundesprogramm „Forschung für die zivile Sicherheit“ nehmen interdisziplinäre Ansätze, gesellschaftliche Fragestellungen und die Einbindung von Stakeholdern einen größeren Stellenwert ein als im Vorgängerprogramm. Offenbar hat die Bundesregierung hier Kritiken und Anregungen aufgenommen, was durchaus zu begrüßen ist. Es fehlt aber bisher an Trans- parenz über die Schwerpunkte der Mittelverteilung, über Forschungsvorhaben und deren Zielrichtung sowie über Themen und Beteiligte. Transparenz muss die Bundesre- gierung auch über die bisherige Verwendung der Förder- mittel herstellen. Wir erwarten, dass die Bundesregie- rung den Bundestag über die Evaluierungsergebnisse und die Evaluierungskriterien bei der Auswertung der ersten Programmphase informiert und auch die Evalua- tion der zweiten Programmphase transparent gestaltet. Das nationale Programm zur zivilen Sicherheitsfor- schung der Bundesregierung umfasst bisher Bereiche, die im Englischen mit dem Begriff Security umschrieben werden, was der Wissenschaftliche Programmausschuss als die Verhinderung böswillig zugefügten Schadens ver- steht. Unter Safety subsumiert er hingegen zum Beispiel Fragen von Betriebs-, Unfallsicherheit und Arbeits- schutz. Diese Trennung lässt sich schon im anwendungs- nahen Bereich nicht durchhalten. Auch beim Schutz vor Naturkatastrophen helfen diese Definitionen nicht wei- ter. Statt an solch rigiden Definitionen sollte das Pro- gramm sich eher an vorhandenen oder zu erwartenden Problemstellungen orientieren. Dabei ist ein partizipativer Forschungsansatz, also die rechtzeitige Einbindung der verschiedenen Stakeholder wie Unternehmen, Arbeitsschutz, Katastrophenschutz, öffentliche und private Betreiber von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, von großer Bedeutung. Hierbei fehlt uns neben der Beteiligung verschiedener Bundesbehör- den die Einbeziehung der kommunalen Ebene. Die Kommunen spielen aber nicht nur eine große Rolle im Zusammenhang mit lokalen und dezentralen Infrastruk- turen, sondern sie haben auch entscheidenden Einfluss darauf, ob bestimmte Lösungsansätze überhaupt zur An- wendung kommen. Dabei geht es dann sicher nicht nur um das technisch Machbare, sondern auch um Fragen der Kosten-Nutzen-Relation. Für die Frage, ob Ergebnisse der Sicherheitsfor- schung Eingang finden in die gesellschaftliche Praxis, spielt deren Implementierung in Studiengänge und in die berufliche Aus- und Weiterbildung eine bedeutende Rolle. Dieses Transferthemas sollte die Bundesregierung sich explizit annehmen. Dies ist auch deshalb bedeutsam, weil es in Zukunft sicher nicht nur einen wachsenden Markt für sicherheits- technologische Produkte geben wird, sondern weil auch im Bereich der sicherheitsrelevanten Dienstleistungen, der Vermarktung von Beratung und Know-how wach- sende Wertschöpfungspotenziale liegen. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung sich in den Verhandlungen zum neuen EU-Forschungsrahmenpro- gramm „Horizon 2020“ dafür einsetzt, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften eine gesonderte Programmli- nie bekommen, denn es wäre sicher zu kurz gedacht, die sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung nur als „Wasserträger der Sicherheitsforschung“ zu verstehen, auch wenn natürlich interdisziplinäre und gesellschaftli- che Fragestellungen auch bei der EU-Förderung der Si- cherheitsforschung integriert werden sollten. Im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung stellt sich nicht zuletzt die Frage, inwiefern eine Abgrenzung von der militärischen Sicherheitsforschung vorgenom- men werden kann. Der Wissenschaftliche Programmaus- schuss weist zu Recht darauf hin, dass es in bestimmten Fällen eine unvermeidbare Dual-use-Problematik gibt, die nicht ohne Weiteres aufgehoben werden kann. Der Programmausschuss empfiehlt, klare Richtlinien und Kriterien zu entwickeln, um den zivilen Charakter des Rahmenprogramms zu erhalten. Wir fordern die Bundes- regierung auf, dieser Empfehlung nachzukommen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Freiheit von For- schung und Lehre schützen – Transparenz in Kooperationen von Hochschulen und For- schungseinrichtungen mit Unternehmen brin- gen (Tagesordnungspunkt 14) Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Ganz besonders in der Forschung muss für uns gelten: So viel Freiheit wie möglich, so wenig Bürokratie wie möglich. Wir, die Fraktion der CDU/CSU, wollen die Freiheit von For- schung und Lehre schützen. Wir stehen zur Forschungs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21299 (A) (C) (D)(B) freiheit, zur Wissenschaftsfreiheit und zur Freiheit der Lehre. Ihr Antrag zum Schutz von Forschung und Lehre, liebe Abgeordnete der Linken, ist aber eine staatlich ver- ordnete Kooperationsvorschrift für Wirtschaft und Wis- senschaft. Das garantiert keine Freiheit, sondern bewirkt das Ge- genteil. Angeblich, so Ihr Argument, nimmt die Wirt- schaft durch Kooperationen mit der Wissenschaft Ein- fluss auf die zu generierenden Forschungsergebnisse. Vielleicht gibt es solche Einzelfälle, und denen muss und wird nachgegangen. Aber Ihre Annahmen stellen Ko- operationen von Wirtschaft und Wissenschaft unter ei- nen Generalverdacht. Das schützt aber weder Forschung noch Lehre, es schadet vielmehr unserem Wissenschafts- standort und dem Ruf der deutschen Wissenschaft im Allgemeinen. Mit ihrem geforderten „Katalog“ zur guten Koopera- tionspraxis schaffen Sie keine Transparenz, sondern ei- nen bürokratischen Apparat des Misstrauens. Eine sol- che Bürokratie ist nicht transparent, und sie ist eine Hürde für dringend notwendige Kooperationsvorhaben. Wir wollen doch mehr Kooperationen und nicht weniger, gerade zwischen KMU und der Wissenschaft. Ein gutes Beispiel dafür, warum wir Kooperationen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft nicht nur brau- chen, sondern ihnen auch den großmöglichsten Freiraum zur wissenschaftlichen Entfaltung bieten sollten, ist das Kompetenzzentrum Biomassennutzung in meinem Hei- matland Schleswig-Holstein. Das Kompetenzzentrum Biomassennutzung ist ein seit 2006 existierender Verbund von Fachhochschulen und Universitäten in Schleswig-Holstein. Hier geht es um Kooperationen mit Institutionen, mit der Landwirtschaft und mit Wirt- schaftsunternehmen. Es geht darum, anwendungsorien- tierte Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Bereich der Biomassennutzung gemeinsam zu bearbeiten. Und die aus dieser Kooperation entstehenden Ergebnisse kommen allen in Schleswig-Holstein zugute. Wir kön- nen aus diesen Ergebnissen Rohstoffe, Produkte und Verfahren entwickeln, und wir können Biomasse so noch effizienter und umweltverträglicher einsetzen. Ja, unsere Wirtschaft profitiert von dieser Bündelung an technolo- gischen Ressourcen und dem Know-how der Hochschu- len in Schleswig-Holstein. Aber sie beeinflusst die Wis- senschaft nicht. Nein, es ist ja gerade das gemeinsame Ziel, neue Produkte und Verfahren daraus abzuleiten. Und übrigens, ganz transparent. Um es noch deutlicher zu machen: Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal vom „Algenstammtisch“ gehört ha- ben? Nicht? Dann lassen Sie mich diesen Stammtisch mit ein paar Sätzen erläutern. Dieser Stammtisch, zum Kompetenzzentrum Biomassennutzung gehörend, bietet einen Ort zum Erfahrungs- und Wissensaustausch. Be- teiligt sind Interessierte aus Forschung, Industrie, Unter- nehmen, Politik, Behörden und Medien. Die unter- schiedlichen Interessen sollen hier zusammengeführt und diskutiert werden, damit in Schleswig-Holstein neue Wissenschafts- und Geschäftsfelder erschlossen werden können. Durch die stets wechselnden Unternehmen, die diesen Stammtisch begleiten sowie die verschiedenen Forscher, Wissenschaftler oder auch kommunalen Be- hörden, die an dieser Runde teilnehmen, entsteht ein of- fener, Transparenz schaffender Dialog. Die Teilnehmer des Algenstammtischs sind damit schon viel weiter als Sie, liebe Mitglieder der Linken. Das Beispiel zeigt auch, dass viel mehr durch Freiheit und Eigenverantwor- tung Transparenz geschaffen wird und nicht durch Vor- schriften, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, es hier in Ihrem Antrag fordern. Dafür brauchen wir keinen Katalog, der die „gute Pra- xis bei der Kooperation von Wissenschaft und Wirt- schaft“ vorschreibt. Nein, ganz im Gegenteil: Wir brau- chen mehr Autonomie der Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Deshalb brauchen wir auch das von uns erarbeitete Wissenschaftsfreiheitsgesetz: Es bringt ein Mehr an Autonomie und Eigenverantwortung. Es wird die Forschungseinrichtungen stärken. Wie ich bereits eingangs erwähnte: So viel Freiheit wie möglich, so wenig Bürokratie wie möglich! Diese Aussage steht überhaupt nicht im Einklang mit Ihrem Antrag, und die- ser kann deshalb nur abgelehnt werden. Mit Ihrem Antrag sprechen Sie den Forschungsein- richtungen die wissenschaftliche Unabhängigkeit ab. Die Aufgabe der Politik aber ist es, den Forschungs- kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ein Maximum an Vertrauen entgegenzubringen. Dieses Vertrauen gewinnen wir eben nicht, indem wir ihnen eine – und ich zitiere hier aus Ihrem Antrag – „gute Pra- xis der Kooperation“ staatlich verordnen. Nein, wir brauchen nicht mehr Vorschriften, sondern allein ein konsequentes und transparentes Verfolgen von Fehlver- halten. Und dies geschieht auch. In Deutschland brauchen wir Innovationen, um auf Dauer wettbewerbsfähig zu bleiben und um unseren Wohlstand zu sichern. Innovationen beruhen auf neuen, kreativen Ideen, die vor allem dadurch gesichert werden, dass wir Wirtschaft und Wissenschaft bei ihren Koopera- tionsvorhaben positiv unterstützen. Wir müssen den For- schungskooperationen aus Wissenschaft und Wirtschaft das größtmögliche Maß an Freiheit bieten. Alles andere wäre kontraproduktiv. Axel Knoerig (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag vorgelegt, um mehr Transparenz in der Kooperation zwischen Hochschulen und Unternehmen zu schaffen. Als Begründung führt sie an, damit die Frei- heit von Forschung und Lehre zu schützen. Ich möchte meinen Redebeitrag dazu nutzen, einige Ungereimthei- ten dieses Antrags anzusprechen und die daraus resultie- renden Fehlinterpretationen richtigzustellen. Dieser Antrag macht wieder einmal deutlich, dass die Linke im Bereich Bildung und Forschung mehr Büro- kratie zur Kontrolle der Kooperationen zwischen Wis- senschaft und Wirtschaft fordert. Selbstverständlich ist Wissenschaftsfreiheit ein hohes Gut, das wir alle aner- kennen. Im Gegensatz zu Ihnen allerdings legen wir Wert darauf, den wissenschaftlichen Partnern an Hoch- schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun- 21300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) gen erst einmal Selbstorganisation und Eigenverantwor- tung zu gewähren. Aus dem Antrag der Linken spricht ein tiefes Miss- trauen gegen die Wirtschaft. Dem Interesse unserer Un- ternehmen, in Forschung und Entwicklung zu investie- ren und mit Hochschulen zu kooperieren, wird direkt die zweifelhafte Absicht unterstellt, Einfluss auf die For- schungsergebnisse zu nehmen. Dieses Bild ist verant- wortungslos, realitätsfern und rückständig. Es schadet dem Wissenschafts- und Innovationsstandort Deutsch- land. Denn die Praxis zeigt ein völlig anderes Bild. Man braucht nur im Internet nachzuschauen: Jede Universität und jede Fachhochschule wirbt stolz mit den Ergebnis- sen ihrer wirtschaftlichen Kooperationsprojekte. Ob sich daraus nun Kontakte der Hochschulabsolventen zum Ar- beitsmarkt oder zu regionalen Wirtschaftsunternehmen ergeben – eines ist klar: Es handelt sich hierbei um einen Austauschprozess, in den beide Seiten investieren und von dem beide gleichzeitig profitieren. Nach einer Studie des deutschen Stifterverbandes hat bereits im Jahr 2009 jedes fünfte deutsche Unternehmen Hochschulen gefördert durch die Unterstützung dualer Studiengänge, die Bereitstellung von Lehrbeauftragten, die Betreuung von Abschlussarbeiten und Praktika so- wie Engagement in der Lehre. Dabei kann das damalige Fördervolumen von 1,5 Milliarden Euro nur annähernd andeuten, wie viele Initiativen tatsächlich vor Ort laufen. Wir setzen auf eine vertrauensvolle, geregelte Koopera- tion zwischen Wissenschaftskultur und Unternehmertum und bremsen diese nicht willkürlich aus – auf der Suche nach irgendwelchen Transparenzdefiziten. Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode mit der Hightech-Strategie 2020 neue Impulse für den Wissens- und Technologietransfer geschaffen. Um den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu festigen, wurden neue Kooperationsformen geschaf- fen. Denn Forschungsergebnisse mit Innovationspoten- zial müssen erkannt sowie schnell und erfolgreich am Markt umgesetzt werden. Nur so sichern wir Wachstum und Beschäftigung in unserem Land. Ein Großteil unserer innovativen Unternehmen ist mittelständisch. Daher werden speziell diese in der Pro- jektförderung des BMWi und des BMBF unterstützt. Insbesondere mit den Programmen „ZIM“ und „KMU innovativ“ fördern wir Forschung und Entwicklung in kleineren Betrieben. Da der Begriff Drittmittelforschung in der öffentli- chen Wahrnehmung häufig eher negativ belegt ist, hier eine kurze Definition: Drittmittel zur Finanzierung von Forschungsvorhaben werden ergänzend zum regulären Hochschulhaushalt eingeworben. Sie können aus öffent- lichen oder privaten Mitteln stammen. Dazu zählen: die Projektförderung der Bundesministerien – BMBF, BMWi, BMVBS, BMU, BMELV –, Mittel aus Investi- tions- und Tilgungsfonds – Konjunkturpakete –, Mittel aus dem Technologietransfer – Hightech-Strategie – und aus dem Hochschulpakt 2020, Mittel der EU und ihrer Organisationen – EFRE, ESF –, Mittel der Wirtschaft, Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft – DFG –, Mittel der Bundesanstalt für Arbeit, Stiftungslehrstühle, Graduierten-, Postdoktoranden- und Habilitationsstipen- dien. Ein deutliches Bild ergibt sich bei der Zusammenset- zung der Drittmittel – jüngste Zahlen 2009 –: Den höchsten Anteil hat die Deutsche Forschungsgemein- schaft mit 34,8 Prozent, gefolgt von der Wirtschaft mit 22,9 Prozent. Der Anteil des Bundes liegt bei 21,1 Pro- zent. Es folgt die Europäische Union mit 9 Prozent. Nichtöffentliche Drittmittelgeber wie zum Beispiel Stif- tungen liegen bei 7,5 Prozent. Das sind die Drittmittelre- alitäten: Die Wirtschaft liegt mit fast 23 Prozent auf Platz zwei hinter der Deutschen Forschungsgemein- schaft und vor dem Bund. Werfen wir einmal einen Blick auf die Zusammenar- beit von Hochschulen, außeruniversitärer Forschung und Firmen: Als Beispiel möchte ich die Metropolregion Hannover/Braunschweig/Göttingen/Wolfsburg in mei- nem Bundesland Niedersachsen nennen. Hier wird in der sogenannten Schaufensterregion Elektromobilität vor- bildlich zusammengearbeitet. Rund 5 800 Firmen ko- operieren mit der Automobilindustrie, und zwar in der gesamten Wertschöpfungskette: Fahrzeugentwicklung, Batterieforschung, Fertigungsprozesse, Carsharing-Pro- jekte. Der Forschungsverbund der Niedersächsischen Technischen Hochschulen, NTH, bündelt hierbei Kom- petenzen in den dazugehörigen Forschungsbereichen. Ein weiterer Kooperationspartner ist das Niedersächsi- sche Forschungszentrum Fahrzeugtechnik, NFF. Dieses wurde 2007 mit Unterstützung von Volkwagen als For- schungsplattform der TU Braunschweig gegründet. Hier werden keine Forschungsergebnisse verschleiert. Alle Formen der Zusammenarbeit sind vertraglich trans- parent gestaltet und zwar in Forschungszielen, Mittelein- satz sowie Projekt- und Finanzplänen. Umgesetzt wer- den die Kooperationsvereinbarungen unter anderem durch strategische Partnerschaften, Beraterverträge, öf- fentliche Beiträge zu Forschung und Entwicklung, Be- auftragung von Instituten und Professuren, Industrieko- operationen und Auftragsforschung. Union und FDP haben mit dem Wissenschaftsfrei- heitsgesetz bewiesen, dass nicht staatliche Reglementie- rung der richtige Weg ist, sondern der eigenverantwortli- che Umgang zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Das Wissenschaftsfreiheitsgesetz gibt der außeruniversitären Forschung mehr Flexibilität in der Mittelbewirtschaf- tung mit der Einführung von Globalhaushalten, der Übertragung von Mitteln auf Folgejahre, der vollständi- gen Deckungsfähigkeit zwischen Betriebs- und Investi- tionsmitteln und der Möglichkeit, nichtöffentliche Dritt- mittel einzusetzen, um bei der Gestaltung von Gehältern auch Spitzenkräfte aus dem In- und Ausland gewinnen und auch halten zu können. Das ist der richtige Weg in der Forschungspolitik. Auch die Wirtschaft muss ihren Beitrag zu Forschung und Entwicklung leisten und kann das am besten in Kooperation mit Universitäten, Fach- hochschulen und außeruniversitärer Forschung. Das Wirtschaftsbild der Linken ist dagegen reichlich diffus. Dass es komplett an der Realität vorbeigeht, be- weist auch das folgende Beispiel: Vor zwei Wochen hat der Erdölkonzern ExxonMobil in Berlin eine Studie zum Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21301 (A) (C) (D)(B) Thema Fracking vorgestellt. Dahinter verbirgt sich die Förderung von Erdgas mithilfe chemischer Mittel. Mit der Untersuchung hatte das Unternehmen einen neutra- len Expertenkreis – unter Leitung des Helmholtz-Zent- rums für Umweltforschung in Magdeburg – beauftragt. Eine inhaltliche Einflussnahme von ExxonMobil war zu- vor vertraglich ausgeschlossen worden. Ein solches Vor- gehen ist keineswegs ungewöhnlich und belegt einmal mehr, dass Wirtschaftsunternehmen auf außeruniversi- täre Forschungsinstitute zugehen, um objektive Experti- sen zu bekommen. Wie man sieht: Hier wird die Wissenschaftsfreiheit nicht eingeschränkt. Sie gilt vielmehr als Gütesiegel für die Seriosität deutscher Forscherarbeit. Das ist die Hand- schrift der Koalition in der Forschungspolitik. So brin- gen wir den Innovationsstandort Deutschland voran. Swen Schulz (Spandau) (SPD): In den letzten Mo- naten ist die Frage, wie Hochschulen und Unternehmen kooperieren, welche Möglichkeiten und Grenzen beste- hen und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, ver- stärkt diskutiert worden. Wir haben diese Debatte ebenso wie die Fraktion Die Linke mit einem Antrag aufgegrif- fen. Worum geht es? Auslöser für diese Diskussion waren Kooperationsverträge von Hochschulen mit Wirtschafts- unternehmen, die Zweifel aufkommen ließen, ob die Hochschulen ausreichend unabhängig bleiben. In unserem Antrag „Kooperationen von Hochschulen und Unternehmen transparent gestalten“ benennen wir als Beispiel einen Kooperationsvertrag der Deutschen Bank mit der Humboldt-Universität und mit der Techni- schen Universität Berlin im Bereich Angewandte Fi- nanzmathematik. Die TU Berlin legt Wert auf die Fest- stellung, dass der Kooperationsvertrag vor seinem Inkrafttreten öffentlich in den akademischen Gremien diskutiert wurde und es sich um eine Einrichtung der Bank handelte, deren Infrastruktur die Hochschulmit- glieder im Rahmen gemeinsamer Projekte nutzen konn- ten. Gleichwohl hat diese Kooperation, als sie einer brei- teren Öffentlichkeit bekannt wurde, viele Wissenschaft- ler und auch Angehörige der beteiligten Universitäten die Hände über den Kopf zusammenschlagen lassen. Es entstand der Eindruck, dass sich möglicherweise ein Un- ternehmen Wissenschaft einkauft – und zwar nicht, in- dem es Wissenschaftler beschäftigt, sondern indem es auf die Wissenschaft zugreift, sich weitgehende Mitspra- che- und Entscheidungsrechte sichert, etwa hinsichtlich der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, und somit eine Privatisierung der bislang freien und öffent- lich verantworteten Wissenschaft betreibt. Wie auch immer das in diesem oder in anderen Ein- zelfällen genau gewesen sein mag: Wir können und wol- len das von dieser Stelle aus nicht im Detail beurteilen. Was wir aber können, wollen und auch müssen, ist, klar- zustellen, dass die Freiheit der öffentlichen Forschung nicht angetastet werden darf, und dass der Staat seinen Teil dazu beizutragen hat, dass die Forschungsfreiheit gewährleistet bleibt. Die Wissenschaft ist für alle Men- schen da und nicht für einige Unternehmen. Darum begrüße ich ausdrücklich, dass die Humboldt- Universität inzwischen darauf besteht, dass in allen Ko- operationsverträgen mit Unternehmen ein ausdrückli- cher Hinweis auf die unabdingbare Freiheit und Unab- hängigkeit der Wissenschaft und Forschung enthalten ist. Das zeigt, dass die Debatte etwas bewegt hat und dass auch die Wissenschaft ihr Verhalten reflektiert. Nun sind wir weit davon entfernt, jede Zusammenar- beit von Wirtschaft und Hochschulen zu verteufeln. Im Gegenteil wollen und fördern wir Kooperationen. Denn wir wollen ja, dass sich die Kompetenzen zur Beantwor- tung von Forschungsfragen ergänzen. Wir wollen, dass Forschungsergebnisse angewandt werden, dass gesell- schaftliche, technische, soziale und wirtschaftliche Pro- bleme gelöst werden. Und wir wollen, dass Akademiker von den Unternehmen aufgenommen werden, dass Wirt- schaft angekurbelt, Gewinne gemacht und Arbeitsplätze geschaffen werden. Doch steht auf der anderen Seite eine offenkundige potenzielle Bedrohung der Forschungsfreiheit – hier nicht durch den Staat, sondern durch Privatinteressen. Wir haben es also mit einem Spannungsfeld zu tun, in dem die Regeln austariert werden müssen. Doch was können das für Regeln sein? Wir sollten uns an dieser Stelle nicht anmaßen, ein detailliertes Regelwerk auszu- arbeiten. Das wiederum könnte einen staatlichen Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft darstellen. Ein erster naheliegender Schritt ist aber ein anderer, nämlich: eine Veröffentlichungspflicht für Koopera- tionsverträge von Hochschulen und Unternehmen. Es geht dabei darum, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass eine Zusammenarbeit stattfindet und wer eigentlich zu- sammenarbeitet. Das ist nur recht und billig, da die Wis- senschaft schließlich vornehmlich öffentlich finanziert ist und eine öffentliche Verantwortung hat. Ich habe im letzten Jahr die Bundesregierung gefragt, wie sie dazu steht. Die Antwort ist aufschlussreich. Der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel schreibt, dass eine Veröffentlichungspflicht von Koope- rationsverträgen nicht zielführend und zudem rechtlich fragwürdig sei. Mit anderen Worten: Nach Auffassung der Bundesregierung geht das nicht, und sie will das nicht. Ob es rechtlich geht, habe ich den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gefragt. Der hat in ei- ner wirklich klaren und gut lesbaren Ausarbeitung deut- lich gemacht, dass zwar erstens eine umfassende Ver- öffentlichungspflicht problematisch wäre, weil damit Wissensvorsprünge sowie Betriebs- und Geschäftsge- heimnisse offengelegt werden müssten. Zweitens jedoch bestehe ein öffentliches Interesse daran, Kooperations- verträge transparenter zu gestalten. So könnten einsei- tige Abhängigkeiten und jeder Anschein davon vermie- den werden. Eine auf die Summe und die Laufzeit beschränkte Veröffentlichungspflicht sei daher mit der Vertragsfreiheit vereinbar. 21302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) An dieser Stelle nochmal herzlichen Dank an den Wissenschaftlichen Dienst, der im Rahmen der rechtli- chen Güterabwägung ganz im Gegensatz zur Bundesre- gierung das Problem erkannt und eine gangbare Lö- sungsmöglichkeit aufgezeigt hat. Das ist dann auch einer der beiden Punkte in unserem Antrag: Wir wollen, dass die Bundesregierung gemein- sam mit den Bundesländern eine einheitliche Offenle- gungspflicht von Kooperationen zwischen den Hoch- schulen und Unternehmen, die sich auf die Fördersumme sowie die Laufzeit bezieht, anstrebt. Kommen Sie mir, Kolleginnen und Kollegen der Koalition, nicht wieder mit der Zuständigkeit der Länder. Diese Karte ziehen Sie im- mer, wenn Sie nichts machen wollen. Aber der Bund ist mit in der Verantwortung für die Freiheit der Wissen- schaft, und er finanziert die Hochschulen auch ordent- lich mit. Also kann, also muss er da auch ran. Der andere Punkt unseres Antrages richtet sich letzt- lich an die Wissenschaft. Ich habe oben deutlich ge- macht, dass wir kein detailliertes Regelwerk erstellen können und auch gar nicht sollten. Deshalb wollen wir, dass die Bundesregierung im Wissenschaftsrat darauf hinwirkt, einen Kodex zu erarbeiten, mit dem die Bun- desländer und Hochschulen Kriterien für die Ausgestal- tung und Grenzen von Kooperationen mit Unternehmen erhalten. Wohlgemerkt: Es geht hier um einen wissen- schaftsgeleiteten Prozess. Wir fordern die Bundesregierung und die Koalitions- fraktionen auf, sich mit diesem Anliegen auseinanderzu- setzen und nicht nur mit den üblichen Schlagworten zu kommen, mit denen Sie Handlungsunwilligkeit überde- cken wollen. Die Freiheit der Wissenschaft ist eine Überlegung wert. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es vor- weg zu sagen: Für uns Liberale ist Wissenschaftsfreiheit bzw. Freiheit von Forschung und Lehre ein überaus ho- hes und kostbares Gut. Es ist aber nicht nur ein bedeu- tendes Grundrecht, sondern nach unserem Verständnis Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens und Fundament unseres Wissenschaftssystems. Deshalb messen wir dem Schutz der Wissenschaftsfreiheit eine hohe Bedeutung bei und treten auch als christlich-liberale Koalition voll- umfänglich für die Wissenschaftsfreiheit ein. Gerade weil wir ein umfassendes Freiheitsverständnis reklamie- ren, stößt der vorgelegte Antrag der Linken in unseren Reihen auf Unverständnis und Ablehnung. Wir lehnen den Antrag ab, denn der Freiheitsbegriff, den die Linke hier verwendet, ist verkürzt. Ihre Defini- tion blendet die Selbstbestimmung und Eigenverantwor- tung der Wissenschaftler aus. Sie wollen vermeintlich die Freiheit von Forschung und Lehre vor staatlichen Eingriffen schützen, fordern aber gleichsam staatliche Lenkungseingriffe. Sie umschreiben es im Antrag mit „Initiative ergreifen“; tatsächlich aber stehen dahinter staatlich verordnete Transparenz, Regeln und Verpflich- tungen bei Kooperationen zwischen Wissenschaft und Unternehmen. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit ernst nehmen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass der Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt und selbst entscheidet, welche Kooperationen und Aufträge er annimmt. Für uns Liberale und diese Koalition bedeutet Wis- senschaftsfreiheit aber noch mehr. Unser Freiheitsver- ständnis geht tiefer. Denn Wissenschaftler und Wissen- schaftseinrichtungen – Hochschulen oder außeruniversi- täre Forschungseinrichtungen – tragen auch eine starke Ei- genverantwortung. Sie tragen Verantwortung, dass sie um die Freiheit und ihr Grundrecht wissen und verant- wortungsvoll damit umgehen. Ein Eingreifen von Bundesregierung oder Bundestag ist aus unserer Sicht weder erforderlich noch zielfüh- rend. Denn die Wissenschaft lässt sich keine system- fremden Standards oktroyieren. Die Selbstreflexion fin- det nach Maßstäben der Wissenschaft statt und eben nicht auf der Referenzgrundlage von Politik. Es ent- scheidet das Wissenschaftssystem für sich und aus sich heraus. Denn das Wissenschaftssystem folgt seinen eige- nen, inhärenten Leitlinien und Regeln. In Wahrheit zieht sich Ihr Antrag doch an Einzelfällen hoch. Sie zählen ganze vier Fälle auf. Vier Fälle, in de- nen nach Ansicht der Linken Drittmittelgeber Einfluss auf die Wissenschaft geltend gemacht haben. Angeblich, denn keiner der Fälle hat gezeigt, dass die Wissenschaft- ler in ihrer Wissenschaftsfreiheit bedrängt wurden oder dass die Wissenschaftsfreiheit aufgegeben wurde oder gar Wissenschaftler auf Grundlage einer Unterfinanzie- rung in eine Abhängigkeit gedrängt wurden. Der von Ih- nen konstruierte Zusammenhang zwischen Drittmittelfi- nanzierung, einer wissenschaftlichen Einflussnahme und Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit lässt sich nicht be- gründen oder aufzeigen, weder durch die angeführten Beispiele noch durch die im Antrag aufgegriffene Zu- nahme an Drittmitteln gegenüber der Grundfinanzie- rung. Es ist richtig, dass das Aufkommen an Drittmitteln in der zurückliegenden Dekade stärker zugenommen hat als die Grundfinanzierung der Hochschulen. Aber an- ders, als es die Darstellung im Antrag vermuten lässt, ist die Verschiebung nicht dramatisch. Trotz einer Verdopp- lung machen Drittmittel noch immer nur einen kleinen Anteil an der Grundfinanzierung aus. Nach den aktuells- ten Zahlen aus 2008 liegt der Anteil der gewerblichen Wirtschaft am Gesamtbudget der Hochschulen lediglich bei 4,6 Prozent, der Anteil der Stiftungen sogar nur bei 1,3 Prozent. Wenn wir also über Drittmittel im Zusammenhang mit Wissenschaftsfreiheit sprechen, ist es mehr als ange- bracht, auf die Stimmen aus der Wissenschaft zu hören. Hier möchte ich kurz auf Wissenschaftsrat und Hoch- schulrektorenkonferenz verweisen. Beide sehen in der Drittmittelfinanzierung keine Gefährdung der Wissen- schaftsfreiheit. Im Gegenteil, beide führen aus, dass die Hochschulforschung durch die Möglichkeit, öffentliche und private Drittmittel einwerben zu können, vielmehr profitiert. Der Wissenschaftsrat begrüßte in den zurück- liegenden Jahren sogar, dass es mehr drittmittelfinan- zierte Forschung gibt. Denn durch Drittmittel entstehen im Wissenschaftssystem Impulse für mehr Wettbewerb. Wissenschaftler können durch diese zusätzlichen Mittel Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21303 (A) (C) (D)(B) ihre Forschungsaktivitäten sogar ausweiten – Effekte, die mehr Wissenschaftsfreiheit und nicht weniger schaf- fen. Das zeigt sich dem Wissenschaftsrat nach in der ge- stiegenen Qualität und Leistungsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems. Die eigentlich wichtigen Fragen, über die es sich wirklich zu diskutieren gelohnt hätte, greift der Antrag jedoch mit keinem einzigen Wort auf, beispielsweise die Frage nach der Verantwortung der Länder für eine um- fassende und auskömmliche Grundfinanzierung von Hochschulen oder die Frage, wie man mehr Wissen- schaftsfreiheit für die Hochschulen schaffen kann. Zu beiden Fragen hätte die Linke Stellung beziehen müssen. Dann hätte sie sich aber eingestehen und vorhalten las- sen müssen, wie wenig sie tatsächlich für Hochschulen und Wissenschaftsfreiheit wirklich tut und bisher getan hat. Am Rande sei nur die prekäre Lage des Wissen- schaftsstandortes Berlin und Brandenburg notiert. Interessanterweise zeigt sich, dass es in den Ländern und im Bund stets eine christlich-liberale Koalition ist, die ihre Verantwortung für Wissenschaftsfreiheit und Hochschulen wahrnimmt. Noch in diesem Jahr werden wir als christlich-liberale Koalition ein Wissenschafts- freiheitsgesetz für die außeruniversitären Forschungsein- richtungen verabschieden. Nachdem wir in Nordrhein- Westfalen 2006 ein Hochschulfreiheitsgesetz auf den Weg gebracht haben und tatsächlich für mehr Autono- mie der Wissenschaft und Freiheit für Forschung und Lehre gesorgt haben, ist unser Freiheitsbegriff auf dem Vormarsch. Zudem hat diese christlich-liberale Koalition kon- krete Schritte unternommen, um sich an der Finanzie- rung von Hochschulen zu beteiligen. Wir haben schmerzlich lernen müssen, dass nicht alle Länder in der Lage oder gar willens sind, ihren Hochschulen ausrei- chend Grundmittel für exzellente Forschung und Lehre zur Verfügung zu stellen. Deshalb haben wir den Hoch- schulpakt sowie den Qualitätspakt für Forschung und Lehre mit zusätzlichen Mitten aufgestockt. Noch in die- sem Jahr werden wir in das Grundgesetz korrigierend eingreifen, um dem Bund auch zu ermöglichen – im Nachgang der Exzellenzinitiative –, zusätzliche Finanz- mittel in den Hochschulsektor zu bringen. Der Antrag der Linken wird dem Anspruch an das Wissenschaftssystem nicht gerecht. Aus diesem Grund lehnen wir – wie bereits eingangs erwähnt – den Antrag ab. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die Bundesregierung hat gerade das Gesetz zur Flexibilisierung von haushalts- rechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen beschlossen, ein Vorhaben, das Sie euphemistisch Wissenschaftsfreiheitsgesetz nen- nen. Allerdings wird bei Ihnen der große Verfassungs- grundsatz der Freiheit von Forschung und Lehre auf die Deregulierung staatlicher Steuerung und auf unterneh- merische Institutsführung reduziert. Ihre Wissenschafts- freiheit ist die Freiheit, Spitzenwissenschaftlerinnen und Spitzenwissenschaftler in den Bereichen einzusetzen, in denen man private Geldgeber findet. Das ist Freiheit nach Lesart der FDP! Die Freiheit von Forschung und Lehre ist bedroht – doch die Gefahr kommt von ganz anderer Seite; denn viele Forscherinnen und Forscher müssen um ihre Auto- nomie kämpfen, müssen darum kämpfen, sich ihre The- men selbst aussuchen zu können, müssen darum kämp- fen, wirklich erkenntnisgeleitet forschen zu können und nicht abhängig von Drittmittelgebern zu sein. Unterneh- men und Verbände nutzen die schwache Situation der unterfinanzierten Hochschulen aus, um ihre Interessen in der Wissenschaft durchzusetzen. Nicht immer, aber auf- fällig oft führt das dazu, dass massiv Einfluss auf Forschung und Lehre genommen wird. Da werden Er- gebnisse zurückgehalten, umgedeutet, Forschung zu be- stimmten Themen untersagt oder Gefälligkeitsgutachten in Auftrag gegeben. Beispiele gefällig? An der Humboldt-Uni Berlin soll ein Professor im Auftrag des Deutschen Atomforums eine Studie verfassen, die pünktlich zur letzten Bundes- tagswahl 2009 vorrechnen sollte, warum Kernenergie nicht nur den Konzernen Milliarden bringt, sondern vor allem der Gesellschaft nützt. Das Geld für diese Studie – immerhin 135 000 Euro sollten insgesamt fließen – kassiert der Professor über die Firma seiner Frau. Doch die Uni stellt die weitere Überprüfung des Falles ein. Anderer Fall: Die Universität Bremen hat sich 1986 eine Zivilklausel gegeben, wonach nur zu friedlichen und zivilen Zwecken geforscht werden darf, und in der die Mitglieder der Universität aufgefordert werden, For- schungsmittel abzulehnen, die Rüstungszwecken dienen könnten. Nun bietet der OHB-Konzern der klammen Uni eine Stiftungsprofessur im Bereich Raumfahrttechnolo- gie an. Bedingung: Die Zivilklausel muss weg. Oder der nächste Fall: Die Deutsche Bank sponsort ein Forschungszentrum für Finanzmathematik an zwei Berliner Universitäten. Der Kooperationsvertrag wird bekannt. Er sieht Mitspracherechte der Bank bei der Be- rufung von Professuren vor, bei der Veröffentlichungs- praxis und bei den Rechten an den entstandenen Publika- tionen. In strittigen Fällen soll nicht etwa die Hochschule entscheiden dürfen, sondern ein Vertreter der Bank. Angesichts dieser Entwicklungen sieht sich mittlerweile sogar der wirtschaftsnahe Stifterverband ge- nötigt, einen Verhaltenskodex für Stiftungsprofessuren aufzustellen. Erschwert wird eine Aufklärung und Bewertung sol- cher Fälle dadurch, dass Unternehmen für ihre Koopera- tionsverträge mit den Hochschulen aus „wettbewerbs- rechtlichen Gründen“ fast immer Geheimhaltung durchgesetzt haben, sodass niemand nachvollziehen kann, wie viel Einfluss die Unternehmen haben und wie weitreichend die Vereinbarungen sind. Die Liste der Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung solche Verträge ist lang: BASF, Google in Berlin, der Pharma- konzern Bayer in Köln, Eon in Aachen und so weiter. Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Koali- tion etwas für die Wissenschaftsfreiheit tun wollen, dann müssen Sie zuerst einmal für Transparenz sorgen. Ver- 21304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) träge von staatlichen Hochschulen und Forschungsein- richtungen mit Unternehmen sind keine Privatsache, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Diese Angaben müssen offengelegt werden! Wir brauchen Regeln für die Kooperation. Berufungen, Stellenbesetzungen, Ver- öffentlichungen, Patente – für diese Bereiche muss ein präziser Verhaltenskodex entwickelt werden. Und: Wenn Ihnen die Freiheit von Forschung und Lehre wirklich ein hohes Gut ist, sollten Sie die Wissenschaft ordentlich fi- nanzieren und vor der Einflussnahme durch Privatinte- ressen schützen! Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im heutigen Wissenschaftsbereich gibt es zahlreiche An- knüpfungspunkte für Kooperationen zwischen Hoch- schulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Kooperationen spielen eine Rolle im Prozess der Ausdifferenzierung und Profilschärfung der Hochschulen, bei der anwendungsorientierten For- schung, bei gemeinsamen Forschungsprojekten, bei der Translation, bei Stiftungsprofessuren, beim Wissens- und Technologietransfer. Ebenso vielfältig sind die Ebe- nen des kooperativen Austausches. Sie reichen von dua- len Studiengängen und hochschulischen Fort- und Wei- terbildungsangeboten über Diplomarbeiten und Dissertationen, die durch Kooperationen mit Unterneh- men zustande kommen, bis hin zur gemeinsamen Nut- zung von Forschungsinfrastrukturen, der gemeinsamen Forschungsbeteiligung, der Auftragsforschung, der Be- ratung oder anderen forschungsbezogenen Dienstleistun- gen. Im Regelfall sind diese Kooperationsbeziehungen außerordentlich produktiv und durchaus wünschenswert. Das im Antrag der Fraktion Die Linke formulierte Anliegen, auf mehr Transparenz zu dringen, wo es um Vertrags- und Kooperationsbeziehungen zwischen Un- ternehmen und Hochschulen bzw. außeruniversitären Einrichtungen geht, ist sicher berechtigt. Klar ist aber auch, dass nicht an sämtliche Kooperationsformen die- selben Prinzipien angelegt werden können. Dem Antrag der Linken ist vor allem im Feststellungsteil deutlich an- zumerken, dass ihm zwei unterschiedliche Philosophien zugrunde liegen: eine Haltung, der Kooperationsbezie- hungen generell suspekt sind und die sie unter den Ver- dacht der unlauteren Einflussnahme und Vereinnahmung vonseiten der Unternehmen stellt, und eine zweite Hal- tung, die um Differenzierung bemüht ist und vor allem auf die Einhaltung und Durchsetzung von Prinzipen gu- ter Praxis setzt. Ich halte es daher für richtig, etwas abzu- schichten und die Probleme zu differenzieren. Um missbräuchlicher Einflussnahme von Unterneh- men im Rahmen von Kooperationen mit Hochschule und außeruniversitären Einrichtungen von vornherein einen Riegel vorzuschieben, ist es sicher richtig, wenn aus der Wissenschaft heraus Leitlinien und Codes of Conduct entwickelt werden, die regeln, welche Prinzipien für gute Kooperationsbeziehungen gelten sollen. Transparenzregeln und Codes of Conduct sind aber nicht nur wichtig für die Beziehungen zwischen Hoch- schulen bzw. außeruniversitären Einrichtungen und Un- ternehmen. Faire, transparente Regeln als Basis für den gemeinsamen Austausch sind überall dort von Bedeu- tung, wo private Geldgeber mit Hochschulen und außer- universitären Forschungseinrichtungen kooperieren. Auf dieser Grundlage können Interessenskonflikte austa- riert, Fairness im Umgang hergestellt und Kooperation auf Augenhöhe sichergestellt werden. Wie gesagt dürfen aber nicht sämtliche Kooperations- formen in ein und denselben Topf geworfen werden. Hier gilt es, zu differenzieren: Selbstverständlich zum Beispiel sollten Stiftungsverträge öffentlich einsehbar sein. Ebenso klar ist, dass ausgeschlossen sein muss, dass private Geldgeber Einfluss zum Beispiel auf Beru- fungsentscheidungen nehmen. Es wäre aber Unsinn, so zu tun, als sei unlautere Einflussnahme bei Stiftungspro- fessuren der Regelfall. Sehr oft werden mit solchen Stif- tungen ideelle Zwecke verfolgt. Ob eine Uni eine be- stimmte Professur will oder nicht, darüber muss sie dann schon selbst entscheiden. Im anwendungsnahen Bereich muss man differenzier- ter mit Offenlegungspflichten umgehen. So ist es sicher problematisch, überall und immer von einer generellen Offenlegungspflicht in Bezug zum Beispiel auf Patente auszugehen. An dieser Stelle sind vielmehr transparente Spielregeln der konkreten Zusammenarbeit gefragt. Die Hochschulen sollten Standards für ihre Koopera- tionsbeziehungen mit Unternehmen setzen. Ausgehend von diesen Standards müssen sie sich dann mit den Un- ternehmen auf faire Regeln für den Umgang miteinander verständigen, die die Interessen der Hochschulen nicht unterlaufen. Unter welchen Bedingungen sollen eventu- elle Patente genutzt werden können? Welche Ansprüche bestehen mit Blick auf die Zurechnung von Forschungs- leistungen und die Autorschaft bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen? Wie kann einseitiger Know-how- Abfluss und Braindrain verhindert werden? In solchen und ähnlichen Fragen müssen bei Kooperationen, die sich im Spannungsfeld von Kooperation und Konkur- renz bewegen, faire und klare Regeln gelten. Darüber hinaus wäre es im Sinne der Transparenz si- cher ein guter Ansatz – und dazu haben wir Grünen ei- nen entsprechenden Vorschlag gemacht – die Zuwen- dung öffentlicher Mittel für Forschungsprojekte, insbesondere durch die Deutsche Forschungsgemein- schaft und den Bund, an die Bedingung zu knüpfen: In einer öffentlich zugänglichen zentralen Datenbank soll- ten das Forschungsprojekt, die Ziele und die Resultate in allgemeinverständlicher Form dargelegt und über den Umfang der Förderung und die beteiligten Wissenschaft- lerinnen, Wissenschaftler und Forschungseinrichtungen Auskunft gegeben werden. Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt zu spre- chen kommen, wo einiges durcheinandergeht: Es wird im Antrag der Linken der Eindruck erweckt, dass das Missverhältnis zwischen Grundfinanzierung und Dritt- mitteln an Hochschulen vor allem mit dem Hauptpro- blem steigender unternehmerischer Einflussnahme ein- hergehe. Der Großteil der von Hochschulen eingeworbe- nen Drittmittel stammt aber von der öffentlichen Hand. Hintergrund ist, dass in den letzten Jahren mit der Exzel- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21305 (A) (C) (D)(B) lenzinitiative und den Mittelaufwüchsen bei der Deut- schen Forschungsgemeinschaft, den Programmen des BMBF und des Bundes und den Forschungsrahmenpro- grammen der Europäischen Union die öffentliche Dritt- mittelfinanzierung der Hochschulforschung rasant zuge- nommen hat. Nun gibt es gute Gründe, das Missverhältnis zwi- schen steigendem Drittmittelanteil und stagnierender oder rückläufiger Grundfinanzierung der Hochschulen zu kritisieren und eine neue Balance einzufordern: Dritt- mittel sind eine sinnvolle Ergänzung zu Grundmitteln; aber sie taugen nicht dazu, die solide Finanzierung der Daueraufgaben in Forschung und Lehre zu ersetzen. Die Schieflage im Verhältnis zwischen staatlichen Grund- und Drittmitteln bekämpft man aber sicher nicht da- durch, dass man das Engagement privater Geldgeber an- greift. In Deutschland haben wir doch viel eher das Pro- blem, dass die Bereitschaft von Unternehmen und privaten Geldgebern, sich an der Finanzierung des Wis- senschaftssystems zu beteiligen, nach wie vor unterent- wickelt ist. Mich wundert, dass Sie wie auch die SPD in ihrem Antrag ein Thema ziemlich unterbelichtet lassen: Ich meine das Thema Nebentätigkeiten von Professorinnen und Professoren. Auch hier müssen Transparenz und Spielregeln gelten. Hier geht es nicht nur um den Um- fang und die Art der Nebentätigkeit, sondern auch um mögliche Interessenskonflikte. Auch hier sind die Hoch- schulen aufgefordert, Standards zu setzen und vor allem sicherzustellen, dass sie von den Professorinnen und Professoren akzeptiert und eingehalten werden. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in den Jahren 2009 und 2010 (Tagesordnungspunkt 15) Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Wir disku- tieren heute den Bericht der Bundesregierung über ihre Aktivitäten zur Pflege des Kulturguts der Vertriebenen und Flüchtlinge sowie zur Förderung der wissenschaftli- chen Forschung in den Jahren 2009 und 2010. Ange- sichts der Vertreibung vieler Millionen Landsleute haben sich Bund und Länder Anfang der 50er-Jahre geschwo- ren, Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa niemals vergessen zu machen. Dem Auftrag sah sich bis heute jede Bundesregierung in besonderem Maße verpflichtet. Das reiche kulturelle Erbe, das die Deutschen aus ih- rer jahrhundertelangen Geschichte im östlichen Europa mitbrachten, ist für unsere Kulturnation von außeror- dentlicher Bedeutung. In den ehemals deutsch geprägten Gebieten erwuchsen über die Jahrhunderte in schöpferi- schem Geiste deutsche Musik, Literatur, Philosophie, Baukunst und Malerei; auch Wissenschaft und For- schung waren an den Universitäten in unseren Nachbar- ländern angesiedelt. Durch diese unterschiedlichen Fa- cetten besitzt unser Vaterland heute einen einzigartigen kulturellen Reichtum, um den uns andere Länder benei- den. Das kulturelle Erbe im östlichen Europa zu bewahren, ist der vordringliche gesetzlich festgeschriebene Auftrag aus § 96 Bundesvertriebenengesetz. Diesen erfüllte die Bundesregierung auch 2009 und 2010 mit großer Tat- kraft. Wir Christdemokraten sehen uns in diesem Zu- sammenhang jedoch immer auch verpflichtet, an das Unrecht von Flucht und Vertreibung zu erinnern. Jüngere Menschen, deren eigenes Schicksal durch diese Ereignisse nicht geprägt wurde, sind sich kaum be- wusst, wie widrig die Umstände waren, unter denen das heutige Deutschland entstanden ist. Es lag nicht nur das ganze Land in Trümmern – eine Tatsache, die im Ge- schichtsunterricht noch weitgehend verdeutlicht wird – nein, die Gesellschaft war nach dem Krieg auch eine ganz andere als vorher: 14 Millionen Deutsche, die Jahr- hunderte im östlichen Europa gelebt hatten und nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben wurden, suchten eine neue Heimat; das war damals etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Als Folge des Krieges und der verständlichen Wut auf die Deutschen mussten sie über Nacht ihre Heimat in Ost- und Westpreußen, Danzig und Pommern, Ober- und Niederschlesien, dem Sudetenland, dem Banat und Siebenbürgen verlassen, 2 Millionen von ihnen kamen ums Leben, noch bevor sie ihre neue Heimat erreicht hatten. Die Überlebenden hat die Erinnerung an die erlittenen Grausamkeiten und die Trauer über den Verlust der Heimat ihr ganzes Leben lang gequält. Angesichts der Lebensleistung der Vertriebenen kann man nicht ohne Scham auf den öffentlichen Umgang mit ihrem Schicksal blicken, der über viele Jahrzehnte vor- herrschend war; denn allzu lange sind Flucht und Ver- treibung aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt worden; allzu lange war das Thema tabu. Nur zögerlich und erst allmählich wurde in den 1990er-Jahren die Mauer des Schweigens durchbrochen. Im Koalitionsver- trag von 2005 vereinbarten wir mit den Sozialdemokra- ten, im Geiste der Versöhnung ein „sichtbares Zeichen“ für das Unrecht von Vertreibung zu setzen. Bis zur Grün- dung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im Jahr 2008 war es somit ein langer und beschwerlicher Weg. Indem wir das Kulturerbe der Vertriebenen und Flüchtlinge, der Aussiedler und Spätaussiedler entde- cken und bewahren, gedenken wir somit immer auch ih- rer wechselvollen Geschichte. Das eine ohne das andere darzustellen wäre verkürzt und würde dem Schicksal der Menschen nicht gerecht. In den Jahren 2009 und 2010, um die es heute geht, unterstützte die Bundesregierung die Kulturarbeit der Vertriebenen mit 34 Millionen Euro. Dies sind 6 Millio- nen mehr als noch 2007 und 2008, wo die Mittel eben- falls schon aufgestockt worden waren. Dieser erfreuliche Trend zeigt: Die Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel betrachtet den Auftrag, Kultur und Ge- 21306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) schichte zu bewahren, nicht als bloße Verpflichtung, sondern sieht ihn als eine Herzensangelegenheit an. Warum ist uns das so wichtig? Nun, zunächst und vor allen Dingen, weil wir überzeugt sind, mit der Erinne- rung an Vertreibungen in der Vergangenheit mögliches Unrecht in der Zukunft zu verhindern. Ohne Gedenken und Versöhnung ist keine gemeinsame Zukunft in einem friedlichen Europa möglich. Erinnern wir uns daran, was nach fast 70 Jahren immer mehr in Vergessenheit gerät: Frieden zwischen den europäischen Völkern ist keine Selbstverständlichkeit. Verständigung und Aussöhnung innerhalb Europas setzen voraus, dass wir neben den Konflikten auch Verbindendes in unserer Geschichte su- chen. Bei der Förderung setzen wir daher den Schwer- punkt auf Erinnerung, Begegnung und kulturellen Aus- tausch. Die Vertriebenenorganisationen leisten hierzu mit guten Kontakten in ihre frühere Heimat ebenfalls un- ersetzliche Dienste. Kultur und Geschichte der Deut- schen im östlichen Europa stellen ein gemeinsames eu- ropäisches Erbe dar. Die Kulturarbeit wird so zu einem Brückenschlag zwischen denen, die fliehen mussten, und denen, die bleiben konnten. Ganz konkret etwas bewirken können wir, wo die Ge- fahr neuen Leids noch nicht gebannt ist. Ich denke be- sonders an die Staaten des ehemaligen Jugoslawien, wo ab dem 17. Jahrhundert die Donauschwaben lebten. In Serbien und den Nachbarländern schwelen noch immer ethnische Konflikte. Schlichtend tätig werden können wir am besten direkt vor Ort. Die Kulturreferenten, die wir im Jahr 2009 endlich dauerhaft einstellen konnten, spielen dabei eine wichtige Rolle. Vor Ort fördern sie zi- vilgesellschaftliche Einrichtungen und kulturelle Bil- dungsprojekte, die für das friedliche Zusammenleben der Mehrheitsbevölkerungen mit ihren Minderheiten eintreten. Die Bundesregierung verfolgt bei der Kulturförde- rung seit einigen Jahren einen neuen Ansatz. „Gemein- same Geschichtsschreibung“ oder auch „Erinnerungs- kultur“ sind die Stichworte. Bevor wir in eine gemeinsame Zukunft schauen können, sollten wir unsere Sicht auf die Vergangenheit teilen. Hierfür ist gemein- same Forschung unerlässlich. Lange bestand keine Ei- nigkeit über die historischen Fakten; jedes Land ver- folgte seine eigene Wahrheitsfindung. Aus diesem Grund unterstützt die Bundesregierung nun vor allem Kooperationsprojekte zwischen deutschen Wissenschaft- lern und jenen der Nachbarländer. Gemeinsame For- schungsprojekte, Wanderausstellungen etwa oder Ju- gendbegegnungen, tragen zu einem geteilten und gemeinsamen Geschichtsverständnis bei. Das große Ziel sind Schulbücher, die die gleichen Inhalte vermitteln. Wir sind zudem stolz darauf, dass von uns unter- stützte Institute Lehrveranstaltungen an zahlreichen aus- ländischen Universitäten abhalten. Vor allem aber för- dern wir den akademischen Nachwuchs mit der Finanzierung von Tagungen zum wissenschaftlichen Austausch, Stipendien und Juniorprofessuren. Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an Ge- schichte. Deshalb ist Geschichtsforschung selbst dann nicht abgeschlossen, wenn wir glauben, alles zu wissen. Ein weiterer großer Teil der Förderung kommt den Museen zugute. Das Interesse am deutschen Kulturerbe im Osten beschränkt sich schon längst nicht mehr auf die Betroffenen und deren Nachkommen. Die Neugier wächst sowohl bei uns als auch in den Nachbarländern. Immer drängender wird die Aufzeichnung von Zeitzeu- genberichten, da diese Erinnerungen ebenso bedeutend wie vergänglich sind, weil immer weniger Menschen den nachfolgenden Generationen von eigenen Erlebnis- sen berichten können werden. Kultur und Geschichte der deutschen Minderheiten und vor allem auch Flucht und Vertreibung werden in den Schulen nur untergeordnet behandelt. Dies ist ein beklagenswerter Mangel, und auch gerade aus diesem Grund müssen Museen als Lern- orte vor allem für junge Menschen ausgestattet werden. Die Erinnerung wachzuhalten, ist auch das oberste Ziel der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. De- ren Arbeit unterstützt der Bund mit jährlich 2,5 Millio- nen Euro. Heute steht fest, wie das neue Ausstellungsge- bäude für Flucht und Vertreibung aussehen soll. Das „Deutschlandhaus“ hier in Berlin wird umgebaut und ar- chitektonisch mit der „Topographie des Terrors“ verbun- den. Die Dokumentation der NS-Schreckensherrschaft wird damit durch die Erinnerung an ihre schrecklichen Konsequenzen ergänzt. Mit den Zuwendungen werden bereits heute Stücke für die Dauerausstellung ange- schafft. Auf der Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, die dieser Tage stattfindet, zeigt die Stiftung zu- dem persönliche Erinnerungsstücke, die viele von ihrer Flucht gespendet haben. Für all diese und viele weitere Aspekte von Ge- schichte, Kultur und Wissenschaft stand die unionsge- führte Bundesregierung in den Jahren 2009 und 2010. Mit dem Vorsatz, das deutsche Kulturerbe im östlichen Europa zu entdecken und zu bewahren, nehmen wir Ver- antwortung an: Verantwortung gegenüber unseren Nach- barn, dass wir das Vermächtnis unserer Vorfahren nicht einfach verkommen lassen, und Verantwortung gegen- über denjenigen Mitgliedern unserer Gesellschaft, die ihre Heimat schmerzlich verloren haben und sich hier so bescheiden wie erfolgreich eingegliedert haben Kultur und Geschichte von 14 Millionen Deutschen dürfen nie- mals in Vergessenheit geraten. Sie sind Teil der Ge- schichte unseres Landes. Dazu stehen wir gerade auch heute. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Osten gibt es viel Neues zu vermelden. Ich meine aber nicht die von vielen Experten für unmöglich gehaltene Rochade zwischen Präsident und Ministerpräsident in Russland oder die politischen Entwicklungen in der Ukraine, deren künf- tige Ausrichtung die Zukunft Europas weit mehr prägen wird als die gegenwärtige westeuropäische Schulden- krise. Ich meine den bemerkenswerten Wandel in Mittel- und Osteuropa, welchen der aktuelle Bericht der Bun- desregierung zur Kulturförderung nach § 96 Bundesver- triebenengesetz, BVFG, dokumentiert, zu dem unsere Fraktion diese Debatte im Deutschen Bundestag initiiert hat. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21307 (A) (C) (D)(B) Denn in den letzten Jahren, so konstatiert die Bundes- regierung treffend, habe sich die Perspektive auf Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa we- sentlich verändert, und zwar zum Positiven. Ich zitiere: Dies hat zu einer – wieder – stärkeren und auch vielschichtigeren Wahrnehmung der ehemals deut- schen oder von Deutschen besiedelten Gebiete im östlichen Europa geführt. Heute geht das Interesse weit über die sogenannte Erlebnisgeneration und über die Familien der Vertriebenen hinaus. Neue Fragen an die Geschichte und eine neue Offenheit für die vielfältigen Aspekte des deutschen Kulturer- bes in den einschlägigen Regionen des östlichen Europas prägen den Diskurs, der in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und dabei wie selbst- verständlich keineswegs auf Deutschland be- schränkt ist, sondern sich im europäischen und grenzüberschreitenden Dialog entfaltet. Wer hätte gedacht, wie der Ausblick des Berichts fest- hält, dass die wachsende Bedeutung regionaler Identitä- ten, die heute in vielen Ländern zu konstatieren sei, zu einer „ganz neuen Bewertung des deutschen Kulturer- bes“ führe. Zitat; „Was einst ideologisch entzweite, wird zunehmend als verbindendes Merkmal in einem Europa der Regionen verstanden.“ Vielleicht ist es noch zu früh, die Wiederentdeckung der Kultur und Geschichte der Deutschen im Osten Europas in diesem Hohen Haus auszurufen, die jahrhun- dertelang schaffensreich und friedlich gewirkt hat, wo- ran endlich anzuknüpfen wäre; aber wir sind auf einem guten Weg dorthin. Bund und Länder haben sich be- kanntlich in § 96 BVFG dazu verpflichtet, das Kulturgut der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu prä- sentieren und zu erforschen. Dabei geht es um histori- sche Regionen und Siedlungsgebiete wie Schlesien, Ost- und Westpreußen, Siebenbürgen oder das Banat, in de- nen früher Deutsche gelebt haben und zum Teil noch heute ansässig sind. Beim diesjährigen Heimattag der Siebenbürger Sachsen gibt übrigens der in Kronstadt ge- borene Rocksänger Peter Maffay ein Benefizkonzert, dessen Erlöse für den Wiederaufbau der Kirchenburg Radeln sowie für den dortigen Bau eines Kindererho- lungsheims verwendet werden. Es kann daher nicht oft genug betont werden, dass dieses historische Erbe Teil der Kultur aller Deutschen und für uns als Kulturnation von bleibender Bedeutung ist. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass nicht alle Fraktionen im Deutschen Bundestag das wohl so sehen. Wie sonst ist die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen im letzten Jahr, Drucksache 17/5991, zu verste- hen, in der scheinheilig auf die deutlichen Kürzungen der Kulturförderung nach § 96 BVFG „um die Jahrtau- sendwende“ – also unter rot-grüner Bundesregierung – verwiesen und kritisiert wird, seit 2005 „jedoch wachsen die Ausgaben in diesem Bereich wieder“? Es stimmt, die jetzige Bundesregierung hingegen nimmt die Verantwortung für den Erhalt und die Pflege des deutschen Erbes im östlichen Europa als ein nach wie vor wichtiges kulturpolitisches Handlungsfeld ernst und hat dafür gesorgt, dass die Förderung seit der Regie- rungsübernahme von circa 12 Millionen Euro schritt- weise auf knapp 17 Millionen Euro im Bundeshaushalt 2012 erhöht wurde. Auf dem diesjährigen Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen hat die Bundeskanzlerin erklärt, wie wich- tig es sei, dieses Erbe zu erforschen und jungen Men- schen zu vermitteln. Sie unterstrich dabei die Bedeutung der Kulturförderung, wovon zum Beispiel der Ausbau von Landesmuseen zeuge. Zu den geförderten Einrichtungen gehören neben der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin die regionalen Museen wie etwa das Pommersche Landes- museum in Greifswald oder das Schlesisches Museum zu Görlitz sowie die Wissenschaftszentren wie das Her- der-Institut in Marburg oder die Martin-Opitz-Bibliothek in Herne. Die vertriebenenpolitische Gruppe der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion hat es sich in dieser Legislatur- periode zur Aufgabe gemacht, sämtliche Einrichtungen zu besuchen und eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, da teilweise bereits jetzt Modernisierungsbedarf erkenn- bar ist. Aus der Vielzahl der laufenden Maßnahmen will ich nur einige nennen. So wird jetzt das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg baulich um eine Baltische Abteilung erweitert und dadurch auch die Dauerausstel- lung ergänzt und modernisiert. Das Westpreußische Lan- desmuseum in Münster zieht in diesem Jahr an einen neuen Standort um, wo ebenfalls die Dauerausstellung bis zur Wiedereröffnung 2013 überarbeitet werden soll. Das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deut- schen im östlichen Europa, BKGEj, hat schon 2008 ein großes Projekt gestartet, das die vollständige Erfassung und Präsentation aller in Deutschland bestehenden Hei- matsammlungen vorsieht. Zudem ist eine begleitende Gesamtdarstellung der circa 500 Sammlungen vorgese- hen. Das Amt des Bundesbeauftragten für Kultur und Me- dien, BKM, hat zusammen mit dem BKGE ein mit 800 000 Euro dotiertes Akademisches Förderprogramm ins Leben gerufen, um neues Interesse zu wecken und die Thematik an den deutschen Universitäten nachhaltig zu verankern. Nicht zuletzt hat die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Anfang dieses Jahres mit dem erfolgreichen Abschluss des Architektenwettbe- werbs für den Umbau des Deutschlandhauses ein wichti- ges Etappenziel erreicht. Realisiert werden soll ein am- bitionierter Entwurf der österreichischen Architekten Bernhard und Stefan Marte, eine überzeugende Arbeit, die sich nicht nur in der Berliner Museumslandschaft se- hen lassen kann. Einerseits wird dem Charakter des his- torischen Gebäudes und dem Denkmalschutz Rechnung getragen, indem die Fassaden an der Stresemannstraße und Anhalter Straße erhalten bleiben. Andererseits er- möglicht der Entwurf im Gebäudekern den Neubau eines zeitgenössischen Museums, welches der geplanten Dau- erausstellung großzügigen Raum gibt. Zudem zeigt die Bundesstiftung in diesen Tagen in ei- ner ersten Ausstellung die eindrücklichen Ergebnisse ei- nes Sammlungsaufrufs nach persönlichen Erinnerungs- 21308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) stücken an Flucht, Vertreibung und Heimatverlust. Nach nur sechswöchigem Sammlungsaufruf – als erstem Test- durchlauf – gingen bei der Stiftung etwa 100 Exponate ein, darunter einige sehr wertvolle Objekte, die der Stif- tung dauerhaft zur Verfügung gestellt wurden und von rund 30 Familienschicksalen erzählen. Dabei handelt es sich um einmalige Zeitdokumente wie der Armbinde mit aufgenähtem Buchstaben vom Juni 1945, die alle Sude- tendeutschen bis zu ihrer Vertreibung tragen mussten, oder original erhaltenes Fluchtgepäck. Die Bundesstiftung ist – und daran halten wir unbeirrt fest – eines der wesentlichen Projekte für unsere natio- nale Identität, in der das millionenfache Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen, die historischen Hinter- gründe von Flucht und Vertreibung sowie deren europäi- sche Dimensionen dokumentiert werden soll. Wir wer- den uns deshalb weiter für den konsequenten Ausbau der Bundesstiftung mit voller Kraft einsetzen. Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Weil Bundesre- gierungen keine Klientelpolitik betreiben sollten, haben wir im Jahr 2000, damals in rot-grüner Regierungsver- antwortung, bei der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesver- triebenengesetz einen Paradigmenwechsel vollzogen: Die Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa muss seitdem eine brei- tere Öffentlichkeit berücksichtigen und im Geiste des Austausches und der Verständigung erfolgen! Auf keinen Fall wollten und wollen wir hermetische „Parallelwelten“ und zweifelhafte, revisionistische Ge- schichtsbilder institutionell verfestigen. Denn nicht Ver- drängung ist der richtige Weg, sondern eine gemeinsame historische Vergewisserung, die erst aus dem gemeinsa- men Blick von Deutschen, Polen, Tschechen und ande- ren auf die Traditionen in ehemals deutschen Kultur- landschaften entstehen kann. Konkret haben wir im Jahr 2000 deshalb auf eine Öff- nung und die Professionalisierung der Kulturarbeit ge- mäß § 96 Bundesvertriebenengesetz gedrungen und um- fassende Umstrukturierungen vorgenommen. Der vorliegende Bericht zeigt für die Jahre 2009 und 2010, wie richtig unsere Konzeption und wie notwendig der Kurswechsel war. Museen und Kulturarbeit müssen ihre Präsentationen und Projekte im Kontext aktueller museologischer und wissenschaftlicher Diskurse planen. Zeitgemäße Metho- den und Medien sind bei der Vermittlung einzusetzen. Die Angebote haben sich an ein breiteres Publikum zu richten. Ebenso wichtig ist die Bildung professioneller, inter- nationaler Netzwerke. Museen und Kulturarbeit müssen in ständigem Dialog mit jenen osteuropäischen Nach- barn stehen, auf deren Länder und Regionen die jeweili- gen Darstellungen von Kultur, Geschichte und Erinne- rung Bezug nehmen. Hier hat sich – und es freut mich, dass der Bericht dies bestätigt – das Instrument der Stif- tungsprofessur bewährt. Es ist dieser Dialog zwischen Wissenschaftlern, Studenten und einer interessierten Öf- fentlichkeit aus Deutschland und den Ländern Mittelost- europas, der zu echter Verständigung fuhren kann. Nur gemeinsam lässt sich die Zukunft Europas friedlich ge- stalten. Besonders ist deshalb auch der Jugendaustausch wei- ter zu fördern. Persönliche Beziehungen sind von un- schätzbarem Wert. Die Programme müssen sich aller- dings noch stärker als bisher in den Kontext der gesamteuropäischen Entwicklung einfügen. Hier sind die notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Der Be- richt deutet dies in seinem Ausblick an. Mein Fazit: Unsere Neujustierung der Kulturarbeit nach dem Bundesvertriebenengesetz hat sich bewährt und wird – auch dies macht der Bericht deutlich – von Schwarz-Gelb nicht infrage gestellt. So kann ich nur begrüßen, dass es Herrn Neumann gelungen ist, die unter Rot-Grün eingeführten Stellen der Kulturreferenten zu entfristen. Das hilft nicht nur den Referenten, sondern ist ein richtiges Signal: eine Aner- kennung der großen Bedeutung der Jugendarbeit. Denn auch hier liegt der Bericht richtig – Zitat – „Es sind keineswegs allein die Vertriebenen und Flüchtlinge, die Aussiedler und Spätaussiedler, die sich für ihre frü- here Heimat interessieren und zahlreiche Brücken zu den heute dort lebenden Menschen gebaut haben. In Deutschland und seinen Nachbarländern sind inzwi- schen neue Generationen herangewachsen, die sich mit dem deutschen Kulturerbe im östliche Europa auseinan- dersetzen.“ Die Strukturen der Kulturforderung gemäß § 96 Bun- desvertriebenengesetz sind inzwischen also zukunftsfä- hig – doch gilt das auch für die Politik, die Inhalte der Koalition? Zweifel sind angebracht, beispielsweise wenn wir uns die Errichtung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöh- nung ins Gedächtnis rufen, die im Dezember 2008 als unselbstständige Stiftung unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums gegründet wurde. Ich muss nicht alle die Streitigkeiten bei der Beset- zung der Gremien wiederholen – doch sind die rück- wärtsgewandten, populistischen Äußerungen, Maßnah- men und Wünsche aus den Reihen der CDU, die bis heute das große Projekt der Aussöhnung und Versöh- nung mit unseren östlichen Nachbarn immer wieder er- schweren, nicht nur mir in schlechter Erinnerung. Des- halb appelliere ich an CDU/CSU: Nehmen Sie den vorgelegten Bericht ernst und handeln Sie danach. Revi- sionismus ist nicht zukunftsweisend! Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Flucht und Ver- treibung sind traurige und tragische Kapitel der deut- schen und europäischen Geschichte. In Ost- und Mittel- europa wurden in den vergangenen 100 Jahren Millionen von Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben, darunter mindestens 12 Millionen Deutsche. Sie wurden so ihrer Heimat beraubt, deren Kulturerbe sie zum Teil über Jahrhunderte mitgestaltet hatten. Heute finden sich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21309 (A) (C) (D)(B) Orte wie die Marienburg im früheren Ostpreußen oder die Friedenskirchen in Niederschlesien auf der Liste der Weltkulturerbestätten. Dennoch bleiben sie auch Teil un- seres kulturellen Erbes, selbst wenn sie nicht mehr inner- halb der Grenzen Deutschlands liegen. Die Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist ein zentraler As- pekt unserer Erinnerungskultur. Das Leid der Vertriebenen und ihr kulturelles Erbe in Osteuropa darf und wird niemals vergessen werden. Es ist die Aufgabe von Gesellschaft und Politik, diesen Teil der deutschen und der europäischen Geschichte in all seinen Facetten aufzuarbeiten und für künftige Genera- tionen in Erinnerung zu halten. Vor allem die konkreten Schicksale sind ergreifend: Menschen, die pauschal Op- fer von Vertreibung wurden, haben einen Anspruch da- rauf, dass ihr Leben und Leid gewürdigt wird. Dabei ver- gessen wir nicht: Die Ursache des Vertreibungsunrechts liegt beim menschenfeindlichen NS-Regime. Ohne den Krieg Hitlers hätte es auch keine Vertreibungen von Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa gegeben. Indes beobachten wir heute, dass sich auch jüngere Generationen mit den deutschen Wurzeln in Osteuropa auseinandersetzen. Es existiert ein großes Interesse für diesen Teil der deutschen Geschichte, und zwar über die Zeitzeugengeneration und die Nachkommen der Vertrie- benen hinaus. Wir fördern diese erfreuliche Entwicklung durch unsere Maßnahmen im Rahmen des Bundesver- triebenengesetzes. Unser Engagement in dieser Frage spiegelt sich in harten Zahlen: Nach den massiven Kür- zungen durch die rot-grüne Bundesregierung hat Schwarz-Gelb die Förderung konsolidiert. Standen 2005 noch 12 Millionen Euro jährlich zur Verfügung, sind es heute rund 17 Millionen Euro. Allein 2011 haben wir die Mittel um 5,3 Prozent erhöht. Wichtig ist dabei, dass die geförderte Kulturarbeit nicht allein zu einer Aufgabe von Forschern, Restaurato- ren und Museumsdirektoren wird. So bedeutend die Be- wahrung und wissenschaftliche Erforschung der Kultur der Vertriebenen ist, sie darf sich nicht auf die Museali- sierung des Vergangenen beschränken. Ein Schwerpunkt muss auch auf gegenseitigem Austausch, Vermittlungs- und Versöhnungsarbeit liegen. Längst ist heute ein Groß- teil der Vertreibungsgebiete Teil der Europäischen Union geworden. Staatliche Grenzen trennen uns nicht länger, sie verbinden. Dadurch ergeben sich großartige Mög- lichkeiten der Verständigung. Junge Deutsche fahren auf Bildungsreisen gen Osten, in die böhmischen Gebiete, nach Krakau, Danzig oder Tilsit. Hautnah lernen sie so die weitverzweigten Wur- zeln unserer Geschichte und Kultur kennen. Ganze Schulen kooperieren länderübergreifend, beispielsweise in Theaterprojekten. Nicht zuletzt kommen auch viele osteuropäische Studenten für einen Studienaufenthalt nach Deutschland. Über Stipendienprogramme und Sommerakademien bringen wir junge Menschen zusam- men. In vielen Fällen wird all dies aus Mitteln des Bun- desvertriebenengesetzes finanziert. Dadurch fördern wir auch den sich wandelnden Zeit- geist der jüngeren Generation in Osteuropa. Dort gibt es ein neues und frisches Interesse an der Geschichte und der engen Beziehung dieser Länder zu Deutschland. Viele junge Osteuropäer haben das Kulturerbe der einst dort lebenden Deutschen positiv angenommen, es ist ein Teil ihrer Lebenswelt geworden. Durch Dialog, gegen- seitige Neugier und Austausch mit den osteuropäischen Nachbarn entwickelt sich so ein neuer und versöhnender Umgang mit der gemeinsamen Geschichte. Über den Erinnerungs- und Versöhnungsaspekt hi- naus haben diese Aktivitäten im Rahmen des Bundesver- triebenengesetz weitere positive Effekte. Durch unsere Maßnahmen begeistern wir junge, qualifizierte Men- schen in Osteuropa für unsere Kultur und machen Deutschland attraktiv. Genau diese Menschen müssen wir erreichen, da wir durch demografischen Wandel und Fachkräftemangel zunehmend auf ausländische Hoch- qualifizierte angewiesen sind. Auch in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik wollen wir uns aus diesem Grund noch stärker auf Osteuropa konzentrieren. Nach jahrelanger Vernachlässigung durch die Vorgängerregie- rungen investiert Schwarz-Gelb verstärkt an dieser Stelle. Selbstredend widmet sich aber nicht nur die neue Ge- neration dem deutschen Kulturerbe in Osteuropa. Sehr wichtig ist auch die verständigungspolitische Arbeit der Vertriebenen und ihrer Nachkommen. Wer könnte besser zum gegenseitigen Kennenlernen zwischen Deutschen und Polen, Tschechen oder Rumänen beitragen als die Vertriebenen? Der Bund der Vertriebenen leistet dafür einen entscheidenden Beitrag – ebenso wie zur Erinne- rung an Flucht und Vertreibung. Dafür gebühren ihm un- ser Dank und unsere Anerkennung. Von diesem Engage- ment profitieren nicht nur unser Zusammenleben im Alltag und der europäische Verständigungsprozess, son- dern davon lebt auch unsere Demokratie. Dem Bund der Vertriebenen geht es dabei nicht da- rum, zu verklären oder die deutsche Geschichte zu relati- vieren. Gerade die Partei Die Linke wirft dies immer wieder vor. Dabei sind sie selbst Weltmeister darin, Ge- schichte zu verdrehen. Die SED und ihre Nachfolgepar- tei verklärten nach der Wende die Geschichte des DDR- Unrechtsstaates. So etwas haben die Vertrieben nicht ge- tan. Nicht zuletzt ist und bleibt Vertreibung auch ein ak- tuelles Thema. Die Konflikte im ehemaligen Jugosla- wien Ende der 90er-Jahre oder in der sudanesischen Re- gion Darfur sind nur zwei Beispiele dafür. Deswegen ist es wichtig, Flucht und Vertreibung nicht nur zu erinnern, sondern auch offen zu thematisieren und urteilsfähig zu bleiben. Dazu gehört es auch, die Schrecken der Vertrei- bung und das Schicksal der Millionen Flüchtlinge ein- dringlich zu schildern, um sie der breiten Öffentlichkeit erfahrbar zu machen. Gerade die Aktivitäten der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung leisten an dieser Stelle Wertvolles. Es ist ein Hauptanliegen der Stiftung, Ver- treibungen als politisches Instrument und Menschen- rechtsverletzung zu jeder Zeit und an jedem Ort zu äch- ten. Gerade die Deutschen tragen als Täter und Opfer von Vertreibungen besondere Verantwortung. Wir müs- 21310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) sen das Bewusstsein, dass Vertreibung unrecht ist, bei jungen Menschen aufrechterhalten. Deutschland ist da- für auf einem guten Weg. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Im Ein- gangstext des Berichts der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes für 2009 und 2010 heißt es: „Jede Generation entwickelt ihre eigenen Sichtwei- sen auf die Geschichte und stellt deshalb jeweils neue Fragen an die Vergangenheit.“ Wohl wahr. Aber wird diesem Grundsatz auch die gegenwärtige Kulturarbeit Deutschlands im östlichen Europa gerecht? Mir scheint, das ist nicht der Fall – trotz vieler Beschwörungen des „Miteinanders verschiedener Kulturen“, der „verbinden- den Funktion“ eines gemeinsamen kulturellen Erbes und seinen Möglichkeiten, als „Brücke“ zwischen den Völ- kern zu dienen. Diesen schön klingenden Beschwörungen zum Trotz beschreibt der Bericht eine Kulturförderung immer noch im Geist der deutschen Vertriebenenorgani- sationen. So heißt es im Kapitel 2 „Struktur der Bundesförde- rung“: „Gemäß § 96 BVFG haben Bund und Länder das Kulturgut der historischen deutschen Ost- und Sied- lungsgebiete im Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten.“ Welche Rangfolge wird hier nach wie vor festgeschrieben? Müsste es nicht ganz und gar umgekehrt heißen: erstens im Bewusstsein des ge- samten deutschen Volkes, zweitens des Auslandes und drittens der Vertriebenen und Flüchtlinge? Das gilt ge- rade dann, wenn man die europäische Dimension dieser Kulturförderung in den Mittelpunkt stellen will und die kulturelle Vielfalt. Mit Verlaub: Es geht um eine Aufgabe des Bundes und der Länder, also des gesamten deutschen Volkes, ausgerichtet auf das östliche Europa, also das Ausland. Diese beiden übergreifenden Kriterien müssen heutzu- tage Grundlage der Förderung der Kulturarbeit sein – und nicht an erster Stelle und damit vorrangig das „Be- wusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge“. Aber sowohl strukturell als auch praktisch geht es um Förderung der Vertriebenenverbände und ihre Sicht auf Geschichte und Kultur. Da heißt es im Bericht über die seit 2009 festangestellten Kulturreferentinnen und Kul- turreferenten, die in den Museen Ulm, Lüneburg, Gun- delsheim, Münster, Greifswald und Görlitz arbeiten: „Mit einem eigenen Förderetat unterstützen sie geeig- nete Projekte Dritter insbesondere aus dem Vertriebe- nenbereich.“ Und hier ist nicht von ein paar Tausend Euro die Rede: 2009 und 2010 stellte der Bund für die Arbeit der Kulturreferenten 847 000 bzw. 824 000 Euro zur Verfügung. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass die Kulturreferenten mit rund 447 000 Euro zusätzlich zu ei- genen Vorhaben insgesamt 196 externe Projekte förder- ten. Davon entfielen 144 Projektzuwendungen auf die Landsmannschaften und andere Organisationen der deutschen Heimatvertriebenen. So geht das praktisch mit den Vertriebenenprojekten immer weiter. Weswegen ja ein ganzes Kapitel des Be- richts überschrieben ist: „Erinnerung an Flucht und Ver- treibung wachhalten“. – Und da ist nach wie vor kein Wort über die millionenfache Vertreibung der Juden, Osteuropäer und Sinti und Roma, sondern es geht vor- rangig um die Deutschen. Wobei wir auf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver- söhnung“ hingewiesen werden als „zukunftsweisenden Beitrag“ dafür, dass Vertreibungen als Mittel der Politik nachhaltig geächtet werden“. Dafür wollen wir uns ganz und gar einsetzen – in der Tat! Allerdings muss, wer dies wirklich will, als erstes den Krieg ächten; denn er war und ist der Auslöser des Vertreibungselends, überall auf der Welt. Über die Arbeit der Stiftung erfahren wir wenig in diesem Bericht – außer dass sie sich auf einem guten Weg befindet. Dabei ist noch immer alles beim Alten: Arnold Tölg und Hartmut Saenger sind nach wie vor für den Bund der Vertriebenen als stellvertretende Mitglie- der im Stiftungsrat. Der Zentralrat der Juden lässt des- wegen bis heute seine Mitgliedschaft im Stiftungsrat ru- hen. Im Beirat ist immer noch kein Mitglied der Sinti und Roma vertreten. Von all dem und den öffentlichen Auseinandersetzungen hierüber findet sich kein Wort im Bericht. Wie wäre es endlich mit der Gründung und Finanzie- rung von multinationalen Stiftungen zur Förderung von Kultur und Wissenschaft in multiethnischen Regionen Europas? Wir haben dies schon 2007 in unserem Son- dervotum zum Enquete-Bericht „Kultur in Deutschland“ gefordert. Mit 16 Millionen Euro Förderung nach § 96 BVFG ließe sich bestimmt viel ermöglichen – kulturelle Förderung des gegenwärtigen Miteinanders in Verant- wortung vor der Geschichte. Vielleicht finden wir einen solchen Posten unter den Aktiva des nächsten Regie- rungsberichts. Grundsätzlich ist zu fragen, ob eine Kulturförderung nach dem § 96 des Bundesvertriebenengesetzes noch zeitgemäß ist. Zum Zeitpunkt des Entstehens des Bun- desvertriebenengesetzes im Jahr 1953 ging es um die In- tegration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebe- nen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Heute aber geht es darum, das kulturelle Erbe der deutschsprachigen Flüchtlinge und Vertriebenen als Teil der europäischen kulturellen Vielfalt auch für spätere Generationen zu bewahren. Hier ist es an der Zeit für ei- nen Perspektivenwechsel. Es ist auch an der Zeit, die bisher gesondert geförderten Einrichtungen nach und nach in vorhandene Institutionen und damit in die „nor- male“ Kulturförderung zu integrieren. Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der Bericht der Bundesregierung ist am zentralen Punkt ein Dokument des Schönredens und Verdrängens. Er verdrängt eine der schärfsten kulturpolitischen Kon- troversen, die es in den letzten Jahren im Bundestag – und auch darüber hinaus – gegeben hat, eine Kontro- verse, die im Zeitraum 2009 und 2010, über den die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21311 (A) (C) (D)(B) Bundesregierung berichtet, hohe Wellen schlug und die weiter für Unruhe sorgt und längst nicht abgeschlossen ist, nämlich die Kontroverse um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Zwar erwähnt der Bericht den Zweck der Stiftung, nämlich „im Geiste der Versöh- nung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten“, aber mit keinem Wort geht er darauf ein, wie diesem Zweck Hohn gesprochen worden ist. Die Gesetzesnovelle von 2010, die den Stiftungsrat aufblähte, wird damit gerechtfertigt, dass die Stiftung so der „Komplexität der Aufgabenstellung“ besser gerecht werden sollte. Aber jeder weiß doch, dass es um einen faulen Deal der Bundesregierung mit Spitzenfunktionä- ren und ganz persönlich mit der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Frau Steinbach, ging. Für einen Ver- zicht von Frau Steinbach auf einen Stiftungsratssitz bot man dem Bund der Vertriebenen drei zusätzliche Sitze an. Das war der Kern des Deals, der mit der Gesetzes- novelle besiegelt wurde. Die Zeitungen im Berichtszeit- raum sind voll vom Streit um diesen Vorgang, den Kanz- lerin Merkel monatelang schwelen ließ und der die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern be- lastete. Kein Wort darüber im Bericht der Bundesregie- rung, auch darüber nicht, dass mit der Gesetzesnovelle eine Art Blockwahlsystem für die Stiftungsratssitze ein- geführt wurde, das dem Bundestag keine wirkliche Aus- wahlmöglichkeit gibt. Wir haben dieses Auswahlverfahren scharf kritisiert. Und unsere Befürchtungen waren nur zu berechtigt. Denn mit Arnold Tölg und Hartmut Saenger gelangten Vertriebenenfunktionäre in den Stiftungsrat, die sich ge- gen die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter des NS-Regimes ausgesprochen bzw. Polen die Verant- wortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu- geschoben hatten. Der ebenfalls in den Stiftungsrat ge- wählte Vertriebenenfunktionär Stephan Grigat hatte eine Reise durch Ostpreußen als „Reise in ein besetztes Land“ bezeichnet. Das sind Äußerungen und Positionen, die dem Versöhnungszweck der Stiftung diametral ent- gegenlaufen. Dennoch sind die drei Vertreter weiter im Amt. Aufgrund der problematischen Vorgänge rund um die Stiftung verließen namhafte Wissenschaftler aus unseren östlichen Nachbarländern den wissenschaftlichen Beirat der Stiftung. Der Zentralrat der Juden lässt seine Mit- gliedschaft im Stiftungsrat seit September 2010 ruhen, und die Sinti und Roma sind dort nach wie vor nicht ver- treten. Auch darüber wird von der Bundesregierung nicht berichtet, genauso wenig wie über die Forderungen aus verschiedenen Fraktionen, die Bundesmittel für die Stiftung zu streichen und einen kompletten Neustart der Stiftung anzugehen, der dringend nötig ist, um den Stif- tungszweck der Versöhnung zu erfüllen. Ein Bericht, der es schafft, Vorgänge von einer sol- chen Tragweite schlicht auszusparen, ist mehr als man- gelhaft. Er zeugt davon, dass die Bundesregierung vor ihrer politischen Verantwortung davonläuft und sich ihr nicht stellt. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine grundle- gende Reform der Pflegeversicherung – Nutzer- orientiert, solidarisch, zukunftsfest (Tagesord- nungspunkt 16) Willi Zylajew (CDU/CSU): Vor zwei Wochen, ge- nauer gesagt am 26. April, fand die erste Lesung des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes statt. Die Debatte, ins- besondere die Redebeiträge des Ministers und der Mit- glieder der christlich-liberalen Koalition haben gezeigt, wohin die Reise geht. Wir werden das Spektrum an Leistungen für die pfle- gebedürftigen Menschen und deren Angehörige in unse- rem Land deutlich ausweiten, insbesondere demenziell erkrankte Frauen und Männer werden eine deutliche Besserstellung ihrer Situation erfahren. Wir werden da- für sorgen, dass Menschen so lange wie möglich in ih- rem häuslichen Umfeld bleiben können. Wir stärken die pflegenden Angehörigen, zum Beispiel durch eine bes- sere rentenrechtliche Absicherung der Pflegeleistung. Des Weiteren verbessern wir die ärztliche Versorgung von pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrich- tungen. Kurzum, das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist eine zuverlässige Weiterentwicklung der Blüm’schen Pflegeversicherung und gibt die richtigen Antworten auf die Herausforderungen der demografischen Entwick- lung. Um die Leistungen nachhaltig zu finanzieren, erhö- hen wir den Beitragssatz um 0,1 Prozent. Damit bleiben die Sozialabgaben unter 40 Prozent. Das ist derzeitig verkraftbar, schont den Geldbeutel der Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer und sichert Arbeitsplätze. Aber vor allem sorgen wir für eine verlässliche Finanzierung der Leistungen. Nun zum Antrag der Grünen. Er stellt eine grundle- gende Reform der Pflegeversicherung in Aussicht, die nutzerorientiert, solidarisch und zukunftsfest sein soll. Die inhaltliche Richtung ist einerseits begrüßenswert, andererseits ist es doch etwas verwunderlich, woher auf einmal der Tatendrang kommt. Es wäre besser gewesen, in der Zeit von 1998 bis 2005, also als die Grünen in der Regierungsverantwortung waren, die Energien in die Er- arbeitung von konkreten Gesetzen zu lenken. Aber was ist damals passiert? Nichts, kein Gesetz, keine Initiativen zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Jetzt liegt zwar ein Antrag mit einer bedenkenswerten Leis- tungserweiterung vor. Doch bei genauer Befassung er- weisen sich viele Forderungen des Antrages als un- konkret, überholt und gehen an den tatsächlichen Gegebenheiten vorbei. So wird beispielsweise die Weiterentwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes gefordert. Es ist bekannt, dass wir ebenfalls eine Weiterentwicklung wollen. Der 21312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) frühere Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeits- begriffes hat bereits wichtige Vorarbeiten geleistet. Fakt ist aber auch, dass eine Umsetzung der Vorschläge der- zeit nicht möglich ist, da noch zahlreiche Fachfragen detailliert zu klären sind. Fragen Sie den Kollegen Wolfgang Zöller, wie intensiv zurzeit im Fachgremium beraten wird – detailgetreu, lösungsorientiert, aber auch kontrovers aus Sicht der verschiedenen Experten. Es darf nicht unser Anspruch sein, Dinge einfach um- zusetzen. Unser Anspruch muss sein, sie richtig umzu- setzen. Daher ist es ein Gebot der Vernunft, die offenen Fragen in aller Sachlichkeit und Ruhe zu klären, damit ein neuer Pflegebegriff auch in der Praxis Bestand haben kann. Und auch wenn es bis zur Umsetzung noch einige Zeit dauern wird, lassen wir die Menschen in der Zwi- schenzeit nicht alleine. Bis ein konkreter Zeitplan fest- steht, sieht das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz höhere Leistungen für Menschen mit demenziellen Erkrankun- gen ab Januar 2013 vor. Denn es ist klar, dass diese Men- schen, die unbestreitbar einen höheren Betreuungsauf- wand haben, unsere besondere Unterstützung brauchen. Insbesondere in der Pflegestufe 0, aber auch in den Pfle- gestufen I und II wird es zusätzliche Leistungen geben. Für die Demenzkranken, aber auch für deren Angehö- rige, bedeutet dies eine spürbare Verbesserung. Sie kön- nen so eine bessere Betreuung sicherstellen und sich ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, auch mal ein paar Stunden Zeit nur für sich nehmen. Die Betreuung von Demenzkranken ist eine Herausforderung, die phy- sisch und psychisch an den Kräften zerrt. Jeder, der schon einmal in solch einer Situation war, weiß, wie wertvoll auch nur kleine Auszeiten sind. Der Antrag der Grünen fordert weiterhin bessere Wohn- und Versorgungsangebote im Sinne des Grund- satzes „ambulant vor stationär“ als auch zielgerichtete Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Angehöriger. Auch in diesen Bereichen sieht das Pflege-Neuausrich- tungs-Gesetz zahlreiche Verbesserungen vor. Mit der Stärkung neuer Wohnformen greifen wir ein Anliegen von vielen älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf, die möglichst lange selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben wollen. Wir untermauern die- sen Wunsch mit drei konkreten Ansätzen. Erstens stär- ken wir den gezielten Einsatz von Einzelpflegekräften, die für die Organisation und Sicherstellung der Pflege sorgen. Zweitens wollen wir einen Zuschlag gewähren für die Organisation von Wohngruppen. Und drittens werden wir ein zeitlich befristetes Initiativprogramm auflegen, mit dem zum Beispiel erforderliche altersge- rechte oder barrierearme Umbaumaßnahmen gefördert werden können. Pflegende Angehörige sind besonderen Belastungen ausgesetzt. Deshalb sind Rehabilitation und Vorsorge be- sonders wichtig. Im Rahmen der bestehenden Regeln unterstreichen wir den Anspruch pflegender Angehöri- ger auf Vorsorge und Rehamaßnahmen. Hervorzuheben ist, dass wir es pflegenden Angehörigen künftig ermögli- chen, Rehamaßnahmen in solchen Einrichtungen in An- spruch zu nehmen, die zugleich auch die Pflege und Be- treuung des zu Pflegenden gewährleisten. Denn genau die Abwesenheit und das Unwissen, wie es dem Pflege- bedürftigen geht während man sich in einer mehrwöchi- gen Behandlung weg von zu Hause befindet, sind oft- mals Gründe, die pflegende Angehörige davon abhalten, eine Rehamaßnahme in Anspruch zu nehmen. Mit der hälftigen Weiterzahlung des Pflegegeldes bei Leistungen der Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege schaffen wir Anreize, dass sich pflegende Angehörige auch einmal Urlaub nehmen, ohne finanzielle Einbußen zu haben. Eine weitere große Errungenschaft im Pflege-Neu- ausrichtungs-Gesetz ist die bessere rentenrechtliche Be- rücksichtigung bei der Pflege mehrerer Pflegebedürfti- ger. Sie wissen, Rentenversicherungsbeiträge werden derzeit nur dann entrichtet, wenn der jeweilige Pfle- gende mindestens 14 Stunden in der Woche pflegerische Tätigkeit leistet. Sind es auch nur 30 Minuten weniger, erhält man bislang keine Verbesserung seiner Alterssi- cherung. Nunmehr ist es möglich, den zeitlichen Auf- wand, den man für die Pflege benötigt, zusammenzu- rechnen und somit bei der Rente berücksichtigen zu lassen. Diese Maßnahmen sind große Zeichen der Wertschät- zung für die Arbeit der pflegenden Angehörigen. Wir sorgen für echte Verbesserungen, die bei den Menschen ankommen und die sie im Alltag spüren. Eine Frage hat sich mir beim Lesen des Antrags der Grünen immer wieder gestellt: Warum auf einmal dieser große Tatendrang? Es hat den Anschein, als seien die Grünen nur in der Opposition fähig, sich ernsthaft mit dem Thema Pflege zu befassen. Ich muss mich leider wiederholen: Während der Regierungszeit von Rot-Grün ist in diesem Bereich nichts, aber auch gar nichts pas- siert. Die CDU hingegen ist ein verlässlicher Partner für die pflegebedürftigen Frauen und Männer in unserem Land. Wir haben unter Norbert Blüm die Pflegeversiche- rung eingeführt, wir haben sie mit dem Pflege-Weiter- entwicklungsgesetz 2008 entscheidend vorangetrieben. Ich denke hier insbesondere an die Einführung von Be- treuungskräften für demenziell Erkrankte in stationären Pflegeeinrichtungen und die Erhöhung der Betreuungs- zuschläge für Demenzkranke in ambulanter Betreuung. Und auch in dieser Legislaturperiode sorgen wir für eine verlässliche Weiterentwicklung der Strukturen. Die Grünen hingegen produzieren wohlklingende Worthülsen, aber sobald sie in der Verantwortung sind, platzen diese wie Seifenblasen. Ein weiterer Beleg für diese Strategie ist übrigens auch das Handeln der Grünen in den Bundesländern. Da, wo Grüne in den Landesre- gierungen sind, ist das Thema Pflege für sie kein Thema von besonderer Bedeutung. An den Taten kann man je- denfalls nichts Bemerkenswertes erkennen. Noch ein paar Anmerkungen zum Thema Bürgerver- sicherung. Trotz des verlässlichen Engagements der Kol- legin Scharfenberg, die sich seit Jahren mit ihrem Sach- verstand in die Beratungen einbringt und auch aus der Opposition heraus wichtige Denkanstöße liefert, ist in Sachen Bürgerversicherung leider kein Umdenken zu bemerken. Fakt ist: Die Finanzierung der Pflegeversi- cherung auf ein Bürgerversicherungsmodell umzustel- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21313 (A) (C) (D)(B) len, führt nicht zu einer Entlastung. Kurzfristig träumen die Grünen von mehr Beitragszahlern und mehr Geld. Demgegenüber stehen aber auch mehr Leistungsempfän- ger. Langfristig wäre also bei einer Bürgerversicherung nichts gewonnen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Antrag der Grünen keine nachhaltige Grundlage für eine nähere Befassung bietet. Die christlich-liberale Koalition hinge- gen hat mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ein vielfältiges Maßnahmenpaket erarbeitet, mit dem die Herausforderungen, die sich uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stellen werden, angegangen werden können. Darauf können sich die Menschen, aber auch die Leistungserbringer und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ihrer guten und wichtigen Arbeit verlas- sen. Wir sorgen dafür, dass die pflegebedürftigen Men- schen ein Leben in Würde führen können, dass den be- sonderen Bedürfnissen an Demenz erkrankter Menschen besser entsprochen wird und dass pflegende Angehörige und Familien besser unterstützt werden. Hilde Mattheis (SPD): Im vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung – Nutzerorientiert, solida- risch, zukunftsfest“ werden richtige Aspekte angespro- chen, jedoch detaillierte Ausführungen nicht geleistet. Vieles bleibt offen, und viele Punkte für ein Gesamtkon- zept fehlen. In vielen Punkten stimmen wir – die SPD – mit Ihnen überein. Alle acht von Ihnen eingebrachten Punkte sind richtig. Was fehlt – und das betone ich noch einmal – ist eine inhaltliche Ausformulierung der einzel- nen Forderungen. Ein Antrag mit acht knappen Punkten auf nur zwei Seiten kann kein ganzheitliches Konzept zur Reform der Pflegeversicherung sein. Uns eint als Opposition die Kritik am sogenannten Pflege-Neuausrichtungsgesetz der Regierung. Wir sind uns einig, dass der vorliegende Gesetzentwurf der Re- gierung die drängenden Probleme in der Pflege nicht löst. Wir alle wollen die Umsetzung des neuen Pflegebe- dürftigkeitsbegriffs. Da stehen wir mit der gesamten Fachwelt auf einer Seite. Der aktuelle, zu stark soma- tisch ausgerichtete Pflegebedürftigkeitsbegriff wird ins- besondere den Bedürfnissen von Menschen mit einge- schränkter Alltagskompetenz nicht ausreichend gerecht. Mit der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und dem damit verbundenen neuen Begutachtungsverfahren wollen wir weg von der „Minutenpflege“ und hin zu Teilhabe und Selbstbestimmung. Die Berichte des Bei- rats liegen seit mehreren Jahren vor. Einer politischen Umsetzung stünde nichts im Wege. Im hier vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird in Punkt 3 die Problematik der Schnittstel- len zwischen SGB XI, SGB IX und SGB XII aufgegrif- fen. Auch ich sehe diese Problematik. Es ist allerdings nicht detailliert ausgeführt, wie sie gelöst werden soll. Darüber müssen wir sprechen und zusammen mit den Ländern eine Lösung suchen. Auch die Stärkung der Pflegeberatung, die in Punkt vier aufgeführt ist, kann ich nur unterstützen. Auch dieser Punkt ist jedoch im Antrag nicht ausreichend ausgeführt. Wir haben damals im Pflege-Weiterentwicklungs- gesetz die Pflegestützpunkte verankert und damit eine wohnortnahe Beratung und Versorgung Hilfsbedürftiger „aus einer Hand“ gewährleistet. Diese Angebotsstruktu- ren sind für die Entlastung, Betreuung und Versorgung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen extrem wichtig und müssen ausgebaut werden. Notwendig ist eine niedrigschwellige Beratung, die auch aufsuchend ist. Wir brauchen eine Pflege-Infrastruktur, die einen möglichst langen Verbleib in der eigenen Häuslichkeit ermöglicht. Eine Pflege der Zukunft bedeutet Pflege im Quartier und in der Kommune. Die Begleitung und Un- terstützung der pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen braucht eine umfassende, sozialräumliche und integrierte Sozialplanung, die nur auf örtlicher Ebene erfüllt werden kann. In den Kommunen müssen die Alltagsinfrastruktur, die Unterstützungsinfrastruktur vor und bei Pflegebedürftigkeit und die Infrastruktur zur Stärkung der Selbsthilfepotenziale ausgebaut werden. Was darüber hinaus im Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen fehlt, ist ein Finanzierungskonzept. Der Ver- weis auf eine Bürgerversicherung ist hier nicht ausrei- chend. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen, in den Grundsätzen sind wir uns ei- nig. Als SPD gehen wir in unserem Positionspapier, das auch noch als Antrag von uns eingebracht wird, detail- lierter auf die Anforderungen einer umfassenden Pflege- reform ein. Wir bieten ein Gesamtkonzept: Wir wollen die Situation Pflegebedürftiger durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs verbessern, wir wol- len Pflegepersonen durch eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf entlasten, wir wollen eine Aufwertung des Pflegeberufs unter anderem durch die Reform der Ausbildung, wir wollen eine Stärkung der Rehabilitation und Prävention, und wir wollen die Kommunen beim Aufbau der Pflegeinfrastruktur unterstützen. Dies alles wollen wir mit einer solidarischen Bürgerversicherung finanzieren. Uns allen muss klar sein: Gute Pflege muss uns etwas wert sein. Ich freue mich auf den gemeinsamen Austausch mit Ihnen und bin sicher, dass wir gemeinsam ein gutes Kon- zept hinbekommen. Mechthild Rawert (SPD): Pflege ist und bleibt das große gesellschaftliche Thema, an dem sich entscheidet, wie solidarisch wir miteinander leben, wie würdevolles Altern ohne Angst davor, pflegebedürftig zu werden, für alle Bevölkerungsgruppen und nicht nur für die Besser- verdienen möglich ist. Wir brauchen dazu auch eine nachhaltige, eine solidarische Finanzierung, wir brau- chen die solidarische Bürgerversicherung. Pflege geht uns alle an. Das von Bundesgesundheits- minister Daniel Bahr am 26. April 2012 eingebrachte Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz reicht bei weitem nicht 21314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) aus. Es richtet nichts neu aus, sondern ist ein Spiel auf Zeit. Sie können es vielleicht nicht mehr hören; richtig bleibt das Argument trotzdem: Für die Einbringung ei- nes Gesetzes zur Mehrwertsteuererleichterung für Hote- liers hat die CDU/CSU/FDP-Regierung im Jahr 2009 ganze 12 Tage gebraucht. Für die Vorlage eines Gesetzes für die Pflege hat Schwarz-Gelb dagegen mit Heulen und Zähneklappern, mit gegenseitigen Beschimpfungen sage und schreibe fast drei Jahre gebraucht. Wir alle wissen es: Ein neuer Pflegebedürftigkeitsbe- griff ist nötig. Dieser scheitert daran, dass sich CDU/ CSU und FDP nicht auf eine adäquate Finanzierung eini- gen können, sondern mutlos vor sich hin dilettieren, und das, obwohl die sehr guten Vorarbeiten des Pflegebeirats schon zum Anfang ihrer Regierungszeit 2009 vorlagen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich zum Thema Pflegereform schon klar positioniert und begrüßt deshalb prinzipiell die Intention des hier heute in erster Lesung eingeführten Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen. In der in der nächsten Sitzungswoche stattfindenden Anhörung zum Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz der Bun- desregierung wird sich zeigen, dass die Lösung der Pro- bleme in der Pflege mit den Vorstellungen der Bundesre- gierung nicht gelingen kann. Um eine würdevolle Pflege in selbstgewählter, in häuslicher Umgebung in Zukunft gewährleisten zu können, sind vielmehr grundlegende Weichenstellungen nötig. Einige davon hat meine Kolle- gin Hilde Mattheis in ihrer Rede bereits benannt. Ich möchte noch zwei Punkte hinzufügen. Erstens. Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege stär- ken: Wir müssen endlich der sogenannten Sandwich-Ge- neration wirksam unter die Arme greifen. Wir wollen den Frauen und Männern, die voll im Beruf stehen, für die Ausbildung der Kinder sorgen und gleichzeitig die Pflege ihrer Eltern managen, wirksame und den Alltag auch lebbar machende Rechte geben. Wir wissen, dass sich viele dieser Mittvierziger, Mittfünfziger wegen un- zureichenden Regelungen zur Vereinbarkeit von familiä- rer Situation und Beruf häufig alleingelassen fühlen. Im- mer mehr fühlen sich von den Belastungen ausgezehrt. Die SPD möchte hier ansetzen: Wir wollen Angehöri- gen Hilfen bei plötzlich eintretender Pflegebedürftigkeit an die Hand geben. Dazu sollen Angehörige analog zum Kinderkrankengeld bei plötzlich eintretender Pflegebe- dürftigkeit einen Rechtsanspruch auf Lohnersatzleistung erhalten. Mit diesem Rechtsanspruch auf Lohnersatzleis- tung unterstützt, sollen sie die bis zu zehn Tage beste- hende Freistellungsmöglichkeit nach dem Pflegezeitge- setz für privates Pflegemanagement beanspruchen können. Das Familienpflegezeitgesetz der Regierung Merkel verbessert die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht nachhaltig. Es gibt keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Familienpflegezeit, keinen Kündigungsschutz, noch wird der Anspruch auf alle Betriebe unabhängig von ei- ner bestimmten Arbeitnehmerzahl ausgeweitet. Wir wollen das Pflegezeitgesetz, das den Anspruch auf eine sechsmonatige Freistellung beinhaltet, weiter- entwickeln. Dazu wollen wir das Modell eines flexibel handhabbaren Zeitbudgets für Angehörige von pflegebe- dürftigen Menschen einführen. Unser Ziel ist dabei, dass mehr Frauen und Männer sich die Verantwortung für Sorgearbeit gleichberechtigt aufteilen. Zweitens. Maßnahmen gegen den Personalmangel in der Pflege: Neben besseren Arbeitsbedingungen und ne- ben einer besseren Vergütung gehört für mich in erster Linie auch die Reform der Ausbildungen in der Pflege zu den wichtigsten Maßnahmen. Nur mit einer verbes- serten bundeseinheitlichen Ausbildung werden wir mehr junge Menschen in dieses Berufsfeld bekommen und langfristig dort auch halten. Pflege ist ein zukunftsorien- tiertes Berufsfeld, die Ausbildungsstrukturen sind daher zu modernisieren. Wir wollen als SPD-Bundestagsfraktion daher: Im In- teresse der jungen Menschen und der überall hohen An- forderungen im Berufsfeld Pflege soll nur noch ein Be- rufsabschluss am Ende der gemeinsamen Ausbildung stehen. Wir wollen eine generalistische Ausbildung von Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege mit einer da- ran anschließenden weiterführenden Spezialisierung. Die Ausbildung in der Alten-, Kranken- und Kinder- krankenpflege muss künftig gebührenfrei sein. Das von Auszubildenden selbst zu tragende Schulgeld muss ab- geschafft werden. Nicht ausbildende Einrichtungen sind künftig an der Finanzierung der Ausbildung und Ausbildungsvergü- tung über einen Fonds zu beteiligen. Einen Wettbe- werbsvorteil von nicht ausbildenden Unternehmen ge- genüber Ausbildungsbetrieben darf es auch angesichts der notwendigen Fachkräftesicherung im gesamten Be- reich nicht geben. Da Umschulungsmaßnahmen in der Pflege immer wichtiger werden, ist zur Förderung des dritten Ausbil- dungsjahres für die berufliche Weiterbildung in der Al- ten- und Krankenpflege mit den Bundesländern eine nachhaltige Grundlage für die Finanzierung zu erarbei- ten. Die Förderung durch die Bundesagentur soll nach unserem Willen bis 2013 verlängert werden. Die Bildungslandschaft Pflege muss grundlegend re- formiert werden. Wir wollen horizontale und vertikale Durchlässigkeit, wollen „Kein Abschluss ohne An- schluss“. Berufserfahrenen Pflegehilfskräften mit Eig- nung zur Pflegefachkraft müssen Bildungswege zur Weiterqualifizierung eröffnet werden, auch sie sollen Aufstiegsmöglichkeiten garantiert bekommen. Die Richtlinie zur Heilkundeübertragung muss von den gesetzlichen Krankenkassen und Leistungserbrin- gern schnell in die Praxis umgesetzt werden. Pflegefach- kräfte müssen Weiterbildungsmöglichkeiten zur Aus- übung der in der Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten erhalten. Und wir wollen weiterhin: Es muss in der Pflegebran- che leistungsgerechter bezahlt werden. Die Lohnunter- schiede in Ost und West müssen beendet werden. Die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21315 (A) (C) (D)(B) Tarifpartner sind aufgefordert, hier einen flächendecken- den Tarifvertrag für eine bessere Bezahlung umzusetzen. Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Ich halte diese Bundesregierung für sehr schwach bei der Moder- nisierung der Pflege, und dabei brennt es uns allen unter den Nägeln. Mir macht aber Mut, dass es die vielen guten Bei- spiele aus der Pflege gibt, die zeigen, dass unser Pflege- nachwuchs willens ist, die Anforderungen der Pflege in der Zukunft zu meistern. Ansporn sind mir die vielen Menschen in der Pflege selbst, die sich mit viel Kompetenz und Engagement für die Pflegebedürftigen – und wir alle können von einem Moment zum anderen dazugehören – einsetzen. Ich danke deshalb allen Engagierten in der Pflege, in der Pflegeausbildung für ihr tagtägliches Engagement, für ihre Vorbildfunktion. Unsere Gesellschaft des länge- ren Lebens braucht Sie alle als „Mutmacher“ und „An- packer“. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Der vorlie- gende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt eine Reihe von Notwendigkeiten auf, die die christlich- liberale Koalition mit dem Pflege-Neuausrichtungs- Gesetz bereits angegangen hat. Es ist sehr erfreulich, dass es offenbar einen Konsens darüber gibt, dass die Pflegebedürftigkeit insbesondere im Hinblick auf De- menzerkrankungen neu definiert werden muss. Bei der Fragestellung sind wir uns also im Grunde einig, doch bei den Antworten kommen wir nicht auf einen Nenner. Während Sie immer nur fordern und sich in überbor- dender Lyrik ergehen, handeln wir – und das ganz konkret. Schon im Vorgriff auf eine Neudefinition des Pflegebe- dürftigkeitsbegriffs wird es konkrete Leistungsverbesse- rungen für Demenzkranke geben. Uns ist bewusst, dass Demenzkranke bislang zu wenig Leistungen erhalten, die sie aber dringend benötigen. Daher wird es schon ab dem 1. Januar 2013 mehr Geld gaben, und das schon ab Pflegestufe 0. Erstmals erhält man in der Pflegestufe 0 50 Prozent der Leistungen der Pflegestufe 1. In Zahlen: 225 Euro für Sachleistungen oder 120 Euro Betreuungs- geld. Auch in der Pflegestufe 1 gibt es mehr Leistungen als die bestehenden Angebote von 100 bzw. 200 Euro: 554 Euro für Sachleistungen oder 305 Euro für Betreu- ungsleistungen. In Pflegestufe 2 gibt es dann auch noch mal ein Drittel der Pflegestufe 3: 1 250 Euro für Sach- leistungen oder 525 Euro Betreuungsgeld. Das sind ganz konkrete Mehrleistungen, die die Men- schen besserstellen. Das ist immer mehr wert als umfas- sende Ankündigungen! Hinzu kommt, dass wir das Leistungsrecht flexibili- sieren. Das ist dringend notwendig, weil wir von der Minutenpflege wegkommen wollen. Zukünftig wird es möglich sein, statt starrer Leistungskomplexe auch Zeit- kontingente zur Versorgung und Betreuung eines Pflege- bedürftigen abzurufen. Damit werden wir nicht nur den tatsächlichen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen selbst gerecht, sondern entlasten auch die pflegenden Angehö- rigen. Denn sie sind es, die in den meisten Fällen den eigenen Alltag und den der Pflegebedürftigen organisie- ren und bewältigen müssen. Wir setzen auf Wahlfreiheit und Flexibilisierung und stärken damit ganz konkret den ambulanten Sektor, auch deshalb, weil der Großteil der Menschen in der eigenen Häuslichkeit und von vertrauten Menschen gepflegt wer- den möchte. Zusätzlich stärken wir alternative Wohnfor- men wie zum Beispiel Pflege-WG, in denen auf ganz in- dividuelle Wünsche eingegangen werden kann. Das Wichtigste an unserer Reform ist, dass wir ganz konkret handeln und dass alle Maßnahmen auch seriös finanziert sind. Im Gegensatz zum Schaufensterantrag der Grünen steht unser Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz auf einem soliden Fundament. Wenn man nur einzelne Punkte Ihres Antrags heraus- greift, zum Beispiel den rechtsverbindlichen Anspruch auf eine dreimonatige Pflegezeit bei vollem Lohnaus- gleich und natürlich voll aus Steuermitteln finanziert, dann hört sich das schön an, ist aber in der Realität schlicht nicht umsetzbar. Denn: Die einzige Antwort auf die Frage der Finanzierbarkeit Ihres ausufernden Wunschkonzerts ist die eierlegende Wollmilchsau der Bürgerversicherung. Die Bürgerversicherung scheint Ihre Universalant- wort auf alle Herausforderungen in den sozialen Siche- rungssystemen zu sein. Selbst wenn wir dieses unsinnige Konstrukt einführen würden, könnten wir diese Mehr- einnahmen auch nur einmal ausgeben. Sie indes geben jeden Euro mehrfach aus. Das ist unseriös und unverant- wortlich. Sie gaukeln den Menschen vor: Wir nehmen ein bisschen Geld von den Reichen und entwickeln uns damit immer mehr in Richtung Pflegevollkaskoversiche- rung. Sie stellen in den Raum, eine Überführung der priva- ten Pflegversicherung in eine Bürgerversicherung ginge problemlos und von heute auf morgen. Damit offenbaren Sie ein zweifelhaftes Verständnis von Eigentumsrechten. Ich empfehle Ihnen daher einen Blick ins Grundgesetz in den Art. 14. Solange wir dieses Grundgesetz haben, wer- den auch die Grünen nicht so mir nichts dir nichts die Leute enteignen können. Eingedenk dieser Tatsachen steht Ihr gesamter Wunschkatalog auf tönernen Füßen und lässt sich daher nicht seriös umsetzen. Die christlich-liberale Koalition bringt die Neuaus- richtung der Pflege auf den Weg. Wir arbeiten intensiv an der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, werden diesen sorgsam und verlässlich umsetzen und keine Schnellschüsse machen. Unser Konzept ist kohärent, bedarfsorientiert und rea- listisch, und es hilft den Pflegebedürftigen und ihren An- gehörigen konkret weiter. Wir verzichten auf leere Ver- sprechungen und Worthülsen. Zugleich sorgen wir für eine Finanzierung, die weder die Beitragszahler noch die Lohnnebenkosten zu sehr belastet. 21316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Das ist seriöse und lösungsorientierte Politik und nicht ein Wunschkonzert, wie Sie es mit Ihrem Antrag vortragen. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Der Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen greift – wie auch der bereits im Verfahren befindliche Antrag der Fraktion Die Linke im Bundestag „Pflege tatsächlich neu ausrichten – Ein Leben in Würde ermöglichen“, Bundestagsdrucksache 17/9393 – ein entscheidendes Problem auf: Eine grundlegende und umfassende Re- form der Pflegeversicherung ist längst überfällig. Die Pflegeversicherung ist zu einem wichtigen Bestandteil des Systems sozialer Sicherung geworden. Doch das Fundament der Pflegeversicherung trägt seit langem nicht mehr. Wackelig war das Konstrukt Pflegeversiche- rung von Anfang an, denn bereits mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurde bewusst eine Fehlkon- struktion in Kauf genommen. Von Anfang an bestimm- ten Kostengründe das Leistungsspektrum. Deshalb soll- ten lediglich körperliche Gebrechen bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt werden. Die Folge: Insbesondere Menschen mit erheblicher einge- schränkter Alltagskompetenz werden noch heute in der Pflegeversicherung strukturell benachteiligt. Das sind beispielsweise Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Die schwarz-gelbe Bundesregierung vermag es mit ihrem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz nicht, genau die- ses Problem anzugehen. Im Gegenteil: Die Bundesregie- rung scheitert an der Aufgabe, eine grundlegende Re- form der Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen. Die Bezeichnung Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist vermessen. Eine Neuausrichtung der Pflege wird es mit diesem Gesetz nicht geben. Zwar sind vereinzelt zusätz- liche Leistungen unter anderem für Menschen, die auf- grund einer demenziellen Erkrankung auf Hilfe und Be- treuung angewiesen sind, vorgesehen. Doch es bleibt Stückwerk. Gerade weil nur vereinzelte und minimale Verbesserungen geplant sind und sich nichts strukturell an der Ausrichtung der Pflegeversicherung ändert, fällt das Urteil zu diesem pflegepolitischen Fehlgriff von al- len Seiten verheerend aus. Es ist breiter Konsens, dass wir ein neues Verständnis von Pflege in der Pflegeversicherung verankern müssen. Dafür liegt bereits seit gut drei Jahren der neue Pflegebe- griff vor. Der hierzu seinerzeit vorgelegte Vorschlag des Beirats der Bundesregierung zur Überprüfung des Pfle- gebedürftigkeitsbegriffs ist geeignet, endlich die entwür- digende „Minutenpflege“ zu beenden und Selbstbestim- mung und Teilhabe zum Leitbild der Pflegeversicherung zu machen. Der Beirat hat bereits 2009 ein neues Begut- achtungsinstrument vorgelegt, und das bisherige starre Pflegestufenmodell könnte längst durch neue und zielge- nauere Bedarfsgrade abgelöst werden. Doch die Bundes- regierung scheut eine politische Entscheidung zur Um- setzung des neuen Pflegebegriffs. Vielmehr versteckt sie sich hinter einem neu berufenen Beirat. Schlimmer noch: Die Bundesregierung ist überhaupt nicht bereit, sich auf einen finanziellen Rahmen für ei- nen neuen Pflegebegriff festzulegen. Da muss die Frage erlaubt sein, wie ernst es der Bundesregierung mit der Umsetzung des neuen Pflegebegriffs eigentlich ist. Wir wissen, dass sogar einige Mitglieder des neu berufenen Beirats Bauchschmerzen haben und nicht ernsthaft an eine Umsetzung noch in dieser Legislatur glauben. Die Linke ist überzeugt: Ohne eine Festlegung auf ei- nen Finanzrahmen kann eine sachgerechte Umsetzung des neuen Pflegebegriffs niemals gelingen. Und ich warne eindringlich davor, den neuen Pflegebegriff dazu zu missbrauchen, die Leistung der Pflegeversicherung mit einem „Pflegebegriff light“ zwar in ein neues Ge- wand zu hüllen, aber im Verborgenen Leistungskürzun- gen zu forcieren bzw. aus Kostengründen in Kauf zu nehmen. Womit zwangsläufig ein weiterer ernstzuneh- mender Konstruktionsfehler der Pflegeversicherung nur allzu offensichtlich wird: Die Pflegeversicherung ist in ihrer Konstruktion als Teilkaskoversicherung chronisch unterfinanziert. Die Linke hat zur Überwindung der Teil- kostendeckung konkrete Vorschläge vorgelegt, während die Bundesregierung einerseits eine Beitragserhöhung ins Gesetz schreibt und andererseits mit der Aussicht auf eine freiwillige Pflegezusatzversicherung – einer Art Pflege-Riester – die bewährte Umlagefinanzierung der Pflegeversicherung in Richtung Kapitaldeckung abwi- ckeln will. Beides ist – so wie vorgesehen – ungerecht. Beitragserhöhungen sind falsch, solange sie auf der Grundlage einer unsolidarischen Finanzierung beruhen. Denn einerseits ist die Trennung zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung ungerecht, und andererseits ist nicht mehr begründbar, dass andere Einkommensar- ten, wie beispielsweise Kapital-, Miet- und Pachterträge, bei den Pflegeversicherungsbeiträgen keine Berücksich- tigung finden. Die freiwillige kapitalgedeckte Pflegezusatzversiche- rung ist ein Irrweg. Das ist offensichtlich angesichts der dunklen Wolken der Finanzkrise, die noch immer be- drohlich am Himmel stehen. Das Geld der Menschen ist in einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversiche- rung besser aufgehoben, als bei der Finanzindustrie, die es als Zubrot für ihr unsicheres Geschäft gebrauchen will. Die Linke hat dazu eine klare Meinung: Pflege taugt nicht zur Geschäftemacherei, unter welchem Aspekt auch immer. Deshalb ist es mir auch unverständlich, wa- rum Bündnis 90/Die Grünen ernsthaft daran festhalten, unter den Bedingungen ihrer Bürgerversicherung private Versicherungsunternehmen einbinden zu wollen. Das wird nicht funktionieren, wenn man ernsthaft an einer solidarischen Finanzierung der Pflegeversicherung inte- ressiert ist. Wissenschaftlich belegt ist, dass mit der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Linken der Beitragssatz in der Pflegeversicherung trotz Leistungs- verbesserungen dauerhaft unter 2 Prozent gehalten wer- den könnte. Damit könnte die finanzielle Grundlage für eine tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversicherung geschaffen werden. Gelingen wird das aber nur, wenn als Sofortmaßnahme der Realwertverlust der Pflegeversi- cherung vollständig ausgeglichen wird und die Sachleis- tungsbeträge um weitere 25 Prozent erhöht werden. An- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21317 (A) (C) (D)(B) sonsten fliegen uns die Probleme in der Pflege sehr bald um die Ohren; das prophezeie nicht nur ich. Perspektivisch – und das sage ich, weil Gesundheits- minister Bahr immer wieder das Gegenteil behauptet – müssen sich die Leistungen am individuellen Bedarf der Menschen orientieren. Das Teilkaskosystem der Pflege- versicherung muss zur Disposition gestellt werden. An- sonsten werden die vielschichtigen Probleme in der Pflege langfristig nicht behoben, sei es nun die miserable Bezahlung des Pflegepersonals, die persönliche und fi- nanzielle Überforderung der Angehörigen und Ehren- amtlichen und die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs hin zum tatsächlichen Bedarf der Menschen. Gute Pflege ist ein Menschenrecht. Es liegt in unserer Verantwortung, dafür endlich den Stein des Anstoßes ins Rollen zu bringen. Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf zur Pfle- geneuausrichtung zeigt die Bundesregierung ihr Unver- ständnis für die Belange der Pflege. Zudem unterbleibt – anders als der Name vermuten lässt – eine grundstän- dige Neuorientierung. Das Pflege-Neuausrichtungs-Ge- setz verkommt zur Verbrauchertäuschung. Ein klarer Fall für die Rubrik Mogelpackungen der Zeitschrift der Stiftung Warentest. Dort werden Produkte angeprangert, deren Verpackung oder deren Aufdruck viel mehr Inhalt verspricht als tatsächlich drin ist. Wir fordern Sie deshalb auf, dass Sie in der Pflegere- form eine tatsächliche Neuorientierung vornehmen. Re- formieren Sie doch mal richtig! Nichts weniger als das ist notwendig. Das Korrigieren einzelner Sachverhalte kann man noch nicht als Reformprozess bezeichnen. Reformen ste- hen für eine größere, geplante und nachhaltige Umge- staltung bestehender Systeme. Was wir brauchen, ist eine Pflegeoffensive, die die strukturellen wie finanziellen Herausforderungen richtig anpackt. Das macht unser Antrag ganz deutlich. Sie da- gegen planen ein paar Verbesserungen, ohne dafür Sorge zu tragen, wie das in Zukunft finanziert werden soll – und das von einem FDP-geführten Ministerium. Da fällt man doch vom Glauben ab! Dass wir den Pflegebegriff einführen müssen, ist je- dem verständlich. Das benötigt Zeit – auch das ist rich- tig. Aber wir müssen uns doch zuerst klar darüber wer- den, was wir bereit sind zu bezahlen, damit an Demenz erkrankte Menschen endlich einen gesetzlich veranker- ten Rechtsanspruch auf Leistungen erhalten. Wir Grüne bekennen uns zu einem neuen Pflegebegriff und haben auch einen Finanzierungsvorschlag vorgelegt. Unsere grüne Pflege-Bürgerversicherung macht es möglich, die Pflege auch in Zukunft solidarisch zu finanzieren und die notwendige Leistungsausweitung durch einen Pfle- gebegriff vorzunehmen. Gleichzeitig müssen der Reformprozess der Pflege und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe har- monisiert werden. Sonst haben wir hier einen Verschie- bebahnhof. Ältere Menschen mit einer Behinderung werden von Einrichtungen der Eingliederungshilfe in Pflegeheime verfrachtet, und älteren Menschen mit Pfle- gebedarf wird die gesellschaftliche Teilhabe verweigert. Hier besteht Handlungsbedarf. Die Kommunen sind bei der Gestaltung der pflegeri- schen Zukunft wichtige Verbündete. Nur mit ihnen kann eine menschenwürdige Pflege und Lebensqualität bis zum Schluss ermöglicht werden. Doch dazu müssen wir die Akteure vor Ort wieder ernst nehmen und sie dazu befähigen, in Altenhilfe-, Sozial- und Stadtplanung zu investieren. Das geht weit über die häufig befristete Pro- jektförderung von örtlichen Initiativen hinaus. Seien wir doch mal ehrlich: Das sind doch alles nur Strohfeuer. Nach der meist zweijährigen Förderphase kann man doch keinen nachhaltigen Erfolg erwarten oder gar, dass sich gebildete Strukturen von allein tragen. Ein weiterer wichtiger Baustein in einer umfassenden Pflegereform betrifft die Unterstützung pflegender An- gehöriger – im Alltag, im Beruf, im Haushalt, aber auch bei der Organisation von Pflege, wenn sie weit weg wohnen und sich gar nicht um den Pflegebedürftigen kümmern können – und ebenso der professionell Pfle- genden. Hier können wir nicht genug investieren, um neue Ideen und Entlastungsangebote zu entwickeln. Wir nehmen die Pflegepolitik ernst, denken über den Tellerrand hinaus und weiter und setzen mit unserem Antrag ein starkes Signal. Die Pflege ist das Thema der Zukunft. Diese Tatsache wird von der Bundesregierung absolut verkannt, von uns Grünen nicht! Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Schutz der biologi- schen Vielfalt? Die Taxonomie in der Biologie stärken (Tagesordnungspunkt 17) Josef Göppel (CDU/CSU): Nur auf der Grundlage einer detaillierten Kenntnis der Vielfalt des Lebens lässt sich ebendiese Vielfalt wirksam schützen. Ich unter- stütze daher das Bemühen um eine verbesserte Ausstat- tung naturkundlicher Museen. Die Präsentation echter Lebewesen und Lebensvorgänge ist gerade in Zeiten der virtuellen Computerwelten wichtig. Nur durch greifbare Anschauung haben Kinder und Jugendliche die Gelegen- heit, ihr Auge an der Realität zu schulen. Die Taxonomie spielt in der Betrachtung der Fülle des Lebens eine wich- tige Rolle. Sie eröffnet uns die Möglichkeit, den Einzel- fall in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen und systematische Aussagen zu treffen. Die Taxonomie ist das Teilgebiet der Biologie, das die verwandtschaftli- chen Beziehungen von Lebewesen in einem hierarchi- schen System erfasst. Von daher ist der Gedanke, die biologische Vielfalt durch eine verbesserte Taxonomie zu stärken, richtig. 21318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Der Antrag der SPD beinhaltet folgende Forderun- gen: Erstens: Einigung mit den Bundesländern auf ein Konzept für eine bessere Ausstattung der naturkund- lichen Museen und Sammlungen; zweitens: Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Bereich Taxo- nomie; drittens: Etablierung eines Bundesforschungs- programms für biologische Taxonomie; viertens: bessere Darstellungsmöglichkeiten für naturkundliche Museen und Sammlungen; fünftens: Ausbau der Taxonomie im 8. EU-Forschungsrahmenprogramm; sechstens: Einsatz bei den internationalen Verhandlungen über die biologi- sche Vielfalt für eine Regelung des Zugangs zu geneti- schen Ressourcen und der gerechten Gewinnbeteiligung. Zum Zeitpunkt des Antrags fand gerade die 10. Ver- tragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt der CBD in Nagoya statt. Dort einigte man sich auf ein Protokoll zur Regelung des Zugangs zu genetischen Ressourcen und der gerechten Gewinnbeteiligung bei der Nutzung dieser Ressourcen. Damit besteht nun ein international rechtsverbindliches Instrument zur Verhinderung von Biopiraterie, das allen Beteiligten einen verlässlichen Rahmen bei der Nutzung genetischer Ressourcen gibt. Für Fälle, die nicht eindeutig im Rahmen des neuen In- struments geklärt werden können, wurde die Einrichtung eines multilateralen Fonds im Protokoll verankert. Im Bereich Taxonomie hat die Konferenz von Nagoya einen Beschluss zur globalen Taxonomieinitiative gefasst, der die Vertragsparteien zu einem stärkeren Kapazitätenauf- bau in der Taxonomie auffordert. Durch die Verhandlungsergebnisse in Nagoya ist die Forderung Nummer sechs des SPD-Antrags erfüllt. Der in Nagoya verabschiedete Beschluss zur globalen Taxo- nomieinitiative trägt den Anliegen des Antrags zur Stär- kung der Taxonomie umfassend Rechnung. In der Natio- nalen Strategie zur biologischen Vielfalt (Beschluss der Bundesregierung vom November 2007) sind die Themen „Taxonomie, Bedeutung naturkundlicher Museen und Sammlungen“ und „ABS“, Access and Benefit Sharing, aufgegriffen worden. Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, war als Anschub für die Nagoya-Konferenz ge- rechtfertigt. Heute sind seine Ziele großteils erfüllt. Ich halte es jetzt für viel wichtiger, das Nagoya-Ab- kommen durch den Deutschen Bundestag zu ratifizieren, und zwar vor der nächsten internationalen Konferenz in Hyderabad. Deutschland trug in Nagoya maßgeblich zum Ver- handlungserfolg bei. Nun müssen wir als Parlamentarier durch eine rasche Ratifizierung zeigen, dass wir hinter den vereinbarten Zielen stehen. Ewa Klamt (CDU/CSU): Die biologische Vielfalt ist die wertvollste Ressource unseres Planeten. Ihr Erhalt ist nicht nur ethisch-moralischer Anspruch unserer Politik, sondern wahrlich eine Existenzfrage. Trotzdem schreitet der Biodiversitätsverlust in alarmierendem Tempo vo- ran. Das Ziel der internationalen Gemeinschaft, das Ar- tensterben bis zum Jahr 2012 signifikant zu reduzieren, ist weit verfehlt worden. Hier müssen wir dringend nachsteuern! Die laufende UN-Dekade zur biologischen Vielfalt, die die Vereinten Nationen bis 2020 ausgerufen haben, trägt entscheidend dazu bei, dass die Biodiversi- tät zunehmend in den Fokus von Politik und Gesellschaft rückt. Die Antragsteller haben selbst in der Debatte im Aus- schuss dargestellt, dass das Hauptanliegen ihres Antrags darin besteht, den Schutz der biologischen Vielfalt zu si- chern. In diesem Anliegen sind wir uns grundsätzlich ei- nig. Die Stärkung der Taxonomie kann dabei wichtige Impulse setzen. Die Beschreibung neuer Arten und de- ren Einordnung in ein natürliches System aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen sind unverzichtbarer Bestandteil der Biodiversitätsforschung. Es können nur Arten beforscht werden, die man auch kennt. Und hier gibt es noch viel zu tun. Schätzungen zufolge ist erst ein Zehntel aller Arten überhaupt bekannt. Allerdings halten wir, die CDU/CSU-Fraktion, für den Erhalt der Biodiversität einen breiteren, mehrere Fachdisziplinen umfassenden strategisch angelegten Förderansatz für zielführender. Und es ist ja keineswegs so, als würde im Bereich der Taxonomie nichts getan: Die Taxonomie wird national wie international mit etwa 15 Millionen Euro bzw. 20 Millionen Euro gefördert. Damit wird dieser Bereich bereits stärker gefördert als andere Teildisziplinen der Biodiversitätsforschung. Neben den bereits in den zurückliegenden Debatten aufgezeigten Initiativen wie das mit dem 2 Milliarden Euro geförderten Forschungsrahmenprogramm „For- schung für nachhaltige Entwicklung“ haben Bundesfor- schungsministerium und Bundesumweltministerium im Dezember letzten Jahres gemeinsam eine neue Förder- bekanntmachung zur Umsetzung der Nationalen Strate- gie zur biologischen Vielfalt veröffentlicht. Für entspre- chende Projekte stehen in den nächsten sechs Jahren 30 Millionen Euro bereit. Selbstverständlich können auch Anträge zur Taxonomie eingereicht werden. Das „German Barcode of Life“-Projekt – kurz: GBOL –, das vom Bundesforschungsministerium mit 5 Millionen Euro gefördert wird, hat die Inventarisie- rung und genetische Charakterisierung der Tiere, Pflan- zen und Pilze Deutschlands zum Ziel. Die Projektpartner stellen ihre professionelle taxonomische Expertise und ihre bereits existierende Infrastruktur zur Verfügung, um umfassend und flächendeckend die Tier- und Pflanzen- arten Deutschlands zu sammeln, zu katalogisieren, wis- senschaftlich zu beschreiben, zu sequenzieren und in die kostenlose globale Referenz-Barcode-Datenbank „BOLD“ einzuspeisen. Auf diese Daten können die Forscher zu- greifen, um taxonomische Fragen zu lösen. Wenn nach Angaben von Taxonomen das eigentliche Problem darin besteht, dass Universitäten und Naturkun- demuseen mehr Stellen schaffen müssten, um den Taxo- nomen eine berufliche Perspektive zu bieten, ist dies eine nachvollziehbare Forderung. Verantwortlich für die Personalentwicklung sind in erster Linie aber die Hoch- schulen und die außeruniversitären Forschungseinrich- tungen. Die Sicherstellung der hierfür notwendigen Grundfinanzierung ist Aufgabe der Länder. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21319 (A) (C) (D)(B) Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses insgesamt ist uns ein zentrales Anliegen. Dass die ak- tuelle Lage unbefriedigend ist, haben wir gerade in der gestrigen Debatte im Ausschuss festgestellt. Hier besteht Konsens. Daher hat die Koalition auch den Antrag „Ex- zellente Bedingungen für den wissenschaftlichen Nach- wuchs fortentwickeln“ eingebracht. Untätig ist der Bund trotz föderaler Hemmnisse jedoch keineswegs. Mit dem „Pakt für Forschung und Innovation“ steigen die Zu- schüsse für die gemeinsam mit den Bundesländern ge- förderten Forschungseinrichtungen in den Jahren 2011 bis 2015 jährlich um 5 Prozent. Von der Erhöhung dieser Zuschüsse profitieren indirekt auch die DFG-Pro- gramme zur Förderung des wissenschaftlichen Nach- wuchses. Ferner wurden die Promotionsstipendien der zwölf durch das Ministerium für Bildung und Forschung unterstützten Begabtenförderungswerke ausgebaut. In der dritten Runde der Exzellenzinitiative wurde das För- dervolumen um 30 Prozent auf rund 2,7 Milliarden Euro mit einer Laufzeit bis 2017 gesteigert. „Hochschulpakt 2020“ und Qualitätspakt für Lehre fördern gleichfalls in- direkt die Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses durch neue Einstellungsmöglichkeiten. Mit ihren Pro- grammen haben Bund und Länder dafür gesorgt, dass auch die „kleinen Fächer“ profitieren und eine faire Chance erhalten. Beim Schutz der biologischen Vielfalt sind wir uns alle einig. Zulasten anderer anwendungsorientierter und problemorientierter Biodiversitätsforschung hierfür ein „Sonderprogramm“ für den Taxonomie-Nachwuchs auf- zulegen, halten wir jedoch nach wie vor nicht für den richtigen Weg. René Röspel (SPD): Das Thema der Taxonomie in der Biologie steht heute zu später Stunde auf der Tages- ordnung. Das ist schade, denn, wie ich noch ausführen werde, handelt es sich hierbei um ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit, auch in der Politik, verdient hätte. Bei der Taxonomie handelt es sich um die Wissen- schaft der systematischen Bestimmung und Einteilung von Tieren und Pflanzen in Kategorien wie Familie, Gat- tung und Art. Nachgewiesen sind auf unserer Erde circa 1,5 bis 1,75 Millionen Pflanzen- und Tierarten. Schät- zungen gehen aber davon aus, dass es weltweit mindes- tens zwischen 13 und 20 Millionen Arten gibt. Viele Ar- ten sind bisher noch nicht entdeckt und wissenschaftlich eingeordnet worden. Die Benennung neuentdeckter Tiere und Pflanzen fällt ebenfalls in die Arbeit von Ta- xonomen. Man geht heute davon aus, dass täglich zwi- schen 2 und 130 Arten aussterben. Da jede Art seine Rolle innerhalb des Ökosystems hat, geht dabei nicht nur die Art in ihrer Einzigartigkeit unwiderruflich verloren, sondern es kann im Zweifel Auswirkungen auf das ge- samte System haben. Die Taxonomie liefert somit wich- tige Informationen und Daten zum Schutz der biologi- schen Vielfalt. Taxonomen werden aber auch bei der ökologischen Beurteilung von Biotopen im Rahmen von Umweltverträglichkeitsprüfungen oder beim Monitoring von geschützten Gebieten angefragt. Auch zur Bestim- mung invasiver Arten, die Millionenschäden verursa- chen können, wird auf die Taxonomie zurückgegriffen. Die Taxonomie bildet somit eine Grundlage für viele Wissenschaftsgebiete. Immer wichtiger werden die Fä- higkeiten und Kenntnisse von Taxonomen aber auch au- ßerhalb der Biologie. So greifen immer mehr Branchen der Wirtschaft auf das Wissen der Taxonomie zurück. Bereits heute existieren mehr und mehr Produkte auf Ba- sis pflanzlicher oder tierischer Bestandteile. Allein in der chemischen Industrie betrug der Anteil nachwachsender Rohstoffe 2008 bereits 13 Prozent. Die Umstellung von einer erdölbasierenden hin zu einer Produktion auf Basis nachwachsender Rohstoffe wird diesen Trend weiter verstärken. Wenn man sich die Liste der Anwendungsmöglich- keiten der Taxonomie anschaut, könnte man meinen, dieser Wissenschaftszweig müsste von Politik und Wirt- schaft doch eigentlich in jedem möglichen Maße unter- stützt werden. Aber nein, genau das Gegenteil ist in Deutschland der Fall. Die Taxonomie blutet hier lang- sam aus. So gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für Taxo- nomie mehr. In der Wissenschaft fehlen somit Stellen für angehende Taxonomen. Ohne Berufs- und Ausbildungs- chancen bricht auch der wissenschaftliche Nachwuchs weg, und das in einer Situation, wo es bereits heute für bestimmte Tier- oder Pflanzenarten weltweit nur noch eine Expertin oder einen Experten gibt. Wenn der oder diese stirbt, dann geht mit dieser Person unwiderruflich das gesamte nicht niedergeschriebene Wissen und vor al- lem viel Erfahrung über diese Art verloren. Können und wollen wir uns das in unserer „Wissensgesellschaft“ wirklich leisten? Ich denke, nein! Insbesondere, wenn man bedenkt, welche Herausforderungen im Bereich der Biodiversität, des Klimawandels, aber auch der Energie und Medizin noch vor uns liegen. Ende 2010 hat sich eine Arbeitsgruppe von Nach- wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die „Jungen Systematiker“, mit einem offenen Brief an Poli- tik, Wissenschaft und Gesellschaft gewandt. Dabei for- dern sie, unter anderem das Ausbildungs- und For- schungsfach Taxonomie gezielt wiederzubeleben, langfristige Perspektiven für Taxonomen zum Beispiel durch unbefristete Stellen im universitären Mittelbau zu schaffen, ein spezielles Forschungsprogramm zur Förde- rung der Taxonomie einzurichten und für eine bessere finanzielle Unterstützung der naturhistorischen Museen und Botanischen Gärten zu sorgen. Als SPD-Bundes- tagsfraktion teilen wir diese Forderungen voll und ganz. Sie finden sich auch in unserem Antrag wieder. Wenn man sich die Reden zur ersten Lesung unseres Antrages vom November 2010 zu Gemüte führt, hat man den Eindruck, dass selbst die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und FDP unseren Analysen und Forde- rungen zustimmen können. So stellt Frau Klamt von der CDU/CSU zum Beispiel den positiven Beitrag der Taxo- nomie für die Biodiversität heraus. Und Frau Brunkhorst von der FDP verweist auf den Nachwuchsmangel im Be- reich der Taxonomie in Deutschland. Umso unverständ- licher ist mir, warum die Fraktionen von CDU/CSU und FDP im Ausschuss gegen unseren Antrag votiert haben. Und bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Argu- ment, dass die Taxonomie nur ein Wissenschaftsbereich von vielen sei, der sich mit dem Artenschwund und der 21320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Biodiversität auseinandersetzt. Denn erstens benötigen wir, wie oben beschrieben, die Taxonomie eben nicht nur zum Schutz der Biodiversität, und zweitens stellt die Ta- xonomie ja gerade die Grundlage für die Biodiversitäts- forschung dar. Oder wie wollen Sie ein Gebiet schützen, wenn niemand bestimmen kann, welche Arten dort über- haupt leben? Entschuldigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, aber Ihr Argument ist so absurd, wie wenn Sie einem Bauarbeiter sagen, ein Fundament sei für den Hausbau unwichtig! Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, ich könnte ja noch nachvollzie- hen, dass es Ihnen einfach schwerfällt, einem guten An- trag einer Oppositionsfraktion zuzustimmen. Aber wenn dem so wäre, warum haben Sie dann nicht einfach einen eigenen Antrag verfasst? Genug Zeit hatten Sie dafür seit Oktober 2010, dem Zeitpunkt der Einbringung unse- res Antrages, nun wirklich. Mit der Presseberichterstat- tung, unter anderem auch zur ersten Lesung unseres An- trages, müsste doch selbst Ihnen aufgefallen sein, dass die Situation der Taxonomie auch über die Grenzen der Biologie als Problem wahrgenommen wird. Außerdem haben Sie hoffentlich doch auch Gespräche mit betroffe- nen Taxonomen geführt. Wieso verschließen Sie sich de- ren Argumenten? Nichts zu tun ist in so einem Fall doch keine Option. Insofern: Springen Sie zum Schutz der Biodiversität und der Verbesserung der Arbeits- und Ausbildungssitua- tion von Taxonomen in Deutschland über Ihren Schat- ten, und stimmen Sie unserem Antrag zu. Dr. Peter Röhlinger (FDP): Biodiversität ist ein sehr wichtiges Thema; da stimmen wir den Kolleginnen und Kollegen von der SPD durchaus zu. Eine Stärkung nicht nur, aber auch zum Beispiel der Taxonomie, trägt mit Sicherheit zum Schutz der biologischen Vielfalt bei. Die SPD sieht hier Defizite. Deshalb möchte ich einmal aufzeigen, was wir auf diesem Gebiet bereits auf den Weg gebracht haben. Die naturwissenschaftlichen Museen mit Forschungs- aufgaben sind in die Leibniz-Gemeinschaft aufgenom- men worden und werden somit je zur Hälfte vom Bund und von den Ländern finanziert. Mit dem Pakt für For- schung und Innovation haben wir diesen Forschungs- museen in Frankfurt am Main – Forschungsinstitut und Naturmuseum Senckenberg –, Bonn – Zoologisches For- schungsmuseum Alexander Koenig –, Berlin – Museum für Naturkunde –, Görlitz – Staatliches Museum für Na- turkunde – und Dresden – Staatliche Naturhistorische Sammlungen – Planungssicherheit bis 2015 gegeben. Bis 2015 können sie mit einem Mittelaufwuchs von etwa 5 Prozent pro Jahr rechnen. Das ist beachtlich in einer Zeit, in der die Haushaltskonsolidierung oberstes Ziel ist. Das UN-Übereinkommen über die biologische Viel- falt setzen wir in der nationalen Biodiversitätsstrategie um. Wir unterstützen im Rahmen dieser Strategie For- schungsvorhaben zum Schutz der biologischen Vielfalt mit etwa 15 Millionen Euro pro Jahr. Etwa 330 Ziele wurden definiert und rund 430 Maßnahmen konzipiert, die im Rahmen der UN-Dekade „Biologische Vielfalt“ bis 2020 dazu beitragen werden, dem Artenverlust ent- gegenzuwirken. Eine solche nationale Strategie geht über die Förde- rung einer einzelnen Disziplin, also zum Beispiel der Ta- xonomie in der Biologie, weit hinaus. Sie ist sowohl hin- sichtlich der Fachdisziplinen als auch hinsichtlich der Akteure sehr viel breiter angelegt. Nicht nur Wissen- schaftler sind angesprochen, sondern die ganze Gesell- schaft. Die Länder und Kommunen sind ebenso einbezo- gen wie Waldbesitzer, Landnutzer und Naturschutz- verbände. Viele machen mit. So haben zum Beispiel 60 Kommunen aus ganz Deutschland am 1. Februar 2012 in Frankfurt am Main das Bündnis „Kommunen für biologische Vielfalt“ gegründet. Ende April 2012 haben die UN beschlossen, das UN- Sekretariat des internationalen Wissenschaftlerrats für Biodiversität – IPBES – in Bonn anzusiedeln. Mit dieser Entscheidung wird das deutsche Engagement für den Er- halt der biologischen Vielfalt auch international aner- kannt. Ebenfalls Ende April hat die DFG die Einrichtung ei- nes neuen Forschungszentrums zur Biodiversität in Leipzig beschlossen. Ab 2012 werden hier interdiszipli- när und auf international sichtbarem Niveau verschie- denste Forschungsaktivitäten zur Biodiversität gebündelt und in den kommenden vier Jahren mit rund 33 Millio- nen Euro gefördert. Der Standort ist Leipzig; die Univer- sitäten Leipzig, Jena und Halle-Wittenberg haben sich gemeinsam erfolgreich um dieses Forschungszentrum beworben. Darüber freue ich mich natürlich ganz beson- ders. Wir unternehmen also einiges zum Schutz der biologi- schen Vielfalt. Den vorliegenden Antrag der SPD können wir nicht unterstützen, denn die Taxonomie in der Biolo- gie ist nur eine Facette des großen Themenspektrums Biodiversität. Angelika Brunkhorst (FDP): Rund 10 Millionen Tiere und Pflanzen, die auf unserer Erde leben, sind un- erforscht. Gleichzeitig kämpfen wir weltweit mit einem ungebremsten Artensterben. Somit gehen uns tagtäglich Tiere und Pflanzen verloren, die möglicherweise segens- reiche Eigenschaften besitzen, sei es als Vorbild für tech- nische Entwicklungen oder als Heilmittel in der Medi- zin. Das ist eine Entwicklung, der wir entgegentreten müssen. So weit stimmen wir Liberale mit dem Antrag der SPD überein. Anfang der Woche skizzierte Professor Johannes Vogel, der neue Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin, seine Vision von der Taxonomie der Zukunft. Er fordert eine „gläserne Biodiversitätsfabrik“ und den Artencheck anhand des genetischen „Barcoding“. Beim Barcording geben kleinste Gewebeteile Aufschluss über Verwandtschaftsverhältnisse und helfen bei der Artab- grenzung. So werden Tiere und Pflanzen nicht mehr nur nach ihrer Struktur und Form kategorisiert, sondern auch mithilfe ihrer DNA. Automatisiert bringt dies eine im- mense Zeitersparnis. In den kommenden 50 Jahren könnte so die gesamte biologische Vielfalt erfasst und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21321 (A) (C) (D)(B) dokumentiert werden – ein ambitioniertes Ziel, zu dem neue Wege beschritten und Kooperationen geschlossen werden müssen. Vor allem gilt es, Wissen transparent zu machen und weltweit zu vernetzen. Die Finanzierung des teuren Projekts soll die Wirtschaft übernehmen, die letztlich von den Ergebnissen profitieren wird. Arten- vielfalt soll finanziell messbar werden. Nur so lässt sich das Artensterben aufhalten. Dies ist ein zukunftsweisen- der Vorschlag der Wissenschaft. Hieran zeigt sich, dass auch ohne Druck der Politik die Wissenschaft innovative Lösungsvorschläge präsentieren kann, ganz ohne Forde- rungskatalog der SPD. Auch bei der Förderung sind wir dem Antrag der SPD voraus. Die Bundesregierung hat in Abstimmung mit den Ländern die naturwissenschaftlichen Museen mit Forschungsaufgaben gestärkt, indem sie in die Leibniz- Gemeinschaft eingegliedert wurden. Die Museen erhal- ten somit eine 50/50 Bund-Länder-Förderung. Das betrifft das Forschungsinstitut und Naturmuseum Senckenberg in Frankfurt am Main, das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn, das Museum für Naturkunde in Berlin, das Staatliche Mu- seum für Naturkunde Görlitz und die Staatlichen Natur- historischen Sammlungen Dresden. Mit dem Pakt für Forschung und Innovation wird diesen Forschungs- museen bis 2015 ein jährlicher Mittelaufwuchs von rund 5 Prozent zugesichert. Im Rahmen der Nationalen Biodiversitätsstrategie werden die notwendigen Forschungsarbeiten zum Schutz der biologischen Vielfalt unterstützt. 2011 wurde das neue Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“ offi- ziell gestartet. Das Förderprogramm soll die Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt unter- stützen. 15 Millionen Euro werden dafür ab sofort jähr- lich im Bundeshaushalt bereitgestellt. Seit 2012 bündeln das Bundesforschungsministerium und das Bundesum- weltministerium in einer gemeinsamen Förderinitiative ihre Kräfte bei der Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. Der vorliegende SPD-Antrag beschreibt die Notwen- digkeit einer umfassenden Bewahrung der Biologischen Vielfalt und fordert eine Stärkung der Taxonomie. Hier- bei sind wir mit Ihnen einer Meinung. Jedoch fordern wir nicht nur, wir handeln bereits. Ihr Antrag hinkt der Entwicklung hinterher. Deshalb lehnen wir den SPD- Antrag ab. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): In den vergangenen Tagen erschien eine Studie der finnischen Akademie der Wissenschaften, die auch hierzulande für Furore sorgte. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforsch- ten den Zusammenhang zwischen der Umgebung, in der Kinder aufwachsen, und ihrer Neigung zu Allergien als Jugendliche. Das Ergebnis: Je vielfältiger die natürliche Flora und Fauna war, mit der die Kinder in Berührung kamen, umso niedriger die Anfälligkeit für Allergien. Dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Die Biodiversi- tät, die kaum ermessliche Vielfalt unserer biologischen Umwelt, ist kein Accessoire romantischer Naturverklä- rung oder alleiniger Gegenstand verschrobener Schmet- terlingssammler. Der Reichtum an Arten und Gattungen dient uns allen als existenzielle Lebensgrundlage – in Fragen der Ernäh- rung, des Bodens, der Gesundheit. Wenn diese Vielfalt abnimmt, weil etwa 100 Arten täglich aussterben, dann kann dies Folgen nachsichziehen, deren Komplexität wir nicht beherrschen. Die Bedeutung der Biodiversität lässt sich daher durchaus mit der des globalen Klimas verglei- chen. Kürzlich wurde die Internationale Plattform für Bio- diversität und Ökosystemdienstleistungen (IPBES) ge- gründet, die in etwa dem Weltklimarat vergleichbar ist. Man entschied sich für Bonn als Sitz dieser Plattform. Von hier aus soll zukünftig das Wissen über Artenvielfalt gebündelt und zu fundierten Beratungen für die Politik entwickelt werden. Dass diese wichtige Einrichtung in unserem Land gegründet wird, sollte uns allen als Ver- pflichtung gelten, mehr für die Erforschung des Arten- sterbens und den Kampf dagegen zu tun. Alle bisherigen Vereinbarungen der Staatengemeinschaft, den Verlust von Arten zu stoppen, sind bisher gescheitert. Bereits 2010 sollte das Ziel erreicht sein, 2010 ist es um weitere zehn Jahre aufgeschoben worden. Die Plattform wird allerdings keine eigene For- schungseinrichtung. Sie ist darauf angewiesen, dass die Staaten der Welt, insbesondere die forschungsstarken Industriestaaten, dieses Forschungsfeld entsprechend ausbauen. Es ist richtig, dass die Bundesregierung Mittel für die Unterstützung von Entwicklungsländern in der IPBES zugesagt hat. Zusätzlich muss jedoch auch die Forschungslandschaft im eigenen Land aus- und nicht abgebaut werden. Ich freue mich daher sehr, dass das neue DFG-For- schungszentrum zur Biodiversität in meiner Heimatuni- versität Halle und in Leipzig sowie Jena entsteht. Mit 33 Millionen Euro für vier Jahre können wir wirkliche Wissenssprünge auf hohem Niveau erreichen. Die Ein- richtung dieses Zentrums sehe ich als hoffnungsvolles Zeichen gegen den schleichenden Bedeutungsverlust der Biodiversität in der Forschungsförderung. Gebraucht werden neben einer kontinuierlichen Nachwuchsförde- rung auch endlich wieder feste Lehrstühle, die ein sol- ches Forschungsfeld auf lange Frist verankern. Auch für das neue Rahmenprogramm der EU „Horizont 2020“ müssen seitens der Bundesregierung klare Initiativen für eine Stärkung der Taxonomie und der Biodiversitätsfor- schung ergriffen werden. Die Erhaltung der Artenvielfalt ist nichts, womit sich kurzfristig Märkte schaffen und Produkte der Green Technologies verkaufen lassen. Diese Aufgabe verlangt von uns eher eine Entschleunigung und eine konzen- trierte Folgenabschätzung unseres eigenen politischen und ökonomischen Handelns. Wenn wir den Reichtum der Natur für uns nutzen wollen, etwa in der Bionik, dann müssen wir ihn auch erhalten. Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es heißt immer wieder, dass Wissen Macht 21322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) sei; auf jeden Fall sollte man Entscheidungen nicht ohne das nötige Wissen fällen. Im Bereich des Biodiversitäts- schutzes sind wir – das müssen wir uns leider eingeste- hen – ziemlich ahnungslos und damit auch machtlos. Weil es das zu ändern gilt, begrüßen und unterstützen wir den Antrag zum Schutz der biologischen Vielfalt (Drucksache 17/3484) ausdrücklich. Leider müssen wir aber auch feststellen, dass die De- batten um den Antrag zum Teil ziemlich am Thema vor- beigegangen sind. Der Antrag stellt richtigerweise fest, dass wir ein enormes Problem im Forschungsbereich der Taxonomie haben. Da ist es für mich aber schon verwunderlich, dass die Biodiversitätsforschung und speziell die Taxonomie in einem Atemzug mit der Nationalen Forschungsstrategie zur BioÖkonomie behandelt wurde. Denn in dieser For- schungsstrategie ist die Taxonomie mit keiner Silbe er- wähnt, und inhaltlich zielt die Nationale Forschungsstra- tegie zur BioÖkonomie auch in eine andere Richtung. Die Forschungsstrategie formuliert die „verantwor- tungsvolle Gentechnik“ als eines ihrer Ziele und wider- spricht somit dem eigentlichen Ziel des Antrags unserer Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Ziel des Antrags ist es, die biologische Vielfalt zu schützen, dazu diese Vielfalt kennenzulernen, ihre Funktionen zu be- greifen und besser bestimmen zu können. Dazu muss die Taxonomie gestärkt werden, denn ohne Wissen das Wis- sen über die Arten kommen wir beim Schutz der Arten- vielfalt nicht weiter. Es gibt heute leider zu wenig Nachwuchswissen- schaftlerinnen und -wissenschaftler, die in diesem Ge- biet ausgebildet werden. Somit fehlen uns zunehmend jene Expertinnen und Experten, die über die biologische Vielfalt konkret Auskunft geben können, sie erfassen und dokumentieren könnten. Die Biodiversitätsforschung hat in den letzten 20 Jah- ren trotz stagnierender finanzieller Unterstützung Fort- schritte bei Erkenntnisgewinn und interdisziplinärer Ver- netzung gemacht, weist aber immer noch eklatante Defizite auf. Millionen von Arten sind noch immer un- entdeckt. Viele von ihnen rottet der Mensch aus, bevor er sie überhaupt kennengelernt hat. Große Ökosysteme wie die Tiefsee, der Boden oder das Grundwasser sind noch weitgehend unerforscht. Das Verständnis der funktiona- len Zusammenhänge innerhalb von Ökosystemen und die Wirkung menschlicher Aktivitäten darauf ist für viele Systeme noch lückenhaft. Die Taxonomie schafft eine der Grundlagen für Maß- nahmen, die auf biologische und ökologische Systeme und ihren Schutz abzielen. Eines scheint klar: Um arbei- ten und forschen zu können, benötigen die Wissenschaft und die Forschung im Bereich der Biodiversität mehr ge- sellschaftliche Unterstützung und Anerkennung. Leider gehört aber gerade die Taxonomie zu den vernachlässig- ten Wissensgebieten, die als vermeintlich nachrangig an- gesehen werden, zumindest in den Augen der CDU/CSU und der FDP. Nationale wie internationale Anforderungen im Be- reich der Biodiversitätspolitik haben die Biodiversitäts- forschung wieder etwas gestärkt. So begrüßen wir es, dass das UN-Sekretariat des internationalen Wissen- schaftlergremiums für Biodiversität, IPBES, in Bonn an- gesiedelt werden soll. Damit erwarten wir aber auch von der Bundesregierung, dass die Biodiversitätsforschung und insbesondere die Taxonomie in Deutschland ihre ge- bührende Wertschätzung in Wissenschaft und Forschung erhält und dies auch durch eine bessere Förderung zum Ausdruck gebracht wird. Der Verlust von Arten, Lebensräumen und geneti- scher Vielfalt bedeutet ein kaum kalkulierbares Risiko für die Integrität unserer Umwelt, unserer Landnut- zungssysteme, der natürlichen Rohstoffquellen, der Was- serversorgung großer Regionen etc., erst recht, wenn wir zugeben müssen, dass wir von den Zusammenhängen und den Akteuren in diesen Ökosystemen nur ein extrem lückenhaftes Wissen haben. In den Hochschulen muss die wissenschaftliche Aus- bildung von Biologen, Taxonomen, Biogeografen und Umweltbildungsfachleuten wieder einen größeren Stel- lenwert erhalten. Gesamtstaatliche Förderinstrumente können Anreize schaffen, mit denen eine gewisse über- regionale Steuerung möglich ist. Eine nationale Schwer- punktbildung der vorhandenen Fachkompetenzen und Sammlungsressourcen muss begonnen werden. Damit muss ermöglicht werden, auf aktuelle Entwicklungen forschungspolitisch schnell zu reagieren. Ebenso müssen entsprechende Forschungsprojekte besser europäisch vernetzt und international angebunden werden. Ein weiteres spezielles Problem im Bereich der Bio- diversitätsforschung stellen die Sammlungen dar, und zu Recht verlangt der Antrag nach einem besseren Konzept für die Erhaltung dieser Sammlungen. Der Verlust von Sammlungen ist gleichzusetzen mit dem Verlust von Wissen, da jeweils große Teile der Sammlungen unwie- derbringlich sind. Es kommt darauf an, das vorhandene Wissen zu bewahren und zu erweitern. Deutschland hat sich international zur Erhaltung seiner naturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Sammlun- gen verpflichtet. Doch diesen Verpflichtungen wird die Politik von Schwarz-Gelb nicht gerecht. Sammlungen sind unverzichtbare Institutionen im Gefüge der globa- len Forschungsinfrastruktur; sie tragen darüber hinaus zur Ausbildung von Spezialisten bei und vermitteln na- turwissenschaftliches Wissen an die Öffentlichkeit, Inte- ressenverbände, Schülerinnen, Schüler und Studierende und sind somit wichtige Partner für den Naturschutz, die Raum- und Landschaftsplanung sowie für staatliche Be- hörden. Doch die personelle Besetzung der Forschungs- museen gestaltet sich zunehmend dramatisch; für viele Arbeitsgebiete und Organismengruppen gibt es bereits keine Spezialisten mehr. Daher bedarf es der Auflage ei- nes Förderprogramms und eines umfassenden Konzepts für wissenschaftliche Sammlungen analog zur Förder- ung von Sammlungen im Bereich der Kultur, zum Bei- spiel für die Rettung und dauerhafte Erhaltung akut bedrohter Sammlungen oder zur Modernisierung der Sammlungsinfrastruktur einschließlich der Digitalisie- rung und Stärkung der arbeitsteiligen Zusammenarbeit zwischen den Sammlungen. Hier muss die Bundesregie- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21323 (A) (C) (D)(B) rung deutlich aktiver werden und endlich die Zeichen der Zeit erkennen und ihre Verpflichtungen wahrneh- men. Indem sie eine zusätzliche Förderung der Taxono- mie als „nicht zielführend“ ablehnt, ignoriert sie die Be- deutung der Taxonomie und der taxonomischen Sammlungen für den Naturschutz, aber auch für die Wohlstandsentwicklung unserer Gesellschaft. Sie han- delt damit grob fahrlässig! Mit jeder aussterbenden Tier- und Pflanzenart gehen raffinierte technische Lösungen und andere Werte für den Menschen für immer verloren. Es war Konrad Adenauer, der sagte: „Es gibt auf Dauer keinen wirt- schaftlichen Fortschritt, ohne dass die Wissenschaft auch gepflegt wird.“ Das ist richtig, aber man muss dazu auch noch Frederic Vester zitieren, der davon sprach, dass es „Sinn mache, von der Natur zu lernen, einer Firma, die in 4 Milliarden Jahren nicht Pleite gemacht hat“. In die- sem Sinne müssen wir die wachsende Bedeutung der Biodiversitätsforschung nicht nur für den Erhalt der Ar- tenvielfalt, sondern auch für Ernährung, Land- und Forstwirtschaft, Klimaschutz, Medizin, Pharmazie, Bio- nik bis hin zur Vorbereitung internationaler Schutzab- kommen stärker anerkennen und besser fördern. Daher unterstützen meine Fraktion und ich diesen Antrag und stimmen ihm zu. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Einvernehmensher- stellung von Bundestag und Bundesregierung zur geplanten Einberufung einer Regierungs- konferenz und zum geplanten Beschluss der Re- gierungskonferenz über die Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölke- rung bezüglich des Vertrags von Lissabon hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenar- beit von Bundesregierung und Deutschem Bun- destag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Zusatztagesordnungspunkt 5) Michael Stübgen (CDU/CSU): Der Europäische Rat hat im Juni 2009 im Wege eines rechtsverbindlichen Be- schlusses der Staats- und Regierungschefs ein zusätzli- ches Protokoll für den Vertrag von Lissabon vereinbart, das sogenannte Irische Protokoll. Dieses Protokoll war ein wichtiges Element zur Vorbereitung des Referen- dums in Irland zum Vertrag von Lissabon im Jahr 2009. In dem Protokoll wird festgestellt, dass die Bestimmun- gen des Vertrags in den Bereichen Recht auf Leben, Fa- milie und Bildung, Steuerpolitik sowie der Gemeinsa- men Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP, im Einklang mit der irischen Verfassung stehen. Durch die Hinzufügung dieses Protokolls wird der Vertrag von Lis- sabon in seiner Substanz nicht geändert. Der Beschluss aus dem Jahre 2009 muss von allen Mitgliedstaaten nach ihren innerstaatlich vorgeschriebe- nen Verfahren ratifiziert werden. Vereinbart wurde, das Protokoll im zeitlichen Zusammenhang mit dem nächs- ten Beitrittsvertrag zu ratifizieren. Jetzt soll bereits eine Regierungskonferenz für den 16. Mai 2012 zur Ände- rung der Verträge einberufen werden. Der Beschluss der Regierungskonferenz über die Zustimmung zum Iri- schen Protokoll ist einstimmig zu fassen; das Protokoll bedarf der anschließenden Ratifizierung durch die Mit- gliedstaaten. Die dänische Ratspräsidentschaft hat den sehr engen Zeitplan damit begründet, dass die Regie- rungskonferenz zum Irischen Protokoll möglichst noch vor dem irischen Referendum zum Fiskalvertrag am 31. Mai 2012 abgeschlossen werden solle. Der Deutsche Bundestag hat gemäß den einschlägi- gen gesetzlichen Regelungen das Recht zur Stellung- nahme, von dem er heute Gebrauch macht. Vor der abschließenden Entscheidung im Rat soll die Bundesre- gierung gemäß § 10 Absatz 3 i.V.m. Absatz 2 EUZBBG Einvernehmen mit dem Bundestag herstellen. Ich will nochmals deutlich machen, dass wir der Auffassung sind, dass die Einvernehmensherstellung des Bundesta- ges eine konstitutive Voraussetzung für eine Zustim- mung der Bundesregierung ist. In anderen Worten be- deutet dies, dass der Vertreter der Bundesregierung im Rat nicht zustimmen darf, solange das Parlament nicht sein Einvernehmen erklärt hat. Deshalb ist jede Bundes- regierung gut beraten, rechtzeitig auf die Beteiligungs- rechte des Bundestages hinzuweisen und gegebenenfalls einen Parlamentsvorbehalt einzulegen. Mit Blick auf den engen Zeitplan musste der Antrag nun binnen weniger Tage erarbeitet, am Dienstag in den Koalitionsfraktionen abgestimmt werden und steht heute im Plenum zur Abstimmung. Ich will mit aller Deutlichkeit sagen, dass dieser Zeit- plan für eine angemessene Behandlung im Parlament ei- gentlich nicht ausreichend ist. Gerade in den Fragen, in denen es um die Änderung der europäischen Verträge geht – und tatsächlich handelt es sich beim Irischen Pro- tokoll um eine vereinfachte Vertragsänderung – muss der Deutsche Bundestag hinreichend Zeit zur Beratung ha- ben. Wegen des jetzt vorliegenden Zeitplans konnte zum Beispiel keine Beratung im für diese Fragen federfüh- renden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- schen Union erfolgen. Es ist wirklich nur der Tatsache geschuldet, dass das Irische Protokoll bereits im Jahr 2009 anlässlich der Ra- tifizierung des Vertrags von Lissabon Gegenstand einer breiteren Diskussion war und deshalb in der Sache völlig unproblematisch ist, die uns hier interfraktionell zu einer raschen Verständigung kommen lässt. An dieser Stelle will ich mich ausdrücklich bei den Oppositionsfraktio- nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bedanken. Die schnelle Abstimmung untereinander und das Aufsetzen des Antrags als Vier-Fraktionen-Antrag zeigen, dass es im Deutschen Bundestag – jedenfalls unter allen demo- kratischen Fraktionen, die sich zu Europa bekennen – ei- nen Konsens jenseits des täglichen Parteienstreits gibt. Bedauerlich ist nur, dass die Fraktion Die Linke schon 21324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) wieder nicht bereit war, sich zur Europäischen Union und Integration zu bekennen. Der Beschluss der Staats- und Regierungschefs aus dem Jahre 2009, der am Ende den Weg für die Zustim- mung Irlands zum Vertrag von Lissabon in einem zwei- ten Referendum geebnet hat, fand damals und findet heute die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Das gilt auch für die heute erfor- derliche Einvernehmenserklärung des Deutschen Bun- destages. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Antrag und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Alois Karl (CDU/CSU): Wenn wir uns heute mit der Einvernehmensherstellung des Deutschen Bundestages zu einem Antrag der Bundesregierung befassen, so ist dies fast eine Selbstverständlichkeit. Wir bewegen uns in einer Materie der europäischen Einigung, die es dem Deutschen Bundestag nach dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Euro- päischen Union zuweist, dass sich der Deutsche Bundes- tag mit dieser Materie beschäftigt, obwohl es sich ei- gentlich um ein „Geschäft der laufenden Verwaltung“ handelt, eine Angelegenheit also, die die deutsche Bun- desregierung selbst erledigen könnte. Worum geht es? Die irische Regierung hat bereits im Jahre 2009 im Wege eines Anhangs zum Vertrag von Lissabon festgestellt, dass die Bestimmungen des Lissa- bon-Vertrages in verschiedenen Bereichen nicht mit der irischen Verfassung kollidieren. Inhalt dieses Irischen Protokolls war es insbesondere, dass es Anliegen der iri- schen Regierung war, festzuhalten, dass in Bereichen des Rechts auf Leben, der Familie und der Bildung, aber auch der Steuerpolitik wie auch der gemeinsamen Si- cherheits- und Verteidigungspolitik irisches Recht durch den Lissaboner-Vertrag nicht tangiert wird. Diesen Beschluss haben seinerzeit die Staats- und Re- gierungschefs gefasst. Es war wichtig, um dem damali- gen Referendum Irlands zum Vertrag von Lissabon zu einem Erfolg zu verhelfen. Erinnern wir uns zurück: Irland hatte in einem ersten Referendum im Jahre 2008 die Vertiefung der Europäi- schen Gemeinschaft abgelehnt, und zwar durch ein ne- gatives Votum der Bevölkerung, durch den negativen Ausgang eines Volksentscheides. Einen weiteren negati- ven Ausgang eines Referendums konnte man sich nicht leisten! Das Referendum von 2009 wurde durch die Hinzufü- gung dieses Irischen Protokolls gewiss gestützt; es ging positiv aus und der Vertrag von Lissabon wurde in Irland angenommen. Das Irische Protokoll selbst hat den Ver- trag von Lissabon natürlich in seiner Substanz in gar kei- ner Weise berührt. Jetzt geht es darum, dass die EU-Ratspräsidentschaft zu einer Regierungskonferenz einlädt. Dabei soll die Re- gierungskonferenz über die Zustimmung zum Irischen Protokoll, also zu den genannten Anliegen der irischen Bevölkerung, einen einstimmigen Beschluss fassen. Auch dieser jetzige Zeitplan ist nicht ohne Absicht. Die jetzt beabsichtigte Beschlussfassung liegt kurz vor dem 31. Mai 2012, an dem in Irland wiederum ein Referen- dum abgehalten werden soll, diesmal zum Fiskalvertrag. Wir als Koalitionsfraktion unterstützen ausdrücklich den Fiskalvertrag. Es ist für uns selbstverständlich, dass wir das unsere dazu tun, um diesem Fiskalvertrag so- wohl in Deutschland als auch in den anderen europäi- schen Ländern zum Durchbruch zu verhelfen. Aus diesem Grunde stimmen wir zu, dass wir als Deutscher Bundestag unser Einvernehmen dafür ertei- len, dass die Bundesregierung im Europäischen Rat ei- nem Beschluss zustimmt, der entsprechend dem Irischen Protokoll dem Anliegen der irischen Bevölkerung Rech- nung trägt. Wir sind dabei einverstanden, dass es des- sentwegen keinen Konvent einzuberufen braucht. Wir geben selbstverständlich unser Einvernehmen dafür, dass der Vertreter der Bundesregierung in der entspre- chenden Regierungskonferenz am 16. Mai 2012 sich an einem dementsprechenden Beschluss beteiligt. Wir se- hen es für richtig an, dass dann die Bundesregierung den Deutschen Bundestag wieder informiert. Abschließend sei festgehalten, dass es schade ist, dass die Oppositionsparteien, die ursprünglich den Antrag mitgetragen haben, jetzt hiervon Abstand genommen ha- ben. Auch sie sollten ein Interesse daran haben, dass der Fiskalvertrag möglichst schnell verabschiedet wird, so- wohl im Deutschen Bundestag – und auch im Bundesrat – als auch in den anderen europäischen Ländern. Es ist schade, dass die Oppositionsparteien nicht die Größe ha- ben, dem jetzigen Antrag zuzustimmen. Nichtsdestotrotz wird dieser Antrag der Regierung hier eine Mehrheit finden, und das zu Recht. Michael Roth (Heringen) (SPD): §10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäi- schen Union, EUZBB, sieht für Vorschläge und Initiati- ven zur Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union neben den geltenden Unterrichtungspflichten und dem Recht zur Stellungnahme gemäß § 9 EUZBBG vor, dass vor der abschließenden Entscheidung im Rat die Bun- desregierung Einvernehmen mit dem Deutschen Bun- destag herstellen soll.Dieses Einvernehmen wollen wir heute im Deutschen Bundestag mit dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen herstellen. Der Europäische Rat hat im Juni 2009 ein zusätzli- ches Protokoll zum Anliegen der irischen Bevölkerung wegen des Vertrags von Lissabon rechtsverbindlich ver- einbart. Im sogenannten Irischen Protokoll wird festge- halten, dass der Lissabon-Vertrag bezüglich „Recht auf Le- ben, Familie und Bildung“, „Steuerwesen“ und „Sicherheit und Verteidigung“ im Einklang mit der irischen Verfas- sung steht. Der Vertrag von Lissabon berührt insbeson- dere nicht Irlands traditionelle Politik der militärischen Neutralität. Es bleibt Sache der Mitgliedstaaten, mit na- tionalen Rechtsvorschriften an einer ständigen Zusam- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21325 (A) (C) (D)(B) menarbeit teilzunehmen oder sich an der Europäischen Verteidigungsagentur zu beteiligen. Ursprünglich war geplant, das Protokoll beim Beitritt Kroatiens mit zu verabschieden. Die irische Regierung hat jedoch gegenüber der dänischen Ratspräsidentschaft den Wunsch geäußert, noch vor dem für den 31. Mai ge- planten Referendum zum Fiskalvertrag die Ratifizierung des Protokolls abzuschließen. Daraus resultiert der sehr enge Zeitplan, mit dem wir alle konfrontiert worden sind. Ärgerlich ist allerdings die sehr späte Zuleitung der Bundesregierung. Erst mit Schreiben vom 4. Mai, eingegangen am 7. Mai, hat Staatsminister Link den Bundestagspräsidenten um die Einvernehmensherstellung gebeten. Der Europäische Rat hatte bereits am 23. Oktober 2011 die Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission veranlasst und vorgeschlagen, auf die Einberufung eines Konvents zu verzichten. Das Europäi- sche Parlament hat am 18. April eine positive Stellung- nahme abgegeben, die Kommission am 7. Mai. Schon am 16. Mai soll eine Regierungskonferenz abgehalten werden. Die SPD-Fraktion begrüßt, dass die bereits vereinbar- ten Klarstellungen zum Lissabon-Vertrag nun auch ver- bindlich für die irische Bevölkerung festgehalten wer- den. Daher werden wir dem neuen Zeitplan, dem Verzicht auf einen Konvent und der Einvernehmensher- stellung mit der Bundesregierung nach § 10 EUZBBG zustimmen. Joachim Spatz (FDP): Die Staats- und Regierungs- chefs haben auf dem Europäischen Rat im Juni 2009 durch einen rechtsverbindlichen Beschluss ein zusätzli- ches Protokoll für den Vertrag von Lissabon vereinbart, das sogenannte Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrages von Lissabon. Da- rin ist festgehalten, dass die Bestimmungen des Vertra- ges sowohl in den Bereichen Recht auf Leben, Familie und Bildung, Steuerpolitik als auch in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Einklang mit der irischen Verfassung stehen. Durch die Hinzufügung des irischen Protokolls wird der Vertrag von Lissabon substanziell nicht geändert. Ursprünglich wurde vereinbart, dass das irische Pro- tokoll im zeitlichen Zusammenhang mit dem nächsten Beitrittsvertrag ratifiziert wird. Aus dem nun sehr engen Zeitplan, mit einer geplanten Regierungskonferenz zur Änderung der Verträge bereits am 16. Mai 2012, ergibt sich, dass das irische Protokoll noch vor dem anstehen- den Referendum in Irland zum Fiskalvertrag am 31. Mai beschlossen werden soll und somit im Anschluss den Mitgliedstaaten zur Ratifikation zugeleitet werden kann. Die für die Zustimmung des deutschen Vertreters bei der Regierungskonferenz notwendige Einvernehmens- herstellung zwischen Deutschem Bundestag und Bun- desregierung konnte trotz der kurzen Frist erreicht wer- den. Dabei hat sich wieder einmal bestätigt, dass der Deutsche Bundestag auch unter engen zeitlichen Vorga- ben dazu in der Lage ist, seine Beteiligungsrechte in An- gelegenheiten der Europäischen Union umfänglich wahrzunehmen. Sowohl der Deutsche Bundestag als auch die Bundes- regierung unterstützen das Ziel, dem irischen Volk die bereits politisch auf Ebene der Staats- und Regierungs- chefs vereinbarten Klarstellungen zum Vertrag von Lis- sabon zu geben. Am 31. Mai 2012 findet in Irland das Referendum zum Fiskalvertrag statt. Die FDP-Bundes- tagsfraktion sieht im Fiskalvertrag einen entscheidenden Pfeiler zur Stabilisierung unserer Gemeinschaftswäh- rung und einen großen Schritt zu mehr Haushaltsdiszi- plin in Europa. Irland befindet sich seit geraumer Zeit auf einem erfolgreichen Konsolidierungskurs. Der Fis- kalvertrag stellt unserer Ansicht nach eine gelungene vertragliche Begleitung der irischen Reformanstrengun- gen dar. Wir sind der Überzeugung, dass die im Irischen Protokoll gegenüber der irischen Bevölkerung formu- lierten Klarstellungen eine positive Wirkung auf andere politische Vorhaben auf europäischer Ebene haben, wie eben der erfolgreichen Ratifizierung des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirt- schafts- und Währungsunion. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Das Irische Proto- koll, welches den vorliegenden Antrag erst nötig macht, wurde aufgelegt, nachdem die Iren in einem ersten Refe- rendum den Vertrag von Lissabon abgelehnt hatten. Um ihnen die Zustimmung in einem zweiten Referendum zu „erleichtern“, wurden in besagtem Protokoll diverse politische Erklärungen fixiert, welche unter anderem be- sagen, dass das Recht auf Leben in Irland durch die EU- Grundrechtecharta nicht berührt wird, weshalb das in Ir- land geltende Abtreibungsverbot aufrechterhalten wer- den kann. Außerdem soll mit ihm sichergestellt werden, dass die irische Dumping-Steuerpolitik durch die EU- Verträge nicht beeinträchtigt wird. Beides sind unserer Auffassung nach höchst kritikwürdige Punkte; positiv sehen wir lediglich die politische Klarstellung, dass die irische Neutralität durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht ausgehebelt wird. Doch es soll uns jetzt hier gar nicht weiter um die inhaltliche Kri- tik des Protokolls gehen, sondern das Verfahren zu sei- ner Inkorporation in den Vertrag von Lissabon und der Zweck dieses Vorgehens stehen im Vordergrund unserer Kritik. Die mit dem vorliegenden Antrag von vier Fraktionen gewünschte Herstellung des Einvernehmens zwischen Deutschem Bundestag und Bundesregierung nach § 10 EUZBBG lehnen wir ab. Dieser fordert nämlich, dem Beschluss des Europäischen Rates, eine Änderung der EU-Verträge ohne die Einberufung eines Konvents her- beizuführen, zuzustimmen und stattdessen ein Mandat für das erwünschte Format einer Regierungskonferenz zu erteilen. Damit aber – und das ist Ihnen allen hier klar – wird versucht, mindestens die Iren vorzuführen. Nach- dem deren Zustimmung zum Vertrag von Lissabon mit dem Protokoll erkauft wurde, soll es nun offenbar wie- der in diesem Sinne zur Anwendung kommen, denn seine Inkorporation war eigentlich im Zusammenhang mit dem nächsten Beitrittsvertrag mit Kroatien geplant. 21326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 (A) (C) (D)(B) Doch Rat und Kommission scheinen die Entscheidung des irischen Volkes zum Fiskalvertrag zu fürchten. Mit Blick auf die Wahlergebnisse vom Sonntag, wo sowohl in Frankreich als auch in Griechenland die Spardiktate der Troika und der sie tragenden jeweiligen nationalen Regierungen eindeutig abgewählt wurden, mutet ein Leugnen dieses Zusammenhangs geradezu lächerlich an. Die EU, der Raum von „Recht, Demokratie und Frei- heit“, hat deshalb kein Problem damit, in bester vorauf- klärerischer Manier mit der Zustimmung zum Irischen Protokoll Entgegenkommen zu signalisieren, nur um die Iren mit dem Fiskalvertrag über ein weitaus höheres Stöckchen springen zu lassen! All denen in diesem Hohen Haus, die sich nun auf den Standpunkt stellen, dass ihnen irische Befindlichkeiten keine schlaflosen Nächte bereiten, sollte aber ungleich mehr zu denken geben, dass mit dem hier gewählten Verfahren die parlamentarische Entscheidungsfindung ausgehebelt und damit demokratische Mitwirkung mas- siv eingeschränkt wird. Der Bundestag wurde am Montag früh darüber infor- miert, dass eine Regierungskonferenz in der folgenden Woche (16. Mai) einberufen werden soll. Im Schweins- galopp soll der Europäische Rat die dafür im Vorfeld erforderlichen Beschlüsse im schriftlichen Umlaufver- fahren fassen. Damit werden eine ausreichende parla- mentarische Befassung, die für die demokratische Legi- timation jeder Vertragsänderung – und sei sie noch so marginal, und auch wenn Sie jetzt darauf verweisen, dass das Protokoll selbst hervorhebt, dass sein Inhalt die Regelungen des Lissabon-Vertrags nicht tangiert – un- verzichtbar ist, sowie die öffentliche Debatte verhindert. Und bitte bedenken Sie: Mit dem vorliegenden An- trag erklären Sie von den anderen vier Fraktionen Ihre Zustimmung zu diesem skandalösen Verfahren und tra- gen damit zur Schaffung eines Präzedenzfalls bei. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem vorliegenden Antrag nimmt der Deutsche Bun- destag seine Beteiligungsrechte in Angelegenheiten der Europäischen Union war. Der Deutsche Bundestag stellt mit der Bundesregierung sein Einvernehmen her zur ge- planten Einberufung einer Regierungskonferenz und zum geplanten Beschluss der Regierungskonferenz über die Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen der iri- schen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissa- bon. Was zunächst sehr technisch klingt, hat folgenden Hintergrund: Bereits im Juni 2009 hat der Europäische Rat ein zusätzliches sogenanntes Irisches Protokoll für den Vertrag von Lissabon vereinbart. In diesem Proto- koll wird festgeschrieben, dass die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon in den Bereichen Recht auf Le- ben, Familie und Bildung, Steuerwesen sowie Sicherheit und Verteidigung im Einklang mit der irischen Verfas- sung stehen. Die Vereinbarung des Europäischen Rates war ein wichtiges, wenn nicht sogar entscheidendes Ele- ment zur Vorbereitung des irischen Referendums über den Vertrag von Lissabon im Jahr 2009. Nachdem sowohl das Europäische Parlament als auch die Europäische Kommission zugestimmt haben, für den Beschluss des vorliegenden Irischen Protokolls eine Re- gierungskonferenz einzuberufen, soll nun auf der wahr- scheinlich am 16. Mai 2012 stattfindenden Regierungs- konferenz lediglich das beschlossen werden, was bereits vor drei Jahren, im Juni 2009, auf europäischer Ebene einstimmig vereinbart wurde. Auch wenn die Bundes- regierung mit der Einvernehmensherstellung früher auf den Bundestag hätte zukommen müssen, liegt es uns fern, einen auf europäischer Ebene unter Beteiligung al- ler EU-Institutionen einhellig vereinbarten Fahrplan zu torpedieren. Deswegen gibt auch meine Fraktion der Bundesregierung grünes Licht für das weitere geplante Vorgehen. Unser Ja zur Einvernehmensherstellung hat aber nichts, rein gar nichts mit unserer Bewertung des Fiskalvertrags zu tun. An dieser Stelle deshalb nur noch eine kleine, aber dennoch wichtige Randnotiz. Zugegeben, die zweifache – und ich betone: zweifache – Einvernehmensherstel- lung von Bundestag und Bundesregierung zur geplanten Einberufung einer Regierungskonferenz und zum ge- planten Beschluss der Regierungskonferenz über die Zu- stimmung zum Irischen Protokoll hört sich nach einer rein formalen Ausführung der Parlamentsrechte gemäß § 10 des EU-Beteiligungsgesetzes, EUZBBG, an. Aber es ist ein wenig mehr als das. Die zweifache Einverneh- mensherstellung korrigiert eine Fehlinterpretation des EUZBBG seitens der Koalitionsfraktionen. Noch bei der Einvernehmensherstellung über die Änderung des Art. 136 Abs. 3 AEUV hinsichtlich eines Stabilitätsme- chanismus für die Euro-Staaten war meine Fraktion als Einzige der Auffassung, dass der Bundestag nicht nur zum Verhandlungsergebnis, sondern ebenso zum Ver- handlungsmandat sein Einvernehmen erteilen muss. Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsreihen, dass Sie auf den grünen Kurs ein- geschwenkt sind und – zumindest was diesen Punkt be- trifft – für starke Parlamentsrechte des Deutschen Bun- destages im Geiste des Lissabon-Urteils eintreten. Wenn Sie nun an unserer Seite auch noch Mitkämpfer für ange- messene Parlamentsrechte beim Fiskalvertrag werden würden, könnte die in der Vergangenheit leider häufig vollzogene Missachtung des Parlaments seitens der Bun- desregierung ein wenig geheilt werden. Ich bin gespannt, ob Sie als Parlamentarier mutig genug sein werden, um sich selbst starke Parlamentsrechte zu geben, oder ob Sie hierzu tatsächlich auf ein Urteil aus Karlsruhe warten müssen. 178. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3Regierungserklärung zum G 8- und zum NATO-Gipfel TOP 4Kooperation bei Bildung und Wissenschaft TOP 36, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren, TOP 37, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 4 Aktuelle Stunde zu „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“ TOP 5EU-Operation Atalanta TOP 6 Individuelle Gesundheitsleistungen TOP 7 KFOR-Einsatz TOP 8Besteuerung von Kapitalerträgen und Managerbezüge TOP 10Förderung von unkonventionellem Erdgas TOP 33Enquete „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ TOP 9 Umsetzung des Bologna-Prozesses TOP 12Entwicklungspolitik der Europäischen Union TOP 11 Tierschonende Bekämpfung der Schweinepest TOP 14 Kooperation von Hochschulen undUnternehmen TOP 13 Forschung für zivile Sicherheit TOP 16 Reform der Pflegeversicherung TOP 15 Deutsches Kulturerbe im östlichen Europa ZP 5 Irisches Protokoll zum Vertrag von Lissabon TOP 17 Schutz der biologischen Vielfalt TOP 18 Europäische Förderung der Atomenergie TOP 19 Schutz sozialer Errungenschaften in der EU TOP 20 Antibiotikamissbrauch in der Tierhaltung TOP 21 Umsetzung der UN-Resolution 1325 TOP 22 Müllverbrennung und Abfallmitverbrennung TOP 23 Versandhandel rezeptfreier Arzneimittel TOP 24 UN-Sozialpakt TOP 25 Eishockey-Weltmeisterschaft in Belarus 2014 TOP 26 Extremismusklausel in Programmen gegenRechtsextremismus TOP 27 Teilhabe am Sport für Menschen mitBehinderung TOP 28 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zurIntersexualität TOP 29 Visa für Menschen aus Russland und Osteuropa TOP 30 Ilse Stöbe Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717800000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.


(Zurufe: Guten Morgen, Herr Präsident!)


Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Ich freue mich über die ausge-
sprochen gute Laune, mit der Sie offenkundig zur Ple-
narsitzung erschienen sind,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird jetzt anders!)


und will sie gleich mit einer Serie von Glückwünschen
festigen.

Die Kollegin Angelika Graf feiert heute ihren 65.
und die Kollegin Carola Stauche ihren 60. Geburtstag.
Beiden möchte ich im Namen des ganzen Hauses herz-
lich gratulieren.


(Beifall)


Es geht noch weiter: Bereits am 29. April bzw. am
4. Mai feierten die Kolleginnen Dr. Barbara Hendricks
und Bärbel Höhn ihren 60. Geburtstag. Auch ihnen
möchte ich auf diesem Wege noch einmal unsere guten
Wünsche übermitteln.


(Beifall)


Der Kollege Paul Friedhoff hat mit Wirkung vom
2. Mai 2012 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag verzichtet. Für ihn ist der Kollege Manfred
Todtenhausen nachgerückt. Im Namen des Hauses be-
grüße ich den neuen Kollegen und wünsche ihm einen
guten Einstieg in unsere Arbeit und gute Zusammenar-
beit.


(Beifall)


Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung eine
Wahl durchführen, die hoffentlich nicht hochumstritten
sein wird. Der Kollege Dr. Martin Neumann hat sein
Schriftführeramt niedergelegt. Als neuen Schriftführer
schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen Jörg von
Polheim vor. Können Sie sich damit anfreunden? – Ist
jemand dagegen? – Dann stelle ich die einstimmige
Wahl des Kollegen von Polheim zum Schriftführer fest.

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-
bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen

der CDU/CSU und FDP:

Gute Prognosen bestätigt: Mehr Wachstum
und mehr Beschäftigung in Deutschland

(siehe 177. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 36

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kleegras-Verwendung in Biogasanlagen stär-
ken
– Drucksache 17/9322 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Alphabetisierung und Grundbildung in Deutsch-
land fördern – Für eine nationale Alphabeti-
sierungsdekade
– Drucksache 17/9564 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Nanotechnologie – Chancen nutzen und Risi-
ken minimieren

– Drucksache 17/9569 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 37

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit

zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zu
schwerwiegenden grenzüberschreitenden Ge-
sundheitsbedrohungen
KOM(2011) 866 endg.; Ratsdok. 18509/11

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grund-
gesetzes

– Drucksachen 17/8673 Nr. A.13, 17/9447 –

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Kitaausbau statt Betreuungsgeld

ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zur geplanten Einberufung
einer Regierungskonferenz und zum geplanten
Beschluss der Regierungskonferenz über die
Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen
der irischen Bevölkerung bezüglich des Ver-
trags von Lissabon

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-
setzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu-
sammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/9568 –

ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen

Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch
Wettbewerbsfähigkeit

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 18 b bis d
abgesetzt.

Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkte-
liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.

Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste
aufmerksam:

Der am 26. April 2012 (175. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haus-
haltsausschuss (8. Ausschuss) zur Mitberatung über-
wiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beglei-

(Bundeswehrreform-Begleitgesetz – BwRefBeglG)


– Drucksache 17/9340 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum G-8-Gipfel am 18./19. Mai 2012 in Camp
David und zum NATO-Gipfel am 20./21. Mai
2012 in Chicago

Hierzu liegt uns ein Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch darüber gibt es of-
fensichtlich Einvernehmen. Dann können wir so verfah-
ren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1717800100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! In den nächsten Wochen
werden die Vereinigten Staaten von Amerika Gastgeber
zweier wichtiger internationaler Konferenzen sein. Zu-
erst treffen sich die G-8-Staaten in Camp David. An-
schließend findet die Jahrestagung der NATO in Chicago
statt.

Im Mittelpunkt des G-8-Treffens werden – das ist bei
allen G-8-Treffen so – Themen der Weltwirtschaft ste-
hen. Dabei wird natürlich auch die wirtschaftliche Ent-
wicklung im Euro-Raum eine ganz wesentliche Rolle
spielen. Wir, die europäischen Teilnehmer, werden na-
türlich über die Anstrengungen zur Bekämpfung der
Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone berichten. Dabei





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


werden wir sowohl über die nächsten Schritte zur Kon-
solidierung der Haushalte sprechen als auch über die
Maßnahmen zur Stärkung von Wachstum und Beschäfti-
gung, die wir auf dem EU-Rat der Staats- und Regie-
rungschefs im Dezember, im Januar und im März auf
den Weg gebracht haben bzw. im Juni auf den Weg brin-
gen werden.

Der Abbau der Verschuldung und die Stärkung von
Wachstum und Beschäftigung sind die beiden Säulen der
Strategie, mit der die europäischen Staats- und Regie-
rungschefs, die europäischen Institutionen und der Inter-
nationale Währungsfonds die Staatsschuldenkrise in Eu-
ropa überwinden. Um es an dieser Stelle noch einmal
ganz unmissverständlich zu sagen – auch gerade in Rich-
tung der Opposition –: Wachstum durch Strukturrefor-
men, das ist sinnvoll, das ist wichtig, das ist notwendig,
Wachstum auf Pump, das würde uns wieder an den An-
fang der Krise zurückwerfen. Deshalb dürfen wir genau
das nicht machen, und wir werden es auch nicht machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich werde also, wie schon viele Male zuvor, auch in
Camp David wieder deutlich machen: Die Überwindung
der Staatsschuldenkrise in Europa kann und wird nicht
über Nacht erfolgen, auch nicht mit dem – sosehr wir
uns das wünschen – alles befreienden Paukenschlag.
Ebenso wenig gibt es den einen Königsweg oder das
eine vermeintliche Wundermittel. Es wurde schon über
so vieles diskutiert, von Euro-Bonds bis zur Hebelwir-
kung. All diese Mittel kamen und gingen, wirkten erst
wie Wunderwaffen und sind dann doch wieder als nicht
tragfähige Lösungen erkannt worden. Tragfähig ist und
bleibt allein eines: zu akzeptieren, dass die Überwindung
der Krise ein langer, anstrengender Prozess ist, der nur
erfolgreich sein wird, wenn wir bei den Ursachen der
Krise ansetzen. Das sind sowohl die horrende Verschul-
dung als auch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit eini-
ger Euro-Staaten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das heißt, wir müssen gemeinsam Verschuldung ab-
bauen und Wettbewerbsfähigkeit stärken. Das sind keine
Gegensätze, sondern das gehört zusammen. Das gilt im
Übrigen nicht nur für Europa, sondern für nahezu alle
Industriestaaten. Gemeinsam müssen wir im Kreis der
Industriestaaten – dafür ist die G 8 genau das richtige
Format – stärker denn je daran arbeiten, von der hohen
Verschuldung herunterzukommen. Damit legen wir den
Grundstein für ein stabiles und dauerhaftes, also nach-
haltiges, Wachstum.

Für ein so verstandenes Wachstum der Weltwirtschaft
sind freier Handel und offene Weltmärkte ganz wesentli-
che Faktoren. Ich trete daher auf den anstehenden Gip-
feln, sowohl auf dem G-8-Gipfel in diesem Monat als
auch auf dem G-20-Gipfel im Juni in Mexiko, dafür ein,
dass wir unser gemeinsames Bekenntnis zum freien
Handel bekräftigen. Die G 20 haben sich dazu verpflich-
tet, keine neuen Handelshemmnisse zu errichten und be-
stehende abzubauen. Allerdings muss man sagen, dass
die letzten OECD-Berichte genau zu diesem Thema das
Gegenteil gezeigt haben. Deshalb spreche ich auch da-

rüber. Es gibt immer wieder Versuche, Handelshemm-
nisse zu errichten. Genau dies hemmt Wachstum. Die
zuständigen internationalen Organisationen haben des-
halb immer wieder gesagt, dass wir die Fragen des freien
Handels ernst nehmen müssen, dass wir effektive Kon-
troll- und Korrekturmechanismen brauchen. Genau das
werde ich auf dem G-8-Gipfel ansprechen.

Außerdem werden wir in Camp David an die soge-
nannte Deauville-Partnerschaft anknüpfen, die wir beim
Gipfel in Frankreich im letzten Jahr mit den Staaten in
Nordafrika begründet haben. Seitdem ist diese Deau-
ville-Partnerschaft erweitert worden, einmal um das
Land Libyen, aber vor allen Dingen auch um neue In-
strumente. Ein wichtiger Baustein ist die Mandatserwei-
terung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung. Der Deutsche Bundestag hat mit seiner
Entscheidung am 29. März 2012 dazu beigetragen, dass
wir hier einen Erfolg vermelden können. Ich hoffe, dass
auch der Bundesrat morgen dem Ratifizierungsgesetz
zustimmen wird.

Ebenso wünsche ich mir, dass auf der anstehenden
Jahrestagung der Europäischen Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung am 18. und 19. Mai möglichst viele
weitere Staaten ebenfalls die Ratifizierung erklären, da-
mit die Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ihre
Tätigkeit in den südlichen und östlichen Mittelmeeran-
rainerstaaten so rasch wie möglich aufnehmen kann.

Meine Damen und Herren, die wirtschaftlichen He-
rausforderungen werden ohne Zweifel im Mittelpunkt
des G-8-Treffens stehen. Dennoch dürfen wir andere
Herausforderungen wie den Klimawandel und dessen
Kernthemen nicht aus den Augen verlieren. Deshalb
werden wir auch darüber in Camp David beraten.

Wir müssen deutlich mehr Anstrengungen unterneh-
men als bisher vereinbart, um die CO2-Emissionen nach-
haltig so zu reduzieren, dass das 2-Grad-Ziel erreicht
werden kann. Die Bundesregierung hält gemeinsam mit
der ganzen Europäischen Union an dem Ziel fest, ein
neues und verbindliches UN-Klimaschutzabkommen zu
vereinbaren. Wir wissen – das ist auch im Kreis der G-8-
Staaten ganz offensichtlich –: Der Weg dorthin ist müh-
sam, aber er liegt in unser aller Interesse. Deshalb ist er
unumgänglich.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Weg wird kein leichter sein! Er wird steinig und schwer!)


Auch in der Energiepolitik stehen wir vor großen He-
rausforderungen. Die G-8-Staaten haben sich verpflich-
tet, eine Politik für eine saubere, sichere und bezahlbare
Energie zu machen. Aber wir wissen natürlich, dass der
Energiemix in den einzelnen Mitgliedstaaten der G 8
sehr unterschiedlich ist. Dennoch – trotz dieser sehr un-
terschiedlichen Herangehensweise in der Energiepoli-
tik – wollen wir über die Auswirkungen eines veränder-
ten Energiemixes auf die Infrastruktur sprechen. Das
heißt: Wie können wir einen fairen Marktzugang im
Gassektor erreichen? Wie kann Energieförderung auf
Basis von Transparenz und gemeinsamen Standards er-
folgen? Wie können wir die Sicherheit der Energiepro-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


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(D)(B)


duktion gewährleisten, und das ganz besonders mit Blick
auf die Offshoregewinnung von Öl und Gas? Das wer-
den die Themen sein, über die wir sprechen.

Es geht natürlich auch um den Einsatz erneuerbarer
Energien und die Erhöhung der Energieeffizienz. Ich
glaube, wir sind uns einig: Die Bundesregierung ist Vor-
reiter dieser Entwicklung, weil wir die erneuerbaren
Energien zu einem wichtigen Bestandteil unserer Ener-
gieversorgung ausbauen. Ich glaube deshalb, wir können
diese Diskussionen auf dem G-8-Gipfel mit gutem
Selbstbewusstsein bewältigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, 7 Milliarden Menschen le-
ben inzwischen auf der Erde. Sie alle wollen Zugang zu
Energie, sie wollen Teilhabe am Wohlstand, und sie wol-
len vor allen Dingen Wasser und Nahrung. Deshalb ist es
in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen, dass gerade
die USA für Camp David eine sogenannte neue Allianz
planen, und zwar mit sechs Staaten aus der Subsahara-
Region Afrikas, um die Ernährungssicherung in Afrika
weiter auszubauen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie doch mal mit der Agrarreform hier an, statt sie zu blockieren!)


– Hochverehrte Frau Künast, Sie haben sicherlich schon
mitbekommen, dass ich über die Tagesordnung des
Gastgebers Vereinigte Staaten von Amerika spreche. Das
ist für Sie vielleicht schwer auszuhalten; aber das ist hier
meine Aufgabe. Deshalb komme ich dieser Aufgabe
nach.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Treffer versenkt! Und Frau Aigner macht mit Ihrer Unterstützung das Gegenteil!)


Die Vereinigten Staaten von Amerika wollen sich richti-
gerweise mit der Ernährungssicherung in der Subsahara-
Region beschäftigen. Dass Sie das nicht besonders inte-
ressiert, kann ja sein. Aber wir werden uns dafür interes-
sieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


2012 läuft das dritte und letzte Jahr der Initiative von
L‘Aquila aus. In diesem Rahmen haben die G-8-Staaten
und viele weitere Staaten 22 Milliarden US-Dollar für
den Kampf gegen den Hunger eingesetzt. Allein mit dem
deutschen Beitrag von 2,1 Milliarden Euro wurde eine
Menge erreicht. Doch wir haben im letzten Jahr gesehen
– die Hungerkatastrophe am Horn von Afrika hat es uns
noch einmal gezeigt –: Unser Engagement darf auf gar
keinen Fall nachlassen. Das wird es auch nicht. Deshalb
ist das ehrgeizige Ziel der neuen Allianz zur Ernährungs-
sicherung, binnen zehn Jahren 50 Millionen Afrikaner
aus der Armut zu befreien. Das wollen die G 8 in erster
Linie durch bessere Rahmenbedingungen für private In-
vestitionen erreichen.


(Beifall der Abg. Dagmar G. Wöhrl [CDU/ CSU])


Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir nicht immer mit
Nahrungsmitteln, die woanders angebaut wurden, hel-
fen, sondern dass wir wirklich Hilfe zur Selbsthilfe ge-
ben, und zwar auf Basis privater, sich rentierender Inves-
titionen. Deshalb teile ich dieses Ziel absolut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es geht darum, Kleinbauern Zugang zu Geld und
Märkten zu verschaffen,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Exportsubventionen streichen!)


Technologien für besseren Anbau und bessere Lagerung
zur Verfügung zu stellen und die Risiken besser zu be-
herrschen. Ich glaube, die Entwicklungspolitik von
Minister Niebel bietet eine gute Gelegenheit, hier über
unsere Erfolge zu berichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Das glaubt der ja selber nicht!)


Die intensiven Bemühungen zur Ernährungssicherung
müssen jedenfalls über 2012 hinaus fortgesetzt werden.

Meine Damen und Herren, Staatsverschuldung ab-
bauen, Wettbewerbsfähigkeit stärken, Wachstum und
Beschäftigung schaffen, den Hunger auf der Welt be-
kämpfen und das Klima schützen, das alles sind The-
men, die zeigen, was Globalisierung im 21. Jahrhundert
bedeutet. Kein Land der Welt kann die großen Heraus-
forderungen unserer Zeit tatsächlich erfolgreich alleine
bewältigen – auch die außen- und sicherheitspolitischen
Herausforderungen nicht.

So ist es nur folgerichtig, dass unmittelbar im An-
schluss an den G-8-Gipfel der NATO-Gipfel in Chicago
stattfindet, auf dem ebenfalls einmal mehr deutlich wer-
den wird, in welch veränderter Form gegenüber der Zeit
des Kalten Krieges die außen- und sicherheitspolitischen
Aufgaben unserer Zeit die Allianz und darüber hinaus
die Staaten der Welt fordern.

Wir sollten den Ausgangspunkt nie vergessen: In den
vergangenen 63 Jahren stand keine Organisation so klar
und so zuverlässig für Frieden und Freiheit wie die
Nordatlantische Allianz. Gerade wir Deutschen – das
möchte ich hier heute noch einmal erwähnen – haben der
NATO und der Solidarität unserer Verbündeten ganz be-
sonders viel zu verdanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des
Kalten Krieges in den 90er-Jahren öffnete die NATO
ihre Türen für neue Mitglieder und Partner im Osten,
und sie beendete den Krieg auf dem Balkan.

Erstmals seit dem Washingtoner NATO-Gipfel von
1999 sind die USA jetzt wieder Gastgeber eines NATO-
Gipfels. Der Bundesverteidigungsminister, der Bundes-
außenminister und ich werden gemeinsam dort sein.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie schön!)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


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Eine zentrale Botschaft unseres Treffens in Chicago ist
für mich die Bekräftigung der transatlantischen Verbin-
dung zwischen Europa und Nordamerika auf der Grund-
lage gemeinsamer Werte und Interessen – und das in
Zeiten völlig neuer Bedrohungen.

Die Welt verändert sich, und zwar immer schneller.
Sie wird komplexer, und Europäer und Amerikaner bli-
cken heute stärker als früher zum Beispiel auf Asien und
die aufstrebenden Schwellenländer. Aber ich sage: Den-
noch oder vielleicht gerade deswegen sind wir, die Euro-
päer und die Amerikaner, unverändert aufeinander ange-
wiesen. Dies gilt vorneweg für die Stabilisierung
Afghanistans, damit von dort keine terroristische Gefahr
mehr für die Welt ausgeht.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Wir werden eine Bilanz des bisherigen ISAF-Engage-
ments ziehen und weitere wichtige Schritte für ein stabi-
les und sicheres Afghanistan beschließen. Immer wieder
mussten wir Rückschläge auf dem Weg dorthin verkraf-
ten; das steht völlig außer Zweifel. Doch ebenso steht
außer Zweifel, dass in Afghanistan bereits wichtige
Ziele erreicht worden sind: Das Land ist heute kein
Rückzugsraum für al-Qaida mehr, die Taliban sind ge-
schwächt, die Zahl der Anschläge geht seit Monaten
kontinuierlich zurück, die Zahl der afghanischen Sicher-
heitskräfte ist in den letzten Jahren durch verstärkte Aus-
bildungsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft
kontinuierlich gestiegen und wird in diesem Jahr die ge-
planten 352 000 erreichen.

Aber nicht nur die Quantität der Sicherheitskräfte
wurde erhöht, auch ihre Qualität hat sich deutlich ver-
bessert. So hat die rasche und professionelle Reaktion
der afghanischen Sicherheitskräfte auf die jüngsten An-
schläge in Kabul und anderen Städten im vergangenen
Monat gezeigt, dass die laufenden Ausbildungsanstren-
gungen durchaus Früchte tragen. Die afghanischen
Sicherheitskräfte sind zunehmend in der Lage, selbst für
die Sicherheit im eigenen Land zu sorgen. Das heißt, die
Rolle der internationalen Truppen in Afghanistan ver-
schiebt sich immer mehr von der Operationsführung hin
zu Unterstützung und Beistand. Das ist genau das, was
die internationale Gemeinschaft mit der graduellen
Übergabe der Sicherheitsverantwortung im gesamten
Land an die afghanische Regierung bis 2014 erreichen
will.

Die internationale Rolle schwindet in dem Maße, in
dem die Afghanen Verantwortung übernehmen können
und wollen. Heute lebt bereits mehr als die Hälfte der
Afghanen in Gebieten, für die die afghanischen Sicher-
heitskräfte die Verantwortung tragen. Die gute Nachricht
lautet also: Der Prozess der Übergabe in Verantwortung,
den wir auf dem NATO-Gipfel 2010 in Lissabon be-
schlossen haben, kommt voran, und zwar so, wie wir uns
das vorgenommen haben.

In Chicago wird es nun konkret darum gehen, den in
Lissabon beschlossenen Fahrplan bis Ende 2014 zu be-
kräftigen. Die Bundesregierung steht zu dem oft genann-
ten Motto: zusammen hinein, zusammen heraus.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alleine heraus!)


Dazu gehört im Übrigen auch, dass sich Afghanistan
über 2014 hinaus auf die internationale Staatengemein-
schaft verlassen kann. Die internationale Afghanistan-
Konferenz in Bonn im Dezember 2011 hat das ausdrück-
lich bestätigt.

Konkret heißt das: Wir unterstützen Afghanistan auch
nach dem Ende von ISAF ab 2015 substanziell, auch
wenn der künftige NATO-Auftrag ein grundlegend ande-
rer sein wird als der bisherige. Kern des neuen Auftrags
werden die Ausbildung, die Unterstützung und die Bera-
tung der afghanischen Sicherheitskräfte sein, sowohl
beim Militär als auch bei der Polizei. Gleichzeitig erwar-
ten wir von Afghanistan, dass es seine Regierungs-
führung verbessert, den Wahlprozess reformiert und vor
allen Dingen die Korruption bekämpft.

Afghanistan braucht für die Zeit nach 2014 jedoch
nicht nur eine sicherheitspolitische, sondern auch eine
wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Perspektive.
Wir wollen dazu schon beim G-8-Gipfel in Camp David
an die Afghanistan-Konferenz in Bonn im letzten
Dezember anknüpfen und für die nächste Afghanistan-
Konferenz in Tokio ein Signal aussenden; denn die Mit-
gliedstaaten der G 8 tragen derzeit knapp 80 Prozent der
zivilen Hilfe für Afghanistan. Deshalb haben wir hier
weiterhin eine sehr große Verantwortung.

Die Bundesregierung wird sich mit einem substan-
ziellen Beitrag auch an dieser Aufgabe beteiligen, erwar-
tet allerdings auch ihrerseits von ihren Partnern, dass sie
dies ebenfalls tun, bis die Afghanen auch die finanzielle
Verantwortung, nach und nach aufsteigend, übernehmen
können. Hier sind allerdings nicht nur die NATO-Staaten
gefragt, sondern auch die internationale Staatengemein-
schaft insgesamt; denn die ganze Welt hat ein Interesse
an Stabilität in dieser Region und daran, dass Afghanis-
tan nie wieder Rückzugsraum für Terroristen werden
kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht über Af-
ghanistan sprechen, ohne an alle deutschen Landsleute
zu denken, die dort ihren Beitrag leisten. Ich danke unse-
ren Soldatinnen und Soldaten genauso wie den zivilen
Helferinnen und Helfern. Ihr Einsatz ist von großer Be-
deutung, und er verdient unser aller Respekt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ein zweites wichtiges
Thema in Chicago werden die militärischen Fähigkeiten
sein, die wir brauchen, um den sicherheitspolitischen
Herausforderungen von heute und morgen zu begegnen.
Gerade in Zeiten knapper Kassen müssen wir Synergien
und Gemeinsamkeiten durch noch engere Zusammen-
arbeit nutzen. In Lissabon 2010 – Sie erinnern sich –
haben wir deshalb das neue Strategische Konzept
beschlossen und das Bündnis damit auf das aktuelle
Sicherheitsumfeld und die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts ausgerichtet. Dafür brauchen wir die





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


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geeigneten militärischen Fähigkeiten, die jetzt stufen-
weise entwickelt werden müssen.

In diesem Zusammenhang wurde das Schlagwort
„Smart Defense“ geprägt. Dabei geht es um die richtige
Prioritätensetzung, eine enge Abstimmung der nationa-
len Verteidigungsplanungen und die gemeinsame Ent-
wicklung, Beschaffung und Nutzung wichtiger militäri-
scher Fähigkeiten. Dazu einige konkrete Beispiele.

Erstes Beispiel: die NATO-Raketenabwehr. In Lissa-
bon haben wir 2010 dazu einen Grundsatzbeschluss ge-
fasst, um uns vor neuen Bedrohungen, wie der Prolifera-
tion von Massenvernichtungswaffen und der Existenz
weitreichender Trägersysteme in einigen Ländern, zum
Beispiel im Iran, zu schützen. In Chicago können wir
jetzt feststellen, dass die sogenannte Anfangsbefähigung
der NATO-Raketenabwehr erreicht ist. Für den weiteren
Ausbau des Systems hat Deutschland als nationalen Bei-
trag mobile Patriot-Luftabwehrsysteme angeboten.

Beim Gipfel in Lissabon 2010 hat das Bündnis Russ-
land die Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr ange-
boten. Mit dieser Zusammenarbeit wollen wir ein quali-
tativ neues Kapitel im Verhältnis zu Russland
aufschlagen.

Zum ersten Mal würden die NATO und Russland
echte gemeinsame Verteidigungsanstrengungen unter-
nehmen. Die Diskussionen sind zum Teil noch sehr kon-
trovers. Aber Deutschland hat ein elementares Interesse
daran, sie zu einem Erfolg zu führen. Es bestehen unter-
schiedliche Vorstellungen, wie eine Zusammenarbeit bei
der Raketenabwehr konkret in die Praxis umgesetzt wer-
den kann. Aber wir werden unsere ernsthaften Bemü-
hungen um eine Kooperation mit Russland fortsetzen.
Das Angebot steht weiterhin. Die von Deutschland im
März ausgerichtete gemeinsame computergestützte Ra-
ketenabwehrübung mit NATO-Nationen und Russland
hat unser Engagement einmal mehr unterstrichen.

Ein zweites Beispiel neuer militärischer Fähigkeiten
im Sinne von Smart Defense ist das NATO-Projekt zur
Bodenraumüberwachung, Alliance Ground Surveillance.


(Zuruf von der LINKEN: Das wird teuer!)


Deutschland wird die hierfür benötigten unbemannten
Flugzeuge bereitstellen. So ist unser Plan. Ich weiß um
die Diskussionen im Haushaltsausschuss.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Dadurch erhalten wir neue Aufklärungsmöglichkeiten
und erhöhen so die Sicherheit unserer Soldaten in ihren
Einsätzen.

Ein drittes Beispiel: In Chicago plant die NATO die
Verstetigung des sogenannten Air Policing, also die
Überwachung des Luftraums, im Baltikum. Die Bundes-
wehr hat diese Aufgabe im Baltikum schon mehrfach
übernommen. Unsere baltischen Alliierten können somit
ihre Ressourcen für andere Fähigkeiten einsetzen, die
das Bündnis braucht, anstatt zusätzlich eigene Luftstreit-
kräfte aufzubauen.

Meine Damen und Herren, bei der Umsetzung des
neuen Strategischen Konzepts insgesamt wird es immer
öfter nicht mehr nur um nationale Beiträge gehen, son-
dern auch um die gemeinsame Bereitstellung von Fähig-
keiten in der Allianz. Dies geht mit der Erwartung unse-
rer alliierten Partner einher, dass solche Fähigkeiten im
Falle eines Einsatzes auch sicher und verlässlich zur
Verfügung stehen müssen.

Ich muss im Deutschen Bundestag auf diese Erwar-
tung hinweisen. Deshalb werden wir uns im Deutschen
Bundestag perspektivisch damit beschäftigen müssen.
Denn wie wir die Erwartungen auch an deutsche Bei-
träge zu gemeinsam bereitgestellten NATO-Fähigkeiten
für den Fall eines Einsatzes mit den Bestimmungen des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes in Einklang bringen
können, das müssen wir im Parlament noch intensiv dis-
kutieren. Diese Diskussion kommt mit Sicherheit auf
uns zu.

In Lissabon haben wir darüber hinaus beschlossen,
die Mischung der militärischen Fähigkeiten des Bünd-
nisses – konventionell, nuklear und Raketenabwehr –
einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen. Die-
ser Prozess kam nicht zuletzt auch auf deutsche Initia-
tive, insbesondere des Bundesaußenministers, zustande
und ist bisher einmalig in seiner Art. Dabei spielen der
kooperative Sicherheitsansatz und die Themen Abrüs-
tung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung eine
große Rolle.

Ich will noch einmal daran erinnern, dass die NATO
sich mit diesen Themen, Abrüstung zum Beispiel, bis-
lang so noch nicht befasst hat. Deshalb ist es gut, dass
ich berichten kann, dass wir hier auf gutem Wege zu ei-
nem überzeugenden Gipfelergebnis sind. Es zeichnen
sich substanzielle Aussagen zum Thema Abrüstung ab
sowie auch im Bereich gegenseitiger Transparenz-
maßnahmen gegenüber Russland bei substrategischen
Nuklearwaffen.

Dies führt zum dritten Hauptthema, das neben Afgha-
nistan und den militärischen Fähigkeiten in Chicago be-
raten wird. Das ist die Zusammenarbeit der NATO mit
ihren Partnern außerhalb der NATO.

Deutschland setzt sich traditionell ganz besonders für
diese Zusammenarbeit ein. Sie entspricht unserem Ver-
ständnis von moderner, kooperativer Sicherheit, das ge-
rade auch im neuen Strategischen Konzept der NATO
verankert ist. Deshalb begrüße ich sehr, dass in Chicago
insgesamt 60 Staaten und Organisationen teilnehmen
werden, unter anderem auch die Europäische Union, die
aus unserer Sicht natürlich einen der wichtigsten strate-
gischen Partner der Allianz darstellt. Denn für die
Bundesregierung gehören eine starke transatlantische Si-
cherheitsgemeinschaft und eine europäische Sicherheits-
politik untrennbar zusammen.

Die Bedeutung unserer Partner wird auch bei den ein-
zelnen Operationen ganz offensichtlich. So sind in Af-
ghanistan heute gemeinsam mit den Alliierten der NATO
mehr als 20 Partnerstaaten als Truppensteller für ISAF
engagiert. Aber auch an anderen NATO-geführten Ope-
rationen sind Partnerstaaten substanziell beteiligt. Ich er-
innere nur an das aktuelle Beispiel KFOR, wo erneut das





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


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gemeinsame deutsch-österreichische Reservebataillon in
den Kosovo entsandt wurde, um während der serbischen
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die Sicherheit
insbesondere im Norden des Kosovo zu gewährleisten.

Meine Damen und Herren, halten wir für einen Mo-
ment inne. Vor zwei Tagen war der 8. Mai. Vor 67 Jahren
endete am 8. Mai 1945 die furchtbarste Katastrophe, die
in der Geschichte der Menschheit von Deutschland über
Europa und die Welt gebracht wurde. Heute leben wir in
Deutschland und in der Europäischen Union in Frieden
und Freiheit, leider nicht in ganz Europa; denn in der
Ukraine und in Weißrussland leiden Menschen immer
noch unter Diktatur und Repression.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Kasachstan nicht zu vergessen!)


Niemals dürfen wir vergessen – und sind die Aufgaben
unserer Zeit auch noch so groß und mag manche partei-
politische Auseinandersetzung auch noch so anstrengend
sein –, welchen Schatz wir in der Europäischen Union
und der transatlantischen Gemeinschaft seit nunmehr
67 Jahren hüten müssen: den Schatz von Frieden und
Freiheit, von Demokratie und Menschenrechten, von
Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mich hat deshalb auch das Bild berührt, als der bishe-
rige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und
sein Nachfolger François Hollande vor zwei Tagen, am
8. Mai, gemeinsam des Endes des Zweiten Weltkrieges
in Paris gedacht haben. In ihrem gemeinsamen Gedenken
– übrigens auch in dem Besuch unseres Bundespräsiden-
ten am vergangenen Samstag in den Niederlanden – wird
uns allen der immerwährende Auftrag aller Staaten
Europas und der Welt vor Augen geführt: der Auftrag für
Frieden und Freiheit.

Der G-8-Gipfel in Camp David und der NATO-Gip-
fel in Chicago, der politischen Heimat des amerikani-
schen Präsidenten Barack Obama, einer Stadt, die für
Offenheit, Dynamik und das Zusammentreffen ganz
verschiedener Kulturen steht, diese beiden Gipfel wer-
den demonstrieren, wie eng die Welt wirtschaftlich und
sozial verflochten ist. Sie werden demonstrieren, wie
eng gerade das Band zwischen unseren nordatlantischen
Alliierten und Europa ist, wie erfolgreich dieses Bünd-
nis durch ein weltumspannendes Netz aus Partnerschaf-
ten für Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschen-
würde heute und in Zukunft eintritt. Diese Werte sind
jede Anstrengung und jeden Einsatz wert.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717800200

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-

nächst dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1717800300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Merkel, es ist wahr: Eskalationen im ganzen Nahen
und Mittleren Osten – Syrien, Iran, Afghanistan –, un-
klare Lage in Ägypten, wiederaufflammende Diskussio-
nen über die Raketenabwehr, neue Verblockungen im
russisch-amerikanischen Verhältnis, anhaltende Krise in
Europa, Erosion der Demokratien in Teilen Europas,
erneut ungebremste Blasenbildung auf den Finanzmärk-
ten, das alles sind wahrhaftig größte Herausforderungen
für G 8, NATO und später auch für G 20. Wahrhaft
wichtige Gipfel in angespannten Zeiten! Aber wenig
davon war in Ihrer Regierungserklärung tatsächlich zu
bemerken. Da gab es nur ganz viel Routine.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Worauf wir warten, sind Initiativen und Taten von
deutscher Seite. Wo sind die Beiträge der Bundesregie-
rung zu den Gipfeln, die vor uns liegen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel, Ihr neuer Partner auf der anderen Seite des
Rheins hat vor kurzem gesagt: „Zeit“, sagt François
Hollande, „ist die wichtigste Ressource der Politik.“
Man kann Zeit nutzen und etwas für die Menschen und
sein Land tun, oder man kann Zeit vertändeln und ver-
tun. Frau Merkel, die Regierung unter Ihrer Führung hat
die letzten drei Jahre vertändelt und vertan. Drei Jahre
Schwarz-Gelb, das waren verlorene Jahre für Deutsch-
land. Nichts spricht dafür, dass sich das in den nächsten
Monaten ändert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frankreich hat den Wechsel gewählt. Die letzten zehn
Landtagswahlen signalisieren Ihnen doch allesamt: Das
Spiel geht zu Ende. Und Sie, Frau Merkel, wissen das
ganz genau.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann den Menschen auf Dauer nicht etwas vor-
machen. In dieser Koalition – Sie wissen das alle mitei-
nander – herrschte Stillstand von Anfang an. Sie verwal-
ten Ihren täglichen Dauerstreit, den Sie untereinander
haben. Sie bringen nicht wirklich etwas nach vorne.


(Zuruf des Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU])


Das merken die Menschen. Energiewende, Herr Röttgen,
Herr Rösler – ein einziges Desaster. Das ist in diesen
Tagen in den Zeitungen nachzulesen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Europäische Krise – kein Ende in Sicht. Das Betreu-
ungsgeld – eine Reise ins bildungspolitische Absurdis-
tan.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Frank-Walter Steinmeier


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In der Außenpolitik haben Sie den Aufbruch in der
arabischen Welt schlicht verschlafen. Wie es in Afgha-
nistan wirklich weitergehen soll, haben wir jedenfalls
heute von Ihnen nicht erfahren. Überall in der Welt wür-
den Initiativen aus Deutschland gebraucht, aber aus die-
ser Regierung kommt nichts. Diese Regierung kreist
24 Stunden am Tag um sich selbst und versucht, sich bis
zum Wahltermin zu retten. Das reicht nicht, weil überall
in Europa die Warnblinklampen leuchten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb wird langsam auch dem Letzten klar: Sie in die-
ser Bundesregierung haben die letzten drei Jahre von
nichts anderem als der Substanz gelebt, von Entschei-
dungen, die andere getroffen haben, von Kämpfen, die
andere ausgefochten haben. Die Stärke, die dieses Land
hat, hat nichts mit dieser Regierung zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Reden Sie einmal zum Thema!)


Sie alle miteinander ernten doch seit drei Jahren das,
was andere vor Ihnen gesät haben. Dieses Land hat auch
schwierige Entscheidungen erlebt und ist durch harte
Konflikte gegangen, ja. Die Folgen sind bis heute spür-
bar, und nicht jeder hat gute Erinnerungen an diese
Jahre. Aber so schwierig und so anstrengend der Weg
war, er hat uns hier in Deutschland zu einer einmaligen
Situation in Europa geführt. Nur bei uns geht seit Jahren
die Arbeitslosigkeit zurück und sind gleichzeitig die
Auftragsbücher gefüllt. Der Weg über zehn Jahre vom
Schlusslicht der europäischen Wachstumstabelle bis an
die Spitze war ein langer und anstrengender Weg. Jetzt
haben wir einen Vorsprung vor anderen, Gott sei Dank.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das haben wir der Opposition zu verdanken?)


Aber dieser Vorsprung ist doch nicht garantiert, er ist
doch nicht für alle Ewigkeit zementiert. Sie leben davon,
dass andere Antworten auf Fragen des letzten Jahrzehnts
gegeben haben. Aber wo sind Ihre Antworten auf die
Fragen von heute und morgen? Das fragen sich doch die
Menschen.


(Beifall bei der SPD)


Ob Sie es glauben oder nicht: Die Debatte über das
Betreuungsgeld ist doch deshalb so symbolisch


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– das gefällt Ihnen nicht; ich weiß das, aber gerade des-
halb sage ich es –, weil sie markiert, was Sie nicht ver-
stehen und nicht verstehen wollen, nämlich auf welche
Schwierigkeiten wir in den nächsten Jahren zulaufen –
auf dem Arbeitsmarkt, in der Demografie und beim Aus-
bluten des ländlichen Raums. Nichts und keine Antwor-
ten von Ihnen dazu.


(Beifall bei der SPD)


Es reicht einfach nicht, sich über die wirtschaftliche
Lage dieses Landes zu freuen. Politik hat eine Aufgabe,
meine Damen und Herren: für Zukunft zu sorgen. Das

tun Sie gerade nicht. Deshalb sage ich Ihnen: Was ich
dieser Regierung am meisten vorwerfe – das sage ich mit
großem Ernst –, ist, dass sie seit Jahren von der Hand in
den Mund lebt. Statt selbst Politik zu entwerfen, gehen
Sie an die Vorräte, die von Ihren Vorgängerregierungen
angelegt worden sind, und das ist nicht fair, nicht fair in
der Politik und nicht fair gegenüber den Menschen.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Durchwursteln bis zum Wahltermin – das ist es, was
wir erleben. Aber das ist keine Politik. Ich kann Ihnen
versichern: Die Menschen sind inzwischen gelangweilt
von den täglichen Personalnachrichten aus dieser Bun-
desregierung. Wer heute, wer gegen wen? Dieses Land
braucht eine Befreiung aus der politischen Lethargie,
braucht Ziele, braucht Gestaltungswillen und braucht
vor allen Dingen einmal wieder ordentliches Handwerk
in dieser Regierung.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Deshalb brauchen wir Sigmar Gabriel?)


Deshalb brauchen wir eine Regierung, die in Deutsch-
land wieder etwas bewegen will, und hinter ihr ein
Bündnis von Menschen, für die Politik mehr ist als blo-
ßer Machterhalt. Meine Damen und Herren, was
Deutschland braucht, das ist nicht Schwarz-Gelb,
Deutschland braucht wieder eine Koalition für Aufbruch
und Veränderung. Dafür stehen Sozialdemokraten und
Grüne – nicht zum ersten Mal in diesem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


Auf dem G-8-Gipfel, auf dem NATO-Gipfel und spä-
ter auch auf dem G-20-Gipfel geht es doch für Sie und
für uns miteinander um eine wirklich ganz große Frage:
Welche Rolle werden wir in dieser veränderten Welt in
Zukunft eigentlich noch spielen? Sind wir als Europäer
da miteinander weiterhin eine gestaltende Kraft? Setzen
wir unsere Werte in der sich in rasanter Veränderung
befindenden Welt durch? Oder driften wir ab; werden
wir weniger bedeutsam?

Ich sehe jedenfalls vier große Baustellen auf uns
zukommen, über die wir sprechen müssen, nicht nur
hier, sondern auch – mit deutschen Vorschlägen – auf
den Gipfeln. Es sind vier Baustellen, die über unsere
Zukunft entscheiden werden: Erstens.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die SPD-Fraktion!)


Wie sieht es mit der Gestaltung der europäischen Wachs-
tumspolitik aus? Haben wir den Mut, uns zu einer euro-
päischen Industriepolitik zu verständigen? Zweitens.
Wie sieht eine erfolgreiche Energiewende aus, in der
Deutschland den Vorreiter macht? Drittens. Wie sieht
eine Regulierung der Finanzmärkte aus, die diesen
Namen verdient? Und schließlich viertens – lassen Sie
uns das nicht vergessen. Wie sieht eine Befestigung der
Demokratie aus, die in Europa leider notwendig gewor-
den ist? Um diese vier Grundfragen wird es gehen.





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD)


Erste Baustelle: europäische Wachstumspolitik. Wir
Sozialdemokraten fragen: Wo kommt das Wachstum
her? Wir haben Ihnen dazu Vorschläge gemacht. Über
diese Vorschläge diskutieren wir. Überall in Europa wird
man zu Debatten und Diskussionen über die Vorschläge
eingeladen, nur die deutsche Bundesregierung ist seit
Tagen und Wochen auf Tauchstation. Deshalb noch ein-
mal zur Versicherung: Frau Merkel, nicht wir brauchen
Sie, sondern Sie brauchen uns, die Opposition. Sie tra-
gen die Verantwortung dafür, dass die entsprechenden
Verträge von deutscher Seite aus ratifiziert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte zur Klarstellung noch einmal eines anfü-
gen: Wir streiten in diesem Land nicht über die Notwen-
digkeit von Konsolidierung,


(Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Doch!)


jedenfalls nicht zwischen Regierung und SPD-Opposi-
tion. Ich wehre mich aber dagegen – das können Sie
auch mitnehmen –, dass Sie in Ihren öffentlichen Rat-
schlägen unsere eigenen Erfahrungen in Deutschland
ignorieren. Wir sind nicht nur deshalb wieder ins vordere
Feld der Wachstumstabelle gekommen, weil wir in der
Vergangenheit, weil wir in den zehn Jahren, die hinter
uns liegen, einfach fantasielos gespart haben. Das ist
falsch. Sondern wir haben einen vernünftigen Mix aus
Einsparungen, Strukturreformen und Erhalt des Wachs-
tums in Deutschland gepflegt. Das hat uns in die
Erfolgskurve gebracht. Das verraten Sie durch Ihre
öffentlichen Ratschläge selbst.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Deshalb – ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht –
ist es so, dass Deutschland und Europa aus der gegen-
wärtigen Krise nur herauskommen werden, wenn wir
wirklich den Mut haben, auf Wachstumsimpulse zu set-
zen. Dafür brauchen wir Vorschläge, wie wir sie Ihnen
gemacht haben, und dafür müssen Sie auch den Mut
haben, sich zu einem Instrument zu bekennen, das Sie in
der Vergangenheit verweigert haben, nämlich zur
Umsatzsteuer auf Anlagegeschäfte auf den Finanzmärk-
ten. Das muss kommen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es genügt auch nicht, wie auf dem letzten und vor-
letzten europäischen Gipfel, etwas über Jugendarbeits-
losigkeit zu sagen, sondern wir brauchen ein wirklich
entschlossenes Programm zur Bekämpfung von Jugend-
arbeitslosigkeit in Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich unterstelle, dass Sie dazu im Grunde genommen
keine andere Auffassung haben als wir. 50 Prozent oder
auch 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit sind nicht nur
eine Schande für Europa, sondern das untergräbt auch
die Autorität der europäischen Integration. Das dürfen

wir alle miteinander nicht zulassen, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweite Baustelle: Klimaschutz und Energiewende.
Meine Damen und Herren, ich will hier nicht lange über
die Krise in der deutschen Solarindustrie reden;


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Sehr gut!)


sie kennen Sie selbst und haben Sie selbst zum Teil mit
angerichtet. Ich will auch nicht lange über den drohen-
den Stopp beim Ausbau der Windenergie reden, insbe-
sondere was Offshoreanlagen in der Nordsee angeht,
weil Sie mit den Anbindungen nicht vorankommen. Ich
will auch nicht darüber reden, dass in dieser Energie-
wende nach wie vor nicht klar ist, wie Investitionen in
die Gasverstromung zustande kommen sollen, die Sie
beim Ausbau der erneuerbaren Energien ja dringend
brauchen. Wenn wir unsere Energiewende in den Sand
setzen – das wird passieren, wenn Röttgen und Rösler so
weitermachen wie bisher –,


(Beifall bei der SPD)


dann werden sich unsere Konkurrenten in ganz Europa
ins Fäustchen lachen. Ich sage Ihnen: Auch hier ist
Deutschland drauf und dran, den Vorsprung zu verspie-
len, den es sich erarbeitet hatte. Das dürfen wir nicht
zulassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dritte Baustelle: Regulierung der Finanzmärkte. Wir
haben in diesem Saal schon darüber gestritten, ich weiß
nicht, wie viele Male. Ich erwähne es hier deshalb, weil
ich dringend erwartet hätte, Frau Merkel, dass Sie in
Ihrer Regierungserklärung wenigstens ein paar Sätze
dazu sagen, mit welchen Initiativen und mit welchen
Vorschlägen die deutsche Bundesregierung zum G-8-
Gipfel und demnächst zum G-20-Gipfel fährt. Warum
sich der Finanzminister hier nach wie vor vornehm
zurückhält, verstehe ich nicht. Hier sollten wir Deut-
schen der Treiber sein und nicht hinter anderen zurück-
hängen, auch nicht hinter den Amerikanern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vierte Baustelle – vielleicht etwas unerwartet –: die
Demokratie, ein Kernanliegen, das uns alle miteinander
eint. Frau Merkel, die Sätze, die Sie zur Ukraine und zu
Weißrussland gesagt haben, unterstreiche ich. Aber wir
haben mittlerweile, wenn wir über Demokratie reden,
auch Anlass, nach Europa, in Länder der Europäischen
Union zu schauen. Wir müssen vor allen Dingen dafür
sorgen, dass wir in dieser Frage weltweit nicht unsere
Glaubwürdigkeit verlieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es reicht nicht – das ist jedenfalls meine Auffassung –,
wenn wir jetzt mit Blick auf das dramatische Wahlergeb-
nis in Griechenland, insbesondere für die radikalen und
antieuropäischen Kräfte, Tränen vergießen. Ich sage das





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


auch deshalb, weil wir uns ein Ereignis in Erinnerung
rufen müssen, an dem wir Mitverantwortung tragen. Ich
erinnere an den G-20-Gipfel in Cannes, auf dem Frau
Merkel und Nicolas Sarkozy den mutigen griechischen
Ministerpräsidenten in den Senkel gestellt haben, ihn
wie einen Schuljungen abgekanzelt haben,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


weil er auf die Idee gekommen ist, sich sehr frühzeitig
– bevor die eigene Bevölkerung an den Opfern, die sie
zu bringen hat, verzweifelt – Legitimation über ein Refe-
rendum zu besorgen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir waren in dieser Frage damals auseinander; ich
weiß das. Ich erwähne es hier, weil es vielleicht jetzt,
nach Besichtigung der Wahlergebnisse, die jetzt einge-
treten sind und sich nach einer neuen Neuwahl in Grie-
chenland vermutlich wiederholen werden, angemessen
ist, noch einmal darüber nachzudenken, ob es wirklich
richtig und verantwortbar war, den Versuch eines frühe-
ren griechischen Ministerpräsidenten, sich Legitimation
für einen schwierigen Kurs über ein Referendum zu
besorgen, durch eine deutsch-französische Initiative zu
stoppen.


(Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen: Das stimmt doch gar nicht!)


Ich halte das nach wie vor für falsch. Ich finde, es spie-
gelt sich auch in den Ergebnissen wider.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, Angst ist ein schlechter
Ratgeber. Das sollten wir bei allen Fragen, die uns im
Augenblick in Europa beschäftigen, immer mit beden-
ken. Es muss uns gelingen, die Völker Europas auf den
Weg der Integration mitzunehmen, so schwer das ist;
sonst wird dieses Europa keine Zukunft haben. Als Eli-
tenprojekt wird es auf Dauer nicht gelingen; das wissen
wir doch alle miteinander. Ich habe gesagt: Wachstum,
Energie, Regulierung der Finanzmärkte und Befestigung
der Demokratie, das sind die vier Baustellen, an denen
sich die Zukunft Europas entscheidet. Es sind vier Bau-
stellen, an denen wir mit eigener Gestaltungskraft, mit
eigenen Vorschlägen, mit eigenen Bausteinen mitbauen
müssen, vier Baustellen, bei denen ich finde, dass dieser
Regierung jedenfalls die Kraft, die Ideen und die Mehr-
heiten fehlen. Deshalb, Frau Merkel – Sie lesen es heute
Morgen in vielen Tageszeitungen –, wird es einsam um
Sie.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, nein!)


Drei Tage noch bis zur Landtagswahl in Nordrhein-
Westfalen, 255 Tage bis zur Landtagswahl in Nieder-
sachsen, höchstens 500 Tage bis zur Bundestagswahl –
auch in Deutschland stehen die Signale auf Veränderung,
meine Damen und Herren.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717800400

Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1717800500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf den

Gipfeln in Camp David und Chicago werden Wegmar-
ken für die nächsten Jahre gesetzt. Die westliche Welt
muss und wird Zielstrebigkeit demonstrieren, die west-
liche Welt muss und wird Einigkeit demonstrieren, und
die westliche Welt muss und wird Handlungsfähigkeit
und Kooperationswillen demonstrieren.

Beim G-8-Gipfel wird es zwei neue Teilnehmer
geben; besser gesagt: einen wirklich neuen Teilnehmer,
den neuen französischen Präsidenten, und eigentlich
einen altbekannten Wiederteilnehmer, der sich aber dies-
mal durch seinen Vorgänger und früheren Nachfolger
vertreten lässt. Beide sind wichtige Partner für Deutsch-
land.

Wirtschaftlich haben wir eine enge Zusammenarbeit
mit Russland. Russland gehört zur G 8. Sicherheitspoli-
tisch wird eine enge Einbindung Russlands ebenfalls in
Aussicht genommen; Stichwort „Raketenabwehrsys-
tem“. Hier müssen substanzielle Signale kommen. Nur
dann kann auch der NATO-Gipfel ein Erfolg werden.

Der Westen und Russland haben die Chance auf einen
neuen partnerschaftlichen Anfang. Deutschland, an der
Spitze die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminis-
ter, hat traditionell eine besondere Funktion bei der Ver-
ständigungspolitik mit Russland. Nur durch Gespräche
miteinander kann man Veränderungen in Russland errei-
chen.

Die Sicherheitspolitik mit den Planungen für den
Afghanistan-Abzug, der Neuausrichtung der militäri-
schen Zusammenarbeit im Bündnis und der von
Deutschland betriebenen Abrüstungsinitiative ist die
eine Seite; die weltwirtschaftliche Entwicklung ist die
andere Seite. Beides ist aktive Friedenspolitik.

Die Augen werden auf Europa gerichtet sein. Die
Wahlausgänge in Frankreich und Griechenland sind
weltweit registriert worden. Europa muss stabil und
handlungsfähig bleiben. Ich bin überzeugt: Frankreich
wird auch unter dem neuen Präsidenten eine verantwort-
liche Währungspolitik mittragen.

Allen verantwortlichen Kräften in Europa ist klar:
Ohne eine mutige Entschuldungspolitik bekommen wir
die Lage nicht in den Griff.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Schuldenabbau ist die Bedingung für gutes, stabiles
Geld, für eine seriöse langfristige Wirtschaftspolitik.
Schuldenabbau ist die Bedingung für die Zukunft des
Euro.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren, entscheidend ist Ver-
trauen – Vertrauen der Finanzmärkte in die europäische
Entwicklung und Vertrauen der Menschen in Europa
darauf, dass wir eine stabile Entwicklung voranbringen.
Ohne Vertrauen keine Investitionen, ohne Investitionen
keine Arbeitskräfte! So herum funktioniert es! Deshalb
ist Vertrauen-Schaffen zentrale Aufgabe einer erfolgrei-
chen Wirtschaftspolitik in Europa.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Fiskalpakt ist die Garantie dafür. Er ist verhan-
delt. Die Sozialdemokraten müssen eine Abwägung vor-
nehmen, ob sie Wahltaktik verfolgen oder ob sie sich
staatspolitisch verantwortlich für die Entwicklung in
Europa entscheiden. Darum geht es.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Da haben Sie bei uns keine Sorge!)


Der neue französische Präsident wird vertragstreu
sein. Er hat registriert: Deutschland ist wirtschaftlich
deshalb so sehr erfolgreich, weil wir einen klaren markt-
wirtschaftlichen Kurs haben. Deutschland ist erfolgreich
durch Flexibilität, harte Arbeit und erfolgreiche Sozial-
partnerschaft. Wer aber meint, mit Arbeitszeitverkür-
zung, mit vielen Stellen beim Staat, mit Frührente
erfolgreich sein zu können, der sollte nach Griechenland
schauen. Dort kann er studieren, wie sich diese Fehlein-
schätzung bitter rächt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Von oben herab!)


– Hören Sie doch auf, Sie mit Ihrer SED-Vergangenheit.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wie soll ich das denn machen!)


Übrigens: Ich wäre mit der Forderung nach einem
Marshallplan sehr vorsichtig. Das, was Sie machen, ist
Schlagwortökonomie. Der Marshallplan war mit einer
Währungsreform verbunden. Wer plump und geschichts-
vergessen einen Marshallplan fordert, läuft Gefahr, eine
Währungsreform im Blick zu haben. Das gilt es unter
allen Umständen zu vermeiden. Die Deutschen haben
zweimal ihr Geld verloren. Wir hatten zwei Währungs-
reformen. Deshalb kämpft eine bürgerliche Regierung
mit vollem Einsatz für stabiles Geld und lässt eine Ent-
wicklung zur Währungsreform nicht zu.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Alle reden jetzt von Wachstum, sogar die Grünen. Sie
haben 30 Jahre lang erzählt: Wachstum ist schlecht.
Doch im April hat Frau Künast erklärt: Seit dem Club of
Rome kennen wir alle die Grenze des Wachstums. – Vor
zwei Jahren erklärte sie im Spiegel, welche Teile der
Wirtschaft radikal schrumpfen müssen und welche Teile
radikal wachsen müssen: die Autoindustrie, die Chemie-
industrie und die Maschinenbauindustrie wollte sie
umbauen. Es ist schon ein starkes Stück: Die wachs-
tumsfeindlichste Partei Deutschlands, die wachstums-
feindlichste Partei Europas fordert Wachstumspro-

gramme. Das ist eine tolle Entwicklung, die Sie
vollzogen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freuen Sie sich doch!)


Bis gestern wollten Sie Stagnation und Schrumpfung
der Wirtschaft. Sie haben das mit einer Verbesserung der
Lebensqualität verkauft. Auf einmal merken Sie: Wachs-
tum schafft Beschäftigung.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir zittern schon!)


Wachstum schafft Wohlstand. Wachstum garantiert so-
zialen Frieden. Also: Willkommen im Klub der Realität,
bei der Realität des Wachstums. Sie haben lange
gebraucht. Aber immerhin: Sie haben es gemerkt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nur: Bei Ihrer Reaktionsgeschwindigkeit, was das
Wachstum betrifft, würden wir noch heute Dampfloks
herstellen. Aber das ist nicht der Weg in die Zukunft der
deutschen Industrie.

Bei der SPD will ein Zwitscherkönig Kanzlerkandidat
werden. Beim Kollegen Gabriel gibt es einen Strategie-
wechsel im Twitterformat: Kuscheln oder Klassen-
kampf.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Nichts ist entschieden bei den Sozialdemokraten. Das
Problem ist: Wo Gabriel kämpfen müsste, kuschelt er.
Die Ablehnung des Antipirateneinsatzes in Somalia
zeigt das. Die SPD macht sich mal wieder vom Acker.
Das ist wieder Wahlkampftaktik. Das ist keine staats-
politische Verantwortung. Herr Steinmeier hätte am
liebsten zugestimmt. Er hat dann für Enthaltung
gekämpft, für seine Überzeugung, und hat in der SPD-
Fraktion mal wieder verloren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Sie müssen nicht alles glauben, was in der Zeitung steht!)


Wo Gabriel kuscheln müsste, macht er vermeintlich
Klassenkampf, beispielsweise beim Abbau der kalten
Progression.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Guter Schlachtplan!)


Die SPD blockiert dies im Bundesrat. Sie verweigern
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Steu-
ergerechtigkeit.


(Thomas Oppermann [SPD]: Steuersenkung auf Pump!)


Es geht darum, ein Stück Steuererhöhung abzubauen und
zu verhindern. Sie sollten einmal vor den Werkstoren in
Bochum und Köln den Mitarbeitern von Ford und ande-
ren Unternehmen erklären, dass sie von den kräftigen
Lohnerhöhungen – darüber freuen wir uns – relativ we-
nig übrigbehalten, weil Sie ein Stück Steuergerechtigkeit





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


verweigern. Das ist die sozialdemokratische Politik. Das
muss man draußen laut und deutlich sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Sie wollen neue Schulden! – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Karneval ist vorbei!)


So sieht die sozialdemokratische Welt aus: hohe Steu-
ern, hohe Schulden, null Wachstum. Ihre Politik, wenn
Sie sie so betreiben, führt zur Griechenlandisierung
Deutschlands. Das werden wir nicht zulassen.


(Heiterkeit bei der SPD)


Die rot-grüne Koalition hieß: sieben Jahre lang Stagna-
tion, Horrorzahlen bei der Arbeitslosigkeit.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie sind der Tsatsiki-Brüderle, oder was?)


Unter Rot-Grün gab es 5 Millionen Arbeitslose. Ein Er-
gebnis Ihrer rot-grünen Politik war, dass Deutschland
der kranke Mann Europas war. Bei Rot-Grün gab es
Nullrunden bei den Renten.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Rot-Grün war klasse!)


Bei Rot-Grün sind die Reallöhne gesunken. Rot-Grün
hat den Stabilitätspakt zerrissen und Griechenland in die
Euro-Zone aufgenommen. Das ist Ihre Bilanz. Das hat
Schwarz-Gelb geändert in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir machen das anders. Wir achten und fördern den
Mittelstand. BAföG hoch, Kindergeld hoch – so sieht er-
folgreiche Politik aus. Deutschland wächst trotz der
Krise. Schwarz-Gelb hat für Rekordbeschäftigung ge-
sorgt: 41 Millionen Beschäftigte – das gab es in
Deutschland noch nie. Jugendarbeitslosigkeit nimmt ab,
Langzeitarbeitslosigkeit nimmt ab. Wir verzeichnen
Rekorde bei den Studienanfängern. Reallöhne steigen,
Renten steigen, Beiträge sinken. Wer hat es gemacht?
Diese Regierung!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Zugabe!)


Meine Damen und Herren, es liegt im Interesse
Deutschlands, dass G 8 und NATO im Zuge der Weltent-
wicklung nicht zu Relikten werden. Deshalb ist das Ver-
hältnis zu Russland zu intensivieren. Die Schuldenkrise
muss in den Griff bekommen werden. Es gilt, die NATO
zu modernisieren. Ich halte es für ein wichtiges Ziel,
vielleicht auch Fernziel, eine europäische Armee zu
schaffen, eingebettet in die NATO. Das wird nicht ein-
fach sein, aber wir müssen diesen Weg in Europa ge-
meinsam gehen.

Es geht um die gemeinsame Zukunft in Europa und
um unsere Handlungsfähigkeit. Nicht was gestern war,
ist entscheidend, sondern das, was wir morgen zusam-
men sein wollen. Das ist von Bedeutung. Daran arbeitet
die Regierung erfolgreich und selbstbewusst.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: „Erfolgreich“ lassen wir mal!)


Das ist Ihnen peinlich, weil Sie so schlechte Rezepte ha-
ben. Aber: Schämen ist die erste Stufe zur Verbesserung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717800600

Wolfgang Gehrcke ist der nächste Redner für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da muss einem der Herr Gehrcke ja geradezu als Staatsmann vorkommen!)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717800700

Genau.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nach Brüderle ist das einfach, Wolfgang!)


Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ja, der Brüderle hat was, das ist immer eine Mischung
zwischen Karneval, Angriff und seiner Art, von oben
herab zu reden. Herr Brüderle, um Ihnen zu antworten:
Ich möchte gerne meiner Fraktion und den Menschen in
diesem Lande empfehlen, doch ein Stück weit von Grie-
chenland zu lernen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)


– Von Griechenland zu lernen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Der griechische Widerstand gegen eine Politik, die das
Land kaputtmacht, ist vorbildlich und, wie ich finde,
auch demokratisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Linke in Griechenland nicht agieren würde,
hätten wir längst andere Zustände in diesem Land.

Herr Kauder meinte ja, Europa müsse deutsch lernen.
Ich würde empfehlen, dass Europa ein Stück weit Grie-
chisch und vor allem Französisch lernen sollte, damit
man eine andere Politik auch in Europa durchsetzen
kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Hierzu wollen wir sehr gerne beitragen.

Verehrte Frau Bundeskanzlerin, manchmal gibt es ein
Zusammentreffen, das zufällig erscheint, das aber doch
einen tiefen inneren Zusammenhang hat. Sie haben
über Camp David geredet, wo weiter über die globale
Aufteilung der Welt verhandelt wird, wo es um Zu-
kunftsressourcen und -märkte geht. Sie haben über den
NATO-Gipfel geredet, auf dem das Ganze militärisch
abgesichert werden soll. Sie haben schon recht: Beides
geht zusammen. Ich finde auch – das ist das Einzige,
was ich an Ihrer Rede teile –: Es geht um die Zukunft der
Welt.





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)


In dem Zusammenhang empfehle ich Ihnen ein ande-
res Dokument. Dieser Tage ist der Text zum 40-jährigen
Jubiläum des Berichtes Grenzen des Wachstums des
Club of Rome erschienen. Ich empfehle, dass alle Teil-
nehmer von Camp David und vom NATO-Gipfel den
aktuellen Bericht des Club of Rome als Pflichtlektüre in
ihrem Gepäck haben sollten.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann erkennen Sie die wirklichen Probleme der Welt.
Der Club of Rome warnt: Wenn nicht anders produziert,
anders konsumiert und anders verteilt wird, geht die
Welt und damit die Gattung Menschheit ihrem Ende ent-
gegen. Das heißt, es muss einen energischen Kurswech-
sel, einen grundsätzlichen Politikwechsel geben. Hierzu
schlägt der Club of Rome sechs Ziele vor:

Erstens gesellschaftliche Werte für eine nachhaltige
und gerechte Gesellschaft.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Die Volkswirtschaften der Welt müssen die
Märkte in einer fairen und transparenten Art und Weise
handhaben.

Drittens eine gerechtere Verteilung von Einkommen
– darüber sollten die FDP und die CDU/CSU einmal
nachdenken –


(Beifall bei der LINKEN)


zwischen den Ländern und zwischen den Menschen.

Viertens einen garantierten Zugang zu sinnvoller Ar-
beit. Das heißt, dass das Recht auf Arbeit endlich auch in
die deutsche Verfassung aufgenommen werden muss
und umgesetzt werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Fünftens. Ökologie muss verbindliche Grenze für alle
Formen menschlicher Tätigkeit werden.

Sechstens die weltweite Etablierung von geeigneten
Regierungssystemen, nämlich von Demokratie.

Ich finde, das sind die eigentlichen Aufgaben, über
die debattiert werden muss. Das bedeutet, dass wir welt-
weit Regulierung statt Deregulierung brauchen. Wir
müssen weltweit die Privatisierung stoppen, wenn wir
die Welt retten wollen. Um nichts anderes geht es, liebe
Kolleginnen und Kollegen!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unter diesen Bedingungen muss man auch Ressour-
cen bündeln. Es ist doch nicht auszuhalten, dass die
NATO 2010 1,1 Billionen Dollar in Rüstung investiert
hat, obwohl man dieses Geld in die Bekämpfung von
Hunger und Armut in der Welt investieren müsste.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist doch nicht akzeptabel, dass Deutschland bislang
zwischen 12 und 22 Milliarden Euro für den Krieg in
Afghanistan ausgegeben hat.

Wir wollen – daraus mache ich überhaupt kein Hehl –
ein neues Denken. Das, was die Kanzlerin vorgetragen
hat, war alte Politik und altes Denken, und ziemlich
langweilig dazu.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Für uns ist die NATO als Militärbündnis eine Hinter-
lassenschaft des Kalten Krieges. Natürlich möchte die
Linke, dass die NATO aufgelöst wird und im Rahmen ei-
ner Reform der Vereinten Nationen durch Formen der
kollektiven Sicherheit ersetzt wird. Es wäre vernünftige
Politik, eine solche Debatte einmal anzustoßen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen eine andere Philosophie, nämlich eine
Philosophie der globalen Gerechtigkeit, des Völkerrech-
tes, der Demokratie und der Abrüstung, wie sie der Club
of Rome vorschlägt. Wir sind an der Seite des Club of
Rome. Die Regierung steht auf der anderen Seite. Das ist
auch nichts Neues.

Ich will gleich dazusagen: Zwischen den friedenspoli-
tischen Vorstellungen der Linken und der NATO-Strate-
gie der Bundesregierung gibt es nichts Verbindendes. Ich
sehe dort keine Brücke, sondern klare Widersprüche.
Beides ist unvereinbar – auch von unserer Seite aus. Das
möchte ich betonen. Eigentlich bin ich darauf auch stolz.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir uns einmal den Krieg in Afghanistan an.
Wir sind im elften Jahr dieses Krieges. Er ist politisch
gescheitert. Er ist militärisch gescheitert. Er war mora-
lisch schändlich, weil er nicht den Menschen geholfen
hat, sondern bisher über 30 000 Menschen in Afghanis-
tan das Leben geraubt hat. Was unter dem Signal „Men-
schenrechte“ angefangen worden ist, hat das Leben von
Menschen vernichtet. Das ist der größte Vorwurf, den
man gegen diesen Krieg erheben muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Bislang haben alle Bundesregierungen diesen Krieg
betrieben. Ich bin froh, dass jetzt endlich über einen
Abzug diskutiert wird, möchte aber, dass auch wirklich
abgezogen wird und nicht nur so getan wird, als ob man
abzieht, und dann doch Truppen in Afghanistan hinter-
lassen werden.

Ich füge hinzu: Stellen Sie auf dem NATO-Gipfel in
Chicago eindeutig klar, dass Deutschland sich nicht an
einem neuen Krieg im Nahen Osten, an einem Krieg ge-
gen den Iran, beteiligen wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn beides, Krieg in Afghanistan und Krieg im Iran,
zusammengeht, bedeutet das die Vernichtung der Welt.
Das kann man doch nicht einfach so akzeptieren. Hier
muss ein klares Wort gesprochen werden.

Zum Schluss mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich
möchte gern, dass im September dieses Jahres zum drit-
ten Jahrestag von Kunduz, dieses Menetekels, der letzte
deutsche Soldat Afghanistan verlassen hat. Machen Sie
das am besten zusammen mit der französischen Armee;
denn die Ankündigung des neuen französischen Präsi-





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)


denten, 2012 alle Soldaten Frankreichs aus Afghanistan
abzuziehen, war doch auch ein Signal.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Nein, er hat „Kampftruppen“ gesagt!)


Es wäre eine gute deutsch-französische Aktion, im Sep-
tember dieses Jahres alle deutschen und alle französi-
schen Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Das wäre
einmal ein Stück weit neue und europäische Politik.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717800800

Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1717800900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Der G-8-Gipfel und der NATO-Gipfel finden in einer
Zeit statt, in der es tatsächlich darauf ankommt, mit rich-
tigen Instrumenten zu führen und den Menschen Per-
spektive zu geben.

Lieber Herr Kollege Steinmeier, genau dieses war aus
Ihrer Rede nicht zu spüren. Vielmehr haben Sie heute
eine Rede gehalten, die – bis hin zum Betreuungsgeld –
geprägt war von der Niederlage, die Sie am Dienstag-
nachmittag in Ihrer Fraktion erlitten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir lesen es in allen Zeitungen: Das Ergebnis der
Wahl in Schleswig-Holstein zeigt, dass man den Mund
sehr voll genommen hat; denn man wollte auf Platz eins
sein und ist auf Platz zwei gelandet. Die Linken in Ihrer
Fraktion sagen nun: Wir brauchen mehr Profil, und
dieses Mehr an Profil muss umgesetzt werden ohne
Rücksicht darauf, ob es in unserem nationalen und auch
europäischen Interesse ist. Sie haben heute eine Rede ge-
halten, die gar nicht zu Ihren eigentlichen Positionen
passt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dazu, dass Sie, Herr Kollege Steinmeier, heute in
Ihrer Rede hier behauptet haben: „Wir, die Sozialdemo-
kraten, sind zusammen mit den Grünen eine kraftvolle
Alternative“, kann ich nur sagen – ich weiß, wie schwer
es manchmal ist, eine Fraktion zu führen –: Sich hier
hinzustellen und von einer kraftvollen Alternative zu
sprechen, wenn man nicht einmal bei einem so wichti-
gen Thema wie Atalanta, das Sie selber als Außenminis-
ter verhandelt haben, die Mehrheit in der eigenen Truppe
zusammenbekommt, das ist nicht kraftvoll, es ist nur
schwächlich. So einfach muss man das formulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
können wir nur froh und dankbar sein, dass diese Regie-
rung jetzt in Amerika die wichtigen Fragen verhandelt.

In diesem Zusammenhang stelle ich fest, Herr Kollege
Steinmeier: Nicht alles, was in der Zeitung steht, stimmt.
Diese Bundesregierung bzw. diese Bundeskanzlerin sind
nicht einsam. Sie hat vielmehr rund 330 Followers aus
dieser Regierungskoalition fest und treu hinter sich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Na ja!)


Deswegen werden wir dort auch die notwendigen Ent-
scheidungen treffen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind das die Leute, die immer in Karlsruhe klagen, wenn es um Europa geht?)


– Frau Künast, Sie haben Ihre Entscheidungen noch vor
sich. Seien Sie einmal ganz vorsichtig. Es ist noch nicht
entschieden, welche Mehrheiten bei Ihnen zustande
kommen. Also immer langsam.

Beim G-8-Gipfel geht es – wie immer bei diesen Gip-
feln – auch um weltwirtschaftliche Fragen. Natürlich
spielt dabei die Entwicklung in Europa – die Bundes-
kanzlerin hat es gesagt – eine bedeutende Rolle; denn die
Entwicklung in Europa hat Einfluss auf die Weltwirt-
schaft.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht mehr!)


Natürlich lesen wir mit großem Interesse, welche Posi-
tionen dort formuliert werden. Es wird da ausdrücklich
betont, dass wir beides brauchen, Haushaltskonsolidie-
rung und Wachstum, und dass dies die beiden Seiten ein
und derselben Medaille sind.

Nun hat man den Eindruck, als ob Sozialdemokraten
und Grüne das Thema Wachstum ganz neu entdeckt
hätten.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Nein! – Zuruf des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


– Herr Oppermann, ich kann nur sagen: Lesen bildet und
Lesen hilft, wenn man das Richtige liest. Ich empfehle
Ihnen: Lesen Sie die Dokumente aus Europa. Schon in
Lissabon wurde eine Wachstumsstrategie vereinbart.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)


Davon ist ein Teil umgesetzt worden, vieles bei uns in
Deutschland. Es wurde weiterhin formuliert, dass
Wachstum vor allem durch Strukturreformen erreicht
werden kann.

Nun ist völlig unbestritten, dass ein Teil der notwen-
digen Strukturreformen unter der Regierung Gerhard
Schröder vorangetrieben wurde, an der Herr Steinmeier
nicht ganz unbeteiligt war. Herr Oppermann, das Pro-
blem ist nur: Sie trauen sich gar nicht mehr, sich dazu zu
bekennen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Natürlich! Unser Verdienst!)


Am liebsten würden Sie dieses Kapitel aus Ihrer Ge-
schichte streichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


Weil Sie sich nicht mehr zu den notwendigen Reformen
bekennen wollen, wollen Sie jetzt in Europa einen ande-
ren Weg einschlagen.

Ich habe noch sehr gut in Erinnerung, wie Sie, Herr
Steinmeier, aber auch Herr Steinbrück, als Sie in der
Großen Koalition unter der Führung von Bundeskanzle-
rin Angela Merkel Regierungsverantwortung mitgetra-
gen haben, gute und richtige Sätze gesagt haben. Damals
unter der Führung der Union haben Sie gute und richtige
Sätze gesagt. So einfach ist das.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich erinnere mich beispielsweise an ein Interview, das
mit dem damaligen Finanzminister Steinbrück im Au-
gust 2008 geführt wurde. Darin hat er gesagt: Konjunk-
turprogramme bringen überhaupt nichts. Sie verbrennen
nur Geld. Nachdem das Geld verbrannt ist, ist alles noch
viel schlimmer als vorher.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwrackprämie!)


Wie kann man angesichts dessen heute, wo man in der
Opposition sitzt, sagen: „Wir brauchen Konjunkturpro-
gramme“? Ich kann Ihnen nur sagen: Was wir überhaupt
nicht brauchen, sind schuldenfinanzierte Konjunkturpro-
gramme. Genau die haben nämlich zu der Situation ge-
führt, die wir heute in Europa bekämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])


Herr Steinmeier, Sie hatten in einem Interview gesagt:
Euro-Bonds bringen gar nichts. Sie können nur am Ende
einer Entwicklung stehen, wenn wir eine weitgehende
Harmonisierung haben. – Heute hören sich die Dinge
ganz anders an, weil man sozialdemokratisches Profil
zeigen will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die So-
zialdemokraten wirklich meinen, dass Wachstum aus-
schließlich durch kredit- und schuldenfinanzierte Pro-
gramme erreicht werden kann. Das kann ich mir nicht
vorstellen.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das stimmt! – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das brauchen Sie sich auch nicht vorstellen!)


Wir brauchen vielmehr Strukturreformen. Und begon-
nene Strukturreformen müssen weitergeführt werden.

Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In Spanien und in
Frankreich war die Jugendarbeitslosigkeit auch in Zeiten
hoch, in denen die wirtschaftliche Lage anders als heute
war. Wenn Sie die Leute in Frankreich und Spanien fra-
gen, womit das zusammenhängt, dann werden Ihnen
mehrere Punkte genannt.

Es ist aber doch bemerkenswert, dass man in Frank-
reich versucht, bei jungen Leuten die Mindestlohnver-
einbarung zu unterlaufen, weil die jungen Leute sonst
keine Beschäftigungsmöglichkeiten haben. Da muss
doch einmal an Strukturreformen gedacht werden.

Es ist doch bemerkenswert, dass der wesentliche
Grund dafür, dass bei uns mehr junge Leute ausgebildet
und in Arbeit sind, im dualen Ausbildungssystem liegt.
Die Spanier wären gut beraten, wenn sie Hilfen der EU,
auch finanzielle Hilfen, annehmen würden, um ein Sys-
tem der dualen Ausbildung aufzubauen. Da wäre das
Geld gut investiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie können noch so viel Geld in Strukturen hineinge-
ben – wenn die Strukturen nicht zukunftsfest sind, wird
sich nichts ändern. Deswegen ist der Weg, den diese
Bundesregierung einschlägt, richtig: Wir wollen durch
Strukturreformen zu mehr Wachstum kommen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Betreuungsgeld ist eine falsche Strukturreform!)


Ich rate den Sozialdemokraten dringend, sich an die Zei-
ten zu erinnern, in denen sie Strukturreformen mutig an-
gegangen sind. Das hat nämlich unserem Land genützt.

Es ist auch von großer Bedeutung, dass wir in den
nächsten Wochen unseren Beitrag dazu leisten, dass es in
Europa mit ESM und Fiskalpakt vorangeht. Wir haben
Ihnen gesagt, dass wir mit Ihnen sprechen werden. Das
habe ich im Übrigen angekündigt. Immer wieder haben
wir ja in wichtigen Fragen gemeinsame Positionen fin-
den können. Das werden wir auch in diesem Fall versu-
chen.

Eines geht aber beim besten Willen nicht, Herr
Steinmeier. Es geht nicht, dass Sie hier Forderungen auf-
stellen, obwohl Sie genau wissen, dass es gar nicht in
unserer Macht liegt, diese Forderungen zu erfüllen. In
der Euro-Zone gibt es leider Gottes keine Mehrheit – wir
brauchen eine einstimmige Entscheidung – für eine Fi-
nanztransaktionsteuer. Das wissen Sie ganz genau. Des-
wegen ist es Quatsch, sich hier hinzustellen und zu sa-
gen: Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer.


(Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD])


Das wird in der EU-Zone nicht gehen. Wolfgang
Schäuble hat mehrfach betont, dass er sie gerne hätte. Es
geht aber nicht.

Ich rate Ihnen deshalb dringend, einen Satz zu be-
rücksichtigen, der eigentlich bekannt ist – zumindest in
meiner Fraktion kennen ihn alle, aber Sie müssen ihn
vielleicht noch lernen –: Politik beginnt mit dem Be-
trachten der Wirklichkeit und nicht mit dem, was man
gerne hätte. Das müssen Sie einsehen. Wir haben gesagt
– darüber besteht Einigkeit in unserer Koalition –: Wir
wollen eine Regelung, durch die Derivate besteuert wer-
den und der Computerhandel verlangsamt wird, also
eine Regelung, die nahe an das herankommt, was Fi-
nanztransaktionsteuer ist. Auf dieser Basis können wir
doch zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.

Natürlich können wir auch darüber reden, wie wir die
in der EU schon vorhandenen Möglichkeiten, Strukturen
und Instrumente einsetzen können, um bessere Wachs-
tumsperspektiven in Europa zu bekommen. All das kön-
nen wir machen. Eines ist aber klar: Wir müssen ESM





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


und Fiskalpakt beieinander behalten und miteinander ab-
stimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Überhaupt nicht!)


– Herr Trittin, ich habe fast erwartet, dass Sie so reagie-
ren. Sie können das ja gleich erläutern. – Ich kann Ihnen
sagen: Es liegt nicht in unserem Interesse, nicht im na-
tionalen und auch nicht im europäischen, den ESM zu
verabschieden und dann den Fiskalpakt weichzuspülen.
Das werden wir auf gar keinen Fall mitmachen. Beides
gehört zusammen, und beides muss zusammen verab-
schiedet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie müssen sich gut überlegen, welche Verantwortung
Sie haben und wie Sie mit dieser Verantwortung umge-
hen. Wenn es um Europa geht, dann darf man keine par-
teipolitischen Spielchen machen; das muss ich ausdrück-
lich betonen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wir werden mit Ihnen Gespräche führen; das ist keine
Frage. Wir wissen, dass wir eine Zweidrittelmehrheit
brauchen. Ich rate Ihnen aber auch, sich Ihrer Verantwor-
tung bewusst zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717801000

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717801100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war

mal wieder eine Regierungserklärung, Frau Bundes-
kanzlerin, in der Sie vom Hölzchen aufs Stöckchen ge-
kommen sind. Als Sie geendet hatten, da wusste man
kaum noch, was Sie gesagt haben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wusste ich zwischendrin schon nicht! – Zuruf von der CDU/CSU: Dann müssen Sie besser zuhören!)


– Das habe ich, und auch das Manuskript liegt mir vor.

Wir reden hier ja über den G-8-Gipfel und über den
NATO-Gipfel. Was ist eigentlich Ihre Antwort auf den
Umstand, wie sich der Abzug in Afghanistan vollzieht?

Haben wir eine Antwort darauf bekommen, wie
Deutschland reagiert, nachdem Australien erklärt hat,
vorzeitig abzuziehen? Nein.

Haben wir eine Antwort darauf bekommen, was pas-
siert und wie Deutschland reagiert, wenn François
Hollande in Chicago ankündigt – das wird er tun –, die
französischen Soldaten vorzeitig abzuziehen? Keine
Antwort in der Regierungserklärung der Bundeskanzle-
rin.

Diese Form von Nichtbeantwortung der auf dem
Tisch liegenden Fragen setzt sich fort. Wann werden wie
viele deutsche Soldatinnen und Soldaten abgezogen?
Sollen, wie der Verteidigungsminister andeutet, nach
2014 noch Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan
sein, ja oder nein? Auf all das sind Sie die Antworten
schuldig geblieben. Stattdessen kommt der Spruch: Wir
gehen zusammen rein, und wir gehen zusammen raus.
Nein, Sie gehen nicht zusammen raus. Die Schweden
sind weg, die Niederländer sind weg, die Australier ge-
hen, die Franzosen gehen, und am Ende läuft es nach
dem Motto: Die Letzten machen das Licht aus. Sind das
die Deutschen, oder wie soll ich das verstehen, Frau
Bundeskanzlerin?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir schicken Sie hin zum Lichtausmachen!)


Wir haben in Europa zurzeit eine sehr spannende Si-
tuation. Heute gilt Merkel’s Law.


(Rainer Brüderle [FDP]: Ui!)


Merkel’s Law lässt sich mit zwei Grundsätzen beschrei-
ben. Der erste ist: Sie können in Griechenland der letzte
Sektierer von ganz links oder von ganz rechts sein, Sie
müssen nur sagen, dass Sie gegen Merkels Politik sind,
und schon werden Sie gewählt. Das andere Axiom die-
ses Gesetzes ist – das ist das Schlimmste, das einem
Wahlkämpfer passieren kann –: Wenn Sie von Frau
Merkel unterstützt werden, dann werden Sie abgewählt
bzw. nicht gewählt.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist wie in NRW!)


Dieses Schicksal teilt Jost de Jager mit Nicolas Sarkozy.
Norbert Röttgen hat das noch vor sich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Es war nicht die
CDU-Parteivorsitzende, es war die Bundeskanzlerin der
Bundesrepublik Deutschland, die einem französischen
Präsidentschaftskandidaten ein Gespräch verweigert hat.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So ist das!)


Diese einseitige Parteinahme der Bundeskanzlerin im
französischen Wahlkampf war ein Schlag gegen die
deutsch-französische Freundschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Geht es auch eine Nummer kleiner?)


Ich füge hinzu: Es war ein guter Tag für Europa, als
Sarkozy abgewählt worden ist,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/ CSU]: Wie hat denn die Kandidatin abgeschnitten, die Sie unterstützt haben?)






Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


weil das Modell der sozialen Arroganz dabei ist, den Zu-
sammenhalt in Europa zu gefährden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ein Europa, in dem die Hälfte der Jugendlichen arbeits-
los ist, hat keine gemeinsame Zukunft.


(Patrick Döring [FDP]: Dafür ist ja nun wirklich nicht Deutschland verantwortlich!)


Dieses Modell ist in Frankreich abgewählt worden, und
Sie sind mit abgewählt worden, Frau Bundeskanzlerin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Brüderle und Kauder erzählen uns in ihren Märchen-
stunden immer, in Deutschland würde das alles anders
gehen, man sei gegen schuldenfinanzierte Kreditpro-
gramme, und es gebe eine spezielle deutsche Stabilitäts-
kultur.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Ja! Die haben wir doch auch! Haben Sie das etwa noch nicht gemerkt?)


Ich frage Sie: Welche Stabilitätskultur eigentlich? Sie sa-
gen immer, die rot-grüne Regierung habe die Stabilitäts-
kriterien aufgeweicht.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Aber wie! – Rainer Brüderle [FDP]: Aber hallo!)


Schauen Sie sich mal die Zahlen an. Unter Bundeskanz-
lerin Merkel hatten wir am Anfang der letzten Legisla-
turperiode eine Staatsverschuldungsquote von 68 Pro-
zent.


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Dazwischen lag die Wirtschaftskrise!)


Wo sind wir heute? Wir sind heute bei 81,2 Prozent, und
wir werden im nächsten Jahr bei 84 Prozent sein. Meine
Damen und Herren, unter der Kanzlerschaft von Frau
Merkel sind die deutschen Staatsschulden um rund ein
Viertel angestiegen. Aber Sie predigen dem Rest Euro-
pas Stabilität. Das kann ja wohl nicht wahr sein!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihr Gegenargument lautet, es habe eine Krise gege-
ben, und man habe etwas dagegen tun müssen. Herr
Kauder stellt sich nun aber hier hin und sagt: Wir können
doch nicht solche Strohfeuer produzieren. Nein, da war
kein Strohfeuer. Deutschland ist nur besser durch die
Krise gekommen. – Das ist richtig.


(Beifall des Abg. Thomas Silberhorn [CDU/ CSU] – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ CSU]: Warum denn?)


Aber was passiert jetzt, in einer Situation, in der keine
Krise mehr herrscht, in der es zu einem Wirtschaftsauf-
schwung kommt? Letztes Jahr hat Deutschland 17 Mil-
liarden Euro Staatsschulden gemacht. Was für einen
Haushalt verabschiedet Schwarz-Gelb? Sie verabschie-

den einen Haushalt, in dem Sie sich selber die Erlaubnis
geben, die Staatsschulden auf 34 Milliarden Euro zu er-
höhen. Also: In der Hochkonjunktur verdoppeln Sie die
Schulden in Deutschland. Das nennen Sie Stabilitätskul-
tur? Es ist absurd, was Sie hier praktizieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Sie haben es wirklich nicht verstanden! – Weiterer Zuruf von der FDP: Abwegig!)


Herr Röttgen wandert bzw. irrlichtert – anders kann
man das nicht nennen – durch Nordrhein-Westfalen,
nach dem Motto, es gehe auch dort um Stabilität. Ich rate
Ihnen: Gucken Sie sich mal die Zahlen an. In der Hoch-
konjunktur verdoppelt Schwarz-Gelb die Bundesschul-
den. Innerhalb von 20 Monaten hat eine rot-grüne Min-
derheitsregierung in Nordrhein-Westfalen das Defizit
von 6 Milliarden Euro auf 3 Milliarden Euro halbiert.
Das nenne ich Stabilitätskultur, aber nicht Ihre Politik,
meine Damen und Herren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Das war ein verfassungswidriger Haushalt!)


Sie haben eine falsche wirtschafts- und finanzpoliti-
sche Strategie. Das sagt Ihnen jeder. Das sagt Ihnen die
US-Regierung, das sagt Ihnen die OECD, das sagt Ihnen
die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union, und das sagt Ihnen der Internationale Währungs-
fonds.


(Jan Mücke [FDP]: Ja, ja! Deswegen sind wohl auch die Arbeitslosenzahlen so niedrig, oder?)


Der Einzige bei Ihnen, der das mittlerweile begriffen hat,
ist Wolfgang Schäuble. Er sagt: Jawohl, wir müssen et-
was gegen die Ungleichgewichte tun. Wir müssen die
Nachfrage im Lande, die Binnennachfrage, stärken. Das
geht nur mit höheren Löhnen. – Ich sage nur: Lieber
Herr Schäuble, willkommen im Klub! Aber erklären Sie
das bitte mal Ihrer eigenen Regierung, Ihrer eigenen Ko-
alition! Zugleich sollten Sie aufhören, Pappkameraden
aufzubauen. Das tun Sie, indem Sie sagen, man dürfe
nur in zusätzliche wirtschaftliche Entwicklung investie-
ren.

Herr Brüderle, wenn Sie sich mit den Grünen aus-
einandersetzen, hätte ich Ihnen zu einem anderen Bei-
spiel geraten.


(Rainer Brüderle [FDP]: Ich habe noch mehr!)


Uns wurde früher ja immer vorgeworfen, Deindustriali-
sierung zu betreiben.


(Rainer Brüderle [FDP]: Heute noch! – Jörg van Essen [FDP]: Zu Recht!)


Wenn Sie wissen wollen, wie Deindustrialisierung geht,
dann empfehle ich Ihnen einen Besuch in Frankfurt/
Oder. Dort haben Sie mit Ihrer Politik gerade den einzi-
gen industriellen Großbetrieb, nämlich First Solar, gegen
die Wand gefahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)






Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


Wer zeigt also, wie Deindustrialisierung geht? Der Mann
heißt Brüderle, meine Damen und Herren.

Nein, wir brauchen Investitionen. Die kann man übri-
gens durch Einnahmen finanzieren, zum Beispiel durch
eine Finanztransaktionsteuer. Lieber Herr Kauder, Sie
sagen, man solle nichts fordern, wenn man dadurch von
anderen abhängig wird. Wir sind nicht von anderen ab-
hängig, wenn es darum geht, nicht nur die Neuverschul-
dung zu bremsen, sondern auch die Altschulden abzu-
bauen. Lassen Sie uns einen Altschuldentilgungsfonds
einrichten, wie ihn Ihr eigener Sachverständigenrat vor-
geschlagen hat. Das können wir tun!

Wir sind auch nicht von anderen abhängig, wenn es
darum geht, dass sich die Bundesländer zu den gleichen
Konditionen verschulden können sollen wie der Bund.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sollen sich gar nicht verschulden!)


Lassen Sie uns Deutschland-Bonds einführen!

Das alles sind Maßnahmen, die mit dazu beitragen
würden, aus dem Fiskalpakt eine vernünftige und runde
Sache zu machen. Hier sollten Sie sich endlich bewegen,
sonst bekommen Sie das nicht durchs Haus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Eine letzte Bemerkung zum Klimaschutz: Frau
Merkel, dass Sie das Wort überhaupt in den Mund
genommen haben! Wer wird Ihnen beim Thema Klima-
schutz eigentlich noch zuhören, da Sie doch erklärt
haben, dass Sie zu der wichtigsten Umweltkonferenz in
den letzten zwei Jahrzehnten nicht fahren wollen?


(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: In den letzten 100 Jahren!)


– Das ist typisch Westerwelle: „In den letzten 100 Jah-
ren“. Sie haben von internationaler Politik und von inter-
nationaler Klimapolitik noch gar nichts begriffen. Auch
nach drei Jahren sind Sie noch im Zustand eines Klipp-
schülers.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ahnungslosigkeit!)


Sie hätten in Rio auch ein Problem gehabt. Was hätten
Sie da eigentlich sagen können? Deutschland hat sich
aus der Rolle des Vorreiters verabschiedet und ist zum
Bremser im Klimaschutz geworden.

Zu Ihrem schönen Beispiel von den Kleinbauern,
denen Sie sich jetzt zuwenden wollen: Der erste Schritt,
um Kleinbauern im Süden zu helfen, ist ganz einfach:
Schaffen Sie die Agrarexportsubventionen ab! Beenden
Sie den Skandal, dass der Handel mit Hühnerteilen bei
uns subventioniert wird, um Landwirte in Afrika kaputt-
zumachen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Da wir über Klimapolitik reden: Warum blockieren
Sie ein 30-Prozent-Ziel in der Europäischen Union?
Warum verhindern Sie ein verbindliches CO2-Energie-
effizienzziel innerhalb der Europäischen Union?

Zu all dem hätten Sie heute hier eine Regierungser-
klärung abgeben können. Der einzige Satz, mit dem sich
Ihre Regierungserklärung zusammenfassen lässt, ist aber
ein anderer: Ich habe fertig!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717801200

Das Wort erhält nun der Kollege Jörg van Essen für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1717801300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach die-

ser durchsichtigen Wahlkampfrede des Cheflobbyisten
der deutschen Solarindustrie bin ich wirklich sprachlos,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Michael Groschek [SPD]: Peinlich, peinlich!)


auch deshalb, weil ich Nordrhein-Westfale bin und mich
noch sehr gut daran erinnere, wie der Landesverfas-
sungsgerichtshof der nordrhein-westfälischen rot-grünen
Regierung bescheinigt hat, dass sie einen verfassungs-
widrigen Haushalt verabschiedet hat. Daran ist immer
wieder zu erinnern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich denke, dass wir gut daran tun, hier einige kurze
sachliche Bemerkungen zu machen. Als Sicherheitspoli-
tiker, der ich bin, mache ich das gerne zum NATO-
Gipfel.

Auch und gerade vor dem Hintergrund der aktuellen
Spannungen und drohenden Konflikte an der Grenze
eines unserer NATO-Partnerländer bekennen wir uns zur
NATO als dem Anker unserer militärischen Sicherheit.
Dass das Ziel der Stärkung der NATO und der Ruf nach
mehr Europa keinen Widerspruch darstellen, liegt für
mich auf der Hand. Vielmehr trägt ein starker europäi-
scher Beitrag in der NATO zur Stärkung der NATO und
damit zu unserer Sicherheit und Handlungsfähigkeit ins-
gesamt bei.

Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich,
dass sich der Wille der Petersberger Konferenz in den
konkreten Vereinbarungen und Planungen mit und für
Afghanistan wiederfindet und ein wichtiger Teil des
Gipfels in Chicago ist. Auch Dank der Initiative der
Bundesregierung und speziell unseres Außenministers
hat die internationale Gemeinschaft einen gemeinsamen
Plan entwickelt und das Primat des Politischen und den
vernetzten Ansatz mit Leben erfüllt. Chicago wird den





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)


nächsten Baustein zur Weiterentwicklung dieses Plans
liefern.

Als langjähriger Kommandeur in der Bundeswehr
weiß ich, wie komplex eine Abzugsoperation ist. Kurz-
fristig gehört dazu, dass der Abzug der ISAF-Truppen
kontrolliert und koordiniert erfolgen kann und der Über-
gang in die Phase ab 2015 sauber geplant und gestaltet
werden muss. Dafür haben wir noch eine Menge Arbeit
zu erledigen. Die Vereinbarung „together in, together
out“ ist hier schon Gegenstand der Debatte gewesen. Ich
lege Wert darauf, dass sie auch weiterhin in der gesam-
ten NATO Gültigkeit haben muss.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mittelfristig müssen die Anstrengungen zur Schaf-
fung eines stabilen ökonomischen und gesellschaftlichen
Umfeldes konsequent weiterverfolgt und weiter ver-
stärkt werden. Hier sind wir bereits im Rahmen der Ent-
wicklungszusammenarbeit des BMZ und der Projekte
des Auswärtigen Amtes sehr erfolgreich.

Im Kern muss von Chicago für Afghanistan das Si-
gnal ausgehen, dass die ISAF-Staaten mit einer Stimme
sprechen. Leider hat es dazu in den letzten Monaten
durchaus unterschiedlich auslegbare Äußerungen gege-
ben. Mir ist auch wichtig, dass die NATO ihr nukleares
Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv überprü-
fen wird. Dass sich die Allianz dieser wichtigen Frage
stellt, ist ein wichtiges Verdienst unseres Außenminis-
ters, der sich im Einklang mit US-Präsident Obama im-
mer wieder für das langfristige Ziel einer nuklearwaffen-
freien Welt eingesetzt hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dafür gibt es Chancen, gerade im substrategischen und
im taktischen Bereich.

Meine letzten Bemerkungen sollen sich auf Missile
Defense beziehen. Ich freue mich sehr, dass wir uns als
Deutschland sehr dafür einsetzen, Russland dabei einzu-
beziehen. So etwas kann immer nur mit und nie gegen
Russland gehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es hat sich gezeigt, dass die gemeinsamen Übungen ein
wichtiger Schritt der Vertrauensbildung gewesen sind.
Hier müssen wir vorankommen; denn es ist ein wichti-
ges Ziel, Russland miteinzubeziehen. Ich hoffe, dass es
in Chicago auch dafür ein Signal geben kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717801400

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Rolf Mützenich

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1717801500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will in den wenigen Minuten meiner Rede auf nur ein
Thema eingehen, von dem ich glaube, dass es in den
nächsten Jahren die Konfliktformation in Europa beherr-
schen und wahrscheinlich auch zu neuen Spannungen
führen wird. Es geht um die Raketenabwehr, die zwar
unter dem NATO-Dach entwickelt wird, aber eigentlich
ein nationales Vorhaben der USA ist.

Ich will, Herr van Essen, die Bemerkung machen, dass
es grundsätzlich erst einmal unwahrscheinlich ist, dass
ein Rüstungsvorhaben allein zur Kooperation führt. Im
Gegenteil: Rüstungsvorhaben führen in der Regel – das
ist die Erfahrung aus dem Kalten Krieg – zu Unsicher-
heit und können das Sicherheitsdilemma zwischen Staa-
ten verstärken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen ist es Aufgabe der Bundeskanzlerin und der
gesamten Bundesregierung, Russland eben nicht nur ein-
zuladen, sondern auch die Bedrohungswahrnehmung
Russlands, gerade auch in den Institutionen der NATO,
zu erklären und darauf entsprechend zu reagieren.


(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])


Ich finde, hier haben Sie in den letzten Monaten und
Jahren zu wenig getan. Im Gegenteil: Sie haben erstens
die Sichtweise Russlands nicht eingebracht, die nach
meinem Dafürhalten von zweierlei geprägt ist: Die
Sowjetunion hat während des Kalten Krieges die Erfah-
rung mit „Star Wars“ und der theoretischen Fähigkeit
eines Erstschlages gemacht. Das befördert die Unsicher-
heit im russischen Sicherheitsapparat. Hinzu kommt
nach dem Ende des Kalten Kriegs die Erfahrung: Die
NATO ist an die Grenze Russlands herangerückt und hat
in diesem Gebiet ihre Raketenabwehr stationiert. All das
befördert Unsicherheit. Diese Unsicherheit haben Sie
innerhalb der NATO nicht ausreichend thematisiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Damit sind Sie nicht genügend auf die russischen Fragen
eingegangen. Das ist ein großes Versäumnis, das man
der Bundeskanzlerin wird vorhalten müssen.


(Beifall bei der SPD)


Ich hoffe, dass Sie zumindest mit einer gewissen Empa-
thie für Russland nach Chicago fahren und den Mit-
gliedsländern der NATO diese Unsicherheit Russlands
auf dem NATO-Gipfel deutlich machen.

Dabei geht es ganz konkret um die Frage: Wird es uns
gelingen, den Unsicherheitsfaktor Raketenabwehr durch
eine rechtsverbindliche Begrenzung einzuhegen? Ich
fordere die Bundesregierung dazu auf, diese Frage mutig
anzugehen. Das haben Sie in der Vergangenheit nicht
getan, insbesondere dann nicht, als der damalige russi-
sche Präsident Medwedew einen Vorschlag über ein
neues europäisches Sicherheitskonzept eingebracht hat.
Sehr reflexartig hat man innerhalb der NATO-Staaten,
aber auch der Bundesregierung darauf reagiert, und man
hat sogar Vokabeln der Lächerlichkeit eingebracht.





Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)


Nicht geschafft haben Sie, eine alte Tradition deut-
scher Bundesregierungen fortzusetzen, nämlich sowohl
die Bedenken aufzunehmen als auch sozusagen Brücken
zu bauen. Das verlange ich von einer deutschen Bundes-
regierung gegenüber der russischen Regierung. Das
haben Sie aber nicht bzw. zu wenig getan.


(Beifall bei der SPD)


Das zweite Beispiel ist der Georgien-Konflikt.
Damals haben wir einen wirklich schweren Konflikt in
Europa erlebt. Worum ging es? Wir haben sofort die Ins-
tanz suspendiert, die eigentlich zur Konfliktbearbeitung
in der Lage gewesen wäre, nämlich den NATO-Russ-
land-Rat, und es war schwer, wieder an die guten Erfah-
rungen anzuknüpfen.


(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])


Drittens lässt sich die Bundeskanzlerin – das muss
man ihr vorwerfen – in den USA, auch im Kongress,
gerne feiern und hält wohlfeile Reden, aber sie geht
nicht auf die Bedingungen ein, unter denen möglicher-
weise ein solcher Konflikt auch eingehegt werden kann.
Insbesondere überzeugt sie nach meinem Dafürhalten
den amerikanischen Kongress nicht davon, dass wir Ver-
träge brauchen, um dieses Sicherheitsdilemma entschei-
dend zu bearbeiten.


(Beifall bei der SPD)


Ich meine, Sie müssen nach Chicago reisen, um ein
neues Wettrüsten und auch letztlich neue Kriegsfüh-
rungsstrategien zu verhindern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist die Aufgabe der Bundesregierung in Chicago.
Dazu haben Sie leider heute nichts gesagt.

Der Bundesaußenminister, der in seinem Wahlkampf
gerne über Abrüstung philosophiert hat, hat nach drei
Jahren nichts vorzuweisen, was flankierend in diesen
Prozess eingebracht werden kann. Er reist gerne, aber
das reicht für einen Außenminister nicht aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Er muss Themen besetzen, und das wäre ein wichtiges
Thema gewesen. Leider hat er in diesen Zusammenhän-
gen versagt.

Ich finde es schade, dass die Bundesregierung so nach
Chicago gehen muss. Sie bringt nichts voran. Sie schafft
eher Unsicherheiten. Das steht nicht in der Tradition
ehemaliger Bundesregierungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717801600

Nächster Redner ist der Kollege Andreas

Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1717801700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch in diesem Jahr ist im Vorfeld des NATO-Gipfels
das Zusammentreffen der Staats- und Regierungschefs
als überlebenswichtig für die Allianz bezeichnet worden.
Indes zeigen die Themen des Gipfels: Das Bündnis wid-
met sich seinem Tagesgeschäft, unserer Sicherheit. Um
diese zu gewährleisten, hat die Allianz keinen Deut ihrer
Relevanz eingebüßt.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Das zeigen die Themen auf der Agenda deutlich. Die
in Chicago geplante Verabschiedung des strategischen
Plans für Afghanistan für die Zeit nach dem Abzug der
internationalen Kampftruppen 2014 zeigt: Die Allianz
bleibt der Zukunft Afghanistans verpflichtet.

Auch die G 8 werden sich auf ihrem Gipfel in Camp
David mit Afghanistan beschäftigen, und zwar mit der
wirtschaftlichen Unterstützung des Landes nach dem
Rückzug der internationalen Truppen, die bisher einen
unverhältnismäßig großen Anteil am wirtschaftlichen
Wachstum Afghanistans haben.

Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: Als
2002 der Einsatz in Afghanistan unter der damaligen rot-
grünen Bundesregierung mit Unterstützung der CDU/
CSU mandatiert wurde, haben wir zu hohe Erwartungen
gehabt. Der Strategiewechsel der christlich-liberalen
Bundesregierung Anfang 2010 hat die entscheidende
Wende zur Übergabe der Verantwortung in afghanische
Hände gebracht und eine konkrete Abzugsperspektive
für unsere Soldatinnen und Soldaten eröffnet.

Es ist vieles erreicht worden, etwa das vordringliche
Ziel des NATO-Einsatzes, al-Qaida als international von
Afghanistan aus agierende Terrororganisation auszu-
schalten. 2001 war undenkbar, was sich mit Blick auf die
Infrastruktur Afghanistans, die medizinische Versorgung
vieler afghanischer Bürger, das Schulwesen und die
Rolle von Frauen positiv entwickelt hat.

Die NATO wird 2014 ihren ISAF-Einsatz in seiner
bisherigen Form beendet haben. Es ist jetzt entschei-
dend, dass alle Bündnispartner sich weiter den Zielen
des letzten NATO-Gipfels 2010 verpflichtet fühlen, bis
dahin eine nachhaltige und verantwortungsvolle Über-
gabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen zu
gewährleisten. Auch wenn Frankreich bis Ende des Jah-
res seine Kampftruppen aus Afghanistan abziehen sollte:
Für uns gilt der NATO-Zeitplan; denn dieser Zeitplan für
eine Sicherheitsübergabe in Verantwortung ist ein Zeit-
plan, der auf unsere eigenen Sicherheitsinteressen abge-
stimmt ist. Das ist kein stures Festhalten an Terminen,
sondern eine Frage der Berechenbarkeit und Zuverläs-
sigkeit gegenüber dem afghanischen Volk, gegenüber
den afghanischen Streitkräften und nicht zuletzt gegen-
über den Bündnispartnern. Das gilt auch für Frankreich.
François Hollande muss sich fragen, ob er mit seiner ers-
ten wichtigen sicherheitspolitischen Entscheidung ein
Signal mangelnder Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit
gegenüber den Bündnispartnern aussenden will.





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)


2014 werden keine internationalen, also auch keine
deutschen Kampftruppen mehr in Afghanistan im Ein-
satz sein. Diese Rückführung ist eine große logistische,
militärische und auch außenpolitische Herausforderung.
Unser Abzug muss sicher, geordnet und nachhaltig sein.
Damit unsere Soldatinnen und Soldaten wohlbehalten
nach Hause zurückkehren können, könnten wir für den
logistischen Teil des Abzuges einen gesonderten militä-
rischen Schutz brauchen.

Im vergangenen Jahr sind Afghanistan und seine
internationalen Partner auf der Bonner Afghanistan-
Konferenz gegenseitige Verpflichtungen für eine zivile
Transformationsdekade nach 2014 eingegangen. Dann
wird es auch darum gehen, die afghanischen Sicherheits-
kräfte weiter auszubilden, zu befähigen und sie weiter zu
unterstützen. Für diese Ausbildungsaufgaben und für die
Sicherheit der eingesetzten deutschen Ausbilder wird die
Bundeswehr weiter, aber in einem deutlich reduzierten
Umfang vor Ort präsent bleiben.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Nennen Sie doch mal Zahlen!)


Denn die weitere Stabilisierung und Entwicklung Afgha-
nistans liegen in unserem Sicherheitsinteresse.

Damit das Bündnis auch in Zukunft für unsere Sicher-
heit sorgen kann, müssen angesichts knapper Kassen zur
Sicherung unserer militärischen Handlungsfähigkeit das
Instrument des „Pooling and Sharing“ sowie die soge-
nannte Smart Defense der NATO stärker und ambitio-
nierter genutzt werden. Beides darf aber nicht bloß als
Möglichkeit zur Kosteneinsparung oder als Ersatz für
nachhaltig finanzierte Streitkräfte angesehen werden.
Vielmehr sollte dadurch der benötigte Auf-, Um- und
Ausbau der militärischen Fähigkeiten der Allianz er-
möglicht werden. Wir begrüßen deshalb das Bestreben
im Bündnis, durch eine transatlantische Lastenteilung
Fähigkeiten zu sichern bzw. Fähigkeitslücken zu schlie-
ßen. Es wird allerdings kein Weg daran vorbeiführen,
noch deutlicher als bisher mutige gemeinsame Vorstel-
lungen zu entwickeln, welches militärische Potenzial
dafür unter bezahlbaren Bedingungen zur Verfügung
stehen soll, welche Fähigkeiten wir mit anderen teilen
wollen, wo wir Fähigkeiten übernational mit anderen
einbringen wollen und auf welche Fähigkeiten wir aus
Kostengründen bzw. deshalb, weil andere sie verlässlich
und günstiger bereitstellen, verzichten wollen.

Die Bereitschaft, sich an diesen Ansätzen zu beteili-
gen, erfordert nicht nur den politischen Willen zur Inte-
gration militärischer Fähigkeiten, sondern auch die Be-
reitschaft zur Aufgabe von Souveränität über den Ein-
satz militärischer Mittel. Dessen müssen wir uns auch
als Bundestag bewusst sein, wenn wir Smart Defense
bzw. „Pooling and Sharing“ zu einem echten Erfolg füh-
ren wollen; denn die Furcht vor einem nationalen Souve-
ränitätsverlust und ein Mangel an Vertrauen in die Zu-
verlässigkeit der Partner waren bisher Hindernisse für
eine solche vertiefte Kooperation. Unsere Partner wer-
den zu Recht fragen, ob Deutschland im entscheidenden
Moment auch bereit ist, die deutschen Streitkräfte zur
Verfügung zu stellen, auf die sich unsere Partner in ei-
nem solchen Konzept der Aufgabenteilung stützen.
Smart Defense bzw. „Pooling and Sharing“ setzen also

viel Vertrauen in die Verlässlichkeit der Partner voraus,
das schrittweise geschaffen werden muss. Daran muss
noch intensiv gearbeitet werden.

Ein zentrales Projekt transatlantischer Lastenteilung
ist die auf dem Lissabonner Gipfel beschlossene Ra-
ketenabwehr. In Chicago kann das Bündnis die Anfangs-
befähigung dieses Abwehrschildes feststellen. Warum
brauchen wir eine Raketenabwehr? Ich glaube, den
Menschen wird immer deutlicher bewusst, welche
Bedrohung sich durch Atomwaffen in den Händen von
Risikostaaten wie Iran aufbaut. Die iranische Bedrohung
ist kein Popanz, der künstlich aufgebauscht wird. Das
haben die Überprüfungen und die Berichte der IAEO,
die immer besorgter ausfielen, seit fast zehn Jahren
gezeigt.


(Zuruf von der LINKEN: Unsinn!)


Wenn aber der Iran die Bombe hat – das ist trotz aller
Verhandlungsbemühungen und Sanktionen früher oder
später zu befürchten –, dann kann es im Nahen und Mitt-
leren Osten einen beispiellosen nuklearen Aufrüstungs-
prozess geben. Deswegen ist es richtig, dass die NATO
konkret an der Möglichkeit eines Schutzes gegen un-
berechenbare, nuklear bewaffnete Staaten arbeitet.


(Zuruf von der LINKEN: Was heißt das?)


Richtig ist aber auch, dass dennoch die weltweiten
nuklearen Arsenale weiter reduziert werden können.
Deshalb muss der Abrüstungsprozess weitergehen. Al-
lerdings bleibt auch richtig, dass die NATO so lange zur
nuklearen Abschreckung in der Lage sein muss, wie es
Atomwaffen gibt.

Die NATO bemüht sich geduldig und intensiv um ei-
nen gemeinsamen Kooperationsrahmen mit Russland
beim Aufbau der Raketenabwehr. Leider haben wir erst
letzte Woche wieder öffentliche Drohungen von russi-
scher Seite gehört. Dabei weiß Moskau ganz genau, dass
sich das System nicht gegen Russland richtet, und wir
wissen sehr genau, welche Sorgen sich Russland vor ei-
nem nuklear bewaffneten Iran macht. Deshalb macht es
Sinn, dass wir Russland immer wieder eine Zusammen-
arbeit bei einer gemeinsamen Raketenabwehr gegen ge-
meinsame Bedrohungen anbieten.

Frau Bundeskanzlerin, in all diesen Fragen haben Sie
die volle Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion.


(Jörg van Essen [FDP]: Und die der FDPFraktion auch!)


– Und der FDP-Fraktion. Sehr gerne werden wir das der
Frau Bundeskanzlerin mitgeben, Herr van Essen. – Wir
wünschen Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, gutes Gelingen
in Chicago.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717801800

Ich erteile dem Kollegen Paul Schäfer für die Frak-

tion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717801900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der

NATO-Gipfel in Chicago steht unter dem schicken
Motto: NATO delivers. Übersetzt: Die NATO liefert.
Um was es geht, hat die Bundeskanzlerin in ihrer Rede
nachdrücklich deutlich gemacht. Sie hat viel über den
Ausbau der militärischen Fähigkeiten geredet. Also: Um
Aufrüstung geht es in Chicago, nicht um Abrüstung. Das
ist doch gar nichts. Die NATO ist am Zuge, wenn man
sagt, man müsse liefern. Die Allianz gibt sage und
schreibe über 1 000 Milliarden Dollar für Rüstung aus.
Das sind zwei Drittel der weltweiten Militärausgaben.
Ja, die NATO muss liefern, und zwar eine echte Abrüs-
tung. Auch einseitige Schritte sind durchaus erlaubt.


(Beifall bei der LINKEN)


Über das Thema Abkommen zum Abbau konventio-
neller Streitkräfte redet niemand mehr. Aber nuklear und
konventionell ist doch nicht zu trennen. Die NATO hat
in der Zeit der Blockkonfrontation die Existenz ihrer
Atomwaffen mit der Überlegenheit der Sowjetunion im
konventionellen Bereich, also bei Panzern etc., begrün-
det. Heute begründet Russland sein Riesenarsenal an
taktischen Atomwaffen mit dem Vorsprung der NATO
bei den konventionellen Streitkräften. So kann man den
Schwarzen Peter endlos hin- und herschieben, und nichts
bewegt sich. Damit muss endlich Schluss sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Fangen Sie endlich an – das ist unser Appell an
NATO und Bundesregierung –, zu liefern, und zwar Vor-
schläge über einen neuen KSE-Vertrag und eine Verrin-
gerung der Waffensysteme und Truppen um 30 Prozent!
Das würde mehr Sicherheit bringen, und das würde die
öffentlichen Haushalte entlasten. Beginnen Sie endlich
ernsthafte Verhandlungen über die taktischen Atomwaf-
fen mit dem Ziel, diese Waffen endgültig abzuschaffen!


(Beifall bei der LINKEN)


Mit der Beendigung der nuklearen Teilhabe Deutsch-
lands, also auch mit dem Abzug der US-amerikanischen
Atombomben aus Büchel, kann sofort begonnen werden.
Das sollten Sie in Chicago deutlich machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu nur eines: Ob die B-61-Bomben überhaupt noch
hier sind, wissen wir gegenwärtig nicht. Vielleicht ver-
schwinden sie auch erst demnächst, um dann moderni-
siert, mit mehr Zerstörungspotenzial, zurückzukommen.
Aber wenn es mit Global Zero, also der Vision der atom-
waffenfreien Welt, ernst gemeint ist, dann brauchen wir
doch kein Upgrade dieser Waffen, sondern dann brau-
chen wir Abolition, Verschrottung. Das ist es, was ange-
sagt ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Davon wird in Chicago leider nicht die Rede sein.

Die NATO ist – das ist auch in dieser Debatte deutlich
geworden – ein militärisches Perpetuum mobile, was in
der Frage der Abrüstung nichts anderes heißt, als dass
man da vage, zögerlich und unverbindlich ist. Beim Auf-
rüsten ist man konkret, verbindlich und sehr praktisch.

Das zeigt das Beispiel der Raketenabwehr. Darüber wird
in Chicago auch geredet und beschlossen werden.

Noch vor zwei Jahren hatte diese Bundesregierung
Bedenken und wollte erst sorgfältig prüfen. Jetzt sind
Sie mittenmang dabei. Hauptquartier der Raketenabwehr
in Ramstein? No problem. Deutsche Beteiligung am Ra-
ketenabwehrsystem? Warum nicht solche Abfangraketen
auf Fregatten der deutschen Marine stationieren? Russ-
land, das sich durch das Gesamtsystem extrem bedroht
fühlt? So what. Das kriegen wir schon hin.

Interessant ist auch da wieder, dass es die NATO frü-
herer Tage war, die gegenüber der Sowjetunion gesagt
hat, Absichten seien nicht entscheidend, die könnten sich
ändern. Entscheidend seien militärische Fähigkeiten.
Heute ist es die russische Regierung, die sagt: Die
Absichtserklärung der NATO „Wir wollen niemanden
bedrohen“ genügt uns nicht. Das wird man doch wohl
verstehen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Verteidigungsminister sagt zudem, man benötige
dieses kostspielige Rüstungsprojekt, weil wir es mit ei-
ner Welt voller aufstrebender Mächte zu tun hätten, die
sich wahrscheinlich auch moderne Raketen zulegten.
Gegen diese Bedrohung müsse man sich wappnen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, das ist nichts anderes als die
Einladung zu neuen globalen Aufrüstungsrunden, zu ei-
nem Wettlauf zwischen Offensiv- und Defensivwaffen;
und das ist wahrlich nicht das, was die Welt braucht.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss zur Bedrohung durch den Iran, die ja
noch nicht real, aber auch nicht auszuschließen ist. Auch
hier gilt: Statt fatalistisch hinzunehmen, dass es immer
mehr Atommächte gibt, sollten jetzt die Anstrengungen
im Nahen Osten für einen Nahen Osten ohne Massenver-
nichtungswaffen vorangebracht werden. Wenn das ge-
lingt, brauchen wir keine neuen Abfangraketen. Das
wäre eine Friedenspolitik, die den Namen verdient. Da-
von kann leider auf dem NATO-Gipfel keine Rede sein.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1717802000

Dagmar Wöhrl ist die nächste Rednerin für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1717802100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

G-8-Gipfel liegt vor uns. Das ist kein unwichtiger
Gipfel, auch wenn man sagen kann, dass die G 8 nicht
mehr der Vorreiter bei der Lösung transnationaler Pro-
bleme sind, wie sie es einmal waren. Sie sind aber ein
großer Impulsgeber.

Auch diesmal stehen große globale Herausforderun-
gen auf der Tagesordnung, die alle mit einem entwick-
lungspolitischen Aspekt verbunden sind. Wenn man sich
Afghanistan anschaut – darüber haben wir heute in der





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)


Debatte auch schon gesprochen –, stellt man fest, dass
eine Entwicklung ohne Sicherheit und ohne Stabilität
nicht möglich ist. Man sieht aber auch, dass das umge-
kehrt ebenso gilt.

Es ist wichtig, dass wir uns nicht nur über Strategien
der Finanzierung der Sicherheitskräfte unterhalten, son-
dern auch darüber, wie wir den zivilen und den wirt-
schaftlichen Aufbau des Landes nach 2014 hinbekom-
men können. Deshalb ist es wichtig, dass Auswärtiges
Amt und BMZ hier zu einem gemeinsamen Konzept
kommen.

Nehmen wir das Thema „Zukunft der nordafrikani-
schen Länder“: Wenn wir wollen, dass die Blüten des
Arabischen Frühlings, in die wir alle hier so große Hoff-
nungen gesetzt haben, zukünftig zu erntereifen Früchten
heranreifen, dann müssen wir dafür sorgen, dass der
Aufbau der Infrastrukturen und der Ökonomie voran-
kommt. Nur wenn es einen wirtschaftlichen Aufbau gibt,
werden wir Perspektiven für eine freiheitliche Entwick-
lung schaffen können. Egal ob es Ägypten, Tunesien
oder Libyen ist: Es ist wichtig, dass wir zu mehr Investi-
tionen in diesen Ländern kommen. Nur so schaffen wir
es, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern zu
bekämpfen. Deshalb bin ich froh, dass sich die Europäi-
sche Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in diesem
Bereich zukünftig stärker engagieren wird.

Klar ist: Ohne wirtschaftliches Wachstum werden wir
nicht zur Demokratisierung kommen. Wir hatten diese
Woche eine hochrangige Delegation aus Myanmar zu
Gast. Sie hat mit vielen Kollegen und einigen Ministern
Gespräche geführt. Dabei hat der Speaker des Parla-
ments etwas sehr Richtiges gesagt: Das Volk kann ich
auf dem Weg zur Demokratie nur mitnehmen, wenn ich
ihm Perspektiven für Wachstum und Wohlstand eröffne.
Das ist der richtige Weg.

Was mich besonders freut, ist, dass auf dem nächsten
G-8-Gipfel Afrika wieder eine zentrale Rolle spielt.
Afrikanische Regierungschefs haben das erste Mal an ei-
nem solchen Gipfel im Jahr 2000 beim G-8-Gipfel in
Okinawa teilgenommen. Auch dieses Jahr sind afrikani-
sche Regierungschefs eingeladen – mehr als vorher –,
unter anderem die Regierungschefs von Ghana, Tansania
und Äthiopien. Das Bild Afrikas hat sich gewandelt. In-
zwischen bezeichnet man Afrika auch als „Chancenkon-
tinent“. Der IWF sprach 2011 von 5,2 Prozent Wachs-
tum in Afrika. Dieses Jahr sollen es 6 Prozent Wachstum
sein. Von manchen afrikanischen Ländern sagt man, es
seien heute Löwen, die in die Fußstapfen der asiatischen
Tiger treten werden.

Wenn man die Zeitungen aufschlägt, sieht man aber
auch ein anderes Gesicht Afrikas. Immer öfter kommt es
zu Dürren und Hungerkatastrophen. 1 Milliarde Men-
schen hungert, und es werden nicht weniger. Es gibt ein
immenses Bevölkerungswachstum. Die Bevölkerung
wächst insgesamt jedes Jahr um so viele Einwohner, wie
Deutschland hat – fast 80 Millionen.

Entsprechend sind die Herausforderungen, die wir ha-
ben: Nahrungsmittelproduktion, genügend Wasser und
Energie; dazu kommen viele weitere Dinge. Die Men-

schen in Afrika wollen natürlich ernährt werden, und sie
wollen eine ausreichende gesundheitliche Versorgung
haben. In der Sahelzone droht rund 13 Millionen Men-
schen eine Hungerkatastrophe. Das ist nicht die einzige
Katastrophe, die droht. Burkina Faso, Mauretanien,
Mali, Niger, Senegal, Tschad, Kamerun; überall dort gibt
es Dürren, den Ausfall von Ernten. Allein in Mali sind es
90 Prozent. In Niger gibt es 1 Million unterernährte Kin-
der. Fast überall dort herrscht eine extreme Wasser-
knappheit, Tendenz steigend. Außerdem steigen die
Nahrungsmittelpreise. Ich wiederhole: Wir stehen vor
großen Herausforderungen. Alles das muss auf dem
G-8-Gipfel angesprochen werden.

Ich will jetzt nicht auf die Nahrungsmittelspekulatio-
nen eingehen; das ist ein Thema für sich. Ich glaube, un-
ser Haus muss sich mit diesem Thema noch ganz inten-
siv beschäftigen. Es geht nicht an, dass allein an der
Chicagoer Börse 350 Millionen Tonnen Weizen – das ist
mehr als die Hälfte der gesamten Weizenproduktion der
Welt – virtuell gehandelt werden.

Hierbei geht es um wichtige Themen, um Themen,
die man nicht unter den Tisch kehren kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Es ist gut, dass sich die G 8 damit beschäftigt. Wir müs-
sen nämlich aus dem Krisenmanagement herauskom-
men. Wir müssen zukünftig viel mehr Prävention betrei-
ben.

Eigentlich bräuchten wir ein L’Aquila II. Im Rahmen
von L’Aquila I wurden 3 Milliarden US-Dollar, 2,1 Mil-
liarden Euro, zugesagt. Ich bin froh, dass man sagen
kann, dass das auf den Weg gebracht worden ist. Alle
Zusagen befinden sich in der Umsetzung. Über die
Hälfte des zugesagten Geldes ist inzwischen ausgezahlt
worden. Das heißt, wir stehen zu unseren Verpflichtun-
gen. Wir geben nicht irgendwelche Zusagen, sondern wir
erfüllen sie auch; wir überfüllen sie sogar. Mittlerweile
zahlen wir in diesem Bereich sogar über 3 Milliarden
Dollar.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht immer
nur um mehr Geld; um Geld geht es immer. Wer die Ar-
beit der Bundesregierung aufmerksam verfolgt, wird er-
kennen, dass der Aspekt der ländlichen Entwicklung, des
Schutzes der Kleinbauern auch bei uns in der Entwick-
lungszusammenarbeit eine immer größere Rolle spielt.
Hier sind in letzter Zeit drei große Anträge dazu gestellt
worden.

Wichtig für unsere Debatte ist aber ein anderer
Nexus: der zwischen Ernährungssicherung, Wasser und
Energie. Angesichts dessen brauchen wir eine Wende
hin zu einer „Green Economy“. Wir müssen schauen,
dass wir den Klimawandel in den Griff bekommen; denn
nur so können wir auch globalen Lebensmittelkrisen zu-
künftig vorbeugen.

Wir wissen natürlich auch, dass Vorbeugen nicht alles
ist. Wir müssen Strategien und Techniken entwickeln,
um uns mit den Folgen des Klimawandels auseinander-
zusetzen. Dieses Thema kommt mir immer noch ein





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)


bisschen zu kurz. Was passiert, wenn man es nicht
schafft? Wie gehen wir mit den Folgen des laufenden
Klimawandels zukünftig um?

Ich glaube, wir sind uns alle einig im Hinblick auf das
Thema Energie, Stichwort „Entscheidung zwischen
Tank und Teller“: Für uns ist die Ernährungssicherung
ein Menschenrecht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe die Hoffnung, dass die G 8 kurz vor „Rio+20“
die Chance nutzt, entscheidende Impulse für eine nach-
haltige Entwicklung und Armutsbekämpfung zu setzen.

„Rio+20“ kann ein Riesenerfolg werden. Aber dazu
sind zwei Punkte wichtig: Wir brauchen einen gemeinsa-
men Fahrplan, und wir brauchen endlich eine Institution,
eine Einrichtung, die Normen setzt, die die Umsetzung
kontrolliert und die dann, wenn die Umsetzung nicht so
stattfindet, wie es in den Normen vorgegeben ist, dafür
sorgt, dass es auch zu Sanktionen kommt. Hier hat G 8
eine Aufgabe und muss auch in dem Zusammenhang ihr
ganzes Gewicht in die Waagschale werfen. Wenn sie das
tut, dann ist mir nicht bange.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717802200

Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Wöhrl. – Nächs-

ter Redner für die Fraktion der CDU/CSU: unser Kol-
lege Dr. Reinhard Brandl. Bitte schön, Kollege Brandl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1717802300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

In acht Tagen treffen sich in Camp David die Staats- und
Regierungschefs der führenden acht Industrienationen,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wer hätte das gedacht!)


und in zehn Tagen treffen sich in Chicago die Verbünde-
ten in der Transatlantischen Allianz. Diese Treffen fin-
den mitten in einer Phase des Umbruchs statt: Frankreich
hat erst seit wenigen Tagen einen neuen Präsidenten,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na bravo!)


in Russland hat Putin gerade wieder das Präsidentenamt
übernommen, und Amerika befindet sich mitten im
Wahlkampf. Man darf deswegen die Erwartungen an die
Gipfel nicht zu hoch ansetzen. Das werden schlicht Ar-
beitsgipfel werden. Aber dass der NATO-Gipfel in Chi-
cago, das heißt in der Heimatstadt des Präsidenten, statt-
findet, lässt mich persönlich hoffen, dass Obama die
Gelegenheit nutzen wird, wieder ein starkes transatlanti-
sches Signal zu setzen. Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen, das wäre ein schönes Signal in einer Zeit, in der
man manchmal den Eindruck hat, dass in Amerika vor
allem der pazifische Raum Bedeutung hat, während der
transatlantische Raum an Bedeutung zu verlieren
scheint.

Für eine Annäherung an Russland, insbesondere bei
der Raketenabwehr, ist die Zeit vermutlich noch nicht
reif. Es wäre aber wichtig, dass die Spannungen, die seit
dem wirklich historischen Gipfel in Lissabon wieder neu
entstanden sind, so schnell wie möglich abgebaut wer-
den. Deutschland leistet hier im Bereich der Vertrauens-
bildung einen ganz wichtigen Beitrag. Wir haben es
heute schon von der Bundeskanzlerin gehört: Vor weni-
gen Wochen fand in Ottobrunn bei München eine Übung
des NATO-Russland-Rats zu einer gemeinsamen Rake-
tenabwehr statt. NATO-Vertreter und Russen haben dort
geübt, wie man ballistische Raketen gemeinsam koordi-
niert abwehren kann. Eine kleine Übung, ein kleiner
Schritt, aber, meine Damen und Herren, dieser kleine
Schritt macht mir große Hoffnung, dass man auch außer-
halb von Übungen zueinanderfinden kann.

Ein zentrales Thema auf beiden Gipfeln wird das wei-
tere Vorgehen in Afghanistan sein. Zum ersten Mal wird
in einem solch großen Rahmen die Zeit nach 2014 kon-
kret in den Blick genommen. 2012 konnten wir als Deut-
sche erstmals die Zahl unserer Soldaten reduzieren: von
5 350 auf 4 900. Wir übergeben auch immer mehr Ge-
biete in die afghanische Verantwortung. Der schon län-
ger geplante Abzug der Kampftruppen bis Ende 2014
nimmt nun langsam konkrete Formen an.

Wichtig ist aber, dass wir jetzt in dieser entscheiden-
den Phase keinen falschen Ehrgeiz an den Tag legen, den
Abzug nicht überhasten, sondern ihn genauso wie den
gesamten Einsatz bisher mit unseren internationalen
Partnern und dem Land selbst so eng wie möglich ab-
stimmen und koordinieren. „Gemeinsam rein – gemein-
sam raus“, das ist unsere deutsche Maxime, die, wie ich
hoffe, auch international Konsens bleibt.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist falsch! Und das wisst ihr auch!)


Aber es geht bei den beiden Gipfeln nicht nur um den
Abzug der Kampftruppen, sondern auch darum, wie wir
in der Zeit danach Afghanistan helfen, wie wir unsere
Verantwortung für Afghanistan wahrnehmen bzw. auch
aufteilen wollen. Ich finde in dem Zusammenhang den
Begriff „Transformationsdekade“, der auf dem Afgha-
nistan-Gipfel in Bonn geprägt worden ist, sehr passend.
Mit dem Begriff „Dekade“ wird ausgedrückt, in welchen
Zeiträumen wir für diese nun anstehende Phase der Un-
terstützung denken müssen. Wir brauchen diese Zeit-
räume, um dem Land eine realistische Chance zu geben,
das bisher Erreichte nicht wieder zu verlieren, sondern
auf der Basis weiter aufzubauen.

Aber mit der Veränderung der Aufgabe kommen wir
jetzt an einen Punkt, an dem wir unsere bisherigen Orga-
nisationsstrukturen überdenken müssen. Wollen wir zum
Beispiel unser zukünftiges Engagement in Afghanistan
auf einen bilateralen oder multilateralen Rahmen stüt-
zen? Soll es für die Aufgaben nach 2014 weiterhin eine
zentrale Organisationsstruktur geben? Oder wollen wir
weiterhin nach dem Regionalprinzip arbeiten oder uns
statt dessen funktional aufteilen? Es gibt in Camp David
und in Chicago viel zu diskutieren. Ich bin davon über-
zeugt – auch wenn es bereits erste bilaterale Verträge
zwischen Afghanistan einerseits und den USA bzw.
Großbritannien andererseits gibt –, dass die internatio-





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)


nale Gemeinschaft, die NATO und insbesondere auch
die EU in Zukunft einen geeigneten und bewährten Or-
ganisationsrahmen für die Zeit nach 2014 zur Koordina-
tion unseres Engagements bieten. Die Durchsetzung von
Partikularinteressen ausländischer Mächte auf afghani-
schem Boden – das zeigt uns die afghanische Geschichte –
hat weder dem Land noch den ausländischen Mächten
Frieden gebracht.

Neben der Frage der Organisation wird auch die Fi-
nanzierung unserer zukünftigen Unterstützung während
der Gipfel zumindest andiskutiert werden. Wer trägt wel-
chen Anteil an den zu erwartenden 4,1 Milliarden US-
Dollar pro Jahr? Ich finde es nur fair, dass in einer sol-
chen Situation die Kosten nicht nur bei den bisherigen
Truppenstellern verbleiben, sondern dass sich möglichst
die gesamte internationale Gemeinschaft daran beteiligt;


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Die pfeift euch was!)


denn von Stabilität und Sicherheit in Afghanistan profi-
tiert letztlich die ganze Welt.

Wir sind dabei, ein neues Kapitel in und für Afghanis-
tan aufzuschlagen. Wir haben in dem Land viel erreicht.
Jetzt geht es darum, den Afghanen die Chance zu geben,
auf dieser Basis Stabilität, Wohlstand und Sicherheit in
ihrem Land weiter auszubauen. Meine Befürchtung ist
aber, dass mit den Soldaten auch die Aufmerksamkeit
von Afghanistan abziehen wird. Das wäre fatal. Wir ha-
ben für das Land und die Menschen dort Verantwortung
übernommen. Wir müssen zu dieser Verantwortung auch
nach 2014 stehen. Es wird sicher auch eine unserer Auf-
gaben im Parlament sein, daran immer wieder zu erin-
nern.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717802400

Vielen Dank, Kollege Dr. Brandl. – Mir liegen keine

weiteren Redewünsche vor, sodass ich die Aussprache
schließe.

Wir kommen somit zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/9594. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! –
Das sind alle anderen Fraktionen dieses Hauses. Vor-
sichtshalber: Enthaltungen? – Keine. Der Entschlie-
ßungsantrag ist damit abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Gemeinsam für gute Bildung und Wissen-
schaft – Grundgesetz für beide Zukunftsfelder
ändern

– Drucksache 17/9565 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und

Technikfolgenabschätzung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Die Rednerliste liegt uns vor. Erste Rednerin in unse-
rer Aussprache ist für den Bundesrat Frau Ministerin
Sylvia Löhrmann. Bitte schön, Frau Löhrmann, Sie ha-
ben das Wort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



(Nordrhein-Westfalen)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stehen vor großen gesellschafts- und bil-
dungspolitischen Herausforderungen: dem demogra-
fischen Wandel, den veränderten familiären und außer-
familiären Lebensformen, der Integration von Kindern
und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte, der
Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Ver-
einten Nationen – Stichwort: Inklusion –, dem sich ab-
zeichnenden Fachkräftemangel und einer zunehmenden
sozialen Spaltung.

Diesen sozialpolitischen Herausforderungen können
und wollen sich unsere Schulen nicht entziehen; sie kön-
nen diese aber auch nicht alleine meistern. Diese sozial-
politischen Herausforderungen dürfen nicht einfach in
der Schule abgeladen werden, sondern sie müssen
gesamtgesellschaftlich gelöst und finanziert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gesamtgesellschaftlich heißt: von Kommunen, von Län-
dern und auch vom Bund.

Verehrte Frau Kollegin Schavan, mit Ihrem Vorschlag
zur Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes gehen Sie
zwar einen Schritt in die richtige Richtung, aber Sie
springen viel zu kurz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das hat auch die Anhörung des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des
Bundestags am 19. März dieses Jahres eindrucksvoll
deutlich gemacht.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Da waren Sie doch gar nicht dabei!)


– Ich kann mich aber informieren.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU gewandt: Jungs, regt euch nicht so auf!)


Alle Expertinnen und Experten haben Bestrebungen
begrüßt, das 2006 eingeführte sogenannte Kooperations-
verbot wieder zu lockern und mehr Handlungsmöglich-
keiten zu eröffnen. Es gibt, so Professor Dr. Prenzel bei





Ministerin Sylvia Löhrmann (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


dieser Anhörung, keine Hinweise auf positive Effekte
des Kooperationsverbots für die Entwicklung der Quali-
tät von Bildungsangeboten und Bildungsergebnissen in
Deutschland.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Vielmehr könne mit Blick auf die großen Herausforde-
rungen im Bildungsbereich gesagt werden, dass das
Kooperationsverbot Innovation und gemeinsame
Anstrengungen im Bildungsbereich behindert.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So, so!)


Wenn wir alle zunehmend erkennen, dass es ein Feh-
ler war, die Abgrenzung von Bund und Ländern unnötig
zu verschärfen und Kooperationen unnötig zu erschwe-
ren, dann lassen Sie uns bitte diesen Fehler richtig und
vollständig korrigieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn wir jetzt nur halbherzig vorgehen und uns auf
eine Teillösung beschränken, machen wir die Tür für
eine große Lösung, die auch die Schulen einbezieht, über
Jahre hinweg zu. Und, Frau Schavan, deshalb ist Ihr Vor-
schlag eben nur vermeintlich ein Schritt in die richtige
Richtung. Vielmehr müssen wir unsere gesamtstaat-
lichen Anstrengungen verstärken und systematisieren,
um ein leistungsstarkes und sozial gerechtes Bildungs-
system zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717802500

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus

der Fraktion der FDP?


(Nordrhein-Westfalen)


Aber gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717802600

Bitte schön.


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1717802700

Frau Ministerin, ich habe mit Interesse gehört, was Sie

in Ihren Ausführungen dargestellt haben. Mich würde in
dem Zusammenhang interessieren, ob die Position, die
Sie als Ministerin von Nordrhein-Westfalen und Vertrete-
rin der dortigen Grünen haben, deckungsgleich ist mit
der Position des baden-württembergischen Ministerpräsi-
denten, Herrn Kretschmann, der – nach dem, was ich der
Presse entnommen habe – genau die gleiche Position ver-
tritt wie der rheinland-pfälzische SPD-Ministerpräsident.
Beide Ministerpräsidenten sagen – ich zitiere –: Selbst
dieser kleine Schritt der Öffnung des Art. 91 b ist eine
Art der Bundesbeteiligung, die man nur ablehnen kann. –
Wie ist Ihre Einschätzung zu dem, was Ihr Kollege Herr
Kretschmann aus Baden-Württemberg dazu sagt?


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gute Frage!)



(Nordrhein-Westfalen)


Wenn es Sie so sehr interessiert, wie gut der Kollege
Kretschmann und ich harmonieren, dann empfehle ich
Ihnen ein Doppelinterview, das heute unter anderem in
der Frankfurter Rundschau und in der Berliner Zeitung
zu lesen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Uwe Schummer [CDU/ CSU]: Wechseln Sie täglich Ihre Meinung?)


Außerdem mache ich darauf aufmerksam, dass ein
Kollege Ihrer Fraktion – hier vorne sitzt er –, der bei
einer Veranstaltung des Landes Nordrhein-Westfalen in
unserer Landesvertretung zu Gast war, bei der wir mit
Experten diskutiert und beraten haben, gesagt hat:
Eigentlich wünschte ich mir auch solch eine große
Lösung, aber vielleicht gehen wir erst einmal den ersten
Schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo! Guter Mann!)


Also ist es doch aller Mühen wert, systematisch und
grundsätzlich darüber zu diskutieren.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Heute so, morgen so!)


Wenn ich mir dann noch einen Hinweis erlauben darf:
Auch Herr Lindner zum Beispiel ist dieser Meinung. Er
hat sich auf dem Bundesparteitag nur nicht durchgesetzt,
meine Damen und Herren von der FDP. Das kann bei
dieser Gelegenheit doch auch einmal gesagt werden.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Im Übrigen bin ich bekannt dafür, dass ich Konsense
nicht weg-, sondern hermoderiere.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir machen hier keinen Wahlkampf!)


– Wenn ich so schöne Zwischenfragen kriege, nutze ich
solche Gelegenheiten natürlich. Darauf können Sie sich
verlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie sollen nur antworten!)


– Ich antworte ja. In der Frage, wie wir unser Schulsys-
tem konsensorientiert weiterentwickeln, musste ich
zuerst meine Partei überzeugen; da waren auch nicht alle
dieser Meinung. Dann haben wir das Ganze im Koali-
tionsvertrag vereinbart. Anschließend haben wir es mit
der CDU hinbekommen. Jetzt haben wir in Nordrhein-
Westfalen einen großen Schulkonsens.





Ministerin Sylvia Löhrmann (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


Das bringt mich zu diesem Antrag. Wir sollten wirk-
lich sagen, dass es einen Konvent braucht, um diese
große, ganz zentrale Zukunftsfrage für Deutschland auf-
zulösen und im Parlament zu entwickeln – mit dem Bun-
desrat, aber auch mit der Zivilgesellschaft. Dafür werben
wir, damit wir das vernünftig hinkriegen und aufstellen.
Dann ist Herr Kretschmann natürlich dabei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu braucht es nicht die FDP!)


Meine Damen und Herren, die Zukunft des Standorts
Deutschland hängt von der gelingenden Zukunft unserer
Kinder und Jugendlichen ab. Damit unsere Kinder und
Jugendlichen tatsächlich eine Zukunft haben – eine
Zukunft, die gelingt; eine Zukunft, in der sie selbstbe-
stimmt ihr Leben gestalten können –, brauchen sie die
bestmögliche Bildung.

Das Fundament für eine gute Bildung wird in früh-
kindlicher Erziehung und Bildung, in den Kitas und in
den Schulen gelegt. Auf die Kitas kommen Sie im Laufe
des heutigen Tages ja noch zu sprechen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Und in den Familien auch? – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Vor allem in den Familien, würde ich auch sagen!)


Dies wird häufig vergessen, wenn ausschließlich Exzel-
lenz-Universitäten als Maßstab für den Erfolg des Bil-
dungssystems genommen werden. Mehr Spitzenergeb-
nisse auf breiter Front können nur mit einer frühen
Förderung gelingen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Unser aller Aufgabe ist es, die Gelingensbedingungen
zu stärken – auch an den Schulen. Dazu gehört nun ein-
mal eine verlässliche finanzielle Unterstützung.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das können die Länder machen!)


Den Ländern und Kommunen fällt dies zunehmend
schwerer. Die Rahmenbedingungen sind zwar von Land
zu Land, von Kommune zu Kommune unterschiedlich.
Aber eines stimmt überall: Bildungspolitik ist heute im-
mer auch Sozial-, Integrations- und Wirtschaftspolitik –
und dem wird unsere bisherige Finanzverfassung nicht
mehr gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch wenn die Schule zu den Kernkompetenzen der
Länder gehört und der Bund keine schulpolitische Ver-
antwortung trägt und auch keine Schulgesetze machen
soll, trägt er umso mehr eine sozialpolitische Verantwor-
tung. Meine Damen und Herren, vor den Schuleingän-
gen darf kein Stoppschild für soziale Verantwortung des
Bundes stehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir wissen doch alle, dass das Kooperationsverbot
für Maßnahmen wie das Bildungs- und Teilhabepaket
faktisch unterlaufen wird. Dieses Paket ist ineffizient,
führt zu mehr Bürokratie und hat sogar zur Folge, dass
private Nachhilfeorganisationen und nicht die Schulen
durch den Staat finanziell gestärkt werden. Ich halte das
für einen Skandal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das beklagen nicht nur die Kommunen; das hat sogar
in ihrer Gänze auch die Kultusministerkonferenz beklagt.
Von Herrn Spaenle bis nach Schleswig-Holstein hin
haben wir gesagt: Es kann nicht sinnvoll sein, dass wir
hier private Institutionen fördern, statt den Staat und die
Schulen zu stärken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, wir müssen das Bildungs-
und Teilhabepaket so reformieren, dass die Mittel unmit-
telbar in den Schulen ankommen und die dortigen För-
derstrukturen gestärkt werden.

Ich habe mich gefreut, dass sich die Bundeskanzlerin,
als sie an der Kultusministerkonferenz teilnahm, einer
Debatte über die Weiterentwicklung gestellt hat. Wir
haben es sehr begrüßt, dass sie dort gesagt hat: Ja, wir
wollen eine Evaluation machen. – Wir sind alle gespannt,
was die zugesagte Evaluation ergibt.

Meine Damen und Herren, wir stehen alle in der Ver-
antwortung, die UN-Behindertenrechtskonvention auch
in den Schulen umzusetzen. Ich sage deutlich: Es war
vom Bund richtig und notwendig, diese Konvention zu
unterzeichnen. Der Beitritt allein aber reicht nicht aus.
Die Länder und die Kommunen müssen auch in der Lage
versetzt werden, hier aktiv handeln zu können.

Dabei hält sich der Bund zurück – wohl wissend, was
bei der Umsetzung auf die Länder, die Schulen und die
Kommunen zukommt. Hier dürfen sie aber nicht im
Stich gelassen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch hier geht es nicht um schulgesetzliche Fragen, son-
dern es geht im Wesentlichen um sozialpolitische Fra-
gen, etwa um die Unterstützung von multiprofessionel-
len Teams. Ich finde es in der Diskussion immer sehr
wichtig, dass wir die schulgesetzlichen Fragen, die Fra-
gen der Schulstruktur und die sozialpolitischen Fragen
von Schule sehr systematisch auseinanderhalten.

Lassen Sie mich ein weiteres konkretes Beispiel nen-
nen: den Ausbau der Ganztagsschule. Es besteht kein
Zweifel darüber, dass der weitere Ausbau von Ganztags-
schulen auch aus sozialpolitischen Gründen dringend
geboten ist. Die Umsetzung in vielen Kommunen schei-
tert oft jedoch daran, dass kein Geld für die notwendigen
Umbauten, zum Beispiel für Mensen, vorhanden ist. Die
Unterstützung des Bundes bei der Finanzierung
erscheint unerlässlich, damit so erfolgreiche Programme
wie das IZBB zur Herstellung der notwendigen Infra-





Ministerin Sylvia Löhrmann (Nordrhein-Westfalen)



(A) (C)



(D)(B)


struktur für Ganztagsschulen wieder möglich und die
Kommunen finanziell entlastet werden. Hierzu hat zum
Beispiel die Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der
SPD-Bundestagsfraktion unter Leitung von Herrn
Dr. Rossmann einen „Masterplan Ganztagsschule 2020“
vorgelegt. Ich finde, daran kann man anknüpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Eine Bildungsrepublik baut sich nicht von alleine auf.
Wir müssen ein breites Fundament legen. Deshalb reicht
es nicht aus, dem Bund die Möglichkeit zu eröffnen,
künftig gemeinsam mit den Ländern Einrichtungen der
Wissenschaft und Forschung von überregionaler Bedeu-
tung an Hochschulen zu fördern. Ich schlage Ihnen vor,
meine Damen und Herren, Frau Bundeskanzlerin, Frau
Bundesforschungs- und -bildungsministerin: Laden Sie
zu einem Reformkonvent ein, der Schulen und Hoch-
schulen gleichermaßen in den Blick nimmt und breit
getragene Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes
erarbeitet! Holen Sie die Länder, die Kommunen, die
Wirtschaft und die Sozial- und die Integrationsverbände
dazu, damit es einen breiten zivilgesellschaftlichen Kon-
sens dafür gibt! Es gilt, Misstrauen und Vorurteile abzu-
bauen und den Boden für eine baldige Reform zu berei-
ten. Wir brauchen kein Stückwerk, vielmehr müssen wir
zu einer gemeinsamen partnerschaftlichen Verantwor-
tung von Bund, Ländern und Gemeinden für die gesamte
Bildung kommen. Die Zeit dafür ist jetzt reif.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717802800

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner in

unserer Aussprache ist von der Fraktion der CDU/CSU
Kollege Michael Kretschmer. Bitte schön, Kollege
Michael Kretschmer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1717802900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Um die eben vorgetragene Rede besser einord-
nen zu können: Diese Rede ist drei Tage vor der Land-
tagswahl in Nordrhein-Westfalen gehalten worden, und
so muss man sie auch verstehen;


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall des Abg. Patrick Meinhardt [FDP] – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für Sie auch! Oder sind Sie außerhalb der Zeit?)


denn ansonsten hätte eine Landesministerin, die hier in
Berlin auftritt, gesagt, dass es zu keiner Zeit in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so viel
Unterstützung vom Bund für Bildung und für Teilhabe
gegeben hat wie heute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)


Zu einer anderen Zeit wäre eine Landesministerin zu der
Erkenntnis gekommen, dass das, was wir gemeinsam,
überfraktionell und überparteilich, in den letzten Jahren
erreicht haben, beispielhaft ist. Jawohl, wir haben die
Bildungsrepublik. Das ist ein gemeinsamer Erfolg, den
man nicht kleinreden sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist ein trauriger Vorfall, wenn eine Ministerin aus
dem eigentlich stärksten Land, das diese Bundesrepublik
Deutschland hat, aus der Herzkammer der Wirtschaft,
Nordrhein-Westfalen, hier steht und sagt: Wir kriegen
das nicht hin mit der Inklusion; wir kriegen es nicht hin,
Mensen zu bauen,


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich! Wer hat denn das gesagt?)


und es ist alles ganz schlimm. Was ist in den 40 Jahren
unter SPD-Regierung falsch gelaufen, dass so etwas
möglich ist?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Wenn jemand aus dem Saarland hier gestanden hätte und
diese Rede gehalten hätte, dann hätte man noch sagen
können: Das ist eben so, das ist alles schwierig. – Aber
das kann man doch nicht von jemandem hören, der aus
Nordrhein-Westfalen kommt. Das ist ein Armutszeugnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Sie kann es einfach nicht!)


Es ist auch ein Armutszeugnis, dass wir nach Mona-
ten der Diskussion über eine Grundgesetzänderung, die
wirklich wichtig ist – diese Debatte ist notwendig; es ist
richtig, dass wir sie führen –, heute vonseiten der Oppo-
sition wieder nur einen Antrag, einen Appell an die Bun-
desregierung vorgelegt bekommen – kein eigenes
Gesetz,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen konkrete Vorschläge!)


keine eigene Vorstellung von dem, was man will,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind konkrete Formulierungsvorschläge drin! Lesen Sie das mal!)


sondern eine Aufforderung an die Bundesregierung:
Macht eine Grundgesetzänderung! Es gibt genügend
Vorschläge für eine Grundgesetzänderung, auch aus von
SPD und Grünen geführten Ländern.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Bleib bei der Wahrheit!)


Wenn Sie dieses Vorhaben wirklich ernst nehmen wür-
den und wenn Sie den Anspruch gehabt hätten, heute
hier wirklich etwas vorzulegen, dann hätten Sie sich
auch die Mühe machen müssen, einen Konsens zu erzie-
len. Dann hätten Sie sagen müssen, was Sie wirklich





Michael Kretschmer


(A) (C)



(D)(B)


wollen. Doch dafür hätten Sie sich auch inhaltlich damit
auseinandersetzen müssen. Sie hätten die Sache durch-
denken müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dann hätten Sie erkannt, was viele schon erkannt haben:
Es gibt weder in der Partei der Grünen noch in der SPD
einen Konsens darüber, ob und gegebenenfalls in wel-
cher Form man die Bildung in eine Grundgesetzände-
rung einbeziehen sollte. Es gibt derzeit nur einen Kon-
sens darüber, die Kooperationsmöglichkeiten im Bereich
der Wissenschaft zu verbessern. Deswegen ist es richtig,
dass Annette Schavan und die Bundesregierung einen
entsprechenden Vorschlag unterbreitet haben, der Ende
des Monats dem Kabinett vorgelegt wird und über den
wir dann auch miteinander diskutieren werden. Das ist
ein großer Schritt. Ich finde, wir sollten ihn gemeinsam
gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Hochschulrektorenkonferenz hat Ihnen ins
Stammbuch geschrieben: Das ist ein „überzeugender
Vorschlag von Bundesministerin Schavan“.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für was?)


Er „ebnet einen gangbaren und zielführenden Weg“.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für was denn? Für Eliteinstitute!)


Es besteht die große Sorge, dass dieses Vorhaben auf der
Zielgerade noch verhindert werden soll.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man darf auch drei Tage vor der Wahl nicht die Unwahrheit sagen!)


Deswegen fordert die Hochschulrektorenkonferenz Sie
auf, dieses Vorhaben nicht zu verhindern, sondern einen
inhaltlichen Konsens zu ermöglichen und zuzustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch mal mit der Opposition! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen zwei Drittel! Dann müssen Sie auch auf uns zugehen!)


Hinter diesem Vorschlag steht eine strategische und
inhaltliche Überlegung. Es geht darum, die Hochschu-
len, das Herz des deutschen Wissenschaftssystems, wei-
ter zu stärken.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in Ihrem Papier aber nicht drin! Die Wahrheit sagen!)


Mit dem Hochschulpakt, dem Pakt für Forschung und
Innovation, haben wir in den letzten Jahren die Hoch-
schulen und Forschungseinrichtungen gestärkt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Teufelspakt!)


Nicht nur mit finanziellen Mitteln, auch mit dem Wis-
senschaftsfreiheitsgesetz versuchen wir, Kooperationen

zwischen dem Bereich der außeruniversitären Forschung
und länderfinanzierten Hochschulen herbeizuführen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)


Darüber hinaus brauchen wir diese Grundgesetzände-
rung. Natürlich kann sich die Opposition hinstellen und
sagen: Wir wollen das alles nicht. Man findet immer ei-
nen Grund, warum man etwas nicht will.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Cent für Schulen in sozialen Brennpunkten!)


Aber ich sage Ihnen ganz klar: Wenn diese Sache schei-
tert, liegt das an Ihnen, und das bleibt an Ihnen kleben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das wäre aber schade. Jeder, der Wissenschaftspolitik
gerne macht, weiß, dass wir im Alltag damit beschäftigt
sind, in den Schranken der Gesetze Politik zu machen.
Wir überlegen, ob das eine oder das andere geht. Mit
dieser Verfassungsänderung haben wir jetzt die Möglich-
keit, neu zu gestalten.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn?)


Wir können uns überlegen: Was wollen wir? Wie soll
das gehen? Welche neuen Ideen kann man entwickeln?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch nicht die Wahrheit! Es sind Eliteinstitute, die Sie fördern wollen!)


Das ist doch eine wunderbare Aufgabe. Diese Aufgabe
sollten wir gemeinsam annehmen. Ich finde, dass diesbe-
züglich alle Fraktionen dieses Hauses gefordert sind und
auch etwas beizutragen haben, selbst die Linke.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist echt peinlich, was Sie hier erzählen! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir fordern das seit einem halben Jahr ein! Wo ist die Einladung der Koalition? Wo ist die Einladung der Ministerin?)


Das setzt allerdings voraus, dass man nicht aufgrund des
Wahlkampfes im Schützengraben sitzen bleibt,


(Dagmar Ziegler [SPD]: Ja! Setzen Sie sich!)


sondern ernsthaft an diesem Thema mitarbeitet.

Eine Verfassungsänderung ist ein gangbarer Weg. Sie
ist machbar und wäre ein Signal für die internationale
Community. Damit würde einmal mehr deutlich werden:
Deutschland nimmt die Herausforderungen der Zukunft
an. Es investiert in diesem Bereich und möchte auch in
Zukunft das Land der Innovationen sein.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Glauben Sie eigentlich selber, was Sie da reden?)


Deswegen brauchen wir diese Grundgesetzänderung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Michael Kretschmer


(A) (C)



(D)(B)


Diese Grundgesetzänderung braucht nicht nur eine
gestaltende, inhaltliche Kraft, sondern auch eine finan-
zielle Unterlegung. Deswegen hoffe ich, dass diejenigen,
die dieses Land nach der Grundgesetzänderung regieren,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das werden wir sein! Das ist jetzt schon der Abgesang!)


die Kraft finden, auch in Zukunft in diesem Bereich zu
investieren. Das Schlimme ist, dass es in der Zeit, in der
die SPD für das Wissenschaftsressort verantwortlich
war, ein Hin und Her, ein Hü und Hott, einen Aufwuchs
und eine Abschmelzung gegeben hat. Zu keiner Zeit ist
kontinuierlich so viel in die Wissenschaft investiert wor-
den wie unter der Regierung von Angela Merkel und der
Bundesforschungsministerin Annette Schavan.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen ist es richtig, dass wir diese Grundgesetzän-
derung vornehmen und auch in Zukunft Verantwortung
für dieses Land tragen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Mal schauen!)


Wenn ich noch einen Blick auf Nordrhein-Westfalen
werfen darf: Schauen Sie sich einmal an, wie dort derzeit
mit der Wissenschaft umgegangen wird. Um billig
Wahlkampf zu machen und eine Schlagzeile zu bekom-
men, werden die Hochschulen ihrer finanziellen
Ressourcen beraubt. Das ist das Gegenteil von seriöser
Wissenschaftspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717803000

Vielen Dank, Kollege Kretschmer. – Nächste Redne-

rin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unsere Kollegin Dagmar Ziegler. Bitte
schön, Frau Kollegin Dagmar Ziegler.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1717803100

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine

sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! 7,5 Millionen
funktionale Analphabeten, Menschen, die nur einzelne
Wörter und Sätze lesen und schreiben können, leben in
Deutschland. Sie leben in ständiger Sorge, erkannt zu
werden, und haben miserable Chancen auf Teilhabe und
ein selbstbestimmtes Leben. Dazu kommen 1,5 Millio-
nen junge Menschen ohne Berufsabschluss. Schließlich
brechen jedes Jahr 60 000 Jungen und Mädchen die
Schule ohne Abschluss ab. Diesen jungen Menschen mu-
ten wir ein Schulsystem zu, das sie nicht bis zum Ende
mitnimmt. Herr Kretschmer, diese Menschen leben in
ganz Deutschland und nicht nur in Nordrhein-Westfalen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Zahlen sind sehr erschreckend. Sie belegen,
dass in der sogenannten Bildungsrepublik Deutschland

ordentlich was faul ist. Eine zentrale Ursache für all
diese Defizite


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ist die SPD!)


ist das Kooperationsverbot. Es macht es dem Bund un-
möglich, den Ländern ausgerechnet auf dem wichtigen
Feld der Bildung finanziell unter die Arme zu greifen.
Das hat zu einer geradezu aberwitzigen Situation ge-
führt: Der Bund hat Geld und keine Kompetenzen, wäh-
rend die Länder die Kompetenzen, aber nicht ausrei-
chend Geld haben. Ein leistungsfähiges Bildungssystem
kann so einfach nicht funktionieren.

Das Kooperationsverbot muss weg. Deshalb hat
meine Fraktion bereits im Mai letzten Jahres – da war
kein Wahlkampf – und Anfang dieses Jahres einen Vor-
schlag für eine Verfassungsänderung eingebracht. Bund
und Länder könnten, wenn dieser Vorschlag umgesetzt
wird, ihre Kräfte wieder bündeln, um gemeinsam für
bessere Bildung zu sorgen, und zwar in allen Bildungs-
bereichen: bei der Grundbildung, in Schulen und in
Hochschulen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ja, Bildung ist der Schlüssel für Teilhabe, für exis-
tenzsichernde Erwerbstätigkeit, für Integration und für
Armutsvermeidung – kurz: für ein erfülltes und eigen-
ständiges Leben. Wie sehr der Schuh drückt, zeigt eine
Vielzahl von Initiativen aus Bundesrat und Bundestag.
Uns alle eint die Überzeugung, dass das Kooperations-
verbot ein Fehler war, den wir jetzt gemeinsam beheben
müssen. Diese Einsicht und diese Bereitschaft zur Ver-
änderung in allen Parteien und Fraktionen sind eine
große Chance.

In dieser Situation legt auch Bildungsministerin
Schavan einen Vorschlag für eine Grundgesetzänderung
vor. In der vergangenen Woche ist den Fraktionen ein
Referentenentwurf zugeschickt worden. Aber Ihr
Vorschlag, sehr geehrte Frau Ministerin, greift nicht nur
viel zu kurz, sondern stellt auch – das hat uns Herr
Kretschmer gerade sehr deutlich gezeigt – ein vergiftetes
Angebot dar.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE] – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Vollkommen überzogen! Entschuldigen Sie sich mal! Wir wollen weiterkommen und nicht zurückfahren!)


– Tut mir leid, das sagen zu müssen. – Sie wollen mit Ih-
rem Vorschlag lediglich erreichen, dass der Bund dauer-
haft Einrichtungen und Vorhaben der Wissenschaft und
Forschung an Hochschulen finanzieren kann. Einige
wenige ausgewählte Universitäten mögen davon profi-
tieren. Aber schon wenn es darum geht, für die Hundert-
tausenden von zusätzlichen Studierwilligen mehr Studi-
enplätze zu schaffen, würden wir weiterhin an
verfassungsrechtliche Grenzen stoßen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)


Mit Ihrem Vorschlag bleibt es bei einem „Koopera-
tionsverbot light“, das durch einige kosmetische Ände-
rungen etwas hübscher daherkommt. Die Probleme im
Bildungsbereich werden durch Ihren Vorschlag jedoch
nicht gelöst. Eine Zusammenarbeit von Bund und Län-
dern, um unsere Schulen auszubauen, mit mehr Personal
zu versorgen und Inklusion zu verwirklichen, ist mit Ih-
rer Lösung nicht möglich. Eine gemeinsame Aktion von
Bund, Ländern und Kommunen, um die 7,5 Millionen
Analphabeten aus ihrer Ecke zu holen, sie zu schulen
und voll in die Gesellschaft zu integrieren, ist mit diesem
Vorschlag auch nicht möglich.

In Ihrem Entwurf heißt es, dass die Hochschulen für
Deutschland als wissensbasierter Gesellschaft eine
Schlüsselfunktion haben. Das ist richtig. Hochschulen
haben unbestreitbar eine wichtige Funktion. Eine
Schlüsselfunktion, um einem Kind Bildungschancen zu
vermitteln und es zu einem selbstbestimmten und erfüll-
ten Leben zu befähigen, haben sie jedoch nicht; denn
wer es bis zur Hochschule geschafft hat, gehört bereits
zu den Gewinnern in unserem Bildungssystem.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


Die Weichen werden viel früher gestellt: in Kitas und
Schulen. Kein Kind verloren geben, das ist zu Recht das
Ziel der nordrhein-westfälischen Landesregierung unter
Hannelore Kraft, und dafür wird sie am Sonntag wieder-
gewählt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Ih-
nen und uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten:


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja! Wir stellen Geld zur Verfügung und NRW nicht!)


Herkunft darf kein Schicksal sein; das ist das Leitbild un-
serer Politik. Ali aus Berlin-Neukölln soll die gleichen
Chancen haben, Akademiker zu werden, wie Maximiliane
aus München-Grünwald.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Und was ist mit Max aus Sachsen?)


Deshalb lehnen wir unter anderem das Betreuungsgeld
ab.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Oh! Debattieren wir heute das Betreuungsgeld?)


Deshalb werden wir uns mit Ihnen auch nicht auf ein
„Kooperationsverbot light“ einigen können. Das Koope-
rationsverbot ist grundfalsch. Deutschland kommt nur
voran, wenn wir das Kooperationsverbot ganz abschaf-
fen. Dabei geht es nicht darum, die Kulturhoheit der
Länder auszuhebeln. Die Lösung der Probleme vor Ort
ist richtig. Der Bund muss das aber finanziell unterstüt-
zen können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer jetzt das
Grundgesetz öffnet, um kleine kosmetische Operationen
am Kooperationsverbot vorzunehmen, wird erleben,
dass sich die Tür für eine wirkungsvolle Beseitigung des
Kooperationsverbots für Jahre, wenn nicht gar Jahr-
zehnte schließt.

Aber ich will auch etwas Positives zu Ihrem Vor-
schlag sagen. Indem Sie überhaupt etwas vorlegen,
bekunden Sie Ihre grundsätzliche Bereitschaft, Verände-
rungen vorzunehmen. Damit sind jetzt alle Positionen
ausgetauscht. Wir wissen voneinander, wo wir stehen.
Wir müssen jetzt gemeinsam ausloten, ob wir einen Weg
für eine bessere Bildungsfinanzierung finden. Eltern,
Schülerinnen und Schüler und Studierende jedenfalls er-
warten das von uns. Sie haben die Nase voll vom Zu-
ständigkeitsgerangel; damit sollten wir aufhören. Sie
wollen stattdessen einen guten Kitaplatz, eine personell
gut ausgestattete Ganztagsschule und Zugang zu einem
Studienplatz ihrer Wahl. Das alles geht nur ohne Koope-
rationsverbot. Lassen Sie uns gemeinsam die Kraft fin-
den, es aus dem Grundgesetz zu streichen. Geben Sie
sich einen Ruck!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wenn der Beck zurücktritt, geht das einfacher!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717803200

Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Ziegler. –

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der FDP unser Kollege Heiner Kamp. Bitte schön,
Kollege Kamp.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1717803300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst
ganz herzlich Frau Ministerin Löhrmann begrüßen. Be-
grüßen möchte ich Sie auf Ihrer Abschiedstournee.
Schön, dass Sie bei uns in Berlin vorbeischauen!


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben noch wenige Auftritte wie hier im Bundestag,
und dann war es das mit dem Regieren.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warten Sie mal ab! Das entscheiden doch nicht Sie! Entscheiden werden darüber immer noch die Wähler!)


Es ist sehr sympathisch, dass die Grünen ihrer eigenen
Ministerin den Abgang so versüßen. Aber das ist leider
alles nur Show. Um Inhalte dreht sich diese Veranstal-
tung leider nicht, Frau Löhrmann.


(Ulla Burchardt [SPD]: Wo leben Sie denn, Herr Kollege? – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Frau Schavan schämt sich nicht nur heimlich für Sie!)


Hinsichtlich der Rahmensetzung hätten sich die Grü-
nen für ihre scheidende Ministerin aber ruhig ein wenig
stärker ins Zeug legen können. Die inhaltliche Begleit-
musik, die Sie für Frau Löhrmanns Abschied aufgelegt





Heiner Kamp


(A) (C)



(D)(B)


haben, erweist sich als ähnlich unausgereift und wie im-
mer wenig inspiriert wie die Amtszeit derselbigen. Wir
kennen die Backmischung. Die Zutaten sind die gleichen
wie immer: Gemäkel, Gejammer und Schuldzuweisun-
gen, garniert mit einigen unkonkreten Forderungen.
Aber: Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei Ihrem
Antrag um bloße Staffage. Bloß keine konkreten Forde-
rungen, bloß keine originellen Ideen!


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Allein das Thema Kooperationsverbot soll die Minis-
terin in ein vorteilhaftes Licht rücken. Doch reicht das?
Sicher, Frau Löhrmann hat sich bei denjenigen einge-
reiht, die in den letzten Monaten die fehlenden Möglich-
keiten der Zusammenarbeit von Bund und Ländern kriti-
siert haben.


(Ulla Burchardt [SPD]: Reden Sie von Ihrer Regierung?)


Aber war sie vorne mit dabei? Hat sie diese Bewegung
als Speerspitze angeführt? Wo war denn die Bundesrats-
initiative aus Nordrhein-Westfalen? Wo blieben die
konstruktiven Forderungen? Schleswig-Holstein und
Hamburg haben den Stein doch ins Rollen gebracht. Nun
versuchen die Grünen, abzustauben.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir waren immer dagegen! Wovon reden Sie eigentlich?)


Speerspitze? Niemals.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben immer dagegen gekämpft! Wir haben den Quatsch im Gegensatz zu anderen nicht mitgemacht! – Ulla Burchardt [SPD]: Wir reden hier über Bildung!)


Sie waren eher die Nachhut.

Doch offenbar kommt diese Zurückhaltung nicht von
ungefähr. Man will den Eindruck vom Frieden im grü-
nen Biotop nicht gefährden.


(Lachen des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Doch das wird leider zunehmend schwieriger. Da rennt
der kauzige Ministerpräsident Kretschmann aus Baden-
Württemberg in der Weltgeschichte umher und brüstet
sich ernsthaft damit, dass er die gewünschte Zusammen-
arbeit von Bund und Ländern – jetzt gut zuhören! –
blockieren will. Er will sie blockieren, Frau Löhrmann.
Er ist ein echter Fundamentalist, um es mit den Worten
der Abgeordneten Sager auszudrücken.

Sehr geehrte Frau Löhrmann, wie wollen Sie denn die
unsinnigen Schranken im Bildungsbereich einreißen,
wenn Sie noch nicht einmal Ihre eigenen Leute hinter
sich vereinen können?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Frau Löhrmann, wie wollen Sie eine Mehrheit für eine
weitergehende Verfassungsreform auf den Weg bringen,
wenn Ihr eigener Ministerpräsident den Minimalkonsens
durch seine Haltung sprengt?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wie halten Sie es mit den Fundamentalisten im eigenen
Lager?

Verstehen Sie mich nicht falsch. Die FDP ist hier kei-
neswegs gleichförmig. Hinsichtlich der Verfassungsre-
form gibt es durchaus unterschiedliche Haltungen. Das
hat mir, der ich mich schon seit Jahren für eine weiterge-
hende Öffnung ausspreche, schon einigen Kummer be-
reitet. Ja, ich streite für die Ausweitung auf den Schulbe-
reich. Ja, ich setze mich für mehr Pragmatismus bei der
Bildungsfinanzierung ein. Ja, ich weiß aber auch, dass
man Kompromisse schließen muss. Manchmal ist der
Spatz in der Hand eben besser als die Taube auf dem
Dach. Ich bin glücklich, dass eine Einigung in Sicht ist,
die eine verbesserte Zusammenarbeit im Hochschulbe-
reich vorsieht. Hier sehe ich mich, offensichtlich ganz
im Unterschied zu den Grünen, eins mit den Sprechern
und Zuständigen meiner Partei auf Landesebene.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch tief gespalten! Sie streiten sich doch seit Jahren über diese Frage!)


Womit hat der grüne Ministerpräsident nun ein Pro-
blem? Es geht darum, Hochschulen und außeruniversitä-
ren Forschungseinrichtungen die Zusammenarbeit zu er-
leichtern und eine nachhaltige Unterstützung durch den
Bund zu ermöglichen. Das ist Herrn Kretschmann zu
viel. Dabei haben wir es im Wissenschaftsbereich mit
Herausforderungen zu tun, die aufgrund der internatio-
nalen Dimension einen gesamtstaatlichen Charakter ha-
ben. Hier sind nicht nur die Länder, sondern hier ist auch
der Bund als Akteur gefragt.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717803400

Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen, Herr Kollege?


Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1717803500

Bitte.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717803600

Bitte schön, Herr Kollege.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717803700

Wir haben hier festgehalten, dass das Kooperations-

verbot Unsinn ist. Wir haben als Grüne auch immer da-
gegen gekämpft und diesen Quatsch von Anfang an
nicht mitgemacht. Ich frage Sie: Wer hat das denn be-
schlossen? Wer hat denn damals daran mitgewirkt, die-
ses Kooperationsverbot einzuführen?

Ich frage Sie auch: Wie ist jetzt eigentlich die Haltung
der FDP? In der Bundestagsfraktion sind Sie knapp für
die Aufhebung des Verbots, auf dem Parteitag waren Sie
knapp dagegen. Was ist jetzt eigentlich die Haltung der
FDP, die diesen Quatsch mit beschlossen hat?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Mal so, mal so! Wie es gerade passt!)







(A) (C)



(D)(B)



Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1717803800

Lieber Kollege Gehring, wenn Sie genau zugehört

hätten – ich habe es eben gesagt –, dann wüssten Sie:
Wir sind in dieser Frage durchaus gespalten. Das gebe
ich gerne zu.


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Die Fraktion hat einen Beschluss dazu gefasst, die Partei
sieht das anders. Die Vertreter auf Länderseite heißen
diesen Referentenentwurf aber willkommen. Das ist ein
Kompromiss, der die ersten Türen geöffnet hat.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kompromiss mit wem?)


Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben: Die Födera-
lismusreform 2006 haben wir nicht mitgetragen. Das
war ein Beschluss der Großen Koalition. Wir haben das
damals schon debattiert. Herr Steinmeier hat nun gesagt:
Asche auf mein Haupt. – Von daher sollten wir uns über
diesen Kompromiss freuen und daran arbeiten, dies aus-
zubauen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kompromiss mit wem? – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht sollten Sie sich mal mehr mit sich selber beschäftigen als mit Herrn Kretschmann!)


Blockadehaltungen helfen hier überhaupt nicht weiter.
Herr Beck sieht das im Übrigen wie Herr Kretschmann.
Räumen Sie also erst einmal in Ihren eigenen Parteien
auf, und sorgen Sie dafür, dass Sie Mehrheiten bekom-
men. Dann sehen wir weiter.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Rechtlich erzwungene „Umgehungsstraßen“, wie wir
sie etwa im Zusammenhang mit der Rettung der Univer-
sitätsmedizin in Lübeck nehmen mussten, müssen wir
schließen. Das große Potenzial im Wissenschaftsbereich
müssen wir maximieren. Die derzeit noch viel zu hohen
Transaktionskosten müssen wir minimieren. Dieses Ziel
verfolgen wir mit dem nun vorliegenden Referentenent-
wurf zur Änderung von Art. 91 b Grundgesetz.

Das Engagement des Bundes im Hochschulbereich ist
derzeit noch beschränkt. Von der verfassungsrechtlich
erlaubten Förderung gemeinschaftlicher Projekte wird
rege Gebrauch gemacht. Die Exzellenzinitiative, der
Hochschulpakt und der Qualitätspakt Lehre sind einer-
seits Beispiele dafür, wie Bund und Länder erfolgreich
zum guten Gedeihen von Forschung und Wissenschaft
zusammenwirken können. Die inhärente Befristung sol-
cher Maßnahmen aufgrund ihres Projektcharakters stellt
uns jedoch auch vor Herausforderungen und Probleme.
Eine sich fortwährend entwickelnde Wissenschaftsland-
schaft braucht langfristige Perspektiven. Da sind fünf-
jährige Projektzyklen mitunter hinderlich.

Mit der von uns vorgeschlagenen Änderung des
Grundgesetzes werden wir mehr Möglichkeiten zur Ko-

operation haben als vor der missglückten Föderalismus-
reform 2006. Forschung und Lehre werden von dieser
Änderung profitieren. Der Bildungs- und Wissenschafts-
standort Deutschland wird mit unserer Initiative ge-
stärkt. Wir stellen ihn auf ein langfristig angelegtes, fes-
tes Fundament. Spitzenforschung und Spitzenlehre nicht
befristet, sondern dauerhaft gemeinsam fördern, das er-
reichen wir mit der Änderung von Art. 91 b Grundge-
setz.

Unsere Verfassungsinitiative ist pragmatisch, ziel-
orientiert und ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Politik ist stets die Kunst des Möglichen. Für die in Rede
stehende Verfassungsreform zugunsten der Wissenschaft
sehen wir eine klare Mehrheit. Lassen wir Räson walten!
Sorgen wir dafür, dass Fundamentalisten in Deutschland
nichts zu sagen haben, und ziehen wir endlich gemein-
sam an einem Strang!


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An einem Strick, wollten Sie sagen! Frau Homburger sagt: Die FDP zieht an einem Strick!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717803900

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist für

die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Rosemarie
Hein. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Hein.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717804000

Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Damen und

Herren! Herr Kamp, nach Ihrer Rede kann ich nur fest-
stellen: Die FDP hat zu diesem wichtigen Thema offen-
sichtlich nichts beizutragen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber zwei Meinungen! – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Und Sie nur Schlechtes!)


Ich will meine Rede mit einem Zitat von einem Ihnen
sicherlich gut bekannten Vertreter der Öffentlichkeit be-
ginnen, der nicht verdächtig ist, der Linken nach dem
Mund zu reden:

Das bisher bestehende Finanzierungsverbot für den
Bund … wird damit zur Bildungsbremse.

Das schreibt Dr. Gerd Landsberg in der jüngsten Aus-
gabe des Magazins des Städte- und Gemeindebundes.

Dass die fehlende Zusammenarbeit zwischen Bund
und Ländern der Bildung in der Bundesrepublik
Deutschland insgesamt schadet, pfeifen inzwischen die
Spatzen von den Dächern. Fast alle haben es begriffen,
nur die Bundesregierung und die FDP offensichtlich
nicht.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)


Die Bundesregierung legt unverdrossen einen Gesetzent-
wurf vor, der offensichtlich das Papier nicht wert ist, auf
dem er gedruckt ist. Er ist auch kein Spatz in der Hand.
Vielmehr wird mit diesem Gesetzentwurf die falsche
Prioritätensetzung in der Bundesbildungspolitik fortge-
setzt und nicht korrigiert.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Wir setzen andere Schwerpunkte. Ich will versuchen,
das an einem Beispiel deutlich zu machen. Bei einem
Besuch im Verein Rückenwind e. V. in meinem Wahl-
kreis in Schönebeck habe ich auf dem Flur Werbetafeln
für ein Angebot zum Nachholen von Schulabschlüssen
entdeckt. Der Verein beteiligt sich am Programm
„Zweite Chance“. Auf den Werbetafeln werden Schul-
karrieren beschrieben. Eine junge Frau – nennen wir sie
Silke – hat über dieses Programm ihren Realschulab-
schluss gemacht und erfolgreich eine Lehre aufgenom-
men. An der Regelschule war sie gescheitert, sonderpä-
dagogischer Förderbedarf wurde ihr attestiert, und an der
Förderschule hat sie noch nicht einmal den Hauptschul-
abschluss erreichen können. Mit dem Programm
„Zweite Chance“ hat sie nun sogar den Realschulab-
schluss machen können und eine Lehre angefangen. Die-
ses ESF-Programm wird über das Bundesfamilienminis-
terium bundesweit angeboten.

Alles in Ordnung, meinen dann vielleicht genügsame
Geister aus der Koalition, in unserer Gesellschaft habe
doch jeder und jede eine Chance. Aber ich frage Sie:
Warum muss denn erst – Silke ist kein Einzelfall – eine
Schulkarriere erfolglos sein? War dieser Umweg not-
wendig? Warum konnte Silke nicht im bestehenden
Schulsystem so gefördert werden, dass sie einen entspre-
chenden Abschluss machen konnte, zu dem sie ja offen-
sichtlich in der Lage ist? Warum kann das Geld nicht di-
rekt dorthin gegeben werden, um individuell stärker zu
fördern?


(Beifall bei der LINKEN)


Warum läuft das über das Bundesfamilienministerium
oder das Bundessozialministerium? Hat denn das Bun-
desbildungsministerium diese Aufgabe nicht mehr? Hat
es sie abgegeben? Es scheint so zu sein. Vielleicht ist das
eine Erklärung dafür, dass Frau Schavan heute in der De-
batte so spät spricht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es gibt eine ganze Reihe weiterer Fragen. Warum feh-
len mehr als 50 000 voll und gut ausgebildete Erziehe-
rinnen und Erzieher für die frühkindliche Erziehung?
Warum können gut ausgestattete Ganztagsschulen nicht
flächendeckend angeboten werden? Warum kann nicht
jede Schule mit Personal für die Schulsozialarbeit ver-
sorgt werden? Warum kommen wir bei der Inklusion so
schlecht voran? Da müssen die Bayern einmal nach Bay-
ern schauen.


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Warum haben wir prekäre Beschäftigung in der Weiter-
bildung? Warum ist die Ausbildung der Lehrerinnen und

Lehrer zu einem fast undurchdringbaren Dschungel ge-
worden? Warum können Kommunen die Schulen, für die
sie zuständig sind, nicht mehr angemessen sanieren und
für die neuen Aufgaben moderner und angemessener
Bildung ordentlich ausstatten? Ich könnte diese Fragen
fast unbegrenzt fortsetzen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Reden Sie lieber zum Thema!)


Die Antwort ist so einfach wie fatal: Einige Bundeslän-
der und die Bundesregierung blockieren die Möglichkeit
einer gemeinsamen Bildungsfinanzierung von Bund,
Ländern und Kommunen. Es müssen hilfsweise über an-
dere Ministerien Reparaturprogramme erfunden werden,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Weil der Bund die Sparkasse der Länder ist!)


um wenigstens den schlimmsten Unfug notdürftig und
dann auch noch mit mäßigem Erfolg zu heilen; denn
Silke ist bekanntlich kein Einzelfall, und wir erreichen
nicht alle über diesen Weg.

Inzwischen fordert eine Mehrheit der Bevölkerung
eine größere Zuständigkeit des Bundes in der Bildung.
Da sollten Sie auch einmal hinhören. Sie wollen auch,
dass auf Bundesebene deutlich mehr Geld in die Finan-
zierung der Bildung fließt. Sie wollen, dass die Rahmen-
bedingungen für den Bildungszugang überall vergleich-
bar und gleich gut sind. Das ist ein deutliches Zeichen
dafür, dass sie das bürokratische Chaos ebenso wenig
weiter dulden wollen wie die dauerhafte Unterfinanzie-
rung in der Bildung. Das finden wir auch.

Bildungshürden müssen bundesweit abgebaut wer-
den. Bildung muss insgesamt besser werden. Erreichte
Abschlüsse müssen bundesweit anerkannt werden, und
zwar ohne Wenn und Aber, egal in welchem Bundesland
sie erreicht worden sind. Das ist heute nicht der Fall.


(Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn [CDU/ CSU]: Auf den Inhalt kommt es an!)


– Wir haben Bildungsstandards; das wissen Sie. – Da-
raus ergeben sich die Sorgen vieler Familien, wenn sie
umziehen müssen und für die Kinder ein Schulwechsel
ansteht.

Eine echte Kooperation zwischen Bund, Ländern und
Kommunen in der Bildung nähme den Ländern nichts
von ihrer Gestaltungshoheit. Man müsste nur auf einige
beckmesserische Vorgaben verzichten und unterschiedli-
che Bildungswege und Abschlüsse ohne Wenn und Aber
anerkennen. Man müsste sich nur dazu bekennen, dass
Bildung eine echte Gemeinschaftsaufgabe ist, die eine
inhaltliche und finanzielle Zusammenarbeit von Bund,
Ländern und Kommunen in Bildungsangelegenheiten er-
fordert. Dann könnten die Mittel dieser Programme auch
anders eingesetzt werden. Das haben Sie zum Bildungs-
und Teilhabepaket selbst schon eingestanden.

Ich bin mir nicht sicher, ob ein solcher Konvent hilft.
Ich glaube, wir brauchen dauerhaft eine andere Beglei-
tung dieser Zusammenarbeit, vielleicht über einen neu
anzustrebenden Bundesbildungsrat, der dann auch die





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)


unterschiedlichen gesellschaftlichen Partner mit ins Boot
nimmt.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717804100

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Hein. – Nächster

Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Florian Hahn. Bitte schön,
Kollege Florian Hahn.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1717804200

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen

und Kollegen! Das Für und Wider des Kooperationsver-
bots wurde bei zahlreichen Gelegenheiten in diesem
Haus beraten. Da eine Änderung des Verbots unsere Ver-
fassung berührt, bedarf das Thema einer differenzierten
Betrachtung. Dabei muss man aus meiner Sicht die Be-
reiche Bildung und Wissenschaft getrennt bewerten.

Wir sind uns alle einig, dass wir die Ergänzung des
Art. 91 b Grundgesetz benötigen. Der Bund soll nicht
nur Projekte, sondern auch Forschungseinrichtungen un-
terstützen können. Bei dieser Förderung denken wir
auch nicht nur an einzelne Leuchtturmprojekte, wie es
einige Kritiker immer wieder behaupten, sondern an we-
sentlich breiter angelegte Maßnahmen.

Der Wissenschaftsrat hat seine grundlegende Stel-
lungnahme zum künftigen Wissenschaftssystem in
Deutschland für die erste Jahreshälfte 2013 angekündigt.
Ich schlage vor, die Beschlüsse nun auch abzuwarten.
Wir sind schließlich nicht nur aufgrund dieser Verfas-
sungsänderung handlungsfähig.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind denn jetzt Ihre Vorschläge?)


Im Gegenteil: Ich denke, dass viele Beispiele zeigen,
dass wir schon jetzt Anstrengungen unternehmen, um
den Forschungsorganisationen finanzielle Planungssi-
cherheit zu geben. Ich sage nur: Exzellenzinitiative. Au-
ßerdem haben wir im Rahmen des Pakts für Forschung
und Innovation beschlossen, die Haushalte der beteilig-
ten Organisationen in den Jahren 2011 bis 2015 um min-
destens 5 Prozent zu steigern.

Der Bereich Bildung bedarf einer eigenen Betrach-
tung. Der Bildungsföderalismus in Deutschland ist histo-
risch gewachsen und bildet das Fundament der Verfas-
sung unseres Landes. Dies ist auch gut so. Erstens kann
so jedes Bundesland mit seinen Eigenheiten und speziel-
len regionalen Gegebenheiten individuell handeln, und
zweitens werden so die Vielfalt und der Wettbewerb ge-
fördert. Deshalb haben wir auch vor sechs Jahren im
Rahmen der Föderalismusreform II eine umfassende Ge-
setzesänderung vorgenommen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sich gerächt und als Unsinn herausgestellt hat!)


Die Kompetenzen für den Bildungsbereich liegen nun
eindeutig bei den Ländern. Übrigens geschah dies auf
den Wunsch der Länder hin, die die Bildung als ihre
Kernkompetenz begreifen. Diese Länderkompetenz hat
sich meines Erachtens in der Praxis bewährt. Deutsch-
land braucht kreative Vielfalt im Bildungswesen. Des-
halb sollte es Wettbewerb der Länder um die beste Poli-
tik geben.

Es ist natürlich richtig, dass auch Probleme im Schul-
wesen da sind. Es kann beispielsweise nicht sein, dass
ein Schüler, der von Bremen nach Bayern wechselt, den
Leistungsanforderungen oftmals kaum gewachsen ist.
Die uneinheitlichen Standards müssen angeglichen wer-
den. Deshalb machen wir uns in Bayern schon seit Jah-
ren für das sogenannte Südabitur stark.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einheitsbrei! So ein Quatsch!)


Die KMK hat daraufhin beschlossen, dass das Abitur in
allen Bundesländern bis 2016/17 vergleichbarer werden
soll. Die sechs Vorreiterländer – neben Bayern Ham-
burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Niedersach-
sen und Schleswig-Holstein – werden, im Übrigen mit-
initiiert von der Wirtschaft, schon in zwei Jahren an den
Start gehen. Das zeigt, dass die Länder auch selbststän-
dig handeln können und jedenfalls Bayern keine Einmi-
schung seitens des Bundes benötigt.

Auch die anderen Herausforderungen können weder
durch die Entscheidungshoheit des Bundes noch durch
seine Gelder gelöst werden. Wie soll das Berliner Bun-
desministerium in der Lage sein, die Qualität der Lehre
in Tausenden Schulen in der Republik zu sichern? Dies
muss Aufgabe der Länder bleiben. Die können das. Ich
kann mir gut vorstellen, dass ein Geldsegen des Bundes
den klammen Kassen einiger rot-grün geführter Länder
recht käme. So hätte man sich dann klammheimlich ei-
nen zweiten Länderfinanzausgleich geschaffen. Ob dies
zu einer besseren Arbeit an den Schulen führen würde,
wage ich zu bezweifeln. Die Diskussion über fehlende
Gelder hat meines Erachtens sowieso keine Substanz.
Verschiedene Beispiele belegen, dass es gar keine finan-
zielle Frage sein muss, ob ein Land Erfolge im Bildungs-
wesen vorweisen kann oder nicht. So gibt beispielsweise
Sachsen-Anhalt 7 100 Euro pro Schüler aus und Sachsen
nur 6 400 Euro. Trotzdem weist Sachsen deutlich bes-
sere PISA-Ergebnisse auf. Dies zeigt die Absurdität der
Forderung nach mehr Geld. In Wahrheit ist es so, dass
die Geberländer weniger Geld für Bildung ausgeben als
die Transferempfänger und trotzdem erfolgreicher in der
Bildung sind.

Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass
ich es reichlich bizarr finde, dass wir nun über einen sol-
chen Antrag von den Grünen im Bundestag diskutieren,
obwohl jetzt schon klar ist, dass der Antrag noch nicht
einmal in den eigenen Reihen volle Unterstützung fin-
det.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh doch!)






Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


Schließlich lehnen Rote und Grüne in Baden-Württem-
berg und Rheinland-Pfalz die im Antrag erhobenen For-
derungen ab. Den Antrag der Grünen, den die Grünen
selbst in den genannten Ländern ablehnen, gilt es daher
auch hier abzulehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! – Dagmar Ziegler [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717804300

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für den Bundesrat

Herr Minister Christoph Matschie. Bitte schön,
Christoph Matschie.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717804400

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Die Debatte hat bisher sehr deutlich klarge-
macht: Weder Union noch FDP haben eine Antwort auf
die Herausforderungen des Bildungssystems im 21. Jahr-
hundert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/ CSU]: Geht es noch billiger?)


Statt auf die Argumente des Antrags einzugehen, werfen
Sie hier Nebelbomben und bezichtigen die anderen Frak-
tionen des Wahlkampfs.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ganze Antrag von Frau Schavan ist Wahlkampf!)


Das reicht nicht aus, wenn man die Probleme des Bil-
dungssystems lösen will. Am Anfang dieser Debatte
muss das klare Eingeständnis stehen: Das weitgehende
Kooperationsverbot in der Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern in der Bildung ist falsch und muss
korrigiert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Allen, die etwas von Bildung verstehen, ist heute klar:
Die Bewältigung der wachsenden Zahl der Studierenden,
der Ausbau ganztägiger Angebote an den Schulen und
ein ausreichendes Angebot an Kindergärten, das alles
braucht die dauerhafte und konstruktive Zusammen-
arbeit von Bund und Ländern. Kein Bürger versteht, dass
wir uns misstrauisch abgrenzen, statt gemeinsam die
Probleme anzupacken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bildungspolitik ist keine
Kleingartenanlage, in der jeder seins macht. In der Bil-
dungspolitik bedarf es konstruktiver Zusammenarbeit.
Dazu müssen wir endlich finden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Antrag der Grünen zeigt genau in die richtige Rich-
tung.


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Antrag, der bisher von der Union und der FDP er-
arbeitet worden ist, wird dem Anliegen und den Heraus-
forderungen überhaupt nicht gerecht. Ich will es deutlich
machen: Das Einzige, was dieser Antrag in Zukunft er-
möglicht, ist, dass der Bund die Finanzierung einzelner
Einrichtungen an Hochschulen dauerhaft übernehmen
kann. Alle anderen Bildungsbereiche wie Schulen usw.
bleiben von der Kooperation ausgeschlossen. Aber
selbst die Probleme im Hochschulsystem sind mit dieser
Minimaländerung überhaupt nicht zu lösen. Das ist doch
keine Antwort auf die Herausforderung des Systems.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Kamp, Sie haben hier so schön doziert:
Politik ist die Kunst des Möglichen. – Dazu sage ich Ih-
nen eines: Wenn bei der FDP nicht mehr möglich ist,
dann ist es mit der Kunst nicht weit her.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heiner Kamp [FDP]: Das sagt der Richtige!)


Wir brauchen nicht den Minimalkonsens einer zerstritte-
nen und erschöpften Bundesregierung,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


sondern wir brauchen das ernsthafte Gespräch zwischen
Bund und Ländern, um Lösungen herbeizuführen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Gespräch muss es im Wesentlichen um drei
Fragen gehen. Erstens. Auf welchen Feldern brauchen
wir in Zukunft die Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern? Zweitens. Wie sollen die Spielregeln dafür
aussehen? Drittens. Wie regeln wir die Finanzierung?
Wenn das klar ist, dann können wir entscheiden, wie
eine Grundgesetzänderung genau aussehen muss.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sie reden nur über die Finanzierung und nicht über Inhalte!)


– Ich kann Ihre Aufregung verstehen, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen, es würde auch mir so gehen, wenn
mir nichts Besseres einfiele als Ihnen. – Die Symbolpoli-
tik von Schwarz-Gelb hilft weder den Studierenden, die
in überfüllten Hörsälen sitzen, noch den Schülern, die
Ganztagsförderung brauchen, oder den Eltern, die hän-
deringend einen Kitaplatz suchen. Das reicht nicht aus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen noch eines sagen: Selbst dort, wo der
Bund schon ohne Grundgesetzänderung helfen könnte,
klemmt die Säge. Ich will Ihnen das an zwei Beispielen





Minister Christoph Matschie (Thüringen)



(A) (C)



(D)(B)


deutlich machen. Der Hochschulpakt 2020 ist durchaus
ein erfolgreiches Modell, das gemeinsam von Bund und
Ländern auf den Weg gebracht wurde. Wir haben es mit
diesem Pakt bisher schaffen können, die wachsenden
Studierendenzahlen aufzufangen, aber die geplanten
Finanzmittel sind 2014 ausgeschöpft. Es gibt bisher
keine klare Aussage der Bundesregierung, wie es weiter-
gehen soll. Es wird in Gesprächen angedeutet, das werde
schon geregelt, wie es auch bisher geregelt worden sei.
Ich habe mir einmal angeschaut, was eigentlich im Eck-
wertebeschluss der Bundesregierung zum Bundeshaus-
halt 2013 und zum Finanzplan 2012 bis 2016 steht. Da-
rin ist für das nächste Jahr eine Erhöhung des Haushaltes
für Bildung und Forschung vorgesehen


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Bei Ihnen auch? – Florian Hahn [CDU/CSU]: Was steht bei Ihnen drin?)


– auch in Thüringen, ja –, aber 2014 werden die Mittel
wieder reduziert. 2015 und 2016 soll der Haushalt auf
dem niedrigen Niveau bleiben.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: In Thüringen oder wo?)


Das ist auch klar. Dann ist die Bundestagswahl vorbei.
Man darf aber nicht nur in Wahlperioden denken, son-
dern wir brauchen eine stabile Finanzierung auf Dauer.
Darum muss es gehen, und dafür brauchen wir die
Grundgesetzänderung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Wie sehen die Eckwerte in Thüringen aus?)


Frau Kollegin Schavan, Sie werden noch hier reden.
Sie haben heute die Möglichkeit, für die Bundesregie-
rung klarzumachen, dass der Hochschulpakt 2020 bis
2020 ausfinanziert wird und alle benötigten Mittel dafür
bereitstehen.


(Zuruf von der FDP: Sagen Sie doch mal, was Thüringen beiträgt!)


Ich will Ihnen ein zweites Beispiel sagen: Hochschul-
bau. Dafür hat der Bund den Ländern bisher Kompensa-
tionsmittel gezahlt, und zwar knapp 700 Millionen Euro
im Jahr. Bis zum nächsten Jahr läuft diese Vereinbarung
noch. Danach will der Bund diese Mittel, die die Länder
für den Hochschulbau dringend brauchen, bis 2019 auf
null zurückfahren. So sieht keine tragfähige Hochschul-
politik aus. Gerade in der Situation, wenn die Studieren-
denzahlen weiter wachsen und die Hochschulen ausge-
baut werden müssen, wollen Sie die Mittel des Bundes
für den Hochschulausbau zurückfahren. Das ist doch ab-
surd.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bessere Bildung hat immer auch mit finanziellen Res-
sourcen zu tun. Es reicht nicht aus, die Bildungsrepublik
auszurufen, man muss sie auch finanziell ausstatten.
Hier ist einiges im Bund und in den Ländern passiert.
Aber alle Beteiligten wissen doch auch: Das reicht für
die kommenden Jahre nicht aus.

Eines ist auch klar, die Länder stecken hier in einer
Schraubzwinge: Sie können erstens ihre eigenen Einnah-
men nicht beeinflussen. Die Steuerhoheit liegt beim
Bund.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ihre Ausgaben!)


Zweitens müssen die Länder wachsende Bildungsausga-
ben bewältigen, wenn sie die Aufgaben, die vor ihnen
liegen, auch wirklich erfüllen wollen. Drittens müssen
die Länder in den nächsten Jahren die Schuldenbremse
des Grundgesetzes einhalten. Und viertens – das betrifft
die ostdeutschen Länder wie Thüringen – kommt noch
dazu, dass die Mittel aus dem Solidarpakt und die euro-
päischen Fördermittel weniger werden.

Das ist die Quadratur des Kreises; das kann nicht auf-
gehen. Wir müssen das endlich ehrlich angehen und
tragfähige Lösungen, die langfristig wirken, finden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das kann nur eine Grundgesetzänderung sein, die eine
konstruktive Zusammenarbeit in allen Bildungsberei-
chen ermöglicht und eine ehrliche Antwort auf das
Finanzierungsproblem des Bildungssystems gibt. Frau
Schavan, ich fordere Sie auf: Laden Sie die Länder zu ei-
nem Dialog darüber ein. Verhandeln Sie mit uns darüber,
wie die Grundgesetzänderung aussehen soll. Befreien
Sie sich aus dem Klammergriff der FDP. Das wird mit
denen sowieso nichts mehr.


(Lachen bei der FDP)


Suchen Sie mit den Ländern nach echten Lösungen. Die-
ses Land hat mehr verdient als den Minimalkonsens zwi-
schen Schwarz und Gelb.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heiner Kamp [FDP]: Da muss er selber lachen! – Weiterer Zuruf von der FDP: Thüringen hat mehr verdient als Sie!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717804500

Vielen Dank, Herr Minister Matschie. – Nächster

Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP Dr. Martin Neumann. – Bitte schön, Kollege
Dr. Martin Neumann.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717804600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Matschie, das war schon
abenteuerlich, was Sie hier gerade vorgetragen haben.
Sie haben alle möglichen Dinge über den Bund darge-
stellt, aber Sie haben kein einziges Wort darüber verlo-
ren, was Sie in Thüringen, was Sie in den Ländern tat-
sächlich machen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen beehren
uns nun zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode mit
einem Antrag zur Verbesserung der Zusammenarbeit in
Bund und Ländern.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717804700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717804800

Im Anschluss gern.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717804900

Okay.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717805000

Leider erschließt sich mir die Sinnhaftigkeit dieser

Übung nicht. Die Wiederholung dieses nun schon zum
dritten Mal gestellten Antrags hat noch nicht einmal zu
einer qualitativen Steigerung geführt, sondern strapaziert
eigentlich nur die Geduld des Parlaments.


(Beifall des Abg. Holger Krestel [FDP])


Wir beschäftigen uns nun zum dritten Mal innerhalb von
zwei Jahren mit Ihrem Antrag.

Zielsetzung war, das Grundgesetz zu ändern, um dem
Bund mehr Kompetenzen zuzubilligen. So weit, so gut.
Ich möchte hier niemanden mit dem Inhalt der zwei zu-
rückliegenden Anträge quälen, aber ich möchte noch
einmal auf Ihr „Meisterstück“ zurückkommen, das Sie
mit Ihrem dritten Antrag hier denken abzuliefern. Es
geht um die Änderung des Art. 91 b Grundgesetz sowie
die Erschaffung eines neuen Art. 104 Grundgesetz, um
die Kooperation im Bildungs- und Wissenschaftsbereich
zu ermöglichen. Außerdem wünschen Sie sich – Frau
Löhrmann, Sie haben es gesagt – einen Reformkonvent
für Bildung und Wissenschaft. Das war es. Das haben
wir alle schon einmal gehört; das ist nichts Neues.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wann lösen Sie das endlich ein? Sie haben das immer noch nicht gemacht!)


Spannend wird es an anderer Stelle. Was geschieht im
Bundesrat? Was machen dort Ihre eigenen Leute? Das
frage ich an der Stelle insbesondere im Hinblick auf die
Zeit nach dem kommenden Sonntag. Bekommen Sie Ih-
ren Ministerpräsidenten Kretschmann tatsächlich in den
Griff? Ist Herr Beck noch lange genug mit dabei, um Ih-
nen einen Strich durch die Rechnung zu machen?

Kollege Gehring, Sie sprachen bei einer letzten
Runde davon, dass es eine Bundesratsinitiative geben
werde. So, wie ich das bisher vernehmen kann, war das
eine leere Ankündigung.

Ich frage Sie, Frau Löhrmann, und Sie, Herr
Matschie: Wie steht es tatsächlich um Ihre eigenen
Leute? Geht die Rechnung auf, wenn Sie immer ein
Stück mehr fordern, als nach dem offensichtlich mögli-

chen Konsens zwischen Bund und Ländern in diesem
Bereich zu erwarten ist?


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt keinen Bund-Länder-Konsens! Sie müssen den erst einmal herstellen!)


Ist eine solche Strategie tatsächlich klug? Nutzen Sie un-
serem Land, oder wollen Sie nur einfach billig Schlag-
zeilen machen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen zwei
Drittel der Stimmen im Bundestag und zwei Drittel der
Stimmen im Bundesrat, um das Grundgesetz zu ändern.
Wir hören aber aus den Ländern – das ist mehrfach ge-
sagt worden –, dass man sich mit Händen und Füßen ge-
gen eine Änderung des Grundgesetzes wehren will. An
dieser Stelle frage ich: Wollen Sie tatsächlich nicht ein-
mal diesen Minimalkonsens unterstützen? Es geht an
dieser Stelle darum, die jetzt geöffnete Tür zu durch-
schreiten und eine erste Änderung, gerade im Wissen-
schaftsbereich, zu vollziehen.

Wenn ich mir die Haltung der Oppositionsfraktionen
anschaue, stelle ich fest: Nur die Linke scheint geschlos-
sen zu stehen.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Ja!)


Dagegen erscheinen die Haltungen von SPD und Grünen
sehr unterschiedlich. Das ist aus meiner Sicht Blockade-
haltung, auch gegenüber dem Minimalkonsens, den wir
hier erreichen wollen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Bitte?)


Wir wollen – das kann ich an dieser Stelle deutlich sa-
gen – die einmalige Gelegenheit nutzen, für den Wissen-
schaftsbereich ein Ende des Kooperationsverbots zu
vereinbaren. Wir sehen tatsächlich die Möglichkeit für
einen Kompromiss; aber SPD und Grüne wollen an-
scheinend nichts ändern. Sie wollen diesen aussichtsrei-
chen und meiner Ansicht nach einzig realistischen Weg
nicht mitgehen. Wenn Sie sich weiter so verhalten, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ist das nicht nur verantwor-
tungslos, sondern auch eine Versündigung an den kom-
menden Generationen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Pokern Sie nicht so hoch! Die Kompromissbereitschaft
der B-Länder ist begrenzt, und man wird im Zweifel die
Tür wieder schließen. Bis zur nächsten Gelegenheit kön-
nen wieder Jahre verstreichen. Das sollten wir nicht ris-
kieren.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717805100

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717805200

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und

Kollegen, wir müssen uns realistisch auf den kleinsten
gemeinsamen Nenner einigen; leider ist im Moment
nicht mehr drin.


(Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Doch!)






Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


Der kleinste gemeinsame Nenner ist aber wirklich schon
sehr viel. Das erkennt man gerade, wenn man sich die
Situation von vor wenigen Monaten vergegenwärtigt.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717805300

Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717805400

Ändern wir Art. 91 b Grundgesetz, um künftig zu-

mindest dem Wissenschaftsbereich eine Zusammen-
arbeit zu ermöglichen!

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Zu wenig! Einfach zu wenig!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717805500

Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege

Dr. Ernst Dieter Rossmann.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1717805600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich ergreife das

Wort deshalb, weil eben zu beobachten war, dass Kol-
lege Neumann eine harte Attacke gegen den thüringi-
schen Wissenschaftsminister geritten hat.


(Widerspruch bei der FDP)


Eine solche Attacke könnte ich verstehen, wenn sie
von der FDP-Opposition im thüringischen Landtag
käme. Was ich aber nicht mehr verstehen kann, ist, dass
die gesamte CDU/CSU dazu applaudiert und dadurch
Frau Lieberknecht – das ist die Ministerpräsidentin von
Thüringen, die ein Kabinett führt; Herr Matschie ist dort
Wissenschaftsminister – angreift.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Die hat die Rede nicht gehalten!)


Es ist eine Schizophrenie, dass Sie gegen sich selbst ap-
plaudieren. Ich verweise auf die gemeinsamen Bemü-
hungen der thüringischen Ministerpräsidentin von der
CDU und der thüringischen Wissenschaftspolitiker von
der SPD, dort Bildung und Wissenschaft voranzubrin-
gen. Diese Bemühungen betrachten Sie hier abfällig. Die
Schizophrenie Ihres eigenen Reflexverhaltens sollten Sie
einmal überprüfen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: So schlecht redet Frau Lieberknecht nicht! – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Herr Matschie hat für die SPD geredet und nicht für die Landesregierung!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717805700

Das Wort hat Dr. Martin Neumann.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717805800

Lieber Kollege Rossmann, ich habe mich hier öffent-

lich zu dem geäußert, was der Kollege Matschie hier

dargestellt hat. Der Bund hat unendlich viele Dinge ge-
tan. Mit keinem Wort ist gewürdigt worden, was gerade
von Bundesseite finanziell geleistet worden ist.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das stimmt nicht! Das ist überhaupt nicht wahr!)


Ich fand es in gewissem Sinne eine Unverschämtheit,
sich hier so darzustellen und das Ganze so zu präsentie-
ren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717805900

Wir fahren in unserer Rednerliste fort. Als nächste

Rednerin spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kol-
legin Dr. Petra Sitte. Bitte schön, Frau Dr. Sitte.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717806000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manch-

mal führt auch ein Schritt nach vorn in eine Sackgasse.
Das gilt ganz bestimmt für den neuesten Vorschlag der
Bundesregierung zur gemeinsamen Forschungsförde-
rung von Bund und Ländern. Wir reden über Forschung.
Bislang war die Bundesförderung nur bei sogenannten
Vorhaben von überregionaler Bedeutung möglich. Das
will man jetzt ausweiten, und zwar auf Einrichtungen an
Hochschulen. Das heißt, der Bund könnte bis in die
Hochschulen hinein Forschung direkt fördern. Mancher
mag sich fragen: Hm, wieso? Das klingt ja gar nicht
schlecht. Was soll denn daran in eine Sackgasse führen? –
Ich will es Ihnen gerne erklären.

Wenn sich die Bundesregierung nun schon entschlos-
sen hat, das Grundgesetz – wohlgemerkt: das Grundge-
setz – anzufassen, das heißt zu verändern, dann sollte sie
mit ihrem Vorschlag dort ansetzen, wo die Hütte am
meisten brennt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ganz besonders dramatisch ist die Situation – das ist uns
dargestellt worden – nun einmal in den Bereichen Schul-
und Hochschulbildung. Frau Minister, Ihr Ministerium
trägt den Namen „Bildung und Forschung“. Also sollte
man auch in dieser Breite denken und anfassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn sich die Koalition nun aber auf eine Grundge-
setzänderung allein für die Hochschulen konzentriert,
bedeutet das schlicht und ergreifend: Wir verlieren un-
glaublich viel Zeit, wenn es darum geht, endlich wieder
zu einem Kompromiss im Bereich Bildung zu kommen.
Das können wir uns nicht leisten.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn Sie schon die Fehler der Föderalismusreform
endlich korrigieren wollen, dann müssen Sie das Dreieck
Bildung/Wissenschaft/Forschung ausbalancieren. Das





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


kommt mit Ihrem Vorschlag aber noch weiter in Schief-
lage.


(Beifall der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Sie liefern sozusagen ein Auto mit einer neuen Elektro-
nik aus, das aber untermotorisiert ist. Das ist kein fort-
schrittlicher Vorschlag.

Ich will noch etwas zu den Herausforderungen im Be-
reich der Hochschulbildung sagen. Wir haben ständig
steigende Zahlen von Studienanfängern und Studien-
anfängerinnen. 750 000 sollen es allein bis 2020 sein.
Das freut uns alle. Bislang hat der Hochschulpakt – bei
all seinen Schwächen – durchaus gute Impulse gesetzt;
jetzt aber kommt er mit seiner Konstruktion auch an
Grenzen. Der Bund gibt nämlich Gelder, hat aber keine
Kontrolle darüber, wie viel Mittel die Länder selber da-
zulegen. Das ist problematisch. Gerade hat Frau Minister
Schavan ihre sächsischen Parteikollegen rüffeln müssen,
weil diese an den Hochschulen sparen und die Bundes-
gelder vom Hochschulpakt anderweitig ausgeben. Das
ist schon krass. Das kann man nicht tolerieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sehe unsere Aufgabe darin, zu erreichen, dass eine
leistungsfähige Wissenschaft in der gesamten Länder-
breite durch eine verbesserte Grundfinanzierung ermög-
licht wird. Wir müssen debattieren, wie unsere Wissen-
schaftslandschaft strukturiert, profiliert und finanziert
werden soll. Dazu gehören auch Qualitätskriterien, die
beispielsweise im Hochschulpakt bislang fehlen bzw.
ausgeblendet waren.

Wir brauchen ein neues, besseres Betreuungsverhält-
nis zwischen Studierenden und Lehrenden. Also muss
mehr Personal eingestellt werden. Das muss verlässlich
an den Einrichtungen tätig sein. Moderne Lehre in der
Methode und in wissenschaftlichen Inhalten, das ist die
Zukunftsaufgabe der Hochschulen. Der Pakt für exzel-
lente Lehre, den wir im Bundestag beschlossen haben,
bietet diese Breite aber nicht, sondern er wählt aus. Wir
brauchen diese Breite aber. Das, was die Koalition in der
vergangenen Woche als Personalkonzept vorgeschlagen
hat, wäre auch nur durch eine Grundgesetzänderung
möglich. Also sagen Sie mit Ihren Vorschlägen selber:
Wir brauchen eigentlich mehr. – Sie aber führen dazu an:
Das ist ein Minimalkompromiss. – Für mehr haben Sie
die Stimmen der ganzen Opposition. Also, machen Sie
ruhig mal!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun will ich natürlich nicht ignorieren – das ist auch
der Hintergrund dieses Vorschlags –, dass mit dem Ende
der Exzellenzinitiative auch im Forschungsbereich der
Handlungsdruck wächst. Wohl wahr! Viele Exzellenz-
Sieger an den Hochschulen fragen sich nämlich: Wie
führen wir denn eigentlich die Projekte weiter, die hier
finanziert worden sind? Diese Projekte sind nämlich be-
fristet gewesen, und natürlich wollen die Hochschulen

diese Projekte verstetigen. Deshalb sagen Rektoren na-
türlich: Prima Vorschlag! Damit kommen wir weiter; das
ist für uns wenigstens erst einmal ein Schritt in die rich-
tige Richtung. – Aber diese Rektoren haben morgen die
Schülerinnen und Schüler von heute an ihren Hochschu-
len. Deshalb dürfen wir nicht selektiv denken. Wir haben
eine breitere Verantwortung. Wir wollen auch keine File-
tierung der Wissenschaftslandschaft.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Änderung des Grundgesetzes darf also nicht Aus-
gangspunkt der Fortsetzung der Fehler des Wettbewerbs-
föderalismus werden. Wenn schon im Grundgesetz
„Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ steht, dann
gilt das doch auch für Vorschläge, die darauf Einfluss
haben – grundsätzlich und grundgesetzlich. Bildung und
Forschung gehören mit ihrer Leistungsfähigkeit zu die-
ser Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Deshalb
wollen wir einen kooperativen Föderalismus.

Wir wollen also an dieser Stelle kein Auseinanderdivi-
dieren von Schulbildung, Hochschulbildung, Wissenschaft
und Forschung. – Übrigens: Man kann Wissenschaft und
Forschung ohnehin nicht trennen, weil Wissenschaft
ohne Forschung keine Wissenschaft ist. Aber nun blei-
ben wir einmal bei diesem Begriffspaar. – Wir wollen,
dass das in einem Guss geklärt wird, in einem Guss ge-
ändert wird, und dafür gibt es hier offensichtlich sehr
viel Unterstützung.

Deshalb kann man den Art. 91 b Grundgesetz, wie es
Herr Löwer als Staatsrechtler vorgeschlagen hat, so än-
dern, dass man den Ländern und dem Bund erlaubt, For-
schung und Lehre zu fördern. Dann hat man Forschungs-
und Bildungsfragen gleichermaßen erfasst. Das ist dann
Politik aus einem Guss.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717806100

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Sitte. – Nächste Red-

nerin ist für die Bundesregierung Frau Bundesministerin
Dr. Annette Schavan. Bitte schön, Frau Bundesministe-
rin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der rote Faden in der bisheri-
gen Debatte war: Nie war der Bund so wertvoll wie
heute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das verstehe ich. Darüber freue ich mich auch.

Frau Hein, ich rede deshalb so spät, weil ich finde,
dass es bei solchen Debatten auch wichtig ist, einmal zu-
zuhören. Man kann nicht immer herausgehen und Wahl-
kampf machen.





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Den habe ich schon gemacht. Ich war in NRW und habe
dort alles abgeschlossen. Deshalb kann ich in Ruhe auf
den Antrag eingehen. Was steht im Antrag?

Erstens. Bei der Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern nach Art. 91 b Grundgesetz sollen künftig Ko-
operationen nicht mehr einstimmig im Kreis der Länder,
sondern mit einer Dreiviertelmehrheit möglich sein.
Hierzu sage ich: Das ist mir egal. Die Länder sollen prü-
fen, ob tatsächlich 16 Länder einer solchen Regelung je-
mals zustimmen würden. Mein Eindruck bis heute:
Diese findet im Kreis der Länder keine Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Es wird eine Erweiterung der Zusammen-
arbeit im Bildungsbereich über die jetzige Formulierung
„Sicherstellung der Leistungsfähigkeit“ vorgeschlagen.
Ich sage ausdrücklich: Auch ich bin der Meinung, dass
es in Zukunft notwendig werden wird, über die reine Si-
cherstellung hinaus Kooperationen zu ermöglichen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Auf der Grundlage von Gesprächen, die ich mit Vertre-
tern der Länder geführt habe, sage ich: Im Kreis der Län-
der gibt es auch über diesen Punkt keinen Konsens.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wie ist das bei Ihnen in der Bundesregierung?)


– Darauf komme ich gleich.

Drittens. Der Entwurf des Art. 104 c GG ist aus Sicht
der Länder der einfachste Weg. Ein Landespolitiker hat
mir vor einigen Wochen gesagt: Schiebt Geld rüber, und
haltet euch im Übrigen heraus. – Das ist nicht mein Ver-
ständnis von Kooperation.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt – das hat Herr Matschie angesprochen – disku-
tieren wir über die Frage der Fortsetzung der Zweckbin-
dung beim Hochschulbau nach 2013.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: 670 Millionen!)


– Genau, 670 Millionen. – Der Bund setzt sich dafür ein,
dass es bei einer Zweckbindung bleibt.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Die Kanzleichefs der Länder lehnen dies bislang ab.
Deshalb eine herzliche Bitte an die Länder: Sprechen Sie
mit Ihren Kanzleichefs. Das betrifft nicht die Fachminis-
ter. Von den Fachministern weiß ich, dass sie das wollen.
Der Bund muss aber mit anderen Stellen in den Ländern
verhandeln. Diese Stellen sagen: Die Zweckbindung
beim Hochschulbau, die ihr wollt – das ist für die Länder
zentral wichtig –, wollen wir nicht. Also: Wenn Sie Ihre
Meinung ändern, können wir in diesem Punkt sofort zu
Streich kommen.

Schließlich der Reformkonvent. Die CDU hat auf ih-
rem Bundesparteitag im vergangenen Jahr die Einrich-
tung eines Bildungsrates analog zum Wissenschaftsrat
beschlossen. Dies heißt: Dort sitzen nicht nur Experten,
die uns irgendetwas vorschlagen, sondern – das ist das Be-
sondere und das Erfolgsrezept des Wissenschaftsrates –
Experten und Vertreter der Politik aus Bund und Ländern
sitzen beieinander. Deshalb haben die Stellungnahmen
des Wissenschaftsrates wesentlich zur Dynamik unseres
Wissenschaftssystems beigetragen. Deshalb sind diese
Stellungnahmen aufgegriffen worden bei gemeinsamen
Initiativen zwischen Bund und Ländern. Eine erste Re-
aktion aus den Ländern war: Das wollen wir nicht. Das
brauchen wir nicht. Wir können das alleine. Wir brau-
chen uns mit euch nicht abzustimmen. – Ich sage jetzt
einmal: Ob das Gremium Reformkonvent oder Bil-
dungsrat genannt wird, das ist mir egal. Entscheidend ist
doch, dass wir jetzt das tun, was wir tun können. Wir alle
sind uns einig, dass wir im Zusammenhang mit der
Frage, was darüber hinaus wichtig sein kann, ein Proze-
dere zwischen Bund und Ländern vereinbaren, um in ab-
sehbarer Zeit weitere Weichen stellen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist der Vorschlag der Bundesregierung.

Bei dem Beschluss des Koalitionsausschusses, der im
Mai im Kabinett verabschiedet werden soll, handelt es
sich weder um eine Minimallösung noch um einen
Spatz. Was durch diesen Beschluss möglich wird, hat es
in über 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland noch
nicht gegeben. Das meine ich nicht nur im Hinblick auf
die Situation vor der Föderalismusreform; das wissen
Sie. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
im Wissenschaftsbereich war immer nur auf befristete
Projekte konzentriert und betraf nie die Möglichkeit
einer dauerhaften Zusammenarbeit innerhalb der Hoch-
schulen.

Ich sage Ihnen: Die Exzellenzinitiative ist für die
Hochschulen natürlich ein wichtiges Argument. In mei-
nen Augen muss es hier jedoch weit über die Exzellenz-
initiative hinausgehen. Es geht um die Frage, wie das
Herzstück des Wissenschaftssystems – und das sind die
Hochschulen – dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben
kann. Das betrifft nicht nur einige wenige Hochschulen,
sondern das betrifft die Hochschulen insgesamt. Es geht
außerdem um die Frage, wie es Bund und Ländern gelin-
gen kann, gemeinsam die Internationalisierung des Wis-
senschaftssystems voranzubringen.


(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Herr Matschie, Sie haben mich aufgefordert, zu sa-
gen, dass das bis 2020 möglich sein soll. Damit habe ich
überhaupt kein Problem; das habe ich im Kreis der
Minister schon einmal gesagt, und man kann es auch
hier zu Protokoll nehmen. Bund und Länder haben im
Jahr 2006 einen Hochschulpakt bis zum Jahr 2020 ver-
einbart, zu verhandeln in drei Tranchen. Das war ziem-
lich klug; denn wir sehen, dass sich die Zahlen völlig an-
ders entwickelt haben, als wir ursprünglich dachten. Für
die erste Tranche hatten wir 90 000 Studienplätze ver-





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)


einbart; es sind 180 000 geworden. Der Bund hat die
180 000 Plätze finanziert. Für die zweite Tranche wur-
den 275 000 Plätze vereinbart. Dann haben wir mit Blick
auf die Aussetzung der Wehrpflicht diese Zahl auf, so
glaube ich, etwa 330 000 erhöht. Über die dritte Tranche
wird noch zu verhandeln sein. Wir haben jetzt die Zahlen
bis 2015 vorliegen.

Interessant ist aber Folgendes: Im Haushalt des Bun-
des ist die jeweilige Kofinanzierung auf Euro und Cent
festgelegt. Im Bildungsfinanzbericht, der die Ausgaben
aller Länder enthält, können Sie unschwer erkennen,
dass es Länder gibt, die im Jahr 2011 weniger für ihre
Hochschulen ausgeben als im Jahre 2010. Deshalb soll
mich kein Land ermahnen, Geld zu besorgen. Vielmehr
erwarte ich, dass die Kofinanzierung seitens der Länder
geleistet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Herr Matschie, da werden Sie rot, oder?)


Mir geht es an dieser Stelle gar nicht darum, Länder
vorzuführen. Ich kenne die Struktur eines Landeshaus-
haltes. Ich kenne die Dramatik hinsichtlich der Haus-
halte in Ostdeutschland. Ich weiß, was es für die neuen
Länder bedeutet, in den nächsten Jahren weiterhin die
Priorität auf Bildung und Wissenschaft zu setzen und
gleichzeitig den notwendigen Prozess zu unterstützen.

Uns allen liegt dieses Thema am Herzen. Ich will jetzt
gar nicht die Länder abkanzeln. Aber ich sage: Auch der
Bund hat eine Schuldenbremse einzuhalten. Deshalb
wird es nicht funktionieren, dass die Länder immer wie-
der zum Bund kommen und mehr Geld fordern. Wenn
die Länder die Kofinanzierung nicht nur nicht leisten,
sondern sogar noch weniger Geld ausgeben – das trifft
auf mehrere Länder in ganz unterschiedlichen Teilen
Deutschlands zu –, dann führt das dazu, dass die Situa-
tion der Hochschulen immer schwieriger wird, weil wir
von ihnen verlangen, mehr Studierende aufzunehmen.
Gleichzeitig werden aber die Finanzleistungen des Bun-
des von den Ländern nicht für den Aufbau von Studien-
plätzen genutzt, sondern es werden damit nur Löcher ge-
stopft, die die Länder aufgerissen haben.

Ich glaube, dass wir in einem sehr konstruktiven
Dialog sind. Die Gelder werden bis 2020 gezahlt. Wir
werden seitens des Bundes alles tun, um die Dynamik
aufzugreifen. Wir sagen also nicht, hier sei Schluss, son-
dern wir wollen gute Zukunftschancen für junge Leute.
Deshalb finden wir es auch gut, dass es eine solche
Dynamik gibt.

Sie werden aber auch verstehen, dass ich Entschei-
dungen eines künftigen Deutschen Bundestages nicht
vorgreifen kann. In der nächsten Legislaturperiode wird
dieses Parlament darüber entscheiden, ob die Priorität,
die wir seit 2005 durchhalten – plus 6 Milliarden Euro,
plus 12 Milliarden Euro –, durch eine weitere Steigerung
untermauert werden kann. Das halte ich für wichtig, und
ich werde mich dafür einsetzen. Man kann von einem
Mitglied der Bundesregierung aber nicht erwarten, über
die Haushaltsentscheidungen dieses Parlaments in den
Jahren 2018 und 2019 schon heute Aussagen zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717806200

Bitte denken Sie an Ihre Redezeit! Sie ist schon abge-

laufen.

Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Ja, Herr Präsident.

Ich will mit der herzlichen Bitte schließen: Lassen Sie
die Wissenschaft jetzt nicht im Stich! Für die Wissen-
schaft und die Weiterentwicklung des Wissenschafts-
systems handelt es sich um einen der wichtigsten Vor-
schläge überhaupt. So etwas hat es noch nie gegeben;
das ist mit Blick auf die Internationalisierung neu. Es
betrifft die Hochschulen in der Breite. Mit der Exzel-
lenzinitiative hat es nur in Teilen zu tun. Wer behauptet,
die Bundesregierung wolle das nur, weil sie die Exzel-
lenzuniversitäten stützen will, weiß genau, dass das nicht
die Wahrheit ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717806300

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der SPD unser Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1717806400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

wird Sie vielleicht überraschen; aber ich bin der Ministe-
rin ausdrücklich dankbar dafür, dass sie an keiner Stelle
ihrer Rede Parteien angesprochen hat.

Kollege Kretschmer, wenn Sie in dieser Debatte von
den Koalitionsfraktionen auf der einen Seite und von der
Opposition auf der anderen Seite sprechen, verfehlen Sie
den Sinn der Diskussion, die vor einer Grundgesetzände-
rung erforderlich ist. Man muss jenseits von Parteigren-
zen fragen: Was soll das Grundgesetz eigentlich ermög-
lichen? Wie kann das Grundgesetz so gestaltet werden,
dass es nicht zur Geisel einer bestimmten Parteipolitik
wird, sondern etwas ermöglicht, was durch die Erforder-
nisse zu begründen ist? Wie wir finden, hat Frau
Löhrmann das exzellent gemacht, indem sie die Erfor-
dernisse und Herausforderungen angesprochen hat, vor
denen wir stehen, wenn wir das große Ziel des Bildungs-
und Wissenschaftslandes Deutschland erreichen wollen.

Man kann bei einer Grundgesetzänderung aber ge-
nauso fragen, ob die bisherigen Regelungen sinnvoll wa-
ren oder ob nicht Widersprüche darin enthalten sind.
Denn ist es nicht ein Widerspruch, dass wir zwar mittler-
weile einen Konsens gefunden haben, wie wichtig der
Impuls des Bundes war, die deutsche Schullandschaft
über die Einrichtung der Ganztagsschule zu modernisie-
ren, es jetzt aber per Grundgesetz verboten ist, diesen
wichtigen Impuls weiterzuführen. Müssen wir das nicht
vielmehr durch das Grundgesetz ermöglichen?





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


Ist es nicht auch ein Widerspruch, dass wir seitens des
Bundes viel Geld für Bildung und Forschung mobilisiert
haben und zusätzlich ein ganz großer Batzen im Rahmen
von Konjunkturprogrammen dazugegeben worden ist,
dass diese Unterstützung aber gleichzeitig durch eine
nachgeschobene Änderung des Grundgesetzes abhängig
vom Auftreten von Naturkatastrophen oder außer-
gewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des
Staates entziehen, sein soll? Kann jemand erklären, wes-
halb der Bund Bildung mit fördern darf, wenn es in der
Deutschen Bucht einen Tsunami gibt oder die Deutsche
Bank zusammengebrochen ist, aber sonst nicht? Das
kann doch niemand erklären.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Können wir erklären, weshalb wir in Bezug auf Bil-
dungserfordernisse Unterschiede machen? Menschen,
die zugewandert sind, können bei uns durch den Bund zu
100 Prozent finanzierte Sprachkurse besuchen, während
Menschen, die schon bei uns leben und keine ausrei-
chende sprachliche Grundbildung haben, alleingelassen
werden. Das kann doch niemand erklären. Deshalb gibt
es auch ein Erfordernis, das Grundgesetz so weiterzuent-
wickeln, dass ganz pragmatisch und plausibel eine ge-
meinsame Bildungsverantwortung möglich ist.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Und Finanzierungsverantwortung!)


Frau Ministerin, Sie haben hier die einzelnen Schritte
beschrieben. Sie haben gesagt, dass wir mit der Bil-
dungsberichterstattung und der Bildungsforschung ange-
fangen haben. Dann haben Sie den Bildungsrat als Kom-
plementärorganisation zum Wissenschaftsrat in die
Debatte gebracht. Dazu muss ich zwei Anmerkungen
machen: Zum einen ist der Bildungsrat nämlich nur dann
relevant, wenn durch das Grundgesetz eine offene Ko-
operation in allen Bereichen der Bildung ermöglicht
wird. Ansonsten haben Sie den Bildungsrat schon kas-
triert, bevor er überhaupt das erste Mal getagt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum anderen gehört nach der Bildungsberichterstattung,
der Bildungsforschung und der Schaffung des Bildungs-
rates auch die Finanzierung mit dazu. Sie darf jetzt nicht
ins Stocken geraten. Hier ergibt sich für den Bund eine
große Chance; denn er ist der Gesetzgeber und kann,
was steuerliche Gerechtigkeit und steuerliche Mobilisie-
rung von Mitteln für Bildung angeht, aktiv werden.

Deshalb werben wir so offen dafür – das war der
Anstoß von Frau Löhrmann von den Grünen und von der
Landesregierung Nordrhein-Westfalen –, dass wir im
Rahmen eines Konvents in einen Dialog treten. Ein
Konvent ist übrigens etwas anderes als der Bildungsrat.
Im Konvent soll die Bedeutung einer Verfassungsände-
rung mit allen Beteiligten unter Berücksichtigung der
Bedarfslagen und der Möglichkeiten offen diskutieren
werden.

Wir haben Vorschläge von den verschiedenen Par-
teien und Fraktionen und auch einen Vorschlag der Re-
gierung bekommen, den man aber in der Tat nur als eine
sehr kleine Lösung ansehen kann. Wir alle wissen, dass
wir das Grundgesetz nicht beliebig an Tagesaktualitäten
anpassen dürfen – deshalb ist es das Grundgesetz –; viel-
mehr soll eine langfristig angelegte Gestaltungmöglich-
keit aufgezeigt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage ausdrücklich: Wir denken noch in einem zu
engen Rahmen, um wirklich etwas für die Verbesserung
von Bildungsperspektiven und Bildungschancen tun zu
können. Das ist die Botschaft von Frau Löhrmann. Viel-
leicht ist es auch die Chance dieser Debatte, in der wir
bisher nicht entlang Parteigrenzen miteinander gestritten
haben, mit einem solchen Konvent etwas richtig Gutes
auf den Weg zu bringen.

Die Alternative wäre das, was die Regierungsfraktio-
nen sagen, nämlich: Rien ne va plus – das ist es. Aber
wir sagen: Das ist es noch lange nicht. Wir sind gleich-
berechtigte Partner. Es gibt kein Oben und kein Unten,
wenn es um das Grundgesetz geht. Es geht darum, inner-
halb der Fraktionen und unter den Ländern eine Zwei-
drittelmehrheit zu organisieren. Dazu braucht es eine of-
fene Debatte, also kein Gouvernantenverhalten, sondern
Kooperationsbereitschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wer das Kooperationsverbot ändern will, muss in diesem
Prozess selbst kooperativ sein.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Schavan, ich hätte mir von Ihnen gewünscht,
dass Sie nicht mit abgeklärter Selbstgewissheit sagen:
Sorry, das ist es. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sagen:
Ich nehme den Punkt auf, der von Frau Löhrmann aus
Nordrhein-Westfalen eingebracht worden ist. Ja, auch ich
möchte einen Konvent, weil ich im Innersten weiß, dass
mehr möglich ist. Daher nutzte ich alle Chancen, mithilfe
eines solchen Konvents zu mehr zu kommen.

Vielleicht gibt es bei anderer Gelegenheit einen Rede-
beitrag von Ihnen, in dem Sie diese Initiative aufgreifen.
Seien Sie nicht Gouvernante, sondern Wegbereiterin für
eine richtig gute Lösung in Bezug auf die Kooperations-
möglichkeit, die wir für die Bildungsrepublik Deutsch-
land brauchen.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717806500

Vielen Dank, Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann.

Nächte Rednerin für die Fraktion der FDP ist Frau Kol-
legin Sylvia Canel. Bitte schön, Frau Canel.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1717806600

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kollegin-

nen! Auch ich finde es sehr schön, wie sachlich und kor-
rekt Frau Bundesministerin Schavan dieses Thema vo-
rangebracht hat. Ich wundere mich daher umso mehr
über die Emotionalität und die Anschuldigungen von
Herrn Rossmann.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf welchem Planeten waren Sie gerade eben?)


Ich denke, wir sollten bei dem Stil von Frau Schavan
bleiben, weil es der Stil ist, den die Bürgerinnen und
Bürger von uns erwarten.

Im Grunde genommen streiten wir uns doch nur um
eines: um Kooperation. Dabei ist Kooperation nicht ver-
boten, war nie verboten und wird auch nie verboten sein.
Zwischen den Ländern ist es schon heute möglich, zu
kooperieren, und zwar auch dann, wenn wir keine Ge-
setze erlassen. Wir streiten doch im Grunde genommen
nur um das Geld,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte? – René Röspel [SPD]: Sie haben das nicht verstanden!)


das der Bund den Ländern bereitstellen soll, um bil-
dungspolitisch voranzukommen. Ja, ich finde es richtig,
dass wir das machen, und ich kann Ihnen als Lehrerin sa-
gen: Es ist mir tatsächlich völlig egal, woher das Geld
kommt; Hauptsache es kommt bei mir in der Schule an.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja!)


Ich möchte noch ein Aber hinzufügen. Warum haben
wir hier immer dieses Schwarzer-Peter-Spiel zwischen
den Vertretern der Länder und des Bundes? Das haben
wir doch nur, weil Bildungspolitik immer ideologisch
ausgenutzt wird, um Parteiinteressen über andere Inte-
ressen zu stellen. Das sehe ich bei den Grünen immer
wieder in Reinkultur.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Beispiel Hamburg. In Hamburg mussten 300 000 El-
tern durch einen Volksentscheid die ideologische Politik
von Schwarz-Grün bremsen. Das ist wirklich unglaub-
lich, aber historisch belegt. Das ist auf grünem Mist
gewachsen.

Frau Löhrmann, die hier sehr viel gelobt wurde, ist
eine Vertreterin der Einheitsschule. Sie will den Ein-
heitslehrer bzw. den Einheitslohn für Lehrer, und wahr-
scheinlich will sie irgendwann auch noch das Einheits-
kind. Das kann es nicht sein. Auf dieser Basis
kooperieren wir wahrscheinlich nicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – René Röspel [SPD]: So viel zum Thema Ideologien!)


Wir haben auch in Hamburg große Schwierigkeiten,
zu erkennen, dass die SPD einen Schwerpunkt bei der
Bildung setzt. In Hamburg ist für den Rückkauf eines
Teils der Energienetze über eine halbe Milliarde Euro
übrig. Es ist eine knappe halbe Milliarde Euro übrig, um
einen Anteil an einer Reederei zu kaufen. Ich hätte mir
gewünscht, dass wir dieses Geld, insgesamt 1 Milliarde
Euro, in die Bildung stecken. Das tun wir in den Ländern
nicht so konsequent, wie wir das tun sollten.

Liebe Ländervertreter, wir sollten aufwachen und
auch in den Ländern einen Schwerpunkt auf die Bildung
setzen. Das sollten wir wirklich durchhalten und nicht
den Schwarzen Peter immer dem Bund zuschieben. Der
Bund ist mit 12 Milliarden Euro in Vorlage gegangen.
Ich finde, wir sollten die Mittel in der nächsten Legisla-
turperiode erhöhen, so wie die Bundesministerin es ge-
sagt hat.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717806700

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für

die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Marcus
Weinberg. Bitte schön, Kollege Marcus Weinberg.


(Beifall bei der CDU/CSU – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Guter Mann!)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1717806800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
die Versachlichung, für die Herr Dr. Rossmann zum
Schluss gesorgt hat, ist für diese Debatte gut und wich-
tig. Auch wenn wir kontrovers über die Frage diskutie-
ren, welche Instrumente wir wie verändern und einset-
zen, müssen wir das, glaube ich, in einem angemessenen
Rahmen machen. Das betone ich, weil ich sehr ent-
täuscht, sogar entsetzt war, wie Sie, Frau Ziegler und
Herr Matschie, sich hier präsentiert haben.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Das tut mir aber leid!)


Man kann ja über alles diskutieren: über die Frage, an
welchen Stellen im Bildungsbereich weiterhin Defizite
bestehen, oder über die Frage, wie die Finanzströme zu
organisieren sind. Aber, Frau Ziegler, wenn Sie die Bil-
dung in diesem Land zwei Minuten lang schlechtreden,
dann ist das eine Form von Ignoranz, die wir nicht dul-
den können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben in den letzten Jahren deutliche Bildungs-
erfolge erzielt. Herr Matschie, Sie müssen endlich ein-
mal etwas deutlicher sagen, dass Sie das anerkennen,
was der Bund hinsichtlich der Finanzierung geleistet hat.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat er doch gesagt! Mein Gott, wie viel Lob wollen Sie denn noch?)


Allein das Zur-Verfügung-Stellen von 4,7 bis 4,9 Mil-
liarden Euro im Rahmen der zweiten Phase des Hoch-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


schulpakts durch den Bund ist eine Leistung, die man
würdigen sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Worum geht es? In der Diskussion geht es um zwei
Fragen. Zum einen geht es um die Frage, wie es uns ge-
lingt, die Exzellenzinitiative dauerhaft zu verstetigen,
also darum, Leuchtturmprojekte zu sichern. Das ist nicht
der Maßstab für uns, aber es ist ein Maßstab. Dieses
Land braucht Exzellenzen, es braucht Leuchttürme in
den Bereichen Wissenschaft und Forschung. Zum ande-
ren geht es um die Frage, wie wir im allgemeinen Bil-
dungsbereich – das betrifft den Schulbereich, den Vor-
schulbereich, aber insbesondere den Hochschulbereich –
Mittel des Bundes verstetigen können, die Implikationen
auf die Bildung zur Folge haben können.

Ich komme zum ersten Punkt. Ich glaube, die Bundes-
bildungsministerin hat mit ihrem konkreten Vorschlag
zur Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes einen
völlig richtigen Weg eingeschlagen. Diese Änderung ist
Grundlage dafür, dass eine verfassungsrechtlich effek-
tive Förderung der Wissenschaft dauerhaft gesichert
wird. Nun können Sie sagen, dass Ihnen das zu wenig
ist, dass das nur ein erster Schritt ist. Eine Debatte da-
rüber wird geführt werden. Es ist aber zunächst einmal
wichtig, dass dieser erste Schritt unternommen wird.

Man könnte jetzt sagen, dass wir parteipolitisch argu-
mentieren. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die
Anhörung vom 19. März. Dort hat Professor Marquardt
vom Wissenschaftsrat Folgendes gesagt:

Andere bedeutsame Förderformate und -instru-
mente lassen sich jedoch nur adäquat ausgestalten,
wenn es Bund und Ländern künftig über eine
Grundgesetzänderung ermöglicht würde, bei der
Förderung von Vorhaben und Einrichtungen der
Wissenschaft und Forschung an Hochschulen zu-
sammenzuwirken. Die Ergänzung des Art. 91 b
Grundgesetz,

– das ist das, was die Ministerin fordert –

welche hiermit als die wesentliche gestalterische
Maßnahme vorgeschlagen wird, um die beiden
Worte „und Einrichtungen“ ist überschaubar, struk-
turell überaus wirkungsvoll und auf die Wissen-
schaft fokussiert.

Darunter können wir einen Haken setzen. Das ist die
richtige Maßnahme. Dem können wir nur zustimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht als Hamburger!)


– Frau Sager, wir haben in dieser Diskussion die Posi-
tion der Grünen ja schon aufgearbeitet. Ich komme da-
mit zu dem Antrag der Grünen.

Es liegt ein Antrag der Grünen vor, über den wir ein-
mal reden sollten. Es geht darin auch um die „Dreivier-
telmehrheit“. Es ist zu bezweifeln, dass das verfassungs-
rechtlich in Ordnung ist und dass die Länder damit
einverstanden sind.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie die doch einmal!)


Es wurde schon gesagt, dass Herr Kretschmann, den ei-
nige in dieser Frage als Fundamentalisten bezeichnen,
und Herr Beck die Dinge etwas anders sehen. Daher ist
die Euphorie über eine Grundgesetzänderung relativ be-
grenzt. Man reduziert das Ganze auf die einfache Bot-
schaft: Gebt uns Geld, und lasst uns ansonsten in Ruhe!
Das machen wir vonseiten des Bundes nicht mit.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bauen einen Popanz auf!)


Wie können wir das, was der Bund in den letzten Jah-
ren in den Paketen und Pakten geleistet hat, verstetigen?
Ich will noch einmal daran erinnern – die Ministerin hat
es angesprochen –, dass wir in der ersten Programm-
phase mittlerweile rund 185 000 zusätzliche Studien-
plätze geschaffen haben. Hier sind 2 Milliarden Euro in-
vestiert worden. In der zweiten Phase erwarten wir über
345 000 zusätzliche Studienanfänger. Das heißt, der
Bund wird 4,7 bis 4,9 Milliarden Euro in diesen Bereich
richtigerweise investieren. Es gibt in diesem Bereich
eine Reihe von Maßnahmen; ich kann sie nicht alle er-
wähnen. Ich denke zum Beispiel an den Qualitätspakt
Lehre, an das Programm „Frühe Chancen“ mit 400 Mil-
lionen Euro, die der Bund in Kitas für Integration und
Sprachförderung investiert. Die Maßnahmen insgesamt
sind, glaube ich, ein deutliches Signal, dass wir hier rich-
tig liegen.

Jetzt – das ist die Aufgabe – müssen wir uns überle-
gen, wie wir dies dauerhaft so gestalten, dass jeder in
seinem Verantwortungsbereich die finanziellen Mittel so
einsetzen kann, um einen möglichst hohen Nutzen für
die Bildung der Kinder zu erzielen. Es geht auch darum,
in den Diskussionen mit den Finanzsenatoren oder
Finanzministern für den eigenen Haushalt möglichst viel
zu erreichen. Richtig ist – auch darüber diskutieren
wir –, dass Deutschlands Bildungslandschaft zersplittert
und uneinheitlich ist, dass Standards und Vergleichs-
möglichkeiten fehlen. Die Lösung dieser Probleme steht
auf der Agenda.

Jetzt noch einmal zu dem Ansatz der Grünen hinsicht-
lich eines neuen Art. 104 c im Grundgesetz. Einen ähnli-
chen Vorschlag hatte die SPD bereits vor einigen Mona-
ten in einem Antrag vorgelegt. Ich wiederhole noch
einmal: Die Darstellung, dass Kooperation heute nicht
möglich ist, stimmt einfach nicht. Zitat Professor
Marquardt:

Alles in allem haben diese Pakte eine enorme
Schubwirkung entfaltet. Angesichts dieses erfolg-
reichen gemeinsamen Engagements von Bund und
Ländern bildet der 2005 im Rahmen der Beratun-
gen zur Föderalismusreform geprägte Begriff
des „Kooperationsverbots“ die Regelungen des
Art. 91 b GG nicht präzise ab.


(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


Wir können gerne darüber diskutieren, wie wir Öff-
nungsklauseln schaffen, aber wir sollten sehr vorsichtig
sein. Ich kann auch Professor Prenzel zitieren, der
– ebenfalls am 19. März – sagte:

Eine Aufhebung des Kooperationsverbots

– wenn wir es einmal so definieren –

im Bildungsbereich gibt keine Garantie für eine er-
folgreiche Bildungspolitik.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Möglichkeit! Es gibt die Kooperationsmöglichkeit!)


Für eine erfolgreiche Kooperation unersetzlich ist
eine vorausschauende, auf Evidenzen und Expertise
begründete und verantwortungsbewusste Bildungs-
politik auf beiden Seiten.

Deswegen wäre die Gründung eines Bildungsrats
– über diesen Vorschlag ist gemeinsam mit den Ländern
zu diskutieren – der richtige Weg. Dass nicht allein nur
finanzielle Mittel zum Erfolg führen, ist, glaube ich,
nachgewiesen. Schauen Sie sich die Zahlen an. Sachsen-
Anhalt gibt pro Jahr im Durchschnitt 7 100 Euro pro
Schüler aus, Sachsen 6 400 Euro. Diese beiden Länder
sind strukturell durchaus vergleichbar. Sachsen liegt in
Vergleichen oben, Sachsen-Anhalt im Mittelfeld. Man
kann, wenn man über eine nationale Bildungsaufgabe
spricht, auch Finnland erwähnen. Finnland ist ein relativ
kleines Land, hat es aber geschafft, in der inhaltlichen
Diskussion voranzukommen.

Die Schuldenbremse – dies wurde schon gesagt – gilt
auch für den Bund und nicht nur für die Länder.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717806900

Bevor Sie Ihren neuen Gedanken beginnen, denken

Sie daran, was das Licht vor Ihnen bedeutet.


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1717807000

Gut, meine vielen kreativen Gedanken werden jetzt in

der Schublade bleiben. Ich bitte um Verzeihung.

Ich möchte zum Schluss sagen, dass diese Diskussion
aktuell geführt wird. Ich darf zum Schluss Nietzsche zi-
tieren, der einmal gesagt hat: „Die Bildung wird täglich
geringer, weil die Hast größer wird.“ In der Tat, wenn
man sich die Oppositionsanträge ansieht, erkennt man,
dass in Teilen eine unbegründete Hast dahintersteckt.
Wir sollten auf den Erfolgen aufbauen, die wir in den
letzten Jahren erzielt haben. Dafür stehen wir.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717807100

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Eberhard
Gienger. Bitte schön, Kollege Eberhard Gienger.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Eberhard Gienger (CDU):
Rede ID: ID1717807200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die Kulturhoheit ist wesentlicher Bestandteil der Länder
und auch ein Kernstück der Eigenstaatlichkeit im födera-
len System. Auch eine teilweise Übertragung der Schul-
hoheit auf den Bund wird daher auf politischen Wider-
stand stoßen. In Baden-Württemberg oder auch in
Rheinland-Pfalz – das haben wir schon gehört – sind die
Ministerpräsidenten nicht unbedingt der Meinung, dass
man hieran etwas ändern sollte. Sie haben angekündigt,
am Kooperationsverbot festhalten zu wollen. Ich finde,
das ist gut so. Frau Löhrmann hat es zwar ein bisschen
relativiert, aber Frau Sager hat ja gestern vom Funda-
mentalisten Kretschmann gesprochen. Wir werden se-
hen, wie sich das letztlich, wenn es zum Schwur kommt,
auswirken wird.


(Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Damit wären wir auch schon beim Einstimmigkeits-
prinzip, an dem kein Weg vorbeiführt. Das heißt kon-
kret: Für den Abschluss von Vereinbarungen muss das
Einstimmigkeitsprinzip gelten. Eine Dreiviertelmehr-
heit, wie in Ihrem Antrag gefordert, ist damit ausge-
schlossen. Aber wahrscheinlich sind Sie sich der Zu-
stimmung einiger Länder, weil es dort Dissidenten gibt,
nicht ganz sicher, weshalb Sie eine Dreiviertelmehrheit
wollen.

Ich jedenfalls glaube nicht, dass es im Interesse der
Länder wäre, wenn das im Gesetz verankerte Bundes-
staatsprinzip durch Verfassungsänderung ausgehöhlt
werden könnte. Was würde von der Eigenstaatlichkeit
übrig bleiben, wenn immer mehr Kompetenzen auf den
Bund übertragen würden, vor allem die Kernkompetenz
der Länder, nämlich die Schulhoheit? Es gäbe zwischen
den Ländern keinen Wettbewerb, und mit Sicherheit
wäre ein Qualitätsverlust die Folge. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass dies im Interesse der Regierungschefs
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich vertrete den Standpunkt, dass es sinnvoll ist, das
Kooperationsverbot im Bereich von Wissenschaft und
Forschung fallen zu lassen; denn Wissenschaft und For-
schung sind in der Regel nicht regional bedingt. Ich
meine damit nicht, dass wir zum Beispiel für die Finan-
zierung der Hochschulbauten allein verantwortlich sein
sollten. Auch hier gab und gibt es die Kooperation, die
besagt, dass bis 2013 rund sieben Zehntel der Bundes-
mittel im Bereich Hochschulbau ausgegeben werden.
Beim Begriff Hochschulbauten gibt es zugegebenermaßen
Abgrenzungsschwierigkeiten. Viele Hochschulbauten wer-
den sowohl für Lehr- als auch für Forschungszwecke
genutzt. Wir haben vor, ab dem Jahr 2014 pro Jahr
298 Millionen Euro – mit den Komplementärmitteln der
Länder sind es sogar 596 Millionen Euro – in den Hoch-
schulbau zu investieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Doch im Bereich der Schulbildung geht das Aufheben
des Kooperationsverbots zu weit. Allerdings finde ich,
dass der Begriff nicht passt; denn wir kooperieren ja





Eberhard Gienger


(A) (C)



(D)(B)


schon. Wir haben ein ganzes Bündel von Projekten und
Maßnahmen initiiert, die wir im Rahmen der gesetzli-
chen Möglichkeiten unterstützen, da wir unsere Gemein-
schaftsaufgabe ernst nehmen und sie gut erfüllen. Zu
nennen sind Qualifizierungsmaßnahmen, Bildungsket-
ten, also frühe Potenzialanalyse, Begabtenförderung,
Aufstiegsfortbildung, BAföG, Weiterbildungsprämien,
Bildungspaket, Hochschulpakt und vieles mehr.

In Baden-Württemberg gibt es die geringste Jugend-
arbeitslosigkeit in Europa und den niedrigsten Anteil an
Schulabbrechern. Das sind keine selbstverständlichen
Erfolge, sondern sie beruhen auf einer klaren und konti-
nuierlichen Ausrichtung der Bildungspolitik. Gute Bil-
dungspolitik braucht Eigenverantwortung, Dezentralität
und Subsidiarität. Mehr Geld ist kein sehr aussagekräfti-
ges Argument für bessere Bildung. Dafür braucht das
Kooperationsverbot im schulischen Bereich mit Sicher-
heit nicht aufgehoben zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In meinem Bundesland, in Baden-Württemberg – das
haben wir schon von einigen gehört –, werden zum Bei-
spiel pro Schüler 5 600 Euro pro Jahr ausgegeben, in
Berlin 1 000 Euro mehr. Aber im PISA-Ranking steht
Berlin weit hinter Baden-Württemberg.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht uns um Qualität und Leistungsfähigkeit! Das steht auch so im Antrag!)


Wenn Finanzhilfe gewährt wird, dann bitte zweckgebun-
den, so wie es in der Vergangenheit üblich war und noch
heute üblich ist.

Im Übrigen war auch in der Anhörung am 19. März
dieses Jahres zum Thema Kooperationsverbot im schuli-
schen Bereich im Ergebnis kein Mehrwert zu erkennen;
Professor Prenzel von der TU München hat dies sehr
deutlich gemacht. Demzufolge ist eine Abschaffung des
Kooperationsverbotes nicht gerechtfertigt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch das Argument im Hinblick auf Mobilitäts-
hemmnisse zieht nicht. Denn eine Lösung finden die
Länder durch Absprachen und Vereinbarungen im Rah-
men der Kulturministerkonferenz alleine. Dem Bund die
Verantwortung zu übertragen, ergibt deswegen keinen
Sinn.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das will doch auch keiner!)


Das ist der Grund, weshalb wir Ihren Antrag ablehnen
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kann man nur so am Antrag vorbeireden?)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1717807300

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende

dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9565 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a bis f sowie den
Zusatzpunkt 2 a bis c auf:

36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung
des Übereinkommens vom 9. Februar 1994
über die Erhebung von Gebühren für die Be-
nutzung bestimmter Straßen mit schweren
Nutzfahrzeugen

– Drucksache 17/9343 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Joachim Günther

(Plauen), Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga

Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Entwicklung durch Wachstum – Der Beitrag
der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der
Millenniumsziele

– Drucksache 17/9423 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Klimaziel der EU auf 30 Prozent anheben

– Drucksache 17/9561 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf
30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen –
Überschüssige Emissionsrechte stilllegen

– Drucksache 17/9562 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Ilja Seifert, Jan Korte, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Diskriminierungsschutz für chronisch er-
krankte Menschen in das Allgemeine Gleich-
behandlungsgesetz aufnehmen

– Drucksache 17/9563 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Soziale und ökologische Offenlegungspflichten
für Unternehmen regeln
– Drucksache 17/9567 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kleegras-Verwendung in Biogasanlagen stär-
ken

– Drucksache 17/9322 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Alphabetisierung und Grundbildung in
Deutschland fördern – Für eine nationale Al-
phabetisierungsdekade
– Drucksache 17/9564 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Nanotechnologie – Chancen nutzen und Risi-
ken minimieren

– Drucksache 17/9569 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist: Zusatzpunkt 2 a. Interfrak-
tionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9322 zur
Kleegrasverwendung in Biogasanlagen an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig.

Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wün-
schen Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt da-
gegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die So-
zialdemokraten. Enthaltungen? – Keine. Der Überwei-
sungsvorschlag ist abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Das sind die Koalitionsfraktionen und
die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dage-
gen? – Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Ent-
haltungen? – Niemand. Der Überweisungsvorschlag ist
angenommen.

Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen:
Tagesordnungspunkt 36 a bis f sowie Zusatzpunkt 2 b
und c. Interfraktionell wird vorgeschlagen, diese Vorla-
gen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 a bis h sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 37 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 425 zu Petitionen

– Drucksache 17/9415 –

Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltun-
gen? – Niemand. Die Sammelübersicht 425 ist ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 37 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 426 zu Petitionen

– Drucksache 17/9416 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? –
Linksfraktion. Enthaltungen? – Bündnis 90/Die Grünen.
Die Sammelübersicht 426 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 427 zu Petitionen

– Drucksache 17/9417 –

Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? – Niemand. Enthaltungen? – Niemand.
Die Sammelübersicht 427 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 428 zu Petitionen

– Drucksache 17/9418 –

Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten.
Wer stimmt dagegen? – Die Linksfraktion. Enthaltun-
gen? – Keine. Die Sammelübersicht 428 ist angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 37 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 429 zu Petitionen

– Drucksache 17/9419 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Sozial-
demokraten. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Keine. Die
Sammelübersicht 429 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 430 zu Petitionen

– Drucksache 17/9420 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Links-
fraktion. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Niemand. Die
Sammelübersicht 430 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 431 zu Petitionen

– Drucksache 17/9421 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Sozialdemo-
kraten und Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Die
Sammelübersicht 431 ist angenommen.

Tagesordnungspunkt 37 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 432 zu Petitionen

– Drucksache 17/9422 –

Wer stimmt dafür? – Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand.
Die Sammelübersicht 432 ist angenommen.

Zusatzpunkt 3:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit

zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zu
schwerwiegenden grenzüberschreitenden Ge-
sundheitsbedrohungen
KOM(2011) 866 endg.; Ratsdok. 18509/11

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grund-
gesetzes

– Drucksachen 17/8673 Nr. A.13, 17/9447 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Harald Weinberg

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung
gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bünd-
nis 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Linksfraktion. Ent-
haltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den
Zusatzpunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD

Kitaausbau statt Betreuungsgeld

Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erste in unserer
Aussprache zur Aktuellen Stunde hat das Wort für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Dagmar
Ziegler. – Bitte schön, Frau Kollegin Dagmar Ziegler.


(Beifall bei der SPD – Markus Grübel [CDU/ CSU]: Jede Sitzungswoche wieder!)



Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1717807400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Die CSU droht, ihrer Ministerin
Schröder die Zuständigkeit zu entziehen. Das ist einmal
ein guter Vorschlag von ungewohnter Seite.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Ministerin ist so einsam auf der Bank!)


Die Begründung hierfür teile ich aber nicht mehr:
Ministerin Schröder sei bisher einen Gesetzentwurf für
die Einführung eines Betreuungsgeldes schuldig geblie-
ben. Frau Ministerin Schröder, an dieser Stelle haben Sie
unsere volle Unterstützung. Bleiben Sie sich treu: Tun
Sie nichts!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn das Betreuungsgeld will keiner, es nützt nieman-
dem, es verschlingt Milliarden und gräbt dem richtigen
und notwendigen Kitaausbau das Wasser ab.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei geht es wirk-
lich nicht um einen Kulturkampf.


(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Der SPD schon! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ein Glaubenskrieg!)


Es geht auch nicht darum, wer ein besseres Familienbild
hat. Es geht aber sehr wohl darum, dass sich alle Eltern
frei für einen Lebensentwurf entscheiden und ihn dann
auch verwirklichen können. Genau deshalb wollen wir
das Betreuungsgeld verhindern und stattdessen mehr
Mittel in den Kitaausbau stecken; denn die Verwirkli-
chung von elterlichen Lebensentwürfen scheitert eben
nicht an der Möglichkeit, zu Hause zu bleiben, sondern
an fehlenden Kitas und Ganztagsschulen. Genau aus die-
sem Grund scheitert oft auch die Gewährleistung glei-
cher Bildungschancen für Kinder.

Es gilt jetzt, durch richtige Weichenstellungen endlich
unseren Verfassungsauftrag zur Sicherung von Gleich-
heit und Förderung der Gleichstellung umzusetzen. Für
diese Position bekommen wir Unterstützung aus allen
gesellschaftlichen Bereichen. Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, Verfassungsjuristen, Kinderschutzbund,
Migrantenverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeber und
die evangelische Kirche sind sich in diesem Punkt alle

einig: Das Betreuungsgeld ist ein grundverkehrtes Vor-
haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt alles nicht!)


Dafür ist eigentlich nur die CSU. Sie glaubt offenbar,
vor dem Landtagswahlkampf im kommenden Jahr noch
einmal ihre konservative Klientel bedienen zu müssen.
Dafür sollen wir hier herhalten und zahlen; denn Bayern
hat bereits ein Landeserziehungsgeld. Hier stellt sich
schon die Frage: Werden Sie denn Ihr Landeserzie-
hungsgeld aufrechterhalten, wenn der Bund ein Betreu-
ungsgeld einführt? Oder wird es nicht vielmehr so sein,
dass Sie Ihre eigene Landesleistung streichen und die
100 Millionen Euro, die das verschlingt, im Landeshaus-
halt einsparen? Die Antwort liegt hier ganz deutlich auf
der Hand.

Die CSU macht sich für das Betreuungsgeld tatsäch-
lich nur aus ganz egoistischen, eigennützigen Motiven
stark. Aufgepasst: Noch nicht einmal die Mehrheit der
Bayerinnen und Bayern hat sie dabei hinter sich. Eine
Studie der Universität München aus dieser Woche bringt
es an den Tag: Nur 25 Prozent der Männer und 10 Pro-
zent der Frauen in Bayern sind mit ihrer derzeitigen Rol-
lenverteilung einverstanden. Die Mehrheit wünscht sich
mehr Partnerschaftlichkeit und setzt dafür auf flexiblere
Arbeitszeiten und mehr Kinderbetreuungsmöglichkei-
ten.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Hören Sie doch auf! Das hat doch damit nichts zu tun!)


Geldleistungen werden auch in Bayern als nachrangig
betrachtet.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: In Bayern sind die meisten Frauen in ganz Deutschland berufstätig und beschäftigt!)


Aber der Schuh drückt nun einmal beim Kitaausbau.
Die Kommunen rufen um Hilfe, weil sie nicht genügend
Plätze schaffen können. Jeder Euro und jeder Cent, den
Sie für den Unsinn Betreuungsgeld verschleudern wollen,
wären hier bestens investiert. Mit den dafür vorgesehenen
2 Milliarden Euro könnten rund 170 000 Kitaplätze ge-
schaffen werden. Es ist zynisch, dass Ihre Regierung die
Kommunen beim Kitaausbau mit ihren Nöten im Regen
stehen lässt und gleichzeitig mit dem Betreuungsgeld ein
vergiftetes Geschenk macht, das den Verzicht auf einen
Kitaplatz schmackhaft machen soll.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Mehr ist das leider nicht, Herr Geis.

Das ist der falsche Weg. Das wissen auch viele in den
Reihen von CDU und FDP. Nicht umsonst werden Sie
die Debatte nicht los. Nicht umsonst versuchen Sie ver-
geblich einen Befreiungsschlag nach dem anderen.

Das Betreuungsgeld ist falsch und wird auch durch
keine weitere Kapriole richtig. Wenn Ministerin
Schröder dann doch ans Arbeiten kommen sollte





Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)



(Caren Marks [SPD]: Ich glaube nicht!)


und einen Gesetzentwurf vorlegt, werden wir umgehend
eine Klage in Karlsruhe prüfen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die wird erfolglos sein!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurzeit gibt es keine
Mehrheit im Bundestag für das Betreuungsgeld.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Auch das ist nicht richtig!)


Deshalb fordere ich Sie auf: Belassen Sie es bei diesem
klugen und verantwortungsvollen Verhalten. Nutzen wir
doch auch hier einmal die Schwarmintelligenz des Deut-
schen Bundestages.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717807500

Bundesministerin Kristina Schröder hat jetzt das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist das da vorne? – Gegenruf der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist unter Ihrem Niveau!)


Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt nur einen einzigen Grund für diese Aktuelle
Stunde: Das ist die Wahl in Nordrhein-Westfalen am
kommenden Sonntag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Norbert Geis [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Darum geht es Ihnen, nicht um die Kinder! – Widerspruch bei der SPD)


Das ist zwar legitim, aber auch durchsichtig und platt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Caren Marks [SPD]: Wir werden noch viele Aktuelle Stunden dazu haben!)


Die Ausgestaltung des Betreuungsgeldes entscheidet
sich nämlich nicht in Nordrhein-Westfalen, der Erfolg
des Kitaausbaus aber durchaus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Beim Ausbau der Kindertagesstätten spielt auch die ei-
gentliche Musik. In den Kitaausbau gehört unsere ge-
meinsame Energie, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Warum haben Sie 2008 und 2009 in NRW keine Bundesmittel abgerufen? Null!)


Was haben Sie von der Opposition in den letzten Wo-
chen gemacht? Sie haben, um Ihren Wahlkampf zu füh-

ren, die Eltern in Deutschland unter einen Generalver-
dacht gestellt,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn!)


was ich als Familienministerin und wir als Union und
Liberale nicht dulden können und nicht dulden werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ihr Aufhänger ist das Betreuungsgeld, dem Sie selbst
– das gilt zumindest für die SPD – am 26. September
2008 im Deutschen Bundestag zugestimmt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dagmar Ziegler [SPD]: Lüge!)


Die Argumente für und gegen diese Leistung sind zur
Genüge ausgetauscht.


(Caren Marks [SPD]: Aber Sie haben es noch nicht begriffen!)


Es wurde alles gesagt, und zwar von jedem. Leider ha-
ben Sie aber in dieser Debatte jegliches Maß verloren,
und Sie haben die Sensibilität für junge Familien verlo-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es stimmt: Viele Eltern in Deutschland wollen einen
Krippenplatz, finden aber keinen. Es stimmt aber auch:
Mehr als die Hälfte der Eltern in unserem Land will für
ihre ein- und zweijährigen Kinder gar keinen Krippen-
platz.


(Zuruf von der LINKEN: In Thüringen nicht!)


Diese Entscheidungen haben Sie, die Opposition, nicht
zu kritisieren, sondern zu respektieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die respektieren sie nicht! – Caren Marks [SPD]: Das respektieren wir auch!)


Wir machen Familienpolitik für alle Eltern in
Deutschland.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Ach was! Das eben nicht!)


Sie diffamieren die Eltern, und Sie beschimpfen Frauen,
die sich selbst um ihre Kleinkinder kümmern wollen, als
Heimchen am Herd und behaupten, dass sie nicht fähig
sind, ihre ein- und zweijährigen Kinder zu erziehen und
ihnen Bildung zu vermitteln.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Das hat kein Mensch von uns gesagt!)


Deshalb haben Sie ohne jegliche Sensibilität für junge
Familien den Kampfbegriff der Herdprämie erfunden.
Dass dieser Begriff diskriminierend ist, wissen Sie sel-
ber. Zumindest Cem Özdemir war ehrlich genug, das zu-
zugeben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (C)



(D)(B)


Er hat sich vor kurzem in einem Interview in der Welt
von diesem Kampfbegriff verabschiedet. „Den Begriff
‚Herdprämie‘ benutze ich nicht mehr“, hat er gesagt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)


Das ist die Sensibilität eines jungen Vaters. Ich bin ge-
spannt, ob sich das bei den frischgebackenen Vätern der
SPD auch noch durchsetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Nun aber mal zum Thema!)


Ich habe es eingangs gesagt: Oberste Priorität hat der
Kitaausbau.


(Caren Marks [SPD]: Warum machen Sie dann nichts?)


Denn ohne ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbe-
treuung haben Eltern keine Wahl, geschweige denn
Wahlfreiheit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb werde ich auch dem Drängen der Zögerer
und Zauderer nicht nachgeben, die den Rechtsanspruch
gerne aufschieben wollen, wie der Münchener Oberbür-
germeister Christian Ude.


(Lachen bei der SPD)


Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab dem ersten
Geburtstag wird ab 1. August 2013 gelten, genauso wie
wir das mit den Ländern und den Kommunen beim Krip-
pengipfel 2007 vereinbart haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Vielleicht sollten wir endlich einen neuen Krippengipfel machen!)


Die Kommunen haben mit unserer Hilfe und mit Un-
terstützung der Länder die Zahl der U-3-Plätze in den
letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt. Das war in Zei-
ten knapper Haushaltsmittel ein gewaltiger Kraftakt.
Niemand sollte unterschätzen, was der Bund, was die
Länder und was die Kommunen in der Praxis leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt geht es in den Endspurt. Das ist und bleibt eine
Mammutaufgabe. Was den Bund betrifft, kann ich sa-
gen: Der Bund hat seinen Anteil von 4 Milliarden Euro
für den quantitativen und qualitativen Ausbau zur Verfü-
gung gestellt. Er beteiligt sich ab 2014 mit 770 Millio-
nen Euro jährlich an den Kosten des laufenden Betriebs.
Aber darauf ruhen wir uns nicht aus. Natürlich unterstüt-
zen wir die Kommunen und Länder auch dort, wo es
hakt. Da gibt es noch Potenzial, zum Beispiel bei der
Kindertagespflege und den Betriebskitas. Das kom-
mende Jahr muss das Jahr des Kitaausbaus werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Dann mal zu!)


Denn am 1. August 2013 interessiert es niemanden
mehr, wer von SPD und Grünen hier im Mai 2012 wel-
che Showeinlage abgeliefert hat, sondern dann interes-

siert nur, dass ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot
in Deutschland zur Verfügung steht.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was sagen Sie denn nun zum Thema?)


Die Eltern vertrauen darauf. Wir sollten gemeinsam alles
tun, um sie in diesem Vertrauen nicht zu enttäuschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Vor diesem Hintergrund kann es sich kein Land leis-
ten, im Energiesparmodus unterwegs zu sein. Da muss
uns folgende Wahrheit aufhorchen lassen: Von den Bun-
desmitteln für den Kitaausbau ist ein ganzes Drittel noch
immer nicht verbaut.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wann gibt es einen Gesetzentwurf?)


Wir reden hier von über 700 Millionen Euro. Bei den
Nachzüglern handelt es sich nicht nur um die ostdeut-
schen Länder mit geringem Ausbaubedarf – um die ma-
che ich mir noch die wenigsten Sorgen –, sondern vor al-
len Dingen auch um westdeutsche Länder mit hohem
Ausbaubedarf. Zu den Nachzüglern gehören zum Bei-
spiel Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und
Bremen. Es geht hier nicht darum, diese Länder an den
Pranger zu stellen. Es geht nicht darum, die aktuellen
Landesregierungen dort haftbar zu machen; denn in der
Tat sind die Ausgangslagen, die Entwicklungen und die
Gründe für die Verzögerungen in diesen Ländern unter-
schiedlich.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sagen Sie auch noch etwas zum Betreuungsgeld?)


Es geht jetzt aber darum, Verantwortung zu übernehmen.


(Caren Marks [SPD]: Und das aus Ihrem Mund!)


Allein in den genannten drei Ländern stehen rund
160 Millionen Euro an Investitionsmitteln bereit, die
noch nicht einmal bewilligt worden sind. Das heißt, in
diesen Ländern existieren bis heute noch nicht einmal
Planungen, aus denen hervorgeht, wie die vorhandenen
Bundesmittel für den Kitaausbau eingesetzt werden sol-
len.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber ständig rumschreien!)


Von diesen Mitteln entfallen alleine 75 Millionen Euro
– das kann ich Ihnen jetzt nicht ersparen – auf Nord-
rhein-Westfalen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Norbert Geis [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Das ist der Stand 6. Mai 2012, also von vor vier Tagen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Zum Thema! – Gegenruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau das ist das Thema! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Opposition, nur raten: Len-





Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (C)



(D)(B)


ken Sie Ihre Energie endlich dahin, wo sie gebraucht
wird!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Bei Ihnen!)


Wer bis zum Sommer 2013 Kitaplätze in ausreichender
Zahl fertigstellen will, der muss spätestens jetzt alle ver-
fügbaren Gelder einsetzen.


(Zurufe von der SPD: Genau!)


Im Kern geht es in unserer heutigen Debatte


(Caren Marks [SPD]: Um das Betreuungsgeld!)


um die Bedürfnisse der Familien, nicht um die Wünsche
der Wirtschaft und auch nicht um die Wünsche der Poli-
tik. Die Aufgabe von Familienpolitik ist es nicht, Men-
schen vorzuschreiben, wie sie leben sollen,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht doch niemand! Unsinn!)


sondern die Aufgabe von Familienpolitik ist es, Men-
schen zu ermöglichen,


(Dagmar Ziegler [SPD]: Lassen Sie doch mal die Allgemeinplätze!)


so zu leben, wie sie wollen.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717807600

Jetzt hat Diana Golze das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717807700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Werte Frau Ministerin, von Mutter zu Mutter:
Niemand in diesem Hause, auch nicht von denjenigen,
die das Betreuungsgeld ablehnen, will irgendjemandem
seinen Erziehungsstil vorschreiben oder die Eltern zu ir-
gendetwas zwingen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie tun es aber!)


Niemand hier im Hause spricht zum Beispiel von einer
Kitapflicht, wie es mir unterstellt wurde. Niemand hier
im Hause will an die Wahlfreiheit der Eltern herangehen
und ihnen vorschreiben, ob sie ihre Kinder in die Kita
bringen oder von Oma, Tante oder Nanny betreuen las-
sen. Ich bitte auch Sie, dies endlich zur Kenntnis zu neh-
men.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, das steht außer Frage. Es wird so oft über die
Wahlfreiheit gesprochen. Natürlich sollen alle Eltern
diese Wahlfreiheit haben. Genau darum geht es doch.

Aber für diese Wahlfreiheit braucht es Voraussetzun-
gen, und diese sind schlicht und ergreifend nicht vorhan-
den. Wir haben noch nicht die Anzahl von Plätzen, die

nötig ist, damit der vorgesehene Rechtsanspruch wirk-
lich erfüllt werden kann. Selbst wenn wir eine ausrei-
chende Anzahl von Plätzen hätten, dann hätten wir noch
nicht die Qualität, die wir uns wünschen. Uns fehlen Er-
zieherinnen und Erzieher, wir brauchen kleinere Grup-
pen, und wir brauchen eine bessere Ausstattung. Wenn
ich mir überlege, was man mit diesen 2 Milliarden Euro,
die Sie für das Betreuungsgeld jährlich einsetzen wollen,
machen könnte!


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Können Sie mir das mal vorrechnen?)


Wir könnten über die Gebührenfreiheit der Kitas spre-
chen, wir könnten so viel mit diesem Geld anfangen, was
deutlich besser wäre als dieses Betreuungsgeld.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unser Hauptziel hier im Bundestag muss es sein, den
Rechtsanspruch umzusetzen, den wir alle miteinander
vereinbart haben. Ich glaube aber, es gibt nur einen Teil
hier im Hause, der tatsächlich daran interessiert ist, die-
sen Rechtsanspruch umzusetzen.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stimmt, wir!)


Denn wo, bitte schön, sind die Initiativen, um dies tat-
sächlich zu ermöglichen? Wir wissen doch, wie viele
Plätze noch fehlen. Wir wissen doch, wie viele Erziehe-
rinnen und Erzieher noch fehlen. Wo aber sind die Initia-
tiven, um diese Lücke tatsächlich zu schließen?

Noch ein Satz zur Erziehungsleistung. Ihre Begrün-
dung für das Betreuungsgeld lautet: Die Erziehungsleis-
tung der Eltern soll gewürdigt werden. Worin besteht der
Unterschied zwischen der Erziehungsleistung derjenigen
Eltern, die ihr Kind durch Oma, Tante oder Nanny be-
treuen lassen und die das Betreuungsgeld bekommen,
und der Erziehungsleistung derjenigen Eltern, die ihr
Kind in einer Kita von ausgebildeten Pädagoginnen und
Pädagogen betreuen lassen? Ich sehe ihn nicht!


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich nehme auch für mich in Anspruch, als Mutter von
zwei Kindern, als Sozialpädagogin mit einer Ausbildung
in diesem Bereich – –


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Deshalb haben Sie ja so große Probleme, weil Sie den Unterschied nicht sehen!)


– Welche Probleme Sie haben, brauche ich in diesem
Haus nicht weiter auszuführen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Lassen Sie doch solche billigen Retourkutschen! Die gehören in den Kindergarten!)


Auch ich, Herr Geis, nehme für mich in Anspruch,
meine Kinder zu erziehen, genauso wie jede Mutter, die
sich dafür entscheidet, entweder zu Hause zu bleiben





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


und ihre Kinder selbst zu erziehen oder die Erziehung
den Schwiegereltern, Oma, Opa, Tante oder Nanny zu
überlassen. Ich mache keine Unterschiede, so wie Sie es
tun.

Ich will es noch einmal sagen: Es ist eine Ungerech-
tigkeit, den Eltern, die genauso gut ihre Kinder erziehen,
ein Erziehungsgeld obendrauf zu geben, während die an-
deren Eltern teure Kitagebühren für die Betreuung ihrer
Kinder zahlen müssen. Das ist ungerecht, und das darf
nicht Wirklichkeit werden.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Haderthauer aus Bayern hat behauptet, das Be-
treuungsgeld sei deshalb ein Ausgleich, weil die Kita-
plätze gebührenfrei wären. Mit dieser – ich will in diesem
Hohen Hause jetzt nicht von Lüge sprechen – Unwahrheit
möchte ich an dieser Stelle aufräumen. Zeigen Sie mir
bitte die Kommunen, die sich dies wirklich leisten kön-
nen. Zeigen Sie mir die Bundesländer, die pauschal für
alle Kinder unter drei Jahren die Gebührenfreiheit einge-
führt haben. Das möchte ich einmal sehen. Zeigen Sie mir
die Kommunen, die sich das erstens leisten können und
zweitens leisten wollen. Wir sind noch lange nicht so
weit. Wir könnten die 2 Milliarden Euro, die Sie für die-
sen Quatsch ausgeben wollen, viel besser für die Gebüh-
renfreiheit der Kitas gebrauchen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Norbert Geis [CDU/CSU]: Also, das ist ein solcher Unsinn! Das ist nicht mehr auszuhalten!)


– Das ist wirklich nicht mehr auszuhalten, Herr Geis.

Jetzt will die CSU selber einen Gesetzentwurf schrei-
ben, weil ihr das, was die Ministerin macht, nicht schnell
genug geht. Ich möchte Sie bitten: Nutzen Sie den Rest
der Legislaturperiode dazu, sinnvollere Dinge zu ma-
chen. Sie haben noch einiges im Koalitionsvertrag ste-
hen. Ich erinnere an den Unterhaltsvorschuss; ich erin-
nere an die geplanten Verbesserungen beim Elterngeld
und beim Kinderzuschlag. Sie haben so viel zu tun!


(Caren Marks [SPD]: Sie schreibt lieber Bücher!)


Bitte kümmern Sie sich wirklich darum, und folgen Sie
dem, was die Ministerin eben gefordert hat, nämlich Fa-
milienpolitik für alle Familien zu machen und nicht nur
für die Bessersituierten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717807800

Miriam Gruß hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1717807900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! So viel Sympathie ich grundsätzlich für die Hal-
tung der SPD bezüglich des Betreuungsgeldes habe, so
wenig Sympathie habe ich für die Aktuelle Stunde in
dieser Sitzungswoche.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Und nächste! Und übernächste! Immer wieder! – Caren Marks [SPD]: Bis Sie es sein lassen!)


Wir hatten bereits in der letzten Sitzungswoche eine Ak-
tuelle Stunde zum Thema Betreuungsgeld. Wir haben
fast jede Sitzungswoche die Diskussion über das Betreu-
ungsgeld, und es ist langsam langweilig, sich hier in die-
sem Haus immer wieder über dieselbe Sache zu unter-
halten,


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


zumal es dazu noch nicht einmal einen Gesetzentwurf
gibt.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Wir haben noch nicht einmal eine Grundlage, über die
wir reden können. Von daher ist dies alles doch heiße
Luft.


(Zuruf von der LINKEN: Den wollen wir ja gerade verhindern, den Gesetzentwurf!)


– Sie verhindern doch keinen Gesetzentwurf, indem Sie
eine Aktuelle Stunde beantragen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jede Woche!)


Es ist doch wirklich naiv, so etwas zu glauben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ganz ehrlich, es langweilt uns, abermals über das
Gleiche zu diskutieren. Schlimmer finde ich es aber,
dass in diesen Diskussionen immer wieder die einen El-
tern gegen die anderen Eltern ausgespielt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Das macht nur Frau Schröder! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das macht nur die Ministerin!)


Das finde ich nicht in Ordnung, das finde ich nicht gut.

Ich muss allerdings in Richtung der Koalitionspartner
sagen: Es ist auch nicht in Ordnung, zu sagen, dass die-
jenigen, die ihre Kinder, wenn sie ein oder zwei Jahre alt
sind, in die Kita bringen, Rabeneltern seien. Auch dieje-
nigen, die zu Hause bleiben, sind keine Heimchen am
Herd.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Ja, genau das habe ich gesagt!)


Sie alle sind Eltern, die ihre Erziehungsaufgabe wahr-
nehmen, egal ob sie ihr Kind in die Kita oder nicht in die
Kita schicken. Das muss an dieser Stelle auch einmal
deutlich gesagt werden.


(Beifall bei der FDP)






Miriam Gruß


(A) (C)



(D)(B)


Für das grundsätzlich klassische Familienmodell ha-
ben wir bereits das Ehegattensplitting. Mit 56 Milliarden
Euro bezuschussen wir bereits das klassische Familien-
modell. Von daher sind die 4 Milliarden Euro, die wir als
Bund für den Kitaausbau zur Verfügung stellen, in die-
sem Zusammenhang eigentlich eine Marginalie.

Umso schlimmer – jetzt kommen wir zur SPD – ist es,
dass diese Gelder noch nicht einmal abgerufen werden.
Von allen Bundesländern ist NRW das schlechteste
Land, das Land mit der geringsten Betreuungsquote.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Niedersachsen!)


Von daher macht es überhaupt keinen Sinn, dass in die-
ser Aktuellen Stunde von SPD-Seite im Zuge des Wahl-
kampfes in NRW versucht wird, etwas anderes darzu-
stellen.

Herr Schulz, Sie haben vorhin einen entsprechenden
Zuruf gemacht: Der Titel dieser Aktuellen Stunde lautet:
„Kitaausbau statt Betreuungsgeld“.


(Caren Marks [SPD]: Aber „statt“ nicht „und“!)


Das Thema Kitaausbau gehört also sehr wohl zu dieser
Aktuellen Stunde. Die Ministerin ist auch deutlich auf
die Kitaausbauzahlen eingegangen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Warum sagte sie nichts zum Betreuungsgeld?)


Von den zehn schlechtesten Landkreisen liegen fünf in
NRW; auch das will ich Ihnen noch einmal sagen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Und ganz viele in Niedersachsen! Schwarz-Gelb!)


Ich komme aus Bayern. Wir waren lange nicht gut,
aber jetzt sind wir hervorragend. Nichtsdestotrotz gibt es
auch hier noch viel zu tun. Aber wir in Bayern tun etwas.
Bei diesem Thema sind sehr wohl die Länder gefordert.
Ich kann mich noch an Diskussionen hier im Bundestag
erinnern, als es fraglich war, ob von Bundesseite hierfür
überhaupt Gelder zur Verfügung gestellt werden können,
weil es originäre Aufgabe von Ländern und Kommunen
ist, für den Kitaausbau zu sorgen. Trotzdem haben wir das
gemacht. Wir stehen zu unserem Wort, und wir stehen
dazu, dass wir die dafür nötigen Gelder zur Verfügung ge-
stellt haben, auch für die Erfüllung des Rechtsanspruchs
auf einen Platz ab 2013. Aber die Länder – gerade auch
die rot-grün-regierten Länder, Bremen, NRW, Rheinland-
Pfalz; die Ministerin hat es gesagt – machen eben nicht
ihre Hausaufgaben. Das finde ich traurig.

Ganz grundsätzlich noch zu dieser Debatte – ich habe
das vorhin schon gesagt –: Wir sollten aufhören, die ei-
nen Eltern gegen die anderen Eltern auszuspielen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir machen das doch nicht!)


Wir müssen uns auch von der Vorstellung verabschie-
den, dass Eltern, die ihre Kinder in die Kita geben, das
von 8 bis 18 Uhr tun müssen. Das können auch nur ein

paar Stunden sein. Dies ist eine Entlastung für die Eltern,
es ermöglicht eine bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf. Manche können sich etwas anderes auch gar
nicht leisten.

Alle Modelle sind nötig, und alle Modelle sollen ge-
lebt werden. Wir als Gesetzgeber sollten es wirklich tun-
lichst vermeiden, die einen gegen die anderen auszuspie-
len. Sie kennen meine Haltung zum Betreuungsgeld.

Ich sage Ihnen noch etwas: Auf Schuldenbergen kön-
nen keine Kinder spielen und erst recht nicht lernen. Ich
bin diejenige, die in der FDP-Fraktion darauf achtet, wo-
hin die Gelder fließen und wie sie ausgegeben werden.

Ich glaube, meine Skepsis gegenüber dem Betreu-
ungsgeld ist in diesem Hause hinlänglich bekannt. Von
daher brauchen Sie hier nicht ständig dazwischenzurufen
und herumzuschreien und sollten mich nicht angreifen.
Wir als FDP-Fraktion machen verantwortliche Politik:
Investitionen, da wo es nötig ist, auch in den Ländern,
auch für den Kitaausbau. Beim Rest müssen wir darauf
schauen, wie die Gelder ausgegeben werden. Meine
Skepsis gegenüber dem Betreuungsgeld ist bekannt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717808000

Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717808100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Das Betreuungsgeld ist eine durch und
durch unsinnige Maßnahme. Es ist letztlich nichts ande-
res als eine Kitafernhalteprämie und damit eine bil-
dungspolitische Katastrophe für viele Kinder in unserem
Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es ist eine gleichstellungspolitische Katastrophe, und
gerade die jungen Mütter wissen das auch ganz genau.
Der Spuk Betreuungsgeld muss so schnell wie irgend
möglich beendet werden.

Was macht Ministerin Schröder? Ministerin Schröder
lässt sich von der CSU auf der Nase herumtanzen. Ich
sage ganz klar: Diese Ministerin ist nicht meine Ministe-
rin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Meine auch nicht! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das muss sie auch nicht sein!)


Die Bundesregierung hat sich jahrelang um die echten
Probleme junger Eltern nicht gekümmert. Den Eltern
brennt auf den Nägeln, ob sie einen Kitaplatz für ihr
Kind finden; das ist doch die Frage der Wahlfreiheit im
echten Leben. Die Kitas haben ellenlange Wartelisten.





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


Die Eltern laufen sich die Hacken ab, um überhaupt ei-
nen Platz zu finden.


(Sibylle Laurischk [FDP]: Das ist in NRW so! Sie sprechen von einem einzigen Bundesland!)


Junge Eltern haben Angst, dass sie in ihren Beruf nicht
zurückkönnen, weil es an Kitaplätzen fehlt. Das – nicht
das Fehlen eines Betreuungsgeldes – sind die Probleme,
die Eltern im echten Leben haben. Die ganze Debatte
über Wahlfreiheit in diesem Zusammenhang ist einfach
nur absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


2013 tritt der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz in
Kraft – endlich tritt er in Kraft. Statt aber alles zu tun,
damit 2013 genügend gute Kitaplätze da sind, zankt sich
Schwarz-Gelb seit Monaten, ja seit Jahren über dieses
unsinnige Betreuungsgeld. Sie sind offensichtlich bereit,
1,2 Milliarden Euro jährlich dafür auszugeben. Das
nenne ich eine krasse Fehlinvestition.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Da hilft auch kein kleines Sofortprogramm, wie es die
Ministerin jetzt ankündigt. Dafür ist im Haushalt – da
muss man einmal hineinschauen – überhaupt kein Geld
vorgesehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen mehr Geld für den Kitaausbau, auch auf
Bundesebene. Wir brauchen dieses Geld schnell. Unsere
Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen das auch ganz ge-
nau. Sie wissen ganz genau, dass sich Betreuungsgeld
und Kitaausbau nicht gleichzeitig vernünftig finanzieren
lassen. In einer Emnid-Umfrage haben sich 80 Prozent
unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ganz klar dafür
ausgesprochen, die Mittel, die für das Betreuungsgeld
vorgesehen sind, in den Kitaausbau zu investieren. So
klug sollte auch die Bundesregierung sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es reicht eben nicht, liebe Kolleginnen, liebe Kolle-
gen von der FDP, vom Betreuungsgeld eigentlich nichts
zu halten, diesbezüglich ein bisschen skeptisch zu sein
und sich hinter „Wir sind jetzt vertragstreu“ zu verste-
cken. In Nordrhein-Westfalen rennt Christian Lindner
herum und schimpft bei jeder Gelegenheit auf das
Betreuungsgeld; aber im Bundestag – hier, wo es darauf
ankommt – hat er in namentlicher Abstimmung dafür-
gestimmt. In Nordrhein-Westfalen macht er einen Pseu-
dowahlkampf gegen neue Staatsschulden, und hier ist er
offensichtlich bereit, 1,2 Milliarden Euro für diesen
Unsinn auszugeben. Das nenne ich durchsichtig und
scheinheilig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sehen in den Bundesländern, wem es ernst ist mit
echter Wahlfreiheit und einem klaren Ja zum Kitaaus-
bau.


(Caren Marks [SPD]: Röttgen nimmt doch eh keiner ernst!)


In Nordrhein-Westfalen hat die damalige schwarz-gelbe
Landesregierung von 2005 bis 2010 keinen einzigen
zusätzlichen Cent aus dem Landeshaushalt in den Kita-
ausbau investiert. Die zusätzlichen Mittel, die von der
Bundesebene gekommen sind – unter anderem über die
Neuverteilung der Umsatzsteuerpunkte –, sind komplett
im Landeshaushalt versackt. Davon ist nichts in den Kita-
ausbau investiert worden. Das waren fünf komplett verlo-
rene Jahre für den Kitaausbau in Nordrhein-Westfalen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Erst Rot-Grün hat eine beispiellose Aufholjagd ge-
startet. Innerhalb von zwei Jahren wurden in Nordrhein-
Westfalen 50 000 zusätzliche Kitaplätze geschaffen.
Rot-Grün hat den Kommunen 400 Millionen Euro zu-
sätzlich zur Verfügung gestellt, damit sie direkt in den
Kitaausbau investieren konnten. Was hat die CDU ge-
macht? Die CDU hat in den Haushaltsberatungen im
Landtag NRW den entsprechenden Vorlagen nicht zuge-
stimmt, sondern sie dezidiert abgelehnt. Die NRW-CDU
hat ihre kitafeindliche Politik fortgesetzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Markus Grübel [CDU/ CSU]: Nein! Weil ihr keinen verfassungskonformen Haushalt vorlegen konntet!)


Und in Baden-Württemberg? In Baden-Württemberg
hat der Kitaausbau unter dem grünen Ministerpräsiden-
ten einen riesigen Schub bekommen. Die Landesregie-
rung stellt jetzt 330 Millionen Euro zusätzlich zur Verfü-
gung. Die Kommunen werden dadurch entlastet, dass die
Betriebskosten der Kitas jetzt zu 68 Prozent übernom-
men werden. Das ist die richtige Prioritätensetzung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist halt ein reiches Land, wo jahrelang gut regiert worden ist!)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, diese Zahlen ma-
chen eines ganz klar: Da vorn sitzen die Kolleginnen und
Kollegen, die ganz klar Ja sagen zum Kitaausbau und die
bereit sind, auch mehr dafür zu tun, und hier vorn sitzen
die, die faktisch doch Ja sagen zum Betreuungsgeld.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Und zum Ausbau der Kitas!)


Das ist die falsche Prioritätensetzung, und das sollte je-
der auch ganz klar wissen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717808200

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717808300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Laut Tages-
ordnung diskutieren wir über den Ausbau der Kinder-
betreuung und das Betreuungsgeld.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Nein, nein!)


Bei Ihnen liest sich das wie ein sehr klares Entweder-
oder.


(Caren Marks [SPD]: Da steht auch „statt“!)


Das ist der entscheidende Unterschied. Sie zeichnen ein
Bild, das schwarz-weiß ist, das leider nicht so wunder-
schön bunt ist wie heute die Jacke von Frau Marks.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Doch! Herr Tauber, Sie sind so ein Charmebolzen! Mir kommen die Tränen! – Weiterer Zuruf: Das ist ja zauberhaft!)


Wir haben in den letzten Jahren, im letzten Jahrzehnt
einen breiten gesellschaftlichen Diskurs darüber geführt,
was die Eckpunkte einer modernen Familienpolitik sind,
weil wir alle erkannt haben, dass die Rahmenbedin-
gungen in unserem Land nicht so waren, dass junge
Frauen, junge Eltern Familie und Beruf so vereinbaren
konnten, dass beide berufstätig sein konnten,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schön, dass Sie das auch endlich erkannt haben! Das hat ja lange genug gedauert bei den Konservativen!)


wenn sie es wollten oder wenn sie es mussten. Das ha-
ben wir auf den Weg gebracht.

Dazu hat für uns alle gehört, dass wir natürlich erheb-
liche Anstrengungen unternehmen, um den Ausbau der
Betreuungsplätze voranzutreiben. Auch da ist die Welt
nicht schwarz-weiß. Es gibt Kommunen und Landkreise,
wo der Bedarf gedeckt ist, wo es für jedes Kind den
gewünschten Betreuungsplatz gibt. Nun mag uns das
vielleicht nicht gefallen, dass es in einem föderalen Staat
sehr große Unterschiede in den Regionen, in den Län-
dern gibt. Aber anhand der Negativbeispiele zu sugge-
rieren, dass das ein in jeder Kommune anzutreffendes
Problem sei, wird der Sache auch nicht gerecht. Das ist
das Erste, was wir feststellen müssen: Es gibt regional
große Unterschiede, sogar zwischen den Kommunen in-
nerhalb eines Landkreises, in der Frage, ob es genug Be-
treuungsplätze gibt. Sie negieren diese Tatsache, indem
Sie hier ein Schwarz-Weiß-Bild zeichnen, das der Wirk-
lichkeit nicht gerecht wird.

Dann haben wir als Zweites festgestellt, dass wir den
Wunsch junger Paare ernst nehmen müssen, Familie,
Beruf, Betreuung so zu organisieren, dass es der Lebens-

wirklichkeit gerecht wird, nämlich so, dass hochqualifi-
zierte junge Frauen arbeiten gehen können, dass im
Zweifel – das wird beim Elterngeld deutlich – auch
junge Männer zu Hause bleiben und sich für eine
bestimmte Zeit dieser spannenden und verantwortungs-
vollen Aufgabe als Vater sehr gern stellen.

Dazu gehört am Ende des Tages auch, dass wir die
Rahmenbedingungen so setzen, dass junge Väter oder
junge Mütter für die ersten drei Lebensjahre des Kindes,
vielleicht sogar für länger, wenn sie es sich materiell
leisten können, entscheiden können: Ich mache das
selbst; ich mache das zu Hause.


(Caren Marks [SPD]: Das kann jeder machen! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Keiner hat etwas dagegen!)


Diese beiden Dinge sollen nebeneinanderstehen.

Sie sagen, dass Sie nichts dagegen haben. Aber die
Stoßrichtung Ihrer Politik, nämlich einseitig darüber zu
reden, dass es nur darum gehen kann, Betreuungsplätze
auszubauen, und dass es nicht darum gehen kann, die
Eltern zu unterstützen, die sagen: „Ich will das aber sel-
ber machen“,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann jeder machen!)


entlarvt die Aussage „Sie können es tun“ als ein Placebo,
als eine leere Worthülse.


(Caren Marks [SPD]: Das machen doch auch viele!)


Wenn das anders wäre, dann müssten Sie nämlich fra-
gen: Was tue ich für die jungen Väter, die sagen: „Ich
bleibe zu Hause“? Was tue ich für die jungen Mütter, die
sagen: „Ich bleibe zu Hause“?


(Caren Marks [SPD]: Elterngeld!)


Was tue ich für die Familienverbünde, in denen auch
Onkel, Tanten, Großeltern leben? Das gibt es in
Deutschland noch.


(Caren Marks [SPD]: Oh Gott!)


Das ist für Sie in Ihrer Lebenswirklichkeit vielleicht
fremd, aber das gibt es zuhauf, vor allem im ländlichen
Raum.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist die Mehrheit!)


Sie müssten also fragen: Was tun wir für diese Art von
Familienorganisation? Das ist die entscheidende Frage,
die wir uns in diesem Hause stellen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern
wir müssen beides tun:


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Betreuungsplätze bereitstellen und ausbauen und uns
fragen: Was machen wir für Familien, die selber be-
treuen wollen?


(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Genau das müssen wir nicht!)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


Hier sind die zentralen Unterschiede. Wir wollen fle-
xible und kluge Betreuungsangebote: von der Krippe
über die Kita, den Hort, die Ganztagsschule bis hin zu
Tagesmüttern. Sie sagen: Wir wollen, dass jedes Kind
nach dem ersten Jahr in die Krippe geht. – Das ist de
facto ein Krippenzwang für alle.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lächerlich!)


Wir vertrauen den Eltern und stellen nicht pauschal
die Erziehungskompetenz von Eltern infrage, wie Sie
das tun. Sie tun das immer wieder unterschwellig.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Tiefstes Niveau! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unmöglich, Herr Tauber!)


Wir vertrauen den Eltern. Wir glauben, dass die meisten
Eltern in diesem Land einen ziemlich guten Job machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dann wägen Sie ab – das ist das Schlimmste, was
man machen kann – zwischen einer professionellen Be-
treuung in einer Einrichtung und dem, was Eltern zu
Hause leisten.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Genau das machen wir nicht!)


– Frau Kollegin, Sie haben es gerade in Ihrer Rede getan.
Ich erinnere Sie an Ihre Frage, die Sie mir gestellt haben.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Wir wägen nicht dazwischen ab!)


Sie haben mich gefragt, welchen Qualifizierungsnach-
weis ich für diejenigen erbringe, die Betreuungsgeld er-
halten. Das sind die Eltern.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Das sind aber nicht die Eltern alleine! Das ist die Super-Nanny!)


Eltern brauchen keinen TÜV in diesem Land, auch wenn
Sie ihn einführen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Ihnen geht es nicht um die Eltern! Sie sagen die Unwahrheit!)


Es braucht keine Super-Nanny. Wir glauben: Eltern
können das. Eltern und Erzieher sind Partner im Erzie-
hungsprozess. Darum muss es gehen. Sie sind keine
Gegner; das muss man an dieser Stelle sagen. Das ist der
zentrale Unterschied zwischen Ihnen und uns.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Das ist unlauter!)


Wir sagen: Das Kind braucht beides: qualifizierte Er-
zieherinnen und gute Einrichtungen. Das Kind braucht
auch die Herzenswärme der Eltern. Wenn eines von bei-
den nicht vorhanden ist, dann haben die Kinder keine
gute Zukunft.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Das bestreitet niemand!)


Sie suggerieren, es allein über Einrichtungen zu errei-
chen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Schrecklich! Demagoge! Lügner!)


So funktioniert das nicht. So werden die Kinder nicht
glücklich groß in diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717808400

Herr Tauber!


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717808500

Deswegen haben wir an dieser Stelle eine sehr unter-

schiedliche Auffassung. Das können Sie zur Kenntnis
nehmen. Darüber können Sie sich ärgern. Das ist herr-
lich und freut uns, damit hier ein Unterschied deutlich
wird.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717808600

Herr Tauber!


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717808700

Frau Präsidentin, ich wollte zum Schluss kommen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717808800

Sie wollten zum Schluss gekommen sein.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717808900

Hervorragend.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717809000

Das Wort hat die Kollegin Caren Marks für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1717809100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Tauber,
ich komme zuerst zu Ihnen: Sie wollen anscheinend
nicht begreifen. Ihre Rede war schlichtweg unverschämt,
Ideologie pur. Gut, dass Sie wieder sitzen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Ministerin, auch Sie haben alle Erwartungen er-
füllt. Ihre Rede war leidenschafts- und bedeutungslos,
wie immer. Diese Rede gibt mir und den Tausenden
Recht, die den Aufruf „Nicht meine Ministerin!“ mit
großer Leidenschaft und aus voller Überzeugung unter-
schrieben haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ewa Klamt [CDU/CSU]: Und Sie sind peinlich wie immer!)


Die schwarz-gelbe Regierungskoalition irrlichtert
– anders kann man es nicht bezeichnen – seit Monaten





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


über die Frage, wie sie denn das Betreuungsgeld ausge-
stalten soll. Ursprünglich wurde ein Gesetzentwurf für
Ostern angekündigt. Nun soll er im Sommer vorgelegt
werden. Frau Schröder hat dazu erst gar nichts gesagt.
Das Bundesjustizministerium hat kürzlich verfassungs-
rechtliche Bedenken angemeldet. Interessant! Wen wun-
dert es da, dass die CSU, die das unsinnige Betreuungs-
geld auf Biegen und Brechen will, allmählich die Nerven
verliert und die Gäule mit ihr durchgehen; allen voran
Seehofer, Haderthauer und Dobrindt?


(Zuruf des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU])


– Herr Geis, von Ihnen rede ich erst gar nicht.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Hier ist sich die Regierungskoalition nach wie vor
nicht einig. 23 Bundestagsabgeordnete der CDU haben
bereits schriftlich angekündigt, gegen das Betreuungs-
geld zu stimmen. Mal sehen, wie ernst sie es mit ihrer
Ankündigung meinen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Glaube ich nicht!)


Die FDP – auch das haben wir gesagt – ist mit ihrer ab-
lehnenden Haltung im Recht. Sie bekommen die volle
Unterstützung. Die Zwischenrufe waren überwiegend
zustimmende Zwischenrufe. Die FDP ist bei diesem
Thema ein Wackelkandidat. Ich frage die schwarz-gelbe
Regierungskoalition: Wie wollen Sie eigentlich eine
Mehrheit für dieses unsinnige Projekt zustande bekom-
men?

Der seit Monaten öffentlich ausgetragene Streit über
den familienpolitischen Kurs der schwarz-gelben Koali-
tion macht deutlich, dass wirklich der letzte Rest an Ge-
meinsamkeiten innerhalb der Union und zwischen der
Union und der FDP aufgebraucht ist.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Ach ja! Ihnen fällt nichts Besseres mehr ein!)


Auch am Betreuungsgeld kann man den Zerfall dieser
Koalition ablesen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sind ja Luftblasen! Plattitüden!)


Schwarz-Gelb hat sich mit dem Betreuungsgeld ver-
rannt. Die Finanzierung ist nach wie vor ungeklärt. Meh-
rere Gutachten äußern verfassungsrechtliche Bedenken,
die noch nicht aus dem Weg geräumt sind.

Es ist Ihnen von Schwarz-Gelb nicht gelungen, die
Mehrheit der Bevölkerung für dieses absurde Projekt zu
gewinnen. Das Ergebnis des aktuellen Deutsch-
landtrends zeigt, dass gut zwei Drittel der Deutschen das
Betreuungsgeld ablehnen. Recht haben sie!


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Stimmt ja gar nicht! – Markus Grübel [CDU/CSU]: Und was sagen die unter 39-Jährigen?)


Wenn Herr Röttgen jüngst festgestellt hat: „Bedauerli-
cherweise entscheiden die Wähler“, sage ich Ihnen: Be-
dauerlicherweise können die Wählerinnen und Wähler

zurzeit über das Betreuungsgeld nicht entscheiden; denn
dann wäre das Projekt endgültig beerdigt, und das wäre
gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Studien belegen,
dass das Betreuungsgeld, das statt der Inanspruchnahme
eines Krippenplatzes gezahlt werden soll, bildungs-, in-
tegrations- und gleichstellungspolitisch definitiv in die
Sackgasse führt. Auch die Sachverständigenkommission
zum Gleichstellungsbericht hat von einem Betreuungs-
geld dringend abgeraten. Frau Ministerin, Sie hatten lei-
der noch nicht einmal den Mumm, diesen Bericht per-
sönlich in Empfang zu nehmen.

Ein breites Bündnis von Fachverbänden, Kinder- und
Jugendorganisationen, Gewerkschaften, Arbeitgeberver-
bände – Herr Hundt, meine Damen und Herren von
Schwarz-Gelb –, die evangelische Kirche – sie alle leh-
nen das Betreuungsgeld ab


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Die evangelische Kirche lehnt das überhaupt nicht ab! Gar nicht wahr!)


und fordern stattdessen, mehr in den Ausbau der Kitas
zu investieren. Recht haben sie! Auch aus Brüssel kom-
men im Übrigen klare Signale: Die Europäische Kom-
mission rügt das Betreuungsgeld als kontraproduktiv
und mahnt den weiteren Ausbau der frühkindlichen Bil-
dung an.

Herr Geis, und viele andere, die nicht begreifen wol-
len: Holzschnittartig reden Sie, die Befürworter des Be-
treuungsgeldes, von der Wahlfreiheit als Begründung für
dieses Nonsensprojekt.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das müssen gerade Sie sagen!)


Ich sage Ihnen: Eine echte Wahlfreiheit für Familien gibt
es in Deutschland erst dann, wenn ein bedarfsdeckendes
Angebot an Krippen- und Kitaplätzen zur Verfügung
steht und die Eltern dann die freie Wahl haben.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das machen wir doch!)


Denn darauf warten nach wie vor unzählige Familien.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


An die schwarz-gelbe Regierung und an die Koalition
gerichtet, sage ich: Verzichten Sie endlich auf eines der
absurdesten Projekte aller Zeiten. Investieren Sie statt-
dessen in den Ausbau von Kitas und Krippenplätzen. Al-
lein mit den circa 2 Milliarden Euro, die dieses unsin-
nige Betreuungsgeld kosten würde, ließen sich zirka
170 000 Krippenplätze zusätzlich finanzieren.

Schließen Sie endlich die „Baustelle Betreuungs-
geld“, die auch in Ihren eigenen Reihen täglich neuen
Ärger bereitet. Zahlreiche Familien warten auf eine mo-
derne Familienpolitik, die diesen Namen auch verdient.






(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717809200

Frau Kollegin.


Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1717809300

Die wird es mit Frau Schröder als Familienministerin

allerdings nicht geben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717809400

Die Kollegin Sibylle Laurischk hat jetzt das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1717809500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese

Debatte nimmt mittlerweile wirklich groteske Züge an.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Frau Kollegin Marks, wenn sich hier jemand verrannt
hat,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist es die Ministerin!)


dann Sie, das muss ich der SPD attestieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Sind Sie jetzt für das Betreuungsgeld?)


Sie sind wirklich nicht auf einem aktuellen Stand. Wir
diskutieren hier – das jetzt an die Zuhörerinnen und Zu-
hörer gewandt – über eine Frage, die im Bundestag nicht
mit einem Gesetzentwurf oder einer konkreten Initiative
verbunden ist. Das Ganze ist reiner NRW-Wahlkampf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sie wollen doch gar kein Betreuungsgeld!)


Solche Debatten machen nicht wirklich Spaß. Es
überzeugt niemanden, wenn Sie sich hier Fragen zuwen-
den, die ganz woanders gelöst werden müssen, nämlich
in den Bundesländern. Bei diesem Thema sind zweifels-
ohne die Bundesländer gefragt. Daher müssen uns unter-
schiedliche Entwicklungen in den Bundesländern schon
interessieren. Aber die Bundesregierung – und wir tra-
gen die Bundesregierung in diesem Punkt sehr klar – ist
auf dem Weg des Ausbaus. Daran gibt es überhaupt kei-
nen Zweifel. Das, was die Frau Ministerin heute darge-
stellt hat, war da sehr überzeugend.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich habe mich entschie-
den. Ich habe Wahlfreiheit ausgeübt – damals, als meine
Kinder klein waren und es noch keine Infrastruktur von
Betreuung gab, als es wirklich noch eine Entscheidung
war und ich auch aus dem Kollegenkreis gefragt wurde:
Haben Sie es eigentlich nötig, zu arbeiten? Ich hatte es
nicht nötig, aber ich wollte es, und zwar aus einem ganz
einfachen Grund. Ich hatte ein Studium hinter mich ge-

bracht und wollte die Kenntnisse, die ich dort erworben
habe, auch praktisch umsetzen und als Anwältin arbei-
ten. Gleichzeitig habe ich mich für drei Kinder entschie-
den. Und ich muss sagen: Es war die beste Entscheidung
meines Lebens, diese Kinder zu haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Beides zu verbinden, war die Herausforderung, der
ich mich dann gestellt habe. Insofern arbeite ich als Li-
berale an diesen Fragen seither auch politisch. Zunächst
einmal habe ich das auf kommunaler Ebene getan. Dort
ist dieses Thema auch weiterhin zu lösen.

In dem Landkreis, aus dem ich stamme, dem Ortenau-
kreis in Baden-Württemberg, hat sich gerade vor weni-
gen Wochen der Kreistag entschieden, in die Tagesbe-
treuung von Kindern noch mehr Geld hineinzugeben,
und zwar für den Ausbau der Tagesbetreuung durch das
Tagesmuttermodell. Damit steht dieses Modell gleichbe-
rechtigt neben dem Ausbau von Kinderbetreuung in In-
stitutionen – eine flexible Lösung; eine intelligente Lö-
sung; etwas, was mich überzeugt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist nämlich genau dafür gedacht, wirkliche Wahlfrei-
heit zu ermöglichen. Wir haben flächendeckend überall
dort, wo es notwendig ist, Kindergärten und Krippen-
plätze.

Übrigens habe ich in meinem Wahlkreis als Erste
– seinerzeit noch als Stadträtin – den Ausbau von Krip-
penplätzen für Kinder unter einem Jahr gefordert. Der
Gedanke dazu kam aus der Erfahrung mit der §-218-Be-
ratung, dass sich immer wieder Frauen wegen fehlender
Krippenplätze nicht für das Kind entscheiden können.
Deshalb haben wir gesagt: Wir wollen Krippenplätze,
damit sie sich für das Kind entscheiden können.


(Beifall bei der FDP)


Wer aber eine sehr individuelle Lösung befürwortet
und auch benötigt, weil er gleichzeitig den Beruf aus-
üben will, hat auch die Möglichkeit, mit Tageseltern zu
arbeiten. Das Tagesmuttermodell ist gerade für Frauen,
die beispielsweise in der Pflege arbeiten und am Wo-
chenende in der Pflegeeinrichtung oder im Krankenhaus
Dienst leisten, eine flexible Lösung. Sie haben jetzt in ei-
nem ganz erheblichen Ausmaß die Möglichkeit, auf das
Tagesmuttermodell zurückzugreifen. Dabei handelt es
sich um eine sehr individuelle Lösung, bei der ihre Kin-
der in kleinen Gruppen betreut werden.

Diese Möglichkeiten müssen wir entwickeln und in
den Fokus nehmen. Wir sollten hier keine Geisterdebat-
ten führen, wie es die SPD versucht, sondern uns ganz
konkret den Themen stellen, die anstehen.


(Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: Sie lenken ab!)


Wenn ich erlebe, wie junge Frauen jetzt ihr Leben or-
ganisieren – leider viel zu häufig ohne entsprechende
Unterstützung der Väter –, dann muss ich sagen, dass





Sibylle Laurischk


(A) (C)



(D)(B)


wir eben ganz unterschiedliche Lösungen brauchen. Und
da sind wir dran; überhaupt keine Frage.

Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum Thema
„Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“. Ich habe an dieser
Stelle vor wenigen Wochen erstmals darauf hingewie-
sen, dass ich meine Zweifel habe, ob der Bund überhaupt
für das Betreuungsgeld zuständig ist. Interessant ist, dass
es aus dem mit der CSU verbundenen Land, nämlich aus
Bayern, vorgeschlagen wird. Da muss man sich wirklich
fragen: Will jetzt ein Land eine Zuständigkeit an den
Bund abgeben, oder will es nur Geld vom Bund?


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Das ist eine Frage, die man sicherlich sorgfältig prüfen
muss unter der Überschrift: Ist der Bund überhaupt zu-
ständig?

Ich denke, dass diese Frage in der Bundesregierung sehr
sorgfältig geprüft wird. Deswegen hat sich unsere Bundes-
justizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch
schon zurückhaltend geäußert. Offensichtlich wird sie
im Familienministerium ebenfalls sorgfältig geprüft.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717809600

Frau Kollegin.


Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1717809700

Wir sind also mit sorgfältiger, passgenauer Arbeit an

den Themen dran. Krakeel ist dazu aber nicht nötig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717809800

Der Kollege Willi Brase hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1717809900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie
schimpfen auf die Bundesländer, weil diese angeblich
nicht genügend Geld ausgegeben haben. Darüber darf
man sich eigentlich nicht wundern; denn gleichzeitig
nimmt diese Regierungskoalition den Ländern und den
Kommunen Geld weg, zum Beispiel durch die Hotel-
steuer. Das Ganze ist also nicht ganz so einfach, wie Sie
das hier darstellen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will etwas zur Kritik an NRW sagen. Es war die
Regierung Rüttgers, die 2008 keine Mittel und 2009 nur
wenig Mittel für den U-3-Ausbau abgerufen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die neue Regierung hingegen, die am Sonntag übrigens
bestätigt wird,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


hat massiv aufgerüstet. Sie hat wesentlich mehr Geld
eingestellt. Im Bundesdurchschnitt sind 63 Prozent ab-
gerufen worden, NRW liegt schon jetzt bei 74 Prozent.
Man sieht: Wenn man mit einem Finger auf andere zeigt,
dann zeigen die anderen Finger auf einen zurück.

Mein zweiter Punkt. Die Bundesregierung hat uns ei-
nen Bericht zur demografischen Entwicklung vorgelegt.
In diesem Bericht wird sehr deutlich beschrieben, dass
wir zukünftig eigentlich alle für eine positive Fachkräf-
teentwicklung brauchen: die jungen Frauen, die älteren
Frauen und die Jugendlichen. Wenn das so ist, wir aber,
statt Kitaplätze zu schaffen, Betreuungsgeld ausgeben
und die Frauen damit nicht in den Arbeitsprozess lassen,
dann wird deutlich: Sie haben ein falsches Familienbild.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Was ist das für ein Unsinn, den Sie hier erzählen?)


Ich frage mich vor allen Dingen: Warum verweisen Sie
auf einen Demografiebericht, der an dieser Stelle völlig
kontraproduktiv ist? Wenn wir dafür sorgen wollen, dass
die jungen Frauen teilhaben können, dann ist es falsch,
das Betreuungsgeld auf den Weg zu bringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Ablehnungsfront vom DGB bis hin zu Arbeitge-
bern ist eindeutig. Alle sagen: Wir brauchen die jungen
Menschen, die als Kinder rechtzeitig in die Kita gekom-
men sind, damit sie vernünftig gebildet werden, um in
der Schule Erfolg zu haben, und damit wir weniger
Schulabbrecher haben. Das ist ein Grund mehr, Nein zu
sagen.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Kinder, die ein Jahr alt sind! Um die geht es!)


Mir ist noch etwas aufgefallen. Es war die CSU, die
als Teil dieser Regierungsfraktion gesagt hat: Wir wollen
das Betreuungsgeld. Seitdem wird gestritten. Es ist eben
schon beschrieben worden, wie viele Abgeordnete aus
der Regierungskoalition dagegen sind, was die Umfra-
gen ergeben. Alles spricht dagegen. Deswegen überlegt
man sich: Wie können wir es schaffen, die 25 Gegnerin-
nen und Gegner des Betreuungsgeldes in der eigenen
Fraktion auf Linie zu bekommen? Nun gibt es auf ein-
mal den Vorschlag, die Erziehungsleistung von Müttern
älterer Kinder richtigerweise ein bisschen besser zu be-
werten. Aus 1,3 Milliarden Euro werden schnell 1,5 Mil-
liarden Euro oder 1,8 Milliarden Euro. Es werden also
zusätzlich 3 Milliarden Euro draufgesattelt, nur damit
man 25 Personen dazu kriegt, Ja zum Betreuungsgeld zu
sagen. Das hat nichts mit solider Haushaltsführung bzw.
Haushaltssanierung zu tun. Das ist unnütz ausgegebenes
Geld.


(Beifall bei der SPD – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Wenn man Erziehungszeiten bei der Rente anrechnet, das finden Sie unnötig ausgegebenes Geld?)


Ich will Ihnen sagen, wo man es besser einsetzen
könnte, zum Beispiel für die Kitas, das ist von vielen
Vorrednerinnen und Vorrednern sehr deutlich gesagt
worden. Man kann genauso gut überlegen, zum Beispiel





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)


junge Frauen mit Migrationshintergrund, von denen ge-
rade einmal 30 Prozent eine Ausbildungsstelle haben, zu
unterstützen. Warum geben wir das Geld nicht an der
Stelle aus? Wir wissen doch: Wir wollen sie, wir brau-
chen sie, sie sollen eine Zukunftschance haben. Geben
Sie hier mehr Geld aus. Das ist wesentlich besser ange-
legt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sie schläfern gerade Ihre Fraktion ein!)


In dem von Ihnen vorgelegten Demografiebericht ist
die Rede davon, dass es viele junge Menschen im Alter
zwischen 20 und 29 Jahren gibt, die keinen Berufsab-
schluss haben. Wo ist das Konzept der Bundesregierung?
Wo sind die Vorschläge, wie wir diesen Menschen – die
teilweise in Arbeit sind, teilweise nicht in Arbeit sind,
die das eine oder andere abgebrochen haben – helfen
können, gerade vor dem Hintergrund der von Ihnen ei-
gens entwickelten Fachkräfteinitiative im Zusammen-
wirken mit Gewerkschaften und Arbeitgebern? Es gibt
keine Vorschläge. Ich sage Ihnen: Nehmen wir das Geld
für einen Qualifizierungsfonds für die Facharbeits-
märkte, auch für den Bereich der personenbezogenen
Dienstleistungen. Das ist allemal besser als dieses unsin-
nige Betreuungsgeld. Was Sie jetzt machen, dient nur
dazu, die Partikularinteressen der CSU zu befriedigen.
So weit darf es im Bundestag und in der Regierung nicht
kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717810000

Der Kollege Norbert Geis hat jetzt das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717810100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich weiß nicht, warum wir in kürzester Frist
schon die dritte Aktuelle Stunde zum gleichen Thema
durchführen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit Sie endlich etwas dazulernen, Herr Geis!)


Wir haben doch nun wirklich genug gestritten. Nun ist es
auch genug! Ich meine, man sollte sich jetzt wirklich
einmal beruhigen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass
Sie daraus einen Kulturkampf, eine Art Glaubenskrieg
machen wollen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie! – Weiterer Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber es bleibt die Hoffnung, dass nach der NRW-Wahl
die Vernunft einkehrt, dass wir dann wieder vernünftig
miteinander reden und Gedanken austauschen können.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Das schaffen wir mit Ihnen nicht! – Caren Marks [SPD]: Mit Ihnen mit Sicherheit nicht!)


Ich hoffe, dass Sie dann wieder zuhören. Das vermisst
man ja völlig. Sie können überhaupt nicht mehr zuhören.


(Willi Brase [SPD]: Na, na, na!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CDU/
CSU-Fraktion will beides. Ich sage es noch einmal: Sie
will einen Ausbau der Kita- bzw. der Krippenplätze, und
sie will den Menschen unter die Arme greifen, die ihr
Kind nicht in eine Krippe geben, sondern die Erziehung
des Kleinkindes in den ersten drei Jahren selbst überneh-
men wollen. Was ist denn daran so falsch? Die Mehrheit
der Mütter in Deutschland will ihr Kind in den ersten
drei Jahren ja eben nicht in die Krippe geben.


(Caren Marks [SPD]: Nein, Herr Geis, Sie begreifen es nicht! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Hören Sie doch einmal zu. – Die Ergebnisse der Um-
fragen sind ganz klar:


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hätten Sie einmal Frau von der Leyen gefragt!)


Die überwiegende Mehrheit der 18- bis 39-Jährigen will
das Betreuungsgeld haben, weil sie ihr Kind nicht in die
Krippe geben will.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahrscheinlich alle aus dem Westen! Im Osten kenne ich niemanden! So ein Unsinn!)


Das müssen Sie doch respektieren. Das müssen Sie zu-
mindest einmal zur Kenntnis nehmen. Ich kann doch
über diese Mehrheit nicht einfach hinweggehen. Wir ha-
ben uns doch um den Willen der Eltern zu kümmern und
nicht um unsere eigenen ideologischen Vorstellungen.


(Caren Marks [SPD]: Da spricht der Chefideologe!)


So kann es doch nicht gehen. Das ist doch keine Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen den Ausbau der Krippen. Ich spreche von
Krippen, weil es nur um die Kinder von einem bis drei
Jahren geht. Bei denjenigen, die in den Kindergarten ge-
hen, ist das wieder eine ganz andere Frage. Die Eltern
von Kindern zwischen einem und drei Jahren haben die
Möglichkeit, ihr Kind in eine Kindertagesstätte bzw.
eine Krippe zu geben.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, das dürfen sie?)


Den Eltern, die das nicht wollen, die ihr Kind nicht in
eine Krippe geben wollen – das ist, ich wiederhole es
noch einmal, die Mehrheit im Land –, wollen wir mit
dem Betreuungsgeld unter die Arme greifen.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)



(Caren Marks [SPD]: Unter die Arme greifen, ja! Aber lassen Sie das Betreuungsgeld!)


Das kann doch so falsch nicht sein.

(Beifall bei der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was sagt denn Frau von der Leyen dazu? Fragen Sie einmal Ihre eigene Ministerin!)


– Hören Sie doch auf, dazwischenzurufen. Hören Sie
einmal zu.

Der Bund stellt 4 Milliarden Euro für den Bau von
Krippen zur Verfügung. Es ist wahr, dass Nordrhein-
Westfalen nicht in ausreichendem Maße Mittel abgeru-
fen hat.


(Caren Marks [SPD]: Schwarz-Gelb!)

– Hören Sie jetzt einmal zu. Sie werden gleich wieder
narrisch. – Es ist auch wahr, dass Bayern seinen Anteil
bereits zu 100 Prozent abgerufen hat.


(Caren Marks [SPD]: Und die Eigenmittel?)

– Das können Sie nachlesen: Der Anteil, den das Land
selber zu leisten hat, ist ebenfalls bereits zu 100 Prozent
bewilligt. Das ist ein kleiner Unterschied.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Richtig!)

Sie können den Bayern, die richtigerweise das Betreu-
ungsgeld haben wollen, nicht vorwerfen, sie seien gegen
den Ausbau des Krippenangebots. Das ist blank gelogen,
und das wissen Sie auch. Das ist die Unwahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Gisela Piltz [FDP])


Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Neben diesen
4 Milliarden Euro stellt der Bund jährlich 750 Millio-
nen Euro für den Betrieb der Krippen, die Kinder im Al-
ter zwischen einem und drei Jahren betreuen, zur Verfü-
gung. Ein Krippenplatz kostet insgesamt 1 000 Euro pro
Monat. Das ist ein gewaltiger Batzen Geld pro Monat.
Wenn es so ist – und so ist es –, dann kann ich doch nicht
sagen: Die anderen bekommen gar nichts. Diejenigen,
deren Kinder daheim bleiben, bekommen gar nichts.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Diejenigen, die ihre Kinder daheim erziehen, sollen gar
nichts bekommen? Sie sollen kein Betreuungsgeld be-
kommen?


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Führen Sie das doch in Bayern ein! Können Sie da gerne machen!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, 150 Euro
im Monat – das gebe ich zu – ist nicht allzu viel. Aber
das ist ein wichtiger Beitrag dazu, dass die Haushalts-
kasse in einer Familie stimmt. Das dürfen wir nicht über-
sehen.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Ach, das kommt gar nicht den Kindern zugute, sondern der Haushaltskasse? Alles klar!)


In Skandinavien, wo man auch Betreuungsgeld zahlt,
ist man großzügiger.


(Caren Marks [SPD]: Noch! Da sind die Sozialdemokraten alle dabei, es abzuschaffen!)


Die Norweger zahlen 400 Euro Betreuungsgeld pro Mo-
nat.


(Caren Marks [SPD]: Das haben auch konservative Knochen eingeführt!)


In Frankreich ist man viel großzügiger. Frankreich zahlt,
allerdings einkommensabhängig, monatlich ein Betreu-
ungsgeld in Höhe von 300 bis 750 Euro.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Norwegen schafft es gerade ab! – Caren Marks [SPD]: Norwegen schafft es gerade ab, Herr Geis!)


Was sagen Sie denn dazu? Halten Sie die Franzosen alle
für blöd? Das können Sie doch nicht ernsthaft behaup-
ten.


(Caren Marks [SPD]: Nein, die schaffen das gerade ab!)


Sie zahlen 300 bis 750 Euro pro Monat an Betreuungs-
geld.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Norwegen wird das gerade abgeschafft!)


Es ist nicht so, dass in Frankreich ausschließlich Kinder-
tagesstätten genutzt werden. Nur 11 bis 15 Prozent der
französischen Eltern bringen ihr Kind in die Krippe.
25 Prozent geben ihr Kind zu einer Tagesmutter. Beim
Rest übernehmen die Eltern, die Großeltern oder andere
Verwandte die Betreuung. So ist die Situation in Frank-
reich. Dort gibt es eine höhere Geburtenquote als in
Deutschland. Dies erwähne ich, weil dieser Punkt immer
so herausgestellt wird.

So kann die Diskussion nicht weitergehen. Sie müs-
sen sich auch einmal ansehen, was in anderen Ländern
geleistet wird. Ich meine, das wäre Grund genug, umzu-
kehren und vernünftig und in Ruhe über die Sache zu
diskutieren.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717810200

Die Kollegin Marianne Schieder hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1717810300

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer
außer der CSU will denn dieses Betreuungsgeld über-
haupt?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Niemand!)






Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)


Selbst dort, wo man Sympathien dafür hätte vermuten
können, wird der Vorschlag rundum abgelehnt. Ich war
vor ein paar Wochen beim Katholischen Deutschen
Frauenbund in Regensburg eingeladen. Thema Betreu-
ungsgeld: Ablehnung auf ganzer Linie.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Letzte Woche fand ein Gespräch mit Vertretern des Bun-
des der Deutschen Katholischen Jugend in Regensburg
statt. Auch dort herrscht vollkommenes Unverständnis
für das geplante Betreuungsgeld.

Von Talkshow zu Talkshow sehen Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen der CSU, schlechter aus. Ich konnte
den Auftritt von Herrn Kollegen Dobrindt bei Markus
Lanz verfolgen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Da haben Sie alt ausgesehen, Herr Generalsekretär.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Uschi Glas hat Sie nach allen Regeln der Kunst aus-
einandergenommen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie kommen herüber wie ein kleiner Bub, dem das Spiel-
zeug abhanden gekommen ist, aber nicht wie ein über-
zeugend argumentierender Generalsekretär der CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Noch interessanter – ich weiß nicht, wer es im RBB
verfolgt hat – war diese Woche die Sendung Klipp &
Klar. Dort hat ein CDU-Abgeordneter vergeblich ver-
sucht, seinen CSU-Kollegen vom Unsinn des Betreu-
ungsgelds zu überzeugen. Einzig die Vertreterin der Lin-
ken unterstützte die Idee der CSU.


(Widerspruch der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Das sind Koalitionen, liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage noch einmal allen Ernstes: Warum verharrt
die CSU so stur und vollkommen beratungsresistent auf
ihrer Forderung? Man will wohl darüber hinwegtäu-
schen, dass Bayern beim Ausbau der Kinderbetreuungs-
angebote Schlusslicht ist. Da hilft auch alles Schönrech-
nen nichts.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist wirklich nicht wahr!)


Der Freistaat hat massive Probleme, das Betreuungsan-
gebot für die unter Dreijährigen so auszubauen, dass es
der Nachfrage gerecht wird. Von der Erfüllung der ge-
setzlichen Vorgaben will ich erst gar nicht sprechen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das ist Unsinn, was Sie da erzählen! Schauen Sie sich einmal an, was Ihr Bürgermeister Ude in München macht!)


– Herr Dobrindt, nehmen Sie die schwarze Brille ab, und
lesen Sie einmal nach.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bayern liegt, was sein Ganztagsbetreuungsangebot be-
trifft, mit 5,9 Prozent neben Niedersachsen am Ende der
Liste.

Im ländlichen Raum geht die Angst um. Dort, wo es
aufgrund der demografischen Entwicklung weniger Kin-
der gibt, fragen sich die Bürgermeister, die bereits inves-
tiert haben, ob sie ihre Krippe aufrechterhalten können.
Dort, wo noch nicht investiert wurde, fragt man sich, ob
das Betreuungsgeld nicht etwa dazu führen wird, dass
man die Krippe gar nicht betreiben kann.

Ich wusste doch, dass Sie wieder mit Ihrer alten und
abgenutzten Geschichte aus München kommen werden.
Sie haben Angst vor Christian Ude. Sie haben Angst,
dass Sie die Landtagswahl verlieren werden.


(Beifall bei der SPD)


Das ist doch der Grund. Es ärgert Sie, dass Sie in Mün-
chen politisch keinen Fuß auf den Boden bringen.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Endlich haben Sie das erkannt!)


Es ist nicht wahr – es wird auch nicht wahr, wenn Sie es
jede Woche erneut erzählen –: München ist mit einem
Versorgungsgrad von 36 Prozent im Vergleich zum Wert
aller anderen alten Bundesländer Spitze. Der Durch-
schnitt liegt im Übrigen bei 15 Prozent.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sie finden dort keine Krippenplätze! Sie finden keine Kindergartenplätze in München! Das ist die Wahrheit!)


– Reden Sie doch nicht so dumm daher, Herr Dobrindt.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Für das Jahr 2011 hat die Stadt München knapp
430 Millionen Euro zum weiteren Ausbau der Kinderbe-
treuung in den Haushalt eingestellt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sie haben den Kitaetat im Haushalt dieses Jahr gekürzt! Um 20 Millionen den Bildungsetat bei Ihnen in München gekürzt! Das ist doch ein peinlicher Auftritt hier!)


Allein für den Krippenausbau hat die Stadt 2010 aus Ei-
genmitteln, also Einnahmen und Zuschüsse weggerech-
net, 69 Millionen Euro ausgegeben. Es kann doch nie-
mand bestreiten, dass das ein großartiges Engagement





Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)


ist. München hat im Gegensatz zu vielen anderen Städ-
ten in Deutschland eine außerordentliche Geburtenstei-
gerung zu verzeichnen. Das führt natürlich auch zu ei-
nem besonders großen Anstieg der Nachfrage. Natürlich
weiß auch die Stadt München, dass es noch viel zu tun
gibt. Also: Wenn Sie der Stadt München helfen wollen,


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ich habe das Gefühl, ich muss Ihnen helfen!)


wenn Sie dort jemals wieder einen Fuß auf den Boden
bekommen wollen, dann nehmen Sie das Geld, das Sie
in dieses Betreuungsgeld stecken wollen, und lassen Sie
uns gemeinsam die Betreuungsangebote ausbauen.

Noch etwas: Lesen Sie einmal die Studie, die die
Hanns-Seidel-Stiftung in Auftrag gegeben hat.


(Caren Marks [SPD]: Oh! – Michaela Noll [CDU/CSU]: Manche Redner kommentieren sich selbst! Ui, ui, ui!)


Diese Studie besagt nämlich, dass 80 Prozent der befrag-
ten Frauen in Bayern mehr Kindergärten, Kinderhorte
und Tagesmütter fordern,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


dass rund drei Viertel der Befragten einen stärkeren Aus-
bau der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren for-
dern und ebenso viele mehr Teilzeitarbeitsmöglichkeiten
für berufstätige Mütter und Väter fordern. Die Ergeb-
nisse dieser Umfrage sollten Sie zugrunde legen, nicht
die Ergebnisse der von Ihnen selbst in Auftrag gegebe-
nen Emnid-Umfragen. Das sind nämlich dieselben Um-
fragen wie die, die vom Focus in Auftrag gegeben wer-
den, nur mit anderen Ergebnissen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Wenn man Ihnen zuhört, dann weiß man, dass es einen guten Grund dafür gibt, dass die SPD in Bayern unter 20 Prozent ist!)


Lesen Sie also die Studien, die Sie selbst bezahlt ha-
ben. Wenn Sie die Ergebnisse ordentlich auswerten, wer-
den Sie nicht umhinkommen, festzustellen, dass es in
Bayern noch viel zu tun gibt und dass auch vonseiten des
Landes noch viel mehr getan werden muss, um ein or-
dentliches Angebot zu schaffen und Wahlfreiheit zu er-
möglichen.

Hören Sie auf, Christian Ude zu verunglimpfen!


(Lachen bei der CDU/CSU)


Frau Ministerin, sagen Sie nicht noch einmal, dass
Christian Ude irgendwann einmal den Rechtsanspruch
auf einen Kinderkrippenplatz infrage gestellt habe!


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Sie sind wohl von der Christian-Ude-Verteidigungstruppe!)


Das habe ich noch nie gehört, und das hat er auch nicht
getan. Bekämpfen Sie ihn politisch, wenn Sie verhindern
wollen, dass er Ministerpräsident wird.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Christian Ude ist ein Politikversager!)


Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717810400

Das Wort hat die Kollegin Ewa Klamt für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Jetzt wird es schwer, Frau Klamt!)



Ewa Klamt (CDU):
Rede ID: ID1717810500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Die SPD hat heute eine Aktuelle Stunde mit dem Titel
„Kitaausbau statt Betreuungsgeld“ auf die Tagesordnung
gesetzt.


(Caren Marks [SPD]: Das stimmt!)


Interessant! Im Jahr 2008 hat die SPD gemeinsam mit
der Union beschlossen


(Caren Marks [SPD]: Das stimmt nicht! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gezwungenermaßen! So sieht das aus!)


– ich zitiere –, dass „für diejenigen Eltern, die ihre Kin-
der von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-
treuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zah-
lung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt werden“
soll.


(Caren Marks [SPD]: Ja, „soll“!)


Frau Schieder und ihre Vorrednerinnen waren bei diesem
Beschluss dabei. Ich gehörte dem Bundestag damals
nicht an.


(Caren Marks [SPD]: Das waren noch Zeiten!)


Nachzulesen ist dieser Beschluss übrigens im Sozialge-
setzbuch VIII.

Heute, im Jahr 2012, sprechen wir über rund
1 350 000 ein- und zweijährige Kinder und deren Eltern.
All diese Eltern wollen ihren Kindern einen positiven
Start in das Leben ermöglichen. Jede dieser Familien hat
ihren eigenen Lebensentwurf, eine eigene Wertehaltung
und ganz spezifische Bedürfnisse; denn die Einheitsfa-
milie gibt es nicht.


(Gerd Bollmann [SPD]: Wollen wir auch nicht!)


Es ist unsere Aufgabe, positive Rahmenbedingungen zu
schaffen.

Das heißt zum einen, für Akzeptanz und Unterstüt-
zung für die Mütter und Väter zu sorgen, die nach der
Geburt eines Kindes schnell wieder arbeiten möchten;
denn sie erwarten zu Recht, dass es beim Krippenausbau
vorangeht. Dass der Bund seiner finanziellen Verantwor-
tung beim Ausbau gerecht geworden ist, ist mehrfach





Ewa Klamt


(A) (C)



(D)(B)


gesagt worden. 4 Milliarden Euro und damit ein Drittel
der Gesamtkosten hat der Bund übernommen.

Eine wichtige Randbemerkung: Das Geld ist immer
noch nicht von allen Ländern abgerufen worden, obwohl
dies ihre originäre Aufgabe ist. Es hakt also keineswegs
an der Unterstützung des Bundes, sondern an der Aus-
baugeschwindigkeit in einigen Ländern. Vor diesem
Hintergrund der Bundesregierung vorzuwerfen, sie
würde den Ausbau der Kinderbetreuung nicht ernst neh-
men, ist schlichtweg hanebüchen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich erwarte zum anderen aber ebenso Respekt für die
Entscheidung des Vaters oder der Mutter, welche selbst
ein oder zwei Jahre lang für ihr Kind sorgen wollen. Hier
sagt die SPD: Staatliche finanzielle Unterstützung kann
und darf es ausschließlich für den weiteren Krippenaus-
bau geben, und damit also ausschließlich für die Eltern,
die ihr Kind in eine Krippe geben. – Nun ist an dieser
Stelle die Frage schon berechtigt, warum Eltern, die ihr
Kleinkind selbst betreuen, sowie berufstätige Ehepaare
oder berufstätige Alleinerziehende, welche ihr einjähri-
ges Kind von einer Vertrauensperson betreuen lassen,
auf keinen Fall 100 Euro staatliche Unterstützung erhal-
ten dürfen.

Ich möchte mich in dieser Aktuellen Stunde auch ein-
mal direkt an die Eltern wenden: Haben Sie eigentlich
eine Vorstellung davon, was einige Oppositionskollegen
über Sie denken, die Sie Ihr ein- oder zweijähriges Kind
wahnwitzigerweise nicht in eine Krippe schicken?


(Caren Marks [SPD]: Jetzt kommen wieder die Unterstellungen!)


– Das ist alles täglich in der Presse nachzulesen. – Sie
stehen für ein Uraltbild von Familie und Erziehung. Sie
sollen eine Arbeitsmarktfernhalteprämie erhalten. Sie
verweigern Ihrem ein- oder zweijährigen Kind frühkind-
liche Bildung. – Wenn Sie, liebe Eltern, dann noch
100 Euro Unterstützung vom Staat für diese Zeit bekä-
men, dann, so wird erklärt, würden Sie eine „Verdum-
mungsprämie“ in Anspruch nehmen, anstatt Ihrem Kind
eine gute Kinderbetreuung – sprich: Krippenbesuch –
zukommen zu lassen.


(Caren Marks [SPD]: Frau Klamt, ist das gerade nicht ein bisschen erbärmlich?)


Kurzum: Sie verursachen eine „bildungspolitische Kata-
strophe“ für Ihr Kind.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: So ist es! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: „Bildungspolitische Katastrophe“ ist ein Zitat von Frau von der Leyen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich
wende mich jetzt explizit an Sie:


(Caren Marks [SPD]: Zitieren Sie einmal Frau von der Leyen!)


Hören Sie auf, mit Ihrer Wortwahl einen Großteil der
Eltern von Ein- und Zweijährigen in unserem Land zu
diskriminieren und schlechtzureden.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Wann denn? Wo denn? Wie denn?)


Wenn man nämlich am Ende des Tages alle ideologi-
schen Scheuklappen beiseitelässt,


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Weil Sie so ganz unideologisch sind! – Caren Marks [SPD]: Sprechen Sie mit Ihrem Spiegelbild? – Weitere Zurufe von der SPD: Oh!)


könnte die Erkenntnis auch sein: Entscheidend ist eine
gute Betreuungssituation für Kleinstkinder: in guten
Krippen, bei ihren Eltern, bei Großeltern oder bei Tages-
eltern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Und dabei sollten wir Familien umfassend unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Caren Marks [SPD]: Peinlich und unpassend!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717810600

Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1717810700

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und

Kollegen! Ich freue mich zunächst darüber, dass uns die
SPD heute eine weitere Gelegenheit bietet, über ein neu
zu schaffendes, ausgesprochen sinnvolles familienpoliti-
sches Instrument zu sprechen, nämlich über das Betreu-
ungsgeld. Danke für die Möglichkeit!


(Caren Marks [SPD]: Da haben Sie aber große Freude!)


Im Übrigen: Wenn Sie gehofft hatten, beim dritten Mal in
Ihren Reden besser und überzeugender zu werden, dann
darf ich Ihnen rückblickend auf diese Aktuelle Stunde sa-
gen: Das ist bedauerlicherweise nicht gelungen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Zweite, worüber wir heute dankenswerterweise
auch reden dürfen, ist der Ausbau der Kinderbetreuungs-
plätze.


(Caren Marks [SPD]: Statt Betreuungsgeld!)


Ich bin sehr froh über die ausgesprochen klaren Worte
unserer Familienministerin,


(Caren Marks [SPD]: Wenn das schon klar war!)


die sehr richtig gesagt hat: Der Bund gibt 4 Milliarden
Euro für eine extrem wichtige Aufgabe aus. – Diese Mit-
tel wurden bedauerlicherweise – ich bin hier im Gegen-
satz zu vielen anderen Kollegen ohne jede Häme – noch
nicht von allen Bundesländern in der verantwortungsvol-
len Weise abgerufen, dass sie den Familien und den Kin-
dern auch helfen. Völlig ohne Häme: Ich bedaure dies.





Daniela Ludwig


(A) (C)



(D)(B)


Weil ich nicht mit Fingern auf andere zeigen will
– ich habe heute ja gehört, dass das nicht erwünscht ist –,
schaue ich einmal erfreut nach Bayern. Liebe Frau
Schieder, Sie brauchen keinen Ude-Verteidigungsklub
zu gründen. Der Ude verdirbt uns in Bayern echt den
Schnitt. Das sage ich Ihnen einmal in aller Deutlichkeit.
München ist bei der Kinderbetreuung von unter Dreijäh-
rigen bedauerlicherweise grottenmäßig schlecht aufge-
stellt. Es ist schon klar: Wenn der Haushalt so beschei-
den ist, dann kann man die Prioritäten in Richtung
Kinderbetreuung auch nicht ordentlich setzen.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Spitzenreiter in den alten Bundesländern!)


Im Rest des Freistaates schaffen wir das auf hervorra-
gende Art und Weise. Wer anderes behauptet, lügt wider
besseres Wissen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)


Wir haben in den Gemeinden die Bedarfe abgefragt. Wir
schaffen es, diese Bedarfe zu decken. Bayern hat näm-
lich im Gegensatz zu anderen Bundesländern für die
Förderung des Krippenausbaus keine Deckelung im
Haushalt. Das heißt: Gemeinde stellt Antrag, Freistaat
zahlt. So einfach läuft das bei uns. Nehmen Sie sich ein
Beispiel daran. Herr Ude hat das mit der Kinderbetreu-
ung immer noch nicht geschafft. Dadurch verdirbt er uns
bedauerlicherweise den Schnitt. Es wird Zeit, dass in
München auch das ein Ende hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie können sich überlegen, wie Sie das in Ihren eige-
nen Bundesländern machen. Wissen Sie, wir haben die-
sen Streit nicht nötig. Wir machen nämlich beides in
souveräner Art und Weise. Ich will jetzt gar nicht auf die
Argumente eingehen, die dazu in den letzten beiden Ak-
tuellen Stunden schon ständig wiederholt wurden. Dass
Cem Özdemir, Frau Kraft und wie sie alle heißen die
Zwangskita für alle fordern, sei einmal dahingestellt.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Unglaublich ist so etwas!)


Das müssen Sie mit sich selber ausmachen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Mein Gott, sind Sie cool! Nehmen Sie mal die Hände aus den Taschen! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Vergessen Sie bitte Ihre gute Kinderstube nicht, falls
Sie eine hatten.

Wir reden von ein- bis zweijährigen Kindern, die ver-
mutlich noch gar nicht in die Kita gehen, sondern dort-
hin geschoben werden. So klein sind sie also noch. Da
erwarte ich schon so viel Einsicht, dass gesagt wird:
Jawohl, wir sind für die Kita für Kinder von den Eltern,
die sie brauchen oder wollen. Wir schaffen aber zugleich
für die Eltern einen Ausgleich, die das selbst privat in
der von ihnen gewünschten Form organisieren wollen.
Beides ist richtig.

Wir reden hier immerhin von zwei Dritteln aller
Eltern; das möchte ich hier schon einmal klargestellt
haben. Wir reden nicht von einer verschwindend kleinen
Minderheit, die völlig ahnungslos ist und davon nichts
versteht. Wir reden hier von zwei Dritteln der Eltern, die
sagen: Ich kann es mir nicht vorstellen, mein ein- oder
zweijähriges Kind außerhäusig betreuen zu lassen. Ich
mache das selbst, oder das macht die Großmutter oder
die Tante, wie auch immer. – Was spricht dagegen, die-
sen Eltern 150 Euro im Monat zu geben? Das ist doch
sowieso nicht viel. Auch das möchte ich hier sagen.

Ich will auch nicht darüber reden müssen: Wie ver-
wenden die Eltern das Geld? Wo landet dieses Geld? Es
ist doch beschämend, den Eltern zu unterstellen, sie
könnten nicht mit Geld umgehen und sie würden es nicht
für ihre Kinder einsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Niemand von uns hat das gesagt!)


Ich muss ganz ehrlich sagen: Es mag diese Fälle geben.
Aber diese Fälle ereignen sich wiederum nicht bei der
Mehrheit, sondern nur bei einer Minderheit. Über diese
Fälle werden wir uns im Rahmen anderer Gesetz-
gebungsverfahren unterhalten müssen, aber nicht beim
Thema Betreuungsgeld.

Lassen Sie die Eltern selber entscheiden, wie sie das
gerne haben möchten. Lassen Sie sie die Betreuungs-
form in den ersten zwei und drei Jahren der Kinder
selber wählen. Ich glaube, das ist ein richtiger Weg. Nur
damit ist Wahlfreiheit gewährleistet. Wir machen beides:
Wir anerkennen das, was die Eltern selber an Erzie-
hungsleistung erbringen, und wir schaffen für diejeni-
gen, die berufstätig sein wollen oder müssen, die Mög-
lichkeit, ihre Kinder in eine gute und qualitativ
hochwertige staatliche Betreuung zu geben.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Auch diese Eltern erziehen ihre Kinder! Auch diese erbringen eine Erziehungsleistung!)


Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717810800

Damit schließe ich die Aussprache. Die Aktuelle

Stunde ist beendet.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera-
tion Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Na-
tionen (VN) von 1982 und der Resolutionen
1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008)
vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Oktober
2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008, 1851





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)



(2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009)

vom 30. November 2009, 1950 (2010) vom
23. November 2010, 2020 (2011) vom 22. No-
vember 2011 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des
Rates der Europäischen Union (EU) vom 10.
November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012

– Drucksachen 17/9339, 17/9598 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)



(8. Ausschuss)


– Drucksache 17/9599 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

Über die Beschlussempfehlung werden wir später
namentlich abstimmen. Zudem liegt ein Entschließungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Stunde
zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Burkhardt Müller-Sönksen für die FDP-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Rede ID: ID1717810900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die öffentliche Debatte in den letzten Tagen um
die Fortsetzung des Atalanta-Mandats fokussierte sich
ausschließlich auf die zusätzlichen Wirkungsmöglich-
keiten am somalischen Strand. Diese Debatte ist ohne
Frage wichtig, aber wir sollten nicht aus den Augen ver-
lieren, dass es sich hierbei lediglich um die Öffnung ei-
ner Zusatzoption handelt. Der Kern der Mission ist und
bleibt die Pirateriebekämpfung auf See und der Schutz
der Schiffe des Welternährungsprogramms.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Mission Atalanta ist ein großer Erfolg. Die Zahl
der erfolgreichen Kaperungen ist weiter gesunken, und

alle Schiffe des Welternährungsprogramms haben unbe-
schadet die somalischen Häfen erreicht. Unser Dank gilt
hierfür den deutschen Soldaten, die mit ihren internatio-
nalen Partnern hervorragende Arbeit geleistet haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Aber – das sage ich hier ganz offen – wir werden das
Problem Piraterie nicht alleine mit militärischen Mitteln
lösen können. Wir setzen daher auf verstärkte Kontrolle
der illegalen Geschäfte und Geldströme in der Region
und den weiteren Aufbau der somalischen Polizei. Wir
stärken die Justiz mit dem Ziel, dass die Somalis immer
stärker auch selbst gegen die Piraterie vorgehen können.


(Rainer Erdel [FDP]: Eine Schande!)


Für die angekündigte Ablehnung des Mandats durch
die SPD habe ich gerade als Hamburger Abgeordneter
kein Verständnis. Deutschland befindet sich als export-
orientierte Nation in einer besonderen maritimen Abhän-
gigkeit. Wenn wir der Piraterie nicht entschieden begeg-
nen, schaden wir der Leistungsfähigkeit unserer Volks-
wirtschaft, der deutschen und europäischen, in großem
Maße.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel forderte im
März dieses Jahres in seiner Grundsatzrede bei den
Petersberger Gesprächen Folgendes – ich zitiere mit Er-
laubnis der Präsidentin –:

Törichte Alleingänge … dürfen wir uns in Zukunft
nicht leisten.

… Auch wenn es schwer fällt, müssen wir bereit
sein …, auch im sicherheits- und verteidigungspoli-
tischen Bereich Schritt für Schritt Souveränität ab-
zugeben.

Ihr Vorsitzender wirbt für den gemeinsamen europäi-
schen Weg. Sie aber verlangen von uns im Bundestag,
dass wir uns in der Ausgestaltung des Mandats Atalanta
gegenüber unseren europäischen Partnern isolieren.
Diese Doppelzüngigkeit der SPD zeigt ein weiteres Mal,
dass eben nur die schwarz-gelbe Koalition verlässliche
Politik für die maritime Wirtschaft macht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rainer Erdel [FDP]: So sieht das aus!)


Aber die Pirateriebekämpfung ist nicht nur eine Frage
der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Wir stehen
auch in der Verantwortung, für den Schutz der Besatzun-
gen Sorge zu tragen. Ich begrüße daher sehr, dass die
Reeder in den letzten Monaten ihre Möglichkeiten ge-
nutzt haben, und mit dem Maritimen Koordinator der
Bundesregierung, Hans-Joachim Otto, bringen wir einen
Gesetzentwurf zum Einsatz privater Sicherheitsdienste
auf den Weg. Wir schaffen damit eine klare gesetzliche
Grundlage und ermöglichen den Reedern in noch größe-
rem Maße, selbst für die Sicherheit ihrer Besatzung an
Bord tätig zu werden.





Burkhardt Müller-Sönksen


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: So machen wir das!)


Die Mission Atalanta ist ein Erfolg. Sie ist ein Erfolg
für die somalische Bevölkerung, die wir nicht mit dem
Problem der Piraterie alleinlassen wollen. Atalanta leis-
tet zudem einen essenziellen Beitrag zur Erhöhung der
Sicherheit der Seehandelswege.

Für diese wichtige Arbeit und die Verlängerung des
Mandats in der zum Beschluss stehenden Ergänzung bit-
ten wir Sie um Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717811000

Das Wort hat der Kollege Dr. Gernot Erler für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1717811100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Schon in der Debatte vom 26. April bei der ersten Bera-
tung zu diesem Mandat haben wir von der Regierungs-
seite gehört, es gebe ein großes Interesse daran, den
Konsens über die Mission Atalanta möglichst breit auf-
rechtzuerhalten. Ich stelle fest: Diese Behauptung ist in
keiner Weise glaubwürdig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf jeden Fall haben Sie alles getan, um uns eine
Zustimmung zu dem geänderten Mandat unmöglich zu
machen. Ich nenne einige Punkte.

Erstens. Sie haben vor der Vorlage des Mandats un-
sere früh geäußerten Bedenken einfach weggewischt und
keine Beteiligung der Opposition gesucht.

Zweitens. Sie haben völlig ohne Not das komplette
Atalanta-Mandat, das eigentlich bis Ende dieses Jahres
Gültigkeit hat, mit der entsprechenden Erweiterung neu
zur Abstimmung gestellt. Gleichzeitig spielen Sie die
Bedeutung dieser Erweiterung herunter und sagen, sie
enthalte qualitativ nichts Neues und stelle nur eine kleine
zusätzliche Handlungsoption dar. Wenn das der Fall ist,
wenn es eine Erweiterung von geringster Bedeutung ist,
warum um Gottes willen lassen Sie dann im Bundestag
fünf Monate später schon wieder über das volle Mandat
abstimmen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Taktik ist durchschaubar. Das Kalkül ist, dass
zum Beispiel die SPD-Fraktion, die im Dezember 2011
nahezu einstimmig für die Fortsetzung von Atalanta ge-
stimmt hat, jetzt wegen einer solchen Kleinigkeit ihre
Zustimmung wohl nicht versagen werde. Auf diese Klei-
nigkeit komme ich noch zurück. Aber schon jetzt kann
ich Ihnen versichern: Dieses Kalkül geht nicht auf. Wenn
Sie nur über die Mandatserweiterung hätten abstimmen

lassen, wäre es bei der wünschenswerten breiten Zustim-
mung zum laufenden Atalanta-Mandat geblieben. Dafür,
dass das jetzt nicht so bleibt, tragen Sie die alleinige Ver-
antwortung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt noch einen dritten Punkt in Sachen Glaubwür-
digkeit Ihres Wunsches nach breiter Unterstützung.
Noch bevor wir unsere internen Beratungen abgeschlos-
sen hatten, wurden wir mit der Unterstellung aus Ihren
Reihen konfrontiert, die SPD nehme die nun anstehende
Atalanta-Abstimmung zum Anlass, um sich insgesamt
aus der Verantwortung für internationale Missionen zu
verabschieden, nach dem Motto „erst Atalanta und dann
Afghanistan“, und das aus wahltaktischen Gründen. Nach
all der Arbeit und dem Engagement, das wir in der Ver-
gangenheit gerade in solchen Fällen investiert haben – ich
erinnere an die großen Anstrengungen, die notwendig
waren, um gemeinsam zu einem verbindlichen Fahrplan
für Afghanistan zu kommen, und an die Tatsache, dass
wir uns in der Öffentlichkeit zur Unterstützung der nun
in Rede stehenden Mission bekannt haben, wohl wis-
send, dass das unpopulär ist –, erfüllen Ihre Unterstellun-
gen den Tatbestand der üblen Nachrede.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auf jeden Fall wird keiner behaupten können, das, was
Sie gemacht haben, seien Bemühungen gewesen, den
Konsens in Sachen Piratenbekämpfung vor der somali-
schen Küste aufrechtzuerhalten.

Jetzt zur Mandatserweiterung. Herr Verteidigungs-
minister, bei der ersten Lesung haben Sie hier die These
aufgestellt – ich darf das wörtlich zitieren –: „Eine Op-
tion mehr ist besser als eine Option weniger. So einfach
ist das.“ Ich teile diese These nicht. Wenn das so einfach
wäre: Warum ringen wir dann eigentlich bei jeder militä-
rischen Mission im Ausland so intensiv um Details, bis
hin zu den Rules of Engagement? Es gibt durchaus Op-
tionen, die man besser nicht hat, und zwar dann nicht,
wenn sie bestimmte Grenzüberschreitungen darstellen
bzw. ermöglichen, die letztlich nicht zu mehr Erfolg,
wohl aber zu mehr Risiko führen, oder wenn sie politi-
sche Komplikationen heraufbeschwören, die wir nicht
haben wollen. Deswegen ist es unsere Pflicht, jede zu-
sätzliche Option genau zu prüfen und gegebenenfalls in-
frage zu stellen.

Warum lehnen wir nun die zusätzliche Option, an
Land befindliche Ausrüstung von Piraten aus der Luft zu
zerstören, ab? Ich will mich hier auf zwei Gründe be-
schränken. Diese Mandatserweiterung macht sich von
Luftaufklärung abhängig und damit von deren Zuverläs-
sigkeit. Ich frage Sie: Was muss eigentlich noch passie-
ren, um bei Ihnen Zweifel an einer solchen Abhängigkeit
aufkommen zu lassen? Haben Sie verdrängt, wie oft es
in vergleichbaren Situationen zu tragischen und politisch
verheerenden Fehlbeurteilungen gekommen ist? Wie oft
ist das im Kosovo-Krieg der Fall gewesen, der allein aus
der Luft geführt wurde? Wie war das in Afghanistan, wo
manchmal – nicht nur einmal – Hochzeitsgesellschaften,
bei denen Freudenschüsse in die Luft abgegeben wur-





Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)


den, mit Aufständischen verwechselt wurden? Offenbar
haben Sie auch verdrängt, in welch tragische Verstri-
ckung uns der Fall Kunduz gebracht hat, in dem es eine
ähnliche Abhängigkeit von der Luftaufklärung gab.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Natürlich wissen wir, dass es nicht vorgesehen ist, Perso-
nen aus der Luft anzugreifen. Aber wir weigern uns, die
Erfahrungen zu verdrängen. Deswegen werden wir einer
Missionserweiterung mit einer so gefährlichen einseiti-
gen Abhängigkeit von der Luftaufklärung kein grünes
Licht geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt einen anderen, ebenso wichtigen Punkt. Bis-
her hat die Bundesregierung den Anschein erweckt, je-
der Einsatz von Bodentruppen im Rahmen des Atalanta-
Mandats sei ausgeschlossen. Seit gestern wissen wir
mehr. Kleinlaut musste die Bundesregierung zugeben,
dass unter bestimmten Voraussetzungen einzelne Natio-
nen durchaus Bodentruppen entsenden können, wenn
auch formal nicht im Rahmen der Atalanta-Mission.
Sollte es dabei zu irgendwelchen Komplikationen kom-
men, glaubt doch keiner, dass dann die deutsche Selbst-
beschränkung, das deutsche Caveat, noch hält. Dann
sind wir mittendrin, ob wir wollen oder nicht. Das kann
schon passieren, wenn ein Hubschrauber über Land in
Not gerät, er notlanden und man dann die Besatzung ret-
ten muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber das bedeutet, dass die Mandatserweiterung ge-
nau zu diesen politischen Komplikationen führen kann,
die wir unbedingt vermeiden wollen. Was wir am we-
nigsten brauchen, ist eine Solidarisierung in Somalia mit
den Piraten. Wir brauchen genau das Gegenteil. Was ist
eigentlich, wenn die in eine solche Auseinandersetzung
Verwickelten Schutz suchen, womöglich noch bei den
Al-Schabab-Milizen?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Gerade nach dem, was wir gestern über mögliche
Landoperationen anderer Staaten erfahren haben, sagen
wir mit Nachdruck: Diese Mandatserweiterung führt zu
begrenzten zusätzlichen Möglichkeiten bei der Piraten-
bekämpfung, immer vorausgesetzt, dass die Piraten nicht
lernfähig sind, aber zu entgrenzten Risiken, was unsere
Ziele in Somalia angeht. Um es ganz klar zu sagen: Die
SPD steht weiter voll hinter der bisherigen, laufenden
Atalanta-Mission, aber wir sind nicht bereit, zu einem
solchen unverantwortlichen Schritt unsere Zustimmung
zu geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wohl aber – und damit möchte ich schließen – sind
wir bereit und warten darauf, mit Ihnen über andere Ini-
tiativen zu reden. Wir müssen endlich verhindern, dass
gerade festgesetzte Piraten an Land postwendend wieder

freigelassen werden, weil es immer noch keine interna-
tionale Strafverfolgungsmöglichkeit gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind dabei!)


– Ja, aber es geht nicht vorwärts. – Es muss auch gelin-
gen, mehr als bisher dem gar nicht in Somalia ansässigen
Pirateriegeschäft auf die Fersen zu kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Noch immer reichen die internationalen Bemühungen
nicht aus, Somalia, diesen geschundenen, gescheiterten
Staat, endlich zu befrieden und dort Staatlichkeit und
Ordnung wieder herzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dafür lohnen sich zusätzliche Anstrengungen, und das
sind unsere Vorschläge für sinnvolle zusätzliche Bemü-
hungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717811200

Der Kollege Florian Hahn spricht jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1717811300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Im November 2008 hat die EU im Rah-
men ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
mit Atalanta eine sehr erfolgreiche Operation zur Be-
kämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias ins Le-
ben gerufen. Getragen von einem breiten, parteiübergrei-
fenden Konsens, wurde diese gemeinsame Aktion schon
dreimal verlängert bzw. erweitert. Auch heute steht wie-
der eine weitere Anpassung des Mandats zur Abstim-
mung, die wir ganz im Sinne unserer bisherigen Politik
befürworten. Mit der Anpassung des deutschen Mandats
für Atalanta wollen wir den Konsens unter den teilneh-
menden Staaten stärken und somit ein Signal zum
weiteren Ausbau der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik der EU geben. Wir wollen die
Handlungsfähigkeit der Operation sicherstellen und errei-
chen, dass sich deutsche Streitkräfte auch nach dem Be-
schluss der europäischen Außenminister vom 23. März
dieses Jahres in vollem Umfang an der Operation Ata-
lanta beteiligen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Letztlich geht es uns auch darum, dass diese Operation
weiterhin ein Erfolg bleibt; denn Atalanta ist ein Erfolg
für die GSVP und für das Horn von Afrika. Da werden
mir sicherlich auch die Kollegen der SPD und der Grü-
nen zustimmen.

Bislang hat Atalanta mehr als 130 im Auftrag des
Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffstrans-
porte sicher an ihre somalischen Zielhäfen geleitet und





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


damit einen wichtigen Beitrag zur Versorgung der hun-
gerleidenden somalischen Bevölkerung geleistet. Die
Operation konnte dazu beitragen, dass der für die inter-
nationale Schifffahrt so wichtige und bedeutende Golf
von Aden durch die Anwesenheit ihrer Marineschiffe er-
heblich sicherer geworden ist. Wir möchten mit dieser
Mandatsanpassung die Laufzeit von Atalanta bis Mai
2013 verlängern, damit die Operation auch weiterhin so
erfolgreich sein kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der deutsche Beitrag zu Atalanta war bisher engagiert
und umfangreich. Seit Beginn der Beteiligung an der
Operation stellt Deutschland stets mindestens eine Fre-
gatte oder einen Einsatzgruppenversorger, ein zur Pirate-
riebekämpfung ausgerichtetes Fähigkeitspaket, in Dschi-
buti stationiertes Unterstützungspersonal sowie Soldaten
in den Hauptquartieren. Für diesen Einsatz gebührt unser
Dank den deutschen Soldaten, die immer sehr besonnen
ihre Arbeit ausführen. Wir wünschen ihnen weiterhin al-
les Gute und Gottes Segen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deutschland hat sich durch dieses Engagement in der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
EU als zuverlässiger Partner erwiesen. Das soll mit uns
auch in Zukunft so bleiben, insbesondere da es sich bei
der anstehenden Anpassung des Atalanta-Mandats nicht
um eine neue Qualität des Mandats handelt. Es geht
nicht darum – wie von der Opposition oft beschrieben
und in wilden Szenarien farbig dargestellt –, die Kämpfe
an Land zu tragen, sondern darum, es gar nicht erst zu
Kämpfen auf See kommen zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn die EU-Operation in Zukunft bis zu einer Tiefe
von maximal 2 Kilometern ins Land hinein gegen logis-
tische Einrichtungen der Piraten am Strand vorgehen
kann, wird die Handlungsfähigkeit der Piraten weiter
eingeschränkt, und es wird verhindert, dass diese vor den
Küsten Somalias gesucht und aufgebracht werden müs-
sen. Somit entspricht es der Logik des Einsatzes, diese
defensive, abschreckende Wirkung der Operation weiter
zu stärken, indem wir ein eindeutiges Signal an die Pira-
ten senden: Wir werden Akte der Piraterie bereits im
Keim ersticken!

Man kann eben nicht – wie die SPD in der letzten Le-
sung oder auch jetzt gerade angeklungen – Nein zu die-
ser Anpassung des Mandats und Ja zum Kampf gegen
Piraterie auf See sagen.


(Zurufe von der SPD)


Ein Opt-out, ich nenne es einfach einmal Rosinenpicke-
rei, ist hier nicht möglich. Die Bekämpfung der Piraterie
auf See und der logistischen Einrichtungen der Piraten
an den Stränden sind zwei Seiten derselben Medaille.
Deshalb wird hier auch keine Mandatserweiterung zu-
sätzlich zur Abstimmung gestellt, sondern es wird im
Paket entschieden. Ein Nein zu dieser Ausweitung ist
und bleibt ein Nein zu der gesamten EU-Operation.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, hier geht es um Verantwortung, um Ihre Mitverant-
wortung gegenüber den deutschen Soldatinnen und Sol-
daten, unseren Partnern in der EU und letztlich auch
gegenüber der Kontinuität unserer Außenpolitik. Wenn
Sie diese Anpassung nicht mittragen möchten, geht das
auch zulasten unserer Bündnisfähigkeit in der EU. Es ist
nämlich auch ein Wert der deutschen Außen- und Si-
cherheitspolitik an sich, dass Deutschland ein verlässli-
cher Bündnispartner ist. Mit einer Ablehnung des Man-
dats stellen Sie die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit
des deutschen Beitrags nicht nur an der Operation Ata-
lanta, sondern an der gesamten GSVP infrage.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein zu
hoher Preis dafür, dass die SPD mit einer Ablehnung von
Atalanta in Wahrheit Piratenbekämpfung in Deutschland
betreibt.


(Widerspruch bei der SPD)


Mir ist schon klar, dass Ihre Fraktion langsam nervös
wird, nachdem Sie bei den letzten beiden Landtagswah-
len weit weg von den eigenen Erwartungen lagen und
immer hinter der CDU gelandet sind.

Bei der anschließenden Abstimmung sollten aber aus-
schließlich außenpolitische Erwägungen maßgeblich
sein. Dieses Thema ist zu wichtig, um es dafür zu miss-
brauchen, der Regierung – wie zitiert – „mal klare
Kante“ zu zeigen. Ich bedaure es deshalb sehr, dass of-
fensichtlich der Fraktionsvorsitzende Steinmeier und der
Parteivorsitzende Gabriel nicht genügend Kraft hatten,
um zumindest eine Enthaltung der SPD zu erwirken. Der
bisherige fraktionsübergreifende Konsens zum Atalanta-
Mandat sollte nicht aus parteitaktischen Überlegungen
zur Disposition stehen.


(Zuruf von der SPD: Das ist so billig!)


Dies sind wir alle den deutschen Soldatinnen und Solda-
ten schuldig, die im Rahmen von Atalanta ihren Dienst
tun. Daher stimmen wir für die Anpassung des Mandats.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717811400

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Christine

Buchholz.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717811500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

Bundesregierung sagt, Atalanta sei erfolgreich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Henning Otte [CDU/CSU]: Frühe Einsicht!)


Ich frage: Wenn Atalanta so erfolgreich ist, warum dann
die Ausweitung? Nein, die Ausweitung ist Ergebnis des
Misserfolgs. An Land soll nun das erreicht werden,





Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)


wozu der Marineeinsatz auf See nicht fähig ist; aber das
ist ein fataler Trugschluss.

Die Regierung sagt, es gehe nur darum, Boote, die un-
bewacht am Strand lägen, und Piratenlogistik zu zerstö-
ren. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Pira-
ten immer ihre Taktik an neue Bedingungen angepasst
haben. Nichts ist einfacher für die Piraten, als beispiels-
weise Geiseln in ihren Camps zu platzieren. Und was
dann?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Tja! – Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Geben Sie doch noch ein bisschen mehr Bedienungsanleitung zur Begehung!)


Herr de Maizière ging so weit, zu sagen – ich zitiere –:

Ob man ein Schiff auf dem Wasser, am Ufer oder
am Strand bekämpft, ist qualitativ das Gleiche …

Herr de Maizière, Sie verwischen hier bewusst die
Grenzen. Sie wissen genau, dass sich das Risiko erhöht,
in einen Krieg an Land hineingezogen zu werden, wenn
man anfängt, Ziele an der Küste zu beschießen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Was ist, wenn die 2 Kilometer nicht mehr ausreichen?
Stimmen wir dann das nächste Mal über 20 oder 200 Ki-
lometer ab? Wo ist das Ende?

Herr de Maizière hat in der ersten Lesung die Aus-
weitung der Atalanta-Mission folgendermaßen begrün-
det:

Es gibt auch ein hohes Risiko von Kollateralschä-
den beim Wirken auf See.

Entschuldigen Sie, was ist denn das für ein Argu-
ment? Herr de Maizière, was Sie „Kollateralschäden“
nennen, das nennen wir und das nennt die Bevölkerung
den Tod von Menschen. Zu Recht war „Kollateralscha-
den“ das Unwort des Jahres 1999.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Piratenjagd trifft immer wieder jene, die Sie an-
geblich schützen wollen. Der jüngste uns bekannte Vor-
fall ist dieser: Am 25. März legt ein jemenitisches
Fischerboot mit zwei toten Fischern an Bord an der
Küste Puntlands im Norden Somalias an. Ein nicht iden-
tifiziertes Kriegsschiff im Golf von Aden hatte die
Fischer für Piraten gehalten, zwei von ihnen wurden er-
schossen, und die übrigen Männer wurden festgesetzt.
Der tragische Tod dieser Fischer ist kein Kollateralscha-
den, Herr de Maizière; er ist ein Verbrechen.


(Beifall bei der LINKEN)


Er ist kein Einzelfall. Neben Atalanta finden noch an-
dere Militäroperationen vor dem Horn von Afrika und in
Somalia statt.

Ein Beispiel. Gumbah ist ein kleines Fischerdorf an
der Küste Puntlands. Die Bewohner von Gumbah muss-
ten am Abend des 16. Aprils entsetzt beobachten, wie
ein Kampfhubschrauber unbekannter Herkunft sieben
Raketen auf die Boote lokaler Fischer abschoss, die di-

rekt vor der Küste ihre Netze ausgeworfen hatten. Zwei
Boote wurden getroffen. Der Bürgermeister von Gum-
bah hat auf Nachfrage von Reportern bestätigt, dass dies
nicht der erste derartige Angriff war. Allein im letzten
Monat kam es zu drei weiteren Hubschrauberangriffen
dieser Art. Solche Vorgänge können von der Mission
Atalanta in Zukunft nicht mehr getrennt werden. Wir
bleiben dabei: Die Ausweitung des Atalanta-Mandats ist
eine Kriegserklärung gegen die Zivilbevölkerung in So-
malia.


(Beifall bei der LINKEN)


An dieser Stelle ein Wort an die Kolleginnen und Kol-
legen der SPD und der Grünen. Wir begrüßen es sehr,
dass Sie Ihre Haltung zu der Ausweitung dieses Mandats
geändert haben. Wir denken, dass das Argument, die bis-
herige Mission sei vorbehaltlos zu unterstützen, nicht lo-
gisch ist. Wenn, wie Herr Arnold gesagt hat, die Auswei-
tung eine Scheinlösung ist, muss man doch sehen, dass
die Eskalation des Einsatzes schon viel früher begann.
Die Piraten haben ihre Taktik angepasst. Das Opera-
tionsgebiet wurde ausgeweitet. Der Einsatz wurde ro-
buster gemacht. Wir sagen: Das ganze Atalanta-Mandat
ist von Anfang an nur eine Scheinlösung gewesen.


(Beifall bei der LINKEN)


Piraterie fällt nicht vom Himmel; sie hat soziale Wur-
zeln. Kriminelle Strukturen wie die der Piraten können
nur funktionieren, wenn mafiöse Geschäftemacher junge
Leute ohne Perspektive rekrutieren können. Wenn Sie
dies der Linken nicht glauben wollen, dann glauben Sie
es vielleicht Abdulkadir Afweyne, dem Sohn eines der
bekanntesten somalischen Piraten. Er sagte in einem In-
terview vor drei Monaten: Bevor wir uns an der Piraterie
beteiligten, waren wir Fischer. Unsere Boote wurden von
Schiffen zerstört, die illegal zum Fischfang in unseren
Gewässern waren, und Piraterie war unsere Antwort. –
Afweyne antwortete auf die Frage, wie Piraterie beendet
werden kann: Zunächst einmal müssen wir wieder
fischen können, ohne von Anti-Piraten-Kräften oder aus-
ländischen illegalen Fischereischiffen eingeschüchtert
zu werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem sagte er: Wir können helfen, Piraterieakti-
vitäten zu stoppen, wenn es die Welt interessiert. Wir
sind nun bereit, uns an einen runden Tisch zu setzen, und
wir werden die Piraterie in unserer Region stoppen.

Das Problem ist, dass die Bundesregierung gar nicht
zum Gespräch fähig ist. Auf Anfrage der Linken nach
dem Kenntnisstand zu den lokalen Strukturen in der
Küstenregion antwortete die Bundesregierung jüngst:

Die derzeitigen Zustände in Somalia … lassen die
Erarbeitung detaillierter Kenntnisse … nicht zu.

Sie handeln also frei nach dem Motto: Erst schießen,
dann fragen.

Die Bundesregierung – wie der Rest der beteiligten
europäischen Staaten – bekämpft die Piraterie völlig
blind. Einzig die Zustimmung der korrupten Übergangs-





Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)


regierung können Sie als Legitimation für einen Einsatz
über somalischem Gebiet angeben.

Wir sagen: Atalanta ist ungeeignet, die Piraterie zu
stoppen. Aber darum geht es nicht; das hat Herr Müller-
Sönksen noch einmal deutlich gesagt. Es geht darum, der
Bundesmarine einen Dauereinsatz zu verschaffen, in
dem für 100 Millionen Euro im Jahr geübt wird.


(Torsten Staffeldt [FDP]: So ein Quatsch! – Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das ist doch lächerlich!)


Atalanta ist nur ein Baustein einer deutschen Außenpoli-
tik, die seit Ende der 90er-Jahre nahezu ununterbrochen
an irgendeinem Krieg in der Welt beteiligt ist.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Bitte mal ernsthaft!)


Deshalb haben wir zu diesem Mandat immer Nein ge-
sagt, und dabei bleiben wir.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717811600

Jetzt hat der Kollege Frithjof Schmidt das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor fünf Jahren hat meine Fraktion mit großer Mehrheit
dem Atalanta-Mandat zugestimmt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das war auch richtig!)


Wir sind überzeugt, dass das Mandat vom November
richtig ist. Im Auftrag der Vereinten Nationen hilft der
Einsatz der Europäischen Union, die Nahrungsmittelver-
sorgung der somalischen Bevölkerung zu sichern. Er
schützt die Schiffe des Welternährungsprogramms gegen
Piraten. Er hilft bei der Versorgung der Mission der Afri-
kanischen Union in Somalia. Er schützt den freien Zu-
gang zur hohen See für die zivile Schifffahrt in der
Region. Das alles halten wir für notwendig, und wir un-
terstützen die deutsche Beteiligung daran.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)


Das Mandat zeigt Erfolge, auch wenn ein umfassen-
der Ansatz zur Beseitigung der Ursachen der Piraterie
fehlt. Wir alle wissen, dass eine langfristige Entwick-
lungsstrategie für Somalia dafür entscheidend ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Seit 2010 ist kein Schiff des Welternährungspro-
gramms mehr gekapert worden. Die Verantwortlichen
dieses Programms für die Versorgung der Menschen in
Somalia sagen uns klar, dass sie diesen Schutz brauchen.

Meine Damen und Herren von der Koalition, wir hat-
ten bisher dazu einen breiten Konsens. Uns ist ganz un-
verständlich, warum Sie mit der unnötigen Ausdehnung
des Mandats diesen Konsens infrage stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im November haben Sie zu Recht damit geworben, dass
dieser Einsatz erfolgreich ist. Alle Probleme, über die
wir heute reden, gab es damals ganz genauso. Natürlich
wussten alle Bescheid über die Rückzugsräume der Pira-
ten in den Küstengebieten. Die Entscheidung, das Man-
dat auf einen Einsatz auf See zu begrenzen und nicht
über dem Land zu operieren, ist politisch ganz bewusst
getroffen worden. Es hat Risikoanalysen gegeben, und
die Entscheidung war negativ, mehrfach, zuletzt im No-
vember, für ein ganzes Jahr.

Jetzt legen Sie uns nach wenigen Monaten die quali-
tative Ausdehnung des Mandats auf Luft-Boden-Opera-
tionen über dem Land vor: bis zu 2 Kilometer tief ins
Land hinein, auf 3 000 Kilometer Küstenlänge, akkurat
nach Abschnitten eingeteilt. Sie können dabei nicht kon-
kret erklären, warum Sie das jetzt plötzlich tun. Herr
Westerwelle, was ist denn zwischen November und
April am Horn von Afrika Neues passiert, das eine sol-
che qualitative Ausdehnung des Einsatzes notwendig
macht? Nichts!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie führen für diesen einschneidenden Schritt keine ein-
zige stichhaltige Begründung an.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Zum Beispiel: alle europäischen Partner!)


Stattdessen tun Sie so, als ginge es um eine Kleinigkeit.

Herr de Maizière hat bei der ersten Lesung hier gesagt
– Zitat –:

Es handelt sich um eine kleine Ausweitung, eine
kleine sinnvolle zusätzliche militärische Option …

Eine Kleinigkeit? – Herr Minister, der Einsatz deutscher
Kampftruppen über dem Boden in Somalia ist ein Hoch-
risikoeinsatz und keine Petitesse, und das wissen Sie
auch ganz genau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Weil Sie das wissen, haben Sie ausdrücklich in das Man-
dat geschrieben, dass für Rettungsaktionen auch Trup-
pen am Boden eingesetzt werden können.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Wie vorher auch! Das ist doch gar kein Unterschied!)


Sie müssen einräumen, dass das Mandat des Europäi-
schen Rates den Ausschluss von Bodeneinsätzen für alle
anderen Partner nicht vorsieht. Sie kennen das Risiko.
Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie auf, die neue Qua-
lität des Einsatzes kleinzureden.

Erstmalig wird die Kriegführung an Land erlaubt.
Dort sollen unsere Soldaten Boote, Waffenlager und
Treibstofftanks mit Hubschraubern angreifen. Dabei sol-
len sie aber darauf achten, dass keine Menschen in der
Nähe sind; als würden die Piraten nicht Tarnung und
Schutz in Siedlungen suchen. Im Mandat wird natürlich





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)


gefordert, alles zu tun, um zivile Opfer zu vermeiden;
leider wird dieses selbstverständliche Ziel bei schwieri-
gen Einsätzen manchmal nicht erreicht. Das ist eine bit-
tere Erfahrung aus Einsätzen der NATO und aus über ei-
nem Jahrzehnt Auslandseinsätze der Bundeswehr. Diese
Erfahrung haben wir gerade bei Angriffen aus der Luft,
um die es bei der Mandatserweiterung ausdrücklich
geht, gemacht. Es sind zivile Opfer zu befürchten und
damit in den Augen der somalischen Bevölkerung die
Delegitimierung einer legitimen Mission. Das gilt auch
für die Akzeptanz in Europa. Sie verlieren die Zustim-
mung der Zivilgesellschaft. „Brot für die Welt“ und der
Evangelische Entwicklungsdienst haben sich klar gegen
die Mandatsausweitung ausgesprochen. Im Fall eines
Absturzes oder Abschusses eines Hubschraubers kann es
schnell zur Eskalation von Kämpfen am Boden kom-
men. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie mit die-
sen Luftoperationen die Piraterie essenziell an der Wur-
zel treffen und beseitigen.

Die Mandatsveränderungen sind riskant, und ihre Ab-
sicht ist leicht durch die Piraten zu durchkreuzen. Ent-
weder verlegen die Piraten ihre Infrastruktur in bebaute
Gebiete oder weiter als 2 Kilometer ins Inland. Dann
werden Sie wieder hier stehen und ganz schnell eine De-
batte um eine erneute Ausweitung des Einsatzgebietes
führen.

Ich kann hier für meine Fraktion erklären: Wir wer-
den einer solchen falschen und riskanten Ausweitung
des Einsatzes nicht zustimmen. Die große Mehrheit von
uns wird sich enthalten. Wir halten das im November be-
schlossene Mandat für richtig und ausreichend und leh-
nen die vorgeschlagenen Erweiterungen ab. Daher kön-
nen wir nicht mit Ja stimmen.

Meine Damen und Herren von der Koalition, ab-
schließend möchte ich Ihnen sagen: Wir wissen, dass
viele von Ihnen – auch die Bundesregierung – der von
Frankreich und Großbritannien betriebenen Ausdehnung
des Mandates lange sehr skeptisch gegenübergestanden
haben. Sie haben sich mit Ihren Bedenken und Einwän-
den in Brüssel aber nicht durchsetzen können. Das ist
das politische Problem. Ich sage Ihnen: Wir werden Ih-
nen nicht dabei helfen, diese europäische Fehlentschei-
dung wider besseres Wissen zu legitimieren.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717811700

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Guido

Westerwelle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Noch immer befin-
den sich 7 Schiffe und rund 210 Seeleute in der Gewalt
von Piraten. Sie fürchten um ihr Leben. Sie sind mit dem
Tode bedroht. Noch immer bedrohen Piraten die freie

Seefahrt und die Hilfslieferungen für Somalia, die für
Millionen hungernder Menschen überlebenswichtig
sind. Noch immer verdienen Kriminelle mit Kaperungen
und mit Geiselnahmen Millionen. Vor dem Hintergrund
dieser Lage betrachtet es die deutsche Bundesregierung
nicht nur als ihr Recht, sondern auch als ihre menschli-
che Verpflichtung, Piraterie robust und beherzt zu be-
kämpfen und unsere eigenen deutschen Seeleute zu
schützen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das, was Sie an Bedenken vorgetragen haben, ist vor
allem unter dem Gesichtspunkt, dass Atalanta eine EU-
geführte Mission ist, besonders bemerkenswert. Sie
wurde übrigens im Jahr 2008 beschlossen. Der damalige
Bundesaußenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat das
erste Atalanta-Mandat in den Deutschen Bundestag ein-
gebracht. Herr Erler, wenn Herr Steinmeier Ihre Rede
hätte hören müssen, dann wäre er hinausgegangen, um
sich zu schämen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn mit Verlaub gesagt: Jeder weiß doch, wie Sie in
der Fraktion miteinander gerungen haben. Herr
Steinmeier ist nicht hier, weil er mit dieser neuen Ent-
scheidung Ihrer Fraktion ja gar nicht einverstanden ist.
Das wissen wir.


(Zuruf des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])


Darüber ist offenkundig auch in der Presse berichtet
worden.

Sie sagen, das sei nicht das Vorzeichen eines außen-
politischen Strategiewechsels der SPD. Wir hoffen das
sehr. Die Zeit wird es zeigen. Ich glaube, Ihre heutige
Entscheidung hat mehr mit Wahlkämpfen zu tun als mit
der Interessenwahrnehmung deutscher Außenpolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Zeit wird es zeigen.

Herr Kollege, Sie haben gefragt: Was hat sich seit
dem letzten Mandat bis heute verändert? Das ist eine be-
rechtigte Frage. Inzwischen gibt es einen Beschluss der
Europäischen Union,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat „in Somalia“ gesagt! Seit wann ist die EU in Somalia?)


und zwar einen Beschluss von 27 Mitgliedstaaten, abge-
stimmt mit der somalischen Übergangsregierung, unter-
stützt von den Resolutionen der Vereinten Nationen. Das
hat sich geändert.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist kein Argument!)


Ich erinnere mich noch an eine Debatte, in der Sie mir
und der Bundesregierung mangelnde Bündnistreue vor-
geworfen haben, nämlich als wir entschieden haben,
nicht mit Soldaten nach Libyen zu gehen. Dass Sie sich
heute aus der europäischen Politik abseilen, bedeutet nur





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


eines: Erinnern Sie uns niemals wieder an Bündnistreue,
meine Damen und Herren von der Opposition,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


niemals wieder!


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717811800

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Arnold?

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Nein.


(Zurufe von der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Libyen ist er sprachlos!)


– Wenn Ihr Seelenheil davon abhängt, ändere ich meine
Meinung. Herr Arnold, bitte sehr.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1717811900

Herr Außenminister, mein Seelenheil hängt in der Tat

nicht davon ab.

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Dann brauchen Sie ja nicht zu fragen.


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1717812000

Ich möchte der Klarheit halber fragen und um der

korrekten Information willen, die mir sehr wichtig ist.
Deshalb bedanke ich mich, dass Sie diese Frage zulas-
sen.

Es ist bemerkenswert, dass Sie in den letzten Minuten
die internationale Solidarität in den Mittelpunkt Ihrer
Rede gestellt haben. Können Sie sich noch daran erin-
nern, dass diese internationale Solidarität eben nicht ein-
gehalten wurde – und zwar exakt von Ihrer Partei mit Ih-
nen als Fraktionsvorsitzendem –, als es um die
Entscheidung zum Libanon ging, dass Sie das abgelehnt
haben?


(Beifall bei der SPD)


Können Sie sich daran erinnern, dass Sie in Ihrer
neuen Funktion als Außenminister die wichtige interna-
tionale Solidarität ebenfalls nicht beachtet haben, als es
im Falle von Libyen darum ging, bei den Vereinten Na-
tionen mit einem richtigen und ethisch gebotenen Ja zu
antworten? Und können Sie sich als Letztes daran erin-
nern, dass unser Nein zu Ihrem heutigen Mandat nicht
dazu führt, dass nichts da ist? Vielmehr führt unser Nein
dazu, dass das bisherige Mandat Atalanta, wie im De-
zember beschlossen, weiter gilt. Das Mandat gilt, wenn
man heute mit Nein stimmt.


(Beifall bei der SPD)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Das ist allerdings eine Argumentationslinie, die Sie
mehr zur Beruhigung Ihrer eigenen Fraktion vortragen,
weil nämlich die Hälfte davon in dieser Frage auf der an-
deren Seite steht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darauf brauche ich nicht einzugehen.

Aber ich will auf einen Punkt eingehen, bei dem Sie
recht haben. Ich erinnere mich noch sehr genau daran,
dass ich als Fraktionsvorsitzender seinerzeit das
UNIFIL-Mandat, bei dem es um einen Einsatz vor der
Küste des Libanon ging, abgelehnt habe. Ich erinnere
mich auch noch an die Rede, die ich dazu gehalten habe,
weil es eine für mich sehr schwierige Rede war. Es ging
nämlich um die Frage, ob wir dort, in der Nähe zu Israel,
mit deutschen Soldaten präsent sein sollten, und was es
bedeuten würde, wenn wir als Deutsche beispielsweise
in eine Kampfhandlung hineingezogen werden könnten.

Es gibt einen Unterschied zwischen uns: Wir haben es
abgelehnt. Die damalige Regierung hat es beschlossen,
der damalige Deutsche Bundestag hat mit großer Mehr-
heit zugestimmt. Wir waren in der Minderheit. Als wir
dann in die Regierungsverantwortung gewählt wurden,
war es für meine Fraktion und auch für mich als Außen-
minister völlig selbstverständlich, dass die internationa-
len Verpflichtungen, die von der Vorgängerregierung
eingegangen worden sind, von uns verantwortungsvoll
erfüllt und fortgesetzt werden. Nichts anderes erwarte
ich von Ihnen, als dass die internationalen Verpflichtun-
gen, die Sie selbst 2008 eingegangen sind, für Sie auch
heute noch gelten. Nichts anderes erwarten wir von Ih-
nen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Meine Damen und Herren, die Einsatzkräfte dürfen
dabei eben nicht am Boden eingesetzt werden. Kein
deutscher, kein europäischer Atalanta-Soldat wird soma-
lischen Boden betreten. Dass etwaige Rettungsaktionen
davon unberührt sind, ist eine Selbstverständlichkeit.

Was für einen Popanz bauen Sie hier vor der Öffent-
lichkeit auf? Es ist doch wohl das Selbstverständlichste
– das Gebot der Nothilfe gilt bei jedem Mandat –, dass
wir, wenn unsere Soldaten oder Soldaten unserer Ver-
bündeten in Not geraten – etwa weil sie abgeschossen
worden sind oder notlanden müssen –, sie herausholen
werden. Das machen wir immer so! Das machen wir
überall!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Und das erwarten wir auch von unseren Verbündeten,
wenn unsere deutschen Soldaten gefährdet sind. Das hat
mit diesem Mandat überhaupt nichts zu tun.

Natürlich behauptet niemand, meine sehr geehrten
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen der Oppo-
sition, dass wir jetzt einen Königsweg gefunden haben
und dass damit die Piraterie so bekämpft ist, dass alles





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


vorbei ist. Wir wissen – darauf komme ich gleich noch –,
dass dafür viel mehr notwendig ist.

Aber eines muss man unseren Soldaten doch einmal
sagen: Dass sie die Piraterie – deren Waffen und Logis-
tik – zwar auf See bekämpfen dürfen – da dürfen Terror
und Gewalt unschädlich gemacht werden –, sobald die
Piraten aber mit ihren Waffen den Strand betreten haben,
dabei zusehen müssen und nichts machen dürfen, das ist
absolut unvernünftig. Es ist richtig, den Piraten den Ein-
satz von Waffen und Gewalt so weit es geht zu erschwe-
ren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Darum geht es. Und das tun wir mit der entsprechenden
Mandatierung.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717812100

Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage, dieses Mal vom Kollegen Ströbele?


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Der kriegt keine Redezeit!)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Kollege Ströbele, ich freue mich natürlich auch
auf Ihre Zwischenfrage. – Bitte sehr.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Außenminister, Sie haben diese Frage selbst an-
geregt, indem Sie das Beispiel gebracht haben, dass Ret-
tungsaktionen notwendig und richtig sind, wenn ein
Bundeswehrhubschrauber abgeschossen wird oder not-
landen muss und Bundeswehrsoldaten sich infolgedes-
sen im Uferstreifen befinden oder wenn das Alliierten
passiert.

Denken Sie auch an den Fall, dass Alliierte mit Trup-
pen in den Küstenstreifen gehen? Ich meine den Fall,
dass sie dort selbst einen Kampfauftrag ausführen


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das hat doch mit der Erweiterung nichts zu tun!)


und versuchen, den Streifen zu erobern und Leute – bei-
spielsweise Al-Schabab-Milizen – zu vertreiben. Wird
die Bundeswehr auch dann eingreifen, wenn Verbündete
in diesem Fall in eine kritische Situation geraten?


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das ist doch gestern alles im Ausschuss ausgeräumt worden!)


Sie wissen, dass andere Nationen die von Ihnen ge-
nannte Einschränkung auf reine Aktionen zur Rettung
von Personen, die unverschuldet in Not geraten sind,
nicht haben. Ist Ihnen bekannt, dass inzwischen gerade
die Al-Schabab-Milizen Piraterie an der Küste Somalias
als Geldquelle entdeckt haben und dort in nicht unerheb-
licher Größenordnung agieren? Wird die Bundeswehr,
wenn sie mit Hubschraubern direkt darüber ist, dann bei-
drehen und zurückfliegen, weil sie sagt: „Das ist nicht
unsere Aufgabe“?


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Einfach mal den Mandatstext lesen, Herr Ströbele!)


Wird die Bundeswehr – das ist der letzte Teil der
Frage – auch dann nicht eingreifen, wenn die Milizen
beispielweise ein Tanklager in dem Küstenstreifen haben
und sich Männer, Frauen und Kinder in der Nähe befin-
den? Werden die Hubschrauber der Bundesmarine dann
abdrehen und zum Schiff zurückkehren?

Können Sie mir diese Fragen beantworten? Denn ich
befürchte, dass wir durch den Einsatz der Bundeswehr
an Land bald hier in Deutschland Bilder von sogenann-
ten Kollateralschäden an Menschen, die an der Küste
Somalias durch die Bundeswehr verursacht werden, be-
kommen werden.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ungeheuerlich!)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Zunächst einmal ein herzlicher persönlicher Appell
an Herrn Kollegen Trittin als anwesenden Vorsitzenden
der Bundestagsfraktion der Grünen: Bitte erleichtern Sie
uns allen doch die Debatten, indem Sie Herrn Ströbele
ab und zu mal Redezeit geben, damit er nicht immer Re-
den in Frageform einbringen muss!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Privileg des Präsidenten!)


Herr Kollege Ströbele, ich muss Ihnen ehrlich sagen:
Diese Invasionsgedanken, die Sie hier in Frageform klei-
den, sind so was von absurd.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie unterstellen hier allen Ernstes unseren Verbündeten,
die die Piraterie bekämpfen wollen, invasionsähnliche
Gedanken. Dass man das von der Linkspartei hört, ist
schwer genug; dass man das auch noch von Ihnen hören
muss, ist, offen gestanden, nichts anderes als ein Aus-
druck einer völligen Verirrung in der Betrachtung unse-
res Bündnisses.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist keine Antwort auf die Frage!)


Das hat mit der Realität überhaupt nichts mehr zu tun.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das hat aber nichts mit der Frage zu tun!)


– Auf diesen Punkt komme ich gleich zu sprechen.

Ich will Ihnen noch etwas sagen – ich habe oft mit Ih-
nen auch im Auswärtigen Ausschuss darüber gespro-
chen; wir können das hier gerne wiederholen; wir haben
oft darüber in diesem Deutschen Bundestag gestritten
und uns auseinandergesetzt –: Einen Soupçon, den Sie in
dieser Debatte immer wieder einbringen, kann ich nicht
nachvollziehen – so als wäre die Piraterie zunächst ein-
mal das Ergebnis von armen Menschen, denen die Fi-
schereigründe genommen würden,





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)



(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


und als müssten die Menschen gewissermaßen aus Not-
wehr zu Piraten werden. Ich muss Ihnen ehrlich sagen:
Das ist eine völlige Verkennung dieser riesigen organi-
sierten Kriminalität. Diese Romantisierung von Piraterie
zulasten unserer Handelswege, mit der Bedrohung unse-
rer Landsleute und der Gefährdung unserer Seewege, ist
nur noch naiv bis absurd, Herr Kollege.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Was den Operationsplan angeht: Sie sind doch Abge-
ordneter des Deutschen Bundestages. Sie waren doch im
Ausschuss dabei. Staatsminister Link hat Ihnen doch al-
les ausführlich erläutert. Es ist doch vorgetragen worden.
Der Punkt ist: Sie wissen ganz genau, dass der Deutsche
Bundestag öffentlich tagt und dass es hier um militäri-
sche Überlegungen geht. Die EU-Definition von
„Strand“ – worauf Sie anspielen – ist im Operationsplan
festgelegt. Sie als Abgeordneter können diesen Opera-
tionsplan jederzeit einsehen und lesen. Dann wüssten
Sie, dass das alles nicht stimmt. Was Sie wollen, ist, dass
ich die Geheimschutzpflicht verletze, das tue ich aber
nicht. Wir sind in einem Bündnis, und ich halte mich an
die Regeln, die wir gemeinsam im Bündnis verabredet
haben, auch wenn das für Sie Klamauk ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen, der von
großer Bedeutung ist. Atalanta ist in eine umfassende
Politik zur Unterstützung Somalias eingebettet. Wir lin-
dern mit unserer humanitären Hilfe das Leid von Millio-
nen von Menschen. Wir fördern den Verfassungsprozess
und den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in Somalia.
Wir unterstützen die Schaffung eines sicheren Umfeldes
durch die Beteiligung an der EU-Trainingsmission So-
malia und durch die Ausbildung afrikanischer Polizisten
als Trainer und Berater für die somalische Polizei. Wir
helfen mit erheblichen Finanzmitteln der Mission der
Afrikanischen Union in Somalia. Wir beteiligen uns an
den Anstrengungen der EU und unserer afrikanischen
Partner, regionale Küstenwachen aufzubauen. Außerdem
wenden wir uns verstärkt der Unterbindung der Finanz-
ströme der Piraterie zu. Wir haben eine internationale
Arbeitsgruppe eingesetzt, die zur Aufdeckung der aus
Piraterie resultierenden Finanzströme beitragen soll. Ich
füge hinzu, weil es nicht im Mittelpunkt der Debatten
steht: Wenn wir Piraterie bekämpfen wollen, dann müs-
sen wir zum einen gegen Gewalt vorgehen, aber wir
müssen auch die Ursachen bekämpfen, sprich: die Fi-
nanzströme der Lösegelder versiegen lassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir tun sehr viel mehr, als einfach unsere Streitkräfte
einzusetzen. Darauf sind wir stolz, auch auf das, was un-
sere Soldatinnen und Soldaten tun.

Es geht hier um eine Mission zur Sicherung von Le-
bensmitteltransporten. Es ist wichtig, dass diese Mission
fortgesetzt wird. Ich bedauere von Herzen, dass Sie aus
vorgeschobenen innenpolitischen Gründen bei der Pira-
teriebekämpfung nicht mehr mitmachen.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, das ist nicht das Vorzeichen eines Richtungs-
wechsels in der Außenpolitik der Opposition. Ich hoffe,
dass Sie wieder zur Vernunft zurückkehren werden. Die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen sind je-
denfalls der Überzeugung, dass wir bei der Piraterie
nicht zusehen dürfen. Wir sind die wichtigste und größte
Handelsnation in Europa. Deswegen wäre es unverant-
wortlich, wenn wir den Schutz unserer Seeleute und der
Handelswege ausgerechnet allen anderen überlassen
würden, aber selber nicht mehr mitmachen wollten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717812200

Aus der Fraktion der Grünen ist mir ein Geschäftsord-

nungsantrag signalisiert worden. Bitte schön, Sie haben
das Wort.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717812300

Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. – Der

Minister hat es gerade angesprochen: zusätzliche Rede-
zeit für die Fraktion der Grünen. Diese beantrage ich
hiermit. Ich berufe mich auf § 44 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung:

Erhält während der Aussprache ein Mitglied der
Bundesregierung, des Bundesrates oder einer ihrer
Beauftragten zu dem Verhandlungsgegenstand das
Wort, so haben die Fraktionen, deren Redezeit zu
diesem Tagesordnungspunkt bereits ausgeschöpft
ist, das Recht, noch einmal ein Viertel ihrer Rede-
zeit in Anspruch zu nehmen.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das trifft eigentlich nicht zu! Das war innerhalb unserer Redezeit!)


Ich bitte, darüber zu entscheiden. – Vielen Dank.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717812400

Bitte schön, Kollege Kaster.


Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1717812500

Herr Präsident! Die Regelung des § 44 der Geschäfts-

ordnung findet in dieser Form hier keine Anwendung.
Den Fall hatten wir schon des Öfteren. Es handelt sich
um Redezeiten, die im Rahmen der Kontingente der
Fraktionen vergeben worden sind.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht denn das?)


Es spielt auch eine Rolle, dass eine andere Oppositions-
fraktion anschließend noch das Wort erhält. Ein Fall, in
dem § 44 Abs. 2 der Geschäftsordnung zur Anwendung
kommen könnte, liegt hier nicht vor.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht alles nicht in der Geschäftsordnung, Herr Kollege!)






Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)


Hier liegt lediglich der Fall vor, dass man, wenn man ar-
gumentativ in die Defensive kommt, als letztes Mittel
versucht, einen Geschäftsordnungsantrag zu stellen. Von
daher ist er abzulehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717812600

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der mir be-

kannten Auslegung des § 44 Abs. 2 der Geschäftsord-
nung gilt das, was dort steht, in dem Fall, dass ein
Mitglied der Bundesregierung etc. zusätzlich zu der ver-
einbarten Redezeit das Wort ergreift


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Richtig!)


und nicht innerhalb des Redekontingents.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht da aber nicht, Herr Präsident!)


– Es gilt die bisherige Auslegung, die, soweit ich weiß,
durch unseren Geschäftsordnungsausschuss noch einmal
bestätigt worden ist.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Richtig!)


Deswegen fühle ich mich genötigt, mich genau daran zu
halten, und empfehle – damit es weiter friedlich zu-
geht –, dass aus Ihrer Fraktion eine Kurzintervention an-
gemeldet wird. Dann kann die Debatte auf dieser Ebene
fortgesetzt werden.

Jetzt erteile ich dem Kollegen Gehrcke das Wort zu
einer Kurzintervention.


(Zurufe von der FDP: Oje!)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717812700

Kolleginnen und Kollegen, den Ausruf „Oje!“ kann

ich verstehen. Mir geht es jetzt um Aufklärung und um
die Logik, Herr Außenminister. Wenn es geht, hätte ich
gerne zusätzliche Auskünfte zu drei Aussagen, die Sie
getätigt haben.

Punkt eins. Auf die Frage, welche Veränderungen
dazu geführt haben, dass das Mandat jetzt erweitert wer-
den soll – ich will mich nicht dahinter verstecken; ich
hätte sowieso dagegen gestimmt –, haben Sie geantwor-
tet: die Bündnisverpflichtungen und die Bündnisverab-
redungen. Sie nannten kein weiteres Argument. Das
heißt, Sie haben ein Argument eingeführt – ich finde
Bündnisverpflichtungen nicht unwichtig –, das über-
haupt nichts mit der Bekämpfung von Piraterie oder mit
Somalia zu tun hat, sondern das sich auf ein ganz ande-
res Feld bezieht. Daraus schlussfolgere ich, dass sich bei
der Pirateriebekämpfung offensichtlich nichts verändert
hat. Das sollten Sie dann hier auch so erklären. Das zur
Klärung der Logik.

Zweitens. Ich möchte gerne verstehen – das würde
meinem Gemüt guttun –, warum der SPD vorgeworfen
wird – das ist eigentlich nicht mein Problem –, dass sie
aus Wahlkampfgründen dagegen stimmt. Darf ich daraus
schlussfolgern, dass man heutzutage mit der Verweige-
rung der Zustimmung zu Militäraktionen mehr Wähle-

rinnen- und Wählerstimmen gewinnt als mit der Zustim-
mung zu Militäraktionen? Wenn das so sein sollte,
würde ich das aus meiner Sicht außerordentlich begrü-
ßen. Dazu müssten Sie sich einmal erklären.

Der dritte Punkt ist ein bisschen komplizierter. Wel-
che Aussagen hat die Regierung getätigt, aber bisher hier
nicht erklärt? Ich finde, die Abgeordneten haben ein
Recht, zu wissen, was der Hintergrund ist. Auf die
Frage, ob das erweiterte Mandat möglicherweise zu Ein-
sätzen auf dem Land führt, wurde die korrekte Antwort
gegeben: Wenn eine Nation Fähigkeiten zu Landopera-
tionen hat, zum Beispiel Spezialtruppen besitzt, und sich
zu einem solchen Einsatz entschließt, dann muss diese
Nation für den Zeitraum, in dem diese Truppen einge-
setzt werden, aus Atalanta ausscheiden; ansonsten blei-
ben aber alle Verpflichtungen bestehen. – Das heißt, dass
Sie unterstellen und damit rechnen, dass sich Partner
möglicherweise für Landoperationen entscheiden. Und
in diesem Fall blieben die Hilfsaktionen im Rahmen des
Mandats weiterhin bestehen. Das heißt, man muss wis-
sen, dass man, wenn man der Erweiterung des Mandats
zustimmt, für die Möglichkeit von Operationen auf dem
Land stimmt. Offensichtlich planen einige Teilnehmer
an der Atalanta-Operation solche Aktionen. Das hätte
ich gerne von Ihnen bestätigt. Ist das die korrekte Wie-
dergabe?


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717812800

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile

ich Kollegin Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Außenminister, Sie haben hier starke Geschütze
aufgefahren – von wegen Bündnissolidarität – und ein
bisschen populistisch Wahlkampf gemacht. Ich finde,
eine Partei, die bei Libyen und Libanon mit Bündnissoli-
darität gar nichts am Hut hatte, die dieses Argument
quasi einsetzt, wenn es gerade passt, sollte das hier nicht
in den Mund nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Weil Sie das am Ende ziemlich verdreht haben,
möchte ich für meine Fraktion noch einmal sehr klar
festhalten, was wir hier deutlich gemacht haben: Das ist
ein vernünftiger und sinnvoller Einsatz, dem wir mit
ganz großer Mehrheit in all den letzten Jahren zuge-
stimmt haben. Wir unterstützen, dass die Schiffe des
World Food Programme geschützt werden. Wir unter-
stützen, dass es diese Absicherung auf See gibt. Wir sind
der Meinung, dass es sich um einen quasi polizeilichen
Einsatz handelt, der Erfolge zeigt. Er muss aber durch
eine Gesamt-Somalia-Strategie unterstützt werden. Das
haben wir hier deutlich gemacht. Das möchte ich für
meine Fraktion festhalten.

Die Fragen, die Kollege Schmidt gestellt hat, nämlich
was eigentlich von November bis heute passiert ist und
welche andere Sicherheitsanalyse es gibt, haben Sie





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


nicht beantwortet; denn es gibt keine andere Sicherheits-
analyse mit Blick auf das Horn von Afrika.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das hier ist eine ziemlich verlogene Debatte; das sage
ich mit Blick auf die Kolleginnen und Kollegen aus dem
Auswärtigen Ausschuss. Wir haben die Debatte dort ge-
meinsam geführt. Es gab auch seitens Ihrer Fraktion,
Herr Außenminister, seitens der FDP, und seitens der
CDU/CSU, große Vorbehalte.


(Widerspruch bei der FDP)


– Ich habe daneben gesessen. – Es gab von Mitgliedern
der Koalitionsfraktionen die ausdrückliche Bitte an die
Bundesregierung, dass man von dieser Ausweitung des
Einsatzes absieht, weil sie ein Eskalationspotenzial birgt,
weil sie die Gefahr birgt, in einen Landkrieg hineinge-
zogen zu werden. Heute wollen Sie von diesen Argu-
menten nichts mehr wissen, weil die Bundesregierung
dem Druck der Niederländer, der Briten und anderer
nachgegeben hat. Aber Sie teilen eigentlich unsere
Argumentation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Letzter Satz. Ich finde es sehr bedauerlich, dass es Ih-
nen sozusagen egal ist, dass wir von dem Grundsatz,
dass Mandate von breiten Mehrheiten hier im Parlament
getragen werden – ich werbe seit Jahren dafür –,
Abstand nehmen. Sie sind dafür verantwortlich, dass Sie
jetzt keine breite Mehrheit mehr für das Atalanta-Man-
dat haben. Sie sind dafür verantwortlich, wenn aus einer
vernünftigen Mission eine Abenteuermission wird. Das
wollen wir hier mit unserem Abstimmungsverhalten
deutlich machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717812900

Kollege Westerwelle, Sie haben Gelegenheit zur Re-

aktion.

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Ich will nicht auf alles eingehen, was gesagt worden
ist; das würde den Rahmen sprengen. Herr Kollege
Gehrcke, auf einen Punkt, den Sie angesprochen haben,
möchte ich hinweisen. Ich habe gesagt, dass alle anderen
Staaten in Europa dies gemeinsam erörtert haben und zu
dem Ergebnis gekommen sind, dass es sinnvoll ist. Ich
habe auch ausdrücklich erklärt – ich wiederhole das hier
noch einmal –: Ich bin der Überzeugung, die Bundes-
regierung ist der Überzeugung, dass der Einsatz der
Sache nach sinnvoll ist, und zwar aus folgendem Grund:
Bisher konnten Piraten am Strand, unmittelbar an der
Wasserlinie, Logistiklager mit Waffen aufbauen und
durften dort nicht von Atalanta bekämpft werden. Erst in
dem Augenblick, in dem sie das erste Mal auf dem Was-
ser waren, durfte man die Waffen vernichten. Damit hat
man es den Piraten leichter gemacht; das ist ja nicht
sinnvoll. Wir sind der Überzeugung, dass es richtig ist,

dass jetzt diese Logistiklager mit Waffen der Piraten am
Strand zerstört werden können. Das liegt in der Logik
des bisherigen Mandats.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit das ganz klar gesagt ist: Eine fachlich-sachliche
Erörterung hat uns zu dieser Überzeugung gebracht.

Das Zweite ist: In allen Regierungen in Europa sitzen
Damen und Herren der unterschiedlichsten politischen
Färbungen. Es sitzen dort solche aus den verschiedenen
Parteienfamilien. Alle sind der Überzeugung, dass es
sinnvoll ist, dass wir die Piraterie mit zivilen Mitteln
bekämpfen, aber auch, dass wir die Bekämpfung der ag-
gressiven Piraterie zum Schutz unserer Boote, zum
Schutz unserer Menschen und zum Schutz der Hungern-
den in Somalia ausweiten müssen. Auffällig ist, dass alle
anderen, auch Angehörige Ihrer Parteifamilie, diese
Überzeugung fachlich und sachlich teilen, dass Sie aber
neuerdings, vor dem Hintergrund bevorstehender Wah-
len, Ihre Position geändert haben. Darauf weise ich hin,
und dabei bleibe ich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Kollegin Müller, das, was Sie sagten, ist einfach
unzutreffend; hier nehme ich den Herrn Kollegen
de Maizière und das Verteidigungsministerium in
Schutz. Es ist unzutreffend, zu behaupten, es sei nicht
das Gespräch gesucht worden. Es sind genügend Kolle-
ginnen und Kollegen aus den Ausschüssen anwesend,
die bestätigen können: Der Verteidigungsminister und
ich als Außenminister haben von Anfang an bzw. sehr
frühzeitig immer wieder das Gespräch mit Ihren Obleu-
ten gesucht. Leute von Ihnen haben gesagt: Mal gucken,
ob wir das zu Hause überhaupt durchbekommen. – Die
haben gewusst, was für ein tiefer Riss durch die Opposi-
tion geht. Es ist schade, dass Sie sich gegen die Interes-
sen unseres Landes und für die Interessen Ihrer Partei
entschieden haben. Das werde ich immer wiederholen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717813000

Das Wort hat nun Stefan Rebmann für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1717813100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Mit dem bisherigen Atalanta-
Mandat haben wir das Ziel verfolgt, sicherzustellen, dass
die dringend benötigten Hilfslieferungen für die
Menschen in Somalia tatsächlich dort ankommen, wo sie
ankommen sollen. Wir als Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten stehen nach wie vor zu diesem Ziel.
Daran hat sich auch nach unserer Fraktionssitzung nichts
geändert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Stefan Rebmann


(A) (C)



(D)(B)


Herr Westerwelle, ich muss Ihnen schon sagen: Es ist
eine Charaktereigenschaft von Ihnen, uns zu unterstel-
len, wir würden dies aus wahlkampftaktischen Gründen
tun.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist doch offensichtlich so!)


Mit Blick auf die Wählerwanderungen in Schleswig-
Holstein müssten eher Sie Wahlkampf gegen die Piraten
machen als wir.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ach! So ein Quatsch!)


Das, was Sie sagen, ist eine bodenlose Unterstellung.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie uns sachlich werden.


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ja, genau! Fangen Sie an!)


Dieses Thema ist nämlich viel zu wichtig, als dass Ihr
Außenminister und Ihr Parteikollege den Wahlkampf in
dieses Hohe Haus tragen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundes-
regierung setzt mit der geplanten Erweiterung dieses
Mandats genau die Ziele, die wir verfolgt haben, aufs
Spiel. Wir laufen mit der Erweiterung Gefahr, die Bevöl-
kerung in diesen Konflikt hineinzuziehen. Wir nehmen
möglicherweise auch in Kauf, dass die Zivilbevölke-
rung, Kinder oder die Geiseln, die sich in der Hand der
somalischen Seeräuber und Piraten befinden, als Schutz-
schild missbraucht werden. Wir setzen auch die Arbeit
der wenigen verbliebenen NGOs aufs Spiel.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Evangelische Entwicklungsdienst und „Brot für
die Welt“ haben in einem gemeinsamen Schreiben sehr
deutlich auf genau diese Gefahren hingewiesen. Sie
schreiben unter anderem – ich zitiere auszugsweise –:

Die Ausweitung des Mandats … an Land
birgt … vorhersehbare Risiken: … Es erhöht die
Gefahr, dass die … Kriegführung der somalischen
Milizen sich auf die Nachbarländer ausweitet und
so ein Regionalkonflikt entsteht, der weitere Ge-
waltakteure hervorbringen kann.

Wenn wir ernsthaft daran interessiert sind, die Piraterie
in Somalia langfristig zu beseitigen, dann müssen wir
das Grundübel in der Region anpacken. Wir müssen den
Piraten die Geschäftsgrundlage entziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Genau das erreichen wir aber nicht, wenn wir versu-
chen, ihre Infrastruktur am Strand zu bekämpfen, sodass
die Piraten ihre Infrastruktur dann hinter die 2-Kilome-
ter-Zone verlegen, sondern wir müssen den Menschen in
Somalia die Möglichkeit geben, ihre Familien zu ernäh-
ren und ihren Lebensunterhalt anders zu verdienen als
durch Piraterie.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hervorgegangen ist die Piraterie in Somalia auch
– nicht nur, aber auch –, weil ausländische Fischereiflot-
ten und EU-Fischfangflotten in großem Stil illegalen
Fischfang vor Somalias Küsten betrieben haben. Als
Reaktion darauf haben die Fischer versucht, ihre
Fischgründe durch die Erhebung illegaler Zölle zu schüt-
zen. Das war ein einträgliches Geschäft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dies haben auch die Warlords sehr schnell registriert. Sie
wurden auf den Plan gerufen und haben sich dieses Ge-
schäft angeeignet. Damit das klar ist: Ich will damit die
Gräueltaten, das Kapern und die grausamen Gewaltex-
zesse, zu denen es bei den Geiselnahmen durch die Pira-
ten zum Teil gekommen ist, in keiner Weise schönreden
oder rechtfertigen; aber wir müssen schon sehen, was für
die heutige Situation in Somalia mitverantwortlich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Piraterie konnte sich auch deshalb so lukrativ ent-
wickeln, weil die Regierung in Somalia nicht fähig ist,
ihr Hoheitsgebiet zu überwachen und dem Treiben Ein-
halt zu gebieten. Seit acht Jahren existiert dort eine
Übergangsregierung mit korrupten Clanstrukturen, die
mitnichten die Akzeptanz der Gesamtbevölkerung hat.
Es herrschen Bürgerkrieg, massive Armut und Hungers-
not. In einem Land, in dem das Pro-Kopf-Einkommen
unter 1 US-Dollar am Tag liegt, in dem ein Drittel aller
Kinder unter fünf Jahren mangelernährt und unterge-
wichtig ist, in dem sich Frauen nicht frei bewegen kön-
nen und in dem Kinder als Kindersoldaten missbraucht
werden, wundert es nicht, dass Menschen auch den Weg
in die Kriminalität gehen, um überhaupt über die Run-
den zu kommen.

Genau an diesen Punkten müssen wir ansetzen. Wir
müssen diesen Strukturen dauerhaft den Nährboden ent-
ziehen. Dass das nicht einfach ist, wissen wir alle; aber
es führt kein Weg daran vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ohne einen Demokratisierungs- und Friedensbildungs-
prozess, ohne eine Verbesserung der Nahrungsmittel-,
Gesundheits- und Lebenssituation der Menschen und
ohne ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit werden wir
das Problem nicht in den Griff bekommen.

Ja, wir brauchen die Operation Atalanta, aber in der
bisherigen Form. Das Mandat wird bis zum Jahresende
weiterlaufen, falls wir den Antrag ablehnen sollten. Wir
sollten die Zeit bis zum Jahresende nutzen; denn wir
brauchen eine politische Lösung. Die Ausweitung der
Operation Atalanta in der Form, wie wir sie heute bera-
ten, erschwert eine politische Lösung. Deshalb werden
wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
nicht mit Ja stimmen können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717813200

Das Wort hat nun Ingo Gädechens für die CDU/CSU-

Fraktion.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ingo Gädechens (CDU):
Rede ID: ID1717813300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe in
meinen Reden zur Verlängerung des Mandats für die
Operation Atalanta immer wieder betont, wie wichtig es
ist, dass gerade auch unsere Soldatinnen und Soldaten
erkennen, was es bedeutet, wenn wir in diesem Hohen
Haus von einer Parlamentsarmee reden. Es bedeutet
nämlich, dass sich die Abgeordneten – so wie in der Ver-
gangenheit geschehen – sehr intensiv mit dem jeweiligen
Mandat auseinandersetzen.

Ich will gar nicht sagen, dass es sich die Linken leicht
machen. Sie haben es ja tatsächlich leicht; denn sie
lehnen nicht nur die Bundeswehr, sondern grundsätzlich
jedes Mandat ab in dem festen Glauben, dass die Hilfs-
güter des Welternährungsprogrammes buchstäblich un-
beschadet vom Himmel fallen und genau dort landen,
wo die Menschen tiefste Not und Hunger leiden.


(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Wie in der DDR!)


Die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktio-
nen haben intensiv über dieses Mandat diskutiert – sehr
intensiv sogar, weil es diesmal nicht nur um die Verlän-
gerung, sondern um eine Ausweitung geht. Durch die
unterschiedlichen Betrachtungswinkel gerade von Rot
und Grün habe ich den Eindruck, dass wir nicht mehr
über die bisherigen Erfolge und die Leistungen, die un-
sere Soldaten in diesem schwierigen Mandat erbracht
haben, diskutieren, sondern über virtuelle Risiken bis hin
zu der Frage, wer wem hilft, sollte womöglich ein Hub-
schrauber abstürzen. Ich bin dem Außenminister, aber
auch dem Verteidigungsminister, der gestern unmissver-
ständlich klargestellt hat, wie wir in solch besonderen
Fällen Hilfeleistungen erbringen wollen – insbesondere
gegenüber unseren Verbündeten –, sehr dankbar.

Meine Damen und Herren, die Operation Atalanta ist
ein Erfolg. Sie ist nicht nur erfolgreich bei der Unterstüt-
zung der AMISOM, sondern auch bei der Bekämpfung
der Piraterie.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Warum wächst die Piraterie an? Können Sie das erklären?)


Zurzeit findet vor Ort eine wirksame Synchronisation
zwischen den verschiedenen Nationen auf operativer
und taktischer Ebene statt. Ein gemeinsames Auftrags-
verständnis und ein guter Informationsaustausch gerade
auch mit unabhängig agierenden Streitkräften in einer
hochkomplexen maritimen Lage erweisen sich mehr und
mehr als Schlüssel zum Erfolg. Die Maßnahmen der
Reeder an Bord der Handelsschiffe, Abschreckung und
Bekämpfung, haben zu einem erkennbaren Rückgang
der erfolgreichen Piratenüberfälle geführt.

Nichts ist aber so gut, dass es nicht noch verbessert
werden könnte, in diesem Fall effektiver gestaltet wer-
den könnte. Die Regierungskoalition vertraut nicht nur
auf den militärischen Sach- und Fachverstand der

Einsatzkräfte, der Kommandierenden vor Ort. Die Re-
gierungskoalition setzt auch weiterhin auf eine Zusam-
menarbeit mit den Bündnispartnern. Der EU-Rat hat
nach der VN-Resolution einen Beschluss gefasst, und
die Übergangsregierung in Somalia hat dem Angebot der
EU zur Unterstützung bei der Bekämpfung der Piraterie
auch im somalischen Küstenbereich ausdrücklich zuge-
stimmt.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Ganz genau!)


Ich verstehe zwar noch weitestgehend die Welt, aber
nicht mehr die SPD. Kritisch werden von den Sozialde-
mokraten – auch von Ihnen eben, Herr Dr. Erler –
Gründe mühsam hochstilisiert und Schreckensszenarien
an die Wand gemalt, die weit weg sind von der Einsatz-
realität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Das ist nicht wahr!)


Ich habe es Herrn Arnold bereits gestern in der Aus-
schusssitzung gesagt: Das ist ein erkennbares Misstrauen
gegenüber den Kommandierenden vor Ort.

Die SPD folgt nicht einmal mehr den Kollegen
Steinmeier und Gabriel, die sich für eine – wir kennen
das schon – kraftvolle, überzeugende Enthaltung stark-
gemacht haben. Stattdessen kommen Sie mit Argumen-
ten wie, es gebe unkalkulierbare Risiken


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: So ist es!)


und ein Hubschrauber könne im Strandbereich beschos-
sen werden.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist Realität!)


Was ist denn das für eine Argumentationslinie? Kann ein
anfliegender Hubschrauber nicht auch von einer see-
gehenden Dau oder von einem Skiff beschossen werden?
Ist ein militärischer Einsatz nicht immer mit unkalkulier-
baren Risiken behaftet?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Deswegen lehnen wir das auch ab!)


Wir von der CDU/CSU sind davon überzeugt, dass
die Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet eine Si-
tuation nicht nur richtig einschätzen können, sondern
sehr genau abwägen werden, wann und in welcher Form
die Rules of Engagement Anwendung finden. Wir dan-
ken unseren Soldatinnen und Soldaten nicht nur in den
sogenannten Sonntagsreden. Die CDU/CSU-Fraktion
vertraut auf die Intelligenz, auf die besonderen Fähigkei-
ten und auf das besonnene Handeln unserer Männer und
Frauen in den Einsatzgebieten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das gilt nicht für Oberst Klein!)


Wir wollen auch weiterhin den Erfolg der Mission
Atalanta. Wir wollen ihn, um brutale Piratenüberfälle
auf zivile Schiffe zu verhindern. Wenn Sie, meine
Damen und Herren der Opposition, das auch wollen,





Ingo Gädechens


(A) (C)



(D)(B)


dann bitte ich Sie herzlich, in sich zu gehen und diesem
Mandat zuzustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717813400

Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1717813500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dem
heute zur Diskussion stehenden Mandat, dem Atalanta-
Mandat, geht eine Kernbotschaft aus. Die Kernbotschaft
lautet, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union
zu stärken und erkannte Lücken zu schließen. Damit
schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass die EU in
dem, was sie auszeichnet, noch glaubwürdiger wird;
denn ihre vielen zivilen Fähigkeiten werden militärisch
untermauert. Das ist der Kern des Mandats.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte an dieser Stelle unserem Außenminister
ausdrücklich dafür danken, dass er herausgestellt hat
– darüber wurde gestern im Auswärtigen Ausschuss
auch sehr ausführlich debattiert –, dass das kein deut-
scher Alleingang ist. Im Gegenteil: Am 23. März hat die
Europäische Union mit allen 27 Mitgliedstaaten diesen
Willen deutlich gemacht.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Aber nur vier Beteiligte!)


Sie möchte diese Regelung, wie wir sie heute verab-
schieden. Wir sind aber das einzige Land, das dies auch
noch in einer solchen Breite diskutiert. Das halte ich für
sehr gut. Andere nehmen das als gegeben hin, wir nicht.
Das zeichnet unser Parlament aus. Aber lassen Sie uns
doch als frei gewählte Abgeordnete deutlich sein. Wir
gehen davon aus, dass sich alle an das Mandat halten
und dass andere Operationen, sofern sie stattfinden,
nicht innerhalb dieses Mandats stattfinden. Darum haben
wir gerungen, und das haben wir in diesem Mandat
klargemacht.

Der zweite Punkt ist – das stimmt nicht nur mich, son-
dern weite Teile unseres Parlaments betrüblich –: Es
geht erstmals in dieser Legislaturperiode ein Signal von
diesem Haus aus, dass nicht mit breiter Mehrheit von
Regierung und Opposition hinter einem Mandat unseres
Landes gestanden wird.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Richtig so! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie mal, wie Sie das fertiggebracht haben!)


Das ist zum einen ein Warnsignal an unsere Soldaten im
Auslandseinsatz. Zum anderen ist das ein außenpolitisch
und sicherheitspolitisch verheerendes Signal, sollte sich

das so fortsetzen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum machen Sie dann so was?)


Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen.
Wir haben heute früh über Chicago gesprochen. Unsere
Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht, dass wir über na-
tionalstaatliche Souveränität und neue Formen der Ab-
hängigkeit nachdenken müssen, vergleichbar damit, wie
wir das zurzeit in der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit
dem Fiskalpakt und dem Stabilitätsmechanismus in un-
geheurem Ringen leisten. Wir rücken durch die Finanz-
krise in Europa stärker zusammen. Das Gleiche müssen
wir in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
machen.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Ihr spaltet die Menschen in Europa, und ihr spaltet die Menschen in der Welt!)


Wir wollen als Deutschland ein glaubwürdiger und
verlässlicher Partner sein. Da gibt es kein Beiseitetreten.
Dieses Beiseitetreten fasziniert mich besonders ange-
sichts der Reden, die unlängst Egon Bahr anlässlich
seines 90. Geburtstags gehalten hat – er fordert eine eu-
ropäische Armee – und die Ihr Vorsitzender Sigmar
Gabriel gehalten hat. Er fordert die Aufnahme einer
europäischen Armee ins Grundgesetz. Das ist zwar alles
richtig; aber Sie fordern einen ICE mit Flügeln, stehen
selber jedoch mit einer Draisine auf einer Dampf-
lokschienenbahn und können den Fortschritt in der Euro-
päischen Union nicht in der Praxis ausgestalten. Das ist
der Fehler. Das ist das Versagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


An die Adresse der Grünen, auch wenn Sie sich ent-
halten: Ihr Antrag enthält einige interessante Punkte, und
zwar zum Wiederaufbau, zu der Finanzierung von Struk-
turen und zu der Ausbildung von Sicherheitskräften. Das
ist alles richtig. Aber ohne eine weitere militärische Op-
tion, nämlich auch die logistischen Grundlagen an Land
zu zerstören, sind all die guten Ratschläge, die Sie ge-
ben, geschwächt. Es geht gerade darum, die Werkzeug-
kiste an Maßnahmen, die die EU hat, zu erweitern und
zu ermöglichen, dass genau die Vorschläge, die Sie ma-
chen, besser zu verwirklichen sind, indem wir logis-
tische Sammelpunkte zerschlagen können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten
noch einmal in uns gehen, wenn wir die namentliche Ab-
stimmung durchführen. Sie alle sind frei in Ihrem Man-
dat. Es darf nicht, wie heute eine Zeitung titelte, der erste
Dominostein fallen. Das ist kein Spiel; es ist etwas
Hochernstes. Ich appelliere an Sie: Beißen Sie sich nicht
an der Strandfrage fest! Verbeißen Sie sich lieber in die
Frage, wie wir Deutschlands Handlungsfähigkeit in der
EU und die europäische Handlungsfähigkeit im weltwei-
ten Wettbewerb stärken können!

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717813600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/9598, den Antrag der Bundesregierung auf
Drucksache 17/9339 anzunehmen.

Wir stimmen über die Beschlussfassung namentlich
ab. Hierzu liegen mir mehrere schriftliche Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung zur Abstimmung
vor.1)

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Jetzt sind alle
Plätze an den Urnen besetzt. Ich eröffne die Abstim-
mung.

Nun die obligatorische Frage: Ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege-
ben hat? – Ich höre keinen Widerspruch. Offenbar haben
alle Anwesenden ihre Stimme abgegeben.

Ich schließe die namentliche Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9601. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der
Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Rawert, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Individuelle Gesundheitsleistungen eindäm-
men
– Drucksache 17/9061 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1717813700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Igel sind possierliche Tiere, und eigentlich
hat sie jeder trotz ihrer Stacheln gern. Hier reden wir
aber über ganz andere IGeL. Wir reden über die indivi-
duellen Gesundheitsleistungen, über Geschäftemacherei
in ärztlichen Praxen und über einen rasant wachsenden
Markt mit einem Umsatz von mittlerweile mehr als
1,5 Milliarden Euro. Wir reden darüber, dass Patientin-
nen und Patienten, die krank sind, sich elend fühlen und
deshalb ihren Arzt oder ihre Ärztin aufsuchen, in der
Arztpraxis flugs einen Rollenwechsel erfahren. Sie sind
nicht mehr in erster Linie Patient oder Patientin. Nein,
Sie sind, wie das Bundesgesundheitsministerium sagt,
„mündige Vertragspartner“.

Zu all dem sagen wir als SPD-Bundestagsfraktion
entschieden Nein.


(Beifall bei der SPD)


Denn wir wollen, dass Patientinnen und Patienten auf
ärztliche Ethik vertrauen können. Schon vor über einem
Jahr habe ich hier gestanden und bei der Diskussion des
SPD-Antrags „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“
auch eine Eindämmung der mittlerweile über 350 indivi-
duellen Gesundheitsleistungen gefordert. Schon damals
habe ich bessere Information, mehr Aufklärung, mehr
Sicherheit und Transparenz gefordert. Schon damals
wollten wir als SPD-Bundestagsfraktion, dass mit der
Abzocke mit den sogenannten Selbstzahlerleistungen
endlich Schluss gemacht wird.


(Beifall bei der SPD)


Was ist seitdem durch das FDP-Bundesgesundheits-
ministerium veranlasst worden? Ich verrate es Ihnen
gerne: gar nichts. Bundesgesundheitsminister Bahr hat
noch nicht einmal dafür gesorgt, dass zur Verhinderung
dieser Abzocke eine Regelung im Entwurf des Patien-
tenrechtegesetzes steht.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Unsinn!)


Hier steht kein einziges Wort dazu. Böse, wer da denkt,
die FDP wolle lieber den Ärzten und Ärztinnen gefallen,
als etwas zum Schutz der Patientinnen und Patienten zu
tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Dieses „Gar nichts“, dieses Fehlen im Patientenrech-
tegesetz, missfällt sogar Ihnen, werte Kolleginnen und
Kollegen der Union; denn immerhin wollen Sie, dass
schriftliche Verträge zu den Selbstzahlerleistungen abge-
schlossen werden und dass die voraussichtlichen Kosten
der medizinisch nicht notwendigen Leistungen aus-
drücklich aufgeführt werden. Wenn Sie es also ernst
meinen, dann stimmen Sie heute unserem Antrag zu.


(Beifall bei der SPD)


Ich wollte aber genauer wissen, was es mit diesem
„Gar nichts“ aus dem Bundesgesundheitsministerium
auf sich hat, und habe deshalb schriftliche Anfragen ge-

1) Anlage 2 und 3
2) Seite 21131 D





Mechthild Rawert


(A) (C)



(D)(B)


stellt, zum einen zu dem vom Deutschen Netzwerk Evi-
denzbasierte Medizin ausgezeichneten Bericht „Indivi-
duelle Gesundheitsleistungen“ des DIMDI, übrigens
eine Einrichtung im Geschäftsbereich des Bundesge-
sundheitsministeriums. Das DIMDI kommt zu dem Er-
gebnis, dass die am meisten verkaufte individuelle Ge-
sundheitsleistung, nämlich die Glaukomuntersuchung,
„keine Evidenz zum patientenrelevanten Nutzen“ auf-
weist. Mit anderen Worten: erneut Abzocke.

Nun zu einer anderen Leistung. Das interessiert uns
Frauen nun wirklich sehr. Wer von uns hätte nicht Angst
vor bösartigen Erkrankungen am Eierstock. Für das
VUS-Screening, die vaginale Ultraschalluntersuchung,
ist laut DIMDI „ein Schaden zu erkennen“. Nicht nur,
dass das Screening nichts nützt, es bringt sogar einen
Schaden mit sich. Auch die Fachverbände der Gynäko-
logen und Gynäkologinnen bestätigen, dass diese Me-
thode zur Früherkennung von Eierstockkrebs nicht zu
empfehlen ist, da sie in einem hohen Maß zu Überdia-
gnosen mit operativen Eingriffen führt. Aber das Ge-
sundheitsministerium sagt: Mit den vielen IGeLn ist ei-
gentlich alles in Ordnung.

Kennen Sie eigentlich die Realität in den Fach-
praxen? Mir erzählen Bürgerinnen und Bürger zuneh-
mend öfter, sie würden am Schalter schon mit IGeL-An-
geboten überhäuft. Einige sagen sogar, wenn sie nicht
zustimmten, ein IGeL-Angebot anzunehmen, erhielten
sie keinen Termin beim Arzt.


(Elke Ferner [SPD]: Unglaublich!)


– Das ist wirklich unglaublich, danke schön. – Das geht
eindeutig zu weit. Es geht zu weit, dass die medizinisch
nicht ausgebildeten Patienten und Patientinnen nun
plötzlich entscheiden sollen, wie sie sich selbst diagnos-
tizieren; es geht zu weit, von ihnen zu erwarten, dass sie
wissen sollen, was medizinisch sinnvoll oder unsinnig
ist. Es geht uns mit dem Antrag darum, Patienten und
Patientinnen, die krank sind, nicht nur vor Abzocke zu
schützen, sondern auch vor Schaden zu bewahren.


(Beifall bei der SPD)


Das WIdO, eine Einrichtung der AOK, hat bestätigt:
Individuelle Gesundheitsleistungen werden vorrangig
denjenigen angeboten, die über 3 000 Euro verdienen.
Sind die Patientinnen und Patienten der gesetzlichen
Krankenversicherungen denn weniger wert? Medizini-
sche Dienstleistungen gehen dann nur noch an Gutver-
diener? – Das kann es nicht sein.

Vor dem Hintergrund dessen hat die Bundesärztekam-
mer gesagt: Wir brauchen angemessene Informations-
und Transparenzrichtlinien; wir wollen sogar eine
Zweitmeinung einholen lassen. – Liebe Bundesärzte-
kammer, bitte machen Sie doch ernst! Wir brauchen zu-
nehmend mehr den Schutz des Verhältnisses zwischen
Arzt und Patient.

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – IGeL, die
zu Unrecht das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit unse-
rer gesetzlichen Krankenkassen erschüttern, brauchen
wir nicht. Ich erwarte mehr Patientenschutz, mehr Pa-
tientenrechte. Wertes FDP-Ministerium, kümmern Sie

sich um die Patientinnen und Patienten und weniger um
die Ärztinnen und Ärzte!


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717813800

Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1717813900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Frau Rawert, Sie haben in Ihrer Rede kein Wort öf-
ter gebraucht als das Wort Abzocke. Ich denke, das
drückt Ihr Verhältnis zu den Akteuren im Gesundheits-
wesen aus. Woran es im Gesundheitswesen nicht man-
gelt, ist Misstrauen; was wir dagegen mehr brauchen, ist
Vertrauen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Dann sorgen Sie dafür!)


Das ist der Geist unserer Gesundheitspolitik, und diese
Gesundheitspolitik wird Erfolge zeigen.

Allen Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse
stehen in Deutschland grundsätzlich sämtliche Leistun-
gen zu, mit denen ihr Gesundheitszustand erhalten, wie-
derhergestellt oder verbessert wird. Diese umfassende
Absicherung beinhaltet sowohl eine hochwertige Dia-
gnostik als auch eine hervorragende Behandlung im
Krankheitsfall. Das war in der Vergangenheit so, und das
wird in Zukunft so bleiben. Die Versicherten wissen,
dass sie sich auf unser Gesundheitssystem verlassen
können, das zu Recht als eines der besten weltweit gilt.
Es sichert im Krankheitsfall allen Bürgerinnen und Bür-
gern unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht,
Herkunft oder Gesundheitszustand die medizinische Be-
handlung zu, die notwendig ist.

Für die gegenwärtige hervorragende Verfassung unse-
res Gesundheitssystems hat die bürgerlich-liberale Ko-
alition in den vergangenen zweieinhalb Jahren allerdings
auch viel getan. Wir haben das System auf ein verlässli-
ches Fundament gestellt und solide durchfinanziert. Wir
haben ein zu erwartendes Defizit von bis zu 11 Milliar-
den Euro in einen Überschuss verwandelt. Wir haben
eine milliardenschwere Reserve im Gesundheitsfonds,
weshalb die Krankenkassen in absehbarer Zukunft kei-
nerlei Zusatzbeiträge verlangen müssen. Wir haben mit
dem GKV-Finanzierungsgesetz und dem Arzneimittel-
neuordnungsgesetz erreicht, dass keine höheren Eigen-
leistungen und keine Abstriche beim Leistungskatalog
erforderlich waren.


(Mechthild Rawert [SPD]: Steht da auch was zu IGeL?)


Wir haben die unabhängige Patientenberatung gesetzlich
verankert. Wir haben das Infektionsschutzgesetz zur
Verbesserung der Krankenhaushygiene verabschiedet,
und wir haben mit dem Versorgungsstrukturgesetz die
Grundlage für eine dauerhaft gute, wohnortnahe und flä-





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)


chendeckende Versorgung der Menschen mit medizini-
schen Leistungen geschaffen.

Diese erfolgreiche Gesundheitspolitik werden wir mit
einem Gesetz abrunden, das die Rechte der Patientinnen
und Patienten weiter stärkt. Damit stellen wir die Patien-
tinnen und Patienten in das Zentrum unseres Gesund-
heitswesens, also auf den Platz, der ihnen zusteht. Zu-
gleich werden wir die Patientenrechte übersichtlich
zusammenfassen, und zwar so – das füge ich ausdrück-
lich hinzu –, dass das notwendige Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient nicht zerstört wird.


(Mechthild Rawert [SPD]: Nicht zerstört werden darf!)


Im Zuge der Beratungen über den Entwurf dieses Patien-
tenrechtegesetzes werden wir uns auch mit den Maßnah-
men befassen, die die Kassenärztliche Bundesvereini-
gung als individuelle Gesundheitsleistungen, also IGeL,
bezeichnet. Dazu zählen unter anderem Impfungen vor
Fernreisen, sportmedizinische Untersuchungen, ärztliche
Berufseingangsuntersuchungen sowie diverse labordia-
gnostische Wunschleistungen. Es handelt sich also um
Maßnahmen, die aufgrund individueller Bedürfnisse ei-
nes Versicherten durchaus sinnvoll sein können, indem
sie den Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung
ergänzen. Möchte ein Patient solche Leistungen in An-
spruch nehmen, steht ihm das frei; allerdings muss er
dann deren Kosten selbst tragen.

Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang von dem
Versicherten zu beachten, dass vieles, was als Selbstzah-
lerleistung angeboten wird, in dem Moment Kassenleis-
tung ist, in dem der Verdacht auf eine Erkrankung gege-
ben ist. Deshalb muss stets klar sein: Für ärztliche
Leistungen, die in den Katalog der gesetzlichen Kran-
kenversicherung gehören, darf kein Arzt eine privatärzt-
liche Rechnung stellen oder eine Zuzahlung von einem
Versicherten verlangen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl selbstverständlich!)


Im Patientenrechtegesetz werden wir dafür Sorge tra-
gen, dass die Versicherten mit Blick auf individuelle Ge-
sundheitsleistungen umfassend geschützt werden. Dazu
werden wir folgende Bestimmungen in das Gesetz auf-
nehmen:

Erstens. Aufklärung über Kosten und Nutzen. Der
Arzt ist verpflichtet, ausführlich über die individuelle
Gesundheitsleistung aufzuklären. Diese Beratungsge-
spräche sind ausschließlich von Ärztinnen und Ärzten
vorzunehmen und nicht an Dritte zu delegieren.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717814000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Vogler von der Linksfraktion?


Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1717814100

Ja.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717814200

Herr Kollege Rüddel, ich höre aus Ihrem Beitrag he-

raus, dass das alles relativ harmlose Geschichten seien.
Ich möchte gerne einmal darauf hinweisen, dass Ihre Re-
gierung meines Wissens nichts dagegen unternimmt,
dass beispielsweise privat zu bezahlende IGeL-Leistun-
gen von manchen Ärztinnen und Ärzten zur Vorausset-
zung für eine Behandlung gemacht werden oder dass
Frauen, während sie auf einem Untersuchungsstuhl eines
Frauenarztes liegen, die von der Kollegin Rawert er-
wähnten vaginalen Ultraschalluntersuchungen angebo-
ten bekommen. Das sind Situationen, in denen eine
selbstbestimmte Entscheidung der betreffenden Patien-
tinnen überhaupt nicht vorstellbar ist. Was unternimmt
Ihre Regierung ganz konkret dagegen, dass solche Art
von Missbrauch, solche Art von Entwürdigung von Pa-
tientinnen allein zur Bereicherung von Ärzten passiert?

Sie haben vorhin von dem Vertrauen gesprochen, das
viele Ärztinnen und Ärzte bei ihren Patientinnen und Pa-
tienten völlig zu Recht genießen. Ist es nicht so, dass
dieses Vertrauen allein schon dadurch beschädigt wird,
dass die Patientin oder der Patient nie sicher weiß, ob ihr
oder ihm die Ärztin oder der Arzt etwas empfiehlt, weil
es wirklich sinnvoll, nützlich und gut ist, oder empfiehlt
sie oder er es, weil es Cash bringt, weil man die entspre-
chende Leistung privat abrechnen kann und weil die
Kasse sie – völlig zu Recht – nicht bezahlen würde.


Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1717814300

Frau Vogler, wenn Sie etwas Geduld gehabt hätten

und mich nicht nach dem ersten Punkt von vieren, die
ich hier vortragen wollte – jeder Punkt steht für eine ge-
setzliche Bestimmung –, unterbrochen hätten, dann hät-
ten Sie ein umfassendes Konzept wahrgenommen.

Ich denke, wir sind mit dem Patientenrechtegesetz auf
dem Weg, die Patientenposition zu stärken, ohne das
Vertrauensverhältnis, das in der Arzt-Patient-Beziehung
ausgesprochen wichtig ist, zu zerstören.

Wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele Jahre die
Opposition über die Schaffung eines Patientenrechtege-
setzes diskutiert hat, dann muss ich erkennen, dass wir
mit unseren Bemühungen sehr weit sind.


(Mechthild Rawert [SPD]: Alles, was die Gerichte festgestellt haben, kommt rein! Der Rest bleibt draußen!)


Dieses Gesetz wird effizient sein und wirken. Es wird
zum Jahreswechsel in Kraft treten und die Position der
Patienten deutlich stärken. Wir sind da, denke ich, auf ei-
nem guten Weg; das hat die Opposition bisher nicht zu-
stande gebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es ist immer so, dass die Opposition kein Gesetz zustande bringt!)


Wir erwarten also Aufklärung über Kosten und Nutzen.





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)


Zweitens erwarten wir die freie Entscheidung des Pa-
tienten. Ob der Patient individuelle Leistungen in An-
spruch nimmt, ist allein in seine persönliche Entschei-
dung zu stellen.

Drittens: schriftliche Zustimmung vor Behandlungs-
beginn. Das halte ich für ausgesprochen wichtig. Das ist
genau das, was auch die Position des Patienten stärkt.


(Mechthild Rawert [SPD]: Eigentlich ist das jetzt schon so!)


Der entsprechende Vertrag muss die Angabe der voraus-
sichtlichen Kosten sowie den ausdrücklichen Hinweis
enthalten, dass die Leistung – jetzt kommt es – medizi-
nisch nicht notwendig ist.

Viertens: obligatorische Rechnungsstellung des Arz-
tes. Das heißt, der Patient erhält bei jeder individuellen
Gesundheitsleistung eine schriftliche Rechnung nach der
amtlichen Gebührenordnung für Ärzte oder Zahnärzte.
Pauschal- oder Erfolgshonorare sind nicht zulässig.


(Mechthild Rawert [SPD]: Schluss mit Cash!)


Weil bestimmte IGeL-Leistungen bei einzelnen Pa-
tienten durchaus sinnvoll sind, während sie für andere
eher überflüssig oder schädlich sein können, begrüße ich
im Übrigen ausdrücklich das neue Internetportal IGeL-
Monitor, das der Medizinische Dienst des Spitzenver-
bands der Krankenkassen initiiert hat. Dieses gibt den
Versicherten die Möglichkeit, sich im Internet umfas-
send über die Bewertung diverser IGeL-Leistungen zu
informieren.

Beratungen bieten neben anderen auch die Unab-
hängige Patientenberatung Deutschland, die Deutsche
Krebshilfe, der Arbeitskreis Frauengesundheit sowie im
zahnärztlichen Bereich die Kammern und Vereinigungen
der Bundesländer an.

Ich darf also zusammenfassend feststellen, dass die
SPD-Fraktion mit dem vorliegenden Antrag offene Tü-
ren einrennt.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Dann können Sie ja zustimmen!)


Sie können deshalb davon ausgehen, dass Ihr Anliegen
bei uns in guten Händen ist.

Ich will allerdings nicht verschweigen, dass mir der
Wortlaut Ihres Antrags nicht ganz frei zu sein scheint
von Übertreibungen und Überspitzungen. Er erweckt lei-
der wieder den Eindruck, dass Ihnen jegliche Wahlfrei-
heit der Patienten ein Dorn im Auge ist,


(Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen Schaden abwenden!)


dass Ihnen jeglicher Wettbewerb in der Versorgung zu-
wider ist und dass für Sie das einzige Heil in einer staat-
lichen Einheitsmedizin besteht.


(Mechthild Rawert [SPD]: So ein Schwachsinn! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Traurig, aber wahr!)


Meine Damen und Herren, wir wollen den mündigen
und informierten Patienten, der seine Rechte selbststän-
dig wahrnimmt und seinem Arzt auf Augenhöhe begeg-
net. Das entspricht unserem Leitbild eines souveränen
und mündigen Patienten. Was wir nicht wollen, ist der
Patient, der wie ein Unmündiger behandelt und allseits
vom Staat bevormundet wird.

Seien Sie deshalb versichert: Wir werden im Patien-
tenrechtegesetz dafür sorgen, dass die Versicherten ihre
Entscheidung für oder gegen eine individuelle Gesund-
heitsleistung ohne Druck und Zwang treffen können.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717814400

Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit durch eine

Zwischenfrage der Kollegin Rawert verlängern?


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie hat doch schon geredet!)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1717814500

Gern.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1717814600

Herr Kollege, eine Frage: Ist Ihnen bekannt, dass zeit-

gleich mit dem jetzt vom Bundesgesundheitsministerium
vorgelegten Entwurf eines Patientenrechtegesetzes das
Verbraucherschutzministerium eine Untersuchung in
Auftrag gegeben hat, und zwar eine Untersuchung zur
Aufklärung bei den individuellen Gesundheitsleistun-
gen, in der alle kritischen Anmerkungen, die wir ma-
chen, die wir vorhin auch benannt haben, noch einmal
wissenschaftlich untersucht werden? Mit anderen Wor-
ten: Knatsch in der Regierung!


Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1717814700

Ich habe ausdrücklich betont, dass ich mich freue,

dass der MDK eine Auflistung von IGeL-Leistungen
und eine Bewertung vornimmt. Das kann nur dazu die-
nen, dass der Patient informiert, mündig mit dem Arzt in
Kontakt tritt. Ich denke, alles, was dieses Verhältnis ver-
bessert, was Vertrauen stärkt, den Patienten stärker
macht, kann in unserem Gesundheitssystem nur helfen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Dann danke ich Frau Aigner!)


Wir werden dafür sorgen, dass die Entscheidung über
einen privatrechtlichen Vertrag mit dem Arzt bzw. Zahn-
arzt auf jeden Fall bei den Patientinnen und Patienten
liegen wird. Und wir werden dafür sorgen, dass die Pa-
tientinnen und Patienten vor möglichem Missbrauch und
vor unnötigen und überflüssigen Maßnahmen wirkungs-
voll geschützt werden. Wir sind auf einem hervorragen-
den Weg. Ich hoffe, dass Sie zum Jahreswechsel unse-
rem Entwurf des Patientenrechtegesetzes zustimmen
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Welches Jahr jetzt? – Mechthild Rawert [SPD]: Welches Jahr?)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717814800

Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717814900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Rüddel, was
Sie gerade vorgetragen haben, ist zumindest herrschende
Rechtslage bei der Rechtsprechung der Gerichte. Genau
das schreiben Sie in den Entwurf des Patientenrechtege-
setzes. Sie schreiben nichts darüber hinaus. – Jetzt zum
eigentlichen Thema.

Mittlerweile ist es Alltag: Der Arzt oder die Ärztin,
oft auch das übrige Praxispersonal, bieten den Patienten
– oder sollte man besser „Kunden“ sagen? – eine zusätz-
liche Leistung an. Diese sei zwar sinnvoll, wird einem
erläutert, aber die Kasse übernehme die Kosten leider
nicht. Die Patienten können das schwer einschätzen;
denn das Bild vom souveränen und mündigen Kunden,
das Sie immer bemühen, hinkt, nicht nur in der Medizin,
aber dort besonders.

Viele Patientinnen und Patienten ahnen mit ungutem
Gefühl: Die wenigsten dieser individuellen Gesundheits-
leistungen, abgekürzt IGeL, sind tatsächlich sinnvoll.
Die meisten sind schlichtweg nutzlos, einige sogar
schädlich. Eines bewirken sie allerdings immer: Sie stei-
gern den Umsatz der Praxis.

Es wundert dann auch nicht, dass es Seminare für
Ärzte und Praxisteams gibt, bei denen das Verkaufen
von Leistungen gelehrt wird. So bietet die Firma
INSTATIK GmbH ein effektives „Know-how aus rheto-
rischen und verkaufspsychologischen Techniken und
Kniffen“ an. Die Firma bewirbt ihre Trainings ganz of-
fen mit dem Ziel:

Denn durch das Anbieten dieser IGeL-Leistungen
… kann systematisch Zusatz-Umsatz etabliert und
gesteigert werden.

Diese Schulungsfirma verliert kein Wort darüber, ob
der Patient irgendeinen Nutzen von der Sache hat. Das
ist denen auch völlig egal. Es geht einzig und allein um
die Umsatzsteigerung auf dem Gesundheitsbasar. Des-
wegen lassen sich die Ärzte ein eintägiges Seminar bei
diesem Anbieter immerhin 589 Euro kosten.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das muss er wieder reinholen!)


Der Werbeaufwand ist groß, es winkt aber auch ein gro-
ßer Ertrag: über 1,5 Milliarden Euro werden jedes Jahr
mit IGeL umgesetzt. Das sind gut 21 Euro pro gesetzlich
Versichertem. Das hört sich wenig an, aber pro Kassen-
arzt sind das durchschnittlich immerhin 11 000 Euro.
Das ist der Durchschnitt, das heißt, es gibt auch einige
Ärzte, die deutlich mehr verdienen. Für diese ist es ein
sehr gutes Geschäftsmodell.

In einer Medizin, die sich zunehmend als Markt ver-
steht, verändert sich das Verhältnis von Arzt zu Patient.
Unter dem Deckmantel des nach wie vor vorhandenen

Vertrauens, das dem ärztlichen Beruf entgegengebracht
wird, wird eine Tauschlogik eingeführt, in der der Arzt
zum Verkäufer und der Patient zum Kunden wird. Das
führt zur Anpreisung von medizinisch nicht notwendi-
gen, womöglich sogar fragwürdigen Waren auf dem Ge-
sundheitsmarkt.

Manche Ärzte scheinen inzwischen zu ahnen, dass
diese Entwicklung problematisch ist. So hat der im No-
vember verstorbene ehemalige Präsident der Bundesärz-
tekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, in seiner letzten Rede
der Ärzteschaft ins Stammbuch geschrieben:

Patienten müssten darauf vertrauen können, dass
medizinische Gründe und nicht das Gewinnstreben
Ärzte motivieren.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Gut gesprochen hat er!)


Andreas Köhler von der Kassenärztlichen Bundesver-
einigung, ebenfalls unverdächtig, ein Linker zu sein, hat
sich ähnlich geäußert. Er appellierte an die Ärzte, sensi-
bel mit den IGeLeien umzugehen, weil sonst das Ver-
trauensverhältnis zu den Patienten Schaden nehmen
könnte. Recht haben die beiden. Sie kritisieren damit in-
direkt eine Gesundheitspolitik, die glaubt, mit der Ver-
marktung der Medizin deren Probleme lösen zu können.
Das geht nicht.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD – Zuruf von der FDP)


– Wir waren es jedenfalls nicht, um es ganz deutlich zu
sagen.

Für die Linke ist klar: Die Kassen müssen alle not-
wendigen Leistungen übernehmen. Darauf sollen sich
der Patient und die Patientin verlassen können. Damit
entfällt eine Notwendigkeit für mehr IGeLei. Man muss
aber ernsthaft überlegen, zumindest all diejenigen IGeL
zu verbieten, die nachweislich mehr schaden als nützen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun zum SPD-Antrag. Der SPD-Antrag, der die IGeL
nur etwas regulieren will, geht in die richtige Richtung,
springt aber auch an einigen Stellen etwas zu kurz. So
will die SPD, dass für denselben Patienten nicht am sel-
ben Tag sowohl ein IGeL als auch eine normale GKV-
Leistung erbracht werden dürften, um den Patientinnen
und Patienten Zeit zu geben, über diese Leistung nach-
zudenken. Der Ansatz ist lobenswert, aber wir fragen
uns: Wie soll das kontrolliert werden?


(Gabriele Molitor [FDP]: IGeL-Polizei!)


Und: Ist es nicht auch ein Problem, wenn Ärzte die Zeit,
für die sie sich verpflichtet haben, Kassenpatienten und
-patientinnen zu behandeln, mit IGeL vergeuden? Wir
finden, ein Arzt sollte sich entscheiden und voneinander
getrennte GKV- und IGeL-Sprechstunden abhalten.

Über viele Forderungen des SPD-Antrags kann man
sich natürlich streiten. Nach Überweisung im Ausschuss
werden wir das gerne produktiv tun. Wir befürchten nur





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)


sehr, dass die Koalition keine dieser Ideen aufgreifen
wird, weil sie weiterhin Medizin als Markt versteht.

Zum Schluss noch ein Tipp an Patientinnen und Pa-
tienten sowie eine Anregung für Ärzte – auch Herr
Rüddel hat schon darauf hingewiesen; hier wiederhole
ich ein Stück weit –: Patientinnen und Patienten sollten
kritisch sein, wenn Ihnen ein IGeL angeboten wird. Neh-
men Sie sich ausreichend Bedenkzeit; reden Sie mit Ih-
rer Krankenkasse, mit der Unabhängigen Patientenbera-
tung, oder schauen Sie auf www.igel-monitor.de vorbei.
Dort sind viele Leistungen in verständlicher Sprache be-
wertet worden. So haben Sie eine unabhängige und kos-
tenfreie zweite Meinung.

Die Anregung an Ärzte: Überlegen Sie einmal, ob Sie
an Ihrer Praxis nicht ein Qualitätssiegel anbringen kön-
nen, das da heißt: „IGeL-freie Praxis“.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Ich bin überzeugt, dass viele Patientinnen und Patienten
gerne kommen, wenn sie schon von außen sehen, dass
sie einen Arzt aufsuchen und sich nicht auf einen Ge-
sundheitsbasar begeben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717815000

Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1717815100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Rawert,
Ihr Antrag und Ihre Rede machen eigentlich eines deut-
lich: Sie wollen die IGeL abschaffen.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die, die sinnvoll sind, in den Leistungskatalog! Ist doch klar!)


Dann sagen Sie das doch bitte so deutlich und unterlas-
sen die Vorschläge, mit denen die IGeL so erschwert
würden, dass sie nicht mehr in Anspruch genommen
werden können.


(Mechthild Rawert [SPD]: Was sagen Sie denn zum Screening?)


Ich denke, dass die gesetzliche Krankenversicherung
ihren Versicherten einen umfassenden, guten Schutz bie-
tet. Es gibt aber auch Leistungen, die nur unter bestimm-
ten Bedingungen oder gar nicht von der gesetzlichen
Krankenversicherung übernommen werden, nämlich die
individuellen Gesundheitsleistungen. Diese Leistungen
werden aus bestimmten Gründen nicht von den Kran-
kenkassen bezahlt, zum Beispiel weil, wie bei der Aku-
punktur, die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode
noch nicht abschließend ermittelt ist oder aufgrund der

individuellen Lebensführung, zum Beispiel einer Imp-
fung vor dem Urlaub. Das alles sind IGeL-Leistungen.

Es geht darum, eine individuelle Abstimmung auf die
Bedürfnisse des Patienten zu ermöglichen und eine gute
Ergänzung zur medizinischen Versorgung zu geben. Wir
möchten dieses Wunsch- und Wahlrecht auch in der Zu-
kunft ermöglichen und möchten nicht, wie Sie es wollen,
eine gesetzlich verordnete Zwangsbedenkpause,


(Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen Schaden abwenden!)


um auf diesem Wege die Patienten zu einem erneuten
Arztbesuch zu zwingen und dadurch die Leistungen zu
erschweren oder gar zu verhindern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schon jetzt gilt, dass eine persönliche Aufklärung nö-
tig ist, dass eine Einwilligung des Patienten vorliegen
muss und dass sich die Abrechnung an der Gebührenord-
nung orientieren muss. Ich weiß nicht, wo Sie manchmal
leben. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Patienten
in der Arztpraxis schon am Tresen mit diesen Angeboten
konfrontiert werden,


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist die Regel!)


dann haben die Patienten die Möglichkeit, auf dem Ab-
satz kehrtzumachen und die Praxis zu verlassen.


(Lachen bei der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Ich bin krank!)


Die Abstimmung erfolgt mit den Füßen. Wir vertrauen
darauf, dass die Patientinnen und Patienten das sehr
wohl selbst entscheiden können.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist die Lebenswirklichkeit der FDP!)


Sie bevormunden die Menschen und trauen ihnen über-
haupt nichts zu.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Auf eines möchte ich besonders hinweisen: Der Deut-
sche Ärztetag hat einen Verhaltenskodex im Zusammen-
hang mit dem Erbringen von IGeL verabschiedet.


(Mechthild Rawert [SPD]: Ja, 2006!)


Darin steht, wie diese Leistungen verantwortungsvoll
anzubieten sind. Das Patientenrechtegesetz nimmt hie-
rauf Bezug. Sie jedoch wollen doppelte Wege und län-
gere Wartezeiten. Kassenleistungen sollen nicht am glei-
chen Tag wie IGeL-Leistungen erbracht werden dürfen.
Das ist der falsche Weg. Sie erzwingen damit Mehrfach-
besuche und belästigen die Patienten mit einer völlig un-
angebrachten Regelungswut.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Rawert, das ist, als würden Sie beispielsweise in
ein Geschäft gehen, um sich eine neue Hose zu kaufen,
und der Verkäufer würde Ihnen sagen: Nein, die kann ich
Ihnen heute nicht verkaufen, dazu müssen Sie morgen





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


wiederkommen. Das ist einfach nicht lebensnah und völ-
lig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717815200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Rawert?


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1717815300

Nein, die Kollegin Rawert hat schon ausreichend Re-

dezeit gehabt.


(Mechthild Rawert [SPD]: Meine Gesundheit ist auch etwas anderes als eine neue Hose!)


– Das ist richtig. Trotz- und alledem muten Sie den Men-
schen eine Menge zu, indem Sie meinen, mit einem er-
neuten Besuch würde sich alles besser regeln lassen.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Lange Unterhosen! – Heinz Lanfermann [FDP], an die Abg. Mechthild Rawert [SPD] gewandt: Regen Sie sich doch nicht so auf! Sie müssen doch keine neue Hose kaufen!)


Außerdem fordern Sie in Ihrem Antrag zusätzliche
Informationen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Ja, das fordert die Bundesärztekammer auch!)


Die Krankenkassen haben aber sehr unterschiedliche
Leistungen. Deshalb müsste für jede Kasse eine Über-
sicht ausgehängt werden. Das geht wirklich am Problem
vorbei. Es gibt die schon erwähnte Internetseite
www.igel-monitor.de. Das klappt schon ganz ohne Ge-
setz.


(Elke Ferner [SPD]: Welche Krankenkasse zahlt dann IGeL-Leistungen, Frau Kollegin?)


Sie fordern Bürokratie in Form von Verträgen und
Berichten. Die dafür erforderliche Zeit wird bei den Pa-
tienten fehlen. Sie fordern mehr Bürokratie, womit der
Arzt im Endeffekt weniger Zeit für seinen Patienten ha-
ben wird. Das wollen wir auf gar keinen Fall.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Ich fordere Schutz und Aufklärung!)


Außerdem ist Ihr Gesetzesentwurf ein Misstrauensvo-
tum.


(Mechthild Rawert [SPD]: Noch ist es ja ein Antrag!)


Das ist auch durch Ihre Wortwahl eben sehr deutlich ge-
worden. Sie sprechen von „Abzocke“


(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)


und sehen Ärzte allein aus einer Verkaufsperspektive.
Das entlarvt Ihr Denken: Wenn in einem Bereich Geld
verdient wird, dann ist das per se etwas Schlechtes. Das
ist nicht in Ordnung und muss hinterfragt werden. Des-
wegen schauen Sie, wie man das verhindern kann.


(Mechthild Rawert [SPD]: Patienten gehen zum Arzt und nicht zum Kaufmann!)


Es geht schließlich auch um die Therapiefreiheit. Da-
für möchte ich hier eine Lanze brechen. Haben Sie sich
einmal überlegt, was Ihr Vorschlag für Menschen bedeu-
tet, die zum Beispiel auf Naturheilverfahren setzen?


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Darüber hat die Sozialdemokratie sich noch keine Gedanken gemacht!)


Wollen Sie ihnen diese Möglichkeit verwehren? Denn
auch das sind zum großen Teil IGeL-Leistungen.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sie können zur Techniker gehen! Bei der Techniker Krankenkasse ist es im Leistungskatalog!)


Den Patienten, denen die Schulmedizin, die sicherlich
auch hin und wieder an ihre Grenzen stößt, nicht helfen
kann, verwehren Sie die Möglichkeit, auf alternative
Heilverfahren zu setzen, indem Sie IGeL-Leistungen er-
schweren wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Quatsch! – Mechthild Rawert [SPD]: Sie nehmen nur die finanzielle Sicht heraus!)


Wir teilen Ihr Menschenbild nicht, nach dem der Pa-
tient ein wehrloses Opfer ist. Das wird den Menschen
nicht gerecht. Schon Kant hat gefordert: „Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Das ge-
schieht in den allermeisten Fällen auch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Aber Kant wollte, dass er gesund wird, einfach nur geheilt werden!)


Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir Vertrauen. Wir se-
hen, dass das gewährleistet ist, und wir glauben, dass die
bestehenden Regelungen ausreichend sind, um diesen
Bereich entsprechend zu handhaben.

Ihr Vorschlag ist wieder nur ein Versuch, Dinge zu er-
schweren. Ein Glück, dass es die liberale Gesundheits-
politik gibt!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Jetzt haben Sie es aber gesagt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717815400

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich

zwischendurch das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie-
rung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der EU-geführten Operation
Atalanta mitteilen: abgegebene Stimmen 570. Mit Ja ha-
ben gestimmt 305, mit Nein haben gestimmt 206, Ent-
haltungen 59.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 570;
davon

ja: 305
nein: 206
enthalten: 59

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe

Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann

Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn

Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

CDU/CSU

Wolfgang Börnsen

(Bönstrup)


SPD

Ingrid Arndt-Brauer

Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme

Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Frank Schäffler

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Bettina Herlitzius
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele

Enthalten

SPD

Elvira Drobinski-Weiß
Michael Groschek

Hans-Ulrich Klose
Petra Merkel (Berlin)


FDP

Helga Daub

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring

Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Priska Hinz (Herborn)

Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)


Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.

Nun hat das Wort Maria Klein-Schmeink von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie schon häufiger haben wir hier eine Dis-
kussion mit zwei ideologischen Lagern. Der einen Seite
wird unterstellt, Staatsmedizin zu befürworten. Auf der
anderen Seite ist der Wettbewerb, die Freiheit und das
Vertrauen in die Ärzteschaft, das System und die Leis-
tungserbringer.


(Gabriele Molitor [FDP]: Genau! Das Zweite ist richtig!)


Beide Seiten lassen eines vermissen, nämlich die
Mitte: den Patienten, Patientenorientierung und Patien-
tenschutz.

In dieser Debatte hat sich wieder gezeigt, dass es sehr
selten gelingt, differenziert auf ein Problem einzugehen.

Wir haben durchaus ein Problem, nämlich dass die
Zahl der IGeL-Leistungen tatsächlich ansteigt. 60 Pro-
zent aller Augenarztpatienten wird eine IGeL-Leistung
angeboten, in der Regel die Glaukomuntersuchung. Das
betrifft regelmäßig ältere Menschen, die sich kaum in
der Lage sehen, dieses Angebot angemessen einzuschät-
zen. Auch beim Frauenarzt wird 50 Prozent der Patien-
tinnen eine Vaginaluntersuchung mittels Ultraschall als
IGeL-Leistung angeboten. Es werden auch in anderen
Bereichen, zum Beispiel in der Schwangerenvorsorge,
IGeL-Leistungen angeboten, deren Notwendigkeit für
die Betroffenen sehr schwer einzuschätzen ist. Wir ha-
ben also ein Informationsproblem.

Wir haben gleichzeitig das Problem, dass sich die
Ärzteschaft deutliche Regeln, einen Verhaltenskodex ge-

geben hat. Wir wissen aber aus mehreren Untersuchun-
gen – nicht nur vom WIdO, sondern auch von anderen,
von der Ärzteschaft veranlassten Untersuchungen –,
dass diese Verhaltensregeln sehr häufig nicht eingehalten
werden. In knapp 50 Prozent der Fälle erfolgt zum Bei-
spiel keine schriftliche Aufklärung, dabei ist ein schrift-
licher Behandlungsvertrag gemäß Bundesmantelvertrag
vorgeschrieben. Solche Zahlen muss man ernst nehmen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Deswegen gibt es unseren Antrag!)


Ich meine schon, dass es uns allen hier in diesem
Raum gut anstünde, diese Vorgänge ernst zu nehmen.
Sie machen zwei Dinge. Zum einen überfordern Sie den
Patienten, und zum anderen erschüttern Sie das Selbst-
verständnis des Heilberufes und führen ihn immer näher
heran an das Selbstverständnis eines Gewerbetreiben-
den. Wir Politiker haben die Sorgfaltspflicht und stehen
in der Verantwortung, diese Scheidelinie sehr klar zu
ziehen und die Ärzteschaft zu unterstützen, diese Ab-
grenzung sauber zu treffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Mechthild Rawert [SPD]: Das ist jetzt das Klatschen für die Existenz des Antrages!)


Als die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchun-
gen vorlagen, habe ich bei der Bundesregierung ange-
fragt: Was machen Sie denn jetzt mit den Ergebnissen
aus den Umfragen? Die Antwort war: Wir sehen keinen
Handlungsbedarf, es ist Aufgabe der Selbstverwaltung,
tätig zu werden. – Wenn ich die Patientenrechte und den
Patientenschutz wirklich ernst nehme, meinen Sie nicht,
dass es besser wäre, zu sagen: Wir sehen da ein Problem
und überlegen, wie wir mit den Selbstverwaltungspart-
nern zu Lösungen kommen? Wäre das nicht vielleicht
die angemessene Antwort gewesen? Ich habe die Ant-
wort im November erhalten. Es hieß: kein Handlungsbe-
darf.





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)



(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Wir haben eben gehört, das Ganze hat sehr viel mit
Aufklärung und Information im Rahmen des Behand-
lungsvertrags zu tun. Es steht jetzt an, entsprechende
Vorschriften im Patientenrechtegesetz zu regeln. Sie ha-
ben uns einen Referentenentwurf vorgelegt, der zwi-
schen dem Justizministerium – FDP-geführt –, dem
Gesundheitsministerium – FDP-geführt – und dem Pa-
tientenbeauftragten Herrn Zöller abgestimmt wurde. Da-
rin sind Vorschläge enthalten, wie der Behandlungsver-
trag gestaltet sein soll.


(Gabriele Molitor [FDP]: Es passiert doch was!)


Sie haben Vorschläge gemacht, wie mit Information
und Aufklärung im Behandlungsvertrag umgegangen
werden soll. Was steht dort? Es müssen lediglich die
Kosten für die Behandlung vereinbart werden. In der Be-
gründung haben Sie dann ausgeführt, alles Weitere wäre
Aufgabe des Patienten, von dem man schon erwarten
könne, dass er zur Krankenkasse geht und sich erkun-
digt, ob die Kosten übernommen werden oder nicht. Das
sind nicht wirklich Schutzvorschriften, das sind auch
keine Aufklärungsvorschriften, die Sie für den Behand-
lungsvertrag vorgesehen haben. Das fällt sogar hinter die
Formulierungen im Bundesmantelvertrag zurück. So
kann die Ausgestaltung des Patientenrechts nicht ausse-
hen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert [SPD]: Es reicht nicht, Patienten zu mündigen Vertragspartnern zu machen!)


Frau Molitor, Sie haben sehr stark darauf abgehoben,
dass Sie sich um das Wunsch- und Wahlrecht kümmern,
aber es geht nicht nur um Wunsch- und Wahlrecht in ab-
strakter Form, sondern es geht darum, dass ich nur als
informierter Patient tatsächlich die Chance habe, eine
gute Wahl zu treffen, und genau das regeln Sie nämlich
nicht. Dabei ist es unsere Aufgabe als Gesetzgeber, dafür
zu sorgen, dass die Auflagen für Aufklärung, für Infor-
mation, für den schriftlichen Behandlungsvertrag, für
den Kostenvoranschlag und für die korrekte Rechnungs-
stellung tatsächlich eingehalten werden.


(Gabriele Molitor [FDP]: Sie meinen, wenn alles geregelt ist, dann passiert das schon?)


Es ist unsere Aufgabe, über Werbearbeit und Aufklä-
rungsarbeit auf die Einhaltung hinzuwirken. Es ist auch
wichtig, Mechanismen vorzusehen, die greifen, wenn
die Vorschriften nicht eingehalten werden. Daran werden
wir Sie messen.

Herr Rüddel, Sie haben eine schöne Liste vorgelegt.
Ich bin gespannt, wie das hinterher im Patientenrechte-
gesetz tatsächlich stehen wird. Der jetzige Vorschlag je-
denfalls enthält alle die Aspekte, die Sie gerade betont
haben, nicht.

Ich gebe gerne zu, dass die SPD ein Stück über das
Ziel hinausgeschossen ist. Alltagsferne und Patientenge-
rechtigkeit werden darin vermischt, was keine gute Sa-
che ist.


(Gabriele Molitor [FDP]: Der einzig gute Punkt in der Rede! – Mechthild Rawert [SPD]: „Alltagsferne“ lasse ich mir von Ihnen nicht vorwerfen!)


Ich denke, in den Anhörungen werden wir erfahren, wie
adäquatere Vorschläge aussehen können. Ich verstehe
zum Beispiel nicht, warum wir den Vorschlag der Ärzte-
schaft, eine Positiv- und eine Negativliste der IGeL auf-
zulegen, nicht aufgreifen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717815500

Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1717815600

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit keine Zweifel
aufkommen, will ich zunächst sagen: Ich war Delegier-
ter des Deutschen Ärztetages, der die vorhin erwähnten
Beschlüsse im Jahr 2006 gefasst hat. Ich bin auch an den
Vorbereitungen für den kommenden Deutschen Ärztetag
beteiligt. Es wird eine Neuauflage der Beratungsbro-
schüre geben, die nicht nur von der Bundesärztekammer
und der Kassenärztliche Bundesvereinigung, sondern
auch von der großen Mehrzahl der freien ärztlichen Ver-
bände herausgeben wird. Mir ist kein Verband bekannt,
der davor zurückgeschreckt wäre. Deswegen finde ich es
angemessen, mit etwas mehr Sachlichkeit zu diskutieren
und nicht Worte wie „Abzocke“ zu wählen.


(Gabriele Molitor [FDP]: Genau! Sehr richtig!)


Damit tun Sie Ihrem Anliegen keinen Gefallen. Viel-
mehr sorgen Sie geradezu für eine Konfrontation.


(Gabriele Molitor [FDP]: Richtig! Genau!)


Ich bin dankbar dafür, dass schon andere darauf hin-
gewiesen haben, dass zum Beispiel bezüglich des
schriftlichen Behandlungsvertrags die Rechtslage ein-
deutig ist. Für den Fall, dass individuelle Gesundheits-
leistungen von Vertragsärzten gegenüber gesetzlich
Krankenversicherten erbracht werden, schreibt der Bun-
desmantelvertrag einen schriftlichen Behandlungsver-
trag zwingend vor. In ihm sollen die Leistungen anhand
von Gebührenpositionen der amtlichen Gebührenord-
nung für Ärzte konkretisiert werden. Außerdem soll der
Steigerungssatz festgelegt werden und der ausdrückliche
Hinweis enthalten sein, dass die Leistungen mangels
Leistungspflicht der GKV privat zu honorieren sind. Ein
solcher Behandlungsvertrag, so jedenfalls die Empfeh-
lung der Ärzteschaft auf dem Deutschen Ärztetag, sollte
auch in den Fällen geschlossen werden, in denen er nicht
zwingend vorgeschrieben ist. Meines Erachtens müssen
Sie das nicht gesetzlich regeln.


(Gabriele Molitor [FDP]: Richtig! – Mechthild Rawert [SPD]: Das ist die Theorie und nicht die Praxis!)






Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


Sie können das zwar gesetzlich regeln, aber die stärkste
Sanktion ist doch die Tatsache, dass ein Kassenarzt, der
sich nicht an diesen schriftlichen Behandlungsvertrag
hält, keinen Vergütungsanspruch hat. Natürlich braucht
der Patient, wenn gegen diese Regeln verstoßen wird,
die Leistung nicht zu bezahlen. Das ist völlig evident
und klar.


(Mechthild Rawert [SPD]: Welcher Patient weiß das?)


Bei allen Ärztekammern gibt es eine entsprechende
Beratung. Wer sich fragt: „Muss ich diese Leistung be-
zahlen, ja oder nein?“, kann sich von den Gebührenord-
nungsabteilungen der Kammern beraten lassen. Jeder
Bürger bekommt dort eine Auskunft.

Ich bin der Meinung, dass noch ein zweiter Mangel in
Ihrem Antrag steckt. Es fehlt eine differenzierte Betrach-
tung der Frage, was unter IGeL-Leistungen zu verstehen
ist. Sie sprechen immer von Patienten. Wenn es sich um
Patienten handelt, dann erfolgt eine Behandlung im Rah-
men der Indikation nach dem System der gesetzlichen
Krankenversicherung oder nach dem System der priva-
ten Krankenversicherung. Notwendig, zweckmäßig, aus-
reichend und wirtschaftlich – das sind die Regeln in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Die Regeln der pri-
vaten Krankenversicherung sehen anders aus. Nach die-
sen Regeln wird behandelt.

Aber hier reden wir doch gar nicht über Leistungen,
die an Kranken erbracht werden. Wir reden nicht über
Patienten, sondern wir reden über Leistungen, die ein
Gesunder für sich interessant findet. Es geht um Freizeit,
Urlaub und Sport.


(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


– Entschuldigung. Sie können sich die Welt nicht ein-
fach schnitzen. Sie ist nicht so einfach, wie Sie das in Ih-
rem Antrag transportieren. Nehmen Sie doch einfach
einmal zur Kenntnis, dass es beispielsweise höchst sinn-
volle reisemedizinische Beratungen gibt, einschließlich
Impfberatungen und Impfungen. Was hat das mit dem
Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenkassen zu
tun?


(Mechthild Rawert [SPD]: Das haben wir dezidiert ausgeschlossen!)


Es gibt Tauglichkeitsuntersuchungen, es gibt sportmedi-
zinische Beratungen und Untersuchungen. Wieso soll je-
mand, der sich beispielsweise vor der Ausübung einer
Extremsportart über seinen Gesundheitszustand Auf-
schluss verschaffen will, dies von der Krankenkasse fi-
nanziert bekommen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])


Es ist doch normal, dass das eine eigenständige Leistung
außerhalb des Anspruchs an die gesetzliche Kranken-
kasse ist und deswegen als individuelle Gesundheitsleis-
tung abgerechnet wird.


(Mechthild Rawert [SPD]: Genau das steht im Antrag!)


Nehmen Sie das Beispiel kosmetische IGeL, also zum
Beispiel Facelifting, Lidkorrektur, Fettabsaugung, Ent-
fernung von Alterswarzen oder Entfernung von Tätowie-
rungen. Das alles sind Leistungen, die mit dem Leis-
tungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen nichts zu
tun haben und über deren Sinn und Unsinn man lange
streiten kann. Ich bin für die Initiativen, die fordern: Ver-
bietet es, dass man solche Leistungen Personen unter 18
Jahren andrehen darf. Ich teile diese Meinung. Aber an-
sonsten ist es in unserer heutigen Welt so, dass ein Ge-
sunder das für sich selbst entscheidet.


(Mechthild Rawert [SPD]: Was sagen Sie denn zu VUS-Screening?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717815700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Klein-Schmeink?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1717815800

Ja, gerne.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Henke, Sie haben jetzt einige IGeL aufgeführt,
die in den Bereich fallen, der etwa 20 Prozent der ge-
samten IGeL-Leistungen ausmacht. Wir wissen aber,
dass insbesondere die Früherkennungsmethoden einen
großen Anteil ausmachen. Im Deutschen Ärzteblatt,
Jahrgang 2009, gibt es eine Untersuchung, die zeigt,
dass Augeninnendruckmessungen mit 40,4 Prozent den
höchsten Anteil all der dort genannten IGeL-Leistungen
ausmachen. Wir müssen davon ausgehen, dass es sich in
der Tat zumeist um eine Früherkennungsmethode han-
delt.

Sie haben sich als Präsident der Ärztekammer Nord-
rhein ja nicht grundlos um einen Verhaltenskodex be-
müht. Sie wissen nämlich, dass es da Probleme gegeben
hat. Kann ich davon ausgehen, dass die Regelungen, die
vorgeschlagen worden sind, zumindest teilweise in das
geplante Patientenrechtegesetz übernommen werden?
Im jetzigen Formulierungsvorschlag werden all diese
Elemente nicht genannt.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1717815900

Vielen Dank, Frau Klein-Schmeink, für diese Frage. –

Sie haben Quantitäten genannt. Ich habe dazu keine Er-
kenntnis. Es gibt noch wesentlich mehr IGeL-Leistun-
gen. Ich denke etwa an Bescheinigungen für den Besuch
eines Sportvereins, Bescheinigungen bei Reiserücktritt
oder eine ärztliche Bescheinigung bei Einstieg in einen
Beruf.


(Mechthild Rawert [SPD]: All das ist nicht Bestandteil des Antrags!)


Einige Menschen haben den Wunsch, ihre Wehrtauglich-
keit überprüfen zu lassen, bevor sie sich entscheiden, in
den freiwilligen Wehrdienst einzutreten. Sie wollen vor-
her ihre Gesundheit überprüfen lassen und sind bereit,
dafür zu zahlen. Es gibt auch Menschen, die gerne wis-
sen wollen, welche Blutgruppe sie haben, ohne dass es





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


dafür eine medizinische Notwendigkeit gibt. Wo ist da
das Problem?

Sie weisen natürlich auf einen Punkt hin, der im Zu-
sammenhang mit Gesundheitsleistungen – nicht nur au-
ßerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenkasse,
sondern auch innerhalb – immer eine Rolle spielt. Die
entscheidende Frage ist: Liegt ein Einverständnis des in-
formierten Patienten für das Durchführen einer Maß-
nahme vor, die eine Intervention in seinen Organismus
oder in seine Psyche bedeutet? Es ist die ethische Pflicht
der Ärzte, eine korrekte Aufklärung zu betreiben. Wer
gegen dieses Aufklärungsgebot, das auch in der Muster-
berufsordnung der Ärzteschaft geregelt ist, verstößt,
muss zur Rechenschaft gezogen werden.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Von wem?)


Das gilt unabhängig von der Frage, ob es eine Leistung
ist, die im Leistungskatalog der gesetzlichen Kranken-
kassen enthalten ist. Wenn sie bei einer Person überflüs-
sig ist, darf sie nicht erbracht werden, und wenn sie kri-
tisch ist, muss man mit dem Patienten oder der Patientin
darüber reden, ob in diesem konkreten Fall die entspre-
chende Maßnahme geboten ist oder nicht.

Ein gutes Beispiel dafür ist das Screening auf ein
sonst erst spät zu erkennendes Mammakarzinom, also
Brustkrebs. Über diese Untersuchung wie über die Un-
tersuchung von Männern auf das prostataspezifische An-
tigen gibt es eine große fachliche Debatte, ob sie zweck-
mäßig und richtig sind. In beiden Fällen, ob im System
der GKV oder individuell bezahlt, braucht man nach
meiner Einschätzung zwingend eine subtile und präzise
Aufklärung darüber, was passieren kann, wenn man die
jeweilige Untersuchung unterlässt, und was passieren
kann, wenn man sie durchführen lässt. Auch dies kann
nämlich Folgen haben. Es kann zu Fehldiagnosen kom-
men. Das Ergebnis kann zur Beunruhigung führen. Die
Untersuchung kann zur Folge haben, dass Maßnahmen
eingeleitet werden, die nicht notwendig sind.

Nun komme ich zum Ende meiner Antwort.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Schon? – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


– Ich bin Ihnen ja dankbar, dass Sie Differenzierungen
ermöglichen. Ich glaube auch, dass es die richtige politi-
sche Herangehensweise ist, Differenzierungen zu er-
möglichen und nicht mit dem Vorwurf der „Abzocke“
immer wieder in die gleiche Schneise zu schlagen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hier bin ich der gleichen Meinung wie Sie.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das steht so im Antrag gar nicht drin! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Patientenrechtegesetz!)


Ich bin immer dafür, alles, was geregelt werden muss,
in einem Gesetz zu regeln.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Ich bin aber auch immer dafür, bei allen gesetzlichen Re-
gelungen darauf zu achten – damit wäre der Gesetzgeber
klug beraten –, nicht im Übermaß zu regeln. Diese De-
batte muss im Einzelnen geführt und dann entschieden
werden.

In manchen Fällen wird die Berufsordnung leider von
deutschen Gerichten in ihre Einzelteile zerlegt. Ich will
ein konkretes Beispiel nennen. Ich bin der Meinung,
man muss zwingend regeln, dass IGeL-Leistungen nur
innerhalb des eigenen Fachgebiets erbracht werden dür-
fen. Außerhalb des eigenen Fachgebiets sollte es nicht
möglich sein, eine IGeL-Leistung zu erbringen. Das se-
hen die deutschen Gerichte aber anders. Die deutschen
Gerichte sagen: Zu einem geringen Anteil muss es mög-
lich sein, auch außerhalb des eigenen Fachgebiets IGeL-
Leistungen zu erbringen. – Sie stehen dumm da, wenn
Sie sagen: Wir möchten gerne vermeiden, dass eine
Leistung erbracht wird, die nicht zum Fachgebiet ge-
hört. – Da ist es wesentlich einfacher, bei der Aufklärung
oder beim Schriftgebot anzusetzen.

Nur: Eine Regelung, die wir treffen – egal ob sie dann
im Gesetz oder in der Berufsordnung steht –, werden wir
nur dann durchsetzen bzw. in der Praxis umsetzen kön-
nen, wenn wir die Beziehungen zwischen Arzt und Ver-
sichertem bzw. zwischen Arzt und demjenigen, der nach
einer IGeL-Leistung fragt, pflegen. Umsetzen wird der
Staat eine solche Regelung ja nicht, indem er jemanden
daneben stellt und die Einhaltung der Regeln bewacht,
sondern wir sind auf die Mitwirkung der Akteure ange-
wiesen. Deswegen müssen wir an dieser Stelle das Wis-
sen der Patienten und der Versicherten stärken und
gleichzeitig an die Ehre der Ärztinnen und Ärzte appel-
lieren. Wir wollen ja nicht, dass es in den Praxen eine
Gesundheitspolizei gibt.

Ich finde, dies setzt voraus, dass wir grundsätzlich
versuchen müssen, die Menschen zu erreichen. Dies
wiederum setzt voraus, dass wir ein Stück weit Ver-
trauen aufbringen. Wir dürfen die Chance, die Menschen
für unser Ziel zu gewinnen, nicht dadurch zerstören, dass
wir Texte schreiben, die von vornherein über das Ziel hi-
nausschießen und nur Misstrauen verbreiten. Das ist,
glaube ich, der gesellschaftspolitisch entscheidende
Punkt, an dem ich einen deutlichen Unterschied zwi-
schen der sich um Mitte bemühenden Position von Frau
Klein-Schmeink, die in ähnlicher Form auch Frau
Molitor vorgetragen hat, und dem SPD-Antrag wahr-
nehme. Sie haben das Recht in Ihrem Antrag leider an
manchen Stellen komplett durcheinandergebracht.

Ein Beispiel: Der G-BA, der Gemeinsame Bundes-
ausschuss, soll in Zukunft Aufgaben im Bereich der Be-
urteilung und Bewertung von IGeL-Leistungen überneh-
men. Das verstehe ich nicht; denn diese Leistungen sind
nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkas-
sen enthalten.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ja, eben! Genau!)


Wahr ist allerdings auch: Bevor eine Leistung in den
Leistungskatalog der GKV aufgenommen wird, muss sie
sich bewährt haben. Dafür gibt es Beispiele, etwa Unter-





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


suchungen mit einem Kernspintomografen. Diese Unter-
suchungen, die heute Regelleistungen sind, waren in ih-
rer Entwicklungsphase lange Zeit IGeL-Leistungen, weil
man noch nicht wusste, wie tauglich sie wirklich sind.

Ich bin also sehr dafür, dass wir diese Debatte im
Ausschuss führen. Wir sollten sie aber differenzierter
führen, als Ihr Text das vermuten lässt. Ich glaube aber,
das bekommen wir schon hin.

Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717816000

Das Wort hat nun Marlies Volkmer für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1717816100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich vor,
Sie haben monatelang auf einen Termin beim Augenarzt
gewartet und jetzt sitzen Sie geduldig im Wartezimmer,
bis die Praxisassistentin Sie aufruft. Sie kommen dann
aber noch nicht gleich zum Arzt, sondern Sie bekommen
erst einmal ein Klemmbrett ausgehändigt und Ihnen wird
kundgetan: Der Herr Doktor hält es für notwendig, dass
bei Ihnen auch eine Augendruckmessung gemacht wird.
Sie kostet 20 Euro, aber so viel wird Ihnen Ihre Gesund-
heit doch wert sein.

Dann überlegen Sie erst einmal: Was nun? Eigentlich
sind Sie es gewohnt, dass die gesetzliche Krankenversi-
cherung alles Notwendige bezahlt. Andererseits wollen
Sie es sich mit dem Augenarzt auch nicht verderben,
weil er unter Umständen der einzige in der Umgebung
ist. Sie denken dann vielleicht auch: Dem Arzt kann man
eigentlich vertrauen. – Also lassen Sie diese Untersu-
chung machen. Es stellt sich heraus: Ihr Augendruck ist
völlig normal. Am Ende kommen Ihnen dann doch
Zweifel, ob es wirklich nur um Ihre Gesundheit ging.

Ein Problem, das anhand dieses Beispiels aufgezeigt
wird, ist eben: IGeL-Leistungen untergraben zum einen
das Arzt-Patienten-Verhältnis, sie untergraben zum an-
deren aber auch das Vertrauen in die gesetzliche Kran-
kenversicherung.


(Beifall bei der SPD)


Die IGeL-Leistungen sind für Patientinnen und Patien-
ten gänzlich intransparent. Diese fragen sich dann schon:
Ging es jetzt nur darum, das Einkommen meines Arztes
zu erhöhen, oder war das doch eine notwendige Leis-
tung, die die Krankenversicherung nicht bezahlen will?

Wir wollen endlich Transparenz schaffen. Die Patien-
tinnen und Patienten sollen über Sinn oder Unsinn sol-
cher zusätzlichen medizinischen Leistungen gut infor-
miert sein. Sie sollen vom Arzt auch nicht unter Druck
gesetzt werden und sich nicht unter Druck gesetzt füh-
len; denn sie sollen in die Lage versetzt werden, eine
selbstbestimmte Entscheidung zu treffen.

Wir wissen: Welche Leistungen die gesetzliche Kran-
kenversicherung bezahlt, entscheidet der Gemeinsame

Bundesausschuss, das Gremium aus Ärzten und Kran-
kenkassen, und der Gemeinsame Bundesausschuss hat
entschieden: Augendruckmessungen sind immer dann
Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung,
wenn der Arzt den berechtigten Verdacht hat, dass eine
Erhöhung des Augendruckes vorliegen könnte. Sie sind
aber eben nicht Kassenleistung als Vorsorgeleistung,
weil es hierzu noch keine Nutzenbewertung gibt.

Es gibt aber auch IGeL-Leistungen, für die die ärzt-
lichen Fachgesellschaften noch nie einen Antrag auf
Kostenübernahme durch die Krankenversicherung ge-
stellt haben. Warum wohl nicht? Einerseits, weil die Stu-
dienlage dünn ist, andererseits aber auch, weil sich mit
diesen Leistungen über eine Privatabrechnung mehr
Geld verdienen lässt.


(Mechthild Rawert [SPD]: Genau!)


Das wissen die Patientinnen und Patienten aber nicht,
und das ist ein unhaltbarer Zustand. Damit wollen wir
Schluss machen.


(Beifall bei der SPD – Rudolf Henke [CDU/ CSU]: Dann können ja die Krankenkassen einen Antrag stellen! Die Krankenkassen sind auch antragsberechtigt!)


Es gibt hier inzwischen eine regelrechte IGeL-Indus-
trie,


(Elke Ferner [SPD]: Richtig!)


die Handbücher, Werbemittel und sogar Kongresse und
Fortbildungsseminare für die Arztpraxen anbietet. Auf
Internetseiten gibt es IGeL-Ranglisten, geordnet nach
ökonomischer Rentabilität. Hier wird der Arzt zum
Kaufmann,


(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)


und hier verletzt der Arzt seine ethischen Grundsätze.

Herr Henke, trotz des Verhaltenskodex, der 2006 von
der Ärzteschaft beschlossen worden ist, ist der Umfang
der IGeL-Leistungen deutlich angestiegen. 2010 haben
sie 1,5 Milliarden Euro ausgemacht. Inzwischen ist es
noch mehr.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist eine Stange Geld! – Rudolf Henke [CDU/CSU]: Das ist aber kein Beweis, dass das alles Verstöße sind!)


Prinzipiell kann alles außerhalb des Leistungskata-
logs der gesetzlichen Krankenversicherung – das haben
auch Sie gesagt – als IGeL-Leistung angeboten werden.
Eine Abrechnung anhand der lukrativen privaten Gebüh-
renordnung der Ärzte ist zwar empfohlen, aber selbst an
diese Vorgabe wird sich häufig nicht gehalten.

Eindeutige Qualitätsanforderungen gibt es bei IGeL
nicht. Dabei haben Patientinnen und Patienten ein Recht
auf eine qualitativ gute und sichere Behandlung. Es ist
deswegen kein Wunder, dass viele Ärztinnen und Ärzte
diese IGeL-Praktiken ablehnen und unser Vorgehen da-
gegen unterstützen.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])






Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)


Von Alltagsferne kann hier überhaupt keine Rede
sein. Alltagsfern sind Sie, Herr Henke, wenn Sie ernst-
haft glauben, der Patient könne sich bei der Ärztekam-
mer beraten lassen, ob er die Rechnung bezahlen muss,
die er von seinem Arzt erhalten hat. Gehen Sie doch ein-
mal in die Praxis und schauen sich die Situation vor Ort
an. Dann werden Sie sich fragen, wie das überhaupt
möglich sein soll.


(Beifall bei der SPD)


Es geht uns mit dem vorliegenden Antrag nicht um
ein generelles Verbot von Individuellen Gesundheitsleis-
tungen. Es gibt sinnvolle Leistungen, sie sind vorhin auf-
gezählt worden. Aber wir wollen Transparenz und Si-
cherheit für die Patientinnen und Patienten schaffen. Wir
wollen nicht, dass die Menschen bei einem Arztbesuch
unter Druck gesetzt werden oder dass ihnen unnötige
und medizinisch zweifelhafte Leistungen aufgedrängt
werden.

Es ist sehr bedauerlich, dass Sie an dieses Thema
offensichtlich nicht herangehen. Sie haben heute aufge-
zählt, was Sie alles machen wollen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717816200

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.


Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1717816300

Ich bin sehr gespannt, ob sich das tatsächlich in dem

nun schon seit fast drei Jahren angekündigten Patienten-
rechtegesetz wiederfindet.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1717816400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9061 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)

des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-
schen Abkommens zwischen der internationa-
len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re-
gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien

(jetzt: Republik Serbien) und der Republik

Serbien vom 9. Juni 1999

– Drucksache 17/9505 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Staatsmi-
nister Michael Link das Wort.


Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1717816500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

vergangenen Sonntag fanden in Serbien Präsident-
schaftswahlen und Parlamentswahlen statt, also in einem
Staat, unmittelbar angrenzend an das Kosovo. Auch die
im Kosovo lebenden kosovarisch-serbischen Doppel-
staater waren aufgerufen, sich an diesen Wahlen zu be-
teiligen. Ich stelle das voran, weil das ein Ereignis war,
was uns vorher durchaus Anlass zu der Frage gegeben
hat, wie diese Wahlen verlaufen würden.

Der Wahlgang ist erfreulich ruhig und ohne sicher-
heitsrelevante Zwischenfälle verlaufen. Anders als noch
bei den letzten serbischen Wahlen 2008 konnten sich
dieses Mal die Doppelstaater in ganz Kosovo an den
Wahlen beteiligen, und alle Seiten haben das anerkannt.
Das ist ein Erfolg für beide Staaten, für Serbien wie für
Kosovo. Die Einigung darüber, die Stimmabgabe der
Doppelstaater durch die OSZE ermöglichen zu lassen,
konnte erst in den letzten Tagen vor dem Wahlgang er-
reicht werden.

Es stand lange zu befürchten, dass sich die Lage im
Zuge dieser Wahlen zuspitzt. Das war der Anlass dafür
– jetzt kommt konkret KFOR ins Spiel –, dass zum
zweiten Mal innerhalb relativ kurzer Zeit die operative
KFOR-Reserve des deutsch-österreichischen Bataillons
nach Kosovo geschickt wurde. Diese Entsendung, die
auf Antrag der NATO geschah und die wir uns nicht
leicht gemacht haben, hat ohne Zweifel geholfen, einer
Eskalation der Lage vorzubeugen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch vor diesem ganz aktuellen Hintergrund möchte
ich den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die
im Kosovo ihren Dienst leisten, zum Teil seit vielen
Jahren, zum Teil wiederholt, im Namen der gesamten
Bundesregierung ausdrücklich meinen Respekt und
Dank aussprechen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Und des Bundestages!)


– Da ist meine eigene Fraktion schneller als ich. – Ich
gehe davon aus, dass sich auch die Mitglieder des Deut-
schen Bundestages diesem Dank anschließen; denn es ist
das Mandat des Deutschen Bundestages, aufgrund des-
sen die Soldatinnen und Soldaten im Kosovo sind, nicht
aufgrund eines Mandates der Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Staatsminister Michael Link


(A) (C)



(D)(B)


Unsere Soldatinnen und Soldaten tun dies unter schwie-
rigen Bedingungen. Gerade im Kosovo ist die Situation
nach wie vor nicht leicht. Für ihren Einsatz gebührt ih-
nen Respekt und Dank.

Der Mandatsantrag, den die Bundesregierung heute
im Bundestag einbringt, sieht eine weitere Verlängerung
der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicher-
heitspräsenz im Kosovo vor. Die völkerrechtlichen
Grundlagen aus dem Jahr 1999 gelten fort. Die Inhalte
des Mandats und die Mandatsobergrenze von 1 850 Sol-
daten bleiben unverändert.

Wir müssen die Lage realistisch sehen: Kosovo ist
noch nicht an einem Punkt angelangt, an dem von einer
selbsttragenden Stabilität oder einem gesicherten regio-
nalen Umfeld gesprochen werden könnte. Das Eskala-
tionspotenzial insbesondere im Norden des Kosovo, aber
auch in anderen Teilen der Gesamtregion ist nach wie
vor hoch.

Die Ausschreitungen im Juli des letzten Jahres haben
wir noch alle lebhaft in Erinnerung. Viele von den Kolle-
ginnen und Kollegen aus dem Bundestag waren auch
dort und haben sich ein eigenes Bild gemacht. Die
Ausschreitungen im letzten Juli an der kosovarisch-
serbischen Grenze, die sich bis weit in den Herbst hi-
neinzogen, haben gezeigt, wie angespannt das Verhältnis
zwischen den beiden Ethnien nach wie vor ist.

Deshalb trägt die internationale Gemeinschaft weiter-
hin die Verantwortung, für die Stabilität in der Region zu
sorgen. Deshalb hält die Bundesregierung dieses Mandat
weiterhin für erforderlich und bittet den Bundestag um
seine Zustimmung zur Verlängerung. Ich sage sogar aus-
drücklich: Ohne das KFOR-Mandat hätte man eine Si-
tuation wie im letzten Juli, die sich dort über viele Wo-
chen und Monate fortsetzte, wahrscheinlich nicht friedlich
meistern können. Deshalb sage ich noch einmal – auch
vor dem Hintergrund, dass einige gefragt haben, ob die-
ses Mandat noch notwendig ist –: Die Ereignisse gerade
im abgelaufenen Mandatszeitraum unterstreichen, dass
diese Verlängerung offenkundig sinnvoll und richtig ist.

Die Zukunft Serbiens und des Kosovo liegt langfristig
in der Europäischen Union. Das möchte ich gerne in ei-
nen breiteren politischen Zusammenhang stellen. Die
Bundesregierung unterstützt weiterhin die von der EU
beschlossene Thessaloniki-Agenda. Kosovo braucht das
klare Signal, dass es bei Erfüllung der Bedingungen eine
konkrete EU-Perspektive hat und dass es dabei auch von
Serbien nicht blockiert werden kann. Deshalb war es
richtig, dass nach direkten serbisch-kosovarischen Ge-
sprächen und auch nach Zugeständnissen beider Seiten
der Europäische Rat im Dezember Serbien den Status ei-
nes Beitrittskandidaten verliehen und damit dem Land
eine klare europäische Perspektive eröffnet hat. Das war
an ebenso klare Reform- und Modernisierungsbedingun-
gen geknüpft. Diese gelten weiter.

Kern der Bemühungen ist eine unverrückbare Forde-
rung an die serbische Seite, die Normalisierung der Be-
ziehungen zu Kosovo zu vollziehen. Dazu gehören die
Anerkennung der Souveränität des Kosovo über das ge-
samte Territorium seines Landes und der Abbau von ser-

bischen Parallelstrukturen. Deshalb erwarten wir auch,
dass die Ergebnisse der illegal in zwei Gemeinden des
Nordkosovo abgehaltenen Kommunalwahlen, nämlich
in Zubin Potok und Zvecan, nicht anerkannt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir erwarten aber auch, dass die kosovarische Seite
das Ihre beiträgt – das ist wahrlich auch nicht wenig –
und Übergriffe auf serbische Kosovaren unterbindet.
Denn es sind auch Staatsbürger des Kosovo, die in
Srbica, Bresovica, Gracanica und anderen Teilen speziell
des Nordkosovo leben. In allen ethnisch serbischen
Enklaven innerhalb des Kosovo erwarten wir, dass die
kosovarische Regierung für die Sicherheit der ethnisch
serbischen Bürger sorgt und Rechtsstaatlichkeit garan-
tiert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Aufbau der Sicherheitskräfte und die rechtsstaat-
lichen Strukturen des Kosovo sind Schwerpunkte der
EULEX-Mission und müssen vorangetrieben werden.
Die EULEX-Mission ist in den letzten Monaten häufig
an ihre Grenzen gestoßen. Darauf wird die EU Antwor-
ten finden müssen.

Aktuell läuft der Überprüfungsprozess zu EULEX.
KFOR musste in den letzten Monaten vor allem im
Norden des Kosovo zu häufig Aufgaben übernehmen,
die eigentlich entweder Aufgaben der kosovarischen
Sicherheitskräfte oder von EULEX gewesen wären.
EULEX muss deshalb besser werden.

Unsere polnischen Freunde tragen zurzeit die Haupt-
last im EULEX-Bereich bzw. im Bereich der Polizei-
kräfte und stellen als Einzige jene Art von Polizeikräf-
ten, die wir vor allem im Norden gerade brauchen. Dafür
sind wir den Polen dankbar. Dankbarkeit reicht aber
nicht. Europäische Solidarität muss in konkretes Han-
deln umgesetzt werden. Wir haben deshalb gemeinsam
mit dem Bundesinnenministerium ein Konzept erarbei-
tet, aufgrund dessen im Einklang mit unserer klaren ver-
fassungsrechtlichen Trennung von Polizei und Militär
mehr deutsche Polizisten entsendet werden sollen, die
dann auch die polnischen Kollegen entlasten und insge-
samt die Performance von EULEX deutlich verstärken
könnten.

Ich bin zuversichtlich, dass auch andere Partner in
Europa gemeinsam mit uns hier mehr Verantwortung
übernehmen werden. Bis EULEX so weit ist, können wir
uns auf die hohe Professionalität der KFOR-Soldaten
und auf die umsichtige und besonnene Operationsfüh-
rung – das unterstreiche ich ausdrücklich – durch den
deutschen Kommandeur verlassen.

Wir alle wissen, was im Kosovo auf dem Spiel steht.
Dazu gehört zuallererst, dass es keinen Rückfall in einen
bewaffneten Konflikt geben darf. KFOR wird alles tun,
was in ihrer Macht steht, um einen solchen Rückfall zu
verhindern. KFOR schafft zugleich das nötige Umfeld





Staatsminister Michael Link


(A) (C)



(D)(B)


für einen ruhigen und friedlichen politischen Prozess.
Die Mission trägt damit eine große Verantwortung. Sie
wurde in der Vergangenheit dieser Verantwortung ge-
recht. Sie hat deshalb auch für die Zukunft unsere volle
Unterstützung verdient.

Die Bundesregierung bittet den Deutschen Bundestag
um Zustimmung zu diesem Mandat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717816600

Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1717816700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Staatsminister Link hat zu Recht darauf hingewie-
sen, dass es neben vielen positiven Entwicklungen auf
dem sogenannten Westbalkan Entwicklungen gibt, die
leider noch immer Grund zur Sorge geben. Deshalb ist
es richtig, dieses Mandat zu verlängern.

Ich will aber mit zwei guten Nachrichten beginnen,
die zeigen, in welche Richtung es weitergehen kann.
Viele hatten befürchtet, dass es kurz vor und während
der Wahlen in Serbien am 6. Mai im Nordkosovo zu
massiven Auseinandersetzungen kommt. Das ist Gott sei
Dank nicht eingetreten. Wir können feststellen, dass der
Kosovo im Wahlkampf und für die Entscheidung der
Wählerinnen und Wähler in Serbien kein relevantes
Thema war. Es waren andere Punkte, die die Wahl in
Serbien entschieden haben. Das zeigt: Schritt für Schritt
können sich die Verhältnisse ändern. Das liegt sicherlich
auch daran, dass es gerade der Regierung Tadic in Ser-
bien gelungen ist, einen sehr proeuropäischen Kurs ein-
zuschlagen. Daher ist es auch eine gute Nachricht – er-
lauben Sie mir diese Zwischenbemerkung –, dass nun
wohl eine Koalition aus demokratischer Partei und so-
zialistischer Partei ihre Arbeit in Serbien fortführen
wird.

Die Gründe für die guten Nachrichten liegen sicher-
lich in den Reformbemühungen beispielsweise der Re-
gierung Tadic, aber auch – darauf hat der Staatsminister
schon hingewiesen – in der gestiegenen Aktivität der Eu-
ropäischen Union im Vorfeld der Entscheidung über den
Kanditatenstatus für Serbien, im Kosovo-Serbien-Kon-
flikt unterstützend zu vermitteln. Ich möchte an dieser
Stelle betonen: Lady Ashton hat dort, wie ich finde, gute
Arbeit geleistet. Ich sage als Oppositionspolitiker: Wir
haben es sehr begrüßt, dass sich auch der Bundesaußen-
minister für die Annäherung von Serbien und dem Ko-
sovo sehr eingesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Trotz dieser guten Nachrichten will ich an dieser
Stelle sagen: Wenn wir nicht wollen, dass die negativen
Entwicklungen weiter ihre Eigendynamik entfalten,
dann müssen wir jetzt sehr schnell handeln. Das heißt,

die Frage der endgültigen Anerkennung der Eigenstaat-
lichkeit des Kosovo muss ein Punkt sein, in dem sich die
Europäische Union noch stärker engagieren muss, nicht
nur gegenüber den fünf Mitgliedstaaten, die den Kosovo
noch nicht anerkannt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen den Kosovaren auch deutlich machen, dass
wir ein Interesse daran haben, dass alle ihre Nachbarn in
der Region einschließlich Serbien die Eigenstaatlichkeit
des Kosovo garantieren; denn nur dann besteht nach
meiner Meinung eine Chance, dem um sich greifenden
Nationalismus entgegenzutreten.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist sicherlich – auch da-
rauf hat der Staatsminister hingewiesen – eine nicht als
Lippenbekenntnis gemeinte, ernsthafte Perspektive für
die Staaten des sogenannten Westbalkans, die reformwil-
lig und bereit sind, Mitglied der Europäischen Union zu
werden. Da es noch so viele Unwägbarkeiten gibt, wäre
es verantwortungslos, das Mandat jetzt zu beenden. Des-
halb möchte ich appellieren, nicht nur über dieses Man-
dat zu reden, sondern auch darüber nachzudenken, was
wir, die Bundesrepublik Deutschland und die Europäi-
sche Union, tun können, um klare Perspektiven für die
Menschen auf dem Westbalkan herauszustellen und uns
stärker dafür zu engagieren; denn nur wenn es eine klare
Perspektive gibt, werden weiterhin die Reformkräfte ge-
stärkt werden, die dem Nationalismus widersagen.

Es gibt für mich drei Punkte, die wichtig sind, um
eine positive Dynamik zu entfalten und positive Signale
zu setzen:

Ich halte es für sehr wichtig, dass wir ernsthaft daran
arbeiten, in Sachen Liberalisierung der Visabestimmun-
gen für das Kosovo voranzukommen. Es geht dabei
nicht um einen politischen Rabatt, sondern es geht um
eine Gleichbehandlung des Kosovo. Die Bemühungen
des Kosovo, die Kriterien für die Liberalisierung der
Visabestimmungen zu erfüllen, müssen honoriert wer-
den. Wenn die Kriterien erfüllt sind, muss man die Koso-
varen genauso behandeln wie die Serben, die Bosniaken
und andere auf dem Westbalkan.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiterer Punkt, der für mich sehr wichtig ist, ist,
dass wir uns noch stärker dafür engagieren, dass es mög-
lichst schnell zu Beitrittsverhandlungen zwischen Ser-
bien und der Europäischen Union kommt. Auch hier
möchte ich nicht falsch verstanden werden. Es geht nicht
um einen politischen Rabatt für Serbien oder für die re-
formfreundliche Regierung, sondern es geht darum, die
Beitrittsverhandlungen selbst als einen Mechanismus zu
nutzen, um die Werte, die wir alle teilen – Rechtsstaat-
lichkeit, Transparenz, Bekämpfung von Korruption und
organisierter Kriminalität –, durchzusetzen. Das erfolg-
reiche Beispiel von Kroatien zeigt, dass ein gut vorberei-
teter und gut durchgeführter Beitrittsprozess immer noch





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)


der beste Weg ist, diese Werte im täglichen Leben der
Staaten zu verankern.

Was ich auch für wichtig erachte, ist die Frage, wie
wir einen Rahmen setzen, damit es zu dieser positiven
Dynamik kommt. Deshalb lege ich Ihnen sehr ans Herz,
zu überlegen, ob es eine Möglichkeit gibt, die einzelnen
Kapitel im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit Ser-
bien nicht immer mit der Frage der Anerkennung des
Kosovo durch Serbien zu belasten.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Wir sollten vielmehr überlegen, wie wir während der
Beitrittsverhandlungen, aber auch abseits der Verhand-
lungen über die einzelnen Kapitel ein Format schaffen,
das den Weg eröffnet, dass Serbien Kosovo letztlich an-
erkennt; denn jeder weiß: Solange das nicht der Fall ist,
kann Serbien nicht Mitglied der Europäischen Union
werden.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wie lange soll man denn noch warten?)


Die Zeit drängt. Premierminister Thaci hat gestern auf
der Internetseite EurActiv in einem Namensbeitrag deut-
lich gemacht, dass dann, wenn es nicht bald konkrete
Signale gibt, dass wir uns engagieren, und wenn es keine
positive Dynamik gibt, nationalistische Kräfte die Ober-
hand bekommen, die Frustration stärker wird, die Men-
schen sich alleingelassen fühlen und das Gefühl bekom-
men, dass KFOR ihnen nicht hilft, sondern eine
Besatzungsmacht darstellt.

Deshalb gibt es keinen Grund, zu zögern und zu war-
ten; es gibt vielmehr viele Gründe, dass sich die EU be-
herzt für diese Region engagiert. Es sollte das Ziel unse-
rer Bemühungen sein – damit will ich schließen –, die
Rahmenbedingungen nicht nur im Kosovo, sondern auf
dem gesamten Westbalkan so zu gestalten, dass alle
Staaten den Weg zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie,
Achtung der Menschenrechte sowie zu Presse- und Me-
dienfreiheit finden. Die Übernahme des Acquis, der
Werte der EU, ist der beste Weg, um das zu erreichen,
was wir eigentlich wollen, nämlich dass möglichst
schnell das KFOR-Mandat nicht mehr notwendig ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717816800

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Thomas de

Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
13 Jahren ist KFOR jetzt im Kosovo. Insgesamt ist die
Lage stabil. Auch die Wahlen sind erfolgreich verlaufen.
Herr Staatsminister Link hat das vorgetragen. Das ist na-
türlich ein Erfolg der beiden Staaten, das ist aber auch

ein Erfolg der OSZE – das will ich hier einmal sagen –,
das ist ein Erfolg des internationalen Drucks auf beide
Staaten, und das ist ein Erfolg, den KFOR und die Solda-
ten ermöglicht haben. Durch ihre schlichte Existenz,
auch der Reserve, durch ihr besonnenes und zurückhal-
tendes Handeln haben die Soldatinnen und Soldaten von
KFOR vor Ort ein sicheres Umfeld und damit eine wich-
tige Voraussetzung dafür geschaffen, dass diese Wahlen
erfolgreich verlaufen konnten. Herr Staatsminister Link
hat den Soldaten gedankt. Wenn ich das als Verteidi-
gungsminister tue, dann klingt es vielleicht etwas ko-
misch, aber ich schließe mich natürlich gerne dem Dank
an und freue mich darüber.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Reserve besteht aus Soldaten, die größtenteils ge-
rade erst aus dem Kosovo nach Hause gekommen sind.
Einige sind gerade erst aus Afghanistan gekommen. Sie
mussten kurzfristig erneut in den Kosovo, einige, nach-
dem sie gerade ihre Freundinnen in den Arm genommen
hatten. Nun kann und muss man sagen: Das ist hart, aber
das ist so bei einer Reserve. Wenn man zur Reserve ge-
hört, dann kann man auch zwei-, drei- oder viermal ge-
holt werden. Das ist so. Trotzdem: Das Verhalten der
Truppe im Umgang damit war erstklassig. Obwohl es
vielen freigestellt war – Frau Kastner war mit einigen
vom Bundestag dort –, sind sie dort hingegangen. Einige
haben ein bisschen geknurrt, aber dann doch gesagt: Wir
wissen, was unser Auftrag ist, und wir gehen dort hin. –
Das ist klasse, und das verdient noch einmal einen extra
Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun ist geplant, dieses Bataillon – das will ich hier
gerne sagen – nach der Stichwahl am 20. Mai 2012 so
schnell wie möglich nach Deutschland zurückzuführen.
Das wird ein paar Tage dauern. Wenn aber der zweite
Wahlgang genauso gut verläuft wie der erste, dann hoffe
ich, dass es nicht zu einem erneuten Rückruf der Reserve
kommen wird.

Trotzdem hatten wir im letzten Jahr ein Eskalations-
potenzial. Herr Link hat davon schon gesprochen. Dies
war im Juli und dann noch im Herbst der Fall. Seitdem
hat sich die Lage stabilisiert. Aber: Sie ist nach wie vor
labil.

Die Bewegungsfreiheit für KFOR ist im Norden des
Kosovo grundsätzlich wiederhergestellt, für die Polizei-
mission EULEX gilt das allerdings nicht. Vor diesem
Hintergrund und angesichts des genannten Risikos hal-
ten wir an der bisherigen Obergrenze von 1 850 Solda-
tinnen und Soldaten für die nächste Mandatsperiode fest,
auch wenn wir sie bisher nicht ausgeschöpft haben und
auch nicht ausschöpfen wollen.

Die Situation in der Republik Kosovo zeigt, dass
KFOR als Teil des Konzepts der drei Sicherheitsreihen
erforderlich bleibt. Die erste Sicherheitsreihe soll durch
die kosovarische Polizei gewährleistet werden, die zweite





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Sicherheitsreihe durch die Polizeimission EULEX und
erst die dritte Sicherheitsreihe durch die Soldaten von
KFOR. Faktisch ist in weiten Bereichen KFOR in die
Rolle der ersten Sicherheitsreihe, des First Responder, ge-
drängt worden. Das ist keine gute Entwicklung, und das
muss sich auch wieder ändern. So stelle ich mir vernetzte
Sicherheitspolitik nicht vor.

KFOR kann zwar die Situation unter Kontrolle halten,
das Problem lösen kann KFOR aber nicht. Eine militäri-
sche Lösung des Konfliktes im Kosovo wird es niemals
geben. Es bedarf einer politischen Lösung, und zwar
dringend. Gerade der Stabilisierung der rechtsstaatlichen
Strukturen mit Unterstützung durch EULEX kommt da-
bei – Herr Link hat davon gesprochen – eine besondere
Priorität zu. Oder um es schlicht und einfach zu sagen:
EULEX muss besser werden – in jeder Weise.

Meine Damen und Herren, am 11. Juni 1999 hat der
Bundestag zum ersten Mal über die Beteiligung deut-
scher Soldaten an KFOR beraten. Verteidigungsminister
war damals Peter Struck. Er hat dazu gesagt – ich zi-
tiere –:

Es ist nur der Anfang auf einem langen, dornenrei-
chen Weg zu wirklichem Frieden.

Vielleicht hat das niemand geglaubt und nicht gedacht,
dass das so lange dauert. Aber er sollte recht behalten.

Die Bundeswehr ist seit 13 Jahren ein zuverlässiger
Begleiter auf diesem Weg. Zum vierten Mal in Folge
werden wir ab September 2012 den Kommandeur KFOR
stellen und damit zum siebten Mal insgesamt. Auch das,
dass wir immer wieder gefragt werden, ist ein Zeichen
der Anerkennung für unsere Rolle im Kosovo.

Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen sehr
wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes, das
sich nur zwei Flugstunden von hier, mitten im Herzen
Europas befindet. Aber es kann nur ein Beitrag sein. Für
die Fortsetzung dieses Beitrags bitten wir, die Bundesre-
gierung, das Auswärtige Amt und das Verteidigungsmi-
nisterium, um Ihre Unterstützung und um Ihre Zustim-
mung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717816900

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Thomas Nord.


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Nord (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717817000

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister! Herr Staatsminister! Es ist sicherlich für
Sie keine Überraschung, dass wir heute im Deutschen
Bundestag zu diesem Thema eine andere Position als
alle anderen Parteien beziehen. Wir haben den Krieg ge-
gen Serbien 1999 abgelehnt, weil er aus unserer Sicht
völkerrechtswidrig war. An dieser Ablehnung hat sich
nichts geändert. Deswegen werden wir auch heute wie-
der Nein zur Entsendung von Bundeswehrtruppen in den
Kosovo sagen. Wir denken, ein Ja dazu wäre eine Legiti-

mierung dieses Vorgehens, und das halten wir nach wie
vor für politisch falsch.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Jahr 1999 war – der Minister hat es schon gesagt –
für Deutschland eine politische Zäsur. Der Bellizismus
hatte damals Hochkonjunktur, Friedenschaffen mit Waf-
fen war sozusagen, zumindest hier im Deutschen Bun-
destag, für fast alle Parteien politischer Konsens.

Inzwischen liegt der Irakkrieg hinter uns, und Afgha-
nistan ist, wie es ist. Es zieht mehr Nachdenklichkeit in
der Frage ein, ob man die Probleme dieser Welt tatsäch-
lich mit Krieg lösen kann. Ich denke, in der Atalanta-De-
batte heute ist schon deutlich geworden, dass diese
Nachdenklichkeit weit über die Linke hinausgeht. Ich
finde, das ist eine gute Entwicklung, auch wenn das an
der Vergangenheit natürlich nichts ändert.


(Beifall bei der LINKEN)


Um zur Gegenwart zu kommen: Die jetzige Lage im
Kosovo ist gerade nicht von politischer Stabilität ge-
kennzeichnet, wie hier zu Recht von allen Rednerinnen
und Rednern gesagt wurde. Die einseitige Souveränitäts-
erklärung des Kosovo war ein Fehler, und die Anerken-
nung durch einen Teil der internationalen Staaten-
gemeinschaft ebenso, weil es formal eine Situation
herbeizuführen scheint, in der ein unabhängiger, funktio-
nierender Staat existiert. Das ist nicht die Lage, mit der
wir es konkret zu tun haben. Die Abwesenheit von Krieg
ist eben noch kein Frieden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Lage auf dem Westbalkan ist nach wie vor explo-
siv. Wenn es dazu eines Beweises bedurft hätte, wäre es
der Nordkosovo, wo es – wenn man es ganz offen sagen
darf – zu einem bewaffneten Konflikt gekommen wäre,
wenn es die KFOR nicht gegeben hätte.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja fast schon positiv, was Sie da sagen!)


– Es ist alles andere als positiv, wenn es notwendig ist,
internationale Truppen in einem Land zu stationieren,
das sich als unabhängig betrachtet, um dort einen Bür-
gerkrieg zu verhindern. Wer das als positiv ansieht, der
hat, glaube ich, eine ganz merkwürdige Sicht auf Nor-
malität, die in einem unabhängigen, souveränen Staat
existieren sollte.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] – Peter Beyer [CDU/CSU]: Denken Sie doch mal über KFOR hinweg!)


Wenn wir die Situation ganz nüchtern betrachten – ich
war vor wenigen Tagen mit der Kollegin Beck und mit
Kollegen der Sozialdemokratie in Bosnien –, dann stel-
len wir fest, dass wesentliche Teile der politischen
Klassen in den Ländern des Westbalkans nach wie vor
nationalistische Positionen vertreten und auch eine na-
tionalistische Politik betreiben. Großserbien ist bei vie-
len politischen Kräften in Serbien, in Bosnien oder im
Kosovo eben nicht von der Tagesordnung, und auch
Großalbanien ist bei vielen politischen Kräften im Ko-





Thomas Nord


(A) (C)



(D)(B)


sovo, in Albanien oder in Mazedonien nicht von der Ta-
gesordnung. Diese Kräfte haben sich in der gegenwärti-
gen Situation eingerichtet und profitieren davon, dass
wir einen Status quo aufrechterhalten, der nicht geeignet
ist, politische Normalität auf dem Westbalkan herbeizu-
führen.


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


Wenn wir hier heute über Serbien und den Präsiden-
ten Tadic reden – er ist in der Tat jemand, der versucht,
die europäische Integration Serbiens voranzutreiben –,
müssen wir einfach festhalten: Tadic hatte 26 Prozent
der Wählerstimmen bei einer Wahlbeteiligung von
37 Prozent. Das heißt, er wird real von nicht einmal
10 Prozent der serbischen Wahlbevölkerung in seinem
Bestreben unterstützt. Man kann das durchaus als positiv
betrachten. Es ist aber alles andere als ein Ausdruck von
Stabilität; das will ich an dieser Stelle deutlich sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei der Betrachtung der politischen Lage im Kosovo
sollten wir die soziale Lage dort nicht außer Acht lassen.
Die soziale Lage im Kosovo ist der in Bosnien und der
in anderen Westbalkanstaaten sehr ähnlich. 34 Prozent
der Bevölkerung im Kosovo leben in Armut, 12 Prozent
sogar in extremer Armut. Die Lage auf dem Arbeits-
markt ist dramatisch. Etwa 45 Prozent der Bevölkerung
sind arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei
70 Prozent. Das heißt, wir haben es mit einer dramati-
schen sozialen Situation zu tun. Dass Bundesländer an-
gesichts einer solchen Lage nach wie vor darüber nach-
denken, Sinti und Roma in den Kosovo abzuschieben, ist
ein absoluter Skandal. Das muss endlich aufhören.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Wirtschaftsleistung des Kosovo will ich hier nicht
weiter kommentieren. Der Standard zitiert aus einer Stu-
die der Friedrich-Ebert-Stiftung:

Der einzige profitable Wirtschaftszweig im Ko-
sovo, in dem es auch „vertrauensvolle“ Zusammen-
arbeit zwischen Albanern und Serben gibt, scheint
die organisierte Kriminalität zu sein.

Wir wissen, dass das so ist. Wir wissen, dass der All-
tag von Korruption, von organisierter Kriminalität und
von Nationalismus bestimmt ist.

Ich habe nicht mehr viel Redezeit; deswegen will ich
Folgendes sagen – –


(Zuruf von der CDU/CSU)


– Ich weiß, dass Sie möchten, dass ich aufhöre. Trotz-
dem nenne ich noch ganz kurz drei Punkte:

Erstens. Wir brauchen einen internationalen Friedens-
plan für den Westbalkan. So, wie es jetzt läuft, kann es
nicht weitergehen. Dies betrifft sowohl die EU als auch
die internationale Gemeinschaft.

Zweitens. Bisher gibt es dort keinen selbstständigen
wirtschaftlichen Aufschwung; ich verweise auf Punkt 9
der G-8-Initiative zur Wiederherstellung des Friedens.
Wir brauchen einen Wirtschaftsplan für Südosteuropa,

damit die Menschen dort ihr Geld tatsächlich selbst ver-
dienen und würdig leben können.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Wir brauchen einen Abschied von alten
Feindbildern.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Genau das brauchen die Linken!)


Unsere Unterstützung muss denen gelten, die tatsächlich
für Versöhnung und Frieden auf dem Balkan eintreten.
Den nationalistischen Parteien, egal welcher Nationali-
tät, sollten wir entschieden entgegentreten.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717817100

Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von

Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Nord, Sie sagen, dass die Abwe-
senheit von Krieg noch keinen Frieden bedeutet. Das
wird niemand in diesem Hause bestreiten.


(Zuruf von der LINKEN: Das ist gut!)


Was bedeutet es aber, wenn der Krieg da ist? Es macht
einen großen Unterschied, ob man es geschafft hat, we-
nigstens erst einmal die Waffen zum Schweigen zu brin-
gen, oder ob man den Krieg einfach so laufen lässt. Das
ist ein unglaublich großer Unterschied.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Das habe ich in all den Kriegsjahren, in denen ich mich
auf dem Balkan bewegt habe, erlebt. Wer in Bosnien war
– ich war in den Kriegsjahren ständig in Bosnien –,
musste den Menschen, die dort eingekesselt waren und
beschossen wurden, erklären, weshalb wir sie nicht be-
schützen. Ich weiß nicht, welche Antwort Sie ihnen ge-
geben hätten.

Ich bin auch in Srebrenica gewesen. Die Kosovo-In-
tervention ist nicht zu verstehen, wenn man nicht Srebre-
nica im Hintergrund mitdenkt. Musste es im Kosovo erst
zu einem Srebrenica kommen, und ist es nicht richtig ge-
wesen, auch ethisch richtig gewesen, durch diesen Ein-
satz weiteres Blutvergießen im Kosovo zu verhindern


(Christoph Schnurr [FDP]: Notwendig!)


und dafür zu sorgen, dass der Graben nicht so fürchter-
lich tief wird? Muss erst so unglaublich viel Blut fließen,
bevor man sich daranmacht – das ist das Mühselige; da
haben Sie recht –, den Frieden zu schaffen?


(Michael Brand [CDU/CSU]: Frau Jelpke ist immer noch auf der Seite von Milosevic!)


Dass das ein langer Weg ist, wissen wir alle.





Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wissen auch, dass es manches politische Versa-
gen auch der internationalen Gemeinschaft gegeben hat,
sowohl im Zusammenhang mit Dayton – wir sprechen
heute nicht über Bosnien – als auch in Bezug auf das
Kosovo. Das Durcheinander von UNMIK und EULEX,
unter dem auch KFOR zu agieren hat und das etwas da-
mit zu tun hat, dass nicht einmal die Europäische Union
ihre 27 Stimmen zusammenbringt, ist Folge eines gro-
ßen Versäumnisses, das auf uns selbst zurückweist und
die Situation vor Ort zusätzlich schwierig macht.

Wir wissen weiter – das kann man lernen, wenn man
sich mit den Militärs unterhält –, dass es manchmal we-
niger um ethnisch-nationalistische Konflikte geht, ge-
rade in Nord-Mitrovica, sondern dass es ein gemeinsa-
mes Interesse der organisierten Kriminalität über die
serbische und albanische Grenze hinaus gibt, dieses
Nord-Mitrovica sozusagen als ein schwarzes Loch zu
haben, als einen Ort, in dem es keine durchsetzungsfähi-
gen Institutionen gibt. Die organisierte Kriminalität wird
von dort in trauter Gemeinsamkeit betrieben – unter dem
Deckmantel des vermeintlich ethnisch Nicht-Zusam-
menkommen-Könnens.

Dass Menschen in Nord-Mitrovica, die sich in Initia-
tiven zusammenfinden und interethnisch agieren wollen,
massiv unter Druck geraten und Angst haben müssen,
aus dem Hause zu gehen, das ist ein Zustand, der nicht
ertragen werden darf. Das richtet sich in der Tat auch an
die Adresse Serbiens bzw. Belgrads. Es gibt eine Mi-
schung von unterschiedlichen Botschaften. Gegenüber
der Europäischen Union wird deutlich gesagt: Wir sind
an diesen Parallelstrukturen eigentlich gar nicht betei-
ligt. – Aber unter der Hand mischt man letztlich doch
immer wieder mit und sorgt dafür, dass Parallelstruktu-
ren aufrechterhalten werden. Dann ist eine Botschaft:
Wir sind nicht und niemals bereit, das Kosovo oder zu-
mindest den Norden des Kosovo aufzugeben. – Das ist
eine Unklarheit, mit der man es in Serbien immer wieder
zu tun hat. Ich wünsche den Serben, der serbischen Be-
völkerung, dass dort Klarheit entsteht.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Genau!)


Wir alle wissen: Diese Politiker versperren den serbi-
schen Bürgerinnen und Bürgern den Weg in die EU, in
die die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger möchte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Es gibt bei uns immer wieder einmal die Debatte da-
rüber – man konnte das gerade aus Tutzing hören –, ob
nicht die Dauer dieser Missionen ein Zeichen dafür ist,
dass man im Grunde genommen endlich zu radikaleren
und ehrlicheren Lösungen kommen muss, was hieße,
ethnisch neue Grenzen zu ziehen, und zwar danach, wie
sich die Ethnien – angeblich – sortiert haben. Wer das
ausspricht und vorschlägt, hat nicht verstanden, womit
wir es im Westbalkan zu tun haben.

Eine Teilung des Kosovo würde bedeuten, dass auf
der Stelle die albanischstämmige Bevölkerung in Maze-
donien begehren würde, sich aus dem Staatsverbund her-
auszulösen. Es würde bedeuten, dass die albanischstäm-
mige Bevölkerung im Presevo-Tal ihren Anschluss an
das Kosovo fordern würde. Es würde bedeuten, dass
Albin Kurti, der junge attraktive Nationalist, im Kosovo
nicht mehr zu bremsen wäre, der den Anschluss an Alba-
nien fordert. Es wäre Präsident Dodik nicht mehr zu
bremsen, der immer wieder ein Referendum zur Abspal-
tung der Republik Srpska von Bosnien bekannt gibt,
nachdem diese ethnische Homogenität durch Vertrei-
bung hergestellt worden ist. Auch würde ich nicht die
Hand ins Feuer dafür legen, dass eine ungarische Regie-
rung nicht daran denken würde, die ungarische Bevölke-
rung in der Vojvodina als eigentlich zu ihrem Land gehö-
rig zu betrachten.

Ich meine, wir müssen hier sehr deutlich machen,
dass der Weg zum Frieden nur über Kompromisse gehen
kann. Sie sind schwierig und brauchen Zeit. Sie erfor-
dern viel Geduld. Sie brauchen auch für den Notfall, und
zwar präventiv, Militär, damit es nicht zum Ausbruch
von Gewalttätigkeiten kommt. Es muss sich aber voll-
ständig verbieten, über das neuerliche Verschieben von
Grenzen auf dem Balkan zu sprechen. Das wäre Dyna-
mit für die ganze Region und dann auch für uns.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717817200

Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege

Philipp Mißfelder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1717817300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 verabschiedete,
sprach der Generalsekretär der UNO von einer Tragödie
im Kosovo. Es ging um das blanke Überleben. Die Si-
tuation hat sich 13 Jahre später zum Guten gewendet.
Nichtsdestotrotz sehen wir – Ausdruck dafür ist auch
diese Debatte – die Entwicklung nach wie vor mit großer
Sorge. Wir sind natürlich nicht beruhigt, was die politi-
sche Entwicklung in großen Teilen angeht.

Zurück zu der Zeit vor 13 Jahren; denn die politische
Interpretation des Mandats heute beruht sehr stark auf
der Geschichte dieses Konflikts: Vor 13 Jahren beschloss
der Bundestag aufgrund der Notlage der Menschen im
Kosovo ein Mandat mit einer Obergrenze von
8 500 Mann. Der Unterschied zwischen dem Mandat mit
8 500 Mann vom 11. Juni 1999 und dem Mandat mit
1 850 Mann, über das wir heute diskutieren, liegt vor al-
lem im Erfolg eines zivil-militärischen Friedenseinsat-
zes, der auch zum Ansatz gehört. Deshalb dürfen wir
heute sicher davon ausgehen, dass die KFOR mit maxi-
mal 1 850 deutschen Soldatinnen und Soldaten den Auf-
trag erfüllen wird.





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


Ich glaube, dass man voller Stolz sagen kann: Die
KFOR-Soldaten haben einen sehr guten Dienst geleistet.
Deshalb danken wir ihnen insbesondere für das, was sie
in den letzten 13 Jahren auch mit Unterstützung der Bun-
deswehr geleistet haben. Die Tragödie konnte gestoppt
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Hoffnung, die viele Menschen in dem Land sel-
ber haben, nämlich dass die Entwicklung weiter in Rich-
tung Europa geht, ist berechtigt. Ich glaube, auch wenn
ich nicht für alle Abgeordneten meiner Fraktion spre-
chen kann – vielleicht gilt das auch für andere Fraktio-
nen –, dass wir am Ziel der europäischen Integration des
gesamten Westbalkans festhalten sollten. Dies ist poli-
tisch einer der wichtigsten Prozesse, um dauerhaften
Frieden und Stabilität zu gewährleisten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir zurückblicken, können wir feststellen, dass
es erst einmal Fortschritte gab. Die Neue Zürcher Zei-
tung schrieb am 25. Mai 2011:

Es scheint, als sei … eine neue Epoche angebro-
chen: Mehr und mehr Serben nehmen am politi-
schen Leben teil, profitieren von den Minderheiten-
rechten und -quoten und spielen eine zunehmend
wichtige Rolle in der Politik in Kosovo.

Das ist eine positive Beurteilung, die man sich natürlich
im Einzelfall anschauen muss. Im Großen und Ganzen
war dies aber die Entwicklung auch in 2011.

Dann kam es im Juli und im November 2011 leider
wieder zu Unruhen. Die Entsendung von kosovo-albani-
schen Spezialpolizisten und Zollbeamten führte an den
Grenzübergängen im Norden Kosovos zu gewaltsamen
Ausschreitungen, die hier in einem anderen Rahmen
schon ausführlich diskutiert worden sind. Trotz der poli-
tischen Erfolge und der militärischen Stabilität, die
erreicht worden ist – auch durch KFOR –, ist es notwen-
dig, nicht zu unterschätzen, dass es immer noch Eskalati-
onspotenzial gibt. Man muss daher zur Kenntnis neh-
men, dass man hier nicht nur politisch tätig sein kann,
sondern auch die militärische Option weiterhin braucht.
So bedauerlich das auch nach solch einer langen Zeit ist,
nichtsdestotrotz scheint es notwendig zu sein. Deshalb
sollten wir an diesem Mandat festhalten.

Die Lage hat sich im Jahr 2012 vor allem dank KFOR
wieder stabilisiert. Es ist aber ganz klar: Diejenigen, die
im Nordkosovo Unruhe stiften, werden das jederzeit
wieder tun können. Das ist für uns politisch inakzepta-
bel. Deshalb werden wir sowohl diese militärische Maß-
nahme weiter verlängern als auch die politischen Initiati-
ven verstärken und aufrechterhalten, die notwendig sind,
um dort weiterhin Stabilität zu gewährleisten.

Aus meiner Sicht handelt es sich um eine europäische
Verantwortung, für Sicherheit in unserer eigenen Nach-
barschaft, in der Nachbarschaft der Europäischen Union
und zugleich im Herzen Europas zu sorgen. Wir spre-
chen hier nicht über eine weit abgelegene Region, viel-

mehr handelt es sich um einen Teil Europas, der aus mei-
ner Sicht irgendwann auch ein Teil der Europäischen
Union sein wird. Deshalb liegt es in unserer Verantwor-
tung, diese Probleme selber zu lösen und nicht nur da-
rauf zu vertrauen, dass Freunde aus der NATO, insbe-
sondere die USA, die Verantwortung übernehmen.

Die historische Entscheidung, die einst 1999 getrof-
fen worden ist und die in der Bundesrepublik sehr um-
stritten war, ist rückblickend als richtig zu betrachten.
Sie war humanitär absolut notwendig für eine Stabilisie-
rung des Landes, aber auch für ein friedliches Miteinan-
der, und hat sich ausgezahlt.

Über den militärischen Beitrag, also die Verlängerung
des Mandats, hinaus – das gilt für diesen Einsatz wie für
viele andere – müssen wir auch einen politischen Beitrag
leisten, nämlich die Türe nach Europa offenzuhalten und
damit dem Land eine vernünftige und gute Zukunft bie-
ten zu können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717817400

Für die Fraktion der SPD hat jetzt das Wort die Kolle-

gin Dr. Susanne Kastner.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1717817500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn wir heute über die Fortsetzung des
KFOR-Mandates reden, dann sind wir uns in diesem
Hause weitgehend einig, dass der Einsatz der Bundes-
wehr ein Erfolg war und ist. Unsere KFOR-Truppen leis-
ten gute Arbeit und genießen ein sehr hohes Ansehen.

In der letzten Woche waren wir mit einer Delegation
im Kosovo und konnten uns erneut von dieser Tatsache
überzeugen. Die Regierenden in Pristina und besonders
die Staatspräsidentin haben sich ausdrücklich für den
kontinuierlichen Einsatz und die Unterstützung Deutsch-
lands bedankt. Diesen Dank möchte ich sehr gerne an
unsere Soldatinnen und Soldaten weitergeben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Neben den politischen Gesprächen stand für uns
selbstverständlich der Besuch unserer Bundeswehrsolda-
ten im Mittelpunkt. Die Reise – das ist heute schon etli-
che Male angesprochen worden – fiel in eine spannende
Zeit, da im Vorfeld der serbischen Wahlen erneut das
deutsch-österreichische ORF-Kontingent stationiert
wurde.

Die Entscheidung, die Truppen anzufordern, ist dabei
überhaupt nicht zu kritisieren. Denn es war nicht abseh-
bar, ob die Lage im Nordkosovo erneut eskalieren
würde, so wie im vergangenen Jahr, als es zu erheblichen
Grenzkonflikten kam. Glücklicherweise können wir
heute sagen, dass es dieses Mal sehr friedlich geblieben
ist. Das verdanken wir sicherlich auch der Präsenz unse-
rer Soldatinnen und Soldaten.





Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) (C)



(D)(B)


Problematisch ist aus meiner Sicht allerdings, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten kaum noch Planungssi-
cherheiten bei ihren Einsatzzeiten haben. Zweifellos
wird es immer wieder vorkommen, dass Einsatzbefehle
erst kurzfristig erteilt werden können. Die serbischen
Wahlen aber waren wahrlich keine Überraschung.

Daher appelliere ich an die politische Leitung des
Verteidigungsministeriums, die Bedürfnisse der Einsatz-
soldatinnen und -soldaten nicht aus den Augen zu verlie-
ren. Schon mehrfach haben wir die schleichende Verlän-
gerung der Stehzeiten kritisiert. Das ORF-Bataillon ist
ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte. Es kann
doch nicht sein, dass unsere Soldatinnen und Soldaten
zum Teil nur eine Woche Zeit haben, um sich auf den
nächsten Einsatz vorzubereiten.

Da helfen auch Entschuldigungen und gut gemeinte
Worte nicht weiter. Diese werden von den Soldaten zur
Kenntnis genommen, nützen aber nicht viel, wenn sich
die konkrete Einsatzplanung letztlich doch nicht ändert.
Die Einsatzplanung muss prinzipiell verbessert und an
die Lebensrealität unserer Soldatinnen und Soldaten,
insbesondere mit Blick auf ihre Familien und Kinder an-
gepasst werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
hat etwas mit Attraktivität und Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf zu tun.

Darüber hinaus, Herr Minister, gibt es ein zweites lei-
diges Thema, die Betreuungskommunikation. Man könnte
ja annehmen, dass Telefon- und Internetverbindungen
im Kosovo ein vernachlässigbares Problem darstellen.
Tatsache ist allerdings, dass unsere Soldatinnen und Sol-
daten dort mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert
werden wie beispielsweise in Afghanistan.

Ich frage mich schon, warum die Mitarbeiter der
EULEX in unmittelbarer Nachbarschaft günstig nach
Hause telefonieren können, während unsere Soldaten
das nicht können. Vom Skypen will ich erst gar nicht re-
den. Hier sehe ich das Bundesministerium der Verteidi-
gung in der Pflicht, sich der Sache mit Nachdruck anzu-
nehmen. Dass es an den technischen Voraussetzungen
nicht scheitert, zeigen die funktionierenden Netze der
befreundeten Nationen im Einsatz.

Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hat
jüngst auf weitere Probleme in den Bereichen Unterbrin-
gung, Versorgung und Betreuung im Einsatzgebiet auf-
merksam gemacht. Ich baue diesbezüglich auf das
Verteidigungsministerium, dass es die berechtigten Be-
schwerden unserer Parlamentsarmee ernst nimmt und
schnellstmöglich für Abhilfe sorgt. Das sind wir unseren
Soldatinnen und Soldaten doch schuldig.

Bei allen Herausforderungen in der Praxis ist der Ein-
satz unserer Parlamentsarmee im Kosovo ein wichtiger
Beitrag für die Stabilität innerhalb der Region. Daher bin
ich mir sicher, dass das neue KFOR-Mandat wiederum
durch eine breite Mehrheit im Hause unterstützt wird.
Fakt ist allerdings auch, dass der Bundeswehreinsatz
keine Dauerlösung sein darf. Unser erstes Mandat – auch
darauf ist heute schon etliche Male hingewiesen worden –
haben wir schließlich im Jahr 1999 verabschiedet.
13 Jahre später ist unser Auftrag immer noch nicht been-
det.

Frau Kollegin Beck, ich war sehr dankbar für die Ein-
schätzung, die Sie als Kennerin dieser Region hier am
Pult des Deutschen Bundestages vorgenommen haben.
Wir müssen alles, aber auch alles daransetzen, damit wir
eine politische Lösung des Konflikts auf dem Balkan er-
reichen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717817600

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1717817700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Als wir vor einem Jahr die Verlängerung des KFOR-
Mandats hier im Parlament beraten haben, war der Ton
durchaus optimistischer als heute. Wir konnten im letz-
ten Jahr zum dritten Mal in Folge die Mandatsober-
grenze senken. Wir kamen ja von 3 500 Soldatinnen und
Soldaten im Jahr 2009 über 2 500 im Jahr 2010 auf
1 850 Soldatinnen und Soldaten im Jahr 2011.

Es war uns damals aber auch klar, dass die Lage ins-
besondere im Norden weiterhin fragil ist und dass die Si-
cherheitslage jederzeit eskalieren kann. Leider wurde
genau diese Einschätzung, die im letzten Jahr hier geäu-
ßert worden ist, bestätigt. Folgerichtig wurde dann die
reguläre KFOR-Truppe mit den Kräften der operativen
Reserve, dem schon oft angesprochenen ORF-Bataillon,
verstärkt. Genau für diesen Fall haben wir diese Reserve
ja auch aufgestellt.

Ich habe höchsten Respekt vor den Soldaten – der
Minister und auch Sie, Frau Kastner, haben es angespro-
chen –, die ganz kurzfristig in den Einsatz geschickt
worden sind und unter schwierigsten Bedingungen – es
gibt Berichte von über zwölf Mann in einem Zelt und die
Situation im tiefsten Winter; Sie haben die Internetver-
bindungen angesprochen – ihren Einsatz dort leisten.
Hinsichtlich der Betreuung und Versorgung – darin sind
wir uns einig – kann die Bundeswehr durchaus besser
werden.

Meine Damen und Herren, der Respekt gilt unseren
Soldaten, weil sie selbst unter diesen Bedingungen ihren
Auftrag hoch professionell ausführen. Das gilt für das
ORF-Bataillon genauso wie für die regulären KFOR-
Kräfte. Die Soldaten sind im Grenzgebiet im dortigen
Norden mit einer hochexplosiven Situation konfrontiert,
mit Demonstranten, die emotional aufgeladen und zum
Teil gewaltbereit sind. In diesem schwierigen Umfeld
behalten sie die Nerven, wirken sie deeskalierend, stabi-
lisieren sie die Lage und sorgen für Bewegungsfreiheit.
Auf diese Menschen können wir als Deutsche stolz sein.
Herzlichen Dank dafür!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)


Die KFOR-Soldaten machen einen guten Job, aber sie
können das Problem an sich nicht lösen. Solange sich
Belgrad und Pristina nicht mit echtem Lösungswillen an
einen Tisch setzen und von ihren jeweiligen Maximal-
forderungen Abstand nehmen, wird sich an der Situation
substanziell nichts ändern. Ich bin aber vorsichtig opti-
mistisch, dass es nach den Wahlen zumindest von serbi-
scher Seite verstärkten Druck geben wird, um zu einer
Lösung zu kommen.

Herr Kollege, Sie haben die Wahlen angesprochen.
Die Kosovo-Frage ist laut den Umfragen vor der Wahl
nur noch von relativ geringer Bedeutung. Sie ist nicht
das zentrale Problem, das die Menschen vor Ort beschäf-
tigt. Das zentrale Problem ist ihre wirtschaftliche Situa-
tion, und ihr sehnlichster Wunsch ist, möglichst schnell
den Weg nach Europa zu gehen. Aber der Weg in die
Europäische Union kann nur zum Ziel führen, wenn die
Kosovo-Frage gelöst ist. Ich bin unserer Bundeskanzle-
rin dankbar, dass sie diese Verknüpfung immer wieder
richtig dargestellt hat.

Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen kurz
von einem persönlichen Erlebnis in Pristina berichten.
Der Kollege Hahn und ich waren kurz vor Weihnachten
im Kosovo und haben neben unseren Soldaten auch eine
Gruppe junger Studenten aus dem Kosovo getroffen. Ich
habe eine junge Generation erlebt, die die Vergangenheit
hinter sich gelassen hat, die für eine Zukunft in Europa
brennt, die motiviert und bereit ist, Leistungen zu erbrin-
gen, um ihre Situation zu verbessern, und die Konflikte
der Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Wir haben im Kosovo im letzten Jahrzehnt viel er-
reicht. Gerade wenn ich die junge Generation dort er-
lebe, habe ich die berechtigte Hoffnung, dass wir in
Zukunft noch viel mehr erreichen können. Unsere Betei-
ligung am KFOR-Einsatz ist ein kleiner Beitrag dazu,
den wir auch in Zukunft leisten sollten.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717817800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9505 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a bis c auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Die Abgeltungsteuer abschaffen – Kapital-
erträge wie Löhne besteuern

– Drucksachen 17/4878, 17/7666 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Dr. Barbara Höll

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Richard Pitterle, Dr. Axel
Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Steuerliche Abzugsfähigkeit von Managerbe-
zügen einschränken

– Drucksache 17/9552 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra
Wagenknecht, Sevim Dağdelen, Nicole Gohlke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gerechtere Verteilung durch eine 75-Prozent-
Reichensteuer für Einkommensmillionäre

– Drucksache 17/9525 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Steffen Kampeter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717817900


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gilt allgemein, aber für die Finanzpolitik ins-
besondere: Politik beginnt mit dem Betrachten der Reali-
tät. Wenn ich mir die heutige Debatte und die Beschluss-
empfehlung anschaue, dann stelle ich fest, dass einige
jedoch zu realitätsfremden Einschätzungen über die
Struktur und Art und Weise, wie in der deutschen Wirt-
schaft gearbeitet und bezahlt wird, kommen.

Es gehört zu den Realitäten der sozialen Marktwirt-
schaft in der Bundesrepublik, dass wir von Familien-
unternehmen geprägt sind und nicht von managergeführten
Unternehmen, die börsennotiert sind. Den Schwerpunkt
der sozialen Marktwirtschaft bilden Eigentümerunter-
nehmer, die in allen Bereichen ihres Unternehmens mit
Maß und Mitte vorgehen.

Wir beraten heute über steuerpolitische Vorschläge.
Ich stelle fest: Wir brauchen eine wachstumsfreundliche
Steuerpolitik für Unternehmen in Deutschland, die allen
Facetten gerecht wird. Was wir nicht brauchen, ist eine
ideologische Steuerpolitik, die für die Übertreibungen
und Exzesse Weniger alle Unternehmen in Gesamthaf-
tung nimmt. Deswegen stehen wir den Vorschlägen der
Fraktion Die Linke sehr skeptisch gegenüber.





Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


An dieser Stelle muss man vielleicht noch einmal her-
vorheben, dass die Gleichung „Je komplizierter das
Steuerrecht, umso mehr Gerechtigkeit spiegelt es wider“
hanebüchener Unsinn ist. Das Gegenteil ist wahrschein-
lich richtiger.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Na ja! Bierdeckel!)


Für die Bundesregierung will ich erklären: Wir glau-
ben, dass bei der Vergütung von Managern Maß und
Mitte einzuhalten sind. Ich glaube aber, dass das Steuer-
recht kein geeigneter Ort ist, um diese Schlacht auszutra-
gen. Die Koalition ist dieses Problem intelligenter ange-
gangen, indem sie einen Kultur- und Mentalitätswechsel
in vielen deutschen, europäischen und sogar amerikani-
schen Entscheidungsgremien vorangetrieben hat. Ein
wesentlicher Baustein war das sogenannte Gesetz zur
Beschränkung von Managergehältern. Darüber hinaus
hat die Bundesregierung die gesamtgesellschaftliche De-
batte über dieses Thema positiv begleitet, indem sie be-
tont hat, dass die Vorstandsgehälter wieder zurückge-
führt werden müssen.

Ich glaube, das ist ein Kulturwechsel in der politi-
schen Debatte. Früher freute man sich, der Genosse der
Bosse zu sein. Ich glaube, die jetzige Bundesregierung,
die für Maß und Mitte steht, ist ein Vorreiter in der De-
batte, und das ist gut so. Das Steuerrecht wollen wir da
lassen, wo es hingehört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will darauf hinweisen – das ist Ausdruck dieses Kul-
turwechsels –, dass der Aufsichtsratsvorsitzende der
Commerzbank und Vorsitzende der Corporate-Gover-
nance-Kommission vor wenigen Wochen einen mahnen-
den Brief an die DAX-Vorstände geschrieben hat. Das
heißt, dass die Initiative zur Begrenzung von Vorstands-
vergütungen nicht allein aus der Politik kommt. Sie wird
von den Entscheidungsgremien aufgegriffen, die davon
betroffen sind, von den Aufsichtsräten und den Haupt-
versammlungen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Hat das denn schon Erfolg?)


Die Managervergütung soll Risiko und Verantwor-
tung der handelnden Personen widerspiegeln. Darum
geht es bei dieser Frage. Ich glaube, dass die Richtung
der Debatte stimmt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717818000

Herr Kollege Kampeter, die Kollegin Paus würde

gerne eine Zwischenfrage stellen.

S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717818100


Ich freue mich auf die Redezeitverlängerung durch
die Kollegin Paus.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717818200

Frau Paus, bitte.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717818300

Gern geschehen, Herr Kampeter.

S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717818400


Das freut mich.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717818500

Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass sich die

Bundesregierung jetzt an der Debatte beteiligen will. Ich
habe konkret von Ihnen gehört, dass Sie steuerliche
Maßnahmen nicht ergreifen wollen. Können Sie sagen,
welche konkreten Maßnahmen die Bundesregierung in
dieser Hinsicht ergreifen will, außer sich intensiv an der
Debatte zu beteiligen?

S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717818600


Ich glaube, es geht hier nicht um eine intensive De-
batte. Das sogenannte Gesetz zur Begrenzung von Ma-
nagergehältern war das Resultat eines aktiven gesetzge-
berischen Handelns. Wenn Sie aber glauben, dass allein
Gesetze helfen, dann springen Sie, Frau Kollegin Paus,
zu kurz. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: In den Zei-
tungen werden Managergehälter mit Worten wie „jen-
seits von Eden“ oder „in der Winterkorn-Zone liegend“
beschrieben. Solche Gehälter sind gesellschaftlich nicht
mehr akzeptabel, Frau Kollegin Paus. Das ist auch un-
sere Auffassung.

Die Debatte lebt ein Stück weit von intellektuellen
Unredlichkeiten; denn die Gehälter sind nicht von der
Bundesregierung beschlossen worden, sondern in der
Regel von paritätisch besetzten Aufsichtsräten bzw. von
Personalausschüssen. Das hier spärlich vertretene linke
politische Spektrum des Parlaments sollte vielleicht, an-
statt hier mutig gesetzgeberisches Handeln zu fordern, in
den Aufsichtsräten mehr Mut beweisen. Sie sollten zei-
gen, dass Sie bereit sind, auch dort für die Begrenzung
der Managergehälter einzutreten. Wer beispielsweise als
gewerkschaftlicher Interessenvertreter im VW-Auf-
sichtsrat für hohe Managervergütungen streitet und
gleichzeitig hier mit Bezug auf seine gewerkschaftlichen
Verbindungen beklagt, dass es dieselben gibt und sagt,
dass er das korrigieren will, der handelt natürlich nicht
konsistent. Auf diese Inkonsistenzen müssen wir die
linke Seite des Hauses vielleicht einmal hinweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Zum Beispiel der grüne Herr Trittin!)


Das Gleiche gilt für die Debatte über die Abgeltung-
steuer. Auch die Abgeltungsteuer ist Gegenstand ideolo-
gischer Auseinandersetzungen. Sie ist aber auch eine er-
folgreiche Geschichte in der Steuerpolitik. Für die
Sozialdemokraten will ich an dieser Stelle erwähnen,
dass sie von Peer Steinbrück ins deutsche Steuerrecht
eingeführt worden ist. Im Vergleich zu allen Vorgänger-
systemen handelt es sich um die erfolgreichste Form der
Besteuerung von Kapitaleinkünften, die es in der Bun-
desrepublik Deutschland jemals gegeben hat.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717818700

Herr Kollege Kampeter, auch der Kollege Troost

würde Ihnen gerne eine Redezeitverlängerung gewäh-
ren. Sind Sie damit einverstanden?

S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717818800


Herr Kollege Troost, wenn Sie mir das netterweise
gewähren würden. Ich freue mich darauf.


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717818900

Ich beziehe mich allerdings auf den vorangegangenen

Punkt, auf die Managergehälter.

S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717819000


Auf welchen denn?


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717819100

Sie tun so, als wäre das kein steuerrechtliches Pro-

blem. Wenn Sie steuerrechtlich anerkennen, dass solche
Gehälter als Kosten abgezogen werden und damit sozu-
sagen nicht mehr der Besteuerung unterliegen, dann ak-
zeptieren Sie damit genau diese Gehälter.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Die werden wieder versteuert!)


Das ist genau der Punkt, weswegen wir sagen, dass hier
eine Veränderung stattfinden muss. Wenn diese Gehälter
gesellschaftlich nicht anerkannt werden sollen, dann
kann auch die Abzugsfähigkeit dieser als Kosten nicht
anerkannt werden. Deswegen können die Aufsichtsräte
trotzdem solche Gehälter beschließen.

S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717819200


Herr Kollege – –


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717819300

Das ist ihnen ja völlig freigestellt. Aber es darf dann

nicht zu einer Einschränkung unserer Steuereinnahmen
als Bund bzw. als Länder führen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Herr Troost, das wissen Sie besser! Das ist keine Einschränkung!)


S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1717819400


Herr Kollege Troost, ich bedanke mich dafür, dass Sie
mir noch einmal deutlich machen, dass Sie vom Steuer-
recht nach meinem Empfinden offensichtlich weniger
verstehen als die Mehrheit dieses Hauses. Wenn ich eine
Vergütung nicht auszahle, dann unterliegt sie der Ge-
winnbesteuerung. Wenn ich eine Vergütung auszahle,
unterliegt sie der persönlichen Besteuerung des Empfan-
genden.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: 50 Prozent!)


Das muss man vergleichen. Sie können die Genossen da
drüben fragen, ob das Steueraufkommen beim Staat hö-
her ist, wenn ich dies als Ertrag im Unternehmen oder
als persönliches Einkommen in der Spitzensteuerkatego-
rie besteuere. Ich will Sie gerne aufklären: Variante zwei
ist diejenige, die dem Staat mehr Erträge bringt. Das
muss ich in aller Klarheit sagen.


(Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Zu behaupten, die von Ihnen vorgeschlagene steuer-
rechtliche Regelung würde dem Staat mehr Einkommen
bringen, ist angesichts der unterschiedlichen Behand-
lung von unternehmerischen Erträgen und persönlichem
Einkommen schlichtweg Unsinn. Das ist nun einmal so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Ich führe dies nicht als Argument an. Ich sage: Wir
müssen die Dinge da entscheiden, wo sie hingehören.
Das gilt im Übrigen auch – Stichwort „ideologische Ver-
bohrtheit“ – für die Abgeltungsteuer. Sie stellt das er-
folgreichste System für die Besteuerung von Kapitalein-
künften dar und ist ein Beitrag zur Steuervereinfachung
und zur Steuerkategorisierung. Die Sache könnte noch
sehr viel unkomplizierter sein. Hätten wir uns 2003,
2004, als wir über die rot-grüne Amnestie diskutiert ha-
ben, einigen können, wäre die Abgeltungsteuer nicht so
ein Flop geworden.

Die Abgeltungsteuer ist eine der Grundlagen dafür,
dass wir jetzt mit der Schweiz Regelungen treffen kön-
nen, dass wir Steuerhinterziehung rechtlich nicht weiter
privilegieren – mit dem Quellenabzug bei der Abgel-
tungsteuer können wir erhebliche Milliardeneinkünfte
für den deutschen Fiskus erzielen –


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: 13 Prozent weniger!)


und dass wir mit weiteren Regelungen für mehr Steuer-
gerechtigkeit und gegen Steuerhinterziehung von Kapi-
taleinkünften kämpfen können. Deswegen finde ich es
so ungehörig, dass die Umsetzung des deutsch-schwei-
zerischen Abkommens vom rot-grünen Lager, beispiels-
weise von Nordrhein-Westfalen, verhindert wird. Man
könnte es jetzt relativ rasch umsetzen. Das würde deut-
lich machen, wie wirkungsvoll die Abgeltungsteuer als
ein Beitrag gegen Steuerhinterziehung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun lautet der Vorschlag von der linken Seite dieses
Hauses, man müsse die Abgeltungsteuer erhöhen. Mir ist
ein realistischer Steueranspruch, der auch durchgesetzt
wird, lieber als ein ideologisch überhöhter Steueran-
spruch mit einer virtuellen Ertragswahrscheinlichkeit.
Ich glaube, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine
vernünftige Regelung gefunden haben. Das heißt nicht,
dass man am zukünftigen System der Abgeltungsteuer
das eine oder andere nicht doch noch überprüfen will.





Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)


Ein Argument finde ich perfide. In der gesamten Ar-
gumentation des Antrags der Linken wird so getan, als
sei die Abgeltungsteuer lediglich von angeblichen Kapi-
talisten und Hochverdienern zu zahlen. Ihr Vorschlag
läuft doch darauf hinaus, dass in der Mitte der Gesell-
schaft diejenigen stärker belastet werden, die Vorsorge
treffen, beispielsweise für Unvorhergesehenes, die sich
nicht allein auf den Staat verlassen und sich für ihr Alter
etwas zurücklegen. Diese Menschen wollen Sie stärker
belasten. Die Behauptung, Ihr Vorschlag belaste ledig-
lich Großverdiener, ist falsch.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Die Mitte der Gesellschaft zahlt über 40 Prozent Steuern!)


Ihr Vorschlag trifft die Mitte der Gesellschaft und nimmt
denjenigen etwas weg, die Vorsorge treffen, die eigen-
verantwortlich handeln. Wir wollen diese Eigenverant-
wortung unterstützen. Wir wollen bei der Eigenverant-
wortung nicht abkassieren. Deswegen ist der Vorschlag
nicht nachzuvollziehen und zurückzuweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich empfehle Ihnen, im Sinne der Beschlussempfeh-
lung des Finanzausschusses zu optieren und Steuerpoli-
tik mit Sinn und Verstand und nicht mit ideologischen
Scheuklappen zu betreiben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717819500

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Dr. Carsten Sieling.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1717819600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge-

genüber meinem Vorredner habe ich auf jeden Fall einen
Vorteil: Ich komme nicht aus Nordrhein-Westfalen, ich
befinde mich nicht mitten im Wahlkampf und muss hier
keine Reden halten, die nur entsprechende Wirkungen
erzielen sollen, uns aber leider in der Sache – darauf
komme ich gleich im Einzelnen – nicht weiterhelfen. Ich
kann nur sagen: Wir drücken allen Nordrhein-Westfalen
die Daumen. Ich glaube, es wird so kommen, wie wir es
uns wünschen. Herr Staatssekretär, als Schattenminister
für Finanzen bleiben Sie im Schatten stehen, auch nach
dem kommenden Sonntag. Sie bleiben Parlamentari-
scher Staatssekretär. Es ist wichtig, das hervorzuheben.
In Ihrer Rede ist das, glaube ich, sehr deutlich geworden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Wie gut, dass Herr Sieling keine Wahlkampfrede hält!)


Anfangen will ich bei einem Thema, das Sie aufge-
griffen haben: bei der Managervergütung. Ich kann nicht
verstehen, dass ein Staatssekretär für Finanzen im Deut-
schen Bundestag nicht als Erstes deutlich macht, dass
wir in diesem Bereich ein Riesenproblem haben, weil

manche Managergehälter mittlerweile das 50-Fache des
Durchschnittseinkommens betragen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das hat er doch gesagt! Das hat er dargestellt! – Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Das habe ich doch bestätigt, Herr Kollege!)


Natürlich ist es so, dass wir dieses Thema angehen müs-
sen, auch steuerpolitisch. Die Abzugsfähigkeit muss re-
duziert werden, damit der Anreiz für die Unternehmen,
hohe Gehälter zu zahlen, minimiert wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das müssten Sie wissen, und das müssten Sie hier deut-
lich machen.

Natürlich wäre die persönliche Einkommensbesteue-
rung dann höher. Ich sage Ihnen aber auch: Sie ist nicht
hoch genug. Wir brauchen deutlich höhere Staatseinnah-
men, um die Haushalte zu sanieren.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ach! Sie kriegen dadurch aber doch nichts in die Kasse!)


Deshalb sagen wir Sozialdemokraten: Wir wollen eine
Erhöhung des Spitzensteuersatzes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Bei einem Spitzensteuersatz von 49 Prozent würden die
Bezieher hoher Einkommen einen größeren Beitrag leis-
ten. Ich hätte mir gewünscht, hier einen solchen Vor-
schlag zu hören.

Was geschieht stattdessen? Die Bundesregierung ver-
teilt Geschenke. Ich nenne nur das Stichwort „Betreu-
ungsgeld“. Ich will Ihnen auch sagen: Natürlich ist es
gut, dass das Land Nordrhein-Westfalen beim deutsch-
schweizerischen Steuerabkommen nicht mitmacht. Es
wäre nämlich unvertretbar, neue Geschenke zu produzie-
ren.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So ein Quatsch! – Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Das sind 10 Milliarden Einnahmen, Herr Kollege, keine Geschenke!)


Jetzt möchte ich auf die Abgeltungsteuer zu sprechen
kommen. Ich hätte gerne einmal gehört, wie die Mei-
nung Ihres Hauses, des Bundesministeriums der Finan-
zen, hierzu ist.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Nein! Von der SPD wollen wir etwas hören! Sie haben ja damals auch zugestimmt!)


Ich nehme da nämlich sehr unterschiedliche Botschaften
wahr; ich habe sie persönlich gehört und gelesen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das haben wir doch damals gemeinsam gemacht! In der Großen Koalition! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie leiden wohl unter temporärer Amnesie!)






Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


Sie haben gerade sehr für die Abgeltungsteuer gewor-
ben. Wir Sozialdemokraten sagen, dass wir aus gewissen
Entwicklungen – ich werde gleich auf die einzelnen
Punkte zu sprechen kommen – Konsequenzen ziehen
müssen. Wir wollen, dass der Abgeltungsteuersatz von
25 Prozent auf 32 Prozent erhöht wird; das ist unsere
Forderung. Allerdings darf man das Kind nicht mit dem
Bade ausschütten und wie die Linkspartei, ohne sich mit
der Substanz zu beschäftigen, eine Abschaffung und
Überführung der Abgeltungsteuer fordern.


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Doch! Das ist der zweite Satz in Ihrem Programm!)


So weit sind wir nicht, weil die Sachverhalte zu unklar
sind.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie war denn Ihre Meinung auf Ihrem Parteitag?)


Zurück zur Meinung Ihres Hauses, Herr Staatssekre-
tär. Ich kenne da jemanden. Als ich hörte, was er mir
sagte, sind mir fast die Ohren abgefallen. Laut Berliner
Zeitung vom 25. April 2012 hat Bundesfinanzminister
Schäuble auf einem Symposium des Bundesverbandes
deutscher Banken erklärt: Ich habe die Abgeltungsteuer
nicht eingeführt. – Er soll, so die Zeitung, außerdem ge-
sagt haben, er sei immer ein Anhänger der synthetischen
Einkommensteuer gewesen. Meine Damen und Herren
von der Koalition, wer sagt denn jetzt die Meinung der
Bundesregierung: Herr Schäuble auf Symposien oder
Herr Kampeter hier?


(Florian Toncar [FDP]: Daniel Volk macht das gleich!)


Ich finde, es ist durch und durch unsolide, mit einem
solch wichtigen Thema so umzugehen.


(Beifall bei der SPD)


Weil dies ein wichtiger Punkt ist, über den wir heute
zu entscheiden haben – wir Sozialdemokraten lehnen
den Vorschlag der Linkspartei ab –, möchte ich darauf
hinweisen: Was die Abgeltungsteuer betrifft, ist die Be-
messungsgrundlage deutlich erweitert worden. Insbe-
sondere Dividenden werden durch die Abgeltungsteuer
breiter besteuert als zuvor. Vor allem sind die alten Privi-
legien des Halbeinkünfteverfahrens weggefallen. Früher
wurden Dividenden nur zu 50 Prozent herangezogen,
jetzt werden sie ganz der Besteuerung unterworfen. Das
ist ein Fortschritt, an dem wir auf alle Fälle festhalten
wollen.

Ich will deutlich machen, weshalb wir dieses Thema
angehen müssen. Es kam nämlich zu einem Einbruch
des Steueraufkommens. Allerdings ziehen wir daraus
nicht den Schluss, die Abschaffung der Abgeltungsteuer
zu fordern, ohne zuvor die genauen Fakten und Grundla-
gen zu ermitteln. Die Zinsentwicklung ist infolge der Fi-
nanzkrise nämlich nachweislich gesunken. Deshalb ist
völlig klar: Auch wenn die Besteuerung von Kapitalein-
künften Teil der normalen Einkommensbesteuerung
wäre, wäre es zu diesem Einbruch gekommen. Es muss
geklärt werden, ob das an der Abgeltungsteuer oder eben
an diesen wirtschaftlichen Faktoren liegt. Auf jeden Fall

ist der Weg richtig, den Steuersatz zu erhöhen, um für
eine stärkere Heranziehung zu sorgen.

Lassen Sie mich abschließend noch darauf hinweisen
– auch das müssen wir betrachten –, dass das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung jüngst als Ergebnis ei-
ner Untersuchung der Entwicklung der Abgeltungsteuer
herausgefunden hat, dass durch die Senkung des Steuer-
satzes, der vor der Reform bei 44 Prozent lag, auf jetzt
26 Prozent insbesondere die Fremdfinanzierung besser-
gestellt wird, dies umgekehrt jedoch eine Schwächung
des Eigenkapitals bedeutet.

All diese Ergebnisse werden wir uns anzuschauen ha-
ben. Entscheiden können wir aber erst, wenn die Fakten-
lage deutlicher ist. Deshalb lehnen wir den Antrag der
Linken ab.

Herr Präsident, erlauben mir Sie, dass ich ganz zum
Schluss noch darauf hinweise: Das letzte Mal haben wir
hier genau drei Tage vor den Landtagswahlen in Rhein-
land-Pfalz und Baden-Württemberg darüber diskutiert.


(Zuruf von der SPD: Das ist Zufall!)


Dieses Mal bringen Sie das Thema vor der Landtags-
wahl in Nordrhein-Westfalen auf die Tagesordnung. Da-
mit weiß man: Ihnen geht es gar nicht ernsthaft um die
Sache. Sie wollen hier billige Vorteile erzielen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Der Antrag lag die ganze Zeit im Finanzausschuss! Das, was Sie sagen, stimmt nicht!)


– Das stimmt. – Die werden Ihnen nicht reichen. Ich
hoffe, dass weder der Staatssekretär noch die Linkspartei
am Sonntag einen Erfolg einfahren werden.

Für Verteilungsgerechtigkeit und richtige Finanzpoli-
tik stehen die Bundesländer, und Nordrhein-Westfalen
macht hier eine verdammt gute Figur.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genau das nicht!)


Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717819700

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Daniel

Volk das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1717819800

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehr-

ten Damen und Herren! Herr Kollege Sieling, dafür, dass
Sie nicht aus dem wahlkämpfenden Bundesland Nord-
rhein-Westfalen kommen, war das eine ganz gute Wahl-
kampfrede.


(Florian Toncar [FDP]: Nein, gut war sie nicht! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das war nur die Wahrheit!)


Eines haben Sie hier schon deutlich gesagt – und das
ist natürlich auch symptomatisch für die Herangehens-
weise des linken Teils dieses Hauses –: Steuerpolitik





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)


wird immer nur unter dem Aspekt gesehen, dass der
Staat mehr Geld braucht. Der falsche Schluss, den Sie
daraus ziehen, ist nun aber, dass Sie meinen, dass, wenn
man die Steuersätze anhebt, mehr Steuereinnahmen fol-
gen


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Herr Eichel ist genau mit der Senkung der Steuersätze auf die Nase gefallen!)


Dieser Schluss ist leider Gottes nicht zutreffend.

Ich darf nur auf die heute bekannt gewordene Steuer-
schätzung für die nächsten Jahre verweisen. Die Steuer-
schätzung hat wiederum knapp 30 Milliarden Euro Steu-
ermehreinnahmen für die nächsten Jahre vorausgesagt.
Das heißt, eine vernünftige Finanz-, Steuer- und Wirt-
schaftspolitik führt zu Steuermehreinnahmen. Eine mas-
sive Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 75 Prozent
würde dagegen wie andere vorgeschlagene Maßnahmen
im Steuerrecht wohl eher dazu führen, dass einige Leute
schichtweg versuchen werden, sich diesem Raubzug ei-
ner linksfraktionellen Steuerpolitik zu entziehen. Die
Politik, die hier insbesondere von der Linksfraktion vor-
geschlagen wird, hat also zur Folge, dass die Steuerein-
nahmen sinken. Das kann nicht im Interesse unseres
Staates sein.

Wir wollen eine vernünftige Steuerpolitik machen:
Eine wohlwollende Austarierung zwischen staatlichem
Finanzbedarf einerseits und genügend finanziellem
Spielraum für die Bürger andererseits ist Kennzeichen
einer vernünftigen Steuerpolitik, die übrigens auch zu
mehr Wirtschaftswachstum führen wird. Aus diesem
Wirtschaftswachstum ergibt sich eine solide Einnahme-
basis des Staates, mit der dann eben auch die Staatsver-
schuldung abgebaut werden kann.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Herr Laffer lässt grüßen!)


Ich gehe felsenfest davon aus, dass es uns dank der
laut der heutigen Steuerschätzung wiederum steigenden
Steuereinnahmen gelingen wird, bis 2014 einen ausge-
glichenen Bundeshaushalt vorzulegen. Ich glaube, das
ist das ganz wesentliche Signal am heutigen Tage.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen wir uns an, wie die Linksfraktion an die Ma-
nagergehälter bzw. an die Gehälter von Vorstandsmit-
gliedern herangehen will. Das geht wieder einmal auf
die typische Art und Weise: Wir nehmen es denen da
oben, weil die es nicht verdient haben,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Genau! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nehmen tun wir denen gar nichts!)


und angeblich wird es dann denen da unten gegeben.
Dieses angebliche Nach-unten-Geben hat bislang noch
nie funktioniert. Sie wollen also eigentlich nur nehmen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Der Herr Kampeter hat es doch gerade gesagt: Da wird gar nichts genommen!)


Das Entscheidende ist, dass Sie an diese Sache mit
dem vollkommen falschen Ansatz herangehen. Die
Frage, wie hoch die Vergütungen von Arbeitnehmern
– Vorstandsmitglieder sind eigentlich nichts anderes als
Angestellte eines Unternehmens – sind,


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


stellt eine Frage dar, die die Eigentümer der Unterneh-
men zu entscheiden haben. Ich halte es für völlig abwe-
gig, zu fordern, dass die Politik vom grünen Tisch aus
darüber zu befinden habe, welche Vergütung festzuset-
zen ist oder wann sie zu hoch ist.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wie hoch die Abzugsfähigkeit ist!)


Ich glaube, dazu sind wir nicht berufen.


(Zuruf von der FDP: Das hat schon einmal nicht geklappt!)


Mit Tarifautonomie einher geht Tariffreiheit. Insofern
sollten wir die Entscheidung über die Vergütung der so-
genannten führenden Angestellten in die Hände der Ei-
gentümer der Unternehmen legen. Deswegen kann ich
nur empfehlen, das Ganze nicht über das Steuerrecht zu
regeln. Man sollte eher darüber nachdenken, ob nicht die
Hauptversammlung in entsprechenden Unternehmen ein
Mitspracherecht bei der Festsetzung der Höhe der Ver-
gütung von Vorstandsmitgliedern haben sollte.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das eine tun, das andere nicht lassen!)


Das halte ich für weitaus angemessener und für weitaus
besser als eine fürchterlich komplizierte Bestimmung im
Steuerrecht.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach!)


Sie wollen das 20-Fache des Bruttolohns des Facharbei-
ters als Grundlage heranziehen. Dieser wird sich von
Jahr zu Jahr entsprechend ändern. Das ist eine Verkom-
plizierung des Steuerrechts, die sicherlich nicht vertret-
bar ist.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das rechnet ein Computer in weniger als einer Sekunde aus!)


Wir sollten also nicht im Steuerrecht ansetzen, sondern
im Unternehmensrecht. Ich glaube, das ist der richtige
Ansatz.

Ein weiterer Punkt ist die Frage der Abgeltungsteuer.
Es klingt erst einmal wahnsinnig schön – auch Kollege
Sieling hat das gesagt –: Der Steuersatz der Abgeltung-
steuer soll von 25 auf 32 Prozent angehoben werden. Die
genaue Begründung, warum das nun genau 32 Prozent
sein sollen, haben Sie uns leider Gottes nicht gegeben.
Es könnten auch 35 oder 55 Prozent sein, wie auch im-
mer. Aber einen entscheidenden Punkt haben Sie nur
ganz beiläufig gestreift, nämlich die Tatsache, dass vor
Einführung der Abgeltungsteuer über das sogenannte
Halbeinkünfteverfahren nur die Hälfte der Zuflüsse als
Bemessungsgrundlage für die Besteuerung herangezo-
gen wurde. So war auch die Begründung dafür, dass man
für die Einführung der Abgeltungssteuer die Hälfte einer





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)


Spitzensteuerbelastung von circa knapp unter 50 Prozent
ansetzt, nämlich 25 Prozent. Warum soll jetzt plötzlich
dieses Prinzip mit einem Steuersatz von 32 Prozent, wie
Sie es gerade vorgeschlagen haben, aufgegeben werden?


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Soll gar nicht!)


Da besteht tatsächlich ein Widerspruch.

Man sieht ganz einfach: Sie sind eben nicht mehr be-
reit, die von Ihnen früher vollkommen zu Recht vertrete-
nen Prinzipien weiterhin zu vertreten, wenn Sie auf der
Oppositionsbank sitzen. Das halte ich, ehrlich gesagt,
nicht für glaubwürdige Politik. Insofern, meine ich, soll-
ten Sie sich diese Forderung nach einer Anhebung der
Abgeltungsteuer auf 32 Prozent noch einmal genau über-
legen.

Herr Kollege Sieling: Ja, der Staat braucht Steuerein-
nahmen; das ist vollkommen richtig. Steuern müssen
aber in einem angemessenen Verhältnis zu den finanziel-
len Spielräumen der Bürger stehen. Wenn Sie als SPD-
Fraktion der Ansicht sind, der Staat brauche mehr Steu-
ereinnahmen, dann kann ich Sie nur auffordern, dem
deutsch-schweizerischen Steuerabkommen zuzustim-
men.


(Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Sehr wahr!)


Das ist nämlich der angemessene Weg, auch in diesem
Bereich die Steuereinnahmen des Staates deutlich zu
steigern, hier endlich den gordischen Knoten zu durch-
trennen und dafür zu sorgen, dass wir auch bei denjeni-
gen, die ihr Geld in der Schweiz angelegt und bislang
nicht versteuert haben, für Steuergerechtigkeit sorgen.
Solange Sie dieses Abkommen ablehnen, sind Sie kein
glaubwürdiger politischer Partner mehr in Fragen der
Steuergerechtigkeit und der Steuerfairness.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717819900

Für die Linke spricht jetzt Herr Kollege Dr. Diether

Dehm.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717820000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine

Fraktion hat drei Anträge zur Besteuerung von Superrei-
chen vorgelegt. Einer dieser Anträge hat die Besteue-
rung der Einkommensmillionäre zum Ziel, also jener,
die jedes Jahr mehr als das 40-Fache des Gehaltes einer
Verkäuferin bekommen. Genau mit diesem Vorschlag
hat François Hollande die Wahl gewonnen. Mit diesem
Antrag der Linken könnten Sie, liebe SPD, auch Ihrem
sozialdemokratischen Freund Hollande beistehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Superreichen, 1 Prozent unserer Bevölkerung,
sind in den letzten Krisenjahren noch reicher geworden
und besitzen mehr als die Hälfte des Geldvermögens. In
Deutschland stehen 7 500 Milliarden Euro Privatvermö-
gen 2 000 Milliarden Euro Staatsschulden gegenüber.

Nur mit Umverteilung kann die Staatsverschuldung ab-
gebaut werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke will, dass Spekulanten endlich nicht mehr
mit einer Abgeltungsteuer von läppischen 25 Prozent da-
vonkommen, sondern wie jeder Angestellte und jeder
Handwerksmeister besteuert werden. Das Abgeltung-
steuergeschenk muss ganz weg.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Rot-Grün hat die Hedgefonds zugelassen, die Groß-
spekulanten damit steuerlich beschenkt. Die Große Ko-
alition und Schwarz-Gelb haben die Steuergeschenke
dann dankend weiterentwickelt. Die Linke ist die einzige
Partei, die gegen die Macht der Deutschen Bank steht.
Alle anderen Parteien im Bundestag bekommen Partei-
spenden von den Großspekulanten und von Konzernen –
nicht. Das hat gute Gründe, und das soll so bleiben.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weil Sie sich bei der DDR bedient haben!)


Spekulanten produzieren nichts. Sie fressen nur de-
nen, die etwas leisten, die Haare vom Kopf.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: PDS!)


Die Bundesregierung macht erst Steuergeschenke an die
Zockerbanken. Die verzocken dann das geschenkte
Geld, und Sie müssen eine Bankenrettung machen. Als
Tarnmanöver schreien Sie dann: „Schuldenbremse!“, nur
um die Bevölkerung wieder zu rupfen: beim Arzt, in der
Schule, als Verkehrsteilnehmer, bei den kommunalen
Leistungen und der Solarenergie. Wir sagen: Unsere
Schuldenbremse ist die Vermögen- und Millionärsteuer.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt müssen Millionäre mit einer Initiative für die
Vermögensabgabe kommen. Ich habe dort gerne unter-
schrieben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha! – Zurufe von der FDP)


– Kein Sozialneid! Nicht ausgerechnet von Ihnen, von
der FDP!

Lieber Kollege Volk, Sie haben von einem Raubzug
gesprochen. Sie werden nie verstehen, dass es Unterneh-
mer gibt, die zu ihrem Glück nicht noch eine Million und
noch eine Million brauchen. Es macht nicht unglücklich,
etwas abzugeben: für die Lidlverkäuferin, die alleiner-
ziehende Mutter und den kranken Nachbarn auch. Wir
sind Unternehmer, die in einem Land leben wollen, in
dem Krankenhäuser und Gesundheit nicht zum schäbi-
gen Spekulationsobjekt verkommen, immer mehr gebet-
telt werden muss und der Unterricht ausfällt.


(Beifall bei der LINKEN)


Glück ist teilbar, auch mit den 50 Prozent junger
Menschen in Südeuropa, die jetzt ohne Arbeit dastehen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717820100

Herr Kollege Dehm, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Volk?


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717820200

Aber gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717820300

Bitte schön, Herr Volk.


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1717820400

Herr Kollege Dehm, Sie erwähnten gerade, dass auch

Sie den Aufruf von Millionären zur Einführung einer
Vermögensabgabe unterschrieben haben, also auch einer
der Betroffenen sind. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt,
dass es eine Kontoverbindung des Bundesfinanzministe-
riums gibt, auf die jeder freiwillig über seine Steuer-
schuld hinaus einzahlen kann?

Ich stelle Ihnen noch eine zweite Frage, auch wenn
Sie sie möglicherweise nicht beantworten wollen: Haben
Sie von dieser Kontoverbindung Gebrauch gemacht?


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717820500

Ich habe es, um Ihnen das deutlich zu sagen, vorgezo-

gen – das ist auch wichtig –, gewerkschaftliche Initiati-
ven bzw. all die sozialen Initiativen wie Attac oder
Occupy, deren Camp jetzt wieder von der Stadt Frank-
furt verboten werden soll, mit meinem Geld zu unterstüt-
zen. Das habe ich immer getan, ob ich das steuerlich gel-
tend machen kann oder nicht, und das werde ich auch
weiterhin tun. Wichtig ist, dafür zu spenden, dass der
Widerstand in diesem Land gegen die Spekulanten
wächst.


(Beifall bei der LINKEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie zahlen nicht für Sozialpolitik!)


Wir sind Unternehmer, die in einem Land leben wol-
len, in dem, wie gesagt, Gesundheit nicht zum schäbigen
Spekulationsobjekt verkommt.

Eine Welt, in der wie in Spanien eine Ärztin aufs
Land ziehen muss, damit sie dort wenigstens ein paar
Kartoffeln und Eier für ihre Leistung bekommt, oder in
der wie in Griechenland Mütter ihre Kinder – meistens
auf Nimmerwiedersehen – an SOS-Kinderdörfer abge-
ben,


(Zuruf von der CDU/CSU: Nordkorea!)


ist eine Welt, in der sich die gut verdienenden Unterneh-
mer, die sich an dieser Initiative beteiligen, nicht wohl-
fühlen.

Wir Erstunterzeichner für eine Vermögensteuer – das
ist etwas anderes als der Aufruf, den ich vorhin zitiert
habe – sagen genauso wie Warren Buffett und Bill
Gates: Wir wollen überall eine Vermögensteuer. Es kann
doch nicht sein, dass ein erfolgreicher Unternehmer we-
niger Steuern zahlen muss als seine Sekretärin.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung aber steht unbelehrbar bei den
professionellen Steuerverkürzungsartisten von der FDP.
Die großen Zeitungskonzerne und das Privatfernsehen
propagieren Ackermänner und Steuerflüchtlinge wie
Franz Beckenbauer und Michael Schumacher. Tolle Vor-
bilder für unsere Jugend: in Kitzbühel für Werbeeinnah-
men aus Deutschland lächerliche Dumpingsteuern zu
zahlen! Es muss doch endlich für alle eine patriotische
Pflicht sein, in Deutschland seine Steuern ordentlich zu
zahlen. Es kann doch nicht sein, dass Steuerflüchtlinge
als Vorbilder propagiert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Weil es eben auch ein großes Glück ist, in einer Welt zu
leben, in der Hunger, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit
und Aids zurückgedrängt werden. Die Schere zwischen
Arm und Reich darf nicht weiter auseinandergehen. Ich
zitiere noch einmal François Hollande: „Solidarität be-
ginnt bei gerechter Steuerzahlung der Konzerne.“

Der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof
hat letzte Woche zugunsten einer Stärkung der Gemein-
den entschieden. Liebe Sozialdemokraten, Sie können
etwas für die Städte und Dörfer nicht nur in Nordrhein-
Westfalen tun, für den neuen Präsidenten in Frankreich
und für Solidarität in Europa: Unterstützen Sie die An-
träge der Linken für soziale Steuergerechtigkeit!


(Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Man darf es sich so einfach machen wie möglich, aber nicht einfacher! Das hat ein wichtiger Mann gesagt: Albert Einstein!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717820600

Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für Bündnis 90/

Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717820700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht alle

Anträge der Linken sind schlecht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Johannes Kahrs [SPD]: Aber die meisten!)


– Die meisten in der Tat, aber nicht alle.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Viele schon!)


Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits vor
drei Jahren dafür votiert, den Betriebsausgabenabzug
von Managergehältern auf maximal 500 000 Euro zu be-
grenzen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sollen wir vielleicht die Wirtschaft abschaffen?)


Denn es stimmt, was Herr Troost eben gesagt hat: Das ist
nichts anderes als eine Subventionierung von gigan-
tischen Managergehältern – diese sind völlig aus dem
Ruder gelaufen – durch den Staat. Die Rechnung, die Sie
aufgemacht haben, Herr Kampeter, ist nicht richtig.


(Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Doch!)






Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


Natürlich bleibt das Managergehalt so, wie es ist. Darauf
wird dann der Spitzensteuersatz gezahlt. Über die De-
tails können wir gerne separat diskutieren. Aber es war
falsch, was Sie hier in öffentlicher Sitzung gesagt haben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Doch! Er hat damit recht gehabt! – Gegenruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Quatsch! Er hat nicht recht gehabt!)


Mit der Forderung nach Abschaffung der Abgeltung-
steuer wird eine wichtige steuerpolitische Forderung von
uns Grünen aufgegriffen. Seit drei Jahren gibt es die Ab-
geltungsteuer in Deutschland. Die Spatzen pfeifen es
von allen Dächern: Die in Deutschland geltende Abgel-
tungsteuer ist Murks. Egal ob Sie Steuerberater fragen,
ob Sie mit Unternehmern und Unternehmerinnen reden,
ob Sie mit den Finanzämtern reden oder ob Sie mit der
Wissenschaft reden, alle sind sich einig: Sie ist Murks.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Antje Tillmann [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht! Die Stimme möchte ich hören, die diese Steuer abschaffen will!)


– Darüber kann ich Sie in Kenntnis setzen, Frau
Tillmann. Es ist nicht eine Stimme, sondern es sind viele
Stimmen. Ich habe intensive Gespräche darüber geführt.

Ich komme zu den verschiedenen Punkten, die für
eine Abschaffung der Abgeltungsteuer sprechen.

Erstens. Sie verursacht wegen der Günstigerprüfung
einen unglaublich hohen bürokratischen Aufwand.

Zweitens. Sie schwächt die deutsche Wirtschaft – das
hat das DIW in seinem aktuellen Wochenbericht deutlich
gemacht – und erhöht damit das Insolvenz- und Über-
schuldungsrisiko der deutschen Unternehmen, weil sie
die Eigenkapitalbasis schwächt. Fremdkapital wird näm-
lich gegenüber Eigenkapital steuerlich deutlich besser-
gestellt. Pro eingesetztem Euro spart eine Unternehme-
rin 18 Cent an Steuern, wenn sie ihr Kapital bei einer
Bank anlegt, statt es im eigenen Unternehmen zu halten.
Es gibt bereits entsprechende Verhaltensänderungen.
Das hat das DIW nachgewiesen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber Sie wollen doch jetzt die Vermögensabgabe auf Betriebsvermögen einführen!)


Drittens. Die Abgeltungsteuer erleichtert Steuerhin-
terziehung, weil sie anonymisiert von Finanzinstituten
abgeführt wird und die Steuerfahnder deswegen weniger
Indizien über Steuersünder bekommen. Jede Normalver-
dienerin gibt dem Finanzamt umfassend Auskunft über
ihre Einkünfte. Für Bezieher von Kapitaleinkünften gilt
das seit drei Jahren in Deutschland nicht mehr.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist es!)


Viertens. Die versprochenen höheren Steuereinnah-
men sind nicht geflossen. Sie haben dieses Versprechen
als Propaganda gebraucht, um überhaupt eine Mehrheit
– tendenziell auch in der Bevölkerung – zu bekommen.

Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück hat den
berühmt-berüchtigten Satz geprägt: Lieber 25 Prozent
von x als 42 Prozent von nix! Diese Steuermehreinnah-
men wurden jedoch nicht erzielt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Weshalb?)


Stattdessen gibt es Steuermindereinnahmen in Höhe von
3 Milliarden Euro.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Welche Zinsen hatten wir vor fünf Jahren? Es ist doch dummes Zeug, was Sie reden!)


– Schauen Sie sich die Zahlen an. Das ist kein dummes
Zeug. Das wissen Sie, Herr Flosbach, genauso gut wie
ich.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie sagt die Wahrheit! – Zurufe von der CDU/CSU!)


Wenn Sie kein anderes Argument haben, brüllen Sie
noch lauter; aber ich habe momentan das Mikrofon.

Fünftens. Die Abgeltungsteuer verstößt zutiefst gegen
jegliches Gerechtigkeitsempfinden der Steuerbürgerin-
nen und Steuerbürger.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Was kriegt man denn für eine Staatsanleihe in Deutschland?)


Warum soll Kapitaleinkommen niedriger besteuert wer-
den als Arbeitseinkommen? Das versteht kein Mensch.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: 2 Prozent Zinsen sind weniger als 5 Prozent!)


Deswegen findet das Wort von Warren Buffet immer
mehr Unterstützerinnen und Unterstützer. Dass die Ab-
geltungsteuer bisher nicht noch mehr in Misskredit gera-
ten ist, liegt einzig und allein an der tollen Wortschöp-
fung. Wenn die Leute, die nicht davon profitieren,
wüssten, was zurzeit im Steuersystem in Deutschland
gilt, dann würden sie massenhaft aufstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Deswegen gehört die Abgeltungsteuer wieder abge-
schafft. Wir von den Grünen freuen uns ausdrücklich da-
rüber, dass diese Einsicht in letzter Zeit auch jenseits von
Grünen und Linken öffentlich formuliert worden ist.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Stimmt ihr wirklich zu?)


Wenn Exfinanzminister Peer Steinbrück in der Zeit vor
zwei Wochen einräumt, die Einführung der Abgeltung-
steuer sei – Zitat – „ein Fehler, an dem ich leider mitge-
wirkt habe“,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: In der Tat!)


wenn umgehend der jetzige Finanzminister und der da-
malige Kabinettskollege Schäuble sekundiert: „Ich war
schon immer ein Anhänger der synthetischen Einkom-
mensteuer“, dann begrüßen wir das.





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


Dazu passt allerdings das derzeit mit der Schweiz
ausgehandelte Steuerabkommen, das die geltende Ab-
geltungsteuer zementiert, nicht.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Genau!)


Würde das Steuerabkommen mit der Schweiz tatsächlich
so abgeschlossen, wie Sie von Schwarz-Gelb es wollen,
dann müsste es wieder gekündigt werden, wenn wir in
Deutschland die Abgeltungsteuer tatsächlich abschaffen.
Das ist ein weiterer Grund, dieses Steuerabkommen mit
der Schweiz so nicht abzuschließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich bin trotzdem voller Hoffnung, da das sachfremde,
aber leider immer so wirkungsmächtige Argument der
Gesichtswahrung nach den Äußerungen von Steinbrück
und Schäuble hoffentlich obsolet ist. Deswegen sollte
jetzt der Weg frei sein, liebe Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten, wenn nicht heute, dann doch zumin-
dest am Montag intensiv darüber zu debattieren, wie wir
es hinbekommen, die Abgeltungsteuer wieder abzu-
schaffen. Wir brauchen das. Außerdem hat auch Herr
Jörg Asmussen über den Finanzminister Schäuble ge-
sagt: Es gibt nichts, was Herr Schäuble nicht kann. – Da-
her bin ich zuversichtlich, dass er auch in der Lage ist,
gemeinsam mit uns die Abgeltungsteuer in Deutschland
wieder abzuschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717820800

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege

Olav Gutting das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1717820900

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die

Fraktion Die Linke stellt hier drei Anträge, die im We-
sentlichen nichts Neues bieten. Es ist Altbekanntes, mit
einer Ausnahme: Neu ist die bei François Hollande ab-
gekupferte Forderung nach einem Spitzensteuersatz von
75 Prozent.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Für Einkommensmillionäre!)


Wissen Sie, es ist schon putzig: Man hat den Ein-
druck, dass Sie von den Linken, je schlechter die Wahl-
ergebnisse sind und je mehr Wähler Ihnen davonlaufen,
umso höhere Forderungen beim Spitzensteuersatz stel-
len. Konsequenterweise werden Sie wahrscheinlich
nächste Woche, nachdem Sie in Nordrhein-Westfalen
aus dem Landtag geflogen sind, einen Spitzensteuersatz
von 95 Prozent oder gleich Enteignung fordern.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, der damit geworben hat!)


Oskar Lafontaine hat schon vorgebaut. Er hat vor kur-
zem zum Besten gegeben, dass nach dem Zweiten Welt-
krieg der Spitzensteuersatz bei 95 Prozent gelegen hat

und keiner daran gestorben ist. Das ist richtig. An einem
Steuersatz stirbt keiner.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Bei Ihrem Herrn Kohl waren es 53 Prozent!)


Aber mit Ihrer Steuerpolitik, meine Damen und Herren
von der Linken, machen Sie das Land nicht gerechter,
Sie machen es nur ärmer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Unter Kohl hatten Sie doch anfangs sogar 56 Prozent!)


Interessant war auch, der SPD zuzuhören. Das gilt
auch für die öffentlichen Äußerungen im Vorfeld. Da
hört man schon eine grundsätzliche Zustimmung zu
Steuererhöhungen, aber auch zum Streichen der Abzugs-
fähigkeit bei Vorstandsgehältern heraus. Was früher rich-
tig war und als notwendig erachtet wurde, ist Ihnen von
der SPD längst nicht mehr wichtig und wird von Ihnen
längst nicht mehr gefordert.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Weißt du, warum du um die Worte ringen musst? Weil das einfach nicht stimmt!)


Sie wundern sich dann noch, wenn die Leute Ihre
Politik nicht mehr verstehen. Der einzige rote Faden, den
man bei Ihnen noch erkennen kann, ist die beständige
Abkehr von den Maßnahmen, die Sie in den letzten Jah-
ren richtigerweise selbst – in der Regel mit uns –
beschlossen haben.

Zur Abgeltungsteuer: Man muss einfach noch ein-
mal darauf hinweisen, dass es Ihr Finanzminister Peer
Steinbrück war, der diese Abgeltungsteuer so eingeführt
hat. Ich erinnere mich auch noch gut an seine Argumen-
tation, als er sagte: 25 Prozent auf x sind eben besser als
42 oder eben 45 Prozent auf gar nichts. – Wir haben es
gemeinsam für richtig erachtet und eingesehen, dass
diese Abgeltungsteuer dazu beitragen wird, die Abwan-
derung von Kapital ins Ausland zu verringern und den
bürokratischen Aufwand abzubauen. Dieser Abbau der
Bürokratie wurde in den damaligen Beratungen übrigens
auch ausdrücklich von den Linken begrüßt. Das ist eine
moderne Steuer, eine Steuer, die vor allen Dingen auch
den globalen Entwicklungen Rechnung trägt. Nur, zu-
mindest Peer Steinbrück, wie man hört, will davon jetzt
nichts mehr wissen.

Man kann durchaus der Meinung sein – und diese
Auffassung vertreten wir auch in der Koalition –, dass
man bei der Abgeltungsteuer noch das ein oder andere
verbessern muss. Es sind Änderungen notwendig, um zu
einer stärkeren Vereinfachung zu kommen. Aber mit ei-
ner Erhöhung, wie sie jetzt auch die SPD fordert, konter-
karieren wir diese Überlegungen zu Vereinfachungen bei
der Abgeltungsteuer. Sie erst einzuführen und hinterher
so zu tun, als ob sie Teufelszeug wäre, das ist keine ver-
lässliche Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Leider gibt es viele Beispiele dafür, dass Sie immer
wieder wichtigen und richtigen Reformprojekten zu-





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


nächst zustimmen und sich dann anschließend vom
Acker machen. Das ist janusköpfig. Erst senkte Rot-
Grün beispielsweise den Spitzensteuersatz auf 42 Pro-
zent. Dann braucht es eine CDU-geführte Regierung, um
diesen Spitzensteuersatz wieder auf 45 Prozent anzuhe-
ben. Und schauen wir uns die Agenda 2010 an: Sie war
richtig für Deutschland. Die Agenda 2010 war richtig für
Deutschland, genauso wie die von uns mit Ihnen zusam-
men beschlossene Rente mit 67.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Und die Reichensteuer war die Idee der CDU?)


Einen guten Teil unserer heutigen Wettbewerbsfähig-
keit, einen guten Teil des Erfolgs, dass wir heute in Eu-
ropa als die Wachstumslokomotive dastehen, als der Sta-
bilitätsanker, haben wir den Reformen von Gerhard
Schröder zu verdanken. Aber statt sich darüber zu freuen
und statt den europäischen Partnern der Sozialdemokra-
ten diese Reformen zu empfehlen, stellen Sie sich hin
und tun so, als ob die SPD nie irgendetwas damit zu tun
gehabt hätte.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wenigstens haben Sie erkannt, dass es unsere Leistung ist und nicht Ihre!)


Sie wissen, dass nachhaltiges Wachstum in Europa
nur mit Strukturreformen möglich ist, Strukturreformen
wie zum Beispiel die Agenda 2010.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ach, wer regiert denn seit Jahren?)


Aber stattdessen stimmen Sie jetzt in den Chor der
Schuldenstaaten ein. Sie fordern sinnlose, schuldenfi-
nanzierte Konjunkturprogramme, für die am Ende der
deutsche Steuerzahler geradestehen muss. Das ist trau-
rig, meine Damen und Herren von der SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Waren Sie 2008 nicht dabei? – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir schauen einmal, wo wir ankommen!)


Bei den Linken – das wissen wir – ist in der Steuer-
politik Hopfen und Malz sowieso verloren.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wir haben wenigstens Hopfen und Malz, Sie haben Bierdeckel!)


Aber wenigstens Sie von der SPD, mit denen zusammen
wir gute Dinge gemacht haben, sollten sich endlich wie-
der der Verantwortung für diesen Staat bewusst werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717821000

Für die SPD hat jetzt der Kollege Lothar Binding das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1717821100

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht zunächst ein

Wort zum Kollegen Kampeter: Ich verstehe nicht, dass
Sie sich nicht die Peinlichkeit ersparen konnten, hier
noch einmal das Abkommen mit der Schweiz, dieses
Verhandlungsdesaster, zu zitieren!


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Besser als die Kavallerie!)


In ihm ist eine „Abschleichregelung“ enthalten, sozusa-
gen eine Motivation zum Schwarzgeldtransfer in Steuer-
oasen; der Mindestsatz ist viel zu niedrig; der Ankauf
von CDs künftig zweifelhaft; und – ich glaube, das ist
das deutlichste Signal – es lässt nur maximal 1 300 Prüf-
anfragen in zwei Jahren zu, also ungefähr zwei Anfragen
pro Finanzamt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Besser als die 40 Jahre zuvor!)


Das stellt doch keine hinreichenden Kontrollmöglichkei-
ten bereit, um Betrügern auf die Spur zu kommen. Betrü-
ger werden vielmehr begünstigt. Deshalb frage ich mich,
wie Sie sich die Peinlichkeit erlauben konnten, das hier
noch einmal zu erwähnen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Ullrich Meßmer hat mir vorhin, als Daniel Volk seine
Verteidigungsrede für die Einkommen von Millionären
gehalten hat, gesagt: Wenn wir diese Verteidigungsrede
gehört hätten, als es um die Verkäuferinnen von Schlecker
ging, dann wäre das eine richtig große Leistung gewe-
sen. Leider müssen wir auf diese Leistung verzichten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich fasse zusammen: Auch die Linke hat Ideen, mal
schlechte, mal weniger schlechte. Sie will eine Einkom-
mensteuer für Millionäre von 75 Prozent. Außerdem will
sie 5 Prozent Vermögensteuer, 60 Prozent Erbschaft-
steuer, 25 Prozent Körperschaftsteuer. Die Abgeltung-
steuer soll abgeschafft werden. Wie daraus ein in sich
schlüssiges Steuerkonzept werden soll, kann, denke ich,
kein Fachmann erkennen. Die FDP dagegen will – ähn-
lich erfolglos – nur die Steuern senken. Das hat bisher
nur einmal geklappt, bei den Hoteliers; ansonsten ist die-
ses Vorhaben bislang schiefgegangen.


(Florian Toncar [FDP]: Sie wissen, dass das Quatsch ist! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Zum 1. Januar 2010 haben wir die Familien entlastet!)


Wir sind gespannt, was da noch passiert.

Wir glauben, dass solche radikalen, scheinbar einfa-
chen Lösungen abzulehnen sind. Die SPD-Fraktion ar-
beitet tatsächlich an einem gerechten System. Ich kann
versprechen: Das wird nicht einfach. Wir wissen: Das
Versprechen auf Einfachheit ist nicht erfüllbar. Alle, die
seit 50 Jahren von einem einfachen Steuersystem träu-
men, haben ihren Traum immer dann ausgeträumt, wenn
sie ihn aufschreiben sollten.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Steuererhöhungen, Steuererhöhungen, Steuererhöhungen!)






Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


Wir wissen: Die Idee der Steuerprogression ist ge-
recht; je mehr man verdient, desto mehr Prozente Steu-
ern zahlt man. Wir müssen uns nicht nur um die Idee der
besseren Umsetzung der Steuerprogression kümmern,
sondern auch um die Praxis der Regression bei den Ab-
gaben. Wer sich nicht auch um die Abgaben kümmert,
der wird immer in einem ungerechten System landen.
Deshalb müssen wir an dieser Stelle sehr viel mehr
machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Stichwort „Managergehälter“. Joachim Poß hat lange
vor 2007 – Ergebnis war schließlich ein in Hamburg ge-
fasster Parteitagsbeschluss – darüber geredet, dass die
Aufsichtsräte wieder verantwortlicher arbeiten sollen. Er
hat von einer Erhöhung der Transparenz gesprochen. Er
hat gesagt: Wir müssen den Angemessenheitsbegriff und
den Selbstbehalt bei D&O-Versicherungen – Directors-
and-Officers-Versicherungen – überdenken; schließlich
gehe es nicht an, dass sich Manager einfach haftungsfrei
stellen könnten. Joachim Poß sprach von einem – das
wurde heute schon einmal zitiert – Mentalitäts- und Kul-
turwandel im Bereich Managergehälter. Ich glaube, dass
ein solcher Wandel das wichtigste Ziel sein muss. Bisher
lassen sich nämlich viele Dinge gar nicht regeln, weil
Manager ihre Gehälter in einem ganz anderen Rechts-
raum erhalten können. Wir brauchen also mehr als eine
einfache gesetzliche Regelung.

Joachim Poß hat fast prophetisch gesagt: „Die Wirk-
samkeit des Gesetzes zur Begrenzung der Managerge-
hälter ist nicht automatisch garantiert.“ Wir wissen in-
zwischen auch, warum. Die CDU hat damals ein paar
Sachen abgelehnt. Ich will einmal zwei nennen:

Sie hat eine Neuregelung zu Betriebsausgabenabzü-
gen bei Personen, die mehr als 1 Million Euro verdienen,
verhindert. Wir haben gesagt: Die Betriebsausgaben
sollten hälftig nicht von der Steuerschuld abgezogen
werden, um somit die Funktion einer Dämpfung auf
diese exorbitanten Gehälter auszuüben. Das hat die CDU
damals verhindert. Bisher ließ sich dieser Kulturwandel
nicht herbeiführen. Selbsterkenntnis muss nämlich im-
mer durch faktische Politik unterstützt werden.

Außerdem gab es einen Passus, der die Verpflichtung
der Konzernleitung auf die Interessen der Mitarbeiter,
der Anteilseigner und auf das Wohl der Allgemeinheit
beinhaltete. Wenn er umgesetzt worden wäre, wären wir
an unserem Ziel angekommen.

Was ist nun das Ergebnis? Es gibt Personen, die ver-
dienen 48 000 Euro. Ich muss sagen: Ich finde das in
Ordnung. Wer würde das bestreiten? Sie denken jetzt
alle an ein Jahreseinkommen. Ich meine aber ein Ein-
kommen von 48 000 Euro pro Tag. Gegenwärtig gibt es
Personen, die pro Tag 48 000 Euro verdienen, und das
hat ein Aufsichtsrat beschlossen. Da merken wir: Das ist
hinsichtlich Mentalität und Kultur eine schlimme Ver-
fehlung. Wir glauben, da anzusetzen, ist ein Signal dafür,
dass sich sehr viel mehr als bisher machen lässt, und das
wollen wir künftig auch tun.


(Beifall bei der SPD)


Ich will noch kurz etwas zur Abgeltungsteuer sagen.
Vielleicht ist es richtig, die Abgeltungsteuer wieder ab-
zuschaffen. Das kann sein.


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Vielleicht ist es aber auch falsch. Zumindest ist die Ana-
lyse, die die Linken vornehmen, nicht richtig. Im Antrag
der Linken steht zum Beispiel, dass die „kassenmäßigen
Steuereinnahmen des Jahres 2010 sowie die Prognose
der Steuerschätzung vom November 2010 … einen mas-
siven Einbruch bei den Einnahmen aus der Abgeltung-
steuer“ zeigen.

Man sollte sich bewusst machen, dass gerade bei den
Kapitalertragsteuern der Zinssatz eine wichtige Rolle
spielt: Sinken die Zinsen, haben viele Menschen ein ge-
ringeres Einkommen, und das Steueraufkommen ist klei-
ner.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So schnell geht das nicht!)


So ähnlich ist es bei den Dividenden: Sinken die Ge-
winne der Unternehmen, werden auch die Dividenden
sinken, und die Steuern auf die gesunkenen Dividenden
fallen geringer aus. Mit dieser Analyse kann man keine
Politik machen; denn damit kommt man zu falschen Er-
gebnissen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717821200

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1717821300

Ich komme sofort zum Schluss. – Hinzu kommt, dass

derzeit die Veräußerungsgewinne ohne Spekulationsfrist
besteuert werden. Das ist ein großer Vorteil. Das wieder
zurückzudrehen, wäre jedenfalls auf der jetzt angedach-
ten Basis ein Fehler. Langfristig darüber nachzudenken,
könnte sich lohnen, aber nicht auf der Basis, die die
Linke heute vorgeschlagen hat.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717821400

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Antje Tillmann von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1717821500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Lieber Lothar
Binding, du hast gesagt, du wollest das ausgewogene
Steuerkonzept der SPD vortragen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Jetzt?)


Das, was du uns vorgetragen hast, war ein Strauß von
Durcheinander. Ich fange mit der Kapitalertragsteuer
oder Abgeltungsteuer an.





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)


In beiden Reden, sowohl in der Rede von Ihnen, Herr
Sieling, als auch in der Rede von dir, Lothar Binding,
war der Teil, der sich darauf bezog, dass die Abgeltung-
steuer nicht die negativen Effekte gehabt hat, die die
Linken ihr zuschreiben, richtig. Sie haben zu Recht da-
rauf hingewiesen: Vor den 25 Prozent von x hatten wir
nicht 42 Prozent von nix, wie der berühmte Satz lautete,
sondern die Hälfte von 42 Prozent von nix; wir hatten
nämlich das Halbeinkünfteverfahren. Durch die Abgel-
tungsteuer ist es bei den Dividenden sogar zu einer Steu-
ererhöhung gekommen. Dieser Passus der Rede war,
fand ich, sehr in Ordnung.

Sie haben auch darauf hingewiesen, dass wir zu Zeiten
der synthetischen Besteuerung – ähnlich wie Finanz-
minister Schäuble bin ich ein Fan von einer gut gemach-
ten und vernünftig durchgeführten synthetischen Besteue-
rung – dieselben Probleme hatten wie heute. Wir hatten
den Werbungskostenabzug, wo es immer Umgehungstat-
bestände gab. Wir hatten den Verlustabzug, bei dem sich
die Leute arm gerechnet haben. Wir hatten natürlich die
Steuerhinterziehung. Nichts ist dadurch besser gewor-
den, dass man die synthetische Besteuerung auch auf die
Einkünfte aus Spekulationsgewinnen bezogen hat. Ganz
im Gegenteil: Bei der Abgeltungsteuer haben wir, selbst
bei anonymer Besteuerung, zumindest die Sicherheit,
dass die Banken haften, wenn sie Steuern nicht einzie-
hen. Das hatten wir früher nicht. – Diesen Part fand ich
gut.

Dann kam der Part hinsichtlich des Parteitagsbe-
schlusses: Erhöhung der Abgeltungsteuer auf 32 Pro-
zent. Nun kann man über jede Steuererhöhung diskutie-
ren. Sie tun das ja im Moment besonders gern mit den
Linken. In Ihrem Konzept steht auch noch die Vermö-
gensteuer und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes.


(Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!)


Sie haben also einen Strauß von Steuererhöhungen vor.

Inhaltlich und systematisch könnte man darüber spre-
chen, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass Sie dann in
den nächsten drei Jahren Kapitalgesellschaften anders
besteuern als Personengesellschaften. Da der größte
Fluchtinstinkt der Deutschen der Steuerfluchtinstinkt ist,
wird das dazu führen, dass Personengesellschaften und
Kapitalgesellschaften ihre Rechtsform wechseln. Das
heißt, in den nächsten drei Jahren werden alle überlegen,
wie sie ihre Steuerlast möglichst gering halten können,
und werden sich umwandeln – mit erheblichen gesell-
schaftlichen Kosten, mit erheblichen Belastungen für die
Unternehmen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das machen sie jetzt schon!)


Was Ihnen beiden offensichtlich peinlich ist, ist der
Satz 2 aus Ihrem Parteitagsbeschluss. Darin steht näm-
lich – deshalb kann ich Ihr Abstimmungsverhalten heute
gar nicht verstehen –: Wenn die Steuer doch nicht die
von Ihnen gewünschte Höhe erreicht, plädieren Sie für
eine Abschaffung der Abgeltungsteuer. – Das heißt, drei
Jahre Gestaltungsdurcheinander, nach den drei Jahren
die völlige Abschaffung und in der Folge dieselben Pro-
bleme, die wir vorher auch hatten. Damit ist das Steuer-
chaos perfekt. Das kann ich nicht als Steuervereinfa-

chung oder Steuersystematik empfinden. Das ist einfach
Murks.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Daniel Volk [FDP]: Stringente Steuerpolitik!)


Da ist schon konsistenter, was die Linke fordert, näm-
lich die Abgeltungsteuer sofort abzuschaffen. Aber wa-
rum ist das nicht sinnvoll? Lieber Herr Troost und Herr
Dehm, Sie haben mit keinem Wort gesagt, wie Sie die
Probleme lösen wollen, die wir früher hatten. Die Pro-
bleme, die es mit der Abgeltungsteuer gibt, zum Beispiel
die Ermittlung der Anschaffungskosten, zum Beispiel
die Verlustverrechnung, hat man bei der synthetischen
Besteuerung ganz genauso. Dazu kommen die Probleme
mit den Werbungskosten.

Sie haben schön dargestellt, was Sie alles nicht wol-
len und dass Ihr Vorschlag gut für die Armen ist, aber
Sie haben mit keinem Satz gesagt, wie Sie die Besteue-
rung vornehmen wollen. Sie haben vor allen Dingen ver-
schwiegen, dass Sie das Halbeinkünfteverfahren wieder
einführen müssen, weil Sie das Ganze sonst verfassungs-
rechtlich nicht durchkriegen. Mit dem Halbeinkünftever-
fahren senken Sie aber die Steuer auf Dividenden. Das
haben Sie nicht gesagt.

Dafür haben Sie behauptet, Herr Dehm, dass Ihre
Schuldenbremse die Millionärsteuer sei. Einmal abgese-
hen davon, dass Sie bei der Schuldenbremse gar nicht
zugestimmt haben: Ich kann Sie nur auf einen Artikel im
Handelsblatt von gestern verweisen. Danach gibt es in
der Schweiz im Moment massive Zuwanderungsbestre-
bungen französischer mittelständischer Unternehmer,
die nämlich der Steuer in Höhe von 75 Prozent entgehen
wollen. Das heißt, Sie werden Unternehmen aus
Deutschland vertreiben und werden keinen einzigen
Cent an zusätzlichen Steuereinnahmen bekommen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wollen Sie Steuerdumping, um sie willkommen zu heißen?)


– 75 Prozent würde ich noch nicht unter „Steuerdum-
ping“ fassen. Da liegen Sie völlig daneben.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was war denn bei Kohl mit 56 Prozent?)


Zu behaupten, dass das niedrige Kapitalertragsteuer-
aufkommen auf die Abgeltungsteuer zurückzuführen ist,
ist – da muss ich den Kollegen Sieling und Binding wie-
der recht geben – völlig daneben.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!)


Das zeigt, dass man überhaupt keine Ahnung von wirt-
schaftlichen Vorgängen hat.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt hören Sie aber auf!)


Es ist völlig richtig, dass Dividenden nicht in der Höhe
fließen, dass Zinsen nicht in der Höhe fließen, dass mit
der synthetischen Besteuerung von Kapitaleinkünften
nicht Einnahmen in dem Umfang erzielt werden könn-
ten, wie das 2008 der Fall war.





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)



(Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Wenn Sie sich darüber so echauffieren, dass Sie das als
Steuerberater wüssten – –


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich bin kein Steuerberater! Ich bin Unternehmer, das ist ein Unterschied!)


– Auch dann erkläre ich es Ihnen ausgesprochen gerne.
Dazu habe ich noch Zeit. Auch als Unternehmer wüssten
Sie, dass im Jahr 2008 Spekulationsgewinne bei einer
Haltefrist von über einem Jahr noch nicht besteuert wur-
den, sodass Sie die Situation vor 2008 und nach 2008
überhaupt nicht vergleichen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist nicht wahr!)


– Es ist wahr. Darüber können wir gerne diskutieren.

Zusammenfassend kann ich nur sagen: Das, was Sie
vorhaben, ist nicht durchdacht. Es ist teilweise faktisch
unrichtig. Es wird nicht das gewünschte Ergebnis erzie-
len. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, die Ab-
geltungsteuer weiter zu entwickeln.

Frau Paus, im Nachgang werden Sie mir noch die
Steuerberaterkammer oder den Steuerberaterverband
nennen, der sich für die Abschaffung der Abgeltung-
steuer ausspricht. Ich kenne keinen einzigen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717821600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Die Abgeltungsteuer abschaffen – Kapitalerträge
wie Löhne besteuern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7666, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4878 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Linken und der Grünen angenommen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksache 17/9552 und 17/9525 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 a und b
auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ingrid Arndt-Brauer, Dirk Becker,

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Leitlinien für Transparenz und Umweltver-
träglichkeit bei der Förderung von unkon-
ventionellem Erdgas

– zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz und Kontrolle bei der Förde-
rung von unkonventionellem Erdgas in
Deutschland

– Drucksachen 17/7612, 17/5573, 17/9450 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Frank Schwabe
Horst Meierhofer
Johanna Voß
Oliver Krischer

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Johanna Voß, Dr. Barbara Höll, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Keine Erdgasförderung auf Kosten des Trink-
wassers – Fracking bei der Erdgasförderung
verbieten
– Drucksachen 17/6097, 17/9196 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Oliver Krischer

Über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen der
Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken werden wir später namentlich abstimmen. Wir
werden also drei namentliche Abstimmungen durchfüh-
ren.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner das Wort dem Bundesminister Dr. Norbert
Röttgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen!


(Marco Bülow [SPD]: Das letzte Aufbäumen!)


Die Förderung von unkonventionellem Erdgas durch das
sogenannte Fracking birgt Risiken, die wir noch nicht
einschätzen können. Es können in allen Phasen der Er-
probung und der Anwendung Umweltbeeinträchtigun-
gen auftreten. Aufgrund des Einsatzes von Chemikalien
können Gefahren für das Grund- und Trinkwasser bis-





Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)


lang nicht ausgeschlossen werden. Oft liegen sogar die
von den Ländern ausgewiesenen potenziellen Lagerstät-
ten in Einzugsgebieten für Trinkwasser oder in landwirt-
schaftlichen Gebieten. Weil Gefahren klar sind, wir sie
aber nicht kennen und ihre Auswirkungen auf die Natur
und hier insbesondere auf das Trinkwasser nicht ab-
schätzen können, sind die Menschen in den betroffenen
Regionen verunsichert. Man kann sogar sagen, Sie ha-
ben Angst davor, dass eine wirtschaftliche Nutzung er-
folgt und dabei Gefährdungen eintreten, die man nicht
kalkulieren kann.


(Kersten Steinke [DIE LINKE]: Die sind wirklich sauer!)


Darum ist es gut, dass wir diese Debatte nutzen, um uns
mit den Ängsten und der Verunsicherung der Menschen
zu beschäftigen.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Nein, hier ist keine Psychotherapie!)


Es geht um die Ängste von Eltern, von Müttern und Vä-
tern, und um die Ängste der Landwirtschaft, die ihre
wirtschaftliche Grundlage bedroht sieht. Dieses Thema
ist in vielen Regionen unseres Landes, insbesondere in
Nordrhein-Westfalen, ein bedeutsames Thema. Darum
ist es unsere Verantwortung, mit diesen Ängsten sachlich
umzugehen. Heute müssen wir in dieser Debatte so viel
Klarheit, wie derzeit möglich ist, herstellen. Dazu
möchte ich jedenfalls diese Debatte nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte angesichts dessen, was noch ungewiss ist,
fünf Punkte klarstellen und ausführen:

Erstens. Solange wir keine umfassenden präzisen und
wissenschaftlich belastbaren Erkenntnisse über die Risi-
ken besitzen, solange die fachlichen Grundlagen noch
unzureichend sind, um zu einer umfassenden Bewertung
zu kommen, so lange darf es keine wirtschaftliche Nut-
zung von Fracking geben. Das ist der erste Grundsatz,
der vorläufig gelten muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Solange die Risikofragen nicht geklärt
sind, halte ich es nicht für vertretbar, weitere Genehmi-
gungen für Fracking bei der Suche nach Gas aus unkon-
ventionellen Vorkommen zu erteilen. Insbesondere in
sensiblen Gebieten, wie zum Beispiel in Trinkwasser-
schutzgebieten, muss Fracking grundsätzlich verboten
werden. Die Zuständigkeit dafür liegt allerdings bei den
Ländern.

Drittens. Die Risiken müssen erforscht werden. Ich
habe darum im Sommer des vergangenen Jahres dem
Umweltbundesamt den Auftrag erteilt, eine wissen-
schaftliche Studie über die Risiken des Fracking für die
Umwelt und insbesondere für die Bevölkerung erstellen
zu lassen. Das Umweltbundesamt hat im Herbst 2011
nach einer regulären Ausschreibung den Auftrag für
diese Studie erteilt. Im nächsten Monat wird sie abge-
schlossen sein. In dieser Studie werden die Risiken des
Fracking klar benannt und wissenschaftlich bewertet
werden. Mit dieser Studie, die im nächsten Monat vor-

liegt, werden wir dann eine solide Grundlage für unsere
politische Bewertung haben,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie vor zwei Jahren schon machen können!)


um angemessene Konsequenzen ziehen und Aussagen
treffen zu können. Vorher machen Ihre Aktionen keinen
Sinn. Bevor man nicht eine solide Grundlage hat, ist das
lediglich Aktionismus,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und Aktionismus ist nicht die richtige Antwort, wenn
Menschen Angst haben. Man sollte mit den Ängsten
kein politisches Spiel treiben,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie so lange gewartet? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie treiben das Spiel!)


sondern verantwortlich damit umgehen.

Viertens. Mit diesem Punkt nenne ich Ihnen das fest-
stehende Prinzip für die Beurteilung von Fracking. Bei
der Anwendung von Risikotechnologien und bei der An-
wendung von Fracking hat die Sicherheit von Mensch
und Natur oberste Priorität. Bei der Sicherheit wird es
keine Abstriche geben. Bei allen Erkundungen, auch
beim sogenannten Probefracking, sind die höchsten
Sicherheitsmaßstäbe anzulegen. Nur so kann ein mögli-
ches Fracking überhaupt zulässig werden. Unser Krite-
rium ist allein das Sicherheitsprinzip.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Daraus folgt: Weil die Sicherheit von Mensch und
Natur unser Leitprinzip ist, wollen wir Fracking in sen-
siblen Gebieten ganz ausschließen. Daraus folgt: Wir
wollen eine verpflichtende Umweltverträglichkeitsprü-
fung einführen und dafür das Bergrecht ändern.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Die Wasserbehörden sind zwingend zu beteiligen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn?)


Eine Umweltverträglichkeitsprüfung kommt derzeit erst
bei einem Fördervolumen von über 500 000 Kubikme-
tern Erdgas pro Tag infrage. Diese Schwelle ist zu hoch;
sie muss ohne jede Frage abgesenkt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Punkte stehen heute schon fest. Wir haben sie
eingeleitet, über sie kann heute bereits abgestimmt wer-
den. Hierüber kann heute bereits Klarheit geschaffen
werden.


(Frank Schwabe [SPD]: Dann machen Sie es doch!)


Wenn wir darüber einig sind, brauchen wir gar nicht zu
streiten und erst recht nicht zu schreien. Vielmehr sollten
wir alle unsere gemeinsame Verantwortung sehen, den
betroffenen Menschen das Maximum an Klarheit und
Sicherheit zu geben, das wir heute geben können.





Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Darüber sollten wir keinen unnötigen Streit führen, son-
dern uns in der Verpflichtung gegenüber den Menschen
sehen.

Fünftens. Das ist mein letzter Punkt. Neben der Sicher-
heitsfrage, die maßgeblich und nicht verhandelbar ist,
braucht eine solche Methode immer die Akzeptanz der
Menschen vor Ort. Gegen die Menschen ist dies nicht zu
erreichen. Wenn man Akzeptanz erreichen möchte, gilt
das Gebot, dass die Bürger frühzeitig informiert, betei-
ligt und eingebunden werden müssen. Das ist zwingend
notwendig.

Das wird durch die Umweltverträglichkeitsprüfung
gewährleistet, weil sie eine entsprechende Bürgerbeteili-
gung vorsieht. Ich plädiere sehr dafür: Wenn man eine
Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen will, dann
ist die Bürgerinformation, die Bürgerbeteiligung zwin-
gend geboten. Über die Köpfe der Bürger ist das nicht zu
machen. Nur mit den Bürgern oder gar nicht – das ist
zwingende Bedingung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In diesem Zusammenhang gibt es allerdings auch
Klagen bei den Ländern – bislang sind die Länder für
den Vollzug des Bergrechts zuständig –, dass sie die In-
formationen haben etwas schleifen lassen. Das wird si-
cherlich besser werden. Die Länder sind aufgefordert,
die Antragsteller, die die Nutzung genehmigt haben
möchten, zu verpflichten, alle zur Verfügung stehenden
Informationen der Öffentlichkeit bereitzustellen. Die
Unternehmen, die sich dort beteiligen wollen, müssen
umfassende Transparenz vor Ort gewährleisten.

Damit komme ich zur zusammenfassenden Bewer-
tung. Wir haben zurzeit noch keine ausreichenden Kennt-
nisse über die möglichen Auswirkungen. Die Wissens-
defizite müssen abgebaut werden. Wir haben das einge-
leitet. Nächsten Monat wird dies der Fall sein. Bevor die
Wissensdefizite nicht abgebaut sind, dürfen keine Fakten
geschaffen werden. Das muss unbedingt verhindert wer-
den, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ob es zur Gewinnung von unkonventionellem Erdgas
in Deutschland kommen wird, ist zurzeit sehr, sehr unge-
wiss. Klar ist nur: Oberste Leitmotive und Prinzipien
sind die unbedingte Sicherheit von Mensch und Natur
sowie die Einbindung und Akzeptanz der Menschen vor
Ort. Das sind die Kriterien, die wir heute kennen.

Ich appelliere sehr dafür, so vorzugehen – nach dem
Prinzip von Sicherheit auf einer wissenschaftlichen Ba-
sis – und uns alle bewusst zu sein, dass dieses Thema
viele Menschen ganz elementar berührt, verunsichert
und in Ängste versetzt.

Gehen wir mit den Ängsten und den Sorgen der Men-
schen in den betroffenen Regionen verantwortlich um!
Mit diesem Appell möchte ich schließen.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie einmal vor zwei Jahren tun sollen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717821700

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1717821800

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger, die si-
cherlich zahlreich dieser Debatte folgen! Herr Minister,
bei dem, was Sie sagen, ist eigentlich nur eines sicher:
dass Sie Angst vor dem Wahlsonntag haben. Das ist Ihre
Motivation, hier überhaupt so eine Rede zu halten, die
Sie zwei Jahre lang hätten halten können.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Zum Thema, Herr Schwabe!)


Sie hatten zwei Jahre Zeit, hier etwas auf den Tisch zu
legen, was zustimmungsfähig ist. Dazu waren und sind
Sie nicht in der Lage. Jetzt kommen Sie mit solchen Din-
gen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Zweieinhalb Jahre hat er nichts gemacht!)


Wenn Sie ein Maximum an Klarheit und Sicherheit
wollen – genau das haben Sie gerade hier gesagt und ei-
nige Punkte genannt –,


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch keine Wahlrede, Herr Schwabe!)


dann können Sie das ja gleich beweisen, indem Sie den
Anträgen zustimmen, die von der Opposition hier auf
den Tisch gelegt werden. Das ist die Probe aufs Exem-
pel.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Herr Meierhofer hat es im Umweltausschuss richtig gesagt!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bedauerlicher-
weise entscheidet bei Fracking Schwarz-Gelb in diesem
Hause und nicht der Bürger. Dann wäre nämlich klar,
welche Entscheidung getroffen würde.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen im Land sehen das deutlich kritischer als
Schwarz-Gelb in diesem Hause.

Ich weiß nicht, ob noch die Fernsehspots laufen, die
ich eine Zeit lang gesehen habe. Abends war im Fern-
sehprogramm zur besten Sendezeit – das war sicherlich
sehr teuer – ein Herr Dieter Sieber zu sehen, der zum un-
konventionellen Erdgas unter anderem gesagt hat:





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)


Wenn man mich fragt, ob es sicher ist, diese Erd-
gasvorkommen zu entwickeln, kann ich nur ant-
worten: ja, absolut.

Ich weiß gar nicht genau, wie sicher das Ganze am
Ende ist. Das wissen wir in der Tat alle noch nicht ganz
genau. Was ich allerdings weiß, ist, dass man ganz
schwer auf der Hut sein muss, wenn sich jemand beim
Thema Fracking schon absolut sicher ist, dass es sicher
ist. Da müssen wir alle gemeinsam aufpassen.

Ich halte das auch für eine vollkommen verfehlte Un-
ternehmensstrategie. Was verspricht sich Exxon Mobil
nur davon, auf der einen Seite vermeintlich überparteili-
che Foren mit Experten zu veranstalten und auf der an-
deren Seite gleichzeitig schon diese Spots im Fernsehen
laufen zu lassen?

Um allerdings nicht falsch verstanden zu werden:
„Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ ist
auch in der Energiepolitik die falsche Strategie. Gas ist
ein Brückenenergieträger – das hätten Sie ruhig einmal
sagen können, Herr Minister – und wichtig als Brücke in
die Zukunft der Vollversorgung mit erneuerbaren Ener-
gien.

Deswegen schließen wir die Förderung von Erdgas
auch im unkonventionellen Bereich nicht aus.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Aha!)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, schließen Sie das
aus?


(Horst Meierhofer [FDP]: Wir wissen es noch nicht!)


– Sie wissen es noch nicht? Okay.


(Ulrich Kelber [SPD]: Da wird es ganz still da drüben!)


Es muss aber die bestmögliche und umfassendste Prü-
fung auf Gefahren für Mensch und Umwelt geben. Dazu
ist eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung not-
wendig – und keine Umweltverträglichkeitsprüfung
light, die Sie zurzeit immer noch diskutieren.

Außerdem brauchen wir umfassende Transparenz-
und Beteiligungsregeln; denn das, was hier passiert, er-
innert mich zum Teil wirklich an das, was ich sonst aus
Lateinamerika kenne: Dort gibt es Gebiete, wo die
Claims abgesteckt sind, und weder die Bürgerinnen und
Bürger noch der Bürgermeister wissen, was eigentlich
geschieht. Das ist ein gesellschaftlicher Skandal, und da-
gegen muss man vorgehen. Sie haben die Möglichkeit.
Sie haben hier im Parlament die Mehrheit, das entspre-
chend umzusetzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Devise der Bundesregierung und von Schwarz-
Gelb am Anfang lautete: Verharmlosung. Mittlerweile
haben wir es mit einer Verschleppungsstrategie zu tun.
Ein Beispiel für die Verharmlosung: Am 31. März 2011
hat
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1717821900


Bezüglich möglicher Risiken bei der Gewinnung
von unkonventionellem Erdgas geht die Bundesre-
gierung nach jetzigem Kenntnisstand davon aus,
dass bei Beachtung der geltenden technischen Si-
cherheitsvorschriften und aktuellen Umweltstan-
dards

– das sind immer noch die von heute –

keine wesentlichen Unterschiede zur Gewinnung
von konventionellem Erdgas bestehen.

Das ist ja interessant.


(Ulrich Kelber [SPD]: Die Antwort war abgestimmt mit dem Umweltministerium, Herr Röttgen! Das war auch Ihre Antwort!)


Das war eine völlige Verharmlosung. Heute ist nicht
mehr Verharmlosung, sondern eine Verschleppungsstra-
tegie angesagt.

Ich habe am Montag im Spiegel gelesen – zuerst habe
ich gedacht: Mensch, jetzt kommt etwas Substanziel-
les –, dass Sie und auch Herr Rösler sehr skeptisch seien.
Sie haben auf ein Gutachten verwiesen – das kam als
neue Nachricht daher –, das mittlerweile schon seit ei-
nem Jahr in Bearbeitung ist. Es ist im Übrigen ein
Schmalspurgutachten, weil es viel weniger untersucht,
als in Nordrhein-Westfalen untersucht wird. Sie sind
nicht dafür da, um Gutachten zu erstellen, um über den
Wahlsonntag zu kommen, sondern Sie sind dafür da, zu
handeln. Sie sind der Ankündigungsminister Nummer
eins in dieser Bundesregierung. Das Fracking ist sinn-
bildlich für Ihr Versagen und für Ihre verkorkste Ener-
giewende, und zwar in Bezug auf alle energiepolitischen
Fragen in unserem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich kann die ganzen Vorgänge gar nicht aufführen:


(Horst Meierhofer [FDP]: Gott sei Dank!)


29. Juni 2011, Antrag aus Nordrhein-Westfalen von Rot-
Grün, abgelehnt im Bundesrat von Schwarz-Gelb, am
21. November 2011 Anhörung im Deutschen Bundestag,
am 8. Februar 2012 Anträge der Opposition im Umwelt-
ausschuss, am 28. März 2012 wiederum Anträge der Op-
position im Umweltausschuss, abgelehnt von Ihnen, von
Schwarz-Gelb. Ich verstehe sogar, dass Sie als Koalition
den Oppositionsanträgen nicht zustimmen wollen, aber
Sie hatten genug Zeit, einen eigenen Vorschlag auf den
Tisch zu legen.


(Ulrich Kelber [SPD]: So ist es!)


Sie sind dazu nicht willens bzw. in der Lage – das ist die
ganze Wahrheit –, dann dürften Sie aber nicht an der Re-
gierung sein. Da Sie an der Regierung sind, müssen Sie
handeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)


Sie müssen sich die Gesetzgebung vornehmen. Das ma-
chen Sie nicht, damit scheitern Sie. Hallo, Herr Röttgen,
bitte hören Sie zu: Das ist Ihre Verantwortung, und der
kommen Sie nicht nach.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Hallo!)


– Wahrscheinlich ist er gedanklich gerade in Nordrhein-
Westfalen.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Hallo, Herr Schwabe, wer war eigentlich Umweltminister bis 2009?)


Frau Dött und Herrn Dr. Paul – er spricht gleich
noch – haben zum Thema unkonventionelles Erdgas
eine Pressemitteilung herausgegeben. In dieser Presse-
mitteilung steht – ich habe sie mir gerade noch einmal
herausgesucht –:

Die Union strebt an, unmittelbar nach der Sommer-
pause eine politische Initiative zu ergreifen.

„Unmittelbar nach der Sommerpause“ – jetzt wird es in-
teressant; denn: Von wann ist eigentlich diese Pressemit-
teilung? Diese Pressemitteilung ist vom 5. August 2011,
und das macht deutlich, dass Sie eine Verschleppungs-
strategie verfolgen.


(Beifall bei der SPD)


Die Wahrheit ist: Sie sind handlungsunfähig, Sie ret-
ten sich mit Gutachten, während die Menschen in
Deutschland, insbesondere in Nordrhein-Westfalen – in
Recklinghausen, Unna, im Ennepe-Ruhr-Kreis, in
Hamm, im Märkischen Kreis, in großen Teilen des
Münsterlandes – ganz konkrete Sorgen und Nöte haben.
Sie philosophieren heute zum wiederholten Male über
die Frage, aber Sie handeln nicht. Nordrhein-Westfalen
hat gehandelt. Beispielsweise hat die Bezirksregierung
gegen Widerstände transparent gemacht, welche Vorha-
ben es in Nordrhein-Westfalen überhaupt gibt.

Ich habe es gerade schon gesagt: Fracking steht sinn-
bildlich für Ihren Umgang mit der Energiewende, für Ih-
ren Umgang mit der Infrastrukturpolitik.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Herr Schwabe!)


Wir stehen vor großen Aufgaben. Wir brauchen die Ak-
zeptanz der Menschen, um diese Aufgaben durchzufüh-
ren. Was machen Sie? Sie wollen in Bezug auf diese
Technologie mit dem Kopf durch die Wand.


(Horst Meierhofer [FDP]: So ein Quatsch!)


Sie werden aber am Ende mit dem Kopf gegen die Wand
laufen, und zwar mit Karacho. Es ist borniert und igno-
rant, wie der Wirtschaftsminister an dieser Stelle vor-
geht.


(Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Das Thema ist zu ernst, um auf Wahlkampfklamauk zu setzen!)


Es ist tricksen, es ist täuschen, und es ist tarnen. Es ist
keine hohe Regierungskunst, sondern brotlose Kunst.

Herr Röttgen, ich bin gespannt, was die FDP gleich
sagt. Herr Meierhofer hat Sie bereits im Umweltaus-
schuss für Ihr Nichtstun kritisiert. Wenn Sie von dem
überzeugt sind, was Sie gerade gesagt haben, dann set-
zen Sie sich durch. Sie können Ihre Rücksichtnahme
vollkommen aufgeben. Auch Sie haben wahrscheinlich
gelesen, was Herr Niebel gestern über Sie gesagt hat.
Wenn Sie der Meinung sind, dass das, was Sie gerade
gesagt haben, richtig ist, dann stimmen Sie unseren An-
trägen zu, wenn nicht, dann hören Sie mit dem Philoso-
phieren auf. Dann sollten Sie zugeben, dass Sie schlicht-
weg nicht in der Lage sind, eine gesetzgeberische
Regelung zum Fracking im Deutschen Bundestag zu
verabschieden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1717822000

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Horst

Meierhofer.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Und jetzt in der gleichen Deutlichkeit wie in der nichtöffentlichen Sitzung! Nur Mut, Horst!)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1717822100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da

uns heute drei Anträge vorliegen, will ich versuchen,
klarzumachen, warum man diese Anträge, egal aus wel-
cher Richtung sie kommen, lieber Kollege Schwabe,
nicht unterstützen kann: Denn diese Anträge sind inhalt-
lich leer und falsch.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie doch einmal einen eigenen!)


Das ist so wenig, dass Sie damit definitiv unter Beweis
gestellt haben, dass Sie nicht in der Lage sind, hierzu ein
vernünftiges Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg zu
bringen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr Antrag? – Johanna Voß [DIE LINKE]: Wo ist denn Ihr Antrag?)


In dem Antrag der SPD fängt es gleich im zweiten
Satz an:

Im Gegensatz zu konventionellen Gasvorräten kön-
nen diese

– gemeint sind die Unkonventionellen –

nicht mit klassischen Techniken gefördert werden,
bei denen Gas ohne weitere technische Maßnahmen
in ausreichender Menge frei … zuströmt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wo ist Ihr Antrag, Herr Meierhofer? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Meierhofer, lesen Sie Ihren Antrag vor!)






Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt werde ich Sie vielleicht überraschen, Herr
Schwabe, wenn ich sage, dass Sie in Ihrem Antrag zu
Recht geschrieben haben, dass bei Fracking, bei der För-
derung von unkonventionellem Erdgas, 0,5 bis 1 Prozent
Chemikalien mit eingepresst werden. Wissen Sie, in
welchem Maße das bei konventionellem Erdgas zum
Teil der Fall ist? Bis zu 5 Prozent bei konventionellem
Erdgas.


(Frank Schwabe [SPD]: Also gibt es keinen Unterschied! Dann ist ja alles gut!)


Das ist das Zehnfache. Sie haben gesagt, die Förderung
von konventionellem Erdgas sei viel ungefährlicher als
die von unkonventionellem. Das Gegenteil ist der Fall.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU Sie behaupten hier das genaue Gegenteil und bauen einen Popanz auf, indem Sie sagen, dass wir bei unkonventionellem Erdgas Regelungsbedarf haben und bei konventionellem nicht. Das ist absurd. Es sollte doch um den Sicherheitsstandard gehen und nicht darum, ob es sich um konventionelles oder unkonventionelles Erdgas handelt. (Ulrich Kelber [SPD]: Herr Meierhofer, aber das 1 Prozent ist in absoluter Menge doch viel mehr! – Johanna Voß [DIE LINKE]: Die absolute Menge zählt!)


Ihnen geht es um einen dümmlichen Wahlkampf. Dabei
kümmern Sie sich aber überhaupt nicht um die Leute.
Das Thema betrifft Niedersachsen übrigens genauso wie
Nordrhein-Westfalen. Niedersachsen interessiert Sie
heute natürlich nicht. Wir hingegen sind an einer insge-
samt vernünftigen Lösung für die Menschen interessiert.

Die Grünen verweisen darauf, dass wir uns an den Er-
gebnissen orientieren müssen, die bei den Untersuchun-
gen in den USA erzielt werden. In Ihrem vierseitigen
Anträgchen verweisen Sie neunmal auf die USA. Sie
schreiben immer wieder, dass wir die Erkenntnisse aus
den USA abwarten müssen. Für mich ist vollkommen
irrrelevant, welche Ergebnisse in den USA erzielt wer-
den, weil wir ganz andere Ansprüche haben als die USA.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es nicht verstanden! Überhaupt nicht verstanden!)


– Herr Krischer, ich kann Ihnen die Stellen in Ihrem An-
trag vorlesen. – Wenn wir uns an dem orientieren wür-
den, was in den USA herauskommt, dann wäre das so,
als würden wir, wenn in Aserbaidschan ein Ölunfall pas-
siert, sagen: Wir warten, welche Erkenntnisse dort ge-
wonnen werden, und dann machen wir mit der Ölförde-
rung weiter.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommen Sie mal mit was Konkretem!)


Wir wollen doch unsere eigenen Standards entwickeln.
Dazu brauchen wir Ergebnisse. Wir wollen, bitte schön,
erst einmal wissen, welche Probleme es gibt, bevor wir
so einen populistischen, dünnen und inhaltsleeren An-
trag wie den Ihren vorlegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Selbst Exxon Mobil sagt, dass diesbezüglich noch
viele Fragen zu klären sind. Sie sagen, dass sie in zwei
Jahren der Lage seien, ohne Chemikalien zu arbeiten.
Sie sagen, dass es nicht nur um Chemikalien geht, son-
dern auch um seismologische Probleme. Welche Pro-
bleme bestehen im Bereich der Geothermie? Auch das
muss angesprochen werden. Welche Probleme bestehen,
wenn man dichtes Deckgestein hat? Keiner dieser
Punkte ist in Ihren Anträgen enthalten. Wie kann man
sich denn auf etwas versteifen, ohne sich mit den Inhal-
ten auseinanderzusetzen? Das ist blanker Populismus.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Solange wir nicht wissen, was die wirklichen Pro-
bleme in diesem Zusammenhang sind, werden wir die
Frage, ob wir es auf jeden Fall genehmigen wollen oder
nicht, nicht beantworten. Da hat der Kollege Röttgen
vollkommen recht. Natürlich warten wir erst die Ergeb-
nisse ab, und zwar die Ergebnisse aus Nordrhein-Westfa-
len genauso wie die des UBA.

Sogar Exxon Mobil ist in seinen Ausführungen kriti-
scher als Sie. Allein daran zeigt sich, dass Sie das Pro-
blem überhaupt nicht durchdrungen haben. Es geht hier
um radioaktive Materialien, die dort unten vorhanden
sind. Vielleicht ist auch das ein Punkt, den man untersu-
chen sollte. Das gilt für die Bereiche Geothermie, für die
Förderung von konventionellem und für die Förderung
von unkonventionellem Erdgas. Vielleicht sollte man
sich mit der Freisetzung von Methan beschäftigen. Auch
das gilt für unkonventionelles wie konventionelles Erd-
gas. Von all dem steht nichts in Ihren drei Anträgen. Das
sind von vorne bis hinten Schaufensteranträge – einer
wie der andere. Eigentlich ist es schade um die Zeit, in
der wir uns mit diesen Anträgen beschäftigen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben nicht den Mut, die Aussagen zum Minister zu wiederholen, die Sie in nichtöffentlicher Sitzung gemacht haben!)


Sie werden sehen, dass wir etwas Vernünftiges vorle-
gen. Sie werden sehen, dass wir im Gegensatz zu Ihnen
Einvernehmen mit den Wasserbehörden wollen. Wir
wollen die Wasserbehörden nicht nur beteiligen. Wir
wollen, dass es ein Einvernehmen und nicht nur ein Be-
nehmen gibt. Die anderen Punkte hat der Umweltminis-
ter angesprochen. Ich bin mir sicher, dass wir zu einem
vernünftigen, wissenschaftlich fundierten Ergebnis kom-
men werden, dass wir einen Antrag vorlegen werden, der
nicht so oberflächlich ist wie die, die Sie hier vorgelegt
haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717822200

Kollege Meierhofer, kommen Sie bitte zum Schluss.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1717822300

Herzlichen Dank.





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Im Ausschuss haben Sie dem Minister Untätigkeit vorgeworfen! Das war feige, Herr Kollege!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717822400

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Johanna Voß das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717822500

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Der Run auf die letzten Gasreserven hat begon-
nen, Fracking ist die Methode. Deutschlandweit hoffen
BNP, Wintershall, Exxon Mobil, Gaz de France und
Suez auf große Gewinne. Aber deutschlandweit protes-
tieren gleichzeitig Bürgerinnen und Bürger, Kommunen,
Wasserversorger, Gemeinderäte, Kreistage und Stadtpar-
lamente. Sie fassen einstimmige Beschlüsse gegen Fra-
cking, egal von welcher Partei sie sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Warum? Was ist die Gefahr? Das Trinkwasser ist in
Gefahr. Gas soll gefrackt werden. Chemikalien, Sand,
Wasser, CO2 oder – wie auch schon geschehen – Diesel
werden mit hohem Druck in den Boden gepresst, um das
Gestein aufzubrechen, in dem das Gas fest eingeschlos-
sen ist. Das bedeutet einen enormen Flächenverbrauch
mit Tausenden neuer Bohrungen, mit Tausenden Tonnen
teils hochgiftiger Chemikalien, die verpresst werden,
und Millionen Liter hochkontaminierter Abwässer, die
hinterher mit Quecksilber, Radon und anderen Isotopen
und Giften aus dem Untergrund angereichert in weiteren
Bohrungen – Disposalbohrung nennt man das – ver-
klappt werden. Das entspricht heutigen Umweltstan-
dards in keiner Weise.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Diese Praxis gehört abgeschafft. Das Risiko ist zu
hoch, unser Trinkwasser ist zu kostbar. Wir fordern ein
Verbot.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Zahlreiche Studien weisen Vergiftungen des Trinkwas-
sers durch die eingesetzten Chemikalien, durch Methan
und durch aus dem Boden gelöste Gifte und Schwerme-
talle nach. Auch die Erdbebengefahr steigt. Die Gefah-
ren sind groß. Die Menschen in Pennsylvania haben das
schon erlebt. In den USA haben betroffene Gemeinden
keine Wasserversorgung mehr. Lastwagen müssen das
Trinkwasser heranschaffen. In Wyoming forderte die
Umweltbehörde Einwohner einer Gemeinde auf, beim
Duschen die Fenster weit aufzureißen, um Explosionen
zu vermeiden.


(Horst Meierhofer [FDP]: Mit Badeanzug wahrscheinlich!)


Versorgungssicherheit und Energieunabhängigkeit
werden uns als Argumente für das Fracking genannt.
Was ist da dran? Nach Prognosen des industrienahen In-

stituts CERA von 2009 kann unkonventionelles Erdgas
ab 2020 2 bis 3 Prozent des europäischen Gasverbrauchs
decken, also weniger als 1 Prozent des Energiever-
brauchs. Dazu braucht es doch dieses Risiko nicht; hier
sollte man Energieeinsparung und erneuerbare Energien
nutzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Fracking wird in Europa überhaupt nicht gebraucht.
Es ist keine saubere Brückentechnologie. Sicher, viele
der mit Fracking verbundenen Risiken bestehen auch bei
der herkömmlichen Erdgasförderung. Da haben Sie
recht. Denken wir an die Verseuchungen durch undichte
Leitungen in Niedersachsen und an die Quecksilberver-
giftungen. Deshalb ist ein neues Bergrecht erforderlich
– das hat auch Herr Röttgen gesagt –, aber nicht so, wie
die Regierung es plant. Sie setzen auf Transparenz und
Bürgerbeteiligung zur schnelleren Durchsetzung der In-
teressen der Erdgaskonzerne. Wir brauchen Umweltver-
träglichkeitsprüfungen, aber bei jeder Bohrung, weil
jede Bohrung durch die wasserführenden Schichten
geht. Da brauchen wir Sicherheit. Die Verklappung gifti-
ger Abwässer in alte Bohrungen muss gestoppt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das sagen sogar diejenigen, die bei Exxon in der Unter-
suchung dabei waren. Wir brauchen eine umfassende
Haftung der Energiekonzerne, Beweislastumkehr, und
wir brauchen das Vetorecht der Wasserbehörden.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun zu den vorliegenden Anträgen. SPD und Grüne
wollen ein Moratorium. Die SPD will Probebohrungen
zulassen. Wozu das? Schiefergas lässt sich nur mit Fra-
cking fördern. Dagegen fordert die Linke ein sofortiges
Verbot. Ein Moratorium ist nicht sicher. In Nordrhein-
Westfalen heißt das, dass Anträge der Unternehmen lie-
gen bleiben. Konzerne haben aber das Recht auf einen
Bescheid und können das gerichtlich durchsetzen. Ein
Moratorium ist nicht viel mehr als ein freundlicher Ap-
pell. Was das bringt, war in Frankreich zu sehen. Dort
gibt es jetzt ein Verbot.

Herr Röttgen, nehmen Sie das Fachwissen der Men-
schen ernst, gehen Sie ordentlich mit dem Fachwissen
der Menschen um, schaffen Sie ein Maximum an Sicher-
heit, und verbieten Sie Fracking sofort! Sie sind ein
Minister, Sie können Gesetze machen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das Parlament! Nicht das Zentralkomitee! – Weitere Zurufe und Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass Sie Fracking nicht gut finden, reicht nicht aus.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717822600

Der Kollege Oliver Krischer hat nun für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717822700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Voß, ein Minister kann keine Gesetze machen, ge-





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


nauso wie die CDU in Nordrhein-Westfalen nicht be-
stimmen kann, wer Ministerpräsident wird. Das macht
das Volk, die Gesetze macht der Bundestag, und das ist
auch gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Stefanie Vogelsang [CDU/ CSU]: Ausnahmsweise haben Sie mal recht! – Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Hochmut kommt vor dem Fall!)


Herr Röttgen, es gehört schon Chuzpe dazu, sich,
nachdem man zwei Jahre nichts zum Thema „Unkon-
ventionelles Erdgas und Fracking“ getan hat, hier hinzu-
stellen und aufzuzählen, was man demnächst vielleicht
eventuell tun will. Das ist eine Unverschämtheit. Das ist
das Spiel mit den Ängsten der Menschen, das Sie uns
vorwerfen. Zwei Jahre haben Sie bei diesem Thema blo-
ckiert und überhaupt nichts getan.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Horst Meierhofer [FDP]: Ach! Sie haben doch keine Ahnung! Sie sagen ja immer nur, man solle warten, bis Erkenntnisse aus den USA vorliegen!)


Sie haben von Transparenz gesprochen und gesagt,
Bergbehörden hätten den Menschen nicht mitgeteilt,
welche Lizenzen es gibt. Ich kann Ihnen sagen, wer die
Transparenz verhindert hat. Das war 2008 eine schwarz-
gelbe Landesregierung unter einem – die Älteren werden
sich vielleicht erinnern – Ministerpräsidenten Rüttgers.
Er hat, ohne den Landtag, ohne die Menschen und ohne
die Kommunen zu informieren, diese Lizenzen erteilt.
Deshalb haben wir heute dieses Problem in Nordrhein-
Westfalen. Das ist Ihre Verantwortung, die Verantwor-
tung Ihrer Partei. Wir wollen nicht, dass sich das wieder-
holt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Reine Legendenbildung!)


Es gibt sehr viele Gründe gegen Fracking, so wie es
heute praktiziert wird. Selbst die vom Exxon-Mobil-
Konzern in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Er-
gebnis, dass wir es mit einer ganz neuen Risikodimen-
sion zu tun haben. Deshalb gibt es gute Gründe, eine
Rechtsgrundlage zu schaffen, die sicherstellt, dass diese
Technologie im Moment nicht angewendet werden darf
und ein Moratorium durchgeführt wird. Das könnten Sie
heute und hier beschließen. Es liegen Anträge vor, in de-
nen genau dies gefordert wird. Sie könnten auch selbst
eine Vorlage einbringen. Das tun Sie aber nicht, weil Sie
dieses Thema aussitzen wollen. Wir haben vor einem
Jahr einen entsprechenden Antrag eingebracht. Wir ha-
ben auch eine Anhörung durchgeführt. Sie haben mehr-
fach darum gebeten, dass wir dieses Thema verschieben,
damit Sie selber etwas vorlegen können. Sie haben auch
angekündigt – Herr Schwabe hat das eben gesagt –, dass
von Ihnen etwas kommt. Es kam aber nichts. Jetzt wol-
len Sie nur über die Landtagswahl in Nordrhein-Westfa-

len kommen. Das ist der Hintergrund dieser ganzen Ak-
tion heute.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Horst Meierhofer [FDP]: Ach was! Sie haben das Thema doch nur wegen der Landtagswahl auf die Tagesordnung gesetzt!)


Man hatte bei Herrn Röttgen in den letzten zwei Jah-
ren einen ganz komischen Eindruck: Wenn er in Nord-
rhein-Westfalen unterwegs war, wenn er dort Veranstal-
tungen besucht hat oder wenn er als Landesvorsitzender
agierte, hat er Fracking-kritische Beschlüsse gefasst.
Aber wenn er dann ins Flugzeug gestiegen und Richtung
Berlin geflogen ist, hat der Mann eine merkwürdige Me-
tamorphose durchgemacht.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Quatsch!)


Plötzlich war er Fracking-Befürworter.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Haben Sie seine Rede gerade nicht gehört? Das ist doch unseriöses, dummes Zeug!)


Auf meine Anfragen hat er dem Umweltausschuss Wer-
bebroschüren der Öl- und Gasindustrie als Literatur zur
Verfügung gestellt. Genau das ist Norbert Röttgen; ge-
nau das ist die Realität. Am Ende machen Sie an dieser
Stelle das Geschäft der Öl- und Gaskonzerne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Horst Meierhofer [FDP]: Nein! Fischer und Schröder machen das Geschäft der Ölund Gasindustrie, nicht wir!)


Ich sage Ihnen: Was Sie machen, ist absolut doppel-
züngig. In Nordrhein-Westfalen stellen Sie sich als Fra-
cking-Kritiker dar. Da ist zum Beispiel ein Herr
Dr. Droste, ein Kollege aus dem Landtag, der im Wahl-
kreis Ratingen kandidiert. Ich darf Ihnen einmal vorle-
sen, was er zum Thema Fracking sagt:

Ich … unterstütze Initiativen … mit dem Ziel, Fra-
cking in NRW zu verhindern.

Ja, wenn der Mann das will, dann darf er nicht Norbert
Röttgen wählen. Das geht nicht. Dann muss er jemand
anderen wählen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Lesen Sie doch mal die ganze Stellungnahme von Wilhelm Droste vor!)


Noch dreister ist die Kollegin von der FDP im glei-
chen Wahlkreis. Sie sagt: Die FDP hat bereits eine Initia-
tive zur Änderung des Bergrechts eingebracht.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wo, bitte, ist diese Initiative? Ich kenne sie nicht. Sie
müssten sie hier einbringen. Wir haben entsprechende
Vorlagen eingebracht. Von Ihnen ist zu diesem Thema





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


nichts gekommen. Aber in Nordrhein-Westfalen erzäh-
len Sie das Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Horst Meierhofer [FDP]: Ach was! Das ist ja so dünn und inhaltslos, was ihr hier vorlegt!)


Ich sage Ihnen: Ihre Doppelzüngigkeit bei diesem
Thema werden Ihnen die Menschen nicht durchgehen
lassen. Das, was wir hier erlebt haben, sowohl von Herrn
Röttgen als auch von Ihnen, ist Fracksausen wegen Fra-
cking.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717822800

Der Kollege Dr. Michael Paul hat für die Unionsfrak-

tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Fracking ist so harmlos wie Radioaktivität!)



Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1717822900

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Lassen wir den Wahlkampfdonner vielleicht
einmal einen Augenblick beiseite.


(Frank Schwabe [SPD]: Wer hat denn damit angefangen?)


Wir können ja einfach einmal die Kontrollfrage stellen:
Würden wir heute über Fracking reden, wenn am Sonn-
tag nicht Wahl in Nordrhein-Westfalen wäre? Die Ant-
wort lautet: Nein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Frank Schwabe [SPD]: Wir reden schon zwei Jahre darüber!)


Also ist es eindeutig: Das, was hier heute gemacht wird,
ist nichts anderes als Wahlkampfgetöse.


(Ulrich Kelber [SPD]: Da haben Sie recht: Sie hätten es immer noch nicht aufgenommen!)


Noch einmal zur Sache: Erdgas wird sicherlich auch
in der Zukunft eine ganz wichtige Rolle in unserem
Energiemix spielen. Ein Grund dafür ist, dass wir in der
Energiewende verstärkt auf den schwankenden Einsatz
von erneuerbaren Energien wie Sonne und Wind setzen.
Man muss natürlich auch sehen: Erdgas ist auch ökolo-
gisch vorteilhafter, als wenn wir Kohle einsetzen wür-
den.


(Frank Schwabe [SPD]: Immerhin ist er ehrlich!)


Im Vergleich zur Kohle emittiert Erdgas bei der Strom-
produktion 60 Prozent weniger CO2.

Aber es ist schon wichtig – auch das müssen wir sa-
gen –, dass wir hier auch einen Blick auf die Versor-

gungssicherheit werfen. Im letzten Winter hat sich ge-
zeigt – die Bundesnetzagentur hat das in der letzten
Woche vorgestellt –, dass wir kurz vor einem Blackout
standen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer? Wir? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie standen vor dem Blackout! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wer ist denn „wir“?)


Anfang Februar war es so, dass die russischen Gasliefe-
rungen schwankten und die Gaskraftwerke im Süden
Deutschlands nicht mehr laufen konnten, da der Druck
in den Gasleitungen nicht ausreichte. Man sieht also:
Auch für die Stromversorgung sind wir auf eine sichere
Gasversorgung angewiesen.

Zurzeit beziehen wir 14 Prozent aus heimischen
Quellen – hauptsächlich aus Niedersachsen. Die Förde-
rung von Erdgas aus Schiefergestein und Kohleflöz
könnte uns unabhängiger von Importen machen und zur
Versorgungssicherheit beitragen.


(Frank Schwabe [SPD]: Stimmt doch überhaupt nicht! – Ulrich Kelber [SPD]: Reden Sie mal weiter! Das geht alles ins Protokoll!)


Die Vereinigten Staaten – das haben wir in den letzten
Jahren eindrucksvoll gesehen; das müssen wir einfach
zur Kenntnis nehmen – sind vom Erdgasimporteur zum
-exporteur geworden. Die Erdgaspreise in den Vereinig-
ten Staaten sind deutlich niedriger als in Europa. Allein
in den letzten vier Jahren ist der Preis durch die Förde-
rung aus unkonventionellen Quellen um 80 Prozent ge-
fallen.

Aber – hier haben alle Redner heute recht – wir dür-
fen natürlich nicht die Augen vor den Gefahren ver-
schließen. Um es deshalb noch einmal ganz klar zu sa-
gen: Der Schutz des Grundwassers hat für uns absoluten
Vorrang. Deshalb müssen auch die rechtlichen Anforde-
rungen geändert werden.


(Frank Schwabe [SPD]: Aha!)


Wasserschutzgebiete müssen für Fracking ausgeschlos-
sen werden. Die Wasserbehörden vor Ort müssen ein Ve-
torecht haben; denn schließlich wissen sie am besten,
wie das Grundwasser zu schützen ist.


(Ulrich Kelber [SPD]: Werden Sie eine solche Gesetzesinitiative vorlegen?)


Das müssen wir rechtlich ändern.

Die Bevölkerung und die Kommunen müssen recht-
zeitig informiert werden, und zwar auch umfassend.
Deshalb müssen wir an dieser Stelle die Regeln für die
Umweltverträglichkeitsprüfung ändern; denn – das ist ja
schon dargestellt worden – die Grenze von 500 000 Ku-
bikmetern Gas pro Tag, ab der erst eine UVP durchge-
führt wird, ist eindeutig zu hoch.

Meine Damen und Herren, dass wir zunächst einmal
die Gutachten abwarten, die in Auftrag gegeben worden
sind – unter anderem auch von der jetzigen rot-grünen
Landesregierung in Nordrhein-Westfalen –, spricht aus





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


meiner Sicht eher für Vernunft und Genauigkeit als für
Überstürzung und voreilige Schlussfolgerungen.

Das Wirtschaftsministerium hat die Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe gebeten, zu den Po-
tenzialen und zur Geologie in Deutschland Stellung zu
nehmen. Das Gutachten wird in wenigen Wochen vorlie-
gen. Wir haben gerade gehört: Das vom Umweltbundes-
amt in Auftrag gegebene Gutachten zu den Risiken wird
ebenfalls in einem Monat vorliegen.


(Frank Schwabe [SPD]: Schmalspurgutachten!)


Das Land Nordrhein-Westfalen wird wohl im Sommer
ein entsprechendes Gutachten haben.

Der Diskussionsprozess, den Exxon Mobil eingeleitet
hat, ist bereits zu Ende. Das heißt, wir haben schon einen
Teil der Fakten; weitere werden wir bekommen. Auf die-
ser Grundlage werden wir strengere gesetzliche Umwelt-
anforderungen einführen, unabhängig davon, dass Sie
heute diese Anträge gestellt haben. Jedenfalls zum heuti-
gen Zeitpunkt brauchen wir keine Regelung.

Dass wir hier im Wahlkampf sind, haben wir heute
sehr eindrucksvoll gesehen. Wir vonseiten der Koalition
jedenfalls werden an dieser Stelle vernünftig weiterar-
beiten, und zwar im Interesse der Bevölkerung wie der
Umwelt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717823000

Das Wort hat der Kollege Klaus Breil für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1717823100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Eines vorab – ich sage das ganz bewusst auch als
Wirtschaftspolitiker –: Sollte irgendwo in Deutschland
eines Tages gefrackt werden, dann nur unter Beachtung
der höchsten Sicherheits- und Umweltstandards.


(Frank Schwabe [SPD]: Ist da vom Wirtschaftsminister in Niedersachsen die Rede? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wird der Wirtschaftsminister mit gefrackt!)


Hierzu gehören auch Umweltverträglichkeitsprüfungen
und das Einvernehmen mit den Wasserbehörden. Hier
darf es keine Kompromisse geben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Belange der Bürger müssen in die Entscheidung,
wo und was erkundet oder gefördert wird, von Anfang
an einbezogen werden. Bis es so weit ist, benötigen wir
weitere wissenschaftliche Untersuchungen. Standards

müssen durch die Bundesanstalt für Geowissenschaften
und Rohstoffe erarbeitet werden. Das heißt, wir warten
ab,


(Marco Bülow [SPD]: Das könnt ihr am besten! – Zuruf von der LINKEN: Im Abwarten seid ihr groß!)


welche Fortschritte die Entwicklung von Wissenschaft
und Technik auf diesem Gebiet macht.

Möglicherweise müssen den Frack-Flüssigkeiten bald
schon gar keine umweltbelastenden Stoffe mehr hinzu-
gefügt werden. Es gibt Signale aus der Industrie, dass
dies schon in zwei Jahren der Fall sein könnte.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717823200

Kollege Breil, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung des Kollegen Krischer?


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Nein, bitte nicht! Der brüllt immer so!)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1717823300

Ja.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717823400

Herr Kollege Breil, ich höre, dass Sie weiter abwarten

wollen und dass Sie nur unter Beachtung der höchsten
Standards fracken wollen. Ich frage Sie: Ist Ihnen be-
kannt, dass im Lande Niedersachsen, wo Sie mit politi-
sche Verantwortung tragen, seit langem gefrackt wird,
aber eben nicht unter Beachtung dieser Standards, die
Sie angeblich noch einführen wollen? Was wollen Sie
tun, damit dort nicht weiter so gefrackt wird, wie das
bisher gemacht wurde?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1717823500

Herr Kollege Krischer, Sie wissen sehr genau: In die-

sen Anträgen geht es um neue Aufsuchungen und neue
Erkundungen. Es geht nicht darum, was seit langem
Standard in der Gasförderindustrie ist.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist unglaublich! Das ist nicht zu fassen! – Frank Schwabe [SPD]: Ja, was denn jetzt? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: War das die Antwort?)


Ich fahre fort.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717823600

Kollege Breil, es gibt den Wunsch nach einer weite-

ren Frage. Lassen Sie diese Frage zu?


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1717823700

Nein.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Iris Gleicke [SPD]: Ja, erwischt, gell?)






Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)


Aus den gerade genannten Gründen haben die Unterneh-
men ihre Erkundungsbohrungen bereits freiwillig zu-
rückgestellt.

Allen Vorbehalten und Risiken zum Trotz: Eine par-
tielle Selbstversorgung mit Erdgas sollte weiter unser
Ziel sein. Aktuell liegt der Anteil bei 14 Prozent unseres
Erdgasverbrauches. Wir wollen uns energiepolitisch
nicht noch mehr in die Abhängigkeit anderer teils rechts-
staatlich fraglicher und politisch instabiler Staaten bege-
ben. Statt alles reflexartig uneingeschränkt, unbedingt
und unerlässlich zu verbieten, müssen wir besonnen und
pragmatisch handeln und eventuell ein wenig länger
oder auch sehr viel länger abwarten.


(Beifall bei der FDP)


Die Risiken dürfen auf gar keinen Fall unterschätzt
werden. Wir haben gerade in Deutschland hervorragende
Unternehmen mit enormem Wissen auf dem Gebiet der
Erdgasförderung. Wir haben mit der Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe eine exzellente staat-
liche Einrichtung, die sehr gut über unseren Untergrund
Bescheid weiß.

Das eine emotionale Thema hat die Koalition durch
die Energiewende und den damit verbundenen Atomaus-
stieg abgeräumt. Jetzt gibt es ein neues. „Endlich wieder
Angst machen“, höre ich die Wahlkämpfer aus den Par-
teizentralen jubeln. Aber so einfach ist das nicht. Das
Leben ist eben nicht schwarz oder weiß.


(Frank Schwabe [SPD]: Es ist auch nicht schwarz-gelb!)


Noch stammt ein ansehnlicher Teil unserer Erdgas-
versorgung aus konventionellen heimischen Quellen.
Daher drängt uns nichts. Wir gehen mit Bedacht vor und
warten auf die noch ausstehenden Gutachten und deren
wissenschaftliche Schlussfolgerungen. Weitere Untersu-
chungen müssen folgen.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Während gefrackt wird?)


Blinden Verbotsforderungen erteilen wir ebenso eine
Absage wie Ihren Anträgen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717823800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/9450. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/7612 mit dem Titel
„Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit
bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas“.

Wir stimmen nun über Buchstabe a der Beschluss-
empfehlung auf Verlangen der Fraktion der SPD na-
mentlich ab.

Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Anschluss
an diese Abstimmung noch zwei weitere namentliche
Abstimmungen durchführen werden. Zu allen drei Ab-
stimmungen liegen mir zahlreiche Erklärungen zur Ab-
stimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Entspre-
chend unserer Geschäftsordnung nehmen wir diese zu
Protokoll.1)

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Ich bitte um ein
Zeichen, ob alle Schriftführerinnen und Schriftführer am
Platz sind. – Ich eröffne die erste namentliche Abstim-
mung, und zwar, wie gesagt, über Buchstabe a der Be-
schlussempfehlung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgeben konnte? – Das ist nicht
der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.2)

Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/9450 fort und
kommen damit zur zweiten namentlichen Abstimmung.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/5573 mit dem Titel „Transparenz
und Kontrolle bei der Förderung von unkonventionellem
Erdgas in Deutschland“. Sind die Schriftführerinnen und
Schriftführer an ihren Plätzen? – Das ist der Fall. Ich er-
öffne die zweite namentliche Abstimmung, und zwar
über Buchstabe b der Beschlussempfehlung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.3)

Wir kommen schließlich zur dritten namentlichen Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Erdgasförde-
rung auf Kosten des Trinkwassers – Fracking bei der
Erdgasförderung verbieten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9196,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/6097 abzulehnen. Sind alle Schriftführerinnen und
Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? – Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung, und zwar über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.4)

1) Anlagen 4 und 5
2) Ergebnis Seite 21174 C
3) Ergebnis Seite 21176 B
4) Ergebnis Seite 21179 A





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben.

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die nicht an
den weiteren Beratungen teilnehmen wollen oder kön-
nen, uns die Möglichkeit zu geben, die Beratungen fort-
zusetzen und die nächsten Redner zu hören. Es wäre
schön, wenn dies sowohl in den Reihen der Fraktionen
als auch auf der Regierungsbank umgesetzt würde. Un-
abdingbare Gespräche können vielleicht an einem ande-
ren Ort geführt werden.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:

Vereinbarte Debatte

Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität“: Zwischenergebnisse

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1717823900

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!

Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für
Lebensgestaltung. Ihn zu bewahren, ist noch
schwerer, als ihn zu erwerben.

Diese zwei Sätze stammen von Ludwig Erhard. Ich
meine, es ist schon bemerkenswert, dass dieser Genius
mit diesen zwei Sätzen einen erheblichen Teil dessen be-
schreibt, was wir in dieser Enquete-Kommission seit ih-
rer Einsetzung beraten. Wohlstand ist eine Grundlage,
aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung. Da geht es
um den nichtmateriellen Teil unserer Lebensqualität. Es
ist schwer, den Wohlstand, den zwei Generationen in
Deutschland aufgebaut haben, angesichts der demografi-
schen Entwicklung und der Schuldenkrise über zukünf-
tige Generationen hinweg zu bewahren. Auch da hatte
Ludwig Erhard recht.

Der Vater der sozialen Marktwirtschaft hatte damals
schon vergleichbare Problemfelder, etwa die Teilhabe
für alle, im Blick. Damals wie heute ist richtig, dass die
Antwort die soziale Marktwirtschaft ist. Es ist richtig
und wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass diese
Enquete-Kommission schon bei ihrer Einsetzung ein Er-
folg war, allein dadurch, dass ein erheblicher Teil dieses
Hauses, mit Ausnahme der Linken, sich im Einsetzungs-
beschluss klar zur sozialen Marktwirtschaft bekannt hat.
Das muss man an dieser Stelle einmal klarstellen.

Die wirtschaftspolitische Leitlinie meiner Fraktion ist
die soziale Marktwirtschaft im Erhard’schen Sinne, flan-
kiert von den Grundideen der christlichen Soziallehre,
Gemeinwohlorientierung, Personalität, Solidarität, Sub-
sidiarität und Nachhaltigkeit. Einige Mitglieder der
Enquete-Kommission aufseiten der Opposition verste-
hen die Enquete-Kommission als Argumentationsgrund-
lage für eine staatliche Transformationsagenda im Sinne

eines „Green New Deal“. Andere sprechen von demo-
kratischer statt sozialer Marktwirtschaft. Ich möchte hier
ganz klar festhalten, dass für uns, die Union, die soziale
Marktwirtschaft nicht Ursache einer ökologischen Krise
und auch nicht der Wirtschafts- und Finanzkrise ist, son-
dern vielmehr die Antwort auf diese Krise.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe das nicht verstanden!)


Der Staat hat in diesem Rahmen ordnungspolitische
Aufgaben. Er hat dafür zu sorgen, dass sich freiheitliches
Unternehmertum und private Initiativen entfalten kön-
nen. Gleichzeitig beruht ein starker Sozialstaat – auch
das muss man einmal deutlich sagen – auf dem Funda-
ment einer starken und leistungsfähigen Wirtschaft. Ge-
nau darum geht es. Wir müssen unsere Wirtschaft stark
und leistungsfähig halten und dürfen nicht Ideen anhän-
gen, nach denen man Wachstum künstlich, zwanghaft
beschränken und behindern muss.

Ich möchte hier in aller Deutlichkeit formulieren: Aus
unserer Sicht muss die soziale Marktwirtschaft weder
umdefiniert noch umbenannt werden. Sie muss gestaltet
werden. Wir müssen Missverständnisse beseitigen; wir
müssen uns auf das zurückbesinnen, was Erhard seiner-
zeit zum Thema „Teilhabe, Wohlstand für alle und Wett-
bewerb“ als den Weg dorthin definiert hat. Nur dann
sind wir auf einem guten Weg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich auch noch etwas zum Thema Nach-
haltigkeit ausführen. Das ist ein Begriff, der sich in die-
ser Enquete-Kommission durch alle Diskussionen zieht,
und zwar zu Recht. Ich freue mich, dass die Nachhaltig-
keit in der Projektgruppe 2 – „Indikatorenbestim-
mung“ – keine eigenständige Dimension hat, sondern
dass man erkannt hat, dass sich die Nachhaltigkeit auf
die Themen materieller Wohlstand, Soziales und Ökolo-
gie bezieht, dass sie im Grunde eine Querschnittfunktion
einnimmt. Ich möchte betonen: Nachhaltigkeit ist nicht
nur ein ökologisches Thema, auch wenn das von man-
chen so verstanden wird. Der Begriff kommt aus der
Forstwirtschaft. Es ist eine Betrachtungsweise, die zu-
tiefst ökonomisch ist, aber natürlich auch ökologische
Konsequenzen einbezieht.

In diesem Zusammenhang war für mich der Auftritt
von Professor Meadows in der Enquete-Kommission
sehr aufschlussreich. Er hat seinerzeit das Gutachten für
den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ mit-
formuliert. Ich will mich jetzt gar nicht auf das beziehen,
was er spaßeshalber zu Prognosen gesagt hat. Mit diesen
sollte man sich nämlich sinnvollerweise, beispielsweise
wenn es um das Ende der Ölvorräte geht, auf Zeiten be-
ziehen, die jenseits des eigenen Lebensalters liegen, weil
man dann nicht mehr dafür verantwortlich gemacht wer-
den kann, wenn es nicht so kommt.

Ich will mich auf etwas anderes beziehen, was mich
und auch etliche Kollegen sehr nachdenklich gemacht
hat. Er hat gesagt, die ökologischen Probleme dieser
Welt seien in einer Demokratie nicht lösbar. Mir ist klar
geworden, warum er das so sieht. Er hat nämlich die fal-





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


sche restriktive Nachhaltigkeitsdefinition zugrunde
gelegt: Die jetzige Generation muss zugunsten der nach-
folgenden Generationen verzichten. Für uns heißt Nach-
haltigkeit aber, dass wir die Bedürfnisse der jetzigen Ge-
neration so befriedigen, dass das nicht zulasten der
nachfolgenden Generationen geht. Das ist an der Stelle
das Entscheidende. Natürlich kann man die ökologi-
schen Probleme in einer Demokratie lösen, nämlich in-
dem man nicht Verzicht predigt, wie das der eine oder
andere von den Grünen macht, sondern dafür Sorge
trägt, dass die heutige Generation mitgenommen wird,
dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden, aber hierbei auf
Nachhaltigkeit geachtet wird, sodass tatsächlich die
Chance besteht, dafür auch Unterstützung zu finden.

Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission
ist, wenn man einmal den einen oder anderen Graben-
kampf vernachlässigt, auf einem recht guten Weg. Ich
glaube, wir sollten in den nächsten Diskussionen unse-
ren Fokus auf die Themen „Staatsverschuldung“ und
„demografische Entwicklung“ legen, weil das die Berei-
che betrifft, durch die unser Wohlstand in der Tat gefähr-
det ist. Da hat Erhard recht: Diesen Wohlstand zu be-
wahren, ist eine schwierige Aufgabe. – Diese Enquete-
Kommission kann einen Beitrag dazu leisten.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717824000

Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1717824100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Unsere Enquete-Kommission ist in aller
Munde. Ich muss schon sagen: Wenige Parlamentsgre-
mien genießen das Privileg, dass sie von einer so breiten
gesellschaftlichen Debatte begleitet werden. In den über-
regionalen Medien wird diese Enquete-Kommission als
innovatives Projekt präsentiert. Der Spiegel zum Bei-
spiel hat unsere Kommission „Glückskommission“ ge-
nannt. Die Zeit befand, unser Thema sei zu wichtig, um
es zu ignorieren oder ideologischen Grabenkämpfen zu
überlassen, sehr geehrter Herr Nüßlein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint gar, der Deut-
sche Bundestag wolle mit dieser Enquete-Kommission
die Welt zu einem besseren Ort machen.

Auch viele große zivilgesellschaftliche Organisatio-
nen beschäftigen sich mit unserem Thema „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“. Wir haben einige beeindru-
ckende Kongresse und Tagungen erlebt. Ich denke mit
Freude an den Evangelischen Kirchentag in Dresden, an
den Attac-Kongress „Jenseits des Wachstums“ oder an
zahlreiche Diskussionen bei Unternehmen, Stiftungen
und Umweltverbänden zurück. Ich blicke voraus, etwa

auf den Transformationskongress des DGB oder auf den
Katholikentag in Mannheim. Überall wird unser Thema
diskutiert. Selbst das Kanzleramt hat dieses Thema mitt-
lerweile entdeckt und greift die Themen dieser Enquete-
Kommission eifrig auf, und zwar im Bürgerdialog der
Kanzlerin.

Die Einschätzungen der Öffentlichkeit über den Ver-
lauf und die Ergebnisse unserer Arbeit sind allerdings
differenziert: mal wertschätzend und neugierig, mal kri-
tisch, selten sogar hämisch. Ich glaube, die Kritik liegt
zum einen darin begründet, dass die Öffentlichkeit nur
einen Teil unserer Beratungen mitbekommt und ihr die
oft sachbezogene und gute Detailarbeit in den Projekt-
gruppen verborgen bleibt. Sie liegt aber auch darin be-
gründet, dass an unsere Enquete-Kommission zum Teil
titanische Erwartungen gestellt werden, die über ihren
Auftrag und ihre Ressourcen hinausreichen.

Viele Kommentare und Zuschriften zeigen diese im-
mensen Erwartungen: Für die Komplettrevision des
herrschenden Arbeitsalltags soll die Kommission sorgen,
für die Umwälzung des Produktionssystems, für bessere
Luft, für angenehmeren Konsum, ja sogar für ein besse-
res TV-Programm oder für Seelenfrieden und Heiterkeit.
Das sind hohe Erwartungen, die wir wohl nicht erfüllen
werden können. Man kann von uns nicht erwarten, dass
wir alle Probleme, Mängel sowie wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Defizite der letzten Jahrzehnte behe-
ben. Eines aber sage ich als Aufforderung an uns alle:
Viele Erwartungen, die an uns gerichtet werden, sind le-
gitim und dürfen nicht enttäuscht werden. Man kann
sehr wohl von uns erwarten, dass wir über diese Legisla-
tur hinaus einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen
Transformationsdebatte leisten, und wir stehen vor ge-
waltigen Transformationen. Man kann von uns erwarten,
dass wir die politischen Entscheidungsträger in diesem
Hohen Haus zur Selbstreflexion genau darüber anregen.
Außerdem kann man von uns erwarten, dass wir einen
ganz konkreten Vorschlag zu einer alternativen Wohl-
standsmessung liefern.

Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass wir Wege
aufzeigen, wie wir die Krisen überwinden, die überhaupt
erst zur Einsetzung dieser Enquete-Kommission geführt
haben. Da ist zum einen die Wirtschafts- und Finanz-
krise. Wir brauchen konkrete Vorschläge zur Regulie-
rung der Finanzmärkte, und wir brauchen Frühwarnsys-
teme.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Wir brauchen auch eine Selbstreflexion darüber, dass wir
plötzlich im Angesicht der Euro-Krise alle miteinander
– ich nehme keinen hier im Haus aus – in die alten
Wachstumsdebatten zurückfallen, wenn es um die Be-
wältigung dieser Krise geht.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hallo, hallo! – Florian Bernschneider [FDP]: Ein Hauch von Selbstkritik?)






Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)


Wir brauchen Antworten auf die soziale Krise, die zu-
nehmende Spaltung der Gesellschaft, die Prekarität und
Ausgrenzung. Wir müssen über Verteilung von Einkom-
men sprechen und darüber, wie wir die sozialen Pro-
bleme verringern können.

Nicht zuletzt müssen wir über die ökologische Krise
sprechen, über Ressourcenverknappung und Klimawan-
del. Wir müssen voranschreiten und Ideen für internatio-
nale Kooperation anregen.


(Michael Kauch [FDP]: Was ist denn Ihre Lösung?)


Auch über den Beitrag, den wir als Vorreiter leisten wol-
len, müssen wir noch intensiver diskutieren, als wir das
bisher getan haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, an vielen Punkten
sind wir gemeinsam schon ein beachtliches Stück voran-
gekommen. Aber die Menschen draußen sind an man-
chen Stellen schon weiter als wir im Hohen Haus. Sie er-
warten Ergebnisse, und Sie haben ein Anrecht auf unsere
Offenheit und auf Ernsthaftigkeit in der Debatte. Lassen
Sie uns das als Ansporn für die kommende Arbeit neh-
men!

Ich möchte schließen mit einem Dank an alle Kolle-
ginnen und Kollegen der Enquete-Kommission, ob Ab-
geordnete oder Sachverständige. Es war mir eine Freude,
als Vorsitzende bis hierhin mit Ihnen zu arbeiten. Ich
möchte Ihnen danken für die tagtäglich engagierte und
gewissenhafte Arbeit, die wirklich zeitraubend und auf-

wendig ist. Gleichzeitig möchte ich uns alle miteinander
mahnen, dass wir die berechtigten Erwartungen der Ge-
sellschaft ernst nehmen und dass wir die Erwartungen,
die in uns gesetzt werden, nicht enttäuschen. Ich freue
mich daher auf eine weitere gute, an manchen Stellen
noch konstruktivere und noch mehr ergebnisorientierte
Zusammenarbeit, und – das will ich ganz deutlich sagen,
liebe Kolleginnen und Kollegen – ich freue mich auf das
kommende Jahr.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717824200

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe

ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstim-
mungen bekannt:

Erstens. Abstimmung über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit zum Antrag der SPD „Leitlinien für Transpa-
renz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von
unkonventionellem Erdgas“; hier geht es um die Druck-
sachen 17/7612 und 17/9450. Abgegebene Stimmen:
553. Mit Ja haben 301 Kolleginnen und Kollegen ge-
stimmt, mit Nein 192, und 60 Kolleginnen und Kollegen
haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist da-
mit angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 553;
davon

ja: 301
nein: 192
enthalten: 60

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann

Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart

Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte

Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder

Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel

Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter

Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede

Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge

Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

Zweitens. Abstimmung über die Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen „Transparenz und Kontrolle bei der Förderung
von unkonventionellem Erdgas in Deutschland“, Druck-

sachen 17/5573 und 17/9450. Abgegebene Stimmen:
552. Mit Ja haben 299 Kolleginnen und Kollegen ge-
stimmt, mit Nein 193; 60 Kolleginnen und Kollegen ha-
ben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 552;
davon

ja: 299
nein: 193
enthalten: 60

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer

Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)






Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster

Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski

Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch

Elisabeth Winkelmeier-
Becker

Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

CDU/CSU

Dr. Patrick Sensburg

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)


Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)


Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke

Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma

Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann

Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß

Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

Drittens. Abstimmung über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zum
Antrag der Fraktion Die Linke „Keine Erdgasförderung
auf Kosten des Trinkwassers – Fracking bei der Erd-
gasförderung verbieten“, Drucksachen 17/6097 und

17/9196. Abgegebene Stimmen: 551. Mit Ja haben
429 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 60,
und 62 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten.
Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 551;
davon

ja: 429
nein: 60
enthalten: 62

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)



(KarlsruheLand)


Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger

Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister

Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)



(Weil am Rhein)


Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann

Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach

Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß

Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner

Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

Enthalten

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar

Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der
Kollege Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1717824300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Auch ich will zu Beginn der Debatte Danke sa-
gen: Danke für die größtenteils konstruktive Zusammen-
arbeit in den Projektgruppen. Ich glaube, dass dieses
fraktionsübergreifende Ringen um die beste Lösung am
Ende des Tages auch die Garantie dafür ist, dass aus der
Enquete-Kommission etwas Reales in der Tagespolitik
übrig bleibt.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte trotzdem die Gelegenheit dieser öffentli-
chen Debatte nutzen, auf grundsätzliche Unterschiede
einzugehen. Ein solcher grundsätzlicher Unterschied
lässt sich zum Beispiel an einer Gleichung festmachen,
die bereits aus den 70er-Jahren stammt, aus den Thesen
des Club of Rome. Diese Gleichung lautet: Wir haben
begrenzte natürliche Ressourcen, und daraus folgt ein
begrenztes mögliches Wachstumspotenzial. So simpel
und verführerisch logisch diese Gleichung klingen mag,
sie ist und bleibt falsch, nicht etwa, weil wir Liberale die
Begrenztheit und die notwendige Regenerationszeit na-

türlicher Ressourcen anzweifeln, sondern weil in dieser
Gleichung ein wesentlicher Teil fehlt, nämlich der Fort-
schrittswille und die Kreativität des Menschen. Unsere
Entwicklungsgeschichte zeigt deutlich, dass Menschen
immer wieder in der Lage waren, die Grenzen des Mach-
baren zu verschieben. Wir Liberale zweifeln nicht daran,
dass es Menschen auch in Zukunft möglich sein wird,
über sich hinauszuwachsen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt eine zweite Überlegung, die viele Mitglieder
der Enquete-Kommission antreibt und die trotzdem
falsch ist. Sie drückt sich in Sätzen aus wie: Wir brau-
chen ein gezieltes Wachsen und vor allem ein gezieltes
Schrumpfen. Meine Damen und Herren, zur Erinnerung:
Wachstum ist immer das Ergebnis millionenfacher Ein-
zelentscheidungen, die jeden Tag getroffen werden. Es
ist falsch, zu meinen, dass die Politik diese Einzelfallent-
scheidungen diktieren könnte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist genauso falsch, zu meinen, man könnte mit einer
politisch diktierten Wachstumsrate von maximal 0,5 Pro-
zent eine Antwort auf die Herausforderungen unserer
Zeit geben. Stellen Sie sich das einmal in der Realität
vor. Der Wachstumsbegrenzungsbeauftragte der Bundes-
regierung kommt dann im Oktober zu Volkswagen und





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)


sagt: Jetzt müsst ihr die Bänder abstellen. Wir haben un-
ser politisch verordnetes Ziel von 0,5 Prozent Wachstum
für dieses Jahr erreicht.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind Sie doch klüger! Das gibt’s doch nicht! Ich dachte, wir wollen hier eine ernsthafte Debatte führen!)


– Das tun wir auch. Das sind die Punkte, über die wir
uns nicht einig sind. – Eine solche Politik wäre nicht nur
realitätsfern, sondern auch unsozial. Unsere Geschichte
zeigt auch: Wachstum beinhaltet immer die Chance auf
sozialen Aufstieg. Wenn die Politik Wachstumsraten
künstlich begrenzt, sie deckelt, dann begrenzen wir da-
mit auch die Chance auf sozialen Aufstieg.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen als Liberaler: Wir wollen nicht in einer
Welt leben, in der die einzige Chance auf sozialen Auf-
stieg die staatliche Umverteilung ist. Es ist ein Grund-
versprechen der sozialen Marktwirtschaft, dass sich An-
strengungen und Fleiß in Chancen auf sozialen Aufstieg
auszahlen. Kollege Nüßlein hat bereits angesprochen,
dass es nicht die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft
ist, Wachstumsraten zu begrenzen. Es ist die Aufgabe
der sozialen Marktwirtschaft, mit marktwirtschaftlichen
Instrumenten das Handeln des Einzelnen dort zu begren-
zen, wo er droht die Nachhaltigkeit oder die Interessen
der Gemeinschaft zu gefährden. Das ist unsere Aufgabe
als Politiker. Ich bezweifle manchmal, dass alle Kolle-
gen der Enquete-Kommission daran festhalten. Manch-
mal habe ich das Gefühl, sie wollen am politischen Reiß-
brett in Berlin diese millionenfachen Entscheidungen,
die jeden Tag getroffen werden, planen. Das wird nie
besser funktionieren als in der sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich als letzten Punkt die Nachhaltigkeit
ansprechen. Für uns Liberale besteht die Nachhaltigkeit
aus einem Drei-Säulen-Modell. Es geht darum, die öko-
logische, die soziale und die ökonomische Nachhaltig-
keit im Blick zu behalten. Das ist deshalb so wichtig,
weil sich die drei Säulen gegenseitig bedingen. Natürlich
können wir eine Politik machen, bei der am Ende die Be-
zahlbarkeit von Mobilität und Energie zur sozialen Frage
unseres Jahrhunderts wird. Das wäre ökologisch be-
trachtet sogar nachhaltig. Es kann aber nicht nachhaltig
sein, weil die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt.

Einen letzten Kommentar kann ich mir nicht verknei-
fen, gerade weil uns als FDP die ökonomische Nachhal-
tigkeit so wichtig ist. Sie von der Opposition halten uns
gegenüber jede Woche flammende Plädoyers, dass man
Wachstum politisch begrenzen müsse. In der Euro-Krise
erklärt Ihr politisches Spitzenpersonal landauf, landab,
man bräuchte große Wachstumspakete für Europa.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht dass wir
uns falsch verstehen – ob Ihre Argumentation stringent
ist, müssen Sie klären –: Wir stehen für Wachstum. Aber
das Wachstum, das Sie für Europa wollen, ist nicht nach-

haltig, weil es auf Pump finanziert ist und nicht auf
Strukturreformen basiert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns jetzt dafür sor-
gen, dass ein Teil der Vorschläge der Enquete-Kommis-
sion Realität wird. Geben Sie Ihrem Spitzenpersonal ein
Stück weit Nachhilfe. Dann sind wir in Europa auf ei-
nem guten Weg.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717824400

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Sabine Leidig das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717824500

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Ich staune schon über den Gestus und die Unterstellun-
gen, die Sie in diese Debatte einbringen. Herr
Bernschneider, ich habe das Gefühl, wir sind in ver-
schiedenen Veranstaltungen.


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ist erst kurz dabei!)


Es wäre ausgesprochen spannend, hier darzustellen, wel-
che unterschiedlichen Ausgangspositionen und welche
Lernprozesse in dieser Enquete-Kommission stattfinden,
und zwar innerhalb und zwischen den politischen La-
gern. Das ist das eigentlich Interessante.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das schaffe ich allerdings nicht in fünf Minuten. Des-
halb habe ich mich entschlossen, drei Erkenntnisse zu
skizzieren, die sich in der bisherigen Arbeit der Enquete-
Kommission für mich persönlich herauskristallisiert ha-
ben.

Erste Erkenntnis: Wir müssen überhaupt nicht über
die Frage „Wachstum – ja oder nein?“ streiten, sondern
wir müssen darüber reden, wie wir leben wollen. Es
geht, jedenfalls in den hochindustrialisierten Ländern,
längst nicht mehr darum, dass mehr Waren produziert
werden müssten, damit jeder oder jede genug hat. Im
Gegenteil: Es gibt Überkapazitäten in der Automo-
bilbranche, bei der Handyproduktion, in der Lebensmit-
telindustrie, und das führt zu harter Konkurrenz auf dem
Weltmarkt, zu Druck auf die Löhne und Verdichtung von
Arbeit, aber eben nicht zu mehr Lebensqualität.

Das globale Vermögen, also das, was nicht ver-
braucht, sondern angelegt wird, hat sich in den ersten
zehn Jahren dieses Jahrtausends glatt verdoppelt. Ge-
schrumpft dagegen sind die öffentlichen Haushalte und
die Realeinkommen der Mehrheit der Bevölkerung. Ent-
scheidend ist doch, dass eine Entwicklungsrichtung ein-
geschlagen wird, die den Verbrauch von Natur reduziert





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)


und die allen Menschen die Teilhabe an den Möglichkei-
ten eröffnet, die diese Gesellschaft bietet.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für mein Spezialthema Mobilität würde das zum Bei-
spiel heißen, dass die Autos kleiner, leichter und weniger
werden, dass die Städte, die heute autogerecht aussehen,
umgestaltet werden, damit sie künftig grüner, erholsa-
mer und menschengerecht sind. Wenn das geschehen ist,
wird man sehen, ob die Wirtschaft gewachsen ist oder
nicht. Entscheidend ist der Zuwachs an Lebensqualität
und an Nachhaltigkeit.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die schöne neue Welt ist entscheidend!)


Darauf kommt es an.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweite Erkenntnis: Ich habe erkannt, dass es sehr
wichtig ist, die Astronautenperspektive aufzugeben
– wir haben entsprechende Lernprozesse durchlaufen;
dabei schaue ich in die Runde – und die konkreten sozia-
len Verhältnisse ins Blickfeld zu rücken.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Raus aus dem Raumschiff!)


Es ist eben nicht „die Menschheit“, die den Globus
zugrunde richtet, sondern es sind konkrete Personen, die
unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen
handeln. Die Liberalisierung führte dazu, dass Invest-
mentbanker in gegenseitiger Konkurrenz um die Kapi-
talanleger immer größere Risiken eingehen mussten, um
kurzfristig möglichst große Gewinne zu realisieren.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Bitterfeld waren die Sozialisten! Haben Sie das mal angeschaut? Das war Ihre Partei!)


Wenn man dem begegnen will, dann muss man die Ban-
ken und die Finanzmärkte durch Gesetze regulieren und
begrenzen; da helfen moralische Appelle gar nichts.
Diese Erkenntnis ist inzwischen auch in Ihrer Fraktion
angekommen. Ich wundere mich über Ihre Ausbrüche
hier.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Fahren Sie mal nach Bitterfeld; schauen Sie sich das mal an! Da ist echte Lebensqualität in Bitterfeld!)


Dritte Erkenntnis: Die Frage von Geschlechtergerech-
tigkeit, die feministische Perspektive, hat eine ganz
große Bedeutung für nachhaltiges Wirtschaften. Das be-
deutet, dass die sogenannte Sorgearbeit, die Care-Öko-
nomie, in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Das ist
Arbeit, die nicht auf den Markt ausgerichtet ist, sondern
auf die Bedürfnisse der Mitmenschen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollte – das wäre zukunftsweisend – als gesell-
schaftlich notwendige Arbeit aufgewertet und gerecht
zwischen den Geschlechtern verteilt werden. Dazu
braucht es neue Modelle von sozialer Absicherung; dazu
braucht es kurze Vollzeit bei der Erwerbsarbeit. Heute
Morgen hat der Deutsche Frauenrat seine Positionen
dazu dargestellt. Diese Positionen sind wirklich wegwei-
send, und ich finde das ganz toll.

In der Diskussion hat eine Kollegin allerdings einge-
wandt: Wir können nicht gegen die natürlichen Kräfte
des Marktes arbeiten.


(Lachen bei der LINKEN und der SPD)


Da sind wir, glaube ich, an einem Knackpunkt. Tatsäch-
lich ist die kapitalistische Marktwirtschaft – was auch
immer sie geleistet hat – keineswegs eine „natürliche
Angelegenheit“, im Gegenteil.


(Zuruf von der LINKEN: Genau! – Stefanie Vogelsang [CDU/CSU]: Aber der Sozialismus!)


Der ureigenste Zweck allen Wirtschaftens ist es,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist genau das Richtige! – Gegenruf des Abg. Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Halt doch mal den Mund, Mensch! – Gegenruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ich lass mir von euch gar nichts verbieten! – Gegenruf der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Du redest dich um Kopf und Kragen, Kollege!)


die Vorsorge, die Versorgung zu organisieren, Leben zu
erhalten und Lebensqualität herzustellen.

Dieser Zweck wird zunehmend in sein zerstörerisches
Gegenteil verkehrt, wenn Produktion und Konsum nicht
mehr Mittel zum guten Leben sind, sondern vor allen
Dingen Mittel zum Zweck der Geldvermehrung.


(Beifall bei der LINKEN – Cajus Caesar [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zur DDR und dazu, wie es dort war!)


An dieses Thema müssen wir herangehen – in der
Enquete-Kommission und in der gesellschaftlichen De-
batte, die, wie Daniela Kolbe bereits gesagt hat, schon
viel weiter ist als das, was Sie uns hier bieten. Ich bin
auch froh, dass es so ist; denn ich glaube, dass die Zeit
reif ist, um wirklich solche grundlegenden Debatten zu
führen. Die Enquete-Kommission ist auch ein Forum,
das die Gelegenheit schafft, in der Gesellschaft gemein-
sam weiter voranzukommen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Quatsch!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717824600

Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kurzfristig hatte ich mir überlegt, ob ich nicht
alles in meiner Rede umstellen muss. Das werde ich aber
nicht tun; denn ich freue mich über die Gelegenheit, eine
öffentliche Zwischenbilanz unserer Enquete zu ziehen.
Schließlich ist es eine unserer Hauptaufgaben, das Be-
wusstsein dafür zu wecken, dass unsere gegenwärtige
Form des Wirtschaftens nicht zukunftsfähig ist, dass wir
dringend neue Antworten auf alte Fragen von Wachs-
tum, Wohlstand und Lebensqualität brauchen und dass
dies sehr schnell und möglichst gemeinsam geschehen
muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich freue mich über den hohen Grad an Gemeinsam-
keit, der sich in der Enquete abzeichnet, soweit es die
Analyse betrifft – na ja, sagen wir mal: Enquete minus
Herr Bernschneider. Wir sind uns einig, dass die Gren-
zen der Erde auch die Grenzen unserer Ökonomie sind.
Wir sind uns einig, dass in vielen Bereichen – vor allen
Dingen Klimawandel, Artenvielfalt, Stickstoffeintrag –
die Grenzen unserer globalen Ökosysteme bereits über-
schritten worden sind. Deshalb sind wir uns auch einig,
dass wir in Zukunft mit erheblich weniger Energie und
Ressourcen auskommen müssen. Wir sind uns sogar ei-
nig, dass Wachstum nur ein Mittel und kein Ziel politi-
schen Handelns sein darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Cajus Caesar [CDU/CSU]: Das war nie strittig, Herr Kollege!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ehrlich gesagt, hätte
ich das vor anderthalb Jahren bei der Einsetzung der
Kommission nicht erwartet. Deshalb hat sich die Einset-
zung der Enquete schon jetzt gelohnt.

Für mich persönlich hat sich ihre Einsetzung auch
deshalb gelohnt, weil ich einiges gelernt habe. Die hohe
Bedeutung des Rebound-Effekts war mir zum Beispiel
nicht bewusst. Dieser Effekt bewirkt, dass ein Großteil
der Verbrauchsminderungen, die durch technische Ver-
besserungen erreicht werden, durch ein verändertes Ver-
halten der Menschen wieder neutralisiert wird, ja, dass in
manchen Fällen der Verbrauch nach der „Verbesserung“
höher ist als vorher.

Diese Erkenntnis wird tiefgreifende Folgen für die
Umwelt-, Wirtschafts- und Technologiepolitik haben;
denn das bedeutet, dass technische Veränderungen von
politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Änderungen begleitet werden müssen, um wirksam zu
sein. Wir werden uns also sehr ernsthaft mit der Preisge-
staltung von Energie und Rohstoffen beschäftigen müs-
sen. Was die Abgabe von Schadstoffen in die Umwelt
betrifft, werden wir über Obergrenzen für die Abgabe
von Schadstoffen sprechen müssen. Und das Wichtigste:
Wir werden über Werte reden müssen, über die Bedeu-
tung von Konsum, über den Stellenwert von materiellen

und nichtmateriellen Bedürfnissen. Mit einem Wort: Wir
werden auch über Lebensstile reden müssen.

Das sind schmerzhafte Themen. Aber wenn wir es
schaffen, sie hier im Bundestag und in der Öffentlichkeit
so sachlich und ergebnisorientiert zu diskutieren, wie
wir das bisher in der Enquete gemacht haben, dann ha-
ben wir eine Chance, die größte Herausforderung des
21. Jahrhunderts zu bestehen: die Selbstbeschränkung
unserer Spezies.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN und des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])


Noch etwas habe ich gelernt: Es ist sinnlos, einen Fe-
tisch mit einem Anti-Fetisch zu bekämpfen. Es bringt
überhaupt nichts, dem Ruf nach Wachstum den Ruf nach
Schrumpfung oder Nullwachstum entgegenzusetzen.
Damit begibt man sich nämlich auf eine magische Ebene
und hat für die Sachfragen keine guten Lösungen mehr.
Denn magisch ist es ja schon, was von Wachstum erwar-
tet wird: Arbeitsplätze, ein gewisser Wohlstand, sogar
Glück und Zufriedenheit.

Erstens bringt unsere Art, zu wirtschaften, diese Er-
gebnisse schon lange nicht mehr. Das Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts bedeutet eben nicht automatisch,
dass es Arbeitsplätze gibt – das Phänomen des unökono-
mischen Wachstums –, und schon gar nicht trägt es zum
Glück unserer Bürgerinnen und Bürger bei.

Zweitens ist dieses wirtschaftliche Wachstum, wenn
wir es als Ziel verfolgen, mit untragbaren Kosten für Ge-
sellschaft und Umwelt verbunden. Wir kannibalisieren
unseren Planeten für ein kurzfristiges Feuerwerk der
Verschwendung. Das muss aufhören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])


Wir meinen, es ist wichtig, sich gar nicht erst in den
Streit um Wachstum oder nicht einzulassen; Frau Leidig
hat es erwähnt. Stattdessen ist es geboten, dass wir uns
auf unsere politischen Ziele konzentrieren: dass alle
Menschen ein Auskommen haben, dass sie ihre Fähig-
keiten gut entwickeln können und am Leben der Gesell-
schaft teilhaben können und dass dies in einer Weise ge-
schieht, die auch den Menschen im nächsten Jahrhundert
noch eine Chance gibt – von den anderen Geschöpfen
unserer Erde ganz zu schweigen. Deshalb sollte erst im
zweiten Gang gefragt werden, was die Wirkung unserer
Politik auf das Bruttoinlandsprodukt sein könnte. Ehr-
lich gesagt, glaube ich, dass eine kurzfristige Erhöhung
unseres Material- und Energieverbrauchs die Folge einer
großen Transformation sein wird. Also: kurzfristig mehr
Energie, mehr Emissionen und eine Erhöhung des Brut-
toinlandsprodukts, um mittel- und langfristig eine drasti-
sche Senkung von Verbrauch und Emissionen zu errei-
chen.

Wir können das schaffen. Wir haben die historische
Chance, den gegenwärtigen Fehlkurs zu korrigieren. Da-
für brauchen wir Ideen, Mut und Entschlossenheit. Eini-





Dr. Hermann E. Ott


(A) (C)



(D)(B)


ges davon hat sich in der Enquete schon gezeigt. Machen
wir weiter so. Ich habe das gute Gefühl, dass wir in ei-
nem Jahr ein Ergebnis vorlegen werden, das Bestand hat
vor der Aufgabe, die vor uns liegt.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717824700

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1717824800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Wir stehen

– so der französische Philosoph Baudrillard –

gemeinsam vor der entscheidenden Frage: Was tun
nach der Orgie?

Denn wie eine Orgie mag es uns bisweilen vorkom-
men: die Welt der Verschwendung, Verschmutzung, die
Welt der rücksichtslosen Ausbeutung. Unsere Lebens-
weise verdankt sich einer technischen Aufbrechung der
Natur in einer Form, der die Begrenzungen unseres Pla-
neten aus dem Blick geraten sind. Andererseits: Die Ver-
lockungen des Fortschritts und des Wachstums waren
und sind mächtig. Die von der Aufklärung erträumte
Vervollkommnung des Menschen haben wir zwar nicht
erreicht. Die Überwindung der materiellen Not sowie
Hunger und Elend, eine gute medizinische Versorgung,
hohe Lebensqualität: Das haben wir für uns erreicht.

Wir leben im Überfluss der Möglichkeiten, nicht an-
strengungslos wie im biblischen Paradies, aber von den
Versprechungen des paradiesischen Lebens nicht weit
entfernt. Wir haben zwar die Idee des Fortschritts verlo-
ren, aber der Fortschritt geht weiter. Doch er hat seinen
Preis, besonders die Umweltzerstörung schlägt auf
unsere Lebensqualität zurück. Deswegen hat die Kom-
mission auch den Auftrag, sich mit der Frage zu beschäf-
tigen, wie Wachstum und Wohlstand vom Ressourcen-
verbrauch entkoppelt werden können. Wie können wir
innerhalb der Grenzen unseres Planeten nachhaltig wirt-
schaften und unseren Lebensstandard aufrechterhalten?

Ressourcen entnehmen wir der Natur. Was ist uns Na-
tur? Der englische Philosoph Francis Bacon hat gesagt,
Natur ist etwas, das auf die Folterbank gespannt werden
muss, damit man ihr die Geheimnisse entreißen kann.

Dieses instrumentelle Verhältnis zur Natur prägt uns
noch heute. Wir stehen der Natur entgegen, sie ist uns
Mittel für unsere Zwecke, wir nutzen, wir übernutzen
sie, nichts an ihr ist heilig, alles ist profan. Wir unterwer-
fen die Schöpfung industrieller Dienstbarkeit. Das, was
wir an der Schöpfung als unzureichend empfinden, wol-
len wir als Mitingenieure Gottes verbessern. Das ist aus
meiner Sicht ein erster Befund: Wir sind infiziert von ei-

ner Denkweise, die die Natur unseren technischen Mög-
lichkeiten überlässt. Dass wir selbst ein Teil der Natur
sind, in sie eingebettet, haben wir zu unserem Schaden
negiert. Wir sind Teil des technischen Systems gewor-
den, und nicht wenige behaupten, dass hier ein ehernes
Gehäuse der Hörigkeit entstanden sei.

Vielleicht aber verstehen wir die Natur nur zu wenig.
Nur der kann die Natur beherrschen, der sie versteht –
wiederum Bacon. Technikfolgen wären durch Folgetech-
nik zu beseitigen. Die ökologische Krise ist dann ledig-
lich eine Krise einer besonderen Form der Technisie-
rung, der das notwendige ökologische Wissen fehlt.
Wachstum – dies ist eine Antwort, die wir diskutiert ha-
ben – ist das beste Mittel, Wachstumsfolgen zu beseiti-
gen. Aus meiner Sicht präsentiert sich dieses Argument
in zwei sehr ernsthaften Varianten. Die eine setzt auf
Marktmechanismen durch die Internalisierung von Um-
weltkosten, die andere auf eine Form des ökologischen
Umbaus, die grünes Wachstum ermöglicht. Beide Ant-
worten stehen in der Tradition technischen Denkens und
suchen Lösungsansätze für die Entkopplung von Wachs-
tum und Ressourcenverbrauch auf der systemischen
Ebene. Das „Gehäuse der Hörigkeit“ wird damit nicht
verlassen, aber für unsere Zwecke neu ausgerichtet.

Mein Verdacht ist allerdings, dass es damit nicht ge-
nug ist. Sieht man in die klassische Philosophie, stellt
man fest: Wertvorstellungen des Maßes und der Mitte
spielen dort eine große Rolle, die Einordnung in ein
Ganzes. Hier zitiere ich wieder Baudrillard:

Die Orgie ist der explosive Augenblick der Mo-
derne, der Augenblick der Befreiung in allen Berei-
chen.

Das ist eine Freiheit, die um ihre Grenzen nicht mehr
weiß, um die Verantwortung, die damit einhergeht, eine
Freiheit, die kein Gut mehr kennt und keine religiösen
Bindungen, die das Handeln in den Möglichkeitsräumen
begrenzte. Freiheit explodiert in den Exzess. Die techni-
schen Möglichkeiten der Menschheit übersteigen ihre
moralischen. Dies ist aus meiner Sicht ein zweiter wich-
tiger Befund der Debatte. Nur wenn wir die Balance
zwischen Können und Sollen wiederfinden, zwischen
technischer Möglichkeit und ethischer Verantwortung,
können wir umsteuern. Erst hier rückt die Möglichkeit in
den Blick, das „Gehäuse der Hörigkeit“ brüchig werden
zu lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein dritter Befund: Das Wesen unserer Probleme ist
heute national nicht mehr fassbar. Im Anblick der Erde
vom Weltall aus hat der amerikanische Schriftsteller Ar-
chibald MacLeish das schöne Bild geprägt: Wir sind ge-
meinsam Reisende auf dieser Erde und Brüder in der
ewigen Kälte, „riders on the earth together, brothers in
eternal cold“. Globalität bedarf eines globalen Bewusst-
seins. Der Weltinnenraum braucht globale Institutionen.
Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel, der tief in die
Idee der nationalen Souveränität eingreift. Aber nur so
werden wir in der Lage sein, die globalen Allmenden





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)


wie das Klima wirksam zu schützen. Das geht über ethi-
sche Diskurse über Fernverantwortung weit hinaus.
Über die Bedingungen für unser Überleben wird heute
global entschieden, und es bedarf einer entscheidungsfä-
higen institutionellen Fassung, ein Gehäuse der Mög-
lichkeit.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Das erste Jahr der Arbeit in der Enquete-Kommission
hat aus meiner Sicht viele wichtige Fragen aufgeworfen
und erste Antworten erbracht. Kein Mitglied der Kom-
mission hat sich der Dringlichkeit der Problemstellungen
verweigert. Alle scheinen ein zunehmendes Unhaltbar-
keitsgefühl zu teilen, das Erich Kästner einmal auf die
Formel gebracht hat:

Das geht auf keinen Fall so weiter, wenn das so
weiter geht.

Aber wir sind mit sehr unterschiedlichen Lösungsan-
sätzen in die Diskussion gegangen. Vieles davon schließt
sich aus meiner Sicht nicht gegenseitig aus, sondern
kann sich sinnvoll ergänzen. Daran müssen wir im
nächsten Jahr anknüpfen; denn unsere Enkel könnten
uns eines Tages fragen: Was habt ihr während der Orgie
getan?


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717824900

Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1717825000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn die Wirtschaft wächst, dann geht es al-
len Menschen besser – so lautete die klassische Glei-
chung, die über viele Jahrzehnte wirtschaftliches und so-
gar politisches Handeln geprägt hat. Aber diese
Gleichung geht genauso wenig auf wie die Gleichung
„Kein Wachstum ist der Königsweg“. Beide Gleichun-
gen haben im 21. Jahrhundert keine Gültigkeit mehr.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb sage ich ausdrücklich: Die größte Gefahr für
ein Scheitern der Enquete sehe ich darin, sich in der
scheinbar schlichten Scheinalternative „Wachstum – ja
oder nein?“ zu verirren. Wenn wir uns in dieser Schein-
alternative verirren, dann werden wir der Herausforde-
rung und der Aufgabe, die uns gestellt worden ist, nicht
gerecht.

Globales Wachstum bedeutet eben keineswegs immer
globalen Wohlstand. Die Wirtschaft wächst, und gleich-
zeitig bedroht der Klimawandel unsere Lebensgrundlage
auf eine Art und Weise, die für die Menschheit in Gänze
existenzbedrohend ist. Die Wirtschaft wächst, und trotz-
dem geht es vielen Menschen nicht besser, weil sie sich
in unsicheren, schlecht bezahlten Beschäftigungsverhält-
nissen befinden. Das sind allein in Deutschland knapp
6 Millionen Menschen. Herr Bernschneider, wenn Sie
sagen, dass Anstrengung und Fleiß sich lohnen sollen,

dann sage ich dazu ausdrücklich Ja. Damit kann ich aber
nicht begründen, und Sie auch nicht, warum eine Erzie-
herin in unserem Land so viel weniger verdient als zum
Beispiel jemand in einer Bank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Bernschneider [FDP]: Das ist doch flach!)


Dies zeigt – das sage ich ausdrücklich –, dass wir ein
bisschen genauer hinschauen müssen; denn die Erziehe-
rin leistet unglaublich viel, gerade für unsere Zukunft.
Genau über diese Zusammenhänge sagt unser Bruttoin-
landsprodukt gar nichts aus. Deshalb brauchen wir bes-
sere Maßstäbe, eine bessere Beschreibung von Wohl-
stand und Lebensqualität. Was wir messen und wie wir
messen, beeinflusst unser Handeln. Es zeigt auch, was
uns wichtig ist. Teilhabe an Arbeit ist uns wichtig. Bil-
dungschancen sind uns wichtig. Wohlstandsentwicklung
und auch seine Verteilung sind uns wichtig. Eine intakte
Umwelt, Gesundheit und auch Wirtschaftswachstum,
politische Beteiligung und Demokratie – alle Umfragen
zeigen, dass das den Menschen wichtig ist.


(Judith Skudelny [FDP]: Uns doch auch!)


Das Messsystem, über das wir im Augenblick disku-
tieren, wird Werteentscheidungen und den demokrati-
schen Meinungsaustausch nicht ersetzen, aber wir kön-
nen darüber mehr Transparenz herstellen. Das ist wichtig
in einer Demokratie. Dieses Messsystem wird die Wirk-
lichkeit besser beschreiben können, über Zusammen-
hänge informieren und auch aufklären. Vielleicht tragen
ja die Diskurse darüber auch dazu bei, eine neue Kultur
der Rechenschaftslegung in der Politik zu etablieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir unseren Kindern eine ökologisch, ökono-
misch und sozial intakte Welt übergeben wollen, dann
brauchen wir nicht nur ein neues Messsystem, sondern
dann müssen wir auch konkrete Wege beschreiben, wie
wir die Probleme lösen wollen, zum Beispiel wie wir
den Klimawandel begrenzen und wie wir die Spaltung
der Gesellschaft überwinden wollen. Ja, liebe Frau Kol-
legin Kolbe, da werden manchmal titanische Anforde-
rungen und Erwartungen an uns gestellt; das ist richtig.
Wir sollten versuchen, zumindest modellhaft zu zeigen,
wie der sozial-ökologische Wandel gelingen kann.

Notwendig ist das ernsthafte Bemühen, überzeu-
gende, realisierbare Modelle und Vorschläge zu erarbei-
ten, wie diese Transformation, diese Umgestaltung ge-
lingen kann. Es ist notwendig, dass wir Auskunft
darüber geben und etwas dazu sagen, wie wir die CO2-
Emissionen in unserem Land und weltweit reduzieren
wollen, damit der Klimawandel nicht so dramatisch vor-
anschreitet, wie er es gerade tut. Es ist auch notwendig,
dass wir darüber diskutieren, ob es richtig ist, ob das Ziel
erreicht werden kann, wenn man zum Beispiel die För-
derung von regenerativen Energien mit einem solch dra-
matischen Todesstoß – 30 Prozent sind ein Todesstoß –
einfach zerstört.





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ein Blödsinn! – Michael Kauch [FDP]: Frau Kraft hat uns dazu aufgefordert! Das ist Wählerverdummung, was Sie da machen! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Peinliche Klientelpolitik ist das, was Sie bieten! Das ist lächerlich!)


– Ja, genau diese Diskussion müssen wir führen. Wenn
wir diese Diskussion im Parlament nicht führen, dann
werden wir – das sage ich Ihnen ganz klar – unserer Ver-
antwortung nicht gerechnet, weil genau das die Erwar-
tung der Bürgerinnen und Bürger an uns ist. Sie erwar-
ten, dass wir dazu Auskunft geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717825100

Kollegin Bulmahn, gestatten Sie eine Frage oder Be-

merkung des Kollegen Kauch?


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1717825200

Ja, das nehme ich immer gerne auf.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1717825300

Liebe Kollegin Bulmahn, ist Ihnen bekannt, dass un-

ter dieser Bundesregierung ein Anteil von 21 Prozent der
erneuerbaren Energien an der Stromproduktion erreicht
worden ist – das ist der höchste Wert für erneuerbare
Energien, den wir je in diesem Land erreicht haben –,
dass wir bei der Photovoltaik einen Ausbaugrad von
7 500 Megawatt pro Jahr in zwei Jahren hintereinander
hatten, obwohl Ihr Umweltminister Gabriel – er ist jetzt
SPD-Vorsitzender – noch im Jahr 2009 einen Zielkorri-
dor von 1 900 Megawatt angestrebt hatte,


(Ulrich Kelber [SPD]: Quatsch!)


dass die Dinge, die Sie hier erklären, offensichtlich
nichts mit der Realität zu tun haben,


(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kauch, das wissen Sie auch besser! insbesondere angesichts der Tatsache, dass wir die Hälfte der EEG-Umlage für 15 Prozent des Ökostroms ausgegeben haben, und dass es nicht nachhaltig ist – Sie sprechen hier über nachhaltiges Wachstum – einen solch hohen Anteil der Kosten für die Bürger für nur eine Technologie auszugeben und die anderen zu vernachlässigen? (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Wo ist die Frage?)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1717825400

Ich darf vielleicht mit einer Gegenfrage antworten: Ist

Ihnen bekannt, lieber Kollege, dass der Anteil der rege-
nerativen Energien vor zwölf Jahren noch bei ungefähr
5 Prozent lag und der weitaus größte Teil aus Wasser-
kraft stammte, die aber begrenzt ist? Ist Ihnen bekannt,
dass es uns gelungen ist, die 21 Prozent, die Sie nennen,

durch eine konsequente, mutige Politik zu erreichen, in-
dem wir nämlich den Kurs gewechselt und gesagt haben:
Wir wollen Wohlstandsentwicklung, Umweltverträglich-
keit und eine Begrenzung des Klimawandels zusammen-
führen, wir wollen für die Welt Vorbild sein, und wir
wollen zeigen, dass es möglich ist, für eine Wohlstands-
entwicklung zu sorgen, wirtschaftliches Wachstum zu
erzielen und gleichzeitig unsere Umwelt zu schonen?
Das ist der Erfolg von zwölf Jahren Politik, an der meine
Partei und meine Fraktion einen ganz erheblichen Anteil
hatten; sonst wäre das nämlich nicht in die Wege geleitet
worden.


(Beifall bei der SPD – Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr wahr!)


Ich denke, das wird Ihnen bekannt sein. Ich möchte, dass
eine solch erfolgreiche Politik fortgesetzt werden kann.

Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen die
Chancen, die eine auf erneuerbare Energien und Res-
sourceneffizienz gegründete Wirtschaft bietet, mutig
nutzen. Wir wollen nicht kleinmütig und ängstlich sein.
Wir wollen Antworten auf die Frage geben, welche Ge-
setze, welche fiskalischen Anreize und welche ord-
nungsrechtlichen Maßnahmen wir brauchen, welche
schädlich sind und welche den notwendigen und wichti-
gen sozialökologischen Wandel unterstützen. Wir wollen
auch Antworten darauf geben, wie wir zum Beispiel eine
bessere Work-Life-Balance erreichen können. Wir wol-
len also nicht nur die ökologischen Probleme, sondern
auch die sozialen Probleme lösen. Wir wollen nämlich
nicht noch in 20 oder 30 Jahren darüber diskutieren, wie
wir Frauen bessere Berufschancen eröffnen können. Wir
möchten das bitte etwas schneller schaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Wir möchten schneller erreichen, dass Zeitwohlstand
nicht nur eine Vokabel ist, die in Sonntagsreden benutzt
wird, sondern dass er von den Menschen tatsächlich re-
alisiert wird. Wir wollen auch nicht nur in Sonntagsre-
den darüber sprechen, wie die Kluft zwischen Arm und
Reich überwunden wird, sondern wir wollen durch kon-
krete Vorschläge sicherstellen, dass uns dies gelingt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wichtig sind dabei positive Beispiele, die zeigen, wie
wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise verändern
können, Beispiele, die Menschen Mut machen und Men-
schen motivieren, sich zu engagieren. Wenn wir die Res-
sourceneffizienz um den Faktor fünf verbessern wollen,
dann bedeutet das eine Revolution in der technologi-
schen Entwicklung, und zwar in einer Dimension, die
wirklich mit der industriellen Revolution vergleichbar
ist. Es bedeutet auch Chancen, wenn wir hier vorange-
hen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, derartig grundle-
gende Veränderungen werden neue Wege in der Techno-
logieentwicklung bedeuten – aber nicht allein. Denn
diese technologischen Entwicklungen werden nur zum





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


Erfolg führen, wenn es uns auch gelingt, soziale, ökolo-
gische und wirtschaftliche Ziele zusammenzuführen,
also eine Art neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717825500

Kollegin Bulmahn, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1717825600

Dadurch kommt das Thema Demokratie auf die Ta-

gesordnung. Insofern ist klar, dass dies nicht nur ein
technologisches, sondern auch ein politisches Projekt ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717825700

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Judith

Skudelny das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1717825800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Bulmahn, ich freue mich ganz außeror-
dentlich, dass Sie die Bedeutung der Ordnungspolitik,
ganz besonders im Klimabereich, hier im Plenum nach
vorne getragen haben. Ich erinnere mich an die erste Sit-
zung der Projektgruppe 4, deren Vorsitzende Sie sind
und in der ich Mitglied bin. Sie haben damals mehrfach
darauf hingewiesen, dass Sie bezweifeln, dass wir in der
PG 4 überhaupt dazu kommen werden, unter ordnungs-
politischen Aspekten über Klimapolitik zu sprechen. Ich
möchte Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich
diejenige war, die Sie immer wieder daran erinnert hat,
dass dies zentrale Fragen dieser Enquete-Kommission
sind.


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist doch keine Frage! Das ist selbstverständlich!)


Ihre Ausführungen hier lassen mich annehmen, dass wir
es mit Ihrer Bereitschaft tatsächlich schaffen werden,
diese wichtigen Fragen zu beantworten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Edelgard Bulmahn [SPD]: Das werden wir!)


Wir haben bisher immer über Wirtschaftswachstum
gesprochen. Es gibt, global gesehen, aber noch ein ganz
anderes Wachstum. Dabei geht es um ein wichtiges
Thema, das wir auch in der Enquete-Kommission be-
sprechen müssen: Auf welcher Ebene sprechen wir über
diese Fragen? Das ist nämlich schlicht und ergreifend
das Bevölkerungswachstum. Es gibt derzeit 7 Milliarden
Menschen. Die erste Verdoppelung, von 1 Milliarde
Menschen auf 2 Milliarden Menschen, hat 120 Jahre ge-
dauert. Mittlerweile dauert der Sprung um 1 Milliarde
Menschen mehr genau zwölf Jahre. Wir haben das Pro-
blem, die weiteren Milliarden Menschen medizinisch zu
versorgen, zu ernähren, einzukleiden und sie am Wohl-
stand teilhaben zu lassen. Dieses Problem aufgrund des
Wachstums müssen wir tatsächlich global lösen.


(Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein CDU/ CSU])


Deswegen bin ich ganz froh, dass wir uns in der Pro-
jektgruppe 3 auf die globale Ebene geeinigt haben. Es
geht nämlich schlicht und ergreifend nicht darum, was
wir in Deutschland machen. Wir in Deutschland stellen
gerade einmal 16 Prozent der Bevölkerung auf europäi-
scher Ebene, etwa 5 Prozent der Bevölkerung in allen In-
dustrienationen und 1,2 Prozent – künftig nur noch
0,8 Prozent – der Weltbevölkerung. Selbst wenn wir
vollkommen aufhören würden, Abgase zu emittieren,
und zwar egal welche, würde das beispielsweise in der
Klimakurve nicht einmal eine Delle ausmachen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist das!)


Wir müssen darüber reden, wie wir aus unserer Ver-
antwortung heraus auf globaler Ebene tatsächlich durch-
schlagend tätig werden können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Diese Frage ist aber nicht einfach zu beantworten. Mit
nationalen Maßnahmen globale Probleme zu lösen,
funktioniert schlicht und ergreifend nicht. Bei der Dis-
kussion über die Vorreiterrolle müssen wir uns in regel-
mäßigen Abständen auch einmal umdrehen und gucken,
ob hinter uns eigentlich noch jemand ist.


(Beifall bei der FDP)


Das sind schwierige Fragen, die wir beantworten
müssen, was eben nicht sehr einfach ist, weil es um viele
Felder geht. Wir laufen vor; aber anderen Nationen,
selbst den weit entwickelten Nationen, fällt es einfach
schwer, uns zu folgen.

Nicht von ungefähr sind die USA, die noch vor ein
paar Jahren in der Klimapolitik voranschreiten wollten,
aufgrund sozialer Probleme jetzt ein Stück zurückgeru-
dert. Nicht von ungefähr diskutieren wir im Zusammen-
hang mit der Verlagerung der Industrie, die wir in den
letzten 20 Jahren betrieben haben, darüber, dass wir in
Deutschland durchaus nicht besser geworden sind, was
den Klimaschutz angeht, sondern nur eine Aktion „Sau-
berer Vorgarten“ durchgeführt haben.

Luft, Boden, Wasser: Alles wird in Deutschland bes-
ser. Wir versauen es aber in den Schwellen- und Ent-
wicklungsländern. Das sind doch die tatsächlichen Pro-
bleme, über die wir reden müssen.


(Beifall des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU])


Dies ist eben nicht so einfach zu beantworten, wie Teile
der Opposition uns das vorgaukeln.

Meine Damen und Herren, ich glaube, in der En-
quete-Kommission wird tatsächlich besser und ernsthaf-
ter geredet, als hier manche Einlassungen der Opposition
glauben machen. Ich glaube tatsächlich, dass wir ein gu-
tes Ergebnis erzielen werden.

Am Ende möchte ich zwei Sachverständige zitieren,
die ich beide schätze, einen Sachverständigen der Oppo-
sition und einen der Regierung. Sie haben gesagt: Eine





Judith Skudelny


(A) (C)



(D)(B)


gute, nachhaltige Politik befindet sich zwischen naivem
Altruismus und zynischem Pessimismus. – Wenn wir auf
dieser Schiene bleiben, dann kommen wir zu guten Er-
gebnissen.

Ich hoffe, dass die Sacharbeit künftig weiterhin gut
bleibt und dass das Ergebnis besser wird als der An-
schein, der durch manche Einlassungen in der Diskus-
sion hier erweckt wurde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717825900

Für alle nachfolgenden Rednerinnen und Redner: Das

Präsidium versichert, dass in jedem Fall noch jemand
hinter Ihnen ist – zumindest am heutigen Abend.


(Heiterkeit der Abg. Iris Gleicke [SPD])


Das Wort hat die Kollegin Stefanie Vogelsang von der
Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1717826000

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhö-

rerinnen und Zuhörer! Wir haben jetzt hier in der De-
batte von unterschiedlicher Seite den Arbeitsauftrag des
gesamten Hauses an die Enquete-Kommission beleuch-
tet. Dies haben wir aus unterschiedlicher parteipoliti-
scher Sicht heraus und mit unterschiedlichen Ansätzen
getan. Der eine argumentierte politisch, der andere etwas
philosophischer, lieber Matthias Zimmer. Unsere Vorsit-
zende hat sehr verbindlich formuliert, wieder andere wa-
ren sehr viel streitbarer bei der Herausarbeitung von Ak-
zenten. Etliche Beiträge waren auch ideologisch geprägt.

Gegen Ende der Debatte möchte ich mich auf einen
Auftrag konzentrieren, den wir im Einsetzungsbeschluss
für diese Enquete-Kommission bekommen haben und
den wir in der Projektgruppe 2 bearbeiten. Es geht da-
rum, ein Maß zu entwickeln, mit dem wir den Wohlstand
von Volkswirtschaften – den Wohlstand der Bundesrepu-
blik Deutschland, aber auch den Wohlstand von China,
von Bhutan oder von Südafrika – messen und verglei-
chen können.

Ich möchte meinerseits mit einer ideologischen Be-
trachtungsweise beginnen. Wir haben in den letzten 30,
40, 50 Jahren Wohlstand über Wirtschaftswachstum de-
finiert. Die Volkswirte und alle Wirtschaftswissenschaft-
ler haben das nie für sich reklamiert und das Wirtschafts-
wachstum nie als ein Maß für Wohlstand angesehen.

Wenn ich meine Großmutter gefragt hätte, was Wohl-
stand ist, hätte ich ganz sicher die Antwort bekommen:
dass es uns allen gut geht.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


Wenn ich sie gefragt hätte: „Was brauchen wir denn
dazu, dass es uns allen gut geht?“, dann hätte sie als Ers-
tes geantwortet: dass wir alle gesund sind, dass wir alle
eine Arbeit haben, dass wir genug zum Leben haben,
dass unsere Umwelt sauber ist, dass wir in unserem Land
sicher leben können, dass wir in einem freien Land le-
ben, dass wir sagen können, was wir denken, dass wir

demokratisch teilhaben können und dass wir ganz viel
Wert darauf legen, dass wir mit einem guten Gewissen
das, was wir in unserem Leben geschaffen haben, unse-
ren Kindern und unseren Enkelkindern weitergeben kön-
nen, damit sie genauso gut leben können. – Das wäre für
meine Großmutter Wohlstand gewesen. Das wären für
sie die Dinge gewesen, die unseren Wohlstand ausma-
chen.

Über genau diese Punkte, etwas akademischer, mit
treffenden Worten gut formuliert, diskutieren wir in der
Enquete-Kommission. Wir haben uns in der Projekt-
gruppe 2 in den letzten anderthalb bis zwei Jahren unge-
fähr 30 oder 40 akademische Werke über Indikatoren zur
Messung von Wohlstand angeschaut. Wir haben ge-
guckt: Was machen hier die Kanadier? Was machen die
Franzosen? Wir haben uns mit den Indikatoren der Ös-
terreicher oder mit unterschiedlichen deutschen Ansät-
zen beschäftigt.

Wir haben uns mit der Frage auseinandergesetzt: Wie
können wir am besten das Maß für Wohlstand kommuni-
zieren? Ist es nicht am besten, wenn wir nur eine Zahl
kommunizieren? Dann steht sie allmonatlich in der Bild-
Zeitung, und jeder kann sie verstehen. Sind nicht drei,
fünf oder sieben Zahlen zu kompliziert? Frau Bulmahn,
2002 – Sie waren in dieser Zeit Ministerin – lagen der
Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung etwas
über 30 Indikatoren zugrunde. Kennen Sie einen Bürger,
der schon einmal von diesen Indikatoren gehört hat?


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Ja, kenne ich! Aber es sind zu viele Indikatoren!)


Richtig ist, dass wir ganz viele Statistiken haben und
in vielen Bereichen Messungen vorgenommen werden,
auf die es aber gar nicht ankommt. Wenn jemand etwas
zu einem speziellen Thema wissen will, bekommt er
dazu Daten geliefert, meistens auch die der letzten 10,
15, 20 oder 25 Jahre. Uns in der Enquete-Kommission
geht es darum, etwas zu finden, was einfach zu kommu-
nizieren ist und für alle Menschen verständlich darstellt,
wie sich der Wohlstand in der Bundesrepublik Deutsch-
land, und zwar für alle Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland, im Verhältnis zu dem Wohlstand anderen
Ländern entwickelt.

Können wir anhand von Kriterien Gefahren für unse-
ren Wohlstand erkennen? Können wir beurteilen, ob wir
so weitermachen können? Können wir ein Wohlstands-
gut, zum Beispiel Gesundheit, in ein Verhältnis zur Bil-
dung setzen? Kann beides zusammengemischt und mit
einem Indikator angezeigt werden? Wenn wir eine gute
Bildung haben, hat der entsprechende Indikator den Wert
1; wenn es uns gesundheitlich schlecht geht, führt das zu
einem Indikator mit dem Wert 6. Sollen wir dann nach
außen einen Indikator mit dem Wert 3,5 kommunizie-
ren? Das ist nicht darstellbar und nicht vernünftig.

Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. Das, worauf
wir uns geeinigt haben, ist sinnvoll, nämlich dass wir
weiter an einem Indikatorensatz arbeiten wollen, der nur
sehr wenige Dimensionen beinhaltet; einige der Dimen-
sionen habe ich vorhin aufgezählt. Vielleicht sollte es
noch sogenannte Warnsignale für Spezialisten geben, so-





Stefanie Vogelsang


(A) (C)



(D)(B)


dass man reagieren kann. Aber in der Hauptsache muss
es für die Menschen verständlich sein und das ausdrü-
cken, was schon meine Oma wusste.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717826100

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 a und b auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Vierter Bericht über die Umsetzung des
Bologna-Prozesses in Deutschland

– Drucksache 17/8640 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die soziale Dimension von Bologna stärken

– Drucksachen 17/8580, 17/9604 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Ulla Burchardt
Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Nicole Gohlke
Kai Gehring

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Dr. Helge Braun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


D
Dr. Helge Braun (CDU):
Rede ID: ID1717826200


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! In den letzten zehn Jahren hat der Bologna-Pro-
zess das Studium an unseren Hochschulen tiefgreifend
verändert. Die Einführung der gestuften Studienstruktur
ist inzwischen weit fortgeschritten. 85 Prozent der rund
15 000 Studiengänge in Deutschland sind mittlerweile
umgestellt. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen,
mich zunächst einmal bei allen, die an dieser Herkules-
aufgabe an den Hochschulen mitgewirkt haben, ganz
herzlich zu bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im internationalen Vergleich ist gerade Deutschland
bei dem zentralen Ziel des Prozesses, nämlich der Stei-
gerung der internationalen Studierendenmobilität, Vor-
reiter. Heute geht jedem dritten Hochschulabschluss ein
studienbezogener Auslandsaufenthalt voraus. Bei einem
Viertel beträgt dieser Aufenthalt sogar mindestens drei
Monate. Das sind ganz hervorragende Zahlen, über die
wir uns alle freuen können. Aus der Sicht der Bildungs-
politik können sie in Zukunft natürlich gerne noch sehr
viel besser werden.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen besser werden!)


Auch der Arbeitsmarkt gibt uns recht. Bachelor-Ab-
solventen sind selten arbeitslos und werden nach ihrem
Abschluss nahezu nie unterhalb ihres Qualifikationsni-
veaus beschäftigt. Ein Großteil unserer Bachelor-Absol-
venten, nämlich 53 Prozent der FH-Bachelor und 77 Pro-
zent der Uni-Bachelor, strebt im Anschluss ein Master-
studium an. 90 Prozent von ihnen erhalten dabei einen
Studienplatz sowohl an ihrer Wunschhochschule als
auch in ihrem Wunschfach.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nach einer aktuellen Ländererhebung steht rechne-
risch für jeden interessierten Bachelor heute ein Master-
studienplatz zur Verfügung. Ich sage ausdrücklich: Das
ist eine sehr erfreuliche Botschaft. Sie deckt sich aber
nach meiner Einschätzung nicht vollständig mit den kon-
kreten Erfahrungen der Studierenden. Deshalb ist,
glaube ich, die Aufgabe, einen für jeden Bewerber trans-
parenten und verlässlichen Zugang zu den Masterstudi-
engängen zu organisieren, noch eine der aktuellen Auf-
gaben im Bologna-Prozess.

Der schwierige Start des Bologna-Prozesses vor Jah-
ren lag vor allem daran, dass bei der Umsetzung der Stu-
diengänge eine kurze Studienzeit, eine große Stofffülle
und eine hohe Prüfungsfrequenz eingeführt worden sind,
die dazu geführt haben, dass so mancher Studiengang
kaum mehr studierbar war. Das hatte zur Folge, dass die
Zahl der Studienabbrecher 2006/2007 auf einen Höchst-
stand von 35 Prozent angestiegen ist. Darauf folgte dann
die Reform der Reform.

Die Entschlackung und die zeitliche Entzerrung vieler
Studiengänge haben dazu geführt, dass die Zahl der Stu-
dienabbrecher aktuell wieder sinkt. Insbesondere an
Fachhochschulen, wo die Umstellung auf Bachelor-Stu-
diengängen größtenteils schon besonders früh stattge-
funden hat, ist die Zahl der Abbrecher von 39 Prozent im
Jahr 2006 auf einen erstaunlich und erfreulich niedrigen
Stand von 19 Prozent im Jahr 2010 gesunken. Das zeigt:
Wir sind auf einem guten Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eine sehr grundsätzliche Kritik am Bologna-Prozess
war es stets, dass der Prozess zu singulär auf berufliche
Fachkenntnisse ausgerichtet ist. Die sogenannte Be-
schäftigungsfähigkeit oder, wie es auf Englisch heißt,





Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun


(A) (C)



(D)(B)


Employability, ist das Stichwort, das sich im Bologna-
Prozess gerade durch den Einfluss der angelsächsischen
Länder immer wieder durchgesetzt hat. Weil ich aber
ganz persönlich davon überzeugt bin, dass unsere Tradi-
tion des Humboldt’schen Bildungsideals für die Ent-
wicklung autonomer, selbstreflexiver Individuen und
verantwortungsbewusster Weltbürger in den Bildungsge-
sellschaften des 21. Jahrhunderts unerlässlich ist, haben
wir vor wenigen Wochen auf der internationalen Bolo-
gna-Konferenz für die Implementation dieses Bildungs-
ideals im Bologna-Prozess gekämpft.

Das Ergebnis ist, dass sich in Bukarest nun auf deut-
sche Initiative 47 Staaten im Bologna-Kommuniqué dazu
bekannt haben, dass Hochschulbildung neben der Wei-
tergabe von fachlichen Erkenntnissen auch zum selbst-
bewussten und kritischen Menschen hin ausbilden soll.
Damit ist der Bologna-Prozess im Hinblick auf unser
Bildungsideal besser geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deutschland wird in wenigen Jahren einen Anteil von
weniger als 1 Prozent an der Weltbevölkerung haben.
Die Internationalisierung von Bildung und Forschung ist
deshalb für den Fortbestand unserer Innovationskraft
von existenzieller Bedeutung. Der Bologna-Prozess ist
gerade deshalb für uns eine großartige Chance. Mit der
Bologna-Konferenz von Bukarest ist unser Bildungs-
ideal fester Bestandteil dieses Prozesses geworden. Auf
dem Weg, ihn umzusetzen und gleichzeitig unsere Stär-
ken in Deutschland zu bewahren, sind wir gut vorange-
kommen. Deshalb fordere ich alle auf, unseren nationa-
len Prozess zu unserem eigenen Glück weiter engagiert
voranzutreiben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717826300

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Swen

Schulz das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1717826400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bologna-
Prozess ist tatsächlich noch mit vielen Problemen behaf-
tet. Auch wenn der Staatssekretär Braun hier so freund-
lich geredet und den Eindruck erweckt hat, als wäre alles
auf dem besten Wege, gibt es eine ganze Menge Pro-
bleme.

Sie haben, Herr Staatssekretär Braun, die Konferenz
der 47 Bologna-Staaten, die in Bukarest stattgefunden
hat, angesprochen. Die dort zusammengekommenen Mi-
nisterinnen und Minister loben sich gegenseitig norma-
lerweise sehr viel; das ist klar. Aber selbst in deren Ab-
schlusskommuniqué lassen sich Hinweise finden, dass
einiges gemacht werden muss. Nun lautet die entschei-
dende Frage: Wie sieht es in Deutschland aus? Was
macht die Bundesregierung? Was macht die sie tragende

Koalition? Ein wichtiger Punkt – auch in dem Kommu-
niqué angesprochen – ist die soziale Dimension des Bo-
logna-Prozesses. Dazu hat der Staatssekretär Braun inte-
ressanterweise rein gar nichts gesagt.

Die SPD hat ein Konzept für einen Hochschulsozial-
pakt vorgelegt. Es ist notwendig, dass angesichts stei-
gender Studierendenzahlen zusätzliche Wohnheimplätze
geschaffen werden, dass wir bessere Beratungsangebote
bekommen und dass die BAföG-Ämter gestärkt werden.
Es ist unmöglich, dass die Betreffenden teilweise Mo-
nate darauf warten müssen, ihr BAföG zu erhalten, das
sie benötigen und auf das sie einen Anspruch haben. Die
Kinderbetreuungsangebote müssen ausgebaut werden,
damit die Vereinbarkeit von Familie und Studium ver-
bessert wird. Deshalb müssen auch die Studierenden-
werke gestärkt werden. Das ist eine Aufgabe, der sich
der Bund und die Länder gemeinsam stellen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Das BAföG muss
verbessert werden, damit sich die Menschen ein Studium
überhaupt erst einmal leisten können. Das BAföG ist das
zentrale Instrument der sozialen Ausbildungsförderung.
Es muss gepflegt, gestärkt und weiterentwickelt werden.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal etwas Neues!)


Was macht nun die Koalition? – Nichts! Unseren An-
trag zur sozialen Dimension des Bologna-Prozesses ha-
ben Sie im Ausschuss abgelehnt. Zum BAföG legt die
Bundesregierung partout kein Konzept vor, über das sie
mit den Ländern verhandeln könnte.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Weil sie sich mit den Ländern verständigen muss!)


Ich habe noch in der gestrigen Fragestunde den Staats-
sekretär Rachel dazu befragt. Nichts Genaues weiß man
nicht, was das BAföG-Konzept der Bundesregierung be-
trifft. Wahrscheinlich gibt es das gar nicht.

Ein weiterer wichtiger Punkt des Bologna-Prozesses
ist die Schaffung ausreichender Studienkapazitäten. Die
SPD hat schon im letzten Jahr ein Konzept für einen
Hochschulpakt Plus vorgelegt, für mehr Studienplätze
für Anfänger, aber auch für das Masterstudium, damit
alle, die daran interessiert sind, tatsächlich den Master
erringen können. Der Staatssekretär Braun hat ganz nett
dazu geredet und angedeutet, da könne es vielleicht ein
Problem geben. Wenn man aber genau schaut, was die
Koalition bisher unternommen hat, stellt man fest: Wie-
der Fehlanzeige! Im Bundestag lehnt sie alles, was zum
Hochschulpakt kommt, ab. In der gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz von Bund und Ländern erklärt sich
Frau Schavan widerstrebend bereit, eine Arbeitsgruppe
einzurichten, die den Bedarf prüfen soll. Dabei liegt
doch der Bedarf auf der Hand.

Noch ein wichtiger Punkt ist die Qualität des Stu-
diums. Die Koalition brüstet sich mit dem Qualitätspakt
Lehre. Aber er ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


angesichts der Probleme, die wir haben. Das sehen wir
gerade bei der Abbrecherquote.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben schon im letzten Jahr einen Abschlussbo-
nus vorgeschlagen. Ich erwarte, dass sich die Regie-
rungskoalition wenigstens einmal ernsthaft mit dieser
Idee befasst und sie prüft. Aber diese Koalition lehnt al-
les in Bausch und Bogen ab. Dabei wäre ein Abschluss-
bonus ein wirklich geeignetes Instrument, um nicht nur
den Studienbeginn finanziell zu fördern, sondern auch
im gesamten Verlauf das erfolgreiche Studium und die
gute Lehre.

Der Grund für diese Blockade an diesem Punkt und
an anderen Punkten ist, dass Finanzminister Schäuble
Frau Schavan den Geldhahn zugedreht hat.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Das tut Ihnen weh, und das ist wirklich bitter. Aber es
ist so. – Das ist kein Gerede der Opposition, sondern das
belegen die eigenen Zahlen der Bundesregierung. Ihre
mittelfristige Finanzplanung


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


sieht im Bundestagswahljahr 2013 noch ein Plus vor, da-
nach wird reduziert. Über eine halbe Milliarde Euro wer-
den Sie im Bildungsbereich einsparen. Aber für das Be-
treuungsgeld sind 2 Milliarden Euro jährlich drin. Das
ist die falsche Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717826500

Herr Kollege Schulz, ich will Ihre Rede zwar nicht in-

haltlich bewerten. Aber das war jetzt eigentlich ein schö-
ner Abschluss. Achten Sie bitte auf die Zeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1717826600

Eine Bemerkung noch, Frau Präsidentin. – Der Bolo-

gna-Prozess muss auf die richtige Spur kommen. Dafür
ist einiges an Engagement nötig. Aber so, wie die Koali-
tion es macht, geht es nicht.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717826700

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor

Dr. Martin Neumann das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717826800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Schulz, Sie wis-
sen, dass es keine Bundesregierung vor der jetzigen gab,

die mehr Geld für Bildung und Forschung ausgegeben
hat. Das muss man zu Beginn einmal sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sicherlich haben der Bologna-Prozess und die Be-
schlüsse dazu unsere Hochschullandschaft dramatisch
verändert. Das ist ein Prozess. Wenn Sie so tun, als sei
der Prozess abgeschlossen, dann entspricht das nicht den
Tatsachen. Sie wissen, dass eine ganze Studierendenge-
neration im Gegensatz zu den Lehrenden an den Hoch-
schuleinrichtungen nichts anderes kennengelernt hat.
Entgegen den Unkenrufen, die Sie hier wiederholt ha-
ben, sind die allermeisten Studierenden mit ihrer Situa-
tion zufrieden. Auch der Vierte Bericht über die Umset-
zung des Bologna-Prozesses in Deutschland – den
müssen Sie einmal lesen – zeichnet ein durchaus freund-
liches Bild.

Mittlerweile gehört Deutschland zur Spitzengruppe
bei der Umstellung auf Master- und Bachelorstudien-
gänge. Noch ein Wort zur Qualität und Qualitätssiche-
rung, die auch Sie angesprochen haben. Unsere Hoch-
schulen sind bei der Qualitätssicherung spitze, was
glücklicherweise an den hervorragenden Beschäfti-
gungschancen für unsere Bachelorabsolventen deutlich
wird. Das bestätigen die Studien, die man einfach einmal
lesen muss.

Ich sage es noch einmal: Der Bologna-Reformprozess
war, ist und bleibt eine Mammutaufgabe für unsere
Hochschulen. In diesem Zusammenhang möchte ich
mich dem Dank an die Macher, an die Verantwortlichen,
an die Studierenden und an die Professoren dafür an-
schließen, dass sie sich dieser Reformaufgabe so enga-
giert gestellt haben und weiter stellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Zeitraum von 2009 bis 2011 ist die Zahl der Stu-
dienanfänger um mehr als 20 Prozent angewachsen.
Wenn man weiß, dass die Studienanfängerquote heute
über 50 Prozent liegt, dann kann man wirklich zufrieden
sein. Der Opposition und gerade Ihnen, lieber Kollege
Schulz, fällt es wahrscheinlich zunehmend schwer, kriti-
sche Fakten vorzutragen. Ihr Antrag „Die soziale Di-
mension von Bologna stärken“ ist aus meiner Sicht eher
ein Verlegenheitsvorstoß, als dass er ein ernstzunehmen-
des Anliegen ausdrückt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das Abstimmungsverhalten gestern im Ausschuss hat
das bestätigt: Nicht einmal die Linken und die Grünen
haben Ihrem Antrag zugestimmt. Wir natürlich auch
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Erklärung dafür ist das, was hinter dem Antrag
steckt.

Worum geht es in diesem Antrag? Ich will es deutlich
sagen. Sie behaupten nicht zum ersten Mal, dass wegen
der steigenden Studierendenzahlen der Bund in der Ver-
antwortung sei, und fordern, neben dem Hochschulpakt
zum Ausbau der Studienplatzkapazitäten „auch für einen
parallelen bedarfsgerechten Ausbau der sozialen Infra-





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


struktur zu sorgen“. Immerhin bemerken Sie beiläufig
auch – das will ich Ihnen positiv anrechnen –, dass das
nicht nur Sache des Bundes, sondern auch der Länder ist.
Das ist so weit okay. Aber Sie versuchen immer wieder,
den Eindruck zu erwecken – und das nehme ich Ihnen
übel –, als sei der Bund allein für die Situation verant-
wortlich.

Ich habe es heute Vormittag schon einmal gesagt: Der
Bund unterstützt die Länder sehr großzügig bei ihrer
grundgesetzlich verankerten Aufgabe, die Finanzierung
der Hochschulen sicherzustellen. Das muss man an die-
ser Stelle deutlich sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Stichwort Exzellenzinitiative: 1,9 Milliarden Euro. Hoch-
schulpakt in der zweiten Phase, 2011 bis 2015: rund
5 Milliarden Euro. Denken wir nur an den Qualitätspakt
Lehre: bis zum Jahr 2020 – Sie wissen, dass es jedes Jahr
200 Millionen Euro sind – noch einmal 2 Milliarden
Euro zusätzlich.

Der Bund hat deutlich gemacht – auch das ist immer
wieder in den Ausschusssitzungen erkennbar geworden –,
dass er sich, selbst wenn die Studienanfängerzahlen wei-
ter steigen, nicht davor drücken wird, eventuell noch
nachzulegen.

Doch was machen die Länder? In Baden-Württem-
berg beispielsweise werden die Studiengebühren wegen
eines rot-grünen Wahlversprechens abgeschafft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Hochschulen erhalten damit künftig mehr als
163 Millionen Euro aus den Studiengebühren nicht
mehr.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch!)


Diese Einnahmeausfälle – Kollege Gehring, das muss
man natürlich auch einmal insgesamt betrachten – sollen
stattdessen aus allgemeinen Haushaltsmitteln kompen-
siert werden. Wenn man jetzt die Schuldenbremse und
das, was da noch alles mit dranhängt, in Betracht zieht,
stellt sich die Frage: Wie lange wird man das durchhal-
ten?

Noch eine weitere Bemerkung zu Baden-Württem-
berg – das passt an der Stelle. Das Land Baden-Würt-
temberg ist das Land mit den meisten örtlichen Zulas-
sungsbeschränkungen. Es hält also ganz offensichtlich
unzureichende Kapazitäten vor und ruft nach mehr Geld
vom Bund.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da holen wir jetzt auf!)


Das Motto lautet: Bundesgeld soll Löcher stopfen, die
zuvor durch populistische Maßnahmen verursacht wur-
den.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum hat die FDP eigentlich die Studiengebühren im Saarland abgeschafft? War das auch populistisch?)


Der jüngste BAföG-Bericht und auch der Bologna-
Bericht bescheinigen uns gute Arbeit. Sie bescheinigen
vor allem der Bundesregierung gute Arbeit. Ich denke,
an der Stelle sollten wir weitermachen.

Die Unterstützungsleistungen für Studierende sind
stärker gestiegen als die Lebenshaltungskosten. Die Zahl
der BAföG-Bezieher befindet sich auf einem Allzeit-
hoch.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Gleichzeitig entscheiden sich immer mehr junge Men-
schen für ein Studium. Ich sage: Dann können die Rah-
menbedingungen gar nicht so schlecht sein. Die deut-
schen Studierenden stellen zudem laut OECD die größte
Gruppe der europäisch und international mobilen Studie-
renden. Ich denke, auch hier sind die Rahmenbedingun-
gen eher gut als schlecht.

Ich möchte zum Schluss noch einen Verdacht äußern;
das darf ich an dieser Stelle. Ich habe den Verdacht, dass
es Ihnen mit Ihrem Antrag weniger darum geht, in der
Hochschulfinanzierung qualitative Verbesserungen zu
erreichen, sondern darum, den Bund als Lückenbüßer
und Sparschwein der SPD-regierten Länder zu missbrau-
chen,


(Zurufe von der SPD: Oh!)


die nicht in der Lage oder willens sind, ausreichend ei-
gene Anstrengungen zu unternehmen und die Prioritäten
richtig zu setzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich habe noch einen Gedanken zum Mittelabfluss.
Auch dieser Punkt wird immer wieder angesprochen.


(Zuruf von der SPD: Sie wollten doch zum Schluss kommen!)


Bei einem Mittelabfluss von durchschnittlich 99,4 Pro-
zent kann man auch davon ausgehen, dass die Bundes-
regierung, konkret das BMBF, mit dem Geld, was hier
zur Verfügung gestellt wird, ausreichend gut umgeht.

Ich komme damit zum Schluss.


(Heiterkeit)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717826900

Die Ankündigung ersetzt nicht den Schlusspunkt!


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1717827000

Die FDP-Bundestagsfraktion kann nicht erkennen, an

welcher Stelle diesem Antrag auch nur ansatzweise zu-
gestimmt werden könnte, und wird ihn deshalb ableh-
nen.

Danke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717827100

Die Kollegin Nicole Gohlke hat nun für die Fraktion

Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717827200

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor

zwei Wochen haben sich die Bildungsminister aller Län-
der, die die Bologna-Reform an den Hochschulen umset-
zen, in Bukarest getroffen. Auch Deutschland hat das
Kommuniqué der Konferenz unterzeichnet. Darin finden
sich sehr viele unterstützenswerte Vereinbarungen. Herr
Staatsekretär Braun hat viele davon schon erwähnt.

Aber Papier ist geduldig. Die Frage ist natürlich, ob
und wie all das nun faktisch umgesetzt wird. Wenn man
einen Blick in den Bericht wirft, den uns die Bundes-
regierung zur Umsetzung der Bologna-Reform in
Deutschland vorgelegt hat, verliert man da leider wieder
recht schnell die Hoffnung. Denn darin bleibt von der
kritischen Reflexion, die Sie zu Recht gerade als Teil des
Kommuniqués von Bukarest erwähnt haben, nicht mehr
so viel übrig.

Ein Beschluss aus dem Kommuniqué von Bukarest
lautet:

Der Zugang zu höherer Bildung soll sozial gerecht
erweitert werden.

Das ist völlig richtig. Aber was hieße das für die Bun-
desregierung, wenn sie diesen Beschluss von Bukarest
ernst nehmen würde? Sie müsste erstens die Hochschu-
len überhaupt erst in die Lage versetzen, sich zu öffnen.
Aktuell wird ein angemessener Ausbau der Hochschulen
durch fehlende Studienplätze verhindert. Das heißt, wir
brauchten als Allererstes eine deutliche Aufstockung des
Hochschulpakts.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU: Wünsch dir was!)


Zweitens. Sie müssten das BAföG erhöhen. Sie müss-
ten dafür sorgen, dass mehr Studierende BAföG bekom-
men, und Sie müssten endlich den Darlehensanteil im
BAföG abschaffen. Sie kennen doch die Zahlen: Drei
von vier Abiturientinnen und Abiturienten, die auf ein
Studium verzichten, tun dies aus finanziellen Gründen
oder aus Angst vor Verschuldung. Wenn Sie es mit der
sozialen Öffnung ernst meinen, dann geben Sie den Stu-
dienberechtigten die finanzielle Möglichkeit, ein Stu-
dium aufzunehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Wir brauchen den freien Zugang zum Mas-
ter. In Ihrem Bericht haben Sie geschrieben, dass für je-
den interessierten Bachelorabsolventen ein Masterstu-
dienplatz zur Verfügung steht. Da musste man schon
staunen, weil gerade in der aktuellen Studie des HIS, die
Sie selbst in Auftrag gegeben und aus der Sie zitiert ha-
ben, die Forscher und Forscherinnen zu einem anderen
Ergebnis kommen: 10 Prozent an den Universitäten,
14 Prozent an den Fachhochschulen können eben nicht
den Master machen, den sie machen wollen. Das muss
sich dringend ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Das wirklich größte Problem der Bologna-Reform
– das musste auch in Ihrem Bericht zugegeben werden –
liegt doch in der Bezahlung der Bachelorabsolventinnen

und -absolventen. Die Einkommen liegen bei den Fach-
hochschulabsolventinnen und -absolventen 7 Prozent und
bei den Universitätsabsolventinnen und -absolventen
20 Prozent unter denen der Inhaber traditioneller Ab-
schlüsse. Das erklärt in sehr einfachen Zahlen, warum
die Mehrheit der Studierenden den Master anschließen
will. Geben Sie den jungen Menschen diese Möglich-
keit!


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiteres Ergebnis der Bukarest-Konferenz war:
Studierendenzentriertes Lernen soll vorangetrieben wer-
den. – Das ist ebenfalls völlig richtig. Seit Jahren bekla-
gen die Studierenden die Auswirkungen der Bologna-
Reform. Verschulung, enormer Prüfungsdruck und Aus-
wendiglernerei statt tieferer inhaltlicher Auseinanderset-
zung waren mitunter Anlass für die heftigen Bildungs-
streiks der letzten Jahre. Sie reden in Ihrem Bericht
immer nur von Umsetzungsproblemen oder davon, dass
man alles eigentlich irgendwie im Griff hat. Aber an den
Hochschulen hat sich tatsächlich wenig geändert. Tref-
fen Sie endlich mit Kultusministern, mit Hochschulrek-
toren und mit Studierenden verbindliche Vereinbarungen
für ein Lernen, bei dem wirklich die Interessen der Stu-
dierenden im Zentrum stehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Studierenden brauchen gute Betreuung. Bei ei-
nem Verhältnis von 1 Hochschullehrer auf 60 Studie-
rende lässt sich individuelle Betreuung natürlich nicht
realisieren. Schaffen Sie also endlich den Raum für
selbstbestimmtes, kritisches und nachhaltiges Lernen.

Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung,
wenn die in Bukarest getroffenen Vereinbarungen etwas
wert sein sollen, dann müssen diesen Vereinbarungen
auch Taten folgen. Wir brauchen einen Reformprozess
für die Hochschulen, der Bildungschancen nicht ein-
schränkt, sondern sich an einer umfassenden Öffnung
der Hochschulen orientiert. Wir brauchen eine Studien-
reform, die eine eigenständige Studiengestaltung ermög-
licht und eine kritische Auseinandersetzung mit der wis-
senschaftlichen Disziplin und den gesellschaftlichen
Verhältnissen fördert. Bringen Sie das endlich auf den
Weg!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717827300

Kai Gehring hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717827400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nicht die Bologna-Reform an sich, sondern die Umset-
zung in Deutschland ist das Problem. Wir befürworten
die Etablierung eines europäischen Hochschulraums in
Verbindung mit einer umfassenden sozialen Öffnung der
Hochschulen. Aber wir kommen den visionären Bolo-
gna-Zielen nicht näher, wenn die Bundesregierung die
Probleme nicht benennt und nicht behebt.





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damit gefährdet sie die Akzeptanz der Reform und treibt
Studierende in die Arme der Studienreformgegner.

47 Staaten haben sich der Bologna-Deklaration ange-
schlossen. Da ist es nicht verwunderlich, wenn bei
Ministerkonferenzen wie Ende April in Bukarest wei-
che, von diplomatischer Sprache geprägte Kommuni-
qués herauskommen. Entscheidend ist, was in den ein-
zelnen Ländern daraus gemacht wird. Da sind Sie blass
geblieben, Herr Braun. Was jetzt die Konsequenzen aus
diesem Kommuniqué für die Bundesregierung sind und
was den Umsetzungsstand in Deutschland angeht, muss
man Deutschland weiterhin ein mangelhaftes Zeugnis
ausstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn auch im 13. Bologna-Jahr werden wesentliche
Ziele der Reform verfehlt:

Erstens. Die Mobilität ist nicht gestiegen, sondern ge-
sunken. Im Jahr 2009 absolvierten nur 26 Prozent der
Bachelorstudierenden Auslandsaufenthalte. In den alten
Studiengängen waren es dagegen 32 Prozent. Das steht
so in Ihrem Regierungsbericht. Um die Auslandsmobili-
tät deutscher Studierender zu steigern, müssen Bachelor-
studiengänge flexibilisiert und Zeitfenster für Mobilität
eingebaut werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens. Die Studierbarkeit muss erhöht und die Ar-
beitsbelastung gesenkt werden. Bachelorstudierende be-
richten immer häufiger über massiven Prüfungsstress
und Bulimielernen. Ob die Abbrecherquoten gesunken
sind, bleibt zweifelhaft. Deswegen ist es notwendig, dass
Hochschulen ihre Studienprogramme überarbeiten,
Workload herunterschrauben und die Prüfungsdichte re-
duzieren.

Drittens. Die Anerkennungspraxis ist weiterhin be-
schämend und deshalb auch mobilitätsfeindlich. Wenn
nur magere 52 Prozent der im Ausland erworbenen Stu-
dienleistungen an deutschen Hochschulen anerkannt
werden, wird jede zweite Studienleistung vergeudet,
weil nicht anerkannt, und werden Studierende demoti-
viert.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Was folgern Sie daraus für die Bundesregierung?)


Die Studierenden dürfen nicht unter einer bürokratischen
und überpeniblen Anerkennungspraxis der Universitäten
leiden, sondern sie brauchen eine grundsätzliche Aner-
kennungsgarantie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Können wir gesetzlich nicht regeln! – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist nicht unsere Aufgabe!)


All diese Probleme sind übrigens seit längerem be-
kannt; zahlreiche Studien haben sie belegt. Daher ist es

inakzeptabel, dass Bildungsministerin Schavan die
Kernprobleme nicht zur Kenntnis nimmt, geschweige
denn löst.

Der vierte Bologna-Bericht dieser Regierung ist dafür
ein trauriges Beispiel, weil darin die Problembereiche
systematisch ausgeklammert werden:

Erstens. Die Probleme beim Übergang vom Bachelor
in den Master werden ausgeblendet.

Zweitens. Die Hinweise auf die Akzeptanzprobleme
des Bachelorabschlusses auf dem Arbeitsmarkt sind aus
dem Bericht geflogen; in Zwischenberichten waren dazu
noch kritische Töne zu finden.

Drittens. Die Zahlen zur sozialen Schieflage im Bil-
dungssystem werden verschwiegen.

Wer die Umsetzungsprobleme unter den Teppich
kehrt, gefährdet die Akzeptanz der Reform und verhin-
dert vor allem die notwendigen Korrekturen, die mit al-
len Akteuren gemeinsam angepackt und fortgesetzt wer-
den müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen, dass der Bologna-Bericht die Realität
endlich differenziert wiedergibt, statt sie schönzufärben.
In allen Folgeberichten muss deshalb belegt werden,
welche Konsequenzen aus den im Jahr zuvor ausgespro-
chenen Handlungsempfehlungen wirklich gezogen wor-
den sind.

Das gilt insbesondere für die größte Bologna-Bau-
stelle hierzulande: die soziale Öffnung der Hochschulen.

Wir wollen eindeutig mehr Bildungsaufsteiger für ein
Studium erreichen. Dafür brauchen wir deutlich mehr
Studienplätze, eine Verdopplung des Hochschulpakts
und flächendeckend bessere Studienbedingungen. Ihr
Qualitätspakt Lehre, den Sie so gerne anführen, kommt
nur wenigen Hochschulen zugute.

Wir brauchen auch endlich konkrete BAföG-Reform-
vorschläge, mit denen Bildungsministerin Schavan auf
die Länder zugeht. Die grüne Perspektive eines Zwei-
Säulen-Modells haben wir hier mehrfach angesprochen.
Der letzte BAföG-Bericht darf nicht einfach in der
Schublade des Ministeriums verschwinden.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Tut er auch nicht!)


Wir brauchen gezielte Investitionen in die soziale
Infrastruktur an den Hochschulen, also den Ausbau von
Studien- und Sozialberatung, von studentischem Woh-
nen und der Infrastruktur, zum Beispiel Kinderbetreu-
ung. Hier muss deutlich mehr passieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Das ist Sache der Kommunen, Herr Gehring!)


Die oberste Leitlinie für die soziale Dimension muss
deshalb sein, die gesellschaftliche Vielfalt und Diversity
auf dem Campus zu erhöhen. In diesem Sinne muss Frau





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Schavan gemeinsam mit KMK, Ländern und Hoch-
schulen vor Ort die Ärmel hochkrempeln und handeln.

Nach 13 Jahren den Bologna-Umbauprozess rückab-
zuwickeln, wie es die Linksfraktion immer wieder for-
dert, ist falsch und realitätsfern. Bologna muss besser
werden. Das heißt: Überstrukturierung runter und Frei-
räume zu selbstbestimmtem Lernen rein!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717827500

Herr Kollege.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717827600

So bekommen wir dann auch in einer angemessenen

Zeit


(Heiterkeit)


eine echte Qualitätsreform hin und nicht nur eine Stu-
dienstrukturreform.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717827700

Bekanntlich sind die Auffassungen darüber, was eine

angemessene Redezeit ist, sehr unterschiedlich.

Ich gebe das Wort dem Kollegen Tankred Schipanski
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1717827800

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Es ist ja nicht die erste bildungspolitische De-
batte am heutigen Tage, und es ist insgesamt sicherlich
auch nicht die letzte. Heute geht es um zwei Themen,
zum einen um den vierten Bericht der Bundesregierung
zur Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland
und zum anderen um den SPD-Antrag, den wir bereits in
erster Lesung am 9. Februar in diesem Hohen Hause be-
handelt haben. Dieser Antrag der SPD ist Bestandteil ei-
ner Antragsreihe. Wir haben vorhin gehört: Es kommen
immer neue Pakte, neue Geldgießkannen, aber es ist im-
mer der gleiche Inhalt. Ich darf Ihnen einmal aufzeigen,
dass die Themen, die Sie hier immer wieder vorwurfs-
voll, klagend und voller Mitgefühl vortragen, allesamt
abgeräumt sind.

Wenn Sie heute Morgen richtig zugehört haben – das
war ja das reine Wahlkampfschaulaufen Ihrer Landes-
minister; die haben Sie hier in die Bütt geschickt –,


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Ihren Ministern ist ja kein Staat zu machen!)


dann haben Sie auch mitbekommen, dass unsere Redner,
allen voran die Bundesministerin Schavan und der Frak-
tionsvize Michael Kretschmer, Sie in die Wirklichkeit
zurückgeholt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


„Wirklichkeit“ heißt, dass der vorliegende Antrag und
viele Ihrer schallplattenartig vorgetragenen Redebei-
träge, Herr Schulz, die Sie hier immer wieder leisten,
überholt sind.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Da haben Sie recht!)


Thema Hochschulbau. Vonseiten des Bundes gab es
heute klare Bekenntnisse. Die Länder sind sich noch un-
eins.

Thema Kooperationskultur. Vonseiten des Bundes
liegt ein exzellenter Vorschlag auf dem Tisch. Wir war-
ten auf das Votum der Länder.

Thema Hochschulpakt. Der Bund steht klar zu seinem
Wort. Das haben Sie heute Morgen in der Debatte ge-
hört.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie noch etwas zum Bologna-Bericht?)


Thema BAföG. Das wurde vor kurzem erhöht.

Meine Damen und Herren, der Bund ist auf die Län-
der zugegangen. Er steht mit den Ländern in Verhand-
lungen. Sie sehen: Wir haben unsere Hausaufgaben ge-
macht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Butter bei die Fische!)


Ein Wort zu Ihnen, Herr Schulz. Sie sprechen hier
ganz groß über studentischen Wohnraum und Kindergär-
ten. Hierbei kommt es doch ganz entscheidend auf die
Kommunen an. Sie unterscheiden nie, ob der Bund, die
Länder oder die Kommunen zuständig sind. Schauen wir
uns einmal Thüringen an. Hier finden gerade Landrats-
wahlen und Bürgermeisterwahlen statt. Herr Rossmann,
wir haben uns heute über die Äußerungen des Thüringer
Kultusministers aufgeregt, der bei den Kommunalwah-
len zu rot-roten Bündnissen aufgerufen hat. Er hat heute
nicht als Minister, sondern als Landesvorsitzender der
SPD gesprochen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie zu Bologna reden?)


Wie sieht es in der Heimatstadt des Ministers Matschie,
in Jena, aus? In der Stichwahl hat sich der SPD-Bürger-
meister wieder durchgesetzt. Ich habe fieberhaft im
Wahlkampf geholfen. Dort gibt es keinen ausreichenden
Wohnraum für Studierende. Man kümmert sich auf kom-
munaler Ebene anscheinend nicht um diese Dinge.

Lassen Sie mich zum vierten Bologna-Bericht der
Bundesregierung kommen. Wir haben gehört – Staats-
sekretär Braun hat das an vielen Beispielen eindrucks-
voll aufgezeigt –: Wir sind auf einem guten Weg, und
das, obwohl wir Studienanfängerzahlen haben, von de-
nen wir damals gar nicht zu träumen wagten. Natürlich
gibt es noch Handlungsbedarf. Aber es ist oftmals nur
Handlungsbedarf, bei dem gesetzgeberisches Wirken
nicht möglich ist. Es liegt gerade in der Autonomie der
Hochschulen, wie ein Studiengang strukturiert wird, wie
Fristen für das Einschreiben in Seminare festlegt wer-





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


den, wann eine Klausur gestellt wird und wie viele Klau-
suren geschrieben werden. Ob eine Klausur am Semes-
teranfang korrigiert sein muss oder nicht, kann man doch
nicht gesetzlich bestimmen. Das liegt in der Organisa-
tionshoheit der Hochschule. Hier können wir nur für Ef-
fizienz werben und die Verwaltungen sensibilisieren.

Auf Ihrem Wunschzettel steht auch Etliches zu den
Masterstudiengängen; das Thema musste heute erwähnt
werden. Wir haben dazu einen festen Standpunkt: Jeder,
der die Leistung bringt, soll einen Masterstudienplatz er-
halten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Welche Leistung? Wie messen Sie das?)


Das geschieht in dem Bewusstsein, dass es beim Master
um eine wissenschaftliche Vertiefung geht. Der Regelab-
schluss ist der Bachelor. Dazu haben Sie heute die Fak-
ten gehört. Bachelorabsolventen sind seltener arbeitslos


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Höre ich da eine Differenz zu Staatssekretär Braun?)


und werden seltener unterhalb ihres Qualifikationsni-
veaus beschäftigt. Auf dem Arbeitsmarkt ist die Akzep-
tanz für diesen Abschluss vorhanden. Es gibt zum Bei-
spiel Aktionen wie „Bachelor Welcome“ vonseiten der
deutschen Wirtschaft.

Die Frage der Masterstudienplätze muss fachspezifisch
beantwortet werden. Natürlich gibt es Studiengänge, bei
denen der Master als Regelabschluss empfehlenswert ist.
Doch unsere differenzierte Hochschullandschaft macht
auch hier differenzierte Angebote. Ich freue mich, dass
es vor allem durch das Engagement Deutschlands auf
der Bologna-Konferenz erstmals gelungen ist, festzu-
schreiben, dass es beim Bachelor nicht nur um Beschäf-
tigungsfähigkeit geht, sondern dass es auch um das Stu-
dienziel der Allgemeinbildung geht, so wie wir das in
Deutschland im Sinne des Humboldt’schen Bildungside-
als kennen.

Abschließend ein Blick auf die Mobilität. Ein wichti-
ger Schwerpunkt der Konferenz in Bukarest war die wei-
tere Stärkung der internationalen Mobilität. Auslands-
aufenthalte sind gerade für junge Menschen eine tolle
Gelegenheit, um sprachliche und kulturelle Erfahrungen
zu sammeln und sich persönlich weiterzuentwickeln. Im
Jahr 2009 ist die Zahl der deutschen Studierenden im
Ausland – nicht zuletzt dank der Mobilitätsförderung
durch den DAAD und das Auslands-BAföG – auf
115 500 gestiegen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Quote ist geringer als früher!)


Entscheidend ist für die jungen Menschen aber, dass der
im Ausland erworbene Abschluss bzw. die dort erworbe-
nen Scheine – darauf hat der Kollege Gehring zu Recht
hingewiesen – hier anerkannt bzw. angerechnet werden.
Hier haben wir noch ein Stück Arbeit vor uns; da haben
Sie völlig recht.

Ich bin aber überzeugt davon, dass wir auf einem gu-
ten Wege sind. Ich freue mich bereits auf die nationale
Bologna-Konferenz, die im Herbst stattfinden wird,


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wird die wieder so peinlich wie die letzte?)


um weiterhin mit allen Akteuren in einem intensiven
Dialog zu bleiben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717827900

Der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann hat jetzt das

Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1717828000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Staatssekretär Braun, über den Bologna-Prozess ist
differenziert gesprochen worden. Darum möchte ich
noch einmal für den besonderen Akzent werben, den
wir mit unserem Antrag „Die soziale Dimension von
Bologna stärken“ in die Diskussion hineinbringen wol-
len.

Dieser soziale Akzent begründet sich auf eine Tatsa-
che, die auch beim Staatssekretär anklang. Früher hatten
wir Studienabbrecherquoten von rund 20 Prozent zu ver-
zeichnen. Wir mussten feststellen, dass diese Zahl bei
den Fachhochschulen dramatisch nach oben und jetzt
wieder nach unten gegangen ist. Bei den Universitäten
liegt diese Quote leider immer noch auf einem zu hohen
Niveau.

Wenn die Bundesregierung im Hinblick auf die Ver-
besserung der Qualität der Lehre diesen Gesichtspunkt
aufgenommen hat, ist das sicherlich eine gute Initiative;
darüber müssen wir gar nicht streiten. Aber das ist nicht
der einzige Gesichtspunkt. Im Anschluss an die Debatte
im Februar wurde uns seitens der Wissenschaft aufge-
zeigt, wie sich der Stress an den Hochschulen bei den
Studierenden niederschlägt, unter anderem mit markan-
ten Untersuchungsergebnissen, die aufzeigen, wie viele
Medikamente genommen werden, um mit dem Stress
klarzukommen.

Ich finde, das ist nicht banal, sondern das ist ein Aus-
druck für das Phänomen einer Überlastung, das sich spe-
ziell an den Universitäten zeigt. Wenn dieses Phänomen
von uns mit unserer Vorstellung von besseren Studier-
und Arbeitsbedingungen angegangen wird, dann ist das
wichtig und nicht in Bezug auf das BAföG zu diffamie-
ren.

Genauso wichtig ist es, die Studierenden in Bezug auf
ihre Wohnbedürfnisse zu unterstützen. Hier ist Stress im
Grunde vorprogrammiert. Einerseits freuen wir uns, dass
es inzwischen 2,2 Millionen Studierende gibt; anderer-
seits wissen wir aber auch, dass es zu Problemen kom-
men wird, wenn das Wohnungsangebot nicht entspre-
chend mitwächst.





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)


Es geht darum, mitzudenken und nicht nur die Zahlen
für sich alleine zu betrachten. Wir müssen uns überle-
gen, was das Ganze im Hinblick auf das BAföG, die
Wohnraumproblematik, die wachsenden Bedarfe an Stu-
dienberatung oder die Unterstützung in Stresssituationen
und psychischen Belastungssituationen bedeutet. Das
meinen wir, wenn wir von der sozialen Dimension spre-
chen.

Diese Dimension kommt auch noch an einer anderen
Stelle zum Tragen, die ich noch kurz erwähnen darf. Wir
freuen uns, dass nicht nur bei der Zahl der Studierenden,
die aus Deutschland ins Ausland gehen, ein Anstieg zu
verzeichnen ist, sondern dass auch mehr ausländische
Studierende zu uns nach Deutschland kommen. Bei die-
ser Gruppe gibt es jedoch besonders hohe Abbrecher-
quoten zu verzeichnen; diese Studierenden haben bei-
spielsweise große Schwierigkeiten, Wohnraum zu finden
oder im Studium zurechtzukommen. Auch das meinen
wir, wenn wir von sozialer Dimension sprechen.

Seit der Februarinitiative haben wir lediglich von den
Repräsentanten der Studentenwerke zusätzliche Verstär-
kung bekommen, die sagen, dass sich die Kommunen,
die Länder, aber auch der Bund mit engagieren müssen.
Auch wenn Sie unseren Antrag heute ablehnen, wird Ih-
nen das Problem letztlich keine Ruhe lassen. Das Thema
liegt auf Wiedervorlage; wir von den Sozialdemokraten
bleiben am Ball.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Februar hat es eine interessante Äußerung seitens
der Bundesbildungsministerin gegeben. Am 23. Februar
2012 hat Frau Schavan gesagt: „Die Politik hat Fehler
gemacht.“ In diesem Zusammenhang hat sie deutlich ge-
sagt, was bei der Studienreform falsch gelaufen ist, zum
Beispiel die Verkürzung der Reform auf ökonomische
Aspekte.

Die Ministerin hat darauf hingewiesen, dass sie eine
Expertenkommission einberufen hat. Diese Kommission
besteht allerdings aus nur drei Professoren, die die Bil-
dungsidee wieder in das Studium nach der Bologna-
Struktur hineindenken sollen, Stichworte: Humboldt,
Bildung durch Wissenschaft. Herr Kollege Braun, wir
sagen Ihnen: Sie sollten parallel dazu auch eine Studen-
tenkommission einberufen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


um die Bologna-Konferenz im Herbst nicht mit dem al-
ten Fehler zu belasten, den die Ministerin schon einmal
begangen hat, als sie den studentischen Weckruf „Macht
keine Fehler bei Bologna!“ als gestrig bezeichnet hat.
Noch ist es nicht zu spät, noch haben Sie die Chance, die
nächste Bologna-Konferenz auch über die studentische
Seite mit vorbereiten zu lassen.

Meine Schlussbemerkung: Wenn wir dahin kommen
wollen, dass Bildung durch Wissenschaft in der Bologna-
Studierstruktur wieder stärker mit einer gemeinsamen
Bildungsidee einhergeht, dann kann das nicht allein die
Weltbürgeridee sein, wie sie bei Ihnen durchklang. Wir
glauben, dass Bologna ein europäischer Hochschulraum

ist. Darum muss auch eine europäische Bildungsidee da-
mit einhergehen. Dann hätte Bologna auch eine Solidari-
tätsidee.

Im Zuge der Austeritätspolitik, die manche Länder
derzeit leider erleben müssen – Portugal, Spanien, Grie-
chenland –, stellen wir fest, dass dort vor allen Dingen
an der Bildung gespart wird und sich die Bedingungen
an den Hochschulen verschlechtern.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dann muss man eben gegen die Austeritätspolitik stimmen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717828100

Herr Kollege.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1717828200

Thema einer nächsten Bologna-Konferenz kann auch

sein – das wollten wir Ihnen gerne mitgeben –: Wie
schafft man in allen Ländern die Chance, Bildung in Be-
zug auf den europäischen Erfahrungsraum positiv zu er-
leben? Denn Bologna ist gemeinsames Studieren, und
Bologna ist auch Solidarität.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717828300

Ich schließe die Aussprache.

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage
auf Drucksache 17/8640 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse zu überweisen. Damit sind Sie
einverstanden? – Dann ist es so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Die soziale Dimension von Bologna stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9604, den Antrag abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen. Die SPD-Fraktion hat dagegen gestimmt,
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke haben sich ent-
halten.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 a bis c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth (Esslingen), Dr. Barbara Hendricks,
Dr. Bärbel Kofler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute
Koczy, Uwe Kekeritz, Thilo Hoppe und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Neuausrichtung der Europäischen Entwick-
lungspolitik für mehr Kohärenz und wirksame
Armutsbekämpfung

– Drucksache 17/9553 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weite-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht,
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Die Neuausrichtung der EU-Entwicklungs-
politik – Für eine wirksame, ergebnisorien-
tierte, länder- und regionenspezifische euro-
päische Entwicklungszusammenarbeit

– Drucksache 17/9424 –

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Entwicklungszusammenarbeit der Europäi-
schen Union – Partnerschaft statt interessen-
geleitete Bevormundung

– Drucksache 17/9461 –

Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Karin Roth hat das Wort
für die SPD-Fraktion.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1717828400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Es ist spät am Abend. Trotz allem ist die-
ses Thema wichtig, weil es bei der europäischen Ent-
wicklungspolitik im wahrsten Sinne des Wortes auch um
eine neue Zeit innerhalb der Europäischen Union geht.
Das müssen wir wahrnehmen, wenn wir über Entwick-
lungspolitik reden. Natürlich geht es in Europa zurzeit
vor allem um die Stabilisierung der Finanzen und der
Wirtschaft. Es geht aber auch um Entwicklungspolitik,
weil Wirtschaft und Entwicklung zusammengehören.

Die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten
waren im Jahr 2010 mit zusammen rund 54 Milliarden
Euro der weltweit größte Geber öffentlicher Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit. Damit diese Mittel
auch die größtmögliche Wirkung bei der Armutsbe-
kämpfung erzielen, sind jedoch eine bessere Abstim-
mung und eine klare Arbeitsteilung innerhalb der Euro-
päischen Union erforderlich, um Doppelstrukturen zu
vermeiden. Dazu brauchen wir mehr Kohärenz in den
einzelnen Politikbereichen und vor allen Dingen mehr
Transparenz und eine bessere Koordinierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hier kommt der Europäischen Union eine Schlüssel-
funktion zu, indem die Kommission innerhalb der Euro-
päischen Union gemeinsam mit allen Mitgliedstaaten die
Strategien, Ziele, Programme und Schwerpunkte fest-
legt. Die angestrebten differenzierten Entwicklungspart-
nerschaften und die Konzentration auf die am wenigsten
entwickelten Länder und auf Subsahara-Afrika sollten
daher die Leitlinie für die Mitgliedstaaten sein und die
Politik auch in unserem Land bestimmen.

Angesichts der Neuorientierung der europäischen Au-
ßenpolitik, die die Entwicklungspolitik besonders mitbe-
stimmt – wir haben nur noch nicht richtig wahrgenom-
men, dass das in Europa zusammengehört –, und vor
allen Dingen angesichts der Verlagerung von Aufgaben
aus den Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene, in
multilaterale Politikfelder kommt es darauf an, dass wir
in Europa unsere Stimme erheben, und zwar auch parla-
mentarisch und nicht nur durch die Regierungen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine starre Quote bei der bi- und multilateralen finan-
ziellen Zusammenarbeit, wie sie sich die Bundesregie-
rung derzeit noch auferlegt, ist aus meiner Sicht für die
Europäische Union und die europäische Ebene nicht
handlungsleitend, sondern eher fesselnd. Daher sollte sie
aufgehoben werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung der ein-
zelnen Förderbereiche innerhalb der Europäischen
Union und der multilateralen Institutionen – zum Bei-
spiel WHO, Globaler Fonds oder Weltbank –, also der
beiden Ebenen zusammen, sind die Herausforderungen,
die wir bewältigen müssen. Das ist kompliziert; gar
keine Frage. Wenn wir das nicht schaffen, sind wir nicht
effizient und agieren nicht im Interesse der Menschen in
den Entwicklungsländern.

Dem Ministerrat kommt hierbei eine besondere Auf-
gabe zu. Deshalb beobachten wir im Entwicklungsaus-
schuss die Politik des Ministerrates.

Die SPD begrüßt die Neuausrichtung der europäi-
schen Entwicklungspolitik, die eine stärkere Armuts-
bekämpfung und vor allen Dingen mehr Kohärenz
vorsieht. Vor dem Hintergrund, dass die acht Millen-
niumsziele nicht erreicht worden sind, ist die Konzentra-
tion auf die Armutsbekämpfung im Zusammenhang mit
der Programmierung unserer Politik besonders wichtig.
Darüber sind wir uns im Ausschuss fast immer einig.

Ich bin sicher, dass die Weiterentwicklung der Millen-
niumsziele auf der Basis der Verwirklichung der Men-
schenrechte und verantwortungsvoller Staatsführung zu
einem nachhaltigen und breitenwirksamen Wachstum
führen wird. Eine Voraussetzung dafür ist – das kann ich
Ihnen heute Abend nicht ersparen –, dass die zugesagten
Finanzmittel von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
bis 2015 nicht nur von der Europäischen Union erreicht
werden müssen, sondern vor allen Dingen auch von uns.


(Beifall des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])


Aber wir wissen schon jetzt, dass das Deutschland trotz
aller Lippenbekenntnisse nicht erreichen wird. Ich sage
es noch einmal deutlich: Die schwarz-gelbe Regierung
hat an dieser Stelle versagt, obwohl wir eine große
Mehrheit im Bundestag haben, die dieses Ziel unter-
stützt. Schade darum! Das ist wenig glaubwürdig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)


Umso mehr begrüßen wir es, dass die Europäische
Kommission an dem vereinbarten Ziel festhält und sogar
einen Stufenplan vorgelegt hat. In diesem Zusammen-
hang begrüßen wir es auch, dass die Kommission die oft
umstrittene Budgethilfe ausdrücklich als einen wichtigen
Baustein für Infrastruktur vor allen Dingen beim Aufbau
von sozialen Sicherungssystemen in den Ländern erach-
tet und sich dazu bekennt.

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die allge-
meine und sektorale Budgethilfe jenseits von einzelnen
multilateralen und bilateralen Programmen für die Ent-
wicklung der Zivilgesellschaft und der Parlamente ein
wichtiges Instrument ist. Sie hat also nicht nur eine Wir-
kung im wirtschaftlichen, sondern auch im politisch-
demokratischen Sinne. Sie ist deshalb aus meiner Sicht
ein Instrument, das wir weiterführen müssen.


(Beifall bei der SPD)


Wir erwarten allerdings von der Europäischen Union,
dass die Frauenförderung als Querschnittsaufgabe über-
all verwirklicht wird. Das ist in den einzelnen Ländern
schwierig – das wissen wir –, aber gerade deshalb müs-
sen wir umso mehr dafür sorgen, dass die Gender-Frage
im Rahmen der Budgethilfe und der Programmierung in
den Mittelpunkt gerückt wird. Frauen – das ist keine
Frage – sind der Motor für die Entwicklung. Das haben
wir oft genug in diesem Parlament erwähnt.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Zudem muss das Parlament in den jeweiligen Partner-
ländern in den Prozess integriert werden. Bei unseren
Bundestagsreisen erfahren wir oft, wie wichtig es ist,
dass das Parlament an Kompetenz gewinnt, so wie wir
das zumindest in Deutschland gewöhnt sind, und nicht
außen vor bleibt. Es besteht die große Chance, inner-
staatliche Transparenzsysteme aufzubauen, zum Beispiel
einen Rechnungshof. Es wäre ein Grund zum Feiern,
wenn das gelingen würde, aber auch wenn die Zivilge-
sellschaft in die Lage versetzt würde, Haushalte zu lesen
und darüber zu diskutieren, wie das zur Verfügung ste-
hende Geld verwendet wird.

Kürzlich hat mir bei einem Aufenthalt in Sambia der
deutsche Botschafter bestätigt, wie wichtig das Instru-
ment der Budgethilfe in den Regierungsverhandlungen
ist. Er betont, dass es in diesem Zusammenhang um eine
Partnerschaft auf Augenhöhe geht. Es ist wichtig, dass
die Geberländer gemeinsam mit den Partnerländern ent-
sprechende Schritte machen, aber auch eine Evaluation
durchführen, wodurch eine neue Kompetenz in der Poli-
tik entsteht. Das ist meiner Meinung nach der eigentliche
Mehrwert der Budgethilfe: Sie organisiert gegenseitiges
verlässliches Vertrauen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kohärenz spielt aber nicht nur im Bereich der Ent-
wicklungshilfe, sondern auch in allen anderen Bereichen
eine Rolle. Sie ist nicht nur für den Bereich erneuerbare
Energien wichtig, sondern auch für den Klimaschutz,
faire Handelsbeziehungen und Rohstoffabkommen. Es
bringt nichts, wenn wir nur innerhalb der Entwicklungs-

politik auf Kohärenz achten. Die Politikfelder insgesamt
müssen kohärent sein. Ich denke, dass das nicht nur un-
sere Aufgabe ist, sondern auch Aufgabe der Europäi-
schen Union.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sehr richtig!)


In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass
ich sehr froh darüber bin, dass es die Richtlinie der EU
zur sozialen Verantwortung der Unternehmen, die neue
CSR-Strategie, gibt. Sie ist ein wichtiges Element, wenn
es darum geht, unsere Arbeit für menschenwürdige Ar-
beitsbedingungen und gegen Ausbeutung und Kinderar-
beit zu unterstützen. Ich denke, wenn wir all dies beden-
ken, wird ein Schuh daraus.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717828500

Frau Kollegin Roth.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1717828600

Ich freue mich sehr darüber, dass wir diesen Antrag

heute gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen auf den
Tisch gelegt haben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717828700

Frau Kollegin?


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1717828800

Ich habe gehofft, dass wir gemeinsam mit CDU/CSU

und FDP einen Antrag vorlegen. Ich hatte mir das sehr
gewünscht. Differenzen sind zwar vorhanden, aber sie
sind nicht so groß, dass man sich nicht hätte einigen kön-
nen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717828900

Frau Kollegin!


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1717829000

Stimmen Sie heute Abend einfach zu. Das wäre nicht

so schlecht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Sinne wünsche ich uns, dass wir diese Be-
ratungen fortsetzen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717829100

Frau Kollegin, auf jeden Fall setzt sich Ihre Redezeit

jetzt nicht mehr weiter fort.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1717829200

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.

Ich glaube schon, dass es gelungen wäre,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


wenn wir alle das hätten schaffen wollen. Ich hoffe auf
bessere Zeiten.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717829300

Die Kollegin Anette Hübinger hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1717829400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Roth, wir
hätten das vielleicht geschafft. Aber erinnern Sie sich
einmal an eine bestimmte Ausschusssitzung: Die Hand,
von der man gestreichelt werden will, sollte man nicht
beißen!


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Das ist der Grund, warum man manchmal nicht zusam-
menfindet, obwohl man es gerne würde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dennoch freue ich mich, dass wir heute diese Debatte
führen. Ich kann nachvollziehen, dass Sie sie lieber zu
einem anderen Zeitpunkt als jetzt, am späten Abend, ge-
führt hätten; denn in dieser Debatte setzen wir uns mit
einem Politikbereich auseinander, der in Zukunft auch
für unsere nationale Entwicklungszusammenarbeit von
Bedeutung sein wird. Diese Debatte unterstreicht auch
die Bedeutung der Europäischen Union im Rahmen des
entwicklungspolitischen Handelns. Sie verdeutlicht fer-
ner, welche Aufgaben, aber auch Chancen, für Europa,
Deutschland und unsere Partnerländer, in der Neuaus-
richtung der Entwicklungszusammenarbeit liegen und
was eine gute partnerschaftliche Zusammenarbeit bedeu-
tet. Dabei geht es auch um die partnerschaftliche Zusam-
menarbeit mit den Entwicklungsländern, die wir unter-
stützen.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden in ihrem
Handeln von Menschenrechten und Werten wie Freiheit,
Gleichheit, Demokratie sowie Rechtsstaatlichkeit gelei-
tet. Um diese Werte weiterzutragen, ist ein gemeinsames
Auftreten der Europäischen Union und der Mitgliedstaa-
ten ein Gebot der Zeit, zumal die EU – Frau Roth hat das
ja schon betont – gemeinsam mit den Mitgliedstaaten
mehr als die Hälfte der Mittel für die weltweite Entwick-
lungszusammenarbeit zur Verfügung stellt.

Zum Jahreswechsel hat die Kommission erneut – man
muss sagen: erneut – wegweisende Dokumente zur Ent-
wicklungszusammenarbeit und zur Budgethilfe vorge-
legt. Das ist ein weiterer Versuch, die europäische Ent-
wicklungszusammenarbeit, deren oberstes Ziel die
Armutsreduzierung ist, zwischen EU und Mitgliedstaa-
ten abzustimmen und damit gezielter, wirksamer und er-
gebnisorientierter zu gestalten. Das ist eine Herausforde-
rung, die angesichts der Situation in den Entwicklungs-
ländern, aber auch – mit Blick auf die Finanzkrise – an-
gesichts der Situation in den Geberländern ein Gebot der
Zeit ist. Diese Herausforderung muss endlich angepackt
werden.

Bereits vor 20 Jahren wurde die Verpflichtung, das
entwicklungspolitische Handeln nach den Grundsätzen
der Komplementarität, der Kohärenz und der Koordina-

tion auszurichten, im Maastricht-Vertrag festgeschrie-
ben. Zwischenzeitlich wurden immer wieder neue Ver-
einbarungen dazu getroffen: in 2006 der European
Consensus on Development, 2007 der Code of Conduct,
und 2009 wurden diese Grundsätze im Lissaboner Ver-
trag und im Vertrag über die Arbeitsweise der EU festge-
schrieben.

Trotz all dieser Übereinkünfte – so haben Untersu-
chungen gezeigt –, hat die EU in der Entwicklungszu-
sammenarbeit beim Spezialisierungsgrad und bei der
Vermeidung von Überschneidungen keinen signifikanten
Fortschritt erzielt. In einer ihrer letzten Mitteilungen zur
Handelspolitik hat die Kommission sogar einräumen
müssen, dass sie im Hinblick auf zwei ihrer Kernkompe-
tenzen, nämlich der Politikkohärenz und der Regionali-
sierung des Handels, in der Entwicklungszusammenar-
beit große Defizite aufweist. Auch die letzten Berichte
des Europäischen Rechnungshofes zu Bildung und Ge-
sundheit in der Entwicklungszusammenarbeit zeigen
dringenden Handlungsbedarf auf.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Richtig!)


Es bedarf also weiterer europäischer, aber auch nationa-
ler Anstrengungen, um allen vertraglich verankerten
Handlungsmaximen gerecht zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deutschland hat zwar in der bilateralen Entwick-
lungszusammenarbeit in den letzten Jahren eine stärkere
Sektor- und Länderfokussierung erzielt; das allein reicht
aber nicht aus. Dieser neue Versuch der Kommission
darf daher nicht zu einem weiteren Lippenbekenntnis
werden. Worten müssen Taten folgen. Ansonsten ver-
spielen wir, das heißt die EU und die Mitgliedstaaten,
die europäische Reputation im entwicklungspolitischen
Bereich.

Wir brauchen endlich ein abgestimmtes arbeitsteiliges
Miteinander der EU mit den Mitgliedstaaten und der
Mitgliedstaaten untereinander. Wir brauchen ein Mitei-
nander wie in einem Mannschaftsspiel, in dem jeder
Spieler seine Rolle kennt und konsequent spielt. Wir
brauchen eine gut aufgestellte EU, die Politikkohärenz
in allen Bereichen zugunsten einer effektiven Entwick-
lungspartnerschaft als Dreh- und Angelpunkt ihres Han-
delns begreift. Hierzu bieten die Vorschläge der Kom-
mission eine gute Grundlage. Ausdrücklich begrüßen
wir daher, dass sich die EU in der Entwicklungszusam-
menarbeit auf eine kleinere Anzahl von Staaten be-
schränken und sich auf die am wenigsten entwickelten
Staaten konzentrieren will. Da haben wir einen Konsens.

Auch die Konzentration auf maximal drei Bereiche
pro Land, in denen sie die größte Wirkung erzielen kann,
unterstützen wir; denn das befördert die erforderliche
Spezialisierung. Wir begrüßen auch die differenzierte
Herangehensweise in Entwicklungspartnerschaften auf
der Basis von Länderstrategien, die gemeinsam mit den
Partnerländern erstellt werden, sowie die gemeinsame
Programmierung mit den Mitgliedstaaten. Die geplante
zeitliche Abstimmung der gemeinsamen Programmie-
rung mit den Strategiezyklen der Partnerländer ist si-
cherlich wegweisend. Wir begrüßen nicht zuletzt die an-





Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)


gestrebte Vereinfachung und Flexibilisierung der Finanz-
instrumente und die stärkere Fokussierung auf Pro-
gramme und Maßnahmen, die ein breitenwirksames und
nachhaltiges Wachstum fördern. Schließlich begrüßen
wir die Konditionierung der allgemeinen und sektoralen
Budgethilfe.

Diese Ansätze unterstreichen die Ownership der Part-
nerländer, und sie vermeiden Überschneidungen der Pro-
gramme und Projekte. Sie beinhalten aber auch die Auf-
forderung an die Mitgliedstaaten, ihrerseits die nationale
Entwicklungszusammenarbeit genauer unter die Lupe zu
nehmen. Diese muss sich stärker an der eigenen Exper-
tise ausrichten und spezialisieren. Länderlisten müssen
abgestimmt aufgestellt werden, damit keine Geberwai-
sen entstehen.

Inhalte und Ausgestaltung der Zusammenarbeit wer-
den maßgeblich durch die Aufgabenverteilung und die
Struktur des Zusammenwirkens von EU und Mitglied-
staaten bestimmt. Maßstab sind dabei immer Armutsre-
duzierung, Wahrung der Menschenrechte, Rechtsstaat-
lichkeit und Demokratisierung. Wo der Rahmen nicht
stimmt, ist die Gefahr groß, dass die entwicklungspoliti-
schen Maßnahmen ihre Wirkung nicht voll entfalten.
Das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit ziehen
müssen. Daher fokussiert sich der Antrag der christlich-
liberalen Koalition auch auf die Ausgestaltung des Mit-
einanders, um endlich die gewünschte Effizienz, Kohä-
renz und Kompatibilität sowie Synergieeffekte in der
Entwicklungszusammenarbeit zwischen der EU und den
Mitgliedstaaten zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind der Ansicht, dass die neuen Mitteilungen der
Europäischen Kommission zur Entwicklungspolitik, die
viele Aspekte und Ansätze der deutschen Entwicklungs-
zusammenarbeit enthalten, noch weiter konkretisiert
werden müssen. Dies erscheint uns besonders unter dem
Gesichtspunkt einer größeren Akzeptanz der Aufgaben-
verteilung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten,
aber auch zur Erreichung von mehr Wirksamkeit und
Transparenz geboten.

Folgende vier Punkte aus unserem Antrag möchte ich
deshalb hervorheben:

Erstens. Eine klare Abgrenzung der Aufgabenfelder
ist notwendig. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass
sich die EU lediglich als 28. Geber in den Reigen der
27 Mitgliedstaaten einreiht. Vielmehr sollte die Europäi-
sche Union ihre Stärke in den Vordergrund rücken, die in
einem Mehrwert ihres Handelns aufgrund ihrer Kompe-
tenz und ihrer Finanzkraft gerade in Bezug auf große
Strukturmaßnahmen und regional übergreifendem Han-
deln besteht.

Zweitens. Um eine Entwicklungszusammenarbeit aus
einem Guss zu erreichen, muss die EU die Expertise der
Mitgliedstaaten verstärkt einbinden. Gerade bei der Auf-
stellung der Länderstrategien und der geplanten gemein-
samen Programmierung sowie bei der Durchführung der
Maßnahmen ist deren Mitwirkung unerlässlich.

Drittens. Dasselbe gilt auch bei der Vergabe und Kon-
trolle der Budgethilfe, die immer wieder Anlass für teil-
weise sehr kontrovers geführte Diskussionen ist. Die
Mitgliedstaaten müssen künftig auf Basis ihrer Länder-
kenntnis mitentscheiden können, ob die Voraussetzun-
gen zur Vergabe von Budgethilfe der EU an ein Partner-
land gegeben sind, um eine bessere Rückkopplung zu
ihrer eigenen nationalen Handhabung der Vergabe zu ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch bedarf es einer Nachjustierung bei der Vergabe
der sektoralen Budgethilfe. Allgemeine und sektorale
Budgethilfe müssen derselben Konditionierung unterlie-
gen; denn beide sind Anreize zur Förderung einer guten
Regierungsführung. Nur so kann ein einheitliches und
transparentes Verfahren bei diesem Finanzinstrument si-
chergestellt werden. Ginge man nach unterschiedlichen
Kriterien vor, wäre die Gefahr groß, dass grundlegende
Voraussetzungen zum Erhalt von Budgethilfe wie Ach-
tung der Menschenrechte, Demokratiestandards und
Rechtsstaatlichkeit umgangen werden, indem die weni-
ger konditionierte sektorale Budgethilfe in Anspruch ge-
nommen wird.

Viertens. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Einbin-
dung des Europäischen Entwicklungsfonds in den allge-
meinen Finanzrahmen, ohne dabei die gesamten Mittel
der Entwicklungszusammenarbeit auf europäischer Ebene
zu reduzieren. Dies ist ein Gebot der Haushaltsklarheit
und der parlamentarischen Kontrolle und muss strikt
weiterverfolgt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich bitte Sie, un-
sere Forderungen gemeinsam mit Herrn Minister Niebel
auf den Weg zu bringen.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Genau! Überzeugen Sie sie mal!)


Wir sind überzeugt, dass er diese Forderungen nächste
Woche im Ministerrat mit Verve vertreten wird und mit
Sicherheit auch seine Kolleginnen und Kollegen dort
überzeugen kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD] – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ein glühender Verfechter der Budgethilfe, der Minister!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717829500

Heike Hänsel hat das Wort für die Fraktion die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717829600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wir sprechen heute über die Neuaus-
richtung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit
unter der Überschrift „Agenda für den Wandel“. Dies ge-
schieht in einer Zeit, in der sich die Europäische Union





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)


in ihrer größten finanziellen und wirtschaftlichen Krise
befindet. Das europäische Integrationsmodell hat mit der
Lissabon-Strategie auf ein neoliberales Wirtschaftsmo-
dell gesetzt, mit der Konkurrenz – jetzt muss vor allem
die FDP gut zuhören – um die niedrigsten Löhne, die
niedrigsten Steuersätze und die niedrigsten Sozialstan-
dards, verbunden mit Deregulierung, Liberalisierung
und der größtmöglichen Freiheit für Kapital und Unter-
nehmen. Wir müssen feststellen: Die Krise zeigt, dass
dieses Modell gescheitert ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenige Länder profitieren davon, aber die Mehrheit ver-
liert.

Nun will die EU ausgerechnet in der Entwicklungszu-
sammenarbeit diese gescheiterten Instrumente für die
Armutsbekämpfung einsetzen. Im Papier der Kommis-
sion steht: Wachstum, gutes Geschäftsklima,


(Patrick Döring [FDP]: Gut!)


Handelsliberalisierung,


(Patrick Döring [FDP]: Sehr gut!)


Stärkung des Privatsektors,


(Patrick Döring [FDP]: Wunderbar!)


Integration der ärmsten Länder in den Welthandel,


(Patrick Döring [FDP]: Bestens!)


Ausweitung privat-öffentlicher Projekte,


(Patrick Döring [FDP]: Noch besser!)


noch mehr Freihandelsabkommen usw.


(Patrick Döring [FDP]: Super!)


Diese ganze verfehlte Politik unter der Überschrift
„Agenda für den Wandel“ soll also auf die Länder des
Südens ausgeweitet werden.


(Patrick Döring [FDP]: Schauen Sie mal nach Nordkorea! Da sieht es nicht gut aus!)


Das ist in unseren Augen ein Programm für mehr Armut
und nicht für Armutsbekämpfung.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Isolationismus à la Nordkorea hilft nicht weiter!)


Daneben sollen auch noch die Finanzmärkte, die ja
selbst gerade durch enorme Spekulationen mit Nah-
rungsmitteln und Agrarrohstoffen zur weltweiten Armut
beigetragen haben, in Bezug auf die Finanzierungs-
instrumente eine größere Rolle spielen. Auch das ist völ-
lig kontraproduktiv.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Armut ist kontraproduktiv! Da haben Sie recht!)


So beurteilt zum Beispiel auch CONCORD, ein
Bündnis europäischer Entwicklungsorganisationen,
diese Agenda für den Wandel mit den Worten: Die EU
betreibt mit diesem Konzept statt Armutsbekämpfung in
Entwicklungsländern eine Politik für ihre eigenen Inte-

ressen und für die eigene politische Ausrichtung, die
durch sie dominiert wird und nicht die Mitbestimmung
der Entwicklungsländer in den Mittelpunkt stellt. – Die
Mittel fließen in Investitionen im Energie- und im Pri-
vatsektor,


(Patrick Döring [FDP]: Sehr gut!)


die eben auch vor allem im Interesse der Europäischen
Union liegen.

CONCORD warnt auch davor,


(Patrick Döring [FDP]: Die fliegt schon lange nicht mehr!)


dass die Reduzierung der Entwicklungszusammenarbeit
zum Beispiel für Mitteleinkommensländer ein großes
Risiko darstellt, da dort 75 Prozent der Armen weltweit
leben und die soziale Ungleichheit in diesen Ländern
teilweise größer ist als in Niedrigeinkommensländern.

Das zeigt sich übrigens auch im Bereich der Gemein-
samen Agrarpolitik der EU. Auch hierzu gibt es Reform-
vorschläge. Insgesamt wird jedoch weiterhin stark auf
den Export in die Länder des Südens gesetzt, der die
Existenz von Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbau-
ern gefährdet und deshalb nicht armutsbekämpfend aus-
gerichtet ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Vor allem von den Chinesen! – Patrick Döring [FDP]: Wir würden auch nach Nordkorea exportieren, wenn sie das zulassen würden!)


Wir begrüßen grundsätzlich das Mittel der Budget-
hilfe. Wir halten es für ein sehr zukunftsweisendes In-
strument zur Armutsbekämpfung. Es kann selbstbe-
stimmte Entwicklungen und vor allem auch den Aufbau
von sozialen Sicherungssystemen und Gesundheitssyste-
men ermöglichen, aber nur dann, wenn es eben nicht als
Sanktionsinstrument benutzt wird


(Beifall des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


und die EU nicht von vornherein vorschreibt, wie die
Länder ihre Politik ausrichten sollen – gegen diese Be-
vormundung wehren wir uns –, sondern wenn diese Län-
der ihre politische und wirtschaftspolitische Ausrichtung
und die Richtung, in die sie gehen wollen, selbst bestim-
men können.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Schön wäre es, wenn die Bürger und nicht diese komischen Machthaber das entscheiden könnten!)


Wir haben hier – das finde ich interessant – vor über
einer Stunde über einen Bericht der Enquete-Kommis-
sion „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ debattiert.
In dem Bericht wird Wachstum als politisches Ziel des
21. Jahrhunderts infrage gestellt und ausgeführt, dass
wir hier im Norden, wenn wir in den Ländern des Sü-
dens ernsthaft die Entwicklung voranbringen wollen,
weg müssen von diesem Wachstumswahn und diesem





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)


enormen Rohstoffverbrauch. Das findet sich in dieser
Agenda aber leider nicht wieder. Das halten wir für ein
großes Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Weg von der Profitorientierung: Das ist im Grunde
das Gebot der Stunde. Weg von der Profitmaximierung
hin zu einer Politik des sozialen Ausgleichs und der So-
lidarität: Das wäre eine Antwort auf die Krise in Europa
und für mehr Entwicklung in den Ländern des Südens.

Es gibt übrigens weltweit Initiativen, die dafür auf die
Straße gehen. Nächste Woche werden Tausende von
Menschen in Frankfurt zur Blockupy kommen. Ich kann
nur dazu aufrufen: Kommt alle hin!

Danke.


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Peinlich!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717829700

Harald Leibrecht hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Harald Leibrecht (FDP):
Rede ID: ID1717829800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäi-
sche Union ist weltweit der größte Geber in der Entwick-
lungszusammenarbeit. Im Jahre 2010 belief sich das
Budget innerhalb der EU auf über 50 Milliarden Euro.
Frau Hänsel, ich glaube, Sie sind hier auf dem falschen
Dampfer, wenn Sie sagen, dass das, was die EU hier leis-
tet, nicht zielführend ist.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber für was denn? Wo wird es eingesetzt? Viel Geld für Wirtschaftsförderung!)


Die Europäische Union stellt mit der geplanten Neu-
ausrichtung ihrer Entwicklungspolitik die richtigen Wei-
chen hin zu größerer Wirksamkeit, verbesserter Koordi-
nierung, effizienterem Mitteleinsatz und der Förderung
von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrech-
ten. Mit der Agenda für den Wandel wird die Ausrich-
tung auf die Armutsbekämpfung bekräftigt und gleich-
zeitig ein stärkerer Fokus auf die Beseitigung der
Ursachen von Armut gelenkt. Die Förderung von brei-
tenwirksamem und nachhaltigem Wachstum spielt in
diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle.

Die EU-Entwicklungspolitik soll zukünftig gezielt
den Aufbau lokaler privatwirtschaftlicher Strukturen un-
terstützen,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Oh, oh! Hört! Hört!)


so zum Beispiel durch die Förderung kleiner und mittle-
rer Unternehmen oder durch den erleichterten Zugang zu
Wirtschafts- und Finanzdienstleistungen. Nur so können
Arbeitsplätze entstehen und die Menschen sich selber
aus ihrer Armut befreien.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber nicht in Konkurrenz mit EU-Unternehmen!)


Mit der Neuausrichtung sendet die Europäische
Union aber nicht nur ein wichtiges Signal nach außen,
sondern auch nach innen; denn im Kontext der Euro-
Krise, in der die Mitgliedstaaten selber enorme Spar-
anstrengungen unternehmen, um ihre Staatsverschuldun-
gen zu senken, steht die Europäische Union stärker denn
je in der Verantwortung, ihre Entwicklungszusammen-
arbeit transparenter, wirksamer und effizienter zu gestal-
ten. Ich sage das nicht zuletzt deshalb, weil wir als
Entwicklungspolitiker natürlich nicht wollen, dass in
Krisenzeiten als Erstes die Entwicklungszusammen-
arbeit dem Rotstift zum Opfer fällt. Deshalb ist es beson-
ders wichtig, dass die Entwicklungszusammenarbeit ge-
zielter, wirksamer und ergebnisorientierter wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit dem vorliegenden Antrag möchten die Koali-
tionsfraktionen mit Blick auf den EU-Entwicklungsmi-
nisterrat am 14. Mai dieses Jahres das Signal senden,
dass wir den neuen Kurs der Europäischen Union unter-
stützten. Unser Dank gilt Bundesminister Niebel, der die
deutsche Position auf EU-Ebene in weiten Teilen durch-
setzen konnte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte an dieser Stelle kurz auf den Antrag der
Linksfraktion zu sprechen kommen. Man muss sich
doch schon sehr wundern, wenn man dort liest, dass die
Europäische Union und die Mitgliedstaaten keinen An-
spruch darauf hätten, die Verwendung der Mittel nach
ihren Maßstäben zu kontrollieren. – Ich bin sehr ge-
spannt, wie Sie, meine Damen und Herren von den Lin-
ken, dies dem deutschen Steuerzahler erklären wollen.

Die Linke spricht sich in ihrem Antrag im Prinzip für
die bedingungslose Vergabe allgemeiner Budgethilfe
aus. Es sei ganz klar gesagt: Das ist eine vollkommen
rückwärtsgewandte Politik. Diese Vergabepraxis hat es
in der Vergangenheit gegeben.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Stimmt gar nicht!)


Dadurch wurden auch autoritäre Regime gestützt. Damit
muss ein für alle Mal Schluss sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das stimmt gerade nicht! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau wie mit den Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien! Damit müsste auch Schluss sein!)


Meine Fraktion ist nicht prinzipiell gegen die allge-
meine Budgethilfe. Nur müssen wir ganz genau hin-
schauen, wo und wie wir sie einsetzen möchten, damit
sie der jeweiligen Bevölkerung nutzt und nicht zweck-
entfremdet wird. Der arabische Frühling hat uns
eindringlich vor Augen geführt, dass die Entwicklungs-
zusammenarbeit nicht nur die Armutsbekämpfung, son-





Harald Leibrecht


(A) (C)



(D)(B)


dern auch die verantwortungsvolle Regierungsführung
im Blick haben muss.

Deshalb ist es vollkommen richtig, dass die Vergabe
allgemeiner Budgethilfe künftig an gemeinsame und
sehr strenge Kriterien geknüpft wird


(Beifall bei der FDP)


und dabei insbesondere gute Regierungsführung,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Gute Regierungsführung für Deutschland!)


die Achtung der Menschenrechte sowie Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit stärker berücksichtigt werden. Das
BMZ unter Dirk Niebel ist hier mit gutem Beispiel vo-
rangegangen


(Patrick Döring [FDP]: Mit sehr gutem Beispiel!)


und hat auf europäischer Ebene wichtige Impulse ge-
setzt. Die deutschen Beiträge zur Budgethilfe werden
nach strengen und transparenten Vergabekriterien ge-
währt und ständig überprüft.

Das konsequente Vorgehen des Bundesministers hat
bereits in einigen Fällen Wirkung gezeigt.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Wo ist er denn jetzt? Er fehlt ständig im Kabinett, und hier fehlt er auch!)


Ende 2010 hat Minister Niebel beispielsweise die Bud-
gethilfe für Mosambik gekürzt, da dort Maßnahmen zur
Korruptionsbekämpfung nicht wie vereinbart umgesetzt
wurden. Dies hat wesentlich zum Einlenken der Regie-
rung von Mosambik beigetragen, die schließlich ein Ge-
setzespaket zur Korruptionsbekämpfung vorgelegt hat.

Ein anderes Beispiel ist Malawi. Die Aussetzung der
allgemeinen Budgethilfe durch Minister Niebel hat dazu
beigetragen, dass Gesetze, die zu einer Beschneidung
von Minderheitenrechten und der Pressefreiheit geführt
hätten, an eine unabhängige Rechtskommission verwie-
sen wurden.

Diese Beispiele zeigen deutlich: Durch eine konse-
quente Haltung kann man die politische Entwicklung ei-
nes Landes positiv beeinflussen und helfen, Demokratie
und Menschenrechte zu schützen. Diesen Kurs wird die
FDP-Fraktion auch weiterhin unterstützen. Darum unter-
stützen wir auch die Neuausrichtung der europäischen
Entwicklungspolitik.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717829900

Jetzt hat Thilo Hoppe für Bündnis 90/Die Grünen das

Wort.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717830000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir Grünen sind die Europapartei.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ich habe gedacht, die Grünen sind die Umweltpartei!)


Deshalb dürfte es auch nicht verwundern, dass wir auch
die Rolle der Europäischen Union in der Entwicklungs-
politik stärken wollen.

Während in dem Antrag der Koalition und auch in
dem der Linken, zumindest zwischen den Zeilen, Euro-
Skepsis zu spüren ist,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die ist auch angebracht!)


sehen wir in dem Antrag, den wir gemeinsam mit der
SPD eingebracht haben, in mehr Europa auch in der Ent-
wicklungspolitik eher Chancen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Mehr soziales Europa!)


Der Tenor auf den letzten drei großen entwicklungs-
politischen Konferenzen – Paris, Accra und Busan – war
immer gleich, eine klare Botschaft an die sogenannten
Geber: Hört doch endlich damit auf, dass jeder sein eige-
nes Süppchen kocht! Schließt euch zusammen! Legt
auch euer Geld zusammen! Unterstützt zum Beispiel im
Rahmen von Budget- oder Sektorbudgetfinanzierung
den Aufbau eines Gesundheitssystems in einem Partner-
land, statt dass dort die Deutschen, die Engländer, die
Niederländer und Dänen alle ihre eigenen Projekte hoch-
ziehen, ihre Vorzeigekrankenhäuser aufbauen und davor
ihre Fahne hissen!

Mehr gemeinsames Vorgehen ist gefragt, zumindest
bessere Absprachen, und mehr Arbeitsteilung. Die Ver-
tretung der Europäischen Union in den entsprechenden
Partnerländern – das hat Frau Hübinger schon gesagt –
soll nicht als die 28. Gebernation auftreten; sie hat viel-
mehr die Aufgabe, die europäischen Mitgliedsländer zu-
sammenzuführen und ein gemeinsames Auftreten zu or-
ganisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Bei speziellen Herausforderungen – ich denke dabei
an fragile Staaten oder große Entwicklungsländer, die
Fortschritte im Wirtschaftswachstum gemacht haben, wo
aber die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer
wird und die Gesellschaft auseinanderfällt – könnte die
Europäische Union auch als alleiniger Akteur kraftvoll
auftreten.

Wenn wir im Gegensatz zur Koalition die Stärkung
der Rolle der EU in der Entwicklungspolitik befürworten
und die Vorschläge der EU-Kommission überwiegend
– das gilt nicht für alle – positiv beurteilen, dann heißt
das noch lange nicht, dass wir die Probleme übersehen.
Es gibt nach wie vor organisatorische Probleme. In den
Vorschlägen der Europäischen Kommission, die jetzt
vorliegen, wird unserer Meinung nach auch die Rolle der
Privatwirtschaft viel zu stark betont.

Die größten Probleme liegen aber in einem anderen
Bereich, und zwar in den negativen Auswirkungen, die
andere Politiksektoren der Europäischen Union auf die





Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)


Entwicklungsländer haben. Es kommt leider immer noch
vor, dass Erfolge der EU-Entwicklungspolitik durch an-
dere Politiken der EU wieder völlig zunichte gemacht
werden. Damit meine ich vor allem die europäische
Handels-, Agrar- und Fischereipolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Noch immer werden hochsubventionierte Hähnchen-
teile aus EU-Überschussproduktion auf afrikanischen
Märkten abgekippt und treiben dort die Geflügelzüchter
und Kleinbauern in den Ruin. Völlig pervers ist, was
nach wie vor im Rahmen der europäischen Fischerei-
politik geschieht – wir werden das hier hoffentlich noch
in einer anderen Debatte ausführlicher diskutieren kön-
nen –: Hochsubventionierte europäische Fabrikschiffe
fischen die Küsten Afrikas leer. Ein einziges dieser euro-
päischen Fabrikschiffe fischt an einem Tag die Menge,
die 40 afrikanische Fangboote in einem ganzen Jahr fan-
gen. Zu diesen Fischereiverträgen hat Horst Köhler ein-
mal gesagt, sie seien Schandverträge, die dringend über-
arbeitet werden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])


Es gibt leider viele Beispiele dieser Art, die deutlich
machen, dass die eine Hand der EU etwas aufbaut, was
die andere Hand wieder einreißt. Doch zu diesen Kohä-
renzproblemen ist in dem Antrag der Koalition nichts zu
finden. Fehlanzeige auch beim 0,7-Prozent-Ziel. Das
verschweigen Sie lieber peinlich, weil sonst die Unter-
lassungssünden der eigenen Regierung zutage treten
würden.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Schämt euch!)


Vor allem deshalb, aber auch, weil Sie die Rolle der EU
im Gegensatz zur nationalen Entwicklungspolitik eher
kleinhalten wollen, lehnen wir Ihren Antrag ab.

Zum Antrag der Linken gibt es, wenn man ganz viel
Revolutionsrhetorik weglässt und sich auf die Kernfor-
derungen konzentriert, durchaus eine Menge Gemein-
samkeiten. Es gab im Vorfeld auch den Versuch, wenigs-
tens zu einem gemeinsamen Antrag der Opposition zu
kommen. Dabei waren wir auf einem guten Weg. Das
wollte die Fraktionsführung der SPD nicht. Das war
nicht eure Schuld.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717830100

Herr Kollege.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717830200

Es gibt, wie gesagt, viele Übereinstimmungen bei den

Forderungen. Was wir aber nicht teilen, ist, dass das
Prinzip der Good Governance beiseitegeschoben werden
soll. Natürlich müssen wir über Good Governance reden.
Aber das beinhaltet natürlich Verpflichtungen für beide
Seiten. Deshalb bleibt uns nur Enthaltung.

Wir wollen die Rolle der EU für eine globale nachhal-
tige Entwicklung stärken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717830300

Ich schließe die Aussprache.

Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben den Antrag auf Drucksache 17/9553 mit dem Titel
„Neuausrichtung der Europäischen Entwicklungspolitik
für mehr Kohärenz und wirksame Armutsbekämpfung“
eingebracht. Über den stimmen wir jetzt ab. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringenden Fraktionen. Die übrigen haben dage-
gen gestimmt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9424 mit dem Titel „Die Neuausrichtung der EU-
Entwicklungspolitik – Für eine wirksame, ergebnisorien-
tierte, länder- und regionenspezifische europäische Ent-
wicklungszusammenarbeit“. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist ange-
nommen bei Zustimmung durch die einbringenden Ko-
alitionsfraktionen. Die Opposition war dagegen.

Jetzt folgt die Abstimmung über den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/9461 mit dem Titel
„Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union –
Partnerschaft statt interessengeleitete Bevormundung“.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist abgelehnt. Dafür hat die Fraktion
Die Linke gestimmt. Dagegen haben CDU/CSU, FDP
und SPD gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen haben sich
enthalten.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schweinepest tierschonend bekämpfen –
Notimpfung ersetzt grundloses Keulen
– Drucksachen 17/8893, 17/9218 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9218, den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU,
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/8893 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –

1) Anlage 6





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Alle anderen
haben zugestimmt. Damit ist die Beschlussempfehlung
angenommen.

Tagesordnungspunkt 14:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Freiheit von Forschung und Lehre schützen –
Transparenz in Kooperationen von Hochschu-
len und Forschungseinrichtungen mit Unter-
nehmen bringen

– Drucksache 17/9064 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9064 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. – Damit sind Sie einver-
standen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 13:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Hahn,
Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin
Neumann (Lausitz), Patrick Meinhardt, Dr. Peter
Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Forschung für die zivile Sicherheit

– Drucksachen 17/8573, 17/9550 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Hahn
René Röspel
Dr. Martin Neumann (Lausitz)

Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.2)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9550, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist angenommen bei Zustim-
mung der Koalitionsfraktionen und Ablehnung der Op-
positionsfraktionen.

Tagesordnungspunkt 16:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Birgitt Bender, Markus

Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine grundlegende Reform der Pflegever-
sicherung – Nutzerorientiert, solidarisch, zu-
kunftsfest

– Drucksache 17/9566 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.3)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9566 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. – Damit sind Sie einver-
standen. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 15:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung über die Maß-
nahmen zur Förderung der Kulturarbeit ge-
mäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in
den Jahren 2009 und 2010

– Drucksache 17/9401 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus

Die Reden sind hier wiederum zu Protokoll gege-
ben.4)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9401 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. – Damit sind Sie einver-
standen. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zur geplanten Einberufung
einer Regierungskonferenz und zum geplanten
Beschluss der Regierungskonferenz über die
Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen
der irischen Bevölkerung bezüglich des Ver-
trags von Lissabon

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/9568 –

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.5)

1) Anlage 8
2) Anlage 7

3) Anlage 10
4) Anlage 9
5) Anlage 12





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zum Antrag der Fraktionen von CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9568. Die antragstellenden Fraktionen wün-
schen Abstimmung in der Sache. Die Fraktion Die Linke
wünscht Überweisung an den Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union.

Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Wer ist für die
Überweisung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Damit ist die Überweisung abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 17/9568. Wer stimmt für den Antrag? – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist angenom-
men bei Zustimmung durch die einbringenden Fraktio-
nen. Die Fraktion Die Linke ist dagegen gewesen.

Tagesordnungspunkt 17:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Schutz der biologischen Vielfalt – Die Taxono-
mie in der Biologie stärken

– Drucksachen 17/3484, 17/9549 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ewa Klamt
René Röspel
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9549, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und Ableh-
nung der Oppositionsfraktionen.

Tagesordnungspunkt 18 a:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Marco
Bülow, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Keine deutsche Zustimmung zu einer europäi-
schen Förderung der Atomenergie

– Drucksache 17/9554 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

Die Reden sind zu Protokoll genommen worden.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1717830400

Der vorliegende Antrag zeigt, dass die Opposition

trotz des nationalen Ausstiegs aus der Kernenergie ver-
zweifelt versucht, am alten Kampfthema Kernenergie
festzuhalten. Doch auch wenn Deutschland in naher Zu-
kunft einen Weg ohne Kernenergie geht, bedeutet es
nicht, dass uns die anderen Mitgliedstaaten automatisch
folgen müssen. Der Energiemix bleibt in der Hand der
Nationalstaaten. Das ist den Mitgliedstaaten im Lissa-
bon-Vertrag garantiert. Die Mitgliedstaaten können ent-
scheiden, wie sie ihren Energiemix gestalten, sie sind da-
bei natürlich an die europaweiten CO2-Reduktionsziele
gebunden.

Die Opposition sollte deshalb lieber konstruktiv an
der Energiewende hierzulande mitarbeiten, um Europa
und der Welt zu zeigen, dass unser Weg durchaus ein Er-
folgsmodell ist. Mitarbeiten heißt konkret, Blockhaltun-
gen auflösen: beispielsweise im Bundesrat, wenn es um
die Zustimmung der steuerlichen Förderung der Gebäu-
desanierung geht oder beim Ausbau der Netze auf Lan-
desebene.

Nicht die Kernenergie, sondern der Ausbau der er-
neuerbaren Energien steht im Mittelpunkt des EU-Ener-
giefahrplans, und das ist auch richtig so. Der EU-Ener-
giefahrplan 2050 ist ein wichtiger Wegweiser für mehr
Klimaschutz und für eine nachhaltige Energiepolitik.
Der Fahrplan zeigt auf, wie die EU den Ausstoß von
Treibhausgasen gegenüber 1990 bis 2050 um 80 bis
95 Prozent reduziert. Diese ambitionierten Ziele können
nur erreicht werden, wenn wir unser Energiesystem um-
bauen. Mögliche Handlungsalternativen und jeweilige
Kosten dieser Alternativen zeigt die Kommission im EU-
Energiefahrplan auf.

Es ist zu begrüßen, dass der Ausbau der erneuerba-
ren Energien ein Schwerpunkt des EU-Energiefahrplans
ist. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromver-
brauch steigt in allen sieben Szenarien deutlich zwi-
schen 64 bis 97 Prozent im Jahr 2050. Deutschland hat
sich mit der Energiewende, die wir im vergangenen
Sommer beschlossen haben, schon auf diesen Weg ge-
macht. Wir haben allein in 2011 den Anteil der erneuer-
baren Energien am Strommix um 3 Prozent auf 20 Pro-
zent gesteigert. Damit gehören wir zu den Vorreitern in
Europa und werden vom europäischen Ausbau der er-
neuerbaren Energien profitieren.

Wir sind uns einig, dass das oberste Ziel unserer
Energiepolitik sein muss, mehr Klimaschutz und mehr
Ressourcenunabhängigkeit zu schaffen. Genau deswe-
gen ist es richtig, dass wir auch europaweit den Ausbau
der erneuerbaren Energien vorantreiben. Aber mehr
Klimaschutz bedeutet ebenfalls, dass Gas- und Kohle-
kraftwerke, in Verbindung mit CCS, wie auch die Kern-
energie eine Rolle im zukünftigen Energiemix der Mit-
gliedstaaten spielen können. Deshalb sieht auch der
EU-Energiefahrplan in allen Szenarien bis 2050 weiter-
hin die Kernenergie vor, da es eine CO2-freie Erzeu-
gungsart ist.

Gleichzeitig wird im EU-Energiefahrplan aber auch
betont, dass die EU weltweit die höchsten Standards für
Sicherheit und Gefahrenabwehr leisten muss. Das ist 1) Anlage 11





Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)


vor allem auch im deutschen Interesse. Gerade weil
Länder wie Frankreich, Großbritannien oder auch die
Niederlande in der Kernenergie eine tragende Säule ih-
rer Energieversorgung sehen, ist es wichtig, dass wir
auch in Zukunft auf europäischer Ebene über die Kern-
energie mitsprechen. Dies gilt insbesondere für die Re-
aktorsicherheit.

Deshalb ist es gut und richtig, dass sich Deutschland
weiter intensiv an der Arbeit in der europäischen Atom-
gemeinschaft beteiligt. Wenn wir auch zukünftig über
nukleare Sicherheit mitreden wollen, bietet die Europäi-
sche Atomgemeinschaft eine ideale Plattform. Denn was
bringt es uns, wenn unsere Kraftwerke abgeschaltet
sind, aber in unseren Nachbarstaaten Kernkraftwerke in
Betrieb sind, die unsicher sind. Dies gilt insbesondere
auch für den Neubau von Kernkraftwerken.

Sie sprechen davon, dass die Förderung der Kern-
energie gestoppt werden soll. Mir ist kein Land bekannt,
in dem es eine so weitgehende Förderung einer Erzeu-
gungsart gibt wie in Deutschland. Hierzulande werden
die erneuerbaren Energien mit weit über 12 Milliarden
Euro gefördert. Wir sind also gefordert, den Spagat zwi-
schen Förderung und Bezahlbarkeit bis zur Marktreife
einer Technologie zu bewältigen.

Deshalb ist es richtig, dass die EU-Kommission ver-
schiedene Fördermodelle der einzelnen Mitgliedstaaten
in den Blick nimmt und vermeiden will, dass es zu einem
Wettlauf der Fördermaßnahmen für erneuerbare Ener-
gien in Europa kommt. Es braucht eine schrittweise Ein-
führung eines einheitlichen Fördersystems für Europa,
um die Energie dort zu erzeugen, wo sie am meisten
Leistung bringen. Eine solche Harmonisierung bedeutet
konkret, Photovoltaik dort wo am meisten Sonne scheint,
Wind auf und an der See und Wasserkraft in Norwegen,
der Schweiz oder Österreich.

Wir brauchen keine Angst vor einer solchen Harmo-
nisierung zu haben, da Deutschland Vorreiter bei der
Nutzung regenerativer Energien und alternativer Ener-
gietechnik ist. Unsere Industrie kann nur davon profitie-
ren, da sie jetzt schon, wie Sie selber propagieren, Vor-
reiter ist.

Der EU-Energiefahrplan 2050 zeigt, dass wir vor ge-
waltigen Herausforderungen stehen. Europa hat sich
ambitionierte klimaschutzpoltische- und energiepoliti-
sche Ziele gesetzt. Dabei sind die erneuerbaren Ener-
gien die entscheidenden Energieträger der europäischen
Energiewende.

Um unsere ambitionierten Ziele zu erreichen, braucht
es vor allem eine enge Zusammenarbeit in der europäi-
schen Energiepolitik. Das Gleiche gilt auch zum Errei-
chen unserer noch ambitionierteren nationalen Ziele.
Diese erreichen wir schneller und effizienter mit Eu-
ropa.

Aber trotz aller gemeinsamen Zielsetzung dürfen wir
nicht die Subsidiarität der Mitgliedstaaten verletzen.
Denn auch wenn die Opposition am liebsten alle
Länder zu einem Atomausstieg zwingen will, muss ak-
zeptiert werden, dass andere Mitgliedstaaten an der
Kernenergie festhalten, nicht zuletzt auch aus klima-

schutzpolitischen Erwägungen. Wir können zwar mit
dem eingeschlagenen Weg zeigen, dass wir unsere
Energieversorgung ohne Kernenergie gewährleisten
können, aber wir können die anderen Länder nicht
zwingen, aus der Kernenergie auszusteigen.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1717830500

Die SPD versucht mit ihrem Antrag krampfhaft, wei-

ter eine Scheindebatte über das Thema Kernenergie im
Deutschen Bundestag aufrechtzuerhalten. Der SPD ist
– genauso wie den Grünen – nach dem von Schwarz-
Gelb final beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie
in Deutschland ein, wie ich sagen möchte, gehegtes und
gepflegtes parteipolitisches Feindbild verloren gegan-
gen. Manchmal glaube ich, dass just die Fraktionen, die
sozusagen „traditionell“ einen Ausstieg aus der Kern-
energie gefordert haben, am Ende von dem finalen Aus-
stieg aus der Kernenergie durch die schwarz-gelbe Re-
gierung nicht ausschließlich erleichtert waren. Ihnen ist
nämlich ein zentraler Teil ihres Wahlprogramms entfal-
len, und nun versuchen sie krampfhaft, am alten Wähler-
gewinnungsprogramm festzuhalten, und operieren wei-
ter mit dem Medium Angst und Verunsicherung.

Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-
tion, Sie wissen ganz genau, dass der Energiemix in Eu-
ropa Sache der Mitgliedstaaten ist. Und es mag uns
fraktionsübergreifend nicht gefallen, aber Fakt ist: Der
von Schwarz-Gelb beschlossene Ausstieg aus der Kern-
energie kann den anderen europäischen Staaten nicht
mit Zwang „übergestülpt“ werden. Wir haben dafür keine
rechtliche Handhabe. Sie verraten uns zudem nichts
Neues, wenn Sie in Ihrem Antrag darauf hinweisen, dass
andere Mitgliedstaaten in Europa weiter auf die Kern-
energie setzen. Wir kennen den Energiemix unserer
Nachbarstaaten alle genau. Über unstrittige Fakten
brauchen wir uns nicht im Plenum auszutauschen.

Fakt ist: Deutschland kann gegenüber unseren euro-
päischen Nachbarstaaten allein Vorbildcharakter haben
auf dem Weg, den es mit der 2011 verabschiedeten Ener-
giewende und dem Kernenergieausstieg beschritten hat.
Gerade jene europäischen Nachbarstaaten, die noch
heute in ihrem Energiemix stark auf Kernenergie setzen,
beäugen Deutschland ganz genau. Wir müssen sie mit
Ergebnissen und Fakten überzeugen. Die Vorreiterrolle
wird aber nur erfolgreich sein, wenn der Reiter auch an-
kommt, ohne zu straucheln.

Wir Deutschen können stolz sagen: Wir haben in un-
serem Land inzwischen einen Anteil der erneuerbaren
Energien am Stromverbrauch von über 20 Prozent. Trotz
starker Konjunktur und dem im März 2011 bereits be-
gonnenen Ausstieg aus der Kernenergie haben die emis-
sionshandelspflichtigen Energie- und Industrieanlagen
in Deutschland aufgrund verbesserter Energieeffizienz
und dem Ausbau der erneuerbaren Energien im Jahr
2011 weniger CO2 ausgestoßen als im Vorjahr. Auch hat
sich die Nische der Erneuerbaren zu einer beachtlichen
Branche entwickelt, die aktuell mehr als 380 000 Be-
schäftigte in Deutschland in Lohn und Brot bringt. Das
sind Argumente, die unsere europäischen Nachbarn vom
Aus- und Umstiegsgedanken überzeugen können, so-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


lange wir nicht in anderen Bereichen strombedingt in
Schwierigkeiten kommen

Dabei vergesse ich keineswegs, dass der deutsche
Umstieg von der konventionellen Stromerzeugung auf
die erneuerbaren Energien noch Herausforderungen vor
sich hat. Ich nenne hier etwa allem voran den Umbau
der Netze und den Speicherbedarf. Auch hier werden un-
sere europäischen Nachbarn einen geschärften Blick auf
uns haben. Mit einem Antrag, wie ihn uns die SPD hier
vorgelegt hat, wird man hingegen keinen der europäi-
schen Nachbarn überzeugen können. Papier ist an der
Stelle geduldig, hat aber keine Wirkung.

Aber selbst wenn man den Wertgehalt dessen, was Sie
niedergeschrieben haben, prüft: Stellungnahmen von
den vier Mitgliedstaaten mit einem Forderungsgehalt,
wie Sie ihn beschreiben, gibt es offenbar gar nicht. Sie
haben offensichtlich einen Artikel aus der Presse in der
Kalenderwoche 15 dankbar aufgegriffen. Die Tatsache,
dass es inzwischen längst offizielle Dementi von „be-
zichtigten“ Mitgliedstaaten gibt, haben Sie einfach ig-
noriert und uns in der Kalenderwoche 19 dennoch Ihren
Antrag vorgelegt. Frankreich hat, wie in der Presseland-
schaft seit der Kalenderwoche 15 allseits zu lesen ist, öf-
fentlich dementiert. Auch Tschechien hat unmittelbar
und offiziell dementiert, dass eine solche Stellungnahme
existiere bzw. in Rede stehe. Die Tschechische Botschaft
hat mir aktuell nochmals bestätigt, dass sich hieran
auch nichts geändert hat.

Aber das scheint Sie ja ohnehin nicht zu interessie-
ren – und ich will Sie deshalb mit diesen Fakten auch
nicht weiter belasten. Denn das Ziel Ihres Antrags ist ja
klar erkennbar, wie ich es eingangs bereits beschrieben
habe: Sie versuchen, den „Motor Angst“ im Themen-
kreis der Kernenergie nochmals anzuwerfen und für Ihre
parteipolitischen Ziele auszuschlachten, und, ganz ne-
benbei, mit Scheinanträgen wie diesen die Regierungs-
fraktionen von ihrer eigentlichen Arbeit, dem Regieren,
abzuhalten.

Gleichwohl, der guten Ordnung halber sozusagen,
um mir Ihren Vorwurf zu ersparen, ich wollte mich in der
Sache nicht klar positionieren, äußere ich mich zu einer
rein theoretischen Frage. Sollte künftig und – ich sage
klar: hypothetisch – jemals die Frage nach einer Gleich-
stellung der beiden Energieformen erneuerbare Ener-
gien und Kernenergie im Hinblick auf finanzielle För-
derprojekte auf EU-Ebene im Raum stehen: Einmal sehe
ich grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, die Technolo-
gie der Kernenergie zu fördern, insbesondere in Anbe-
tracht des Umstandes, dass es sich vor allem um eine
etablierte Technologie handelt, die ohnehin verhältnis-
mäßig kostengünstigen Strom produzieren kann und ei-
ner Förderung insofern bereits nicht bedarf. Zum ande-
ren und vor allem wäre das auch jenseits deutscher
Interessen. Denn mit unserem 2011 beschlossenen Aus-
stieg aus der Kernenergie kann es aus deutscher Sicht
kein Interesse geben, eine entsprechende Fördergrund-
lage zu befürworten. Schließlich wäre es sozusagen al-
lein eine Förderung zugunsten Dritter. Ihr parteipoliti-
scher Kunstgriff, mit dem Sie so gerne versuchen, alte
ideologische Grabenkämpfe zum Themenfeld der Kern-

energie zu revitalisieren, hatte an dieser Stelle eine wirk-
lich schlechte handwerkliche Ausführung. Denn bereits
fiskale Interessen sprechen aus meiner Sicht klar dage-
gen, dass Deutschland sich für eine solche Gleichstel-
lung aussprechen kann.


Marco Bülow (SPD):
Rede ID: ID1717830600

Der Mensch hat ein Kurzzeitgedächtnis. Nur ein Jahr

nach den tragischen Ereignissen von Fukushima ver-
blassen offensichtlich die Erinnerungen. Haben wir
noch im letzten Sommer zum zweiten Mal den Atomaus-
stieg beschlossen – nachdem Union und FDP den rot-
grünen Atomkonsens zwischenzeitlich aufgelöst und die
Laufzeiten verlängert hatten –, so geht es jetzt schon
wieder um das Thema, ob man Atomenergie fördert.

Und da wundert man sich, dass die Menschen ihr Ver-
trauen in die Politik verlieren. Im Herbst 2010 die Lauf-
zeiten verlängern, im Sommer 2011 mit viel rhetori-
schem Brimborium erneut aussteigen und 2012
überlegen, ob man den Bau eines unsicheren Atomkraft-
werks in Brasilien mit deutschem Steuergeld ermöglicht.
Was soll diese Doppelmoral? Sie beweist leider nur,
dass die Regierungskoalition nicht wirklich vom Aus-
stieg überzeugt ist oder der Atomlobby zumindest noch
einige Zugeständnisse machen möchte. Der deutsche
Atomausstieg müsste doch die Konsequenz nach sich
ziehen, sich in Europa und weltweit für eine nachhaltige
Energiewende ohne Atomenergie einzusetzen.

Wenn Länder wie Frankreich, Großbritannien, Polen
und Tschechien plötzlich fordern, Atom als klimafreund-
liche Energie anzuerkennen, um sie somit genauso sub-
ventionieren zu können wie zum Beispiel erneuerbare
Energien, dann reicht es nicht, wenn die Bundesregie-
rung dies still und leise ablehnt. Gerade da wünscht
man sich eine klare und laute Stellungnahme: „Nein,
mit uns nicht.“ Und spätestens nach Fukushima hätte
man alle Argumente auf seiner Seite gehabt, und es
wäre für jeden nachvollziehbar gewesen, wenn man
dem Kraftwerksbauer Areva und der brasilianischen
Regierung gesagt hätte: Es tut uns leid, wir geben euch
wegen der Risiken keine Bürgschaft zum Bau eines
neuen Atomkraftwerks. Wir können aber darüber reden,
wie wir euch bei der Entwicklung einer sauberen und
zukunftsfähigen Energieversorgungsstruktur helfen
können. – Ein Beispiel: Allein in den brasilianischen
Bioethanolanlagen Kraft-Wärme-Kopplung anzuwen-
den, würde Energie von 20 AKW einsparen.

Es ist traurig, dass Union und FDP den Atomausstieg
scheinbar nicht aus Überzeugung beschlossen haben. Es
ist aber auch bitter, dass Sie komplett das Gespür dafür
verloren haben, wie Politik glaubwürdig bleibt. Wie wol-
len Sie den Menschen erklären, dass Sie die Abkehr von
der gefährlichen Atomenergie in Deutschland für richtig
halten, um die Menschen hier zu schützen, aber gleich-
zeitig kein Problem damit haben, dass in angrenzenden
Ländern in Zukunft der Bau neuer Atomkraftwerke
sogar gefördert wird?

Können Sie den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Land nicht einmal zeigen, dass Sie sich für ihre Sicher-
heit stark machen? Das Argument „Wir mischen uns

Zu Protokoll gegebene Reden





Marco Bülow


(A) (C)



(D)(B)


nicht ein, das ist deren Sache; jedes Land muss selber
wissen, was es macht“ ist mehr als scheinheilig, wenn
man sonst gerade in Europa bereit ist, anderen Ländern
beispielsweise strenge Sparvorschriften zu diktieren.
Noch einmal: Der Bau und Betrieb von Atomkraftwer-
ken ist keine rein nationale Angelegenheit, weil die
Gefahren alle betreffen. Wir leben in einer Westwind-
zone, und wenn es in Frankreich, zum Beispiel im AKW
Fessenheim oder Cattenom, zu Störfällen mit Freiset-
zung von Radioaktivität kommt, dann können Sie ganz
sicher sein, dass die radioaktive Strahlung vor allem uns
Deutsche treffen wird.

Was ich persönlich wieder einmal ernüchternd finde,
ist die Motivation hinter dem „Subventionsmöglichkei-
ten für Atomenergie“. Denn worum geht es dabei eigent-
lich? Es geht nicht um den Erhalt und den Schutz unse-
rer Lebensgrundlagen, es geht nicht um die Sicherheit
der Menschen, es geht nicht um die Zukunft kommender
Generationen. Es geht wieder einmal nur darum, das
Siechtum der Atomenergie zu verlängern.

Der Vorstoß Großbritanniens, Frankreichs, Polens
und Tschechiens zeigt eindeutig, dass Atomenergie un-
wirtschaftlich ist. Durch Milliardensubventionen in den
letzten Jahrzehnten und die Vergesellschaftlichung der
Folgekosten sind die alten abgeschriebenen Atomkraft-
werke zwar sehr profitabel; der Neubau von Reaktoren
rechnet sich aber nirgends auf der Welt. Wenn selbst in
Großbritannien, dem Vorreiterland des völlig liberali-
sierten Marktes, das sich immer gegen jeden staatlichen
Interventionismus wendet, nach staatlicher Förderung
geschrien wird, dann ist das der stechende Beweis, dass
es einfach nicht möglich ist, neue Atomkraftwerke pri-
vatwirtschaftlich zu errichten. Sie sind in Zukunft auch
ökonomisch nicht konkurrenzfähig zu erneuerbaren
Energien. Daher lassen sich keine Investoren finden, die
dieses wirtschaftliche Harakiri mitspielen wollen. Ähn-
lich ist es im Fall des brasilianischen AKW-Neubaus:
Keine deutsche Bank ist beispielsweise bereit, Geld für
den Bau von Angra 3 bereitzustellen. Selbst die Banken
im atomfreundlichen Frankreich haben klargemacht,
dass sie Kredite nur vergeben, wenn eine deutsche
Hermes-Bürgschaft unterschrieben ist. Der deutsche
Steuerzahler soll das Risiko tragen, zu welchem die Ban-
ken nicht bereit sind? Das ist geradezu unverschämt.

Wie die über 130 000 Unterzeichner der Aktion
„Atomtod exportiert man nicht!“ von Campact, aber
auch die Resonanz der Postkartenaktion „Ich bin doch
kein Atombürger!“ von urgewald zeigen, akzeptieren die
Bürger diese Politik nicht mehr. Das Gleiche gilt für den
Vorstoß Frankreichs, Großbritanniens, Polens und
Tschechiens zur Förderung von Atomenergie. Sollte
diese Forderung Gehör finden, dann müssen Sie sich
nicht wundern, wenn die Anti-AKW-Bewegung erneut
großen Zulauf bekommt und es zu massiven Wider-
standsaktionen kommt – und zwar europaweit, auch
dort, wo man es vielleicht noch nicht gewohnt ist. Denn
die Menschen werden allerorts immer sensibler in Zei-
ten, in denen an allen Ecken und Enden gespart werden
muss und der Bevölkerung immer mehr zugemutet wird.
Menschen, die ständig aufgefordert werden, den Gürtel
enger zu schnallen, werden es sicher nicht tolerieren,

dass ausgerechnet eine Technologie gefördert werden
soll, die nachweislich eine Gefahr für sie darstellt.

In unserem Antrag „Keine deutsche Zustimmung zu
einer europäischen Förderung der Atomenergie“ for-
dern wir daher die Bundesregierung auf, die Anliegen
Großbritanniens, Frankreichs, Polens und Tschechiens
rigoros in die Schranken zu weisen. Wer so unbelehrbar
ist, der muss eben von anderen wachgerüttelt werden.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1717830700

Mit diesem Antrag fordert die SPD-Fraktion, dass

sich Deutschland dafür einsetzt, dass der europaweite
Ausstieg aus der Subventionierung vorhandener oder
zukünftiger Atomkraftwerke durchgesetzt und eine
Gleichstellung von regenerativen Energien mit Kern-
energie aufgrund geringer CO2-Emissionswerte verhin-
dert wird. Auslöser dieses Antrages ist die von der däni-
schen EU-Ratspräsidentschaft erbetene Stellungnahme
zum EU-Energiefahrplan bis 2050.

Der schwarz-gelben Bundesregierung ist wichtig,
dass wir auch in Zukunft die europäische Energiepolitik
technologieoffen ausgestalten. Derzeit wird im Zusam-
menhang mit den Verhandlungen zu den Ratsschluss-
folgerungen zum Energiefahrplan 2050 diskutiert,
inwiefern der Begriff der Technologieneutralität einer
zukünftigen Energie- und Klimapolitik in diesem Plan
verankert werden soll. Wir machen uns hierbei für eine
ausgewogene Verwendung des Begriffs stark. Schwer-
punkte der zukünftigen Entwicklung sehen wir in der
Steigerung der Energieeffizienz sowie dem EU-weiten
Ausbau flexibler Energieinfrastrukturen und erneuer-
barer Energien.

Neben den staatlich getragenen Maßnahmen zur
Erhöhung der Energieeffizienz müssen auch Effizienz-
gewinne berücksichtigt werden, die aus dem Markt he-
raus durch technischen Fortschritt realisiert werden.
Dies ist einer der wichtigsten Bausteine einer erfolgrei-
chen Wirtschafts- und Energiepolitik.

In der Süddeutschen Zeitung wurde am 13. April
2012 berichtet, dass Großbritannien, Frankreich, Polen
und Tschechien eine EU-Förderung aller „emissions-
armen“ Energieträger durchsetzen wollen und damit
neben erneuerbaren Energien auch Kernkraftwerke und
die CCS-Technologie im Blick hätten. Bei der europäi-
schen Kommission ist bislang jedoch kein solches
Schreiben eingegangen.

Dieser Antrag der SPD beruft sich also größtenteils
auf einen Zeitungsartikel, der zum Teil unbelegte Be-
hauptungen einer Gleichstellung von Atomenergie mit
den erneuerbaren Energien in verschiedenen europäi-
schen Ländern aufstellt.

Die christlich-liberale Koalition gründet indes ihre
Politik auf einer gesicherten Faktenlage und nicht auf
Spekulation. Schon aus diesem Grund lehnen wir diesen
Antrag ab.


Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1717830800

Am 13. April 2012 wurde aufgrund eines in der „Süd-

deutschen Zeitung“ erschienenen Artikels gemeldet,

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Brunkhorst


(A) (C)



(D)(B)


Großbritannien, Frankreich, Polen und Tschechien for-
derten Subventionen für Kernkraftwerke.

Ziel der vier Staaten ist es in der Tat, beim bis zum
Jahr 2050 in Europa geplanten Umstieg auf emissions-
arme Energieversorgung ein eigenes sogenanntes Low-
Carbon-Ziel im Energiesektor festzulegen. Kernkraft-
werke sollen danach wie Solar- oder Windenergieanla-
gen als emissionsarme Technologien eingestuft werden.

Dies hätte zur Folge, dass die Stromerzeugung in
Kernkraftwerken mit erneuerbaren Energien gleichge-
stellt würde und sodann „technologieneutral“ national
oder sogar mit EU-Geldern unterstützt werden könnte.

Die FDP lehnt Subventionen für die Kernenergie ab.
Wir Liberalen bekennen uns nachdrücklich zum energie-
politischen Zieldreieck. Versorgungssicherheit, Wirt-
schaftlichkeit sowie Umwelt- und Sozialverträglichkeit
sind gleichrangige Ziele bei der Stromversorgung.

Wir müssen im Energiebereich einen funktionieren-
den EU-weiten Markt schaffen, das heißt fairer Wettbe-
werb ohne Diskriminierungen und ohne ungerechtfer-
tigte Subventionen.

Der Staat hat die Aufgabe, geeignete Rahmenbedin-
gungen für die Marktabläufe festzulegen, die den Wett-
bewerb sichern und verstärken. Subventionen sind nur
dann und auch nur so lange sinnvoll, wie sie nötig sind,
um neue, innovative Technologien zur Marktreife zu
bringen. Demnach sind Subventionen für die Kernener-
gie nicht gerechtfertigt und überflüssig. Es geht im
Energiebereich aktuell grundsätzlich eher darum, Sub-
ventionen abzubauen und keine neuen Subventionstatbe-
stände einzuführen.

Die FDP begrüßt daher ausdrücklich, dass Bundes-
wirtschaftsminister Philipp Rösler und Bundesumwelt-
minister Norbert Röttgen für die Bundesregierung
erklärt haben, dass die Bundesregierung Dauersubven-
tionen für bereits am Markt etablierte Technologien, wie
die Kernkraft, ablehnt.


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717830900

Man muss sich langsam den Vorwurf gefallen lassen,

immer wieder den Kaffee von gestern aufzuwärmen,
wenn man darauf hinweist, dass die Atomenergie allein
in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren mit we-
nigstens 185 Milliarden Euro Steuergeldern subventio-
niert wurde. Das ist eine solch gewaltige Menge Geld,
die die Bevölkerung der angeblich so billigen Atomkraft
eingeschoben hat, dass sie nur in der Steinkohleförde-
rung ihresgleichen suchen kann. Was in dieser Summe
noch nicht enthalten ist, sind die zukünftigen Kosten für
die Atommüllverwahrung, mit denen sich die Generatio-
nen noch in Jahrhunderten werden herumschlagen müs-
sen. In diesem Zusammenhang möge man sich doch bitte
auch vor Augen führen, wie derzeit gegen die erneuer-
baren Energien gewettert wird, was da von verbraucher-
feindlicher Subventionierung die Rede ist, obwohl diese
Energieformen keine Folgekosten für Klimawandel und
Entsorgung mit sich bringen werden, sondern sogar
dazu beitragen, dass diese Folgekosten minimiert wer-
den. Eine Investition in die Zukunft, durch die Energie

mittelfristig nicht nur ökologisch unbedenklich, sondern
nahezu kostenlos wird.

Wenn wir jetzt hören, dass im Rahmen des Euratom-
Vertrages einige EU-Mitgliedstaaten die Gleichstellung
der Atomkraft mit Erneuerbaren fordern und eine Ein-
speisevergütung für Atomstrom wollen, glaubt man, es
handele sich um einen schlechten Scherz. Aber mitnich-
ten ist das als Scherz gemeint, sondern bitterböser
Nuklearkapitalismus. Wie wir wissen, schwimmen den
großen Energieversorgern in Deutschland die Felle
weg, da sie die Energiewende verschlafen. Ihre größten
Gelddruckmaschinen – Atomkraftwerke – werden still-
gelegt. Da es sich bei der Atomwirtschaft aber um ein
internationales Kartell handelt, zu dem deutsche Unter-
nehmen wie die Deutsche Bank gehören, nützt das ein-
seitige Engagement auf nationalstaatlicher Ebene gegen
Atomkraft im weltweiten Wirtschaftsgebahren kaum.

Die Welt war geschockt, als im März 2011 drei japa-
nische Reaktorblöcke explodiert bzw. geschmolzen sind
und in einem Abklingbecken die Kernschmelze nur
durch den Einsatz einer Zementspritze eingedämmt wer-
den konnte. Riesige Gebiete sind dort nun verstrahlt, für
Jahrhunderte unbewohnbar. Die Atomlobby hatte einen
ihrer schwärzesten Monate, denn die Weltöffentlichkeit
war entsetzt über die Folgen, die Atomkraft mit sich
bringt. Überall gab es vermehrt kritische Stimmen und
sogar die Bundesregierung hat ihre skandalträchtige
AKW-Laufzeitverlängerung zurückgenommen. Seitdem
sind Monate vergangen – und was geschieht? Die inter-
national agierende Atomwirtschaft bäumt sich wieder
auf und versucht mit aberwitzigen Mitteln ihren Alb-
traum weiter zu träumen, und zwar auf Kosten der Men-
schen, der Umwelt und der zukünftigen Generationen.

Einer der Gründe, warum ihnen das so leichtfällt, ist
der immer noch bestehende Euratom-Vertrag, in den je-
des EU-Mitglied zwangsintegriert wird. Der Zweck der
Europäischen Atomgemeinschaft ist die Förderung der
Atomkraft für die sogenannte friedliche Nutzung. Es ist
bekannt, dass die friedliche Nutzung von Atomkraft die
Voraussetzung für die militärische Nutzung ist. Ein
Land, das eine Atombombe bauen will, braucht ein
Atomkraftwerk. Der Euratom-Vertrag stammt aus einer
Zeit, in der es noch gelungen ist, den Menschen das
Märchen vom Wirtschaftswunder aufzutischen, das nur
mit Atomkraft möglich sei. Wie falsch das ist, wie gera-
dezu peinlich diese Ambitionen im Nachhinein wirken
und als wie heuchlerisch und gefährlich sie sich heraus-
gestellt haben, ist hinlänglich bekannt. Die Atomkraft ist
ein Schauermärchen aus alter Zeit und hat im 21. Jahr-
hundert keinen Platz mehr.

Mit dem halbherzigen Atomausstieg hat das sogar die
konservativ-liberale Bundesregierung festgestellt. Der
nächste Schritt muss sein, auf internationaler Ebene den
Atomausstieg zu forcieren. Dazu gehört zuallererst, sich
innerhalb der Europäischen Union auf die Auflösung
des peinlichen Euratom-Vertrags zu konzentrieren. Nir-
gendwo sonst gibt es eine institutionell und staatlich
derart garantierte Wirtschaftsförderung für einen priva-
ten Wirtschaftszweig, wie es der Euratom-Vertrag für
die europäischen Energieversorger und Reaktoranla-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothée Menzner


(A) (C)



(D)(B)


genhersteller ist. Auch nach ihrem Beschluss zum Aus-
stieg aus der Atomkraft zahlt die Bundesrepublik, also
ihre Steuerzahler, weiterhin Geld für die Erforschung
und Förderung der Atomenergie. Ein unhaltbarer Zu-
stand!

Wenn die Bundesregierung sich nicht vehement gegen
die neuerlichen Ambitionen der europäischen Atomma-
fia einsetzt, im Deckmäntelchen der Klimafreundlichkeit
von Atomkraft, die nachgewiesenermaßen eine dreiste
Lüge ist, die Bevölkerung wieder um Milliarden zu
schröpfen, um ihren profitträchtigen Albtraum weiterzu-
träumen, dann wird sie sich gegenüber der Bevölkerung
verantworten müssen. Es ist keine Frage, ob der nächste
Atom-GAU stattfindet. Es ist nur nicht klar, wann und
wo er stattfinden wird. Das ist kein Schauermärchen,
sondern die logische Konsequenz beim Betrieb einer
Hochrisikotechnologie, die keinen Platz für Fehler und
Schlamperei einräumt. Wer auf europäischer Ebene die
Atomkraft weiter fördert, nimmt in Kauf, dass dieser
GAU in der unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet.

Selbstverständlich darf es die von Polen, Großbritan-
nien, Tschechien und Frankreich geforderte Atom-
Subventionierung niemals geben. Wenn der deutsche
EU-Kommissar zu diesen indiskutablen Forderungen
meint, er sei „bereit, verschiedene Optionen zu diskutie-
ren“, dann ist er bereit, vorsätzlich gegen die Interessen
der deutschen und der restlichen EU-Bevölkerung zu
agieren. Es gibt nur eine Konsequenz, die gezogen wer-
den kann: Die Europäische Atomgemeinschaft muss um-
gehend aufgelöst werden, und sollte das nicht möglich
sein, muss die Bundesregierung dieses absurde Ver-
tragswerk einseitig kündigen.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717831000

Seit ihrem Entstehen wird Atomenergie mit Milliar-

densubventionen gefördert – in der EU durch den Eura-
tom-Vertrag und zusätzlich durch die einzelnen Mit-
gliedstaaten. Dazu kommt zum Beispiel in Deutschland
die gesamte Forschungsinfrastruktur genauso wie die
Sanierung gescheiterter Endlager und des ostdeutschen
Uranabbaugebiets Wismut. Die Endlagerkatastrophe
Asse wird schätzungsweise 4 Milliarden Euro kosten,
Morsleben über 2 und Wismut über 6, um nur drei Bei-
spiele zu nennen.

Atomstrom zieht eine Spur von Steuergeldern hinter
sich her, wo immer er produziert wird, weil er sich ohne
Subvention nicht rechnet und die Folgekosten meist der
Allgemeinheit zufallen. Trotz jahrzehntelanger staat-
licher Förderung im dreistelligen Milliardenbereich
allein in Deutschland hat sich an den wesentlichen Pro-
blemen der Atomkraft nichts geändert: Sie ist immer
noch hochgefährlich, ist ohne Subventionen nicht renta-
bel und hinterlässt den schädlichsten Giftmüll, den die
Menschheit je hervorgebracht hat. Bis heute sind alle
Nationen, die auf Atomkraft gesetzt haben, mit dem
Endlagerproblem überfordert.

Immer mehr Staaten kehren deshalb der Atomkraft
den Rücken und erkennen, dass die Zukunft den Erneu-
erbaren gehört. Insofern kommt der Vorstoß von Frank-
reich, Großbritannien, Polen und Tschechien, in der

kommenden Energy Roadmap der EU Atomkraft mit den
erneuerbaren Energien gleichstellen zu wollen, auch ei-
ner Bankrotterklärung der Atomkraft gleich. Nur wenn
man Atomkraft zum Bestandteil der energiepolitischen
Ziele der EU macht, lässt sie sich weiter fördern. Nur
wenn man Atomkraft weiter fördert, lässt sich ihr unwei-
gerlicher Niedergang hinauszögern.

Es kann aber doch nicht die Lehre aus der Atomkata-
strophe von Fukushima sein, noch uneinsichtiger und
länger auf Atomkraft zu setzen als zuvor. Die Lehre muss
sein, schneller auszusteigen und den Atomausstieg ernst
zu nehmen. Und dazu gehört mehr, als nur eine Laufzeit-
verlängerung zurückzunehmen und acht Atomkraft-
werke abzuschalten. Den Atomausstieg ernst zu nehmen,
heißt, die Energiewende hier voranzubringen und sie
eben nicht, wie wir es erleben, an die Wand zu fahren. Es
heißt, die Ausrichtung der Forschung an die neuen Ziele
anzupassen, und es heißt, weltweit, insbesondere in
Europa, für eine neue Ausrichtung der Energiepolitik zu
werben und zu zeigen, dass und wie es geht. Das ist un-
sere Aufgabe. Es wäre die Aufgabe dieser Bundesregie-
rung, sich mit dieser Botschaft in Europa zu engagieren
und die wenigen immer noch auf Atomkraft fixierten
Staaten davon zu überzeugen, dass es anders geht, dass
man die Atomkraft nicht braucht.

Das macht die Bundesregierung jedoch nicht. Weder
gestaltet sie die eigene Energiewende mit Engagement
und durchdachtem Plan, noch zeigt sie Interesse für
mehr Atomsicherheit in Deutschland und Europa. Von
seinen vielen Ankündigungen hat der zuständige Minis-
ter Röttgen bislang so gut wie keine umgesetzt. Ein
Stresstest für Atommüllzwischenlager und Urananrei-
cherungsanlagen? Vor 14 Monaten versprochen, bis
heute nicht begonnen. Neue Sicherheitsanforderungen
für deutsche Atomkraftwerke? Vor 14 Monaten verspro-
chen, Status und Lieferdatum unbekannt. Bessere Kata-
strophen- und Strahlenschutzvorsorge für Atomunfälle?
Vor 14 Monaten versprochen, Status und Lieferdatum
unbekannt. Mehr Atomsicherheit in Europa? Gerne in
Reden gefordert, aber keine eigene Taten. Gerade die
grenznahen Atomkraftwerke im Ausland stellen eine
Herausforderung dar, der sich Minister Röttgen im Inte-
resse der Bevölkerung besonders widmen müsste. Daran
zeigt er jedoch nicht das geringste Interesse.

Angesichts der miserablen Bilanz als Deutschlands
oberster Atomaufseher überrascht es schon gar nicht
mehr, wie sein Umweltministerium reagierte, als der
besagte Vorstoß der vier Staaten bekannt wurde, die
Atomkraft in der EU-Agenda aufwerten zu wollen. Sein
Haus sah sich nicht in der Lage, diesem gefährlichen
Unfug eine klare Absage zu erteilen. Stattdessen ergriff
ausgerechnet das traditionell atomkraftfreundliche
Wirtschaftsministerium die Stimme für die schwarz-
gelbe Bundesregierung und übernahm Röttgens Auf-
gabe. Es ist höchste Zeit, dass das Umweltministerium
aufhört, seine eigenen Pflichten und Zuständigkeiten für
einen konsequenten und möglichst sicheren Atomaus-
stieg abzuwickeln. Minister Röttgen, lassen Sie Ihren
vollmundigen Reden endlich ehrliche Taten folgen!

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717831100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9554 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie, die Fraktion der SPD wünscht Feder-
führung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
SPD abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungs-
vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch
die Opposition und gegen die Stimmen der Koalition ab-
gelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
CDU/CSU und der FDP abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist nun mit
dem umgekehrten Stimmenverhältnis angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Alexander
Ulrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Soziale Errungenschaften in der Europäischen
Union verteidigen und ausbauen

– Drucksache 17/9410 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1717831200

Der Antrag der Linken, „Soziale Errungenschaften in

der Europäischen Union verteidigen und ausbauen“,
zeigt einmal mehr sehr deutlich, wessen geistiges Kind
sie sind, dass sie die Nachfolgepartei der SED sind, die
sich immer noch nicht vom Kommunismus verabschiedet
hat und immer noch nicht verstanden hat, dass wir kei-
nen reinen Kapitalismus, sondern eine soziale Markt-
wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Es ist richtig, dass wir in Europa die größte Krise der
letzten Jahrzehnte haben. Die Auswirkungen werden uns
noch lange beschäftigen und allen große Opfer abver-
langen. Wir haben auf die Finanz- und Wirtschaftskrise
angemessen reagiert, sowohl deutschland- als auch eu-
ropaweit. Aufgrund der von Bundeskanzlerin Angela
Merkel geführten Bundesregierung getroffenen Maß-
nahmen ist Deutschland gestärkt aus der Krise hervor-
gegangen. Es ist nicht nur gelungen, die Krise in
Deutschland in den Griff zu bekommen, sondern auch
die Arbeitslosigkeit Stück für Stück zu reduzieren, auf
unter 3 Millionen. Das ist eine großartige Leistung, über
die wir uns freuen.

Die Krise in Europa hält uns noch immer in Atem. Mit
dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Fis-
kalpakt, die von den Linken abgelehnt werden, haben
wir geeignete Mechanismen geschaffen, um auch der eu-
ropäischen Krise Herr zu werden.

Wir sind bereit, den in Not geratenen Staaten zu hel-
fen, fordern aber selbstverständlich von den Staaten, die
lange Jahre weit über ihre Verhältnisse gelebt haben, ei-
nen Sparbeitrag. Dies betrifft auch die Rentenhöhe und
das Renteneintrittsalter. Wie wollen die Linken unseren
Arbeiterinnen und Arbeitern erklären, dass sie bis zum
67. Lebensjahr arbeiten müssen, die Arbeiter aus den
Krisenländern, die mit unseren Geldern unterstützt wer-
den, aber schon mit 60 Jahren aus dem Arbeitsleben
ausscheiden? Hier muss gegengesteuert werden, und
zwar massiv.

Das Gleiche betrifft den Beamtenapparat. In vielen
Krisenländern, insbesondere in Griechenland, wurde
der Staatsapparat zur Unterbringung von Günstlingen
eingesetzt und missbraucht. Deshalb ist es jetzt mehr als
gerechtfertigt, wenn der aufgeblähte öffentliche Dienst
auf eine Form reduziert wird, die notwendig ist, um ge-
eignete gesellschaftliche Strukturen zu erhalten.

Der heutige Antrag zeigt auch mal wieder deutlich,
wie wenig die Linken unser demokratisches System ver-
stehen, wie wenig sie in unserem System angekommen
sind, dass sie sich geistig immer noch in der DDR-
Staatsdiktatur befinden. Die Menschen in Griechenland
oder Spanien demonstrieren nicht, weil sie befürchten,
dass ihre Demokratie auf dem Spiel steht, sondern weil
sie Angst um ihre Zukunft haben, weil sie um ihre Ar-
beitsplätze fürchten.

Von Wirtschaft verstehen die Linken einfach nichts.
Diese Partei, die zu verantworten hat, dass die Wirt-
schaft der damaligen DDR gnadenlos in den Sand ge-
setzt wurde, versteht immer noch nicht den Zusammen-
hang zwischen Produktivität und Löhnen. Scheinbar ist
es der Partei nicht klar, dass die Löhne in den letzten
Jahren in den Krisenstaaten wesentlich stärker gestie-
gen sind als deren Produktivität. Dies führte zwangsläu-
fig zu einer verringerten Konkurrenzfähigkeit und damit
zur Vernichtung von Arbeitsplätzen. Entsprechend hoch
ist die Arbeitslosigkeit in den Krisenstaaten. Es ist
zwangsläufig notwendig, die Löhne zu senken, damit die
Produktivität endlich ansteigt und die Länder wettbe-
werbsfähig werden. Ein großes Hindernis ist der dort
eingeführte Mindestlohn, den die Linken jetzt selbstver-
ständlich bei uns fordern. Ein Mindestlohn von 10 Euro
pro Stunde würde mittelfristig bei uns die gleichen Ef-
fekte hervorrufen, wie wir sie in Griechenland sehen.
Stück für Stück würde die Wettbewerbsfähigkeit sinken
und im gleichen Maße die Arbeitslosigkeit steigen.

Dies ist nicht im Sinne unserer Gesellschaft und des-
halb nicht mit uns zu machen. Wir freuen uns, dass un-
sere deutsche Wirtschaft so gut im Rennen ist. Deshalb
werden wir die über Jahrzehnte erfolgreiche soziale
Marktwirtschaft ausbauen und arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen forcieren.





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


Legen Sie Ihre rosarote Brille ab, wachen Sie auf und
machen endlich Politik für die Menschen in Deutsch-
land, nicht für Ihre Vergangenheit, nicht für Ihre kom-
munistischen Wunschträume, und schmeißen Sie diesen
Antrag in die Tonne.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1717831300

Als Sozial- und Europapolitiker habe ich den Antrag

der Linksfraktion mit Interesse gelesen. Dabei ist mir je-
doch wieder einmal aufgefallen, dass in Ihrer Fraktion
immer noch einige Zusammenhänge hinsichtlich des Zu-
sammenspiels zwischen wirtschaftlichen, sozialen und
haushälterischen Notwendigkeiten unklar zu sein schei-
nen. Ihre Forderungen belegen leider, dass Sie zum ei-
nen den Ernst der Lage nicht erkannt haben, was die fi-
nanziellen Sorgen und Nöte von Griechenland und
anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anbe-
langen. Und zum anderen ziehen Sie die falschen
Schlussfolgerungen aus Ihren Einschätzungen.

Wenn es nach Ihnen ginge, würde Deutschland also
weder den Fiskalpakt noch den Europäischen Stabili-
tätsmechanismus ratifizieren. Der Fiskalpakt ist jedoch
der wichtige Stützpfeiler für Haushaltsdisziplin und für
finanzpolitische Stabilität in Europa. Er bildet im euro-
päischen Regelungsgefüge eine Grundlage für Wachs-
tum. Damit wird die Stabilitätsarchitektur in Europa
verbessert, die eine dringende und wichtige Vorausset-
zung für die Bewältigung der Staatschuldenkrise ist. Bis-
lang haben die Märkte Vertrauen darin, dass wir in Eu-
ropa endlich eine gleichgerichtete Politik machen. Die
jetzige Ruhe auf den Finanzmärkten verdeutlicht dies.
Durch den Fiskalpakt werden diejenigen EU-Mitglied-
staaten, die ihn ratifizieren, dazu angehalten, in natio-
naler Verantwortung Schuldenbremsen einzuführen. Da-
mit ist die Hoffnung verbunden, über das nationale
Recht eine größere Bindungswirkung zu erreichen, als
es über den Stabilitäts- und Wachstumspakt möglich ist.
Um die akut zu hohe Staatsverschuldung in vielen EU-
Ländern schnellstmöglich zurückzuführen und zukünf-
tige exzessive Staatsverschuldungen nachhaltig zu ver-
meiden, ist der Fiskalpakt unerlässlich.

Die Linke fordert beschäftigungsschaffende und so-
zialpolitische Maßnahmen anstelle der erforderlichen
Sparpakete. Dazu muss ich Ihnen Folgendes erklären:
Solide öffentliche Finanzen sind eine wesentliche Vo-
raussetzung für Vertrauen in einen handlungsfähigen
Staat und dauerhaft günstige Wachstums- und Beschäfti-
gungsbedingungen. Im Sinne der deutschen Schulden-
bremse und europäischer Vorgaben leitete die christlich-
liberale Koalition einen nachhaltigen, wachstumsorien-
tierten Konsolidierungskurs ein. Auf dem Arbeitsmarkt
setzt sich die günstige Entwicklung fort, wie wir es Monat
für Monat sehen können. Die Zahl der Arbeitslosen in
Deutschland liegt derzeit schon knapp unter der 3-Mil-
lionen-Grenze und könnte bis zum Jahr 2016 auf rund
2,6 Millionen sinken, wenn sich die Schätzungen unseres
Bundesfinanzministeriums bestätigen, wovon ich aus-
gehe. Die Menschen kommen hierzulande in Arbeit. Das
ist die beste Vorbeugung gegen Armut und soziale Aus-
grenzung. Und ebendies soll unseren Vorstellungen zu-
folge auch in den übrigen Mitgliedstaaten der Europäi-

schen Union geschehen. Mit einer Schuldenpolitik, so
wie Sie sich das wünschen, werden wir dieses Ziel nie-
mals erreichen.

Zum ESM-Vertrag ist zu sagen, dass er ein klares Zei-
chen für nachhaltige Stabilität innerhalb der EU setzt.
Der ESM schafft erstmals eine direkte Bindung der Kri-
senbewältigung an die neue Stabilitätspolitik der Euro-
Zone, in der der überarbeitete Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt durch den neuen zwischenstaatlichen Vertrag
der Euro-Länder über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion er-
gänzt und verstärkt wird.

Die Verknüpfung von Fiskalpakt und ESM soll der
Verstärkung der haushaltspolitischen Verantwortlichkeit
und der Solidarität innerhalb der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion dienen. Und genau deshalb ist es unerläss-
lich, dass auch Deutschland beide Regelwerke zugleich
ratifiziert. Hierfür mache ich mich stark. Die weltweite
Finanz- und Schuldenkrise hat die strukturellen Schwä-
chen der Währungsunion – zu hohe Staatsverschuldung,
mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, institutionelle Lücken
– schonungslos offengelegt, Die Euro-Zone hat darauf
mit einem Dreiklang aus nationalen Reformen, europäi-
schen Maßnahmen und der Einrichtung eines Krisenbe-
wältigungsmechanismus entschlossen reagiert. Ich bin
überzeugt, dass die europäische Währungsunion mit
diesem Maßnahmenbündel aus der Krise gestärkt her-
vorgehen und in Zukunft besser funktionieren wird. Auch
bei Ihnen könnte eines Tages die Erkenntnis wachsen,
dass es keine Alternative zu dem aufgezeigten Weg gibt,
um Europa wirtschaftlich und sozial voranzubringen
und international wettbewerbsfähig zu machen.

Im Zusammenhang mit Ihrer Forderung, Darlehen an
notleidende Staaten künftig nicht mehr an die Erfüllung
bestimmter Auflagen im Bereich Wirtschaft, Soziales,
Arbeit usw. zu knüpfen, muss ich eine Gegenfrage stel-
len: Fänden Sie es gerecht, wenn Ihr Nachbar, der sich
hoffnungslos verschuldet hat und dem Sie nun über eine
längere Zeit Geld leihen, keine Anstrengungen unter-
nehmen würde, um besser haushalten zu können und
seine Haushaltskasse aus eigener Kraft wieder aufzu-
bessern? Auch Sie würden ziemlich schnell darum bit-
ten, dass er mit anpackt, dass er bei sich spart und
versucht, neue Einnahmequellen zu finden, die ihn nach-
haltig absichern, denn schließlich ist jeder für sich ver-
antwortlich und sollte sich nicht ausschließlich auf die
Solidarität anderer verlassen. Dort, wo Hilfe nötig ist,
soll sie auch geleistet werden. Aber jeder muss auch das
Bestmögliche dazu aus eigener Kraft beitragen. An die-
sem Konzept werden wir in der Union auch weiter fest-
halten, es ist das einzig gerechte.

Aber nun zu Ihrem Lieblingsthema, dem gesetzlichen
Mindestlohn. Sie kennen doch aus den zahlreichen De-
batten der vergangenen Monate und Jahre die Argu-
mente, die gegen einen solchen gesetzlichen Mindest-
lohn sprechen. Er ist entweder zu hoch oder zu niedrig,
vernichtet entweder Arbeitsplätze oder verpufft wir-
kungslos. Außerdem unterwandert er grundlos unsere
über 60 Jahre bestehende und bewährte Tradition der
Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie. Gewerkschaf-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


ten und Arbeitgeberverbände praktizieren seit über
sechs Jahrzehnten eine gerechte Lohnfindung, und dies
sehr erfolgreich. Wieso um alles in der Welt sollten wir
dies gefährden? In der Wirtschafts- und Finanzkrise hat
sich dieses sozialpartnerschaftliche System aufs Neue
bewährt, indem kluge Lösungen verhandelt wurden, die
die Menschen in Lohn und Brot gehalten haben. Wir
werden nur dort helfen, wo es notwendig ist. Dort, wo
keine tariflichen Strukturen herrschen, wo also Arbeit-
nehmer nicht auf tarifliche Vergütungen zurückgreifen
können – die sogenannten weißen Flecken –, wollen wir
Unterstützung anbieten. Die Union setzt sich für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ein
und will, dass Lohnuntergrenzen für die Bereiche einge-
führt werden, wo noch weiße Flecken in der Tarifland-
schaft bestehen. Damit schließen wir eine Lücke, die die
Sozialpartner ohne unsere Mitwirkung allein mit den
Mitteln der Tarifpolitik, der Allgemeinverbindlicherklä-
rung oder des Mindestarbeitsbedingungengesetzes nicht
schließen könnten.

Sie sehen also, wir, die Union kümmern uns um die
sozialen und wirtschaftlichen Belange unserer Bürger
hier ebenso wie auf europäischer Ebene. Wir sind ein
verlässlicher und kompetenter Partner in der Europäi-
schen Union. Wir arbeiten hart und sind zuversichtlich,
die noch anstehenden Probleme zu meistern. Ihre Forde-
rungen sind deswegen vollumfänglich abzulehnen.


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1717831400

Der Titel des Antrags der Linksfraktion ist unterstüt-

zenswert: „Soziale Errungenschaften in der Europäi-
schen Union verteidigen und ausbauen“. Auch wir in
der SPD machen uns Sorgen angesichts der sozialen
Schieflage in Europa. Aber in Ihrem Antrag widerspre-
chen Sie sich immer wieder. Sie hängen der Illusion
nach, man könne angesichts der Krise auf das Sparen
völlig verzichten. Das ist realitätsfremd – es sei denn,
Sie sagen uns, wo ihr Dukatenesel steht.

Die SPD-Fraktion will, dass der Sparkurs ergänzt
wird um Investitionen für Wachstum. Wir müssen klug
und gezielt beides machen: sparen und investieren, aber
zielgerichtet und effektiv. Die SPD hat in Deutschland
gezeigt, wie das geht; denn die gute gegenwärtige Situa-
tion der Wirtschaft haben wir der SPD zu verdanken, so-
wohl den Reformen, die oft auch schmerzhaft waren, als
auch den Konjunkturprogrammen und gezielten Maß-
nahmen zum Erhalt von Arbeitsplätzen.

Es ist nun fünf Jahre her, dass die Hypothekenkrise in
den USA ihren Anfang nahm. Sie erreichte schnell
Europa. Die Konjunktur in Deutschland brach ein, und
auch hierzulande mussten Banken mit großen finanziel-
len Mitteln vor dem Kollaps gerettet werden, damit sie
nicht das gesamte Wirtschafts- und Finanzsystem in den
Abgrund reißen. Neben der Bankenrettung kümmerte
sich die damalige Regierung auf Initiative der SPD auch
um die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Wirtschaft
und den Arbeitsmarkt.

Im November 2008 beschloss die damalige Bundesre-
gierung unter maßgeblicher Beteiligung der SPD das
erste Konjunkturpaket. Bundesminister für Arbeit und

Soziales war damals Olaf Scholz. Der Bundesfinanz-
minister hieß Peer Steinbrück. Auf Betreiben der SPD-
Minister wurde ein Schutzschirm für Arbeitsplätze er-
richtet, lange bevor der erste Rettungsschirm für Grie-
chenland das Licht der Welt erblickte. Maßnahmen des
ersten Konjunkturpakets waren unter anderen die Aus-
weitung des CO2-Gebäudesanierungsprogramms, die
Verlängerung des Kurzarbeitergeldes und die Absen-
kung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung
auf 2,8 Prozent.

Im Januar 2009 folgte das zweite Konjunkturpaket.
Mit ihm wurden beispielsweise der Eingangssteuersatz
und der Krankenkassenbeitrag gesenkt, der steuerliche
Grundfreibetrag erhöht und die Regelsätze für Kinder in
Familien mit Grundsicherung erhöht. Außerdem gab es
bis 2010 ein kommunales Investitionsprogramm und ein
Kredit- und Bürgschaftsprogramm zur Unterstützung der
Wirtschaft. Das gesamte Fördervolumen der beiden Pa-
kete entsprach rund 100 Milliarden Euro. Die Bundesre-
gierung aus CDU/CSU und FDP hat in ihrer Antwort auf
die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zugeben
müssen, dass die umfassenden Konjunkturpakete zum
positiven Wachstum seit dem Jahre 2010 beigetragen
haben.

Heute – im fünften Jahr der Krise – soll laut Bundes-
regierung alles anders sein. Trotz des erwiesenen Er-
folgs aktiver Wirtschaftspolitik hat sich die Bundesregie-
rung bis Anfang 2012 gesträubt, ihre rigide Sparpolitik
um eine Politik zu ergänzen, die Wachstum und Beschäf-
tigung stärkt und den Menschen zugute kommt. Die
Maßnahmen der Konjunkturpakete sind ausgelaufen.
Die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung und zur
gesetzlichen Krankenversicherung sind seit 2009 um
insgesamt 0,7 Prozentpunkte gestiegen. Die OECD hat
im April festgestellt, dass die Abgabenlast nur in Belgien
höher ist als in Deutschland. Das Deutsche Institut für
Wirtschafsforschung hat im November 2011 festgestellt,
dass der Reallohn eines mittleren Arbeitnehmers in
Deutschland seit 2005 um 7 Prozent gesunken ist. Eben-
falls Ende 2011 stellte die OECD fest, dass die Einkom-
mensunterschiede in Deutschland so stark zugenommen
haben wie in kaum einem anderen Land. Deshalb bin ich
sehr gespannt auf den 4. Armuts- und Reichtumsbericht,
den die Bundesregierung hoffentlich bald vorlegen wird.
Spätestens dann wird sie eingestehen müssen, dass die
Armut in Deutschland weit größer ist, als sie bislang
zugibt. Selbst das Statistische Bundesamt hat für 2009
festgestellt, dass fast 16 Prozent der Menschen in
Deutschland von Armut bedroht waren. 43 Prozent die-
ser Menschen waren Alleinerziehende und deren Kinder.
Da klingt es doch wie Hohn, dass die Bundesregierung
beabsichtigt, Müttern eine Prämie für das Zuhauseblei-
ben zu zahlen, statt das Geld in den Ausbau der Kinder-
betreuung zu investieren.

Unglaublich ist auch, dass die Bundesregierung sich
mit jährlich 70 000 Schulabbrechern zufrieden geben
möchte. Sie ist der Meinung, es sei ausreichend, das
europäische Ziel, die Quote der Schulabbrecher auf
10 Prozent zu senken, zu erreichen. Die Bundesregie-
rung gratuliert sich dazu, dieses Ziel schon heute statt
im Jahre 2020 erreicht zu haben.

Zu Protokoll gegebene Reden





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)


Das alles sind Beispiele dafür, dass sich die Bundes-
regierung überhaupt nicht um die sozialen Folgen der
Krise kümmert. Sozialpolitik findet nicht statt. Daher
verwundert es auch nicht, dass die Bundesregierung
sich auf europäischer Ebene lediglich dafür einsetzt,
dass gespart wird. Sparen allein hilft aber nicht. Solide
Finanzen sind nur das Fundament, auf dem das europäi-
sche Haus errichtet werden muss. Für den Bau des Hau-
ses bedarf es aber Investitionen, Investitionen in Men-
schen und in die Wirtschaft, die das Haus aufbauen
sollen.


Heinz Golombeck (FDP):
Rede ID: ID1717831500

Der Europäische Stabilitätsmechanismus und der

Fiskalpakt sind ein Meilenstein auf dem Weg der weite-
ren europäischen Integration. Diese Gesetzentwürfe
schaffen einen weiteren wichtigen Baustein, um die Ver-
trauenskrise in den Finanzmärkten zu überwinden. Nur
auf diesem Wege können wir soziale Standards, die Lage
der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in Europa nach-
haltig verbessern.

Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag
Wachstums- und beschäftigungsschaffende Maßnahmen
statt Kürzungen. Wachstum lässt sich aber nicht mit
Schulden kaufen, Wachstum entsteht durch Struktur-
reformen. Ein geforderter politischer Kurswechsel ist
gerade keine Alternative zu einem strikten Sparkurs in
der EU. Die Finanzkrise kann nur dadurch gelöst wer-
den, dass die Ursachen in den betroffenen Ländern
angegangen werden. Um die Krise in den betroffenen
Ländern zu bekämpfen, müssen Defizite reduziert wer-
den und die Wachstumsperspektiven wie auch die Wett-
bewerbsfähigkeit durch entsprechende Strukturreformen
gestärkt werden.

Wir sind auf einem guten Weg, die Krise in Europa
Schritt für Schritt zu bekämpfen. Die Ursache der Krise
war die zu hohe Staatsverschuldung. Für dauerhaftes
Wachstum brauchen wir auch solide und tragfähige
Haushalte. Sowohl der Stabilitäts- und Wachstumspakt
wie auch der Fiskalvertrag dienen diesem Ziel.

Anders als einige Vertreter der Opposition sieht die
FDP den Fiskalvertrag als einen wichtigen Schritt zu
mehr Solidarität in Europa. Er verpflichtet die Mitglied-
staaten zur Einführung von Schuldenbremsen, er auto-
matisiert das Defizitverfahren, und er führt für Staaten,
die sich im Defizitverfahren befinden, sogenannte Haus-
halts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme ein.
Dies sind wesentliche deutsche Forderungen, die die
Bundesregierung hier durchsetzen konnte.

Aufgrund der Zuständigkeit der einzelnen Mitglied-
staaten im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
gestalten sich Ansatzpunkte für Wachstumsinitiativen
auf europäischer Ebene manchmal schwierig. Die Frage
nach der besten Strategie zur Bekämpfung der Arbeits-
losigkeit muss daher in jedem Land verschieden beant-
wortet werden. Denn zum Teil bestehen ganz unter-
schiedliche Ursachen der Arbeitslosigkeit. Wir bevor-
zugen eine koordinierende Tätigkeit der EU in diesem
Punkt.

Nicht nur den Arbeitsmarktreformen in Deutschland
verdanken wir unseren robusten Arbeitsmarkt. Die deut-
sche Wirtschaft ist vielfältig und breit aufgestellt, die
Unternehmen sind international wettbewerbsfähig. Viele
Jobs konnten in der Krise durch das eingeübte Zusam-
menspiel der Sozialpartner gerettet werden. Diese Struk-
turen müssen wir analysieren und gegebenenfalls auf
andere europäische Länder übertragen.

Die europäische Sozialpolitik hat in vielen Bereichen
zu einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedin-
gungen der Menschen in Europa geführt. Wir begrüßen
den Fokus der Strategie „Europa 2020“, der sich unter
anderem auf sozialpolitische Belange stützt. Von den
fünf Oberzielen der Strategie „Europa 2020“ haben
zwei unmittelbaren Bezug zur Arbeitsmarkt- und Sozial-
politik: Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 die Erwerbstäti-
genquote der Männer und Frauen in der EU auf 75 Pro-
zent zu steigern und die Zahl der von Armut und sozialer
Ausgrenzung bedrohten Menschen um 20 Millionen zu
reduzieren. Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist der
beste Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung.

Der Forderung aus dem vorliegenden Antrag der
Fraktion Die Linke, einen gesetzlichen Mindestlohn in
Höhe von 10 Euro pro Stunde in Deutschland einzu-
führen, kommen wir nicht nach. Wir lehnen die Einfüh-
rung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns
ab. Die soziale Marktwirtschaft funktioniert, und die
Lage am Arbeitsmarkt ist ausgesprochen gut. Für die
FDP gilt der Koalitionsvertrag unverändert, in dem wir
einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn eindeutig
ablehnen.

Erschreckend sind die Forderungen aus dem vor-
liegenden Antrag der Fraktion Die Linke. Diese sind
rückwärtsgewandt und realitätsfremd.

Wir werden unseren Kurs fortfahren und die gesteck-
ten Ziele verfolgen. Solides Haushalten und Maßnah-
men zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung
sind unverzichtbare Säulen zur Krisenbewältigungspoli-
tik in der EU. Dabei setzen wir auf Wachstum durch
Strukturreformen.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717831600

Vor knapp einer Woche fanden in Frankreich und

Griechenland Wahlen statt. In beiden Fällen wurde eine
Politik abgewählt, die auf Sozialabbau setzt und die Las-
ten der Finanzkrise auf den Rücken der Bevölkerung ab-
wälzen will.

In Frankreich gewann ein Präsidentschaftskandidat,
der sich für eine Vermögensteuer von 75 Prozent aus-
spricht und das Renteneintrittsalter wieder senken will.
In Griechenland verloren die sogenannten Memo-
randumsparteien ihre Mehrheit. Memorandum steht hier
für die Durchführung der von der Troika von IWF, EU-
Kommission und Europäischer Zentralbank auferlegten
Kürzungsmaßnahmen für das Land.

Das Ergebnis der Wahlen in Frankreich und Grie-
chenland macht deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger
sind nicht länger bereit, mit drastischen Sparmaßnah-
men, Sozialkürzungen und einer Einschränkung ihrer

Zu Protokoll gegebene Reden





Sabine Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)


demokratischen Rechte für die Finanz- und Wirtschafts-
krise zu zahlen.

In dem vorliegenden Antrag fordert die Linke von der
Bundesregierung ein, sich für den Erhalt und Ausbau
der sozialen Errungenschaften einzusetzen, nicht für de-
ren Abriss. Wir wissen natürlich, dass hier nicht die
Kraft des besseren Arguments zählt. Nur durch gesell-
schaftlichen Druck ist ein Politikwechsel zu erreichen.

Mit den Wahlausgängen in Frankreich und Griechen-
land ist die Debatte über die derzeitige Krisenpolitik in
Europa neu eröffnet. Auch in Deutschland gibt es ein
großes Unbehagen über diese Politik. Deshalb ist es
richtig, dass in einer Woche in der Bankenmetropole
Frankfurt am Main Proteste und Aktionstage geplant
werden. Es ist ein Skandal, dass mit den derzeitigen Ver-
botsverfügungen diese Proteste verboten und die Mei-
nungsfreiheit eingeschränkt werden soll. Diese Verbote
dürfen keinen Bestand haben. Eine Protestnote dagegen
haben in den letzten Tagen 3 500 Menschen unterschrie-
ben. Die Linke wird bei den Protesten auch vor Ort sein
und mit vielen internationalen Gästen Alternativen zur
sozial ungerechten Krisenpolitik aufzeigen.

Das derzeitige Krisenmanagement in Europa, maß-
geblich von der Regierung Merkel vorangetrieben, ist
nicht nur sozial ungerecht. Es ist auch ökonomisch
falsch. Die Maßnahmen, die einseitig auf Ausgabenkür-
zung und marktradikale Strukturreformen gerichtet sind,
treiben immer mehr Staaten tiefer in die Rezession.

Heute hat die Deutsche Bank ein Papier mit Wachs-
tumsprognosen für die USA, Japan und den Euro-Raum
veröffentlicht. Danach wird in diesem Jahr die Wirt-
schaft im gesamten Euro-Raum voraussichtlich um
0,2 Prozent schrumpfen, in einzelnen Ländern deutlich
stärker. Für die USA und Japan wird dagegen ein Wachs-
tum von 2,6 Prozent und 2,8 Prozent vorausgesagt.
Denn anders als in Europa wird die wirtschaftlich ange-
spannte Situation nicht noch durch einen harten Spar-
kurs verschlimmert.

Um die Schulden abzubauen, könnte man das Geld
dort holen, wo es liegt: bei den Banken, Millionären und
Milliardären. Aber weil die Bundesregierung dies ab-
lehnt und Europa auch diese Politik diktiert, werden die
Völker Europas in Geiselhaft genommen. In Geiselhaft
für die Rettung der Banken und zur Sicherung der Pro-
fite der Spekulanten. Auf nichts anderes läuft der soge-
nannte Fiskalpakt und der neue EU-Rettungsschirm
ESM hinaus.

Die Linke sagt dazu Nein und wird im Bundestag da-
gegen stimmen.

Unsere Forderungen in dem vorliegenden Antrag
sind klar:

Darlehen an notleidende Staaten dürfen nicht mehr
an den Abbau sozialer Standards und das Absenken von
Mindestlöhnen gekoppelt werden. Stattdessen sind die
öffentlichen Haushalte der Euro-Zone von den Finanz-
märkten abzuschirmen. Kredite sollen über eine öffentli-
che Bank vergeben werden, um Zinsaufschläge zu ver-
hindern.

Statt Bankenrettung und Sparpakete muss die Politik
in der EU beschäftigungsschaffende und sozialpoliti-
sche Maßnahmen initiieren. Dazu gehören ein effektives
europaweites Zukunftsinvestitionsprogramm zum sozial-
ökologischen Umbau sowie kurzfristig Konjunkturpa-
kete in den Krisenstaaten. Um all dies zu finanzieren,
müssen eine EU-weite Vermögensabgabe und eine echte
Bankenabgabe eingeführt werden sowie zur Begrenzung
der Spekulation eine europaweite Finanztransaktion-
steuer.

Die Wahlergebnisse in Frankreich und Griechenland
machen uns Mut, dafür weiter zu streiten.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Natürlich müssen die sozialen Standards in Europa
verteidigt und ausgebaut werden. Die politische Integra-
tion muss vorangetrieben werden, und die europäischen
Institutionen müssen eine stärkere demokratische Legiti-
mation erhalten.

Die Politik der Bundesregierung trägt dem nur be-
dingt Rechnung; denn sie handelt in der vorhandenen
Schuldenkrise nur sehr zögerlich und setzt auf einen ein-
seitigen Sparkurs sowie intergouvernementale Verträge.

Trotzdem halten wir den ESM als ständigen Rettungs-
schirm für überfällig, wir haben ihn ja bereits vor einem
Jahr eingefordert. Aus unserer Sicht sollte der Rettungs-
schirm ein größeres Volumen haben. Hierfür wäre die
zusätzliche Überführung der EFSF-Mittel in den ESM
sinnvoll, damit dieser auch wirklich gegen Spekulatio-
nen wirken kann.

Dass Mitgliedstaaten, die unter den Rettungsschirm
wollen, nur konditioniert Geld erhalten, ist richtig. Für
die Kredite haften die deutschen Steuerzahler und Steu-
erzahlerinnen.

Strukturreformen und Schuldenabbau sind für die
Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltige Staatsfinanzie-
rung genauso wichtig wie gezielte Investitionen in nach-
haltiges Wachstum und der Abbau wirtschaftlicher Un-
gleichgewichte in Europa. Die von uns geforderte
Einführung eines Mindestlohns würde einen Beitrag
dazu leisten, den Konsum in Deutschland zu stärken und
die Nachfrage nach ausländischen Waren zu erhöhen.
Eine damit verbundene Verbesserung der Leistungsbi-
lanzen anderer Euro-Staaten kommt der Stabilität der
Euro-Zone, und damit auch uns in Deutschland, zugute.

Die Bundesregierung propagiert seit Beginn der
Krise immerzu, dass die strukturellen Probleme ange-
gangen werden müssen und sich die Probleme damit al-
lein lösen lassen würden. Die Entwicklungen der letzten
Monate hinterlassen aber nicht nur nach Ansicht der
Grünen, sondern auch vieler Sachverständiger, den Ein-
druck, dass dieser starre Ansatz die Krise nicht lösen
kann. Sie entlarven diesen vielmehr als gescheitert.

Es ist nun die Zeit gekommen, in Europa Lösungen zu
finden, wie die Wirtschaft in diesen Regionen wieder Im-
pulse bekommen kann. Sparen ist notwendig, reicht aber
allein nicht aus, um die Krise zu überwinden. Die Ent-

Zu Protokoll gegebene Reden





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)


wicklungen in Europa, mit vielen Staaten in der Rezes-
sion, zeigen, dass mehr vom Weiter-so nicht funktionie-
ren wird.

Deswegen wollen wir Grünen zur Ergänzung des Fis-
kalpaktes auch Wachstumsinitiativen, am besten über
die Europäische Investitionsbank. Die Kanzlerin hat
sich inzwischen ja auch diesen unseren Vorschlag zu ei-
gen gemacht. Wir dürfen gespannt darauf sein, was da-
raus wird.

Eine Stärkung der Befugnisse der Europäischen In-
vestitionsbank und gezielte Projektinvestitionen bei-
spielsweise in alternative Energien in Südeuropa, um
Anreize zu schaffen, dass wieder mehr privates Kapital
in die Krisenstaaten fließt, könnten relativ zügig auf den
Weg gebracht werden.

Diese Programme wollen wir nicht über neue Schul-
den finanzieren. Schon seit langem fordern wir die Ein-
führung einer Finanztransaktionsteuer. Investitionsan-
reize für private Investitionen in den krisengeplagten
Ländern könnten sich dadurch finanzieren lassen.

Zudem sollte der vom Sachverständigenrat vorge-
schlagene Schuldentilgungsfonds eingerichtet werden,
um in einem überschaubaren Zeitraum europaweit ver-
trägliche Schuldenstände zu erreichen und für verträgli-
che Refinanzierungskosten zu sorgen. Neben dem ESM,
der ex post für Krisenstaaten eine Art Rettungsnetz dar-
stellt, würde ein Altschuldentilgungsfonds präventiv das
Problem zu hoher Staatsverschuldung angehen und so-
mit beruhigend auf die Märkte wirken können.

Für die Bankenkrise in vielen Ländern, die die Staats-
verschuldung verschärft, müssen wir auf einen europäi-
schen Bankenrettungsfonds hinarbeiten. Dieser wäre in
der Lage, die Bankenrestrukturierung von der Staatsfi-
nanzierung zu lösen, und würde auf diese Weise negative
Rückkopplungseffekte vermeiden.

Abschließend noch ein Wort an die Linke. Natürlich
muss der soziale Kahlschlag verhindert werden. Die oh-
nehin Schwachen müssen geschützt und die Bevölke-
rungsgruppen, die es sich am meisten leisten können,
müssen in die Verantwortung genommen werden. Des-
halb fordern wir ja eine Finanztransaktionsteuer und
wollen eine Vermögensabgabe einführen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717831700

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9410 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 20:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Systematischen Antibiotikamissbrauch be-
kämpfen – Tierhaltung umbauen

– Drucksache 17/9068 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit

Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben.


Dieter Stier (CDU):
Rede ID: ID1717831800

Mit dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die

Grünen vom 21. März 2012 wird der missbräuchliche
Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung angepran-
gert. Ein umfangreicher Forderungskatalog an die Bun-
desregierung soll Abhilfe schaffen.

Zwischenzeitlich sind jedoch einige wichtige Forde-
rungen überholt, denn die schwarz-gelbe Bundesregie-
rung hat unter Hochdruck bereits am Abbau dieser of-
fenkundigen Missstände gearbeitet.

Das Problem wurde sehr schnell erkannt: Der mas-
sive Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung begüns-
tigt die Entstehung resistenter Keime – diese Keime kön-
nen auch für die Verbraucher gefährlich sein. Somit war
Anfang des Jahres nach Hinweisen aus Studien zur nicht
sachgerechten Anwendung von Antibiotika in der Tier-
haltung schneller Handlungsbedarf begründet.

Ganz aktuell hat Bundesministerin Aigner auf der
Agrarministerkonferenz in Konstanz Ende April den
Weg für eine bundesweite Datenbank freigemacht.
Gleichzeitig soll der Rahmen der anzupassenden Über-
wachung entsprechend abgesteckt werden.

Danach könnten Tierärzte künftig verpflichtet wer-
den, jede Abgabe von Antibiotika sowie den Empfänger-
betrieb zu melden. Eine solche Datenbank kann den zu-
ständigen Überwachungsbehörden in den Ländern
einen Überblick ermöglichen, in welchen Mastbetrieben
auffällig viele Antibiotika zum Einsatz kommen. Auffäl-
lige Betriebe sollen dazu verpflichtet werden, einen Plan
zur Verringerung des Arzneimitteleinsatzes vorzulegen.

Über eine entsprechende Verschärfung des Arznei-
mittelgesetzes soll die rechtliche Möglichkeit des Auf-
baus einer Datenbank geschaffen werden. Dies ist nach
unserer Meinung ein wirksames Kontrollinstrument;
denn bisher wird nur die von der Pharmaindustrie abge-
gebene Gesamtmenge an Antibiotika erfasst. Was in den
einzelnen deutschen Ställen verabreicht wird, ist bisher
in keiner übergreifenden Datenbank erfasst.

Ich denke, es ist unser gemeinsames Ziel, die Anwen-
dung von Antibiotika in der Nutztierhaltung auf ein er-
forderliches Mindestmaß zu beschränken. Gleichzeitig
wollen wir aber eine fachgerechte Vergabe der Medika-
mente allein beschränkt auf Krankheitsfälle auch wei-
terhin ermöglichen.

Wenn wir uns hier mit Antibiotikamissbrauch in der
Tierhaltung beschäftigen, dann dürfen wir nicht verges-
sen, dass die Mehrheit der Mastbetriebe einen verant-
wortungsvollen Umgang mit den Tieren pflegt und sich
am Tierschutzgesetz orientiert. Das Wohlergehen jedes
einzelnen Tieres steht für den Halter im Vordergrund.

Meiner Ansicht nach gibt es drei Gründe für einen
stellenweisen Antibiotikamissbrauch in der Tiermast:





Dieter Stier


(A) (C)



(D)(B)


teilweise schlechtes Tiermanagement, vereinzelt auch
kriminelle Energie und, nicht zu vergessen, die sinken-
den Gewinnmargen beim Verkauf von Masttieren.

Gutes Tiermanagement liegt deshalb in erster Linie in
der Verantwortung eines jeden einzelnen Landwirts
selbst. Deshalb sollte schon bei der Ankunft neuer Tiere
eine gründliche Reinigung der Ställe eine Selbstver-
ständlichkeit sein. Während der Mast muss der Stall
ebenfalls penibel sauber gehalten werden, um Entzün-
dungen und Übertragungen zu verhindern. Jeder Be-
trieb ist gehalten, für eine stetige Verbesserung der Hal-
tungsbedingungen und der hygienischen Bedingungen
für Nutztiere zu sorgen.

Je gesünder die Tiere sind, umso weniger Medika-
menteneinsatz ist notwendig. Keinesfalls sollte die Anti-
biotikavergabe zum Kaschieren von Hygienedefiziten
dienen.

Die Sachkunde und Ausbildung unserer Landwirte ist
letztlich ebenfalls entscheidend bei der Tierhaltung ins-
gesamt und für die Antibiotikaanwendung nach streng
fachlichen Maßstäben. Die Einhaltung der vorgeschrie-
benen Mindestanwendungsdauer von Antibiotika ist
ebenso wichtig wie die tierärztliche Betreuung bei Wirk-
stoffwechsel. Es darf auch nicht sein, dass Antibiotika
rein prophylaktisch gegeben werden. Dem Tierarzt
kommt hierbei übrigens eine Schlüsselrolle zu.

Somit liegt in einer professionellen Beratung im Hin-
blick auf ein gutes Stallmanagement der Schlüssel zu
mehr Stallhygiene und zu einer Minimierung des Anti-
biotikaeinsatzes.

Im Tierschutzgesetz wollen wir mit der anstehenden
fünften Novelle auch vermehrt die Eigenkontrolle der
Betriebe gesetzlich verankern. Damit soll jeder einzelne
Tierhalter verpflichtet werden, seinen Betrieb verantwor-
tungsbewusst auch im Hinblick auf das Tierwohl zu füh-
ren.

Das Dispensierrecht der Tierärzte sollte nach meiner
Meinung erhalten bleiben, damit die unmittelbare Ver-
sorgung des erkrankten Tieres gewährleistet wird.

Kriminelle Energie gibt es in jedem Wirtschaftszweig,
so auch beim Handel mit Tierarzneimitteln. Wenn in gro-
ßem Stil auf Autobahnraststätten Medikamente verscho-
ben werden, so muss diesem Gebaren dringend Einhalt
geboten werden. Der Schwarzmarkt für Veterinärmedi-
zin kann nur eingedämmt werden, indem unsere staatli-
chen Kontrollorgane verstärkt ihr Augenmerk auf den il-
legalen Handel mit Medikamenten insbesondere aus
Osteuropa legen.

Dem Lebensmittel Fleisch wird in unserer Gesell-
schaft eine zu geringe Wertschätzung zuteil. Die Ge-
winnmargen in der Tiermast werden immer geringer, die
Kosten steigen aber permanent an. Wenn ein Masthähn-
chen für den Züchter nur 2 Cent Gewinn abwirft, dann
müssen wir uns als Verbraucher ehrlich fragen, ob wir
durch unser unbedachtes Kaufverhalten nicht eine ge-
wisse Mitverantwortung für den Wertverfall von Fleisch-
produkten tragen.

Wir dürfen keinen Vorschub leisten, dass in unserer
Gesellschaft Tierfleisch in den Status eines „Ramsch-
produktes“ versetzt wird – auch diesen Aspekt dürfen
wir nicht außer Acht lassen, wenn es um Wirtschaftlich-
keit bei der Tierhaltung geht.

Insbesondere in der landwirtschaftlichen Veredlung
steckt eine Menge Arbeitskraft der damit befassten Be-
triebsinhaber und Beschäftigten, häufig eine Arbeit rund
ums Jahr und oft eine Menge Entbehrungen aufgrund
Schicht- oder Bandarbeit gegenüber anderen Beschäfti-
gungsgruppen. Deshalb ist diese Arbeit zur Versorgung
der Bevölkerung mit hochwertigen Lebensmitteln, wel-
che wir zweifellos in Deutschland produzieren, nicht
hoch genug zu schätzen. An dieser Stelle ein herzlicher
Dank an die Mitarbeiter dieser Branche.

Deshalb bedarf es weiterhin auch keines generellen
„Umbaus“ der Tierhaltung, wie von den Antragstellern
gefordert wird; jedoch brauchen wir dort eine stetige
Verbesserung nach neuesten wissenschaftlichen Er-
kenntnissen, um im Wettbewerb zu bestehen.

Fazit: Den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen lehnen wir ab, da viele der im Antrag geforder-
ten Maßnahmen zur nachhaltigen Beschränkung des An-
tibiotikaeinsatzes und zu der damit einhergehenden Be-
einflussung der Resistenzentwicklung bereits umgesetzt
wurden.

Die erforderlichen Änderungen der arzneimittelrecht-
lichen Vorschriften werden in der 16. Arzneimittelgeset-
zesnovelle verankert und auf den Weg gebracht sowie
teilweise auch durch neue Ermächtigungen umgesetzt.
Bestimmte Antibiotika mit für den Menschen schädli-
chen Einflüssen werden verboten, zum Beispiel Cepha-
losporine der dritten und vierten Generation bei Geflü-
gel.

Bei einigen Antibiotika mit großer Bedeutung für die
Humanmedizin sollen jetzt Antibiogramme durchgeführt
werden, zum Beispiel bei Fluorchinolonen, Cephalospo-
rinen. Die Einschränkung der von Tierärzten praktizier-
ten Möglichkeit der Umwidmung von Medikamenten ist
eine weitere Maßnahme. Mit der bundesweiten, zentra-
len Antibiotika-Datenbank ist bald eine lückenlose Er-
fassung für alle Antibiotikaanwendungen in der land-
wirtschaftlichen Tierhaltung möglich. Mit diesen
Maßnahmen sind wir deshalb bereits auch ohne den An-
trag der Opposition auf dem richtigen Weg. Und jeder
Einzelne von uns sollte sich einmal fragen, ob er nicht
auch bereit wäre, wenige Cent mehr für ein Hähnchen zu
bezahlen.


Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1717831900

Wir debattieren heute ein Thema, das auf den ersten

Blick nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit steht. Das
entlässt die Bundesregierung aber nicht aus der Verant-
wortung, endlich einen substanziellen Gesetzesvor-
schlag zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vorzule-
gen. Der war ja schon für Anfang März dieses Jahres
angekündigt. Offensichtlich kann sich die Bundesregie-
rung wieder mal nicht einig werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) (C)



(D)(B)


Abermals hinkt die Abstimmung innerhalb der Bun-
desregierung hinterher. Das kennen wir von dieser
zerstrittenen Koalition, die sich mehr mit sich auseinan-
dersetzt als mit den wirklich wichtigen Themen. Die not-
wendige Gesetzesnovelle will die Regierung im Herbst
2012 einbringen. Gleiches hören wir Abgeordnete ja
auch beim Thema Tierschutznovelle.

Die SPD will den Einsatz von Antibiotika in der Tier-
haltung drastisch senken. Bei jeder unsachgemäßen An-
wendung von Antibiotika steigt das Risiko, dass resis-
tente Krankheitserreger entstehen. Diese Erreger
können die Gesundheit von Verbrauchern gefährden.
Wir brauchen zukünftig mehr Klarheit, Offenheit und
Transparenz im System der Verschreibung und der An-
wendung von Antibiotika. Wir fordern ein nationales An-
tibiotikareduktionsprogramm mit klaren Zielvorgaben,
das seinen Namen auch verdient.

Die Fachöffentlichkeit hat in den letzten Monaten in-
tensiv über das Thema Dispensierrecht diskutiert. Fach-
verbände, Umwelt- und Tierschutzverbände, selbst der
Bund Deutscher Milchviehhalter, haben sich eindeutig
positioniert: Es besteht kein Grund, das Dispensierrecht
infrage zu stellen. Wir Oppositionsparteien sind uns in
diesem Punkt ebenfalls einig: Bevor wir das Dispensier-
recht einschränken, müssen viele andere Maßnahmen
umgesetzt werden, um den Einsatz von Antibiotika zu re-
duzieren. Denn eines ist klar: Am Flaschenhals lässt
sich am besten überwachen, wer welche Mengen Anti-
biotika verschreibt und ausliefert.

Ich sehe auch die Rabattgestaltung der Pharmaher-
steller kritisch. Abgabepreise, die um 50 Prozent in Ab-
hängigkeit von der georderten Menge differieren, führen
zu Wettbewerbsverzerrungen. Tierarztpraxen, die die
Versorgung in der Fläche gewährleisten, werden da-
durch benachteiligt. Das ist nicht im Sinne einer verläss-
lichen und flächendeckenden tierärztlichen Versorgung
und schadet der Ausübung des freien Berufes. Das kann
nicht in unserem Sinne sein.

Wir müssen auch die geplanten Regelungen zur Um-
widmung von Wirkstoffen kritisch überprüfen. Wir müs-
sen dabei sicherstellen, dass es auch bei den Nutztieren,
die keine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung haben,
wegen fehlender Zulassung von Wirkstoffen nicht zum
Therapienotstand kommt.

Es kann nicht sein, dass wir wegen der fehlenden Zu-
lassung von Wirkstoffen bei einer Tierart Wirkstoffe, die
bei einer anderen Tierart zugelassen sind, umwidmen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, auf europäischer
Ebene eine Initiative zu starten, damit das Zulassungs-
verfahren neuer Wirkstoffe geändert wird. Dies ist im
Sinne des Tierschutzes dringend erforderlich.

Die SPD-Bundestagsfraktion ist sich ihrer Verant-
wortung für den gesundheitlichen Verbraucherschutz
und den Tierschutz bewusst. Deshalb haben wir früh und
vorausschauend gehandelt. Die SPD hat als erste Frak-
tion einen richtungsweisenden Antrag „Antibiotika-Ein-
satz in der Tierhaltung senken und eine wirksame Re-
duktionsstrategie umsetzen“ in den Bundestag
eingebracht. Mit diesem Antrag zeigen wir den Weg auf,

wie der Bund dieses Ziel zusammen mit den Ländern er-
reichen kann. Leider verweigerte die schwarz-gelbe Ko-
alition ihre Zustimmung zu diesem Antrag. Beim nun
vorliegenden Antrag der Grünen befürchte ich das glei-
che Vorgehen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auch den
Antrag der Fraktion Die Linke wegen seiner Sach-
und Fachkompetenz loben. Der Antrag der Kollegin
Tackmann, der heute leider nicht zur Abstimmung steht,
ist in jeder Hinsicht fachlich ausgezeichnet und zielfüh-
rend. Hinter den Anträgen der SPD und der Linken
bleibt der jetzt debattierte Antrag der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen leider zurück.

Ich freue mich, dass sich Bund und Länder auf der
letzten Agrarministerkonferenz grundsätzlich auf den
Aufbau einer bundesweit einheitlichen Datenbank für
die Erfassung des Einsatzes von Antibiotika bei land-
wirtschaftlichen Nutztieren geeinigt haben. Die selbster-
nannte Datenschützerin aus dem FPD-geführten Justiz-
ministerium hatte in den letzten Monaten immer wieder
gegen eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für eine
deutschlandweite Antibiotikadatenbank argumentiert.
Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger muss
sich in diesem Punkt mit ihrer Kabinettskollegin Ilse
Aigner schnell einigen. Die Justizministerin muss sich
bewegen und darf sich nicht aus parteitaktischen Moti-
ven gegen eine zentrale Datenerfassung sperren. Denn
zurzeit leistet sie mit ihrem Verhalten dem Verbraucher-
schutz einen Bärendienst.

Die mir bisher vorliegenden Informationen zum Ge-
setzentwurf der Bundesregierung zeigt eines: Die ge-
plante AMG-Novelle lässt befürchten, dass es keine sub-
stanziellen Veränderungen geben wird. Die Neuregelung
ist eine leere Hülse. Die Ministerialbürokratie soll vom
Parlament ermächtigt werden, die konkreten Maßnah-
men auszuarbeiten. Ich fordere die Abgeordneten auf,
den Gesetzentwurf so auszugestalten, dass wirklich ef-
fektive Maßnahmen umgesetzt werden. Verordnungser-
mächtigungen sind nicht zielführend und überlassen die
Lösung des Problems am Ende nur den Beamten im
BMELV und den Länderministerien.

Einen Freifahrtschein für die Ministerialbürokratie
werden wir Sozialdemokraten nicht ausstellen. Wir wol-
len die Bearbeitung eines so sensiblen Themas nicht al-
leine in die Hände der Beamten geben. Wir nehmen die
Rolle des Parlaments sehr ernst. Wir Abgeordnete des
Deutschen Bundestages wollen auch weiterhin mitent-
scheiden können. Wir müssen das Verbrauchervertrauen
zurückgewinnen. Daher brauchen wir Klarheit, Offen-
heit und Transparenz auch im Gesetzgebungsverfahren.

Lebensmittelsicherheit, Verbraucher- und Tierschutz
haben für die SPD-Bundestagsfraktion oberste Priori-
tät. Deshalb wollen wir den Einsatz von Antibiotika
drastisch senken. Die SPD fordert konkrete und eindeu-
tige Zielvorgaben, um den Antibiotikaeinsatz in der
Nutztierhaltung zu reduzieren. Wir wollen mehr Trans-
parenz und eine nachvollziehbare Rückverfolgbarkeit
der Anwendung. Dafür brauchen wir ein betriebsbezo-
genes bundesweites einheitliches Monitoring- und Re-
duktionsprogramm. Die Leitlinien der Bundestierärzte-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) (C)



(D)(B)


kammer für den sorgfältigen Umgang mit antibakteriell
wirksamen Tierarzneimitteln müssen rechtsverbindlich
gemacht werden.

Die SPD fordert ein zweistufiges Sanierungspro-
gramm für tierhaltende Betriebe. Auffällige Betriebe mit
hohem Antibiotikaverbrauch sollen im ersten Schritt
verpflichtet werden, ein Sanierungsprogramm zusam-
men mit ihrem Bestandstierarzt auszuarbeiten und um-
zusetzen. Bestandteile dessen müssen die Verbesserung
des Tierschutzstandards und des Hygienestatus sein.
Dabei sind alle Stufen der Produktion einzubeziehen.
Greifen die auf freiwilliger Basis entwickelten Maßnah-
men nicht, sind die Amtstierärzte gefordert. Betriebe
werden dann amtlicherseits zu verbindlichen Maßnah-
men zur Verbesserung des Hygienestatus verpflichtet.

Wir werden keiner AMG-Novelle aus dem Hause Ilse
Aigner zustimmen, in welcher die soeben beschriebenen
Maßnahmen fehlen. Wir brauchen eindeutige und wis-
senschaftlich unterlegte Aktions- und Schwellenwerte.
Uns fehlt auch die Verpflichtung, Mortalitätsraten zu
melden, die als Indiz für Mängel in der Betriebsführung
dienen. Das reine Sammeln von Daten zu Monitoring-
zwecken reicht nicht. Die betroffenen Betriebe müssen
am Ende auch Konsequenzen spüren, wenn sie nichts
ändern.

Die Aufgabe der Kontrollbehörden vor Ort muss es
sein, jene Betriebe zügig zu identifizieren, die massive
Probleme haben. Dafür müssen wir die rechtlichen Vo-
raussetzungen schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass
die landwirtschaftlichen Betriebe in der Lage sind, Ver-
besserungen bei Hygiene- und Tierschutzstandards und
in der Betriebsführung zügig umzusetzen. Grundsätzlich
brauchen wir eine Weiterentwicklung zu tiergerechteren
Haltungssystemen.

Wenn der Gesetzgeber entsprechende und ambitio-
nierte Vorgaben macht, wird das Thema sehr schnell er-
ledigt sein. Die bisher vorgelegten Maßnahmen aus dem
BMELV sind nicht ambitioniert genug. Die Ministerin
muss nun auf die Länder zugehen und mit ihnen einheit-
liche Überwachungsgrundsätze vereinbaren.

Es gibt entlang der Lebensmittelkette immer wieder
Schwächen in der Überwachung. Die müssen wir konse-
quent ausräumen. Es kann nicht sein, dass wir weitere
zehn Jahre über dieses Thema diskutieren, ohne dass wir
substanzielle Fortschritte erreichen. Entscheidend ist,
wie die Maßnahmen vor Ort umgesetzt werden. Mir ist
bewusst, dass die Kommunen kein Geld haben und kaum
noch Personal einstellen. Von den Sparzwängen sind na-
türlich auch die Veterinär- und Lebensmittelüberwa-
chungsämter betroffen. Die Verbraucher erwarten je-
doch zu Recht, dass die Amtstierärzte tierhaltende
Betriebe intensiv kontrollieren. Hier müssen wir anset-
zen und den Kontrollbehörden vor Ort endlich die not-
wendigen Daten und Auswertungen zeitnah zur Verfü-
gung stellen.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1717832000

Ohne eine akute bakterielle Infektion darf es keine

Gabe von Antibiotika geben. Dies gilt für die Nutzung

von Antibiotika in der Tiermedizin genauso wie in der
Humanmedizin. Das muss das Ziel sein, und darüber
herrscht hier weitgehend Einigkeit.

Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln sich in Bak-
terien spontan. Dies ist unvermeidbar. Je länger und
häufiger ein Antibiotikum in Gebrauch ist, desto schnel-
ler verbreiten sich Bakterien, die gegen diesen Wirkstoff
resistent sind. Insbesondere multiresistente Keime, die
unempfindlich gegen mehrere Antibiotika sind, können
nur schwer behandelbare Infektionskrankheiten verur-
sachen. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind MRSA
– Methicillin-resistente Staphylococcus aureus – und
ESBL-Keime – Extended Spectrum beta-Lactamase.
Deswegen sind Antibiotikaresistenzen ein bedeutendes
Problem für die öffentliche Gesundheit. Es ist ein Gebot
des vorsorgenden Gesundheitsschutzes, die Anwendung
von Antibiotika so restriktiv zu gestalten, dass wirksame
Antibiotika im Notfall zur Verfügung stehen.

Der von den Bundesministern Dr. Philipp Rösler, Ilse
Aigner und Professor Dr. Annette Schavan im vergange-
nen Frühjahr vorgestellte Zwischenbericht der Deut-
schen Antibiotika Resistenzstrategie – DART – zeigt auf,
wo wir beim Auftreten von Antibiotikaresistenzen stehen
und was zu tun ist. Der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen beschäftigt sich jedoch lediglich mit wenigen
Teilaspekten des Antibiotikamissbrauchs und lässt we-
sentliche Ursachen aus. Er ist daher ungeeignet, etwas
zur grundlegenden Lösung des Problems beizutragen.

Die Untersuchungen des niedersächsischen Agrar-
ministers Gert Lindemann belegen einen hohen Antibio-
tikaeinsatz in der landwirtschaftlichen Tierhaltung. Die
Studien aus NRW sind hingegen wegen statistischer
Mängel wenig aussagekräftig. Nach den niedersächsi-
schen Ergebnissen wurden in der Putenmast 84 Prozent,
in der Schweinemast 68 Prozent und in der Kälbermast
92 Prozent der Tiere sowie 76 Prozent der Masthühner
mit Antibiotika behandelt. Dabei wurden bis zu acht ver-
schiedene Antibiotika eingesetzt, und es wurde nicht im-
mer die fachlich gebotene Dauer des Antibiotikaeinsat-
zes beachtet. Antibiotika werden häufig eingesetzt, um
schlechte hygienische Zustände in den Betrieben zu
überdecken.

Gleichwohl weist in Deutschland produziertes und
vermarktetes Fleisch nur minimale Rückstände von An-
tibiotika auf. Dies belegen beispielsweise die Untersu-
chungen des Instituts für Hygiene und Umwelt der Be-
hörde für Gesundheit und Verbraucherschutz der
Hansestadt Hamburg. Der Verzehr von Fleisch ist bei
uns völlig unbedenklich. Wesentlich wichtiger für den
genussvollen Fleischkonsum sind der richtige hygieni-
sche Umgang beim Zerlegen und Zubereiten des
Fleischs und zum Beispiel das Durchgaren von Geflü-
gelfleisch.

Eine wesentliche Ursache für den hohen Einsatz von
Antibiotika gerade in der Kälbermast ist die gemein-
same Aufzucht von Tieren aus unterschiedlichen Her-
künften. Die Tiere bringen die bakterielle Ausstattung
des Herkunftsbetriebes mit und stecken sich dadurch ge-
genseitig an. In Transportern und Sammelställen ist der
Austausch von Krankheitskeimen zwischen den Tieren

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


unvermeidlich. Die betroffenen Betriebe müssen Strate-
gien zur Vermeidung von Krankheitspools und zur Ver-
ringerung der Ansteckungsgefahren entwickeln. Die
Minderung des Antibiotikaeinsatzes wird verstärkt zu ge-
schlossenen Haltungssystemen führen.

Die Zahlen machen deutlich, dass es einen erhebli-
chen Verbesserungsbedarf für den Einsatz von Antibio-
tika in der Tierhaltung gibt. Die bestehenden unverbind-
lichen Leitlinien der Bundestierärztekammer zur
Anwendung von Antibiotika reichen offensichtlich nicht
aus. Die Novelle des Arzneimittelgesetzes muss den
Rahmen setzen für einen sachgerechten Einsatz von An-
tibiotika und eine verbesserte Kontrolle. Antibiotika
müssen in der Therapie als Heilmittel weiterhin verab-
reicht werden dürfen. Forderungen nach pauschaler Re-
duktion oder dem Verbot bestimmter Antibiotika sind
nicht sinnvoll. Das Dispensierrecht steht auf dem Prüf-
stand. Es muss garantiert werden, dass tierhaltende Be-
triebe eine ausreichende Versorgung mit Arzneimitteln
aller Art erhalten. Die Tierärzte müssen verstärkt durch
Beratungsleistungen in das Bestands- und Hygienema-
nagement eingebunden und für ihre Leistungen ange-
messen entlohnt werden. Dann wird der Anreiz sinken,
Medikamente zu verkaufen.

Die Bundesregierung hat bereits Maßnahmen einge-
leitet, um den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu
vermindern. Auf der Agrarministerkonferenz vorige Wo-
che wurde die Schaffung einer bundeseinheitlichen amt-
lichen Datenbank für die Erfassung des Antibiotikaein-
satzes bei landwirtschaftlichen Nutztieren beschlossen.
Die Daten müssen aufbereitet und zugänglich gemacht
werden. So können wir die besten Betriebe identifizieren
und ihre Managementmaßnahmen auf schwächere Be-
triebe übertragen.

Weitere Maßnahmen zur Sicherstellung eines verant-
wortungsbewussten und sorgfältigen Antibiotikaeinsat-
zes befinden sich in der Ressortabstimmung bzw. der
Verbändeanhörung. Weiterhin müssen bestehende und
bewährte Strukturen wie das Zoonosenmonitoring ge-
stärkt werden. Hier sind die Länder gefordert, die not-
wendigen Daten auch zu melden. Davon profitiert auch
der vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-
mittelsicherheit entwickelte und in diesem Jahr aktuali-
sierte nationale Antibiotikaresistenzatlas „Germap“.
Bei allen Maßnahmen, die jetzt eingeleitet werden, muss
darauf geachtet werden, dass kleinere Betriebe nicht be-
nachteiligt werden. Auch sie müssen diese ohne zusätzli-
che bürokratische Belastung leisten können.

Alle diese Maßnahmen kosten Geld. Dafür werden
letztlich die Verbraucherinnen und Verbraucher, die eine
antibiotikafreie Tierhaltung fordern, mit höheren Prei-
sen bei Fleisch- und Milchprodukten zahlen müssen. Wir
müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass diese
Maßnahmen das Resistenzproblem nur mindern können.
Viele Resistenzen entstehen durch die unsachgemäße
Anwendung von Antibiotika im Humanbereich. Ein be-
sonderes Augenmerk müssen wir auf die Personen rich-
ten, die häufig mit Tieren zu tun haben. So können Tier-
halter, Tierärzte und Mitarbeiter in tierhaltenden
Betrieben und Tierarztpraxen jedoch Überträger von re-

sistenten Keimen sein. Krankenhäuser müssen dies bei
der Aufnahme solcher Patienten im Blick haben.

Wir können in dieser Problematik nur dann zu einer
sachgerechten und wirkungsvollen Lösung kommen,
wenn Bund, Länder und die europäische Ebene kon-
struktiv zusammenarbeiten. Wir müssen gemeinsam mit
der Forschung, der Tier- und Humanmedizin sowie den
Tierhaltern neue Konzepte entwickeln.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717832100

Eine Tierhaltung, die auf regelmäßige Antibiotika-

gaben angewiesen ist, ist alles andere als nachhaltig.
Muss eine Tierärztin oder ein Tierarzt in einem Bestand
immer wieder auf Antibiotika zurückgreifen, läuft
grundsätzlich etwas schief im Stall. Leider scheint das
keine Ausnahme zu sein.

Zwei Studien aus dem Jahr 2011 belegen das. Eine
kam aus NRW, die andere aus Niedersachsen. In NRW
wurden für 92,5 Prozent der untersuchten Hähnchen-
mastdurchgänge Antibiotikabehandlungen dokumen-
tiert. Nur 16 Prozent kamen ohne Antibiotika aus. Die
Tiere erhielten durchschnittlich 3 bis 4, einige sogar bis
zu 8 verschiedene antibiotische Wirkstoffe. Dabei wer-
den konventionell gehaltene Masthähnchen selten älter
als 35 Tage. Das zuständige Landesamt, LANUV, ver-
wies darauf, dass bei Betrieben mit weniger als 10 000
Tieren und einer Mastdauer von mehr als 45 Tagen der
Antibiotikaeinsatz deutlich geringer war.

Antibiotika werden aber auch bei allen anderen land-
wirtschaftlichen Nutztieren wie Schweinen oder Rindern
zu häufig eingesetzt. Allerdings ist der vorbeugende Ein-
satz von Antibiotika als Wachstumsförderer seit 2006
verboten.

Insgesamt werden laut dem Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz,
BMELV, jährlich 784 Tonnen Veterinärantibiotika in
Deutschland verkauft. Selbst wenn nur einige Tiere er-
krankt sind, wird insbesondere in der Geflügelhaltung
sofort der gesamte Bestand behandelt: Metaphylaxe. Oft
sind das Hunderte oder Tausende Tiere. Das kann im
Ausnahmefall begründet sein. Aber allzu oft wird hier
wohl ein rechtlicher Graubereich missbraucht.

Um nicht missverstanden zu werden: Der Einsatz von
Antibiotika ist zur Behandlung kranker Tiere in den Stäl-
len notwendig und gerechtfertigt, wenn es keine andere
Behandlungsalternative gibt. Das muss eine tierärzt-
liche Entscheidung bleiben. Der zu häufige und regel-
mäßige Einsatz oder eine zu kurze Behandlungsdauer ist
jedoch hoch riskant. Denn das fördert Antibiotikaresis-
tenzen. Sind Mensch oder Tier dann wirklich bei einer
schweren Erkrankung auf wirksame Antiobiotika ange-
wiesen, haben Resistenzen schwerwiegende Folgen.

Neue antibiotische Wirkstoffe sind kaum in Aussicht
bzw. ihre Entwicklung kostet sehr viel Geld. Deshalb ist
ein sehr sorgsamer Umgang mit den verfügbaren Anti-
biotika extrem wichtig und oberste Pflicht der Tierärztin-
nen und Tierärzte, aber auch der Landwirtschaftsbe-
triebe. Jede unnötige Verwendung ist verantwortungslos.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)


Aber die Debatte über Maßnahmen zur Reduzierung
des Antibiotikaverbrauchs muss viel früher ansetzen.
Die Reduzierung der Risiken für Bestandserkrankungen
ist der Königsweg zu mehr Tiergesundheit und weniger
Antibiotika im Stall.

Wahr ist allerdings auch, dass das Thema Antibioti-
kamissbrauch nicht nur in der Nutztierhaltung diskutiert
werden muss, sondern auch bei Klein- und Heimtieren.
Auch in der Humanmedizin müssen wir darüber reden.

Aber nicht nur reden ist wichtig, sondern es muss
endlich auch gehandelt werden. Die Linksfraktion hatte
bereits im Januar 2012 einen Antrag in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Wir wollten ihn gemeinsam mit
der von Ministerin Aigner für März 2012 angekündigten
Novelle des Arzneimittelgesetzes, AMG, im Ausschuss
diskutieren. Da diese Novelle aber wohl nicht vor
Herbst vorgelegt wird, haben wir den Antrag in dieser
Woche dem Ausschuss zur Diskussion vorgelegt. SPD
und Grüne haben ihm zugestimmt. Die Koalition hat ihn
leider mit der Schutzbehauptung, sie würden ja schon
alles tun, abgelehnt.

Unser Antrag „Einsatz von Antibiotika in der Tier-
haltung reduzieren“, Bundestagsdrucksache 17/8348,
enthält folgende Kernforderungen: erstens die Verbesse-
rung der Datengrundlage des Antibiotikaverbrauchs der
einzelnen Bestände, zweitens eine Antibiotikareduk-
tionsstrategie, drittens die Verbesserung der Haltungs-
bedingungen der Tiere und des Bestandsmanagements
für mehr Tiergesundheit, viertens den Erhalt des tier-
ärztlichen Dispensierrechts und fünftens die Trennung
von Human- und Veterinärantibiotika. Das wollen übri-
gens laut einer aktuellen Umfrage von Forsa auch
83 Prozent der Bürgerinnen und Bürger so.

In einer Kleinen Anfrage „Maßnahmen zur Reduktion
des Antibiotikaeinsatzes in der Tierhaltung“, Bundes-
tagsdrucksache 17/8744, haben wir nachgehakt. Die
ausweichenden Antworten des Agrarministeriums oder
sein Verweis auf die Zuständigkeit der Bundesländer
lässt auf sehr wenig Tatendrang schließen. Das Ver-
schleppen von angekündigtem Tatendrang kennen wir
aus dem Haus bei vielen Themen. Aber beim Thema An-
tibiotika ist Trägheit unverantwortlich und inakzeptabel.

Nur sehr langsam scheint sich nun auf Druck der Op-
position etwas zu bewegen. Der AMG-Entwurf ist jetzt
immerhin im Herbst zugesagt. 2012 hat Staatssekretär
Bleser auf meine Nachfrage bestätigt. Auch die Bundes-
länder machen Druck. Auf der Frühjahrskonferenz in
Konstanz Ende April verständigten sich die Agrarminis-
terinnen und Agrarminister immerhin auf eine bundes-
weite Datenbank zur Erfassung des Antibiotikaeinsatzes.
Details werden abzuwarten sein. Der Bundesverband
praktizierender Tierärztinnen und Tierärzte hat seine
Zweifel angemeldet. Die Alternative einer freiwilligen
Datensammlung im Rahmen des Qualitätssiegels „QS“
ist aber aus Sicht der Linksfraktion nicht ausreichend.
So ist ein freier Datenzugang für die Überwachungsbe-
hörden der Länder nicht vorgesehen, aber unverzicht-
bar. Daher ist der Bund-Länder-Ansatz der Agrarminis-
terinnen und Agrarminister der deutlich bessere Weg.

Es liegen in Deutschland aus dem Berufsstand zahl-
reiche kluge Empfehlungen und Leitlinien zur Anwen-
dung von Antibiotika in der Tierhaltung vor. Wenn sie
freiwillig in der Praxis nicht konsequent genug umge-
setzt werden, müssen sie rechtlich verankert werden.
Staatliches Handeln muss bei so hohen Gesundheitsrisi-
ken für Mensch und Tier unmissverständlich, unverzüg-
lich und konsequent sein. Die Bundesregierung ist es
bislang nicht.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gestern hat der BUND in Berlin eine Pressekonfe-
renz abgehalten und gefragt: Was hat die Bundesregie-
rung in den letzten Monaten eigentlich getan, nachdem
im November 2011 Studien aus NRW und Niedersachsen
dargelegt haben, dass die massive Vergabe von Antibio-
tika gerade in der industriellen Tierhaltung gang und
gäbe ist? Was hat Bundesministerin Aigner getan, nach-
dem der BUND mit seiner Studie im Januar gezeigt hat,
dass Fleisch in den Supermärkten mit multiresistenten
Keimen kontaminiert ist? Was hat die Bundesregierung
seitdem getan, um den Antibiotikamissbrauch zu be-
kämpfen und die Menge wirksam zu reduzieren?

Nichts, sagen die Experten. Nichts, sagt der BUND.
Nichts, sagen wir. Frau Ministerin Aigner, Sie werden
Ihrer Verantwortung nicht gerecht.

Es reicht eben nicht, betroffen die schlechten Nach-
richten und bedrückenden Fakten zum massiven Anti-
biotikaeinsatz zu kommentieren. Die Bürgerinnen und
Bürger erwarten zu Recht, dass Sie aktiv werden, kon-
krete Maßnahmen entwickeln und vor allem durchset-
zen. Und genau das tun Sie nicht.

Seit einem halben Jahr kündigen Sie gesetzliche
Schritte an und lassen von Zeit zu Zeit ein paar Testbal-
lons steigen. Dabei handeln Sie stets nach den Regeln
der Salamitaktik: Scheibchen für Scheibchen – nie mehr
geben als unbedingt nötig. Hauptsache, die Öffentlich-
keit wird kurzfristig beruhigt.

So war es nach Veröffentlichung der Studien aus
NRW und Niedersachsen im November. Alle mahnten
grundsätzliche Schritte zur Antibiotikareduktion an, Sie
verwiesen auf die ohnehin anstehende Novellierung des
Arzneimittelgesetzes mit einigen Minimalanpassungen
und waren ansonsten der Ansicht, die Länder müssten
ihre Hausaufgaben machen.

Mit dieser Haltung kamen Sie nach Veröffentlichung
der BUND-Studie zu multiresistenten Keimen nicht mehr
durch. Eilig wurde eine Pressekonferenz einberufen, auf
der die nächsten Scheibchen präsentiert wurden: Die
Bundesregierung – so hieß es dort – werde unter Hoch-
druck in den nächsten sechs Wochen, also bis Anfang
März, das AMG verschärfen, um den Antibiotikamiss-
brauch zu reduzieren. Abgesehen davon, dass die vorge-
stellten Maßnahmen aus unserer Sicht völlig an der ei-
gentlichen Problemstellung – dazu komme ich gleich
noch – vorbeigehen, warten wir bis heute auf die Ein-
bringung in Kabinett und Bundestag. Wie wir hören,
wird es wohl bis nach der Sommerpause dauern, bis der

Zu Protokoll gegebene Reden





Friedrich Ostendorff


(A) (C)



(D)(B)


Entwurf im Parlament behandelt wird. Dann ist die Stu-
die aus NRW bald ein Jahr alt. Dieses Verzögern und
Verschleppen ist eine Frechheit, Frau Aigner!

Die Bundesregierung begründet den neuerlichen Ver-
zug der Maßnahmen damit, dass sie nun auf Wunsch der
Länder eine bundeseinheitliche Datenbank für Antibio-
tikaverschreibungen aufbauen will. Das begrüßen wir
natürlich ausdrücklich und sind gespannt auf die Ergeb-
nisse. Denn wir haben bei der transparenten Erfassung
der Daten bereits viel Zeit verloren, weil die Agrarlobby
jahrelang bei Ihnen und Ihrem Amtsvorgänger Seehofer
erfolgreich darauf hingewirkt hat, dass der konkrete An-
tibiotikamissbrauch für die Landeskontrollbehörden und
die Öffentlichkeit Verschlusssache bleibt. So werden die
Daten zu Antibiotikaverschreibungen heute ausschließ-
lich zu Monitoringzwecken beim DIMDI erfasst.

Und noch nicht einmal das funktioniert: Eigentlich
sollten Pharmaunternehmen und Großhändler bis
31. März 2012 die Daten für 2011 liefern. Nach Aus-
kunft der Bundesregierung sind 37 von 42 Pharmaunter-
nehmen und 15 von 20 Großhändlern ihrer Pflicht bis-
her nachgekommen. Was für ein Rechtsverständnis, der
Verpflichtung zur Meldung nicht nachzukommen! Wa-
rum, Frau Aigner, verzichten Sie eigentlich darauf,
Sanktionen für die säumigen Unternehmen vorzusehen?
Nimmt die Regierung ihre eigenen Gesetze nicht ernst?
Das ist ein skandalöser Zustand, und wir würden es sehr
begrüßen, wenn Sie endlich auf die Forderungen von
Minister Remmel aus NRW eingehen und eine bundes-
einheitliche Datenbank aufbauen mit betriebsbezoge-
nen, transparenten und risikoorientierten Daten zur Me-
dikamentenvergabe in Tierhaltungen.

Doch auch wenn die Datenbank endlich kommt,
bleibt die zentrale Frage von Ihnen völlig unbehandelt.
Denn die Fakten liegen schon lange auf dem Tisch. Jetzt
geht es darum, die Ursachen der Antibiotikakrise zu be-
kämpfen, und das bedeutet: Wir brauchen einen grund-
sätzlichen Umbau der Tierhaltungssysteme. Aber da ge-
hen Sie bisher überhaupt nicht dran, Frau Aigner.

Dabei zeigen uns doch alle vorliegenden Studien,
dass dort, wo tiergerechte Haltung praktiziert wird, wo
Platz, Auslauf und Frischluft selbstverständlich sind,
der systematische Einsatz von Antibiotika nicht notwen-
dig ist. Was hindert Sie, Frau Aigner, diese nicht neue
Erkenntnis endlich in Gesetze umzusetzen? Auch hier
scheint die Regierung klar im Griff der Agrarlobby zu
sein, die ja bei den Regierungsfraktionen fest im Sattel
sitzt. So zum Beispiel Franz-Josef Holzenkamp, CDU-
Agrarsprecher, stellvertretender Vorsitzender des nie-
dersächsischen Landvolks und bezahlter Aufsichtsrats-
vorsitzender bei der Agravis. Kollege Holzenkamp, da
weiß man doch nicht mehr, wem Sie sich verpflichtet füh-
len, den Bürgerinnen und Bürgern oder den Wirtschafts-
akteuren. Welchen Hut haben Sie wann auf? Das bleibt
für die Steuerzahler doch völlig im Unklaren.

Sie, Frau Ministerin Aigner, sollten sich von solchen
Interessenkonflikten unabhängig machen. Und deshalb:

Sorgen Sie dafür, dass endlich die Haltungsparameter
verschärft werden. Wir dürfen nicht länger zulassen,

dass die Nutztiere eng auf eng gehalten werden. Diese
tierquälerische Haltung widerspricht dem Tierschutz
und ist ein idealer Nährboden für die Bildung und Aus-
breitung von multiresistenten Keimen.

Verschärfen Sie die Behandlungsregeln, indem Sie im
AMG ganz klar definieren, wie eine „ordnungsgemäße
Behandlung“ auszusehen hat. Es kann nicht sein, dass
weiterhin große Mengen Antibiotika verschrieben wer-
den, ohne dass eine echte Untersuchung der Tiere
durchgeführt wurde.

Streichen Sie endlich den Zulieferern der industriel-
len Tierhaltungen die Mengenrabatte auf Arzneimittel.
Es ist nicht einzusehen, dass die Tierärzte, die gewissen-
haft jedes einzelne Tier untersuchen und nur im wirkli-
chen Bedarfsfall Antibiotika verschreiben, für ihren ver-
antwortungsvollen Umgang mit Medikamenten bestraft
werden. Es kann nicht sein, dass die einzelne Flasche so
viel teurer ist als die Flasche beim palettenweisen Be-
zug.

Frau Aigner, werden Sie endlich aktiv und hören Sie
auf zu verschleppen und zu verzögern! Geben Sie Ihre
Salamitaktik auf, und bringen Sie endlich den Mut auf,
an die Ursache des massiven Antibiotikaeinsatzes he-
ranzugehen. Die Wirksamkeit der Antibiotika ist durch
den ungehemmten Einsatz äußerst gefährdet. Es geht
hier nicht um Bonbons. Das ist eine Zeitbombe für uns
Menschen.

Verlassen Sie endlich den Pfad der industriellen Mas-
sentierproduktion. Die Zukunft der Tierhaltung ist
bäuerlich.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717832200

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9068 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Ta-
gesordnung stehen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 21:

Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 mit ei-
nem Rechenschaftsmechanismus fördern

– Drucksache 17/8777 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1717832300

Wenn wir auf die letzten Jahre zurückblicken, können

wir weltweit deutliche Fortschritte in der Frage der
Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen fest-
stellen. Dies belegen nicht zuletzt Ergebnisse aus den
Millennium Development Goals.

Statistiken belegen glasklar: Erstens, dass die Ein-
schulungsrate in zwei Drittel der Entwicklungsländer





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)


zwischen Mädchen und Jungen fast ausgeglichen ist,
womit wir einer wichtigen Zielvorgabe der Milleniums-
erklärung bereits näher gekommen sind; und, zweitens,
dass die Perspektive für Frauen als wirtschaftlich aktive
Bestandteile der Gesellschaft durch entwicklungspoliti-
sche Maßnahmen verschoben werden konnte, sodass
diese nicht mehr ausschließlich in der Landwirtschaft
beschäftigt sind. Auch das ist als Erfolg zu werten.

Innerhalb Deutschlands sind wir aktiv und setzen die
Ideen der UN-Resolution aktiv um. Diese Erfolge sind
unter anderem auch der kontinuierlichen Entwicklungs-
zusammenarbeit der Bundesregierung zu verdanken.
Die Bundesregierung leistet in ihrer Entwicklungsarbeit
somit einen wichtigen Beitrag auf dem Weg zur Gleich-
berechtigung in unseren Partnerländern. Das Schlag-
wort im Kampf gegen Diskriminierung von Frauen heißt
Empowerment: Erstens. Empowerment durch Bildung
und Ausbildung. Zweitens. Empowerment durch Zugang
zur Rechtsprechung. Drittens. Empowerment durch
politischer Teilhabe. Viertens. Empowerment durch Auf-
klärungskampagnen. Gleichzeitig muss man aber auch
feststellen, dass vor allem in Entwicklungsländern und
Krisengebieten weiter massiver Handlungsbedarf zum
Schutz der Rechte von Frauen besteht. Richtig ist, dass
es Defizite in der Umsetzung auf EU-Ebene gibt. Nicht
Deutschland sollte die Opposition anklagen, sondern
erst einmal andere multilaterale Organisationen, wie
die EU. Es ist die EU und nicht die Bundesregierung, die
noch nicht verstanden hat, dass Frieden auch Frieden
zwischen den Geschlechtern ist und mehr als „adding
women to the process“. Deshalb müssen folgende
Punkte in der EU vorangetrieben werden, und ich hätte
mir gewünscht, dass Ihr Antrag auf diese Fragen ein-
geht.

Erstens. Gender muss ins zivile Krisenmanagement
integriert werden, zum Beispiel mit Gender Focal Points
und EU-Special-Representatives. Zweitens. Gendertrai-
ning für EU-Personal mit Best Practices und konkreten
Beispielen. Drittens. Betroffene Bevölkerungs- und
Frauengruppen müssen kontaktiert werden. Viertens.
Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

(ESVP), muss vor allem auf Prävention setzen, statt auf

reaktives Krisenmanagement fixiert zu bleiben. Fünf-
tens. Resolution 1325 muss auf EU-Ebene wie national
umgesetzt werden, unter anderem durch Netzwerkarbeit
von NGOs.

Aber es gibt auch bei uns noch Defizite. Selbst in
einer Industrienation wie Deutschland brauchen wir nur
auf die Vorstandsetagen schauen und die damit zusam-
menhängende Debatte um die Frauenquote. Internatio-
nal stehen wir vor noch größeren Herausforderungen.

Erstens. Frauen machen 70 Prozent der ärmsten
Menschen der Welt aus. Zweitens. Die Frauen- bzw.
Müttersterblichkeitsrate in Entwicklungsländern ist im-
mer noch zu hoch, denn über eine halbe Millionen
Frauen und Mädchen sterben jährlich an den Komplika-
tionen einer Schwangerschaft oder während der Geburt.
Drittens. Frauen, die eine Beschäftigung ausüben, ar-
beiten häufig im Niedriglohn- oder informellen Sektor
und können ihre Rechte kaum oder gar nicht einfordern.

Viertens. Frauen sind häufig den unterschiedlichsten
Formen der Gewalt ausgesetzt: Beschneidung, systema-
tische Vergewaltigung, Misshandlung.

Zur Überwindung solcher Defizite hat das BMZ in
dieser Legislatur Akzente gesetzt und einen Entwick-
lungspolitischen Gender-Aktionsplan auf den Weg ge-
bracht. Darin werden auch „Frauen in bewaffneten
Konflikten und ihre Rolle bei der Konfliktbearbeitung“
berücksichtigt. In Orientierung an den UN-Sicherheits-
resolutionen werden gezielt Maßnahmen identifiziert,
die in Krisenländern frauenspezifische Belange durch
entwicklungspolitische Maßnahmen begleiten. Außer-
dem sollen Frauen ganz gezielt, verstärkt und gleich-
berechtigt in den Aufbau einer demokratischen und
gerechten Gesellschaftsordnung einbezogen werden.
Gleichzeitig soll in Konflikt- und Postkonfliktgesell-
schaften die Gewaltbereitschaft von Männern gegen-
über Frauen durch Aufklärung und Verarbeitung der
Konflikte eingedämmt werden.

Konkret heißt das zum Beispiel: Wir wollen in unse-
ren Partnerländern: Erstens. Wir planen, Hilfe für Op-
fer sexueller Gewalt und ehemalige Kombattantinnen zu
leisten, indem wir die psychologische und medizinische
Versorgung stärken oder mehr geschützte Räume, zum
Beispiel Frauenhäuser, schaffen. Zweitens. Wir planen,
Frauen den Zugang zur Rechtsprechung, beispielsweise
durch Rechtsberatungsangebote und erweiterte Infor-
mationsmöglichkeiten, zu erleichtern.

Dies sind nur einige Ansatzpunkte, welche dem „Ent-
wicklungspolitischen Gender-Aktionsplan 2009 bis
2012“ des BMZ zu entnehmen sind, ein Aktionsplan, der
eben nicht nur die UN-Resolutionen berücksichtigt, son-
dern umfassender ist und die Schaffung der Geschlech-
tergleichberechtigung als Schlüssel zu nachhaltiger
Entwicklung begreift.

Ich habe mir den Antrag der SPD gut durchgelesen,
der die Bundesregierung noch einmal mit Nachdruck
dazu anhält, die Umsetzung der Resolution 1325 voran-
zutreiben und darüber hinaus noch eine Rechenschafts-
pflicht einzuführen. Meiner Ansicht nach ist diese Pflicht
derzeit nicht notwendig, weil wir in unserer Tagespolitik
hart daran arbeitende Resolution umzusetzen.

Deswegen sind auch Priorisierungen wie ein natio-
naler Aktionsplan überflüssig. Mir scheint, die Kollegen
von SPD und Grüne sind aus lauter Profilierungssucht
in UN-Fragen wieder einmal über das Ziel hinausge-
schossen. Sie mögen darin recht haben, dass wir noch
lange nicht da sind, wo wir hinwollen, im Kampf gegen
die Unterdrückung und für die Rechte von Frauen. Aber
ich kann leider nicht recht erkennen, inwiefern ein na-
tionaler Aktionsplan und eine Rechenschaftspflicht die
Umsetzung der Resolutionen 1325 und deren Nachfolge-
resolutionen vorantreiben soll, denn: Ein nationaler
Aktionsplan und eine Rechenschaftspflicht würden ge-
genüber dem bestehenden deutschen Engagement für
die Umsetzung bis auf das politische Zeichen keinen
entscheidenden Mehrwert erzeugen Davon abgesehen
war die Forderung auch so nicht in dem umfassenden
Antrag vom 3. März 2010 „Internationaler Frauentag –

Zu Protokoll gegebene Reden





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)


Gleichstellung national und international durchsetzen“
enthalten.

Der Sinn des Aktionsplans und einer Rechenschafts-
pflicht besteht im Wesentlichen darin, die Regierungen
dazu anzuhalten, die VN-Resolutionen umzusetzen und
das Engagement nachprüfbar zu machen, insbesondere
für das Parlament. Die Nachprüfbarkeit ist durch die
ständigen Berichte der Bundesregierung seit 2004 ohne-
hin gewährleistet, ebenso wie unser Engagement für die
Umsetzung der VN-Resolutionen.

Ich verweise hier zum Einen auf die „Freundes-
gruppe der Resolution 1325“, der Deutschland ange-
hört. Zum anderen nimmt Deutschland an den jähr-
lichen offenen Debatten im VN-Sicherheitsrat teil und
setzt sich für die Berücksichtigung der in der Resolution
enthaltenen Forderungen in allen VN-Gremien ein. Auf
nationaler Ebene erfolgt die Umsetzung durch die ver-
schiedenen beteiligten Ressorts. Eine interministerielle
Arbeitsgruppe zu Resolution 1325 ist die Koordinierung
der Ressorts und die Vernetzung von ressortübergreifen-
den Arbeitskreisen, die auf verwandten Gebieten arbei-
ten, zum Beispiel mit dem Arbeitskreis „Zivile Krisen-
prävention“ oder dem Ressortkreis „Afghanistan“. Ich
halte einen Aktionsplan und Rechenschaftspflicht zu Re-
solution 1325 nochmals für überflüssig. Die erheblichen
Ressourcen für solch ein Dokument sollten besser ge-
nutzt werden, und wir sollten andere Möglichkeiten zur
besseren Umsetzung der Resolution 1325 und zur Schaf-
fung der Geschlechtergleichstellung erwägen.

Deutschland kann und muss dabei seinen Einfluss im
UN-Sicherheitsrat, den Arbeitsgruppen und Gremien
geltend machen. Auf deutsche Initiative hin wurde die
Arbeitsgruppe „Kinder in bewaffneten Konflikten“
gegründet. Die spezielle Situation von Mädchen in be-
waffneten Konflikten muss da unbedingt berücksichtig
werden.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1717832400

Mit unserem Antrag teilen wir die Auffassung des

Deutschen Instituts für Menschenrechte, welches in sei-
nem Bericht zu Frauen und Sicherheit feststellt, dass bei
der Umsetzung der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden
und Sicherheit noch keine nachhaltigen Erfolge sichtbar
sind. Die Resolution 1325 und ihre Folgeresolutionen
1820, 1888 und 1889 wurden mit dem Ziel verabschie-
det, Frauen in allen Phasen der Konfliktbewältigung
und Konfliktprävention aktiv einzubinden und ihren
Schutz in bewaffneten Konflikten sicherzustellen. Der
Resolution 1325 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass nur
eine geschlechtersensible Friedens- und Sicherheits-
politik soziale Gerechtigkeit und nachhaltigen Frieden
bewirken kann.

Die Realität bei der Umsetzung der Resolution ist
aber enttäuschend: Der prozentuale Anteil von Frauen
beim militärischen Personal oder in Führungsetagen in-
ternationaler Peacekeeping-Operationen ist immer
noch sehr gering. Gleiches gilt für die Einbeziehung von
Frauen bei der Aushandlung von Friedensverhandlun-
gen. Letztere beinhalten zentrale Weichenstellungen für

spätere sozial- und machtpolitische Entwicklungen, die
dann ohne die Beteiligung von Frauen zustande kom-
men. Der Frauensicherheitsrat weist zu Recht darauf
hin, dass es meist Fraueninitiativen sind, die in und
nach Krisen und Konflikten als erste über ethnische und
religiöse Schranken hinweg den Dialog aufnehmen. Es
muss daher unser aller Interesse sein, Frauen in Krie-
gen und Konflikten besser zu schützen und entsprechend
ihres Bevölkerungsanteils in VN-Missionen und Frie-
densverhandlungen einzubinden.

Besonders problematisch für die Umsetzung der Re-
solution 1325 hat sich die schleppende Implementierung
auf nationalstaatlicher Ebene erwiesen. Eine Reihe von
Staaten ist der Aufforderung des VN-Generalsekretärs
bislang nicht gefolgt, einen nationalen Aktionsplan zur
Umsetzung der Resolution 1325 vorzulegen. Auch
Deutschland gehört nach wie vor zu dieser Gruppe von
Ländern, und die Bundesregierung hat entsprechende
Aufforderungen aus den Reihen der Oppositionsparteien
abgelehnt. Hier zeigt sich ein entscheidender Faktor für
die mangelhafte Umsetzung der VN-Resolution, der in
mangelndem politischen Willen der Regierungen be-
gründet liegt.

VN-Generalsekretär Ban Ki-moon bemängelt in sei-
nem Bericht zu Frauen, Frieden und Sicherheit aus dem
Jahre 2009, dass ein Evaluations- und Rechenschafts-
mechanismus vergleichbar dem der Resolution 1612 zu
Kindern in bewaffneten Konflikten fehlt. Mit diesem An-
trag greifen wir den Vorschlag des Generalsekretärs
auf und fordern einen Evaluations- und Rechenschafts-
mechanismus zum systematischen Sammeln, Verglei-
chen und Publikmachen von Informationen zur
Resolution 1325. Auf diese Weise können Transparenz
und Vergleichbarkeit hergestellt und der Druck auf
Staaten erhöht werden, die Vorgaben des Sicherheits-
rats entsprechend umzusetzen. Das Instrument des Na-
ming and Shaming und die Möglichkeit, Sanktionen zu
verhängen, haben sich dabei für den Umsetzungserfolg
der Resolution 1612 als besonders förderlich erwiesen
und sollten auch für die Resolution 1325 entsprechend
eingerichtet werden.

Wir fordern, dass die Bundesregierung als derzeitiges
Mitglied im VN-Sicherheitsrat ihrer besonderen Stellung
gerecht wird und die Schlüsselrolle von Frauen bei der
Prävention und Lösung von Konflikten, bei der Frie-
denskonsolidierung sowie beim Wiederaufbau verstärkt
wahrnimmt und anerkennt. Dazu gehört unter anderem,
unverzüglich einen nationalen Aktionsplan zur Umset-
zung der Resolution 1325 vorzulegen, ausreichend zu
budgetieren und für diesen zu werben. Wir fordern die
Bundesregierung auf, noch während ihrer Mitglied-
schaft im VN-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf
einzubringen, der den Gedanken des VN-Generalsekre-
tärs aufgreift und einen Rechenschaftsmechanismus
ähnlich dem der Resolution 1612 für die Resolution
1325 fordert. Es ist an der Zeit, die besondere Rolle von
Frauen als Akteurinnen für den Frieden nicht nur durch
Worte sondern auch durch Taten anzuerkennen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Bijan Djir-Sarai (FDP):
Rede ID: ID1717832500

Zeitgleich mit der Formulierung der Millenniumsent-

wicklungsziele verabschiedeten die Vereinten Nationen
im Jahr 2000 die Resolution 1325 „Frauen, Frieden und
Sicherheit“. Diese war das Ergebnis eines jahrzehnte-
langen Prozesses und ist ein wichtiges Symbol für einen
Perspektivwechsel.

Frauen rücken immer deutlicher in das Blickfeld, in
das Blickfeld nicht nur von Wissenschaftlern, sondern
auch von Politikern. Den Wahrnehmungswandel halte
ich für richtig und wichtig und freue mich daher sehr, in
diesem Hohen Hause das Thema aufgreifen zu können.

Nicht nur mit Blick auf Afghanistan, sondern in Bezug
auf zahlreiche weitere Konflikte und Kriege stehen wir
heute und in Zukunft vor großen Herausforderungen.
Frauen als Friedensstifter tragen Potenzial – sowohl zur
friedlichen Konfliktlösung als auch zur künftigen Kon-
fliktprävention.

„Frieden und Sicherheit“ – das sind Ziele, über die
wir auf nationaler und internationaler Ebene verhan-
deln. Sie bestimmen auch die Umsetzung der vorliegen-
den Resolution.

Die Resolution und die folgenden Resolutionen for-
dern verstärkte Sicherheitsmaßnahmen für die Zivilbe-
völkerung. Ausgangslage dieser Forderung bildet die
starke Bedrohung und Unsicherheit von Frauen und
Kindern. Als größte Opfer kriegerischer Handlungen
tragen sie zugleich das größte friedensstiftende Poten-
zial in sich. Die Resolution betont daher richtig ihre he-
rausragende Rolle für das Gelingen von Friedenspro-
zessen.

Seit der Beschlussfassung der Resolution 1325 vor
mittlerweile rund zwölf Jahren gibt es einen vielfältigen
Prozess der Umsetzung. Wie auch in dem Antrag der
SPD-Fraktion beschrieben, gibt es Länder, die der Reso-
lution durch die Umsetzung eines nationalen Aktions-
plans nachkommen, andere tun dies nicht. Das bedeutet
jedoch nicht, dass sie den Forderungen der Resolution
nicht nachkommen. Ein nationaler Aktionsplan ist eine
Möglichkeit der Umsetzung der Forderungen der UN-
Resolution; nicht jedoch die einzige.

Die Bundesregierung hat mit dem ressortübergreifen-
den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlö-
sung und Friedenskonsolidierung“ bereits ein sehr
umfassendes Instrument geschaffen. Er umfasst die ge-
forderte Stärkung und Einbeziehung der Frauen in Me-
chanismen der Konfliktbearbeitung und Friedensschaf-
fung. Das ist meiner Meinung nach völlig ausreichend,
um eine zielorientierte Umsetzung der UN-Resolution
1325 zu erreichen. Die Forderung der SPD-Fraktion
nach einem weiteren Aktionsplan teilen wir daher nicht.
Dies würde einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand mit
sich bringen, der in keiner Relation zu der Wirksamkeit
eines solchen Aktionsplanes steht.

Den nötigen Perspektivwechsel, den die UN-Resolu-
tion fordert, hat es bereits gegeben. Er befindet sich in
einem Prozess konstanter Umsetzung – Umsetzung nicht
nur auf Papier, sondern vor Ort in den Konfliktregionen.

Die UN-Resolutionen zeichnen sich durch relativ
klare und entschiedene Formulierungen und Absichtser-
klärungen aus. In der Realität herrscht immer noch ein
etwas anderes Bild vor: Der Frauenanteil in militäri-
schen EU-Missionen zum Beispiel liegt bei circa 6 Pro-
zent und in den zivilen Missionen bei 8 Prozent. Vor die-
sem Hintergrund liegt es in der Natur der Sache, dass
die Forderung, Frauen auf allen Ebenen einzubeziehen,
zunehmend energischer diskutiert wird. Weitere Resolu-
tionen wurden verabschiedet mit der Maßgabe, die Rolle
der Frauen als friedenspolitische Akteurinnen zu stär-
ken und sie nicht primär oder gar ausschließlich als
schutzbedürftig zu betrachten.

Frauen werden – nicht nur in der Friedens- und Si-
cherheitspolitik – berücksichtigt und gefördert. Das ist
auch wichtig; das steht außer Frage. Dass in diesem Zu-
sammenhang der Wunsch nach einer Quotierung be-
steht, ist nachvollziehbar, jedoch nicht zielführend. Be-
reits jetzt achtet die Bundesregierung in der Arbeit in
allen Ressorts auf das sogenannte Gender-Mainstrea-
ming. Auch dies ist schon eine gelungene Umsetzung der
hier vorgelegten Wünsche und wesentlich produktiver,
als auf eine quantitative Quote zu setzen.

Wir haben mit der Entwicklung des vernetzten Ansat-
zes ziviler und militärischer Mittel in Konfliktsituatio-
nen einen großen Schritt nach vorne gemacht. Das
Thema hat in der jüngsten Vergangenheit eine größere
Bedeutung erlangt. Krisen und Konflikte sind komplexer
geworden in den vergangenen Jahren. So müssen wir ne-
ben dem klassisch militärischen Bereich auch die ökono-
mische, entwicklungspolitische, soziale und kulturelle
Komponente vor Augen haben.

Prävention, Bewältigung und Nachsorge von Konflik-
ten kann unter den Bedingungen unseres Jahrhunderts
nur funktionieren, wenn unterschiedliche Maßnahmen
in einem umfassenden Konzept miteinander vernetzt
werden.

Zusammengefasst lässt sich sagen. Die Umsetzung
der UN-Resolution 1325 ist auch zwölf Jahre nach ihrer
Verabschiedung auf einem guten Wege.

Die Bundesregierung weiß um ihre Pflicht und han-
delt. Daher sind die hier vorliegenden Oppositions-
anträge nicht notwendig.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717832600

Die UN-Resolution 1325 hat uns ja schön häufiger in

dieser Wahlperiode beschäftigt. Dabei geht es um den
Schutz von Frauen und Mädchen in bewaffneten Kon-
flikten, aber auch – und das ist mir besonders wichtig –
um ihre Einbeziehung in Friedensprozesse. Wie wichtig
das ist, können wir beinah in allen aktuellen Krisen- und
Konfliktregionen sehen. Die Revolutionen in den arabi-
schen Staaten wären ohne Frauen nicht möglich gewe-
sen. Heute geht es den Frauen in diesen Ländern, zum
Beispiel in Ägypten, nicht besonders gut, und was aus
den hoffnungsvollen Emanzipationsbewegungen in die-
sen Ländern wird, steht in den Sternen.

Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir hier aus
Anlass des zehnjährigen Bestehens der UN-Resolution

Zu Protokoll gegebene Reden





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)


einen gemeinsamen Antrag der drei Oppositionsfraktio-
nen debattiert, in dem wir festgehalten haben, was Kon-
sens bei SPD, Linken und Grünen in diesem Haus ist.
Wir waren uns einig, dass wir die schleppende Umset-
zung dieser völkerrechtlich verbindlichen Regelung
nicht mehr hinnehmen wollen, und haben uns auf fünf
Punkte verständigt, die wir gemeinsam von der Bundes-
regierung verlangen:

Erstens fordern wir gemeinsam einen nationalen Ak-
tionsplan, in dem verbindliche Schritte für die Umset-
zung der Verpflichtungen Deutschlands aus dieser Reso-
lution beschrieben werden.

Zweitens legen wir Wert darauf, dass ein solcher Ak-
tionsplan nicht in irgendwelchen Regierungshinterstüb-
chen entsteht, sondern dass schon bei der Entstehung
die Zivilgesellschaft, also Frauen-, Friedens- oder Ent-
wicklungsorganisationen, einbezogen werden.

Drittens sind wir der Auffassung, dass ein solcher Ak-
tionsplan auch mit entsprechenden finanziellen Mitteln
ausgestattet werden muss, um überhaupt wirksam zu
werden.

Viertens soll die Bundesregierung die Umsetzung re-
gelmäßig evaluieren und überwachen und fünftens dem
Bundestag gegenüber jährlich über die Fortschritte des
Aktionsplans berichten.

Dieser interfraktionelle Antrag wurde zu unser aller
Bedauern mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ab-
gelehnt. Schwarz-Gelb will keine Verpflichtungen, keine
Evaluierungen und erst recht kein Geld ausgeben, um
die Rolle von Frauen in Friedensprozessen zu stärken.
Dass die SPD das Thema nun erneut einbringt, ist natür-
lich zu begrüßen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sie müssen sich dann schon fragen lassen, warum Sie
mit Ihrem heute zur Debatte stehenden Antrag deutlich
hinter unserer gemeinsamen Positionierung vom letzten
Jahr zurückbleiben.

Vor allem fällt negativ auf, dass Sie die Erarbeitung
eines nationalen Aktionsplans nun doch wohl aus-
schließlich der Bundesregierung überlassen wollen. Von
der Einbeziehung der Zivilgesellschaft ist jedenfalls bei
Ihrem Antrag nun nicht mehr die Rede. Aber für die
Linke ist dies ein Knackpunkt, ohne den Sie unsere Zu-
stimmung beim besten Willen nicht erwarten dürfen. Ein
wirkungsvoller Aktionsplan braucht nicht nur den politi-
schen Willen der Regierung, er braucht auch den Sach-
verstand und die gesellschaftliche Breite von Nichtregie-
rungsorganisationen, um seine Wirkung zu entfalten. Er
braucht Anwältinnen und Anwälte außerhalb des Parla-
ments, die seine Umsetzung kritisch und wach begleiten.
Sonst droht einem Aktionsplan zu 1325 dasselbe, was
diese Bundesregierung in der zivilen Krisenprävention
anrichtet: Sie wird von desinteressierten Staatssekretä-
rinnen und Staatssekretären sowie Ministerinnen und
Ministern in Sonntagsreden gelobt, aber im Alltag ver-
nachlässigt.

Im Übrigen habe ich einige Dokumente und Anträge
von SPD-Frauen gelesen, die erheblich konkreter sind
als das, was die Fraktion hier vorlegt. So fordert zum
Beispiel die Landesfrauenkonferenz der Berliner Sozial-

demokratinnen am 23. April dieses Jahres, „Soldaten,
die in Auslands- und anderen Einsätzen gegen Men-
schen- bzw. Frauenrechte verstoßen, ausnahmslos auch
strafrechtlich zu verfolgen und in keine weiteren Ein-
sätze mehr zu entsenden“.

Das wäre doch schon mal ein Anfang. Die Linke
bleibt allerdings dabei, dass gar keine Soldaten mehr in
Kriegseinsätze entsandt werden sollen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

In diesem Jahr jährt sich zum zwölften Mal die Verab-
schiedung der UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden
und Sicherheit“ – ein historischer Meilenstein auf dem
Weg hin zu einer geschlechtersensiblen Friedens- und
Sicherheitspolitik. Denn zum ersten Mal in der Ge-
schichte der VN wurde in völkerrechtlich verbindlicher
Form eine aktive Rolle von Frauen bei der Konfliktprä-
vention und Konfliktbewältigung gefordert.

Damit wurde endlich die Tatsache anerkannt, dass
Frauen in Konflikten und beim Wiederaufbau eines Lan-
des oft die Hauptlast tragen, ohne dass sie über einen
entsprechenden politischen Einfluss verfügen.

Frauen in den Konfliktgebieten dieser Welt können
sich auf diese Resolution berufen. Doch leider zeigt sich
in der Praxis, dass die Bilanz bei der Umsetzung von Re-
solution 1325 bis heute eher mager ausfällt. Denn in den
meisten Konflikten sehen sich die Parteien nicht an die
Resolution 1325 und die Folgeresolutionen, wie etwa
1820, 1888, 1989 und 1960, gebunden.

Nach einer Studie von UNIFEM aus dem Jahr 2009
waren in den 22 seit 1992 durch die UN geführten Frie-
densverhandlungen nur 7,5 Prozent der Verhandelnden
weiblich, und nur knapp 3 Prozent Frauen waren Unter-
zeichnerinnen in 14 Friedensgesprächen. Das sind ver-
nichtend geringe Zahlen. Dabei wäre es so wichtig, die
Kompetenzen und Ideen von Frauen in die Krisenprä-
vention und beim nachhaltigen Friedensaufbau einzube-
ziehen. Denn gerade zivilgesellschaftliche Gruppen, wie
beispielsweise lokale Fraueninitiativen, leisten uner-
setzbare Arbeit im Bemühen um eine nachhaltige Frie-
denskonsolidierung.

Wie ernüchternd die Bilanz für Frauen ausfällt, zei-
gen ein Jahr nach Beginn des arabischen Frühlings bei-
spielsweise die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten.
Während der Proteste standen die Frauen in Tunesien,
in Ägypten oder im Jemen in der ersten Reihe. Männer
und Frauen demonstrierten Seite an Seite für ein Leben
in Würde, für Freiheit, Demokratie und soziale Gerech-
tigkeit. Und obgleich Tunesien, was die Frauenrechte
angeht, Vorreiter in der arabischen Welt ist und beim
Wahlrecht sogar eine Quotierung von 50 Prozent hat,
gab es in den ersten beiden Übergangsregierungen je-
weils nur eine Frau. Nach den Wahlen sind gerade ein-
mal zwei Frauen in der Regierung, und keiner der wich-
tigen Ministerposten ging an eine Frau.

Noch weitaus schwieriger stellt sich die Situation der
Frauen in Ägypten dar: Sie sind leider die großen Ver-
lierer der Revolution. In der zehnköpfigen Verfassungs-

Zu Protokoll gegebene Reden





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


kommission war keine einzige Frau vertreten, obwohl
gerade Frauen zur zentralen Frage der Gleichstellung
von Frauen in der Verfassung viel beizutragen hätten.
Im neu gewählten Parlament sitzen lediglich 2 Prozent
Frauen. Und noch vor Wochen ging das Militär mit bru-
taler Härte gegen friedlich demonstrierende Frauen vor.
Sie wurden verprügelt – die Bilder gingen um die Welt –
oder unsittlichen und menschenverachtenden Jungfrau-
entests unterzogen. Hillary Clinton nannte es eine
Schande, dass Frauen, die genauso wie Männer ihr Le-
ben für die Revolution riskiert hätten, nun systematisch
erniedrigt und von der Macht ausgeschlossen werden.
Recht hat sie!

Deshalb brauchen die Frauen in der arabischen Welt
unsere ganze Unterstützung. Denn wenn der Wandel von
Dauer sein soll, müssen jetzt auch die Frauen systema-
tisch an der Gestaltung der neuen Demokratien beteiligt
werden.

Leider wird Gewalt gegen Frauen auch in vielen
Kriegen weiter systematisch als Kriegswaffe eingesetzt.
Jüngstes Beispiel ist der Putsch in Mali: Hier jagen Is-
lamisten unverschleierte Frauen und Mädchen und ver-
gewaltigen sie. Die Verpflichtungen aus den Resolutio-
nen 1325 und 1820, der Schutz von Frauen vor sexueller
Gewalt, werden in krasser Weise verletzt.

Diese Beispiele zeigen, dass die Forderungen aus der
UN-Resolution 1325 und den Folgeresolutionen endlich
auf internationaler Ebene konsequent umgesetzt werden
müssen.

Sicherlich gibt es auf der EU- sowie auf der UN-
Ebene Fortschritte, wie etwa die Schaffung von UN
Women 2010 oder die Ernennung von Margot Wallström
als UN-Sonderberichterstatterin zu sexueller Gewalt in
Konflikten. Auch Deutschland ist bemüht, in zahlreichen
Einzelmaßnahmen die Resolution umzusetzen.

Allerdings ist es ein Skandal, dass Deutschland fast
zwölf Jahre nach der Verabschiedung der Resolution
noch immer keinen eigenen nationalen Aktionsplan zur
Umsetzung der Resolution 1325 verabschiedet hat, so
wie Kofi Annan dies bereits 2005 von allen UN-Mit-
gliedstaaten gefordert hat. Deutschland sitzt seit Januar
2011 wieder im UN-Sicherheitsrat und hat nicht einmal
das Stichwort UN-Resolution 1325 auf seiner UN-
Agenda. Das ist wirklich mehr als peinlich, denn damit
droht Deutschland nun zum europäischen Schlusslicht in
dieser Frage zu werden und seinen Ruf als glaubwürdi-
ger Makler im Sicherheitsrat zu verlieren. In dieses Bild
passt auch, dass Deutschland 2011 lediglich Rang 16
der Geberländer für den Kernhaushalt von UN Women
einnimmt. Antonie de Jong von UN Women sagt: „Der
deutsche Beitrag“ – von 818 000 Euro – „passt nicht zu-
sammen mit der Führungsrolle, die Deutschland in den
Vereinten Nationen übernimmt … Wir hatten uns von
Deutschland hinten eine Null mehr erhofft.“ Zitat „Die
Welt“ vom 11. August 2011. Recht hat sie.

Daher bin ich froh, dass die Fraktionen der SPD, der
Linken und von Bündnis 90/Die Grünen bereits im letz-
ten Jahr einen gemeinsamen Antrag für die Schaffung
eines nationalen Aktionsplans eingebracht haben. Einen

solchen werden wir bei anderen Mehrheitsverhältnissen
in der nächsten Legislaturperiode auf den Weg bringen.
Denn damit werden wir dann die UN konkret unterstüt-
zen.

Ergänzend zu einem solchen Aktionsplan einen Re-
chenschaftsmechanismus einzuführen, wie es die SPD in
ihrem Antrag vorschlägt, um die Resolution 1325 auf
nationaler Ebene voranzureiben, ist eine gute Idee, und
daher unterstützen wir diesen Antrag. Denn wie wichtig
die Umsetzung der Resolution 1325 ist, zeigt die Situa-
tion von Frauen im Kongo, in Dafur, im Südsudan, in
Afghanistan und in der arabischen Welt. Wir dürfen die
Hoffnungen dieser Frauen nicht enttäuschen und müs-
sen daher alles dafür tun, dass die Resolution 1325 um-
gesetzt wird.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717832700

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/8777 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Ta-
gesordnung stehen. – Damit sind Sie wiederum einver-
standen. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 22:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbren-
nung senken – Gleiche Bedingungen für Müll-
verbrennung und Abfallmitverbrennung

– Drucksache 17/9555 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit

Die Reden wurden zu Protokoll genommen.


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1717832800

Der Antrag der SPD-Fraktion, den wir heute hier be-

raten, zeigt einmal mehr den verzweifelten Versuch,
durch Irreführung und Verängstigung der Bevölkerung
Klientelpolitik zu betreiben. Dieser Versuch wird dem
ernst zu nehmenden Anspruch der Bürgerinnen und Bür-
ger auf einen wirksamen Schutz vor möglichen Belas-
tungen bei der Abfallverbrennnung nicht gerecht.

Denn dieser Antrag verschleiert, dass die Alternative
zur Verbrennung der Abfälle die Deponierung wäre. Die
ist aber weniger sinnvoll als der Verbrennungsprozess,
weil durch die Deponierung der Abfälle an der Erdober-
fläche ebenfalls eine Belastung der Umwelt entsteht und
die in den Abfällen gebundene Energie nicht nutzbar ge-
macht wird. Aus diesem Grund – und weil die Deponie-
kapazitäten für das Abfallvolumen nicht zur Verfügung
stehen – ist eine Deponierung der Abfälle auch rechtlich
weitestgehend untersagt.

Darüber hinaus reichen die Kapazitäten der beste-
henden Müllverbrennungsanlagen aber auch zur Ver-
brennung der gesamten anfallenden Abfallmenge nicht
aus. Deshalb ist die Mitverbrennung unverzichtbar.





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


Um die Abfallmengen für die Verbrennung herrscht
ein Wettbewerb zwischen den überwiegend kommunalen
Abfallverbrennungsanlagen und Abfallmitverbrennungs-
anlagen um die energiereichsten und damit ertrag-
reichsten Abfälle.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Kollegen
der SPD sich zum verlängerten Arm der kommunalen
Abfallentsorger machen, wenn sie fordern, die Abfall-
mitverbrennung in Kraft- und Zementwerken unter die
gleichen Voraussetzungen zu stellen wie die Abfallver-
brennung in Müllverbrennungsanlagen. Hinter dem vor-
getragenen Anliegen des Schutzes der Bevölkerung vor
Beeinträchtigungen der Luftqualität steht ein wirtschaft-
liches Interesse.

Die technischen Bedingungen in abfallmitverbren-
nenden Kraftwerken lassen nur die Verbrennung auf-
wendig aufbereiteter Siedlungsabfälle zu. Für diese Auf-
bereitung ist nur der geringste Teil dieser Abfälle
geeignet. Im Wesentlichen kann in Kraftwerken nur
Klärschlamm verbrannt werden, der eine größere Ener-
giedichte besitzt, leicht aufzubereiten ist und nicht zu
Beschädigungen an den Verbrennungseinrichtungen
führt.

Die Müllverbrennungsanlagen können zwar den ge-
samten Siedlungsabfall technisch verarbeiten, haben
aber mit Blick auf den Ertrag ihrer Anlagen ein großes
Interesse am energiereichen Klärschlamm. Weil aber die
Kapazitäten der reinen Müllverbrennungsanlagen für
die entstehenden Mengen Klärschlamm und Siedlungs-
abfälle nicht ausreichen, müssten die nicht verbrennba-
ren Abfälle ungenutzt deponiert werden.

Diese Faktenlage kennen auch die Kollegen der
SPD-Fraktion. Denn sie selbst haben in der rot-grünen
Regierungszeit unter Bundeskanzler Schröder und Um-
weltminister Trittin im Jahr 2003 die aktuelle 17. Bun-
des-Immissionsschutzverordnung verabschiedet, die sie
jetzt kritisieren. Die unterschiedliche Behandlung von
reinen Abfallverbrennungsanlagen und Abfallmitver-
brennungsanlagen haben Sie nicht abgeschafft. Das ist
wohl ein Fall von Gedächtnisschwund.

Was damals, etwa durch die grüne NRW-Umweltmi-
nisterin Bärbel Höhn, noch als energetisch sinnvolle
Verwertung von Abfällen angesehen wurde, heißt heute
„Ökodumping“. Dieser Begriff soll den Eindruck erwe-
cken, Kraft- und Zementwerken würde zulasten der Be-
völkerung und Umwelt gestattet, bei der Mitverbren-
nung des Abfalls mehr gesundheitsgefährdende Stoffe
auszustoßen als reine Abfallverbrennungsanlagen.

Auch hier zeigt ein Blick auf die Fakten, dass diese
Behauptung nichts mit der Realität zu tun hat. Die
17. Bundes-Immissionsschutzverordnung bestimmt in
ihrer derzeit geltenden Fassung, dass hinsichtlich des
Ausstoßes aller gesundheitsgefährdender Stoffe, insbe-
sondere von Dioxinen, Schwermetallen und organischen
Schadstoffen, dieselben Anforderungen gelten wie für
reine Abfallverbrennungsanlagen. Ebenso ist die von
der SPD geforderte regelmäßige Schadstoffmessung be-
reits durch die Verordnung vorgeschrieben.

Auch die Immissionsprüfung im Umfeld der Verbren-
nungsanlagen, die die tatsächliche Belastung der Bevöl-
kerung ständig überwacht, muss in beiden Fällen die
gleichen strengen Anforderungen erfüllen.

An diesen Anforderungen ändert auch die Umsetzung
der IED-Richtlinie nichts, die wir zurzeit beraten.

Über die sogenannte Mischungsregelung wird grund-
sätzlich nur bei Großfeuerungsanlagen zwischen den
beiden Anlagentypen unterschieden. Sie bestimmt aber
auch, dass mit steigender Menge des mitverbrannten
Abfalls die Grenzwerte absinken. Ab einem Anteil an der
gesamten Brennstoffmenge von 25 Prozent gelten die
gleichen Anforderungen an die Emissionen wie bei einer
reinen Abfallverbrennungsanlage.

Diese Regelung ist den unterschiedlichen technischen
Bedingungen in Abfallverbrennungsanlagen und Mit-
verbrennungsanlagen geschuldet. Würde diese Rege-
lung gestrichen, könnte eine Mitverbrennung in Kraft-
und Zementwerken nicht erfolgen. Dann müsste, wie
eingangs gesagt, ein Großteil der Abfälle ohne energeti-
sche Verwendung deponiert werden.

Allein dieser Umstand reicht aber auch nicht aus, um
einen höheren Schadstoffausstoß bei der Mitverbren-
nung zu rechtfertigen. Vielmehr muss hinzukommen,
dass auch durch die höheren Schadstoffemissionen die
Grenzwerte für die Umgebungsluft eingehalten werden
und keine Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung ent-
steht. Die Verantwortbarkeit dieser Schadstoffmehrbe-
lastung der Luft ist deshalb mit Blick auf die Auswirkun-
gen auf die Bevölkerung durch mehrere medizinische
Gutachten untersucht worden. Übereinstimmendes Er-
gebnis dieser Untersuchungen war, dass bei Einhaltung
der festgelegten Grenzwerte die Konzentrationen der
ausgestoßenen Schadstoffe in der Umgebungsluft so ge-
ring sind, dass die Gefahr einer Gesundheitsbeeinträch-
tigung nicht besteht.

Dieser Antrag ist deshalb nichts anderes als eine um-
weltpolitische Nebelkerze zur Verdeckung wirtschaftli-
cher Interessen. Der Schutz der Umwelt vor höheren Be-
lastungen und damit auch der Schutz der Bevölkerung
vor Gefährdungen ihrer Gesundheit würde durch die in
dem Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen nicht erhöht.
Dieser Antrag ist deshalb abzulehnen.


Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1717832900

Die Müllverbrennung wird von einem Großteil der

Bevölkerung kritisch begleitet. Ich habe als junger Kom-
munalpolitiker diese Diskussionen hautnah miterlebt. Es
ging damals um die Erweiterung des Rohstoffrückge-
winnungszentrums Herten oder, anders ausgedrückt, um
eine Müllverbrennungsanlage. In vielen öffentlichen
Sitzungen wurden technische Ausstattung, Verfahren,
Emissionswerte und notwendige Schutzmaßnahmen aus-
führlich und kontrovers diskutiert. Dies geschah auf ei-
nem sehr hohen Niveau. Letztendlich wurden modernste
technische Verfahren, strengere Grenzwerte, laufende
Messungen und weitere Auflagen durchgesetzt.

Warum geschah dies? Weil die Müllverbrennung grö-
ßere Ängste hervorrief als viele andere Industrieanla-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gerd Bollmann


(A) (C)



(D)(B)


gen. Viele Bürger sind bei der Verbrennung von ver-
mischten Abfällen besonders argwöhnisch.

Wir müssen die Sorgen und Ängste der Bevölkerung
ernst nehmen. Dies ist unsere Aufgabe als gewählte Ab-
geordnete, nicht die Berücksichtigung einzelner Wirt-
schaftsinteressen.

Die Bürger haben nämlich recht. Die Müllverbren-
nung muss strengeren Regeln und Auflagen unterliegen.
Aus diesem Grund gibt es ja auch eine eigene Bundes-
Immissionsschutzverordnung für die Verbrennung von
Abfällen.

Niemand kann im Ernst behaupten, dass bei der Ver-
brennung von gemischten Abfällen, besonders von ge-
mischten Siedlungsabfällen, zu 100 Prozent bekannt ist,
was verbrannt wird. Gerade im gemischten Siedlungs-
abfall sind jedoch problematische Stoffe, wie chlorhalti-
ges PVC, PCP oder PCB, enthalten. Bei deren Verbren-
nung können hochgiftige Dioxine und Furane einstehen.

Eine Restungewissheit bei der Zusammensetzung
bleibt, bei allen Kontrollen, Messungen und Proben, üb-
rig. Daher muss eine Müllverbrennungsanlage so arbei-
ten, dass auch riskante Reststoffe und Stoffverbindungen
schadlos verbrannt werden.

In Deutschland sind wir mit den hohen Auflagen und
den hohen Standards bei MVA bisher sehr gut gefahren.
Nicht nur unterschreiten die meisten kommunal betrie-
benen Müllverbrennungsanlagen die Grenzwerte auch
im Dauerbetrieb, auch sind wir von Unfällen, gesund-
heitlichen Schäden durch das Austreten von giftigen
Emissionen und dauerhafter zusätzlicher Belastung von
Mensch und Natur weitgehend verschont geblieben.

Dies können andere Länder leider nicht nachweisen.
Häufig kam und kommt es andernorts zu Umweltgefähr-
dungen und Gesundheitsschäden durch Abfallverbren-
nung.

Die hohen Anforderungen der 17. BImSchV an die
Müllverbrennung bestehen daher, unserer Ansicht nach,
zu Recht. Die SPD begrüßt auch, dass die EU einige
Grenzwerte gesenkt hat. In ihrem Referentenentwurf zur
Umsetzung der Richtlinie zur Industrieemission über-
nimmt das BMU diese schärferen Grenzwerte. Meiner
Meinung nach sollte aber auch die Einhaltung des Stan-
dards der Technik stärker gefasst werden.

Die besondere Sorgfaltspflicht für Umwelt und Ge-
sundheit bei der Müllverbrennung ist der Hintergrund
unseres Antrags. Die Auflagen der 17. BImSchV für
MVA sind wegen dem möglichen Gefährdungen gerecht-
fertigt.

Gleichzeitig aber werden diese Auflagen durch Aus-
nahmen bei der Mitverbrennung von Abfällen in Indus-
trieanlagen konterkariert. Können Sie mir erklären,
warum sogar bei gefährlichen Stoffen Mitverbrennungs-
anlagen höhere Grenzwerte haben als Müllverbren-
nungsanlagen? Warum darf eine MVA im Tagesmittel
nur 10 mg/m3 Ammoniak ausstoßen, eine Mitverbren-
nungsanlage aber die dreifache Menge? Warum dürfen
Anlagen zum Brennen von Kalk mehr als die doppelte
Menge von Stickstoffdioxid ausstoßen? Warum sind die

erlaubten Grenzwerte im Halbstundenmittel selbst bei
organischen Stoffen und Chlorverbindungen höher? Wa-
rum gibt es für Mitverbrennungsanlagen, selbst für diese
höheren Grenzwerte, noch einmal weitere Ausnahme-
möglichkeiten, und dies bei gefährlichen Stoffen wie
Quecksilber, organischen Kohlenstoffen, Chlorverbin-
dungen und Kohlenmonoxid? Sind diese Emissionen
ungefährlicher, weil sie aus Mitverbrennungsanlagen
stammen?

Auch bei technischen Anforderungen, wie zum Bei-
spiel der Mindesttemperatur bei Verbrennung, werden
Ausnahmen ermöglicht. Eine Mindesttemperatur von
850 Grad verhindert die Entstehung von Dioxinen und
Furanen bei der Verbrennung. Bei der Mitverbrennung
von Abfällen in Kraft- und Zementwerken wird eine
niedrigere Mindesttemperatur erlaubt. Dieses Risiko
halte ich für unverantwortlich.

Es gibt weitere Erleichterungen, Ausnahmen zuguns-
ten der Mitverbrennung und zulasten von Mensch und
Natur. Und ich rede hier nicht nur von der derzeit gülti-
gen Regelung, sondern auch von dem Referentenentwurf
zur Umsetzung der Industrieemissionsrichtlinie.

Weithin gibt es Ausnahmeregelungen, die es Mitverbren-
nungsanlagen erlauben, Regelungen der 17. BImSchV zu
Mindesttemperaturen, Rauchgasreinigung und Schad-
stoffmessung brechen zu dürfen. Diese Praxis, diese
Rechtslage muss geändert werden. Aus ökologischen,
gesundheitlichen und ökonomischen Gründen ist es not-
wendig, dass alle Mitverbrennungsanlagen dieselben
Auflagen einhalten müssen wie Müllverbrennungsanla-
gen.

Seit einigen Jahren nimmt aber die Verbrennung von
Abfall in Industrieanlagen stetig zu, vor allem, weil es
für die meisten Mitverbrenner ökonomisch reizvoll ist.
Aber allen Beteiligten muss klar sein: Kraftwerke, Ze-
mentwerke oder Kalkbrennereien haben sich eben als
Kraftwerke bzw. Zementwerke bewährt, nicht als Müll-
verbrennungsanlagen.

Die Mitverbrennung, zum Beispiel halogener organi-
scher Kohlenwasserstoffe, muss allen Sorgen bereiten.
Die Mitverbrennungsanlagen sind dazu nicht geeignet,
und sie werden es auch nicht dadurch, dass die Auflagen
gesenkt werden.

Bereits heute gibt es erste Studien, die Umwelt- und
Gesundheitsgefährdungen durch die Mitverbrennung
von Abfällen in ungeeigneten Anlagen befürchten las-
sen.

Wir sind nicht gegen die Mitverbrennung von Abfäl-
len in Kraftwerken und Industrieanlagen. Nur müssen
dann die Mitverbrennungsanlagen alle Auflagen der
17. BImSchV für MVA einhalten.

Warum geschieht das nicht? In einer Antwort auf
meine schriftliche Frage beruft sich das BMU auf Kapa-
zitätsengpässe durch das Deponierungsverbot. Unsinn;
dies war im Jahr 2005. Heute haben wir bereits Überka-
pazitäten bei der Müllverbrennung.

Ein weiterer Grund, der angeführt wird, ist finanziel-
ler Art. Den Anlagenbetreibern wären die hohen Kosten,

Zu Protokoll gegebene Reden





Gerd Bollmann


(A) (C)



(D)(B)


die zum Beispiel das Einhalten der Grenzwerte erfor-
dert, nicht zuzumuten.

Auch bei den Müllverbrennungsanlagen kostet Quali-
tät auch Geld. Hohe Investitionskosten und hohe lau-
fende Kosten sind der Grund, warum die Müllverbren-
nung in den regulären Müllverbrennungsanlagen circa
130 Euro pro Tonne kostet. Der Preis für eine Tonne mit-
verbrannten Abfalls in Industrieanlagen liegt bei
50 Euro. Der Grund für den Preisunterschied sind al-
leine die geringeren Auflagen, höhere Emissionsgrenz-
werte, geringere Schutzmaßnahmen.

Meine Damen und Herren von Union und FDP, dies
ist kein Wettbewerb, dies ist keine Notwendigkeit auf-
grund fehlender Kapazitäten. Dies ist Ökodumping zum
Vorteil einiger weniger.

Liebe Abgeordnete von Union und FDP, Herr Bun-
desumweltminister Röttgen, Sie behaupten, Mitverbren-
nern seien die Kosten notwendiger Schutzmaßnahmen
nicht zuzumuten. Ich frage Sie: Sagen Sie auch dem Bür-
ger vor Ort persönlich, ihm seien höhere Müllgebühren
zuzumuten? Denn der Bürger bezahlt über seine Abfall-
gebühren die höhere Sicherheit der meist kommunalen
Müllverbrennungsanlagen. Oder sagen Sie dem Bürger,
die höheren Gesundheitsrisiken bei der Mitverbrennung
sind doch halb so schlimm, dafür ist es ja auch billiger?

Ich fordere Sie noch einmal auf: Beenden Sie diesen
ökologischen und ökonomischen Schwachsinn. Für die
Verbrennung von Abfällen müssen gleiche Regeln herr-
schen, egal worin sie verbrannt werden.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1717833000

Die Einführung der 17. Bundes-Imissionsschutzver-

ordnung durch die schwarz-gelbe Bundesregierung im
Jahr 1990 war ein Meilenstein für den Umweltschutz in
Deutschland. Sie hat die Umweltbelastung durch Müll-
verbrennungsanlagen durch die damals strenge Grenz-
wertsetzung für Dioxine von 0,1 ng/m3 nachdrücklich
verbessert und noch heute gültige, europaweite Maß-
stäbe gesetzt. Mit den nachfolgenden Novellierungen,
insbesondere der Umsetzung der EU-Verbrennungs-
richtlinie 2003, sind die immissionsschutzrechlichen An-
forderungen für die Müllverbrennung und Müllmitver-
brennung immer weiter verschärft worden. Heutzutage
sind die Grenzwerte und ihre Fortschreibungen in der
Regel nicht toxikologisch begründet, sondern orientie-
ren sich am technisch Machbaren unter Berücksichti-
gung des wirtschaftlich Darstellbaren. Dabei haben sich
die Grenzwerte von Monoverbrennungsanlagen und Ab-
fallmitverbrennungsanlagen im Laufe der Zeit immer
weiter angeglichen.

Für Abfallmitverbrennungsanlagen gelten abhängig
vom Anlagentyp und der Art und des Anteils des Abfalls
spezielle Emissionsgrenzwerte. Generell dürfen nicht
mehr als 25 Prozent der Feuerungswärmeleistung aus
Abfällen stammen, in der Zement- und Kalkindustrie
liegt dieser Anteil bei 60 Prozent. Werden diese Schwel-
lenwerte überschritten, gelten die Grenzwerte für Mono-
verbrennungsanlagen.

Bei der Grenzwertfestlegung für Mitverbrennungsan-
lagen wird zudem prinzipiell zwischen zwei Schadstoff-
gruppen unterschieden. Für die erste Gruppe von Schad-
stoffen, die Stoffe und Stoffgruppen enthält, die eine
hohe Gesundheitsrelevanz aufweist, beispielsweise poly-
chlorierte Dioxine, Furane oder Quecksilber, werden für
alle Abfallverbrennungs- und Mitverbrennungsanlagen
die gleichen Anforderungen festgelegt. Für die zweite
Gruppe von Schadstoffen, etwa Stickstoffoxid oder Staub,
gibt es technisch bedingt durchaus abweichende Grenz-
werte. So ist beispielsweise die Einhaltung des Mono-
verbrennungsanlagen-Grenzwertes für Stickoxide für
Zementwerke derzeit mit dem eingesetzten SNCR-Ver-
fahren nicht möglich. Zu beachten ist jedoch, dass da-
rüber hinaus noch die Möglichkeit zur Erteilung von
Ausnahmengenehmigungen besteht, über deren Zuläs-
sigkeit allerdings in der Verantwortung der zuständigen
Genehmigungsbehörden vor Ort entschieden wird.

Mit der Umsetzung der europäischen Industrieemissi-
onsrichtlinie in deutsches Recht, die noch in diesem Jahr
erfolgen wird, werden die Grenzwerte erneut einer
Überprüfung und einer weiteren Verschärfung unterzo-
gen. Das ist der Hintergrund, vor dem der Antrag der
SPD-Fraktion, der in ähnlicher Form bereits Gegen-
stand der parlamentarische Debatte in Nordrhein-West-
falen und einer gescheiterten Bundesratsinitiative war,
betrachtet werden muss.

Grundsätzlich ist das Ziel, anspruchsvolle Grenz-
werte, die den Stand der Technik widerspiegeln, festzu-
schreiben, begrüßenswert. Allerdings kann dies eben
auch bedeuten, dass es sich um unterschiedliche Grenz-
werte für verschiedene Arten von Abfallverbrennungs-
anlagen handelt. Dies muss allein nach dem technisch
Machbaren unter Berücksichtigung des wirtschaftlich
Darstellbaren entschieden werden.

Zurückzuweisen ist jedenfalls der Vorwurf, es handele
sich bei der Abfallmitverbrennung um Ökodumping zu-
lasten der regulären Müllverbrennungsanlagen. Hier
wird ganz offensichtlich die unterschiedliche Natur des
eingesetzten Abfalls nicht berücksichtigt. In der Abfall-
mitverbrennung geht es nicht darum, regulären Sied-
lungsabfall thermisch zu verwerten. Vielmehr handelt es
sich um speziell vorbehandelte Abfälle, die den spezifi-
schen Anforderungen der industriellen Verwertung ent-
sprechen müssen. Deshalb sind die Kosten einer Mitver-
brennung nicht einfach mit denen einer Verbrennung in
einer Müllverbrennungsanlage zu vergleichen. Zugleich
ist zu beachten, dass durch die Abfallmitverbrennung
wertvolle primäre Energieressourcen geschont werden.
Die wirtschaftlichen Probleme vieler – vor allem kom-
munaler – Müllverbrennungsanlagen sind daher nicht
einer unzulässigen Konkurrenz durch Abfallmitverbren-
nung geschuldet, sondern allein wirtschaftlichen Fehl-
planungen, die erhebliche Überkapazitäten auf diesem
Markt hervorgebracht haben.

Zum Abschluss möchte ich den Vorschlag machen,
dass wir uns angesichts der großen Komplexität, die der
Grenzwertfestlegung im Immissionsschutzrecht zugrunde
liegt, mit diesem Thema im Rahmen der IED-Umsetzung
noch einmal detailliert beschäftigen. Ich kann mir gut

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Lutz Knopek


(A) (C)



(D)(B)


vorstellen, dass wir zur Novellierung der 13. und
17. BImschV eine Ausschussanhörung durchführen, bei
der wir den Stand der Technik noch einmal detailliert er-
örtern und dann eine Entscheidung treffen, die wissen-
schaftlich fundiert und in der Sache angemessen ist.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717833100

Mitverbrennung von Abfall: Das klingt effektiv, da

wird man den Abfall los, ohne Probleme – zumindest
suggeriert dies die Wortwahl. Worum geht es: In Hoch-
öfen, Gießereien und in Zementfabriken wird gut bren-
nender Abfall verbrannt. Da stellt sich die Frage: Wa-
rum eigentlich? Ganz einfach, für das Verbrennen von
Abfall erhält man Geld, und mit dem Verbrennen des Ab-
falls spart der Hochofen oder die Gießerei Brennstoff,
zum Beispiel Erdgas, Kohlekoks oder Erdöl ein – toll!
Wozu wurden dann eigentlich Müllverbrennungsanlagen
gebaut?

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen der Mit-
verbrennung von Abfall und der Müllverbrennung? Ers-
tens. Bei der Müllverbrennung muss jedes Abfallge-
misch verbrannt werden. Sollte das Gemisch nicht
brennen, dann wird mit Öl oder Kohle nachgeheizt. Bei
der Mitverbrennung ist es anders. Da wird nur Abfall
verbrannt, der gut brennt, denn man will ja Kohle oder
Öl einsparen. Nicht brennender Abfall bleibt bei der
Mitverbrennung übrig.

Zweitens. Bei der Müllverbrennung sind strenge
Grenzwerte für Schadstoffe und Staub in der Abluft vor-
gesehen. Die Abluft muss zwingend über Filtersysteme
laufen, und wenn die Verbrennungstemperatur nicht
über 850 Grad Celsius liegt, darf kein Abfall verbrannt
werden. Bei der Abfallmitverbrennung existieren weni-
ger strenge Grenzwerte und Ausnahmeregelungen zum
Beispiel gibt es keine Vorschrift für die Verbrennungs-
temperatur. Das ist kritisch, weil bei Temperaturen unter
800 Grad Celsius Dioxine entstehen können.

Während Müllverbrennungsanlagen mit aufwendigen
Filteranlagen und Aktivkohlefilter teilweise bis zur hun-
dertfachen Unterschreitung von Grenzwerten im Abgas
sorgen, werden bei der Abfallmitverbrennung die gefor-
derten Grenzwerte gerade so unterschritten oder mit
Ausnahmeregelungen sogar verletzt. Filter kosten Geld.
Das ständige Einhalten von Verbrennungstemperaturen
kostet Geld. Das Zusetzen von Öl für schlecht brennen-
den Müll kostet Geld. Deshalb ist es kein Wunder, wenn
Entsorgungsunternehmen immer, wenn es möglich ist,
die Mitverbrennung statt der Müllverbrennung nutzen,
denn da kostet die Entsorgung einer Tonne Abfall nur 50
statt über 100 Euro. Deshalb wird immer mehr Müll
über Abfallmitverbrennung entsorgt. Fatal ist nur, dass
der billigeren Entsorgung wesentlich höhere Umweltbe-
lastungen gegenüberstehen. Für die Bevölkerung sind
die zusätzlichen Emissionen bei Mitverbrennungsanla-
gen zwar unsichtbar, aber gesundheitsgefährdend.

Ob Umweltbelastungen wegen fehlender Filter aus
der Abfallmitverbrennung oder aus dem normalen Be-
trieb eines schrottverarbeitenden Stahlwerkes, wie in
Riesa, stammen, ist für die Betroffenen egal. Aktuelle
Untersuchungen des BUND in der sächsischen Stadt

Riesa zeigen, dass die Dioxinwerte in der Stadt steigen,
dass es hohe Staubbelastungen gibt und dass von 10 000
Riesaern jährlich 11,4 an bösartigem Leberkrebs er-
kranken. Im Landesdurchschnitt sind es weniger als
3,5 Sachsen von 10 000, die diese schreckliche Dia-
gnose erhalten. Auch bei Lungenkrebs ist in Riesa eine
Fallverdopplung zum Landesdurchschnitt auf 48 von
10 000 Einwohnern vom BUND statistisch belegt.

Bei der Schrottverarbeitung im Stahlwerk entstehen
ähnlich Abgase wie bei der Mitverbrennung von Abfäl-
len in Industrieanlagen. Unzureichende Filter der dorti-
gen Anlage und das Entstehen von Dioxin durch falsche
Verbrennungstemperaturen können eine Ursache der
Erkrankungen sein. Deshalb müssen in Riesa Filter in-
stalliert und in der Bundesrepublik die Mitverbrennung
gestoppt werden.

Die SPD fordert in ihrem Antrag, dass Mitverbren-
nungsanlagen die gleichen Grenzwerte und Bedingun-
gen wie reguläre Abfallverbrennungsanlagen einhalten
sollen. Das ist ein Anfang, und deshalb wird die Linke
dem Antrag der SPD zustimmen.

Aber im Interesse der Menschen in Riesa und überall
dort, wo in Industrieanlagen Abfall mitverbrannt wird
oder aus anderen Gründen Schadstoffe entweichen, for-
dert die Linke zusätzlich, dass nicht nur die strengen
Grenzwerte für jede Branche gelten, sondern auch, dass
die Mitverbrennung verboten bleibt, bis die Industriean-
lagen die gleichen realen Schadstoffwerte wie die regu-
lären Müllverbrennungsanlagen erreichen. Der Schutz
der Gesundheit muss über den Gewinninteressen von
Firmen und Entsorgungsunternehmen stehen.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717833200

Wir Grüne begrüßen ausdrücklich den vorgelegten

Antrag der SPD-Fraktion. Bei der derzeitigen Dauerle-
thargie der Bundesregierung ist es dringend notwendig,
dass aus der Opposition Impulse gesetzt werden, um
überhaupt noch etwas voranzubringen in der Umwelt-
politik. Die EU-Industrieemissionsrichtlinie, IED-Richt-
linie, liegt vor und muss möglichst bald in deutsches
Recht umgesetzt werden. Leider ist ja zu erwarten, dass
es etwas länger dauert bei der Bundesregierung. Im
Rahmen dieser Umsetzung muss unter anderem auch die
17. Bundes-Immissionsschutzverordnung, die die Ver-
brennung und die Mitverbrennung von Abfällen regu-
liert, novelliert werden. Hier müssen im Sinne des Schut-
zes der Gesundheit von Menschen und der Umwelt
dringend die bestehenden Regelungen zum Schutz vor
Immissionen umfassend auf den Prüfstand gestellt wer-
den.

Wir haben einiges erreicht in Deutschland bei der
Luftreinhaltepolitik. Viele Regelungen und Grenzwerte
hat aber die Zeit überholt, sie müssen dringend neuen
Entwicklungen angepasst werden. Auch gehören die di-
versen Ausnahmen auf den Prüfstand. Der Antrag der
SPD greift ein Thema auf, bei dem wir schon lange zwin-
genden Änderungsbedarf sehen. Wir haben ja gemein-
sam mit der SPD schon einmal eine entsprechende Bun-
desratsinitiative eingebracht sowie bereits im Jahr 2007

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothea Steiner


(A) (C)



(D)(B)


einen eigenen Bundestagsantrag zur Anpassung der
Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen.

Die Müllverbrennungsanlagen in Deutschland unter-
schreiten mittlerweile die bestehenden Grenzwerte der
17. BImSchV so deutlich, dass eine massive Verschär-
fung der Grenzwerte der 17. BImSchV zwingend geboten
ist. Hier gehen wir Grünen in unseren Forderungen al-
lerdings deutlich über den Antrag der SPD hinaus, der
nur eine Aufhebung und Überprüfung der Ausnahmere-
gelungen fordert. Aber auch die Abschaffung der beste-
henden Ausnahmeregelungen für die Mitverbrennung ist
eine wichtige Forderung, die wir klar unterstützen.

Es ist ein Skandal, dass Abfallströme von den Müll-
verbrennungsanlagen hin zu Mitverbrennungsanlagen
umgeleitet werden, die nicht einmal ansatzweise die fest-
geschriebenen Grenzwerte erfüllen. Der Bundesumwelt-
minister aber sieht keinen Grund, endlich für die Mitver-
brennung die gleichen Standards einzuführen. Scheinbar
ist es ihm gleichgültig, dass dadurch Mensch und Um-
welt unnötig belastet werden und in Deutschland freudig
Ökodumping betrieben wird. Dabei handelt es sich hier
nicht um bedeutungslose Stoffe. Sie wissen, dass durch
Kupfer, Chlor und Brom in den Abfällen beim Verbren-
nen gefährliche Dioxine und Furane entstehen, die in
deutlich über den klassischen Grenzwerten liegenden
Konzentrationen freigesetzt werden.

Es gibt aus unserer Sicht keinen nachvollziehbaren
Grund, warum bei der Mitverbrennung von Abfällen die
Umwelt und die menschliche Gesundheit stärker belastet
werden dürfen als bei der normalen Müllverbrennung.
Ich bin ernsthaft gespannt, wie die Koalitionsfraktionen
wieder die Untätigkeit ihres Ministers rechtfertigen wer-
den. Aber bitte behaupten Sie nicht wieder, entspre-
chende Vorschläge Ihrerseits befänden sich schon in der
Ressortabstimmung. Bei den vielen Vorgängen, die sich
nun schon seit Monaten in der Ressortabstimmung be-
finden sollen, aber nie fertig abgestimmt auf dem Tisch
erscheinen, glaubt Ihnen dies langsam keiner mehr. Das
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz ist da schon seit letztem
Herbst – das ist doch Arbeitsverweigerung!

Wie wenig aktiv das Umweltministerium ist, merken
wir ja derzeit im Umweltausschuss. Gäbe es nicht zahl-
reiche qualifizierte Anträge der Opposition und wichtige
Vorlagen aus der EU, hätten wir bald gar nichts mehr zu
diskutieren.

Man kann nur hoffen, dass der Bundesumweltminis-
ter nach seiner erwartbaren Wahlniederlage am Sonn-
tag entweder sein Amt zur Verfügung stellt oder endlich
zur dringend notwendigen Sacharbeit zurückkehrt. Der
jetzige Zustand der absoluten Untätigkeit ist mit Blick
auf die notwendigen Gesetzesänderungen nicht länger
hinnehmbar. Und mit Blick auf die Umsetzung der IED-
Richtlinie gibt es ja noch zahlreiche andere Baustellen,
nicht nur die Grenzwerte bei der Müllverbrennung und
der Abfallmitverbrennung. Ich nenne einmal exempla-
risch die Themen Quecksilberbelastung und die Verrin-
gerung der Treibhausgasemissionen. Durch eine ambi-
tionierte Umsetzung der Richtlinie könnten große
Verbesserungen in Sachen Gesundheits- und Umwelt-
schutz erreicht werden. Wir Grüne werden – das kann

ich versprechen – das Problem öffentlich diskutieren
und umfassende Vorschläge vorlegen. Wir begrüßen es,
dass die SPD mit dem heutigen Antrag einen ersten
wichtigen Aufschlag gemacht hat, und stimmen dem An-
trag klar zu.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717833300

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9555 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Ta-
gesordnung stehen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Für gute Arzneimittelversorgung Versandhan-
del auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen

– Drucksache 17/9556 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Die Reden sind zu Protokoll gegeben.


Michael Hennrich (CDU):
Rede ID: ID1717833400

Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der

Fraktion Die Linke zum Thema Versandhandel. Ein
Dauerthema, wie mir scheint, denn bereits im Juni 2008
mussten wir uns mit einem gleichlautenden Vorschlag
der Linken befassen. Der Versandhandel soll, so lautet
das erklärte Ziel, auf rezeptfreie Arzneimittel beschränkt
werden. Ich frage mich daher, warum sich die Linke in
dieser Sache so vehement engagiert und sich gar zum
Schutzpatron der Apotheker aufschwingt?

Mir scheint, dass die Bemerkung in meiner Rede von
vor zwei Wochen, in der ich die fehlende politische Inter-
vention der Opposition im Rahmen der AMG-Novelle
als Zustimmung gewertet habe, hier zu einem überstürz-
ten Aktionismus geführt hat. Dabei ist diese Entschei-
dung zum Versandhandel doch bereits mit dem GKV-
WSG im Jahr 2004 gefallen.

Fakt ist, dass bereits am 25. März 2009, also in der
letzten Legislaturperiode, eine Anhörung zu diesem
Thema im Bundestag stattgefunden hat. Diese hat ge-
zeigt, dass der Versandhandel als fester Bestandteil zu
einer umfassenden und zeitgemäßen Arzneimittelversor-
gung gehören kann.

Zweifelsohne birgt das Thema Versandhandel
Schwierigkeiten. Aus diesem Grund wurden damals zu
Recht hohe Hürden für den Versandhandel ins Gesetz
eingebaut. Denn unser erklärtes Ziel ist und war, dass
eine sichere und zuverlässige Versorgung der Patienten
mit Arzneimitteln auch über diesen Vertriebsweg ge-
währleistet wird.

Der mit dem Versandhandel verbundene Hauptpro-
blemkreis ist sicherlich im Bereich der Pick-up-Stellen
zu verorten. Denn beim Versandhandel hat sich neben





Michael Hennrich


(A) (C)



(D)(B)


dem „klassischen“ Versandhandel in Form des Direkt-
versands an den Verbraucher diese zweite Vertriebsform
über Bestell- und Abholstationen entwickelt, die wir
durchweg kritisch beurteilen. Ich räume aber auch ein,
dass es schwierig ist, ein Pick-up-Verbot zu realisieren
und es gleichzeitig beim Versandhandel zu belassen.

Zwar ist der „klassische“ Versandhandel aufgrund
des derzeitig geringen Marktanteils kein wirtschaftli-
ches Problem für die öffentlichen Apotheken. Jedoch
stellen die Rechtslage und die daraus resultierende Be-
liebigkeit bei der Vor-Ort-Abgabe von Arzneimitteln in
Pick-up-Stationen insbesondere die Rechtmäßigkeit der
Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung an den
Betrieb der öffentlichen Apotheken infrage. Damit droht
der Wegfall der rechtlichen Verbindlichkeit der Apothe-
kenbetriebsordnung und somit eine umfassende Belie-
bigkeit der Abgabestellen.

Dies hat eine erhebliche Schwächung der Arzneimit-
telsicherheit, der Arzneimittelversorgung und des Ver-
braucherschutzes zur Folge. Mithin ist zur Lösung der
Pick-up-Problematik die Reduzierung des Versandhan-
dels auf das europarechtlich notwendige Maß erforder-
lich. Genau das fordern wir – heute genauso wie bereits
im Koalitionsvertrag.

Weil Arzneimittel ein sensibles Gut sind, bedarf ihre
Ausgabe einer kritischen Prüfung durch einen Pharma-
zeuten, der zudem mit dem Patienten in direktem
Kontakt stehen muss. Gerade dieser wichtige Aspekt der
Patientensicherheit ist bei der Pick-Up-Problematik
nicht gegeben. Beim direkten Versand an den Endver-
braucher und Adressaten ist wenigstens der weitere
Missbrauchsaspekt durch die direkte Übergabe grund-
sätzlich unterbunden.

Für uns steht fest, dass der legale Versandhandel seit
seiner Einführung vor fünf Jahren überschaubare Pro-
bleme bereitet. Er kann chronisch Kranken, multimor-
biden Patienten, Gehbehinderten, Älteren und Berufstä-
tigen den Zugang zu Arzneimitteln erleichtern. Der
Versandhandel stellt offenbar auch keine umgreifende
wirtschaftliche Gefahr für die Präsenzapotheken dar,
deren Zahl sei sogar noch gestiegen.

Für begrüßenswert halte ich auch den Schritt, zum
Schutz der legalen Vertriebswege die Anforderungen an
Hersteller und Vertreiber zu konkretisieren und auf diese
Weise transparenter zu gestalten. Besonders fälschungs-
gefährdete Arzneimittel etwa erhalten in diesem Rahmen
zusätzliche Sicherheitsmerkmale zur Identifizierung
einzelner Arzneimittelpackungen. Dies ist ja eines der
Hauptziele der AMG-Novelle.

Ein Verbot des Rx-Versandhandels ist verfassungs-
rechtlich nicht zwingend und europarechtlich nicht
geboten, weil es der Europäische Gerichtshof in das
Belieben der Mitgliedstaaten gestellt hat, auch den Rx-
Versandhandel zuzulassen. Das BMG hat „konkretisie-
rende Anforderungen zur Qualität“ der Pick-up-Stellen
für Arzneimittel vorgeschlagen und ist weiterhin ge-
sprächsbereit.

Bereits im Koalitionsvertrag haben wir ein Verbot
von Pick-up-Stellen vereinbart. An diesem Ziel halten

wir fest. Weil bisher sämtliche Vorstöße aufgrund ihrer
mangelnden Verfassungskonformität gescheitert sind, ist
nun ein entsprechend abgestimmter Vorschlag vorzule-
gen. Hier fordern wir die Bundesregierung auf, einen
verfassungskonformen Entwurf zu verabschieden.

Vor diesem Hintergrund überrascht die Argumenta-
tion vonseiten der Linken, als vermeintlicher Anwalt der
Apotheker doch schon sehr. Hier lässt die Linke ja eine
geradezu ungewohnt bürgerliche Attitüde erkennen.
Vielleicht fordert sie als Nächstes auch noch eine Erhö-
hung der Vergütung? Dabei sind es doch gerade wir, die
im Rahmen der AMG-Novelle die Sorgen mittelständi-
scher und inhabergeführter Apotheken nicht vernachläs-
sigen wollen.

Nach Auslaufen der Sparmaßnahmen Ende 2012 ist
auf Basis präzisierter Daten der Apothekenabschlag
wieder von den Vertragspartnern auf der Bundesebene
zu vereinbaren. Wir empfehlen, dass für das Jahr 2013
als Ausgangsbasis für die vorgesehenen Verhandlungen
gesetzlich der für 2009 und 2010 geltende Abschlag, der
derzeit gerichtlich überprüft wird, festgelegt wird. Dies
bildet eine faire Ausgangsbasis für die folgenden Ver-
handlungen zwischen Kassen und Apothekern und ist
überdies auch sachgerecht.

Ich konstatiere, dass im Rahmen der Sparmaßnahmen
insbesondere auch die Apothekerschaft einen hohen Bei-
trag geleistet hat. Die aktuell entspannte finanzielle
Situation der Kassen ist gerade auch auf die Einsparun-
gen im Arzneimittelsektor, wozu die Apotheker einen er-
heblichen Beitrag geleistet haben, zurückzuführen.
Wenn also über Entlastungen geredet wird, dürfen nicht
diejenigen hinten runterfallen, die vorher den größten
Beitrag geleistet haben. Deshalb ist es nun geboten,
dass wir uns konstruktiv mit den Vorschlägen der Apo-
thekerschaft befassen. Wenn schon bei Krankenhäusern
darüber nachgedacht wird, mehr Geld ins System zu
bringen, muss gerade auch geprüft werden, inwieweit
die Apotheker entlastet werden können.

Will man im Interesse der Arzneimittelsicherheit und
des Verbraucherschutzes sowie zur nachhaltigen Stär-
kung der mittelständischen Struktur in der Apotheken-
landschaft die Pick-up-Problematik lösen, so bedarf es
hier keines blanken Aktionismus, sondern einer verfas-
sungsrechtlich sauberen Lösung.


Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1717833500

Als die rot-grüne Bundesregierung im Zuge des GKV-

Modernisierungsgesetzes im Jahr 2004 den Versand-
handel mit Arzneimitteln legalisierte, taten wir dies aus
Gründen des Verbraucherschutzes. Zu diesem Zeitpunkt
bezogen die Bürgerinnen und Bürger bereits Arzneimit-
tel aus dem Ausland. Durch einen geregelten, kontrol-
lierten und überwachten Versandhandel wollten wir da-
für sorgen, dass sie besser vor den Risiken, wie
beispielsweise gefälschten Medikamenten, geschützt
werden.

Der Versandhandel mit Medikamenten hat sich be-
währt. Aktuell wird jedes zehnte rezeptfreie Arzneimittel
nicht mehr durch den Apotheker, sondern durch den

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)


Postboten abgegeben. Die Option, Arzneimittel per Post
zuzustellen, hat durchaus positive Auswirkungen ge-
habt: Sie konnte zur Schließung von Versorgungslücken,
vor allem in ländlichen Gebieten, beitragen. Auch gab
sie den Betreibern von Präsenzapotheken die Möglich-
keit, ihre Kunden besser zu versorgen. Ebenso praktisch
ist der Versandhandel mit klassischen Nebensortiments-
produkten wie Nahrungsergänzungsmitteln und speziel-
len Kosmetika.

Im Gegensatz zu den stationären Apotheken, die noch
immer etwa 80 Prozent ihres Umsatzes mit verschrei-
bungspflichtigen Medikamenten machen, lebt der Ver-
sandhandel vom Verkauf der typischen Produkte des
Ergänzungssortiments und rezeptfreien Arzneimitteln.
Hier erzielen Versandapotheken mittlerweile einen
Marktanteil von jeweils rund 10 Prozent. Bei rezept-
pflichtigen Arzneimitteln hingegen liegt ihr Marktanteil
unter 1 Prozent.

Auch wenn viele Verbraucher immer häufiger Arznei-
mittel im Internet bestellen – auf die Apotheke vor Ort
verzichten möchten sie nicht. Der Arzneimittelversand
reicht nicht aus, um eine zeitnahe flächendeckende Ver-
sorgung anbieten zu können.

Neben der schnellen Versorgung und guten Erreich-
barkeit sind es die klassischen Apothekenaufgaben, die
die Menschen in Deutschland schätzen. Dazu gehören
das Einlösen von Rezepten, die Herstellung von Rezep-
turen, die Nacht- und Notdienste sowie die Beratung zu
Medikamenten, Beschwerden und allgemeinen Gesund-
heitsfragen. Wegen dieser Dienstleistungen haben die
Apotheken ihre besondere Monopolstellung in Deutsch-
land inne, was zudem vom Bundesverfassungsgericht
bestätigt wurde. Für 93 Prozent der deutschen Bevölke-
rung ist und bleibt die Präsenzapotheke unverzichtbar.
Wir sollten uns darauf konzentrieren, die genannten
Stärken der Apotheken zu fördern und den Aufwand an-
gemessen zu honorieren.

Die Zulassung des Versandhandels mit Arzneimitteln
hat jedoch nicht wie behauptet zu einer Verminderung
der Patientensicherheit geführt. Zugelassene Versand-
apotheken beziehen ihre Ware aus den gleichen Quellen
wie stationäre Apotheken, nämlich aus dem Großhandel
oder direkt von der pharmazeutischen Industrie. Arznei-
mittelfälschungen, die Sie in ihrem Antrag ansprechen,
stammen von illegalen Händlern aus dem Ausland, der
überwiegende Teil aus Indien. Dieses Problem existierte
schon vor der Freigabe des Handels. Mit einem Verbot
des Versandhandels für verschreibungspflichtige Arz-
neimittel werden Sie nichts gegen diesen illegalen Ver-
trieb ausrichten können. Auch in Ländern mit einem um-
fassenden Verbot, wie beispielsweise Österreich, stellt
der Zoll regelmäßig gefälschte Arzneimittel sicher.

Gegen die unseriösen Händler wurden Maßnahmen
ergriffen. Unter anderem gibt es ein Gütesiegel vom
Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und
Information sowie eine aktuelle Liste der zugelassenen
Versandapotheken, das „Versandapothekenregister“ auf
der Website des Bundesgesundheitsministeriums. Dort
können sich die Verbraucher jederzeit über sichere An-
bieter informieren.

Aus diesen Gründen sehe ich nicht den Versandhan-
del an sich als Problem. Wesentlich problemtischer sind
jedoch die Pick-Up-Stellen. In den Gewerbebetrieben,
die als Pick-Up-Stellen genutzt werden – das sind in der
Regel Drogerien, aber auch Tankstellen und Blumenlä-
den –, findet niemals eine Beratung über die Anwendung
der Arzneimittel und mögliche Nebenwirkungen statt.
Sie kann auch nicht stattfinden, da es in den genannten
Einrichtungen kein entsprechend ausgebildetes Perso-
nal gibt. Abgesehen davon unterliegt die Lagerung in
der Drogerie, im Blumenladen oder an der Tankstelle
nicht den strengen Anforderungen der Apothekenbe-
triebsordnung.

Die Trennung zwischen Apotheken und anderen Ge-
werbebetrieben wurde nicht willkürlich eingeführt. Sie
leistet einen wesentlichen Beitrag zum Bewusstsein der
Bevölkerung für die Besonderheiten von Arzneimitteln
und damit zur Vermeidung eines gesundheitsschädlichen
Fehlgebrauchs von diesen. Sie wirkt auch als sinnvolle
Konsumschwelle, sodass die Menschen von einem über-
mäßigen Medikamentengebrauch abgehalten werden.

Doch diese Trennung wird vor allem durch die
Pickup-Stellen zusehends aufgehoben. Im Koalitionsver-
trag haben sich CDU/CSU und FDP für eine Bekämp-
fung der Auswüchse des Versandhandels ausgesprochen
und die Abschaffung der Pick-Up-Stellen in Aussicht ge-
stellt. Wir fordern die Regierung zum wiederholten Male
auf, ein verfassungskonformes Gesetz vorzulegen, das
Pick-Up-Stellen unterbindet. Der Versandhandel mit
Arzneimitteln hingegen hat sich als Ergänzung zum be-
stehenden System bewährt. Daher werden wir dem An-
trag nicht zustimmen.


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1717833600

Eine hochwertige Arzneimittelversorgung ist für eine

effiziente medizinische Therapie unverzichtbar. Darüber
besteht in diesem Hause Einigkeit. Einigkeit besteht
auch darüber, dass Arzneimittel besondere Güter sind,
an die hohe Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen
gestellt werden.

Die Koalition und der liberale Gesundheitsminister
haben erst gestern mit der vom Kabinett verabschiede-
ten Apothekenbetriebsordnung einen wichtigen Schritt
zu mehr Qualität und mehr Sicherheit in der Arzneimit-
telversorgung gemacht.

Für alle Apotheken sind ab sofort Maßnahmen zur
Qualitätssicherung und zur Dokumentation ebenso wie
Hygienepläne verpflichtend vorgeschrieben. Auch stär-
ken wir die Beratungs- und Informationspflicht der Apo-
theker gegenüber den Kunden.

Die Linke behauptet in dem vorliegenden Antrag, die
Qualität der Arzneimittelversorgung dadurch zu verbes-
sern, dass der Versand von rezeptpflichtigen Arzneimit-
teln gänzlich verboten wird. Das ist schlicht Unsinn.
Denn mit ihrem Antrag verschließt die Linke doch nur
die Augen vor der Realität. Der Versandhandel hat sich
in Deutschland fest etabliert; er gehört heute zum Apo-
thekenmarkt. Dass der Wettbewerb zwischen Versand-
apotheken und Präsenzapotheken zu einer besseren Ver-

Zu Protokoll gegebene Reden





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


sorgung hinsichtlich Qualität, Service und zum Teil auch
des Preises führt, muss an dieser Stelle gar nicht betont
werden.

Man darf auch nicht verschweigen, dass gerade der
Versandhandel für bestimmte Personengruppen die ein-
zige Möglichkeit ist, überhaupt einen einfachen Zugang
zu den benötigten Arzneien zu erhalten. Denken Sie ein-
fach an die Menschen mit eingeschränkter Mobilität,
chronisch Kranke oder Berufstätige, denen es zu den
Geschäftszeiten nicht immer möglich ist, eine Apotheke
aufzusuchen. Nicht zu vergessen ist die Arzneimittelver-
sorgung im ländlichen Raum, wo der Weg zur nächsten
Apotheke zum Teil schon sehr weit geworden ist.

Die von Ihnen ausgeführten Sicherheitsbedenken be-
züglich des Versandhandels sind nach den vorliegenden
Zahlen nicht empirisch nachweisbar. Bei der persönli-
chen Aushändigung der Medikamente im Versandhandel
herrscht grundsätzlich kein geringerer Standard an Pa-
tienten- und Gesundheitsschutz, als dies bei der Abgabe
in den Präsenzapotheken der Fall ist.

Vielmehr hätten wir bei einem Verbot des klassischen
Versands verfassungsrechtliche Bedenken, da ein sol-
ches Verbot als verfassungswidriger Eingriff in die
grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfreiheit des
Art. 12 Grundgesetz angesehen werden könnte.

Auch die Warnung vor dem sogenannten Einfallstor
von Produktfälschungen schürt unnötige Sorge bei den
Bürgern und geht an der Realität vorbei. Das zeigt auch
zum Beispiel der Vergleich mit Österreich, wo ohne Ver-
sandhandel die Fallzahlen vergleichbar sind.

Im Übrigen kümmern wir uns bereits um die tatsäch-
lichen Probleme hinsichtlich der Gefahr durch zuneh-
mende Arzneimittelfälschungen, indem wir mit der
anstehenden AMG-Novelle die Sicherheitsmerkmale er-
höhen und die Lieferkette transparenter gestalten.

Die Forderungen der Linken gehen schlichtweg an
der Realität vorbei. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717833700

Die Linke legt Ihnen hier einen Antrag vor, der einen

wichtigen Beitrag dazu leistet, eine gute gesundheitliche
Versorgung der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
zu sichern.

Die Apotheke vor Ort ist ein wichtiger Baustein zu ei-
ner guten gesundheitlichen Versorgung und zwar auf
mehreren Ebenen: Eine hochwertige, sichere Arzneimit-
telversorgung ist für die medizinische Therapie unver-
zichtbar. Es ist daher enorm wichtig, dass bei einem Arz-
neimittel drin ist, was draufsteht.

Der Versandhandel ist aber das Haupteinfallstor für
Fälschungen. Die Zahl der sichergestellten Fälschun-
gen ist nach Angaben des Zollkriminalamts in nur fünf
Jahren um das Zwanzigfache angestiegen. Bisherige
Versuche durch Zertifizierungen und Länderlisten haben
daran wenig geändert. Aber das muss sich ändern.

Arzneimittel sind auch keine Lutschbonbons, die man
im Kiosk verkaufen oder über das Internet bestellen und

verschicken sollte. Sie erfordern eine umfassende Kon-
trolle und Beratung. Dazu ist es sinnvoll, das pharmako-
logische Wissen von Apothekerinnen und Apothekern für
die gesundheitliche Versorgung nutzbarer zu machen.

Ideen, wie das von der ABDA und der KBV ent-
wickelte Modell zur Arzneimittelversorgung zeigen, wo-
hin die Reise gehen muss. Das ist mit Versandapotheken
nicht möglich. Das muss doch auch der Bundesregie-
rung klar sein, wenn sie Modellprojekte für eine Koope-
ration von Ärzten und Apotheken ins Versorgungsstruk-
turgesetz schreibt.

Wenn die Bundesregierung bei der Novellierung der
Apothekenbetriebsordnung fordert, dass bei der Abgabe
eines Arzneimittels eine Beratung aktiv angeboten wer-
den muss, frage ich mich, wie das bei einer Internetapo-
theke vonstatten gehen soll. Hier werden doch Internet-
und Präsenzapotheken mit zweierlei Maß gemessen, und
es wird in Kauf genommen, dass Menschen, die ihre Arz-
neimittel im Internet beziehen, schlechter versorgt wer-
den als Menschen, die eine Präsenzapotheke aufsuchen.
Das ist mit der Linken nicht zu machen.

Die Linke fordert, dass Apotheken als Leistungser-
bringer anerkannt und integriert werden, anstatt Apo-
theken zu reinen Verkaufshäusern verkommen zu lassen,
die ihre Dienste ebenso gut im Internet anbieten können.
Genau das geschieht aber, wenn man den Versandhandel
nicht einschränkt. Die Gleichen, die kein Problem ha-
ben, wenn Internetapotheken rezeptpflichtige Arzneien
verschicken, würden mit gutem Grund Sturm laufen,
wenn Ärztinnen und Ärzte übers Internet behandelten.

Präsenzapotheken stellen oft den ersten Anlaufpunkt
für Menschen dar, die gesundheitliche Beeinträchtigun-
gen haben. Sie können so eine Lotsenfunktion erfüllen,
indem sie beispielweise einen Arztbesuch anraten. Und
sie entlasten letztlich auch die ärztlichen Praxen, da
sich nicht alle Menschen mit ihren Fragen gleich an den
Arzt wenden müssen. Dies gilt es flächendeckend zu er-
halten und zu verbessern und nicht durch einen sich wei-
ter ausbreitenden Versandhandel zu gefährden. Es ist
doch klar, dass Präsenzapotheken schließen müssen,
wenn immer mehr Arzneimittel übers Internet verschickt
werden.

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Versandhandel
wegen der Zuzahlungen an Bedeutung gewonnen hat.
Menschen bestellen ihre Arzneien im Internet, um Kos-
ten zu vermindern oder zu umgehen. Die Linke setzt sich
nicht nur für die Begrenzung des Versandhandels auf re-
zeptfreie Arzneien ein, sondern auch für die Abschaffung
der Zuzahlungen. Das dient der Gesundheit der Men-
schen doppelt: durch eine persönliche Beratung in Apo-
theken und die Beseitigung von unsozialen Kosten, die
kranke Menschen abhalten, sich notwendige Arzneien zu
besorgen.

Und zuletzt: Auch wenn es den meisten klar sein
müsste: Der Linken geht es bei der flächendeckenden
Versorgung mit Apotheken nicht vorrangig um die Apo-
theker, wie es bei der flächendeckenden ärztlichen Ver-
sorgung nicht vorrangig um die Ärzte geht. Es geht um
eine gute Versorgung der Bürgerinnen und Bürger.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717833800

Unsinnige Initiativen werden durch Recycling nicht

besser. Schon 2009 forderte die Linke ein Verbot des Ver-
sands rezeptpflichtiger Arzneimittel. Aus der Anhörung
dazu sowie einem Antrag der FDP, der ein Verbot von
Pick-up-Stellen forderte, hätte die Linke lernen können:
Die Patientenverbände hatten den Versandhandel aus
Sicht chronisch Kranker und Behinderter als eine wich-
tige Option bezeichnet. Vor allem bei mobilitätseinge-
schränkten Menschen könne der Versandhandel den Zu-
gang zu Medikamenten verbessern.

Deutlich wurde auch, dass die Beratungsqualität von
Versandapotheken nicht schlechter ist als die von Prä-
senzapotheken. Beide haben Vor- und Nachteile: Der di-
rekte persönliche Kontakt kann durch die Anwesenheit
anderer Kundinnen und Kunden behindert werden. Eine
telefonische Beratung durch Versandapotheken bietet
Vertraulichkeit, findet jedoch meist ohne Kenntnisse des
Umfelds statt. Die Behauptung der Linken, nur Präsenz-
apotheken können aktiv eine Beratung anbieten, er-
scheint mir angesichts der zunehmenden Kommunika-
tion via neue Medien ein Argument von vorgestern. Pa-
tientinnen und Patienten sollten selbst entscheiden,
welche Beratung für sie die passende ist. Aufgabe der
Politik ist es, sicherzustellen, dass diese Beratung sicher
und vertraulich durchgeführt werden kann.

Anders als bei dubiosen Internethändlern kann man
bei zugelassenen Versandapotheken rezeptpflichtige
Arzneimittel nicht einfach per Mausklick bestellen. Vo-
raussetzung ist immer, dass der Kunde sein Rezept an
die Versandapotheke schickt. Wenn, wie vorgeschlagen,
bei legalen Versandapotheken ausschließlich ein Maus-
klick für eine Bestellung – nicht verschreibungspflichti-
ger Medikamente – reicht, dann könnte die beklagte Ver-
wechslungsgefahr gegenüber illegalen Angeboten sogar
steigen statt zu fallen.

Ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungs-
pflichtigen Arzneimitteln wäre europarechtlich möglich,
wenn durch den Versandhandel die Gesundheit der Be-
völkerung gefährdet würde. Es hilft nichts, diese Tatsa-
che gebetsmühlenartig zu wiederholen und zu ignorie-
ren, dass der Versand von verschreibungspflichtigen
Arzneimitteln seit vielen Jahren ohne Schadensfälle in
Deutschland Praxis ist. Ein Verbot wäre verfassungs-
rechtlich nicht haltbar. Das hat die schwarz-gelbe Bun-
desregierung gerade erst wieder in ihrer Gegenäuße-
rung zum Vorschlag der Bundesländer bekräftigt. Ein
Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit der Ver-
sandapothekerinnen und -apotheker würde eine starke
Rechtfertigung brauchen. Die fehlt, da das Problem der
Patientengefährdung, dem man angeblich mit dem Ver-
bot begegnen will, mangels Schadensfällen nicht exis-
tiert. Der Schutz vor Konkurrenz ist kein zulässiger
Eingriffszweck. Das hören Koalitionsabgeordnete der
Union gar nicht gerne – oder sie dichten der Bundes-
regierung einen gegenteiligen Standpunkt an. Dann
müssen sie – wie Sie, Herr Hennrich, in der letzten Wo-
che – die zu Protokoll gegebene Rede nachträglich kor-
rigieren.

Zumindest in einem Punkt gibt es Bewegung: der Ein-
schätzung zum Thema Pick-up-Verbot. Die Linke stellt
fest, dass ein separates Verbot aus verfassungsrechtli-
chen Bedenken gescheitert ist. Auch Frau Flach scheint
in dieser Frage als Parlamentarische Staatssekretärin
dazugelernt zu haben. Manchmal scheint es doch zu hel-
fen, in Regierungsverantwortung zu stehen und zur Ab-
stimmung mit den Verfassungsressorts gezwungen zu
sein. Frau Flach vertritt nun das Gegenteil dessen, was
die FDP noch 2009 forderte. Weiterhin behauptete sie
letzte Woche hier im Bundestag, dass die Mehrheit der
Bundesländer inzwischen auch einsehe, dass ein isolier-
tes Verbot von Pick-up-Stellen verfassungsrechtlich be-
denklich wäre.

Bei so viel Einigkeit wäre es endlich an der Zeit, sich
von unhaltbaren Versprechungen zu verabschieden. Das
Ministerium hat schon vor Jahren einen Vorschlag mit
klaren Vorgaben für diese Abholstellen erarbeitet. Die-
ser wäre schnell aus der Schublade zu ziehen, aber da
scheint, wie schon in der letzten Legislaturperiode, die
CDU zu blockieren. Statt gegen Windmühlen zu kämp-
fen, sollte die Union sich darauf besinnen, im Interesse
der Patientinnen und Patienten sinnvolle Rahmenbedin-
gungen zu verabschieden. So könnte etwa der direkte te-
lefonische Draht zur Beratung bei der Abholung vorge-
schrieben werden.

Ich würde mich freuen, wenn wir über kurz – ich be-
fürchte jedoch, über lang – hier im Bundestag konstruk-
tiv darüber diskutierten, welchen gesundheitspolitischen
Anforderungen Pick-up-Stellen gerecht werden müssen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717833900

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9556 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 24 a und b:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Uwe
Kekeritz, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zum Fakultativpro-
tokoll zum Internationalen Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

– Drucksache 17/8452 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

(17. Ausschuss)


– Drucksache 17/9528 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Ullrich Meßmer
Marina Schuster
Niema Movassat
Volker Beck (Köln)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom
Koenigs, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt unter-
zeichnen und ratifizieren

– Drucksachen 17/8461, 17/9528 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Ullrich Meßmer
Marina Schuster
Niema Movassat
Volker Beck (Köln)


Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1717834000

Wir sprechen heute über das Zusatzprotokoll zum

UN-Sozialpakt, in welchem ein Individualbeschwerde-
verfahren geregelt wird. Durch dieses Protokoll wird er-
möglicht, dass Einzelpersonen oder Gruppen – auch im
Namen anderer – Beschwerden einlegen können, wenn
sie die im UN-Sozialpakt festgeschriebenen sogenann-
ten WSK-Rechte, also die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte, verletzt sehen und den nationalen
Rechtsweg ausgeschöpft haben. Durch dieses Fakulta-
tivprotokoll werden die WSK-Rechte, die seit der Wiener
Weltkonferenz für Menschenrechte 1993 gemeinsam mit
den bürgerlichen und politischen Menschenrechten als
unteilbar miteinander verknüpft gelten, in ihrer Bedeu-
tung gestärkt. Dies ist ein weiterer und notwendiger
Schritt, die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu beto-
nen und politisch durchzusetzen.

Deutschland hat bereits Individualbeschwerdeme-
chanismen zum UN-Zivilpakt, zum Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung,
zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau, zur UN-Anti-Folter-Konven-
tion und zur UN-Behindertenkonvention anerkannt. So
ist es richtig, dass die Bundesregierung sich die Frage
gefallen lassen muss, ob hier eine „Spielverzögerung“
vorliegt oder ob es gute Gründe für die Dauer gibt. Die
Opposition muss fragen, die Regierungskoalition muss
antworten. Wir haben zu diesem Thema bereits Anfang
2011 einen Antrag der SPD-Fraktion diskutiert, heute
geht es um eine Gesetzesvorlage von Bündnis 90/Die
Grünen.

Lassen Sie uns dabei nicht vergessen, dass die Gene-
ralversammlung der Vereinten Nationen das Dokument
erst am 10. Dezember 2008 angenommen hat und es bis-
lang lediglich von acht Staaten – Argentinien, Bolivien,
Bosnien-Herzegowina, Ecuador, El Salvador, Mongolei,
Slowakei, Spanien – ratifiziert worden ist. Die Mehrheit
der Länder befindet sich wie Deutschland noch im Prü-
fungsprozess.

Doch zurück nach Deutschland. Da die Bundesregie-
rung sehr aktiv und konstruktiv an der Arbeit am Fakul-
tativprotokoll zum UN-Sozialpakt mitgewirkt hat, würde
sie sich mit einer willkürlichen Verzögerung politisch ad

absurdum führen. Stattdessen gehört es zum Prinzip der
Rechtsstaatlichkeit und damit zur deutschen Politik,
nicht nur, aber auch im Bereich der Menschenrechte ein-
gegangene Verpflichtungen auch umzusetzen und sich
einem externen – auch kritischen – Monitoring zu unter-
werfen.

Wir erleben leider immer wieder Staaten, die sich for-
mal zu den Menschenrechten bekennen und entspre-
chende Erklärungen schnell ratifizieren, sie dann aber
nur zögerlich bis gar nicht umsetzen, sei es, weil sie
nicht wollen oder nicht können. Gerade gestern wurde in
einer Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe auf die große Lücke zwischen dem
in der Verfassung garantierten Recht auf Religionsfrei-
heit und der Praxis einer nicht erfolgenden Strafverfol-
gung bei Verletzungen dieses Menschenrechts in vielen
Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas hingewie-
sen. Eine mitunter geradezu inflationäre Unterzeich-
nung der jeweiligen Menschenrechtserklärungen ohne
konsequente Umsetzung in nationale Rechtsprechung,
konsequentes Monitoring und tatsächliche Sanktionie-
rung entspricht eben gerade nicht den Prinzipien der
Good Governance.

Eine Unterzeichnung und Ratifizierung des Fakulta-
tivprotokolls wird in der Bundesrepublik – und das ist
richtig so – erst nach einer Prüfung aller juristischen
und finanziellen Auswirkungen erfolgen. Daher stimmt
die Bundesregierung einer Ratifizierung immer nur
dann zu, wenn die aus einem internationalen Überein-
kommen erwachsenen Verpflichtungen bereits mit deut-
schem Recht im Einklang stehen oder in deutsches Recht
umgesetzt worden sind. Diese Prüfung gestaltet sich an-
gesichts der weitreichenden Implikationen des Sozial-
paktes nicht nur in Deutschland als komplex und zeitauf-
wendig. Für Deutschland hat das Fakultativprotokoll
diverse prozessualrechtliche Auswirkungen, die sich
etwa am Beispiel des Beamtenrechts zeigen lassen. Eine
Ratifizierung hat Auswirkungen auf das Streikrecht für
Beamte. Dieser Sonderstatus wird aufwendig rechtlich
geprüft.

Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP hat
bereits im Koalitionsvertrag den Menschenrechten einen
besonderen Stellenwert in ihrer Arbeit eingeräumt. Als
Querschnittsthema durchzieht die Menschenrechtspoli-
tik alle Politikfelder, die Innen- wie die Außenpolitik, die
Wirtschafts- wie die Sozialpolitik. Der Mensch, das
mündige Subjekt, das Individuum in Freiheit und Verant-
wortung, ist das Thema und der Mittelpunkt christlich-
liberaler Politik. Dazu gehört ein Individualbeschwer-
derecht.

Menschen, deren Rechte verletzt werden, müssen al-
lerdings für ihre Beschwerde Rechtssicherheit haben.
Solange die Rechtslage nicht klar und eindeutig nach-
vollziehbar und gesichert ist, könnte das sogar dazu füh-
ren, dass auch inhaltlich berechtigte Klagen formal-
juristisch abgewiesen werden müssten. Das schwächt in
der Folge die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte der Menschen, statt sie im Sinne des Zusatzpro-
tokolls zu stärken.





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kollegen von der Opposition, ich kann Ihrem
Anliegen – und darin bin ich mit der FDP-Fraktion auf
einer Linie –, eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls
zügig zu ermöglichen, nur zustimmen, muss aber einen
Gesetzentwurf wie den vorliegenden zum jetzigen Zeit-
punkt ablehnen. Auch der mitberatende Auswärtige Aus-
schuss, der Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie der
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung teilen diese Einschätzung mehrheitlich.


Ullrich Meßmer (SPD):
Rede ID: ID1717834100

Bereits vor zwei Jahren habe wir von der SPD-Frak-

tion mit einem gleichlautenden Antrag die Bundesregie-
rung aufgefordert, das Fakultativprotokoll zum UN-So-
zialpakt zu unterzeichnen und zu ratifizieren.

Zwei Jahre sind genug Zeit, um mögliche Auswirkun-
gen des Protokolls für Deutschland zu überprüfen. Be-
denken sollten zum jetzigen Zeitpunkt geklärt, die Ab-
stimmung unter den Ministerien abgeschlossen sein.

Es erstaunt auch nicht mehr, es verärgert vielmehr,
dass die Bundesregierung die in Aussicht gestellte
Zeichnung und Ratifizierung bis heute nicht vollzogen
hat.

Außenpolitisch läuft Deutschland Gefahr, die positive
internationale Rolle, die es bei der Entstehung des Zu-
satzprotokolls eingenommen hat, zu gefährden und Re-
nommee unnötig aufs Spiel zu setzen. Ein negatives Si-
gnal für andere Länder! Gerade die Finanz- und
Wirtschaftskrise hat doch gezeigt, dass arbeitende Men-
schen besonders in den rauen Zeiten der Globalisierung
auf international gültige Regeln angewiesen sind. Sie
brauchen verbindliche und garantierte Rechte, die sie
auch nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges
einklagen können.

Die WSK-Rechte, die im UN-Sozialpakt festgeschrie-
ben sind, schützen weltweit Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Rechte. Aber erst wenn der Zugang zu
individuellen Beschwerdemechanismen sichergestellt
ist, erfüllt sich der Grundsatz der Unteilbarkeit und der
Interpendenz aller Menschenrechte.

„Die erschreckende Realität (aber) ist, dass Staaten
und die internationale Gemeinschaft als Ganzes noch
immer viel zu häufig Verstöße gegen wirtschaftliche, so-
ziale und kulturelle Rechte dulden, Verstöße, die, würden
sie bürgerliche und politische Rechte verletzen, Entset-
zen und Empörung provozieren und zu konzertierten
Forderungen nach sofortiger Wiedergutmachung führen
würden.“ Dieses Zitat des UN-Ausschusses belegt die
noch immer unterbewertete Rolle der WSK-Rechte nur
zu deutlich.

Erst durch das Zusatzprotokoll wird der UN-Sozial-
pakt, werden die WSK-Rechte den bürgerlichen und
politischen Rechten gleichgesetzt. Das Zusatzprotokoll
wird in Kraft treten, wenn es zehn Staaten ratifiziert ha-
ben. Bislang haben dies nur Ecuador, die Mongolei,
Spanien, Argentinien und El Salvador getan. Deutsch-
land hat bei den internationalen Verhandlungen zum Fa-

kultativprotokoll aktiv und konkret mitgearbeitet. Umso
weniger leuchtet die jetzige Zurückhaltung ein.

Aus der Ratifizierung des Zusatzprotokolls ergeben
sich zudem keinerlei neue Verpflichtungen über jene hi-
naus, zu denen sich Deutschland als Vertragsstaat des
UN-Sozialpakts ohnehin verpflichtet hat. Die WSK-
Rechte müssten mit deutschem Arbeits- und Sozialrecht
nur mehr abgeglichen werden, und im Bedarfsfall müss-
ten WSK-Rechte in nationales Recht umgemünzt werden.

Die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs bedeu-
tet in Deutschland den Gang bis vor das Bundesverfas-
sungsgericht, was bereits einen beachtlichen Filter dar-
stellt. Wenn Deutschland sich nicht dem Vorwurf einer
gezielten Verzögerungstaktik und dem Vorwurf doppel-
ter Standards aussetzen will, muss es jetzt handeln. Die
Zeichnung des Zusatzprotokolls bringt Vorteile und Klä-
rung, die WSK-Rechte werden konkret im nationalen
Recht abgebildet und verschwinden nicht mehr hinter
„Allgemeinen Bemerkungen“ des UN-Sozialausschus-
ses.

Die SPD unterstützt daher den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen und erwartet von der Bundesregierung die
Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum
UN-Sozialpakt noch vor der Sommerpause. Denn auch
hinsichtlich der WSK-Rechte gilt: Nicht Menschenrechte
werden verletzt, sondern Menschen! Und diese, jeder
Einzelne und alle, müssen sich wehren und Anspruchs-
rechte gegen ihren Staat durchsetzen können – notfalls
mithilfe der UN.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1717834200

Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf der Grü-

nen, der die Bundesregierung dazu auffordert, das
Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die sogenann-
ten WSK-Rechte, zu unterzeichnen und zu ratifizieren.
Die Fraktion der FDP hält dies für das richtige Anlie-
gen, dennoch ist der Antrag überflüssig. Im Folgenden
möchte ich dies erläutern.

Die FDP-Bundestagsfraktion vertritt den Standpunkt,
dass eine Zeichnung und Ratifizierung des Fakultativ-
protokolls nach gründlicher Prüfung durch die Bundes-
regierung möglichst bald erfolgen sollte. Dafür sprechen
verschiedene völkerrechtliche und menschenrechtspoli-
tische Gründe. Es geht uns dabei vor allem um die
Glaubwürdigkeit Deutschlands, um die Glaubwürdigkeit
unserer wertegeleiteten Außenpolitik, um die Glaubwür-
digkeit unserer Entwicklungspolitik und unseren Einsatz
für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Men-
schenrechte. Deutschland hat den UN-Sozialpakt bereits
im Jahr 1973 ratifiziert und ist somit völkerrechtlich zu
dessen Einhaltung verpflichtet. Dazu schafft das Fakul-
tativprotokoll lediglich ein Rechtsmittel. Diesen Schritt
der Zeichnung und Ratifikation des Fakultativprotokolls
zu gehen, ist angesichts der großen Bedeutung, die un-
sere Bundesregierung den WSK-Rechten beimisst, und
im Hinblick auf unseren glaubhaften Einsatz für diese
Rechte nur folgerichtig.

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


Für eine Ratifikation des Fakultativprotokolls spricht
ferner, dass dadurch Einzelpersonen ein Beschwerde-
mittel zur Verfügung steht, wenn ihnen ihre Menschen-
rechte vorenthalten werden. Bisher gab es als Mittel der
Überprüfung der Einhaltung der WSK-Rechte in den
Unterzeichnerstaaten nur die Staatenberichte, in denen
Rechenschaft über die Menschenrechtssituation abge-
legt wurde und Verbesserungsmaßnahmen vorgeschla-
gen wurden. Das Individualbeschwerdeverfahren des
Fakultativprotokolls hingegen ermöglicht es Einzelper-
sonen, vor einem internationalen Gremium Beschwerde
gegen ihren Staat einzulegen, wenn ihre wirtschaftli-
chen, sozialen oder kulturellen Rechte verletzt werden.
Der Ausschuss der Vereinten Nationen für wirtschaftli-
che, soziale und kulturelle Rechte ist damit nicht mehr
nur für das Berichtsprüfungsverfahren, sondern auch
für internationale Beschwerdeverfahren und Untersu-
chungsverfahren zuständig. Da es sich bei den WSK-
Rechten um absolut elementare und überlebenswichtige
Rechte wie das Recht auf Wasser, auf Nahrung und auf
Wohnen handelt, bin ich der Überzeugung, dass es ei-
nem jeden Menschen zusteht, diese Rechte mit mehr
Nachdruck als bisher einfordern zu können.

Darum begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion, dass
unsere Regierung derzeit eine Zeichnung und Ratifizie-
rung des Fakultativprotokolls prüft. Eine solche Prüfung
ist ein angemessenes und notwendiges Vorgehen bei
sämtlichen internationalen und völkerrechtlichen Ver-
trägen. Ich bin zuversichtlich, dass die dabei noch beste-
henden Vorbehalte gegen eine Zeichnung ausgeräumt
werden können. Das Interesse am Zustandekommen des
Fakultativprotokolls kann der Bundesregierung jeden-
falls nicht abgesprochen werden, hat sie doch die Ver-
handlungen über das Protokoll maßgeblich aktiv und
konstruktiv begleitet. Der Gesetzentwurf der Grünen in
dieser Sache ist daher nicht nötig.

Ich möchte an dieser Stelle auch an das globale
Engagement der Bundesregierung für die Gewährleis-
tung der WSK-Rechte erinnern, beispielsweise an den
Einsatz von Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel
für das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grund-
versorgung. Im Wassersektor ist Deutschland einer der
größten bilateralen Geber weltweit und der größte bila-
terale Geber in Afrika. Mit etwa 400 Millionen Euro im
Jahr fördert die Bundesrepublik Programme und Pro-
jekte in diesem Bereich, und der Wassersektor ist in
27 Ländern Schwerpunkt der deutschen Entwicklungs-
zusammenarbeit. Von den laufenden Vorhaben zur
Verbesserung der Wasser- und Sanitärversorgung profi-
tieren etwa 80 Millionen Menschen weltweit, das ent-
spricht annähernd der Bevölkerung Deutschlands. Auch
der wirtschaftliche Nutzen dieser Anstrengungen ist
enorm, denn laut der Weltgesundheitsorganisation dient
jeder in die Wasserversorgung investierte US-Dollar
auch dazu, einen volkswirtschaftlichen Schaden von
8 US-Dollar zu vermeiden.

Daher vertraue ich darauf, dass die Bundesregierung
es ernst meint mit ihrem Einsatz für die WSK-Rechte.
Dass derzeit noch die letzten Fragen bezüglich einer
Zeichnung des Fakultativprotokolls auf Ressortebene
geklärt werden, erfüllt mich mit Zuversicht, dass diese

sorgfältige Prüfung bald zu einem positiven Ergebnis
kommt. Statt also diesen überflüssigen Gesetzentwurf
anzunehmen, sollten wir das Ergebnis der Überprüfung
abwarten und können auf eine baldige Zeichnung hof-
fen.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717834300

Mit dem Fakultativprotokoll soll der Internationale

Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
konkretisiert werden. Bei Verletzungen dieser Rechte
sollen sich die Betroffenen wehren können. Das ist gut
und wichtig. Hierfür sieht das Fakultativprotokoll Indi-
vidualbeschwerdeverfahren vor. Einzelpersonen oder
Personengruppen könnten sich demnach an den UN-
Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte wenden, wenn sie ihre Rechte in den Staaten, in
denen sie leben, verletzt sähen.

Die Linke hat das Anliegen stets unterstützt. Die Um-
setzung des Zusatzprotokolls in innerstaatliches Recht
würde einen wichtigen Schritt zur Gleichstellung der
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte mit
den bürgerlichen und politischen Rechten bedeuten. Im
Unterschied zum UN-Sozialpakt enthielt der UN-Zivil-
pakt von Anbeginn ein Individualbeschwerderecht. Es
kann also keine Rede davon sein, dass wir in der Bun-
desrepublik bislang allen Menschenrechten den gleichen
Stellenwert einräumen würden. Die Bundesregierung
behandelt die WSK-Rechte äußerst stiefmütterlich. Auch
der fünfte UN-Staatenbericht für Deutschland hat dies
ausdrücklich bestätigt. Deshalb hat die Linke dazu eine
Große Anfrage eingebracht.

Ich freue mich daher, dass sich nun auch die Kolle-
ginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dieses
Themas angenommen haben. Die Linke hat im federfüh-
renden Ausschuss beiden vorliegenden Initiativen zuge-
stimmt. Wir werden ihnen auch heute unsere Zustim-
mung geben.

Es passt zur Politik von Schwarz-Gelb, dass Deutsch-
land bei der Unterzeichnung und Ratifizierung des Fa-
kultativprotokolls auf der Bremse steht. Schon seit 2008
prüft die Bundesregierung mögliche „Anpassungserfor-
dernisse“ im deutschen Recht, die sich aus dem Zusatz-
protokoll ergeben könnten. Mit ihrer Hinhaltetaktik ver-
hindert die Bundesregierung, dass das Zusatzprotokoll
in Kraft treten kann. Hierfür müssen mindestens zehn
Staaten das Zusatzprotokoll ratifizieren. Gegenwärtig
fehlen noch zwei Ratifizierungen. Insbesondere hochent-
wickelte Industrieländer wie Deutschland müssten hier-
bei eigentlich eine Vorbildfunktion übernehmen. Aller-
dings hat als erstes Land bezeichnenderweise das
krisengeschüttelte Spanien das Protokoll ratifiziert.
Argentinien, Bolivien, Bosnien-Herzegowina, Ecuador,
El Salvador, die Mongolei und die Slowakei haben sich
dem spanischen Beispiel angeschlossen. Weshalb zö-
gern aber insbesondere mächtige Wirtschaftsnationen
wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die
USA so auffällig, obwohl sie sonst gern mit erhobenem
Zeigefinger andere Länder kritisieren, wenn es um Men-
schenrechte geht?

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)


Die Wahrheit ist, dass die Bundesregierung zwar gern
das Hohelied der Menschenrechte singt, wenn es ihr
politisch passt. Dort, wo sie selbst mit Kritik rechnen
muss, kneift sie lieber. Offenbar befürchtet sie bei einer
Ratifizierung des Zusatzprotokolls eine Klageflut der
Betroffenen. Damit würde der Zusammenhang zur Poli-
tik der Bundesregierung sichtbar gemacht. Denn vor al-
lem in Deutschland wurden im Zuge der neoliberalen
Sozialkürzungsdiktate die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte abgebaut. Dies hat sich unter
Schwarz-Gelb verschärft, geht aber ursächlich auf das
Konto von Schröders Agenda 2010 und den Hartz-Ge-
setzen unter Rot-Grün. Als Folge von Hartz IV leben ak-
tuell knapp 2,4 Millionen Kinder in Armut, atypische
und prekäre Beschäftigungsverhältnisse ufern immer
weiter aus. Leiharbeit und Niedriglohn verletzen die
Würde der Menschen, die von ihrer Arbeit nicht mehr le-
ben können. 2,5 Millionen Beschäftigte brauchen zu ih-
rem Hauptberuf noch einen Minijob, und über 1,3 Mil-
lionen Erwerbstätige müssen ihre Hungerlöhne mit
Hartz IV aufstocken, um über die Runden zu kommen.
Von Sassnitz bis Berchtesgaden suchen immer mehr
arme und wohnungslose Menschen sogar Suppenküchen
auf, um wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu be-
kommen. Und immer mehr Menschen müssen zu den Ta-
feln gehen, um sich mit einfachen Grundnahrungsmit-
teln wie Milch, Mehl und Gemüse zu versorgen! Die
Linke sagt: Für ein wohlhabendes Land wie die Bundes-
republik ist das ein Skandal!

Das sind alles schwerwiegende Verletzungen der
Menschenwürde und der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte. Dem Antrag der Grünen ist diesbe-
züglich ein schlechtes Gewissen anzumerken. Die Grü-
nen entdecken ihr Interesse für die WSK-Rechte reich-
lich spät und erst in der Opposition. Es ist wohl auch
kein Zufall, dass ihr Antrag damit argumentiert, dass
wegen der hohen rechtlichen Hürden nur vergleichs-
weise wenige erfolgreiche Individualbeschwerden gegen
Deutschland zu erwarten seien. Ein weitaus besserer
Grund für diese Annahme wäre doch gewesen, wenn es
bei uns keine gravierenden Verletzungen der WSK-
Rechte gäbe! Die Grünen wissen genau, dass dies nicht
der Fall ist und sie in ihrer Regierungszeit einen gehöri-
gen Teil der politischen Verantwortung dafür tragen.

Falls die Grünen endlich bereit sein sollten, den neo-
liberalen Irrsinn zu beenden und politisch umzudenken,
wird die Linke dies ausdrücklich unterstützen. Deshalb
stimmen wir den Initiativen auch zu; eine nachträgliche
Beschönigung rot-grüner Regierungsbilanz dürfen sie
von uns allerdings nicht erwarten. Da dieses wichtige
Anliegen im federführenden Ausschuss leider keine
Mehrheit bekommen hat, lehnen wir die Beschlussemp-
fehlung ab.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717834400

Es ist jetzt mehr als zweieinhalb Jahre her, dass wir

das jetzt zur Debatte stehende Thema zuletzt im Plenum
beraten haben. Es geht um die Forderung, endlich das
Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zu unterzeich-
nen und zu ratifizieren. Damals lag uns ein Antrag der
SPD vor, den wir Grüne unterstützt haben, jetzt haben

wir es etwas genauer gemacht und einen Antrag sowie
einen Gesetzentwurf eingebracht. In dem Antrag fordern
wir die Bundesregierung auf, das Protokoll zu unter-
zeichnen, und mit dem Gesetzentwurf liefern wir ihr das
anschließend notwendige Ratifikationsgesetz gleich auf
dem Silbertablett hinzu.

Doch genauso wenig, wie sich unsere Forderung
nach der Ratifikation in den letzten Jahren verändert
hat, hat sich der Ablehnungsgrund der Koalition und der
Bundesregierung gewandelt. Damals wie heute heißt es,
die Bundesregierung – namentlich das Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales – prüfe die Unterzeichnung
und Ratifikation. Was vor zweieinhalb Jahren unver-
ständlich war, ist es jetzt erst recht.

Seit dem 24. September 2009 ist die Zeichnung und
Ratifikation des Fakultativprotokolls möglich. Deutsch-
land prüft seither die Ratifikation sowie die Anpassungs-
erfordernisse im deutschen Recht. Wie kann die Bundes-
regierung ernsthaft behaupten, dass ein Protokoll, in
dem ausschließlich Verfahrensrechte geregelt sind, seit
mittlerweile über vier Jahren geprüft werden muss?

Eines will ich ganz klar feststellen; denn offensicht-
lich haben weder die Koalitionsfraktionen noch die Bun-
desregierung es begriffen: Durch das Fakultativproto-
koll wird kein neues materielles Recht geschaffen. Es
wird lediglich den Rechten aus dem UN-Sozialpakt zur
Durchsetzung verholfen, indem man Bürgerinnen und
Bürgern die Möglichkeit eines Rechtsweges zum ent-
sprechenden UN-Ausschuss einräumt – und auch dies
erst, wenn der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist.

Die Bundesrepublik hat sich im Jahre 1968 zur Un-
terzeichnung des Paktes entschlossen und ihn 1973 rati-
fiziert. Seither sind die Vorgaben des Sozialpakts gelten-
des nationales Recht. Wer nun ein Problem damit hat,
diesem Recht zur prozessualen Umsetzung zu verhelfen,
der macht Politik nach dem Motto: Wasch mir den Pelz,
aber mach mich nicht nass.

Sollte es tatsächlich Defizite im deutschen Recht ge-
ben, die einmal eine Beschwerde nach dem Fakultativ-
protokoll begründen würden, so wäre dies doch kein
Problem des Protokolls, sondern ein Problem in unserer
Rechtsordnung, die an dieser Stelle offenbar unverein-
bar mit unseren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus
dem Sozialpakt wäre. Das wäre dann zwar sicherlich
unschön, aber nichts, wovor man sich zu fürchten
bräuchte; denn zur Einhaltung und Wahrung der wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte
haben wir uns schließlich freiwillig entschieden.

Häufig wird uns Menschenrechtsaktivisten doch vor-
gehalten, die WSK-Rechte seien zu abstrakt, zu unbe-
stimmt und nicht praktikabel. Gerade diesen kritischen
Stimmen sollten wir entgegnen, dass es ein Individualbe-
schwerdeverfahren gibt. Einzelfälle machen Probleme
oftmals erst anschaulich, holen sie aus dem Abstrakten
ins Konkrete.

Die Bundesregierung fügt jedoch mit ihrer jahrelan-
gen Prüfung, die man bei näherer Betrachtung eigent-
lich nur als renitente Verzögerungstaktik bezeichnen
kann, der deutschen Menschenrechtsarbeit Schaden zu.

Zu Protokoll gegebene Reden





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Wenn die deutsche Menschenrechtspolitik auf der recht-
lichen Seite so aussieht, dass man zwar alle Verträge un-
terschreibt, dann aber nicht beabsichtigt, sie einzuhal-
ten, wäre das fatal. Man kann nicht einen Vertrag
unterschreiben und dann nicht auch dafür Sorge tragen,
dass die mit der Unterzeichnung eingegangen rechtli-
chen Verpflichtungen auch individuell einklagbar ge-
macht werden. So darf man nicht mit internationalen
Menschenrechtspakten umgehen; denn wenn man diese
Logik für sich in Anspruch nimmt, darf man sich nicht
wundern, wenn sich Länder mit einer katastrophalen
Menschenrechtsbilanz ähnlich verhalten. Das eigentli-
che Problem bei der Frage nach der Unterzeichnung
und Ratifikation des Fakultativprotokolls zum Sozial-
pakt ist daher nicht die Klärung rechtlicher Defizite,
sondern die Frage der Glaubwürdigkeit, um gegenüber
anderen Ländern konsistent auftreten zu können.

Angesichts der Tatsache, dass die Bundesrepublik
Deutschland die Entstehung und Verabschiedung des
Fakultativprotokolls unterstützt hat, ist es nun in den
Augen anderer Staaten besonders dubios, dass wir uns
so sehr zieren, es auch zur innerstaatlichen Geltung zu
bringen. Wir sind es doch, die fremden Staaten stets ins
Gewissen reden, die Menschenrechte seien unteilbar.
Niemand bestreitet, dass es im Bereich der wirtschaftli-
chen, sozialen und kulturellen Rechte beispielsweise in
der Volksrepublik China in den letzten Jahren Verbesse-
rungen gegeben hat. Aber stets fordern wir dann, dass
dies nicht zulasten der bürgerlichen und politischen
Rechte geschehen darf.

Und was ist mit uns? Die Individualbeschwerdeme-
chanismen zum Zivilpakt und zu mehreren anderen
Übereinkommen, die die bürgerlichen und politischen
Rechte betreffen, hat die Bundesrepublik längst aner-
kannt. Warum dann nicht auch für die WSK-Rechte?

Zu der bisweilen befürchteten Beschwerdeflut wird es
nicht kommen. Von den bislang gegen Deutschland ein-
gebrachten Individualbeschwerden wurde der Großteil
schon als unzulässig zurückgewiesen, beispielsweise
aufgrund der fehlenden innerstaatlichen Ausschöpfung
des Rechtswegs. Auch die grundgesetzliche Rechts-
schutzgarantie erweist sich als ein wirksamer Filter.
Ferner sind gegen Deutschland bisher kaum Individual-
beschwerden aus anderen Rechtsbereichen eingereicht
worden.

Im Individualbeschwerdeverfahren zum internationa-
len Pakt über bürgerliche und politische Rechte wurde
in nur einem Verfahren eine Verletzung eines Paktrechts
festgestellt. Hinzu kommt, dass beispielsweise bereits in
der Frauenrechtskonvention viele der wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte geschützt sind und daher
auch schon bisher Individualbeschwerden zu wirtschaft-
lichen oder sozialen Rechten hätten erhoben werden
können. Dies ist nicht geschehen. Daher ist auch mit
Blick auf das neue Fakultativprotokoll nicht zu erwar-
ten, dass auf Deutschland eine Flut an Individualbe-
schwerden zukommt.

Eine Ratifikation des Fakultativprotokolls wäre nicht
nur eine bedeutende Förderung der WSK-Rechte und

würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Bundesrepu-
blik in der internationalen Menschenrechtsarbeit stei-
gern. Es wäre auch ein deutliches Zeichen, um die Men-
schenrechte insgesamt – bürgerliche und politische
sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – in
ihrer Unteilbarkeit und Gleichwertigkeit zu stärken.

Gezeichnet haben das Zusatzprotokoll bislang
40 Staaten, zuletzt Irland, davor aber auch etwa Ka-
sachstan oder die Demokratische Republik Kongo. Ist es
vertretbar, dass wir dahinter zurückstehen? Acht dieser
Staaten haben das Fakultativprotokoll bereits ratifiziert.
Zwei weitere Ratifikationen stehen bevor.

Drei Monate nach der zehnten Ratifikation tritt das
Protokoll dann in Kraft. Es ist bedauerlich genug, dass
Deutschland nicht unter diesen ersten zehn Staaten sein
wird. Aber bitte vermeiden Sie das erbärmliche Bild, das
sich ergeben würde, wenn Deutschland sich der Umset-
zung dieses in Kraft getretenen völkerrechtlichen Vertra-
ges verweigern würde.

„Eile mit Weile“: Das waren die Worte von CDU/
CSU und FDP in der Sitzung des Ausschusses für Men-
schenrechte am 29. September 2010, als wir über den
damaligen Antrag der SPD berieten.

Eine Zeichnung des Zusatzprotokolls durch die
Bundesrepublik Deutschland sollte erfolgen, das ist
unstrittig. Dies soll so schnell wie möglich gesche-
hen. Und es soll so gründlich wie nötig geschehen.

Das sagte tags darauf der Unionsabgeordnete Frank
Heinrich in der Plenardebatte. Diese Äußerungen sind
mittlerweile ziemlich unglaubwürdig geworden. Wenn
Sie es mit dem Einsatz für die Menschenrechte ernst
meinen, dann fassen Sie sich nun endlich ein Herz und
ratifizieren Sie dieses Zusatzprotokoll.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717834500

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-

wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/8452. Der Ausschuss für Menschenrechte emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 17/9528, den Gesetzentwurf abzuleh-
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer möchte sich enthalten? – Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Zuge-
stimmt haben alle Oppositionsfraktionen, dagegen haben
alle Regierungsfraktionen gestimmt. Damit entfällt die
dritte Beratung.

Tagesordnungspunkt 24 b: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8461. Unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf der Druck-
sache 17/9528 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag ab-
zulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen angenommen. Die Oppositionsfraktio-
nen haben abgelehnt.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Dagmar Freitag, Dr. h. c. Gernot Erler, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

(Bremen)

Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 in
Belarus

– Drucksache 17/9557 –

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Eberhard Gienger (CDU):
Rede ID: ID1717834600

Im Lichte aktueller Debatten um die anstehende Fuß-

ball-Europameisterschaft in Polen und in der Ukraine
debattieren wir heute über einen Antrag der SPD und
der Grünen, die nächste Eishockey-Weltmeisterschaft
nicht in Belarus stattfinden zu lassen. Genauer gesagt
soll Druck auf die Internationale Eishockey-Föderation
ausgeübt werden, die Weltmeisterschaft 2014 dem weiß-
russischen Verband und Belarus wieder wegzunehmen.

Meine sehr geehrten Antragsteller, ich möchte Ihnen
dazu sagen, dass ihr Antrag weder gut gemacht noch gut
gemeint ist. Meine Aussage kann ich auch begründen.
Wenn die Politik dem Sport Vorschriften macht, deren
Folgen in die Autonomie der jeweiligen Verbände ein-
greifen, dann bedient sich die Politik der gleichen Mit-
teln wie undemokratische Regime: Die Politik würde
den Sport instrumentalisieren. Das soll nicht sein, und
das darf nicht sein. Daher werden wir Ihren Antrag in
der derzeitigen Form ablehnen.

Gleichwohl wir uns vollkommen einig darin sind,
dass wir es in Weißrussland mit einer Diktatur zu tun ha-
ben, die wir in Europa vor langer Zeit als überwunden
geglaubt haben, so müssen wir doch davon Abstand neh-
men, dem Sport Aufgaben anzudienen, die er nicht erfül-
len kann. Der Sport kann politische Probleme wie zum
Beispiel die Achtung der Menschenrechte nicht lösen
und wäre damit auch vollkommen überfordert. Es hat
sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass
ein Boykott von Sportgroßveranstaltungen immer nur
zulasten der Sportler und der Menschen vor Ort geht
und im Endeffekt keine messbaren Erfolge offenbar wur-
den.

Das sage ich Ihnen nicht nur als Mitglied der CDU/
CSU-Bundestagsfraktionen, sondern auch als vom da-
maligen Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Mos-
kau direkt betroffener ehemaliger Sportler. Aber nicht
nur der Moskau-Boykott hat keine Wirkung erzielt. Vier
Jahre später in Los Angeles oder 1972 und 1976 als afri-
kanische Staaten aufgrund der Teilnahme von Rhodesien
und Südafrika die Olympischen Spiele in München und
Montreal boykottierten, war ebenfalls kein greifbares
Ergebnis festzustellen. Natürlich ist es möglich, Mängel
und Verfehlungen zum Beispiel bei der Achtung der
Menschenrechte anzuzeigen; aber das darf nicht dazu
führen, dass der Sport als öffentlichkeitswirksames Me-

dium durch die Politik instrumentalisiert wird, und es
hat sich – wie gerade erwähnt – gezeigt, dass ein Boy-
kott keine Lösung ist.

Lassen Sie mich hier als Beispiel die Olympischen
Spiele 2008 in Peking anführen. Auch hier wurde vor
den Spielen kontrovers darüber diskutiert, wie mit Tibet
und auch allgemein mit der Unterdrückung der Men-
schenrechte und der freien Meinungsäußerung in China
umgegangen werden soll. Auch hier wurde das Thema
Boykott lang und breit diskutiert, aber am Ende hat es
keinen Boykott gegeben, China war ein guter Gastgeber,
und es kam durchaus zu Veränderungen. Natürlich hät-
ten wir uns eine größere und länger anhaltende Öffnung
des Landes auf vielen Ebenen gewünscht. Aber es kann
nicht verleugnet werden, dass es auch nachhaltige Ver-
änderungen gab. Hier möchte ich vor allem die Para-
lympics herausstellen und die Erfolge, die für Behin-
derte in einem Land erzielt werden konnten, in dem
genau so viele behinderte Menschen leben wie Deutsch-
land Einwohner hat. Behinderte wurden früher in China
versteckt, kamen sozusagen nicht vor. Erst durch die Pa-
ralympics und die im vorolympischen Jahr durchgeführ-
ten Special Olympics ist diese „versteckte“ Gruppe von
Menschen in China in der Gesellschaft angekommen.

Sie sehen, bei Sportgroßveranstaltungen in Staaten,
in denen unsere rechtsstaatlichen Grundprinzipien nicht
in dem Maße eingehalten werden, wie wir uns das zwei-
felsfrei wünschen würden, kommt die Politik an ihre na-
tionalstaatlichen Grenzen. Die Sportverbände sind nur
der eigenen politischen Neutralität verpflichtet und
nicht den Wünschen und Hoffnungen von Politikern. Es
spielen bei der Vergabe von Sportereignissen eben nicht
die Kriterien eine Rolle, nach denen die Politik einen
Staat als demokratisch oder nicht demokratisch einstuft,
sondern die Mehrheitsverhältnisse für oder gegen einen
sich bewerbenden Verband sind ausschlaggebend.

Zudem liegen zwischen der Entscheidung, ein großes
Sportereignis in ein Land zu vergeben, und dem tatsäch-
lichen Beginn der Veranstaltung immer mehrere Jahre,
in denen sich die politischen Vorzeichen dramatisch än-
dern können, wie wir es derzeit bei der anstehenden
Fußball-Europameisterschaft erleben können. Die Ver-
gabe war der Versuch, einem mittel- und einem osteuro-
päischen Land die Möglichkeit zu geben, sich der Welt in
Zeiten politischer Veränderungen hin zu mehr Demokra-
tie präsentieren zu können. Unsere polnischen Nach-
barn haben diese Chance bisher sehr gut genutzt, und
ich bin der Überzeugung, dass die Fußball-Europameis-
terschaft Polen noch näher an Europa heranführen wird.
Für die Ukraine gilt dies leider nicht; denn deren politi-
sche Realitäten haben sich nach dem Regierungswech-
sel 2010 nicht unbedingt an die der Europäischen Union
angenähert.

Aber – ich sage es nochmal – die Politik darf den
Sport nicht instrumentalisieren. Der Anspruch des
Sports ist auch Annäherung, Verständigung, Integration
und Zusammenführung von Menschen und vieles mehr.
Der Sport steht für eine Idee und für übergreifende
Werte, die sich sehr gut im Attribut „olympisch“ zusam-
menfassen lassen. Stellvertretend seien hier die Werte





Eberhard Gienger


(A) (C)



(D)(B)


Fair Play, Toleranz, Verantwortung und Respekt ge-
nannt, die als Prinzipien wenige gesellschaftliche Berei-
che so exponiert vertreten wie der Sport. Aber es muss
eine klare Trennung zwischen Sport und Politik gemacht
werden. Diese klare Trennung ist nicht immer einfach,
wie wir an Ihrem Antrag sehen können, sollte aber von
der Politik respektiert werden.

Die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen an Län-
der wie Belarus führt bereits dazu, dass die Aufmerk-
samkeit für die massiven Defizite in dem Land steigt.
Durch die weltweite Berichterstattung sind die Sportver-
bände und die Sportler durchaus in der Lage, für eine
Verbesserung der Situation und für eine Öffnung eines
bisher mehr oder weniger abgeschotteten Landes zu
werben. Konkrete Erfolge sind aber zumeist auf die Zeit
der Sportereignisse begrenzt, wie beispielsweise eine
Garantie der freien Berichterstattung von Pressevertre-
tern. Alles, was darüber hinausgeht, bleibt Aufgabe und
Verantwortung der Politik.

Politisch gesehen gibt es bei der derzeitigen Lage in
Belarus nichts zu beschönigen. Das Land wird weder de-
mokratisch noch rechtsstaatlich regiert. Die Verhaftun-
gen und Verurteilungen von Oppositionellen nach den
letzten Wahlen sind nicht akzeptabel und zu verurteilen.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe als Politiker, dem Re-
gime in Minsk unmissverständlich und mit allen uns zur
Verfügung stehenden politischen – die Betonung liegt
hier auf „politischen“ – Mitteln klarzumachen, dass es
sich mit dieser praktizierten Politik isoliert.

Ja, wir können uns mit dem Deutschen Eishockey-
Bund zusammensetzen und darüber diskutieren, wie es
zu einer Vergabe der Weltmeisterschaft 2014 an ein sol-
ches Regime kommen konnte, und ja, wir können das
Gleiche auch mit der Internationalen Eishockey-Föde-
ration machen. Wir können auch – zusammen mit diesen
Partnern – darauf hinarbeiten, dass eine internationale
Vereinbarung über rechtsstaatliche und humanitäre
Mindestanforderungen während der Austragung von
Sportgroßveranstaltungen ausgearbeitet wird. All das
ist möglich.

Eines muss aber auch den Antragstellern der SPD
und von den Grünen gesagt werden: Wir können und
dürfen den Sportverbänden nicht diktieren, in welche
Länder sie in Zukunft solche Ereignisse vergeben und
dass bereits getroffene Entscheidungen – wie im Falle
von Belarus – revidiert werden müssen. Dies müssten
die Fachverbände selbst machen. Sonst können wir uns
darauf einstellen, dass es in Zukunft an vielen Ausrich-
terländern etwas auszusetzen gibt. Irgendeine Gruppie-
rung findet einen Grund für einen Boykott. Die nächsten
Diskussionen werden wir nach den Boykottaufrufen in
der Ukraine und in Belarus bei den Olympischen Spie-
len in Sotschi erleben und dann bei den nächsten beiden
Fußball-Weltmeisterschaften in Russland und in Katar.

Andererseits darf man von den Sportverbänden bei
der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen durchaus
mehr Fingerspitzengefühl erwarten. Auch der Sport lebt
nicht in einem Elfenbeinturm seiner eigenen Statuten.

Die Lösung für die Probleme, über die wir hier disku-
tieren, ist ein verstärktes Zusammenwirken von Sport
und Politik, und dieses gelingt am Besten, wenn mitei-
nander gesprochen wird. Dann kann die Autonomie des
Sports gewahrt bleiben, ohne dass sich die Politik einzu-
mischen versucht und den Sport instrumentalisieren
will.


Karl-Georg Wellmann (CDU):
Rede ID: ID1717834700

Das langjährige Verhalten der Regierung in Minsk

zeugt von enormen demokratischen Defiziten. Mit Nach-
druck hatten wir im Deutschen Bundestag verlangt,
gemeinsam mit der zivilisierten Staatengemeinschaft:
erstens die sofortige Freilassung der politischen Gefan-
genen und zweitens deren Zugang zu medizinischer Ver-
sorgung und zu anwaltlicher Betreuung.

Mittlerweile wurden aufgrund des erheblichen Dru-
ckes der Europäischen Union Mitte April die vormaligen
Oppositionsführer Sannikow und Bondarenko freigelas-
sen. Ein Zeichen der Regierung in Minsk, den Draht zur
westlichen Wertegemeinschaft nicht abbrechen zu las-
sen. Folgerichtig sind daher in diesen Tagen die abgezo-
genen Botschafter der EU-Staaten nach Minsk zurück-
kehrt.

Auch angesichts dieser ersten Hinweise zur Deeska-
lation der Krise halte ich es für ein falsches Zeichen,
wenn wir nun eine Verlegung der Eishockey-WM for-
dern.

Der Sport sollte nicht als politisches Druckmittel ver-
wendet werden. Wie wir gerade in diesen Tagen am Bei-
spiel der Ukraine demonstriert bekommen – oder auch
in ähnlicher Weise beim bevorstehenden Eurovision
Song Contest in Aserbaidschan –, bietet eine internatio-
nale Großveranstaltung der Zivilgesellschaft eines auto-
ritären Staates eine Bühne, sich in der Weltöffentlichkeit
bemerkbar zu machen. Solche Veranstaltungen stellen
internationale Öffentlichkeit her. Es gab selten eine der-
artige Befassung mit der Ukraine und mit Aserbaid-
schan wie im Vorfeld dieser Events. Und es gab selten
eine solche Bühne für die jeweilige Opposition, sich der
internationalen Staatengemeinschaft zu präsentieren.
Wenn das Regime die Veranstaltung zur Propaganda
nutzen will, dann sind eben die politischen Akteure ge-
fordert, nicht die sportlichen!

Regierungsmitglieder, Parlamentarier und Diploma-
ten können durch Abwesenheit auf der Ehrentribüne
oder demonstrative Treffen mit Vertretern der Opposi-
tion während der WM auf die Zustände im Gastgeber-
land öffentlichkeitswirksam hinweisen. Damit erreichen
wir mehr für die Opposition, als wenn wir die Sportler
und Fans durch einen Boykott bestrafen oder gar die
Aufmerksamkeit der Staatengemeinschaft durch eine
Verlegung der WM in ein anderes Land von Weißruss-
land ablenken. Im Fall der Ukraine hat sich die Opposi-
tion ausdrücklich dagegen ausgesprochen, die Fußball-
EM zu boykottieren. Wir dürfen dies auch für Weißruss-
land annehmen.

Viele von uns, auch die Bundesregierung, auch die
Europäische Union, haben in den letzten Jahren den

Zu Protokoll gegebene Reden





Karl-Georg Wellmann


(A) (C)



(D)(B)


Versuch unternommen, Weißrussland in die europäische
Normalität zu begleiten. Es bleibt weiter richtig, dass
dieser Versuch unternommen wurde. Und, trotz allem:
Es wird auch künftig Gesprächskanäle geben müssen.

In meinen Augen bedeutet Handeln im Sinne der wer-
tegebundenen Außenpolitik nämlich auch, dass wir nie-
mals eine Gesellschaft aufgeben, die nicht nach unserem
Verständnis von politischen Werten regiert wird. Somit
ist der Erhalt des Dialoges mit den politisch Verantwort-
lichen in Regierung und Opposition eines autoritären
Staates eine der wichtigsten Voraussetzungen in einer
derartigen Krise, um doch noch auf friedlichem Wege
eine Veränderung der Verhältnisse zu erreichen.

Die Europäische Union gehört zum freien Teil Euro-
pas. Sie ist die Hoffnung für viele, die außerhalb leben;
wir merken das immer wieder, wenn wir außerhalb der
Europäischen Union reisen. Ich werbe auch weiter ein-
dringlich für eine Erleichterung des Visaverfahrens: Wir
sollten einen leichten Zugang in die Bundesrepublik ins-
besondere für die junge Generation, für Studenten, für
Schüler und für gut ausgebildete Wissenschaftler aus
Weißrussland – und auch aus der Ukraine und Russland –
schaffen. Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass wir
hinreichend Studienplätze und auch Stipendien ermögli-
chen, damit diese hochmotivierten Menschen hier zu-
nächst ein Auskommen haben und unsere Wertegemein-
schaft, im wahrsten Sinne des Wortes, am eigenen Leib
erleben. Gibt es dereinst bessere Garanten für eine de-
mokratische Entwicklung in Belarus als die durch un-
sere Demokratie geprägten Heimkehrer?

In Weißrussland selbst aber sollten wir den demokra-
tischen oppositionellen Kräften eine Chance geben, sich
anlässlich der Eishockey-WM 2014 einer breiten Weltöf-
fentlichkeit zu präsentieren. Und wir, die Politiker, soll-
ten ebenfalls diese WM als Auftrag sehen, unsere Soli-
darität mit der weißrussischen Demokratiebewegung zu
unterstreichen, öffentlich zu zeigen und unsere politisch-
diplomatischen Bemühungen nicht abreißen zu lassen,
um den Menschen in Belarus ein Leben in politischer
Freiheit und Verantwortung zu ermöglichen.


Dagmar Freitag (SPD):
Rede ID: ID1717834800

Die Diskussion über die in wenigen Wochen begin-

nende Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine ist
noch in vollem Gang, schon rückt ein weiteres Sporter-
eignis in den Fokus: die Eishockey-WM 2014 in Belarus.

Ebenso wie in der Ukraine ist die aktuelle Entwick-
lung in Weißrussland besorgniserregend. Das Land er-
lebt zurzeit eine der extremsten Repressionsphasen seit
seiner Unabhängigkeit. Menschen werden in Schaupro-
zessen verurteilt und im schlimmsten Fall hingerichtet,
rechtsstaatliche Prinzipien werden mit Füßen getreten.
Versammlungs- oder Meinungsfreiheit sind de facto
nicht mehr existent in Weißrussland, gleiches gilt für die
Pressefreiheit. Willkürliche Handlungen durch den KGB
sind legitimiert worden, der Geheimdienst kann ohne
richterliche Genehmigungen Durchsuchungen und Ver-
höre durchführen, Folter und Tötung sind faktisch lega-
lisiert.

Für internationale Organisationen ist es mittlerweile
kaum noch möglich, in Weißrussland ihrer Arbeit nach-
zugehen. So ließ die weißrussische Regierung beispiels-
weise das OSZE-Büro in Minsk nach den Wahlen und
der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen Wahl-
fälschung im Dezember 2010 schließen. Unserer Kolle-
gin Uta Zapf, Vorsitzende der Ad-hoc-Arbeitsgruppe
Belarus der OSZE-PV – Parlamentarische Versamm-
lung –, wurde das Visum verweigert – sie wollte zur Be-
obachtung von Gerichtsverfahren gegen Oppositionelle
ins Land reisen.

Vor solch einem Hintergrund wird die bereits be-
schlossene Vergabe der Eishockey-Weltmeisterschaft an
Weißrussland zur Farce.

Der organisierte Sport reklamiert auf nationaler wie
auf internationaler Ebene gerne die Vertretung ethischer
Werte wie Respekt und Toleranz, und das in vielen Berei-
chen zu Recht. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass
in Weißrussland in zwei Jahren eine internationale
Sportgroßveranstaltung, dem eigenen Anspruch nach
ein Fest der Freude und Völkerverständigung, stattfin-
den soll.

Heute diskutiert der Deutsche Bundestag über diese
Entscheidung der Internationalen Eishockey-Födera-
tion – IIHF – ein Novum! Es zeigt, dass Politik und Sport
eben doch nicht immer strikt voneinander zu trennen
sind, auch wenn Vertreter des organisierten Sports die-
ses geradezu mantraartig immer wieder glauben ma-
chen möchten.

Vorab zwei Anmerkungen: Die viel beschworene Au-
tonomie des Sports wird nicht dadurch infrage gestellt,
dass Politiker sportpolitische Ereignisse und Entschei-
dungen kommentieren. Auch sollen Sportlerinnen und
Sportler keinesfalls instrumentalisiert werden. Aber:
Sportlerinnen und Sportler sind mündige Bürger, die
selbst entscheiden können und in der Regel auch wollen,
zu welchen Themen sie sich in welcher Form und an
welchem Ort äußern.

Bislang fällt jedoch eher das große Schweigen im or-
ganisierten Sport auf. „Sport ist unpolitisch“ – so eine
gern gegebene Standardantwort auf nationaler wie in-
ternationaler Ebene. Wer so agiert, verkennt die Chan-
cen, die sich dem Sport aufgrund seiner weltweiten Fas-
zination bei den meisten Menschen bieten. Der Sport
kann Signale senden, Zeichen setzen – wenn er es denn
will!

In diesem Zusammenhang lohnt noch einmal ein
Blick auf die anstehende Fußball-Europameisterschaft
in der Ukraine. Im Gegensatz zu UEFA-Chef Michel
Platini, der im Schatten der dortigen Menschenrechts-
verletzungen unbeirrt ein „Festival des Fußballs“ be-
schwört, haben sich in Deutschland führende Vertreter
des Deutschen Fußball-Bundes, Vereinsvertreter und
Spieler klar positioniert. Auch das ein Novum, hoffent-
lich endlich beispielgebend für andere.

Im vorliegenden Antrag fordern die Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung
auf, im konkreten Fall ihre Kontakte zum organisierten
Sport vor allem auf nationaler, aber auch auf internatio-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dagmar Freitag


(A) (C)



(D)(B)


naler Ebene zu nutzen und gegenüber den Eishockeyver-
bänden dafür zu werben, beim Kongress der IIHF in
Helsinki die Vergabe der Weltmeisterschaft an Belarus
zu revidieren.

Wir bedauern außerordentlich, dass sich die Koali-
tionsfraktionen mit uns nicht auf einen gemeinsamen
Antrag verständigen konnten, zumal wir uns damit in
guter europäischer Gesellschaft befänden. Schließlich
liegen aus dem Europäischen Parlament und auch aus
dem Außenrat der EU bereits vergleichbare Beschlüsse
vor.

So fordert das Europäische Parlament in einer Ent-

(2012/2581 nationalen Eishockey-Verbände der EU-Mitgliedstaaten und aller anderen demokratischen Länder auf, den IIHF, auch auf seinem nächsten Kongress im Mai in Helsinki, dazu zu drängen, seinen früheren Beschluss zu überdenken und die Möglichkeit der Verlegung der EishockeyWeltmeisterschaft 2014 von Belarus in ein anderes Gastland zu prüfen, bis in Belarus alle politischen Gefangenen, die von den internationalen Menschenrechtsorganisationen als „Gesinnungshäftlinge“ anerkannt wurden, freigelassen werden und das Regime eindeutige Signale bezüglich seines Engagements zur Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit setzt.“ In den Ratsschlussfolgerungen des Außenrats der EU vom 23. März 2012 stellt der Rat im Zusammenhang mit der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 gegenüber den internationalen und nationalen Eishockey-Organisationen fest, dass die EU im Hinblick auf die Verletzungen von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Prinzipien durch das weißrussische Regime im eigenen Land größte Bedenken bezüglich der Vergabe der WM nach Belarus hat. Im Hinblick auf den Kongress der IIHF in Helsinki vom 17. bis 20. Mai hat diese zwar in Aussicht gestellt, dass „alle 70 Mitglieder dort das Recht haben werden, die Vergabe infrage zu stellen. Sollte dies der Fall sein, ist es die Aufgabe des Kongresses, eine Entscheidung zu treffen.“ Allerdings hat der Präsident der IIHF, René Fasel, gleichzeitig deutlich gemacht, dass er eine Verlegung der WM aufgrund der Neutralität des Sports ablehnt. Ähnlich verhält sich dem Vernehmen nach auch der Deutsche Eishockey-Bund. Der Präsident des DEB, Uwe Harnos, hat zwar eingeräumt, dass „der Sport sich nicht darauf zurückziehen könne, dass er unpolitisch ist.“ Gleichzeitig heißt es in einem offiziellen Statement des Verbandes von Geschäftsführer Franz Reindl sinngemäß, dass es sich um ein Event der IIHF handele und der DEB als Mitglied der IIHF verpflichtet sei, daran teilzunehmen. Nur die IIHF wäre in der Lage, die Weltmeisterschaft zu verlegen. Franz Reindl wörtlich: „Wir warten ab und beobachten die Diskussionen beim IIHF-Kongress in Helsinki im Mai.“ Da sagen wir: Abwarten reicht nicht! Hier muss der Sport seine Stimme erheben und sich deutlich gegen die Verletzung von Menschenrechten positionieren, hier darf es keine Neutralität geben. Dies wäre das richtige Mittel. Weißrussland ist in Europa isoliert. Die Austragung der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 wäre für den Präsidenten und bekennenden Eishockeyfan Lukaschenko das bisher größte persönliche Prestigeprojekt, durch das er sich vor allem einen ungeheuren Popularitätsschub erhofft. Eine Absage der WM in Weißrussland wäre ein nicht zu unterschätzendes Signal gegen das Regime Lukaschenko, ein herber Gesichtsverlust und gleichzeitig sicher eine Ermutigung an die unterdrückte Zivilgesellschaft in seinem Land. Daher fordern wir die Bundesregierung ausdrücklich auch mit Blick auf die Entschließung des Europäischen Parlaments auf, das Gespräch mit den Entscheidungsträgern des Deutschen Eishockey-Bundes sowie den Vertretern der Internationalen Eishockey-Föderation zu suchen und für eine Neuvergabe der Eishockey-Weltmeisterschaft zu werben. Diese Forderung ist keine Anmaßung oder gar unzulässige Einmischung der Politik auf Entscheidungsprozesse des autonomen Sports. Ich erlaube mir, in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, wie oft sich Regierungen und Parlamente den in der Regel mit großem Nachdruck vorgetragenen Forderungen seitens des organisierten Sports gegenübersehen. Und da soll die Politik nicht auch Anmerkungen machen, Forderungen stellen dürfen, ohne gleich mit ritualisierter großer Empörung einer unzulässigen Einmischung gescholten zu werden? Im Fall Belarus gilt es, die Instrumentalisierung des Eishockey-Sports ausschließlich für Propagandazwecke des Regimes Lukaschenko zu verhindern. Dies ist durch eine Verlegung der Weltmeisterschaft möglich. Insbesondere die Außenpolitiker der FDP haben sich in dieser Angelegenheit öffentlichkeitswirksam positioniert – einen eigenen Antrag allerdings haben sie mit dem Koalitionspartner nicht zustande gebracht. Wir werben daher nochmals bei den Koalitionsfraktionen für eine Zustimmung zu unserem Antrag. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament – dort hat man einen einstimmigen Beschluss hinbekommen! Nach zahlreichen Negativerfahrungen der letzten Jahre gilt der Grundsatz: Politik muss sich aus dem Sport heraushalten. Völlig zu Recht betonen die Sportverbände ihre politische Neutralität und Unabhängigkeit. Boykotte und Verlegungen auf politischen Druck bringen in aller Regel nichts, sondern bestrafen nur die, die am allerwenigsten Verantwortung für die politische Lage tragen. Abschreckende Beispiele sind die Olympischen Spiele 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles. Sportliche Großereignisse dürfen nicht dazu instrumentalisiert werden, politische Forderungen durchzusetzen. Genauso muss aber verhindert werden, dass diese Veranstaltungen von undemokratischen und autokratischen Zu Protokoll gegebene Reden Patrick Kurth Machthabern politisiert und missbraucht werden, um sich selbst in ein positives Licht zu rücken. Es ist deshalb eine sehr wichtige, aber auch sehr schwierige Frage, wie man mit sportlichen Großereignissen in Ländern umgeht, in denen die Menschenrechtslage zweifelhaft ist. Entscheidend für die Beantwortung der Frage ist, ob das Schlaglicht der Weltöffentlichkeit, das eine solche Veranstaltung auf ein Land wirft, zur Verbesserung und Öffnung der dortigen Verhältnisse beitragen kann oder ob die jeweilige Regierung das Land so fest im Griff hat und die Meinungsfreiheit so stark unterdrückt wird, dass das Ereignis einzig zu Propagandazwecken missbraucht wird. Deshalb lassen sich Sport und Politik auch nicht trennen. Insbesondere weltweite Sportereignisse haben unweigerlich auch eine politische Dimension. Die Tatsache, dass der Sport eine völkerverbindende, friedensstiftende und menschenrechtsfördernde Funktion hat, führt dazu, dass im Umfeld von Großveranstaltungen die politische Situation im Gastgeberland, insbesondere die Lage der Menschenrechte, nie ausgeblendet werden kann und darf. Aber trotzdem gilt, dass die politische Einflussnahme auf sportliche Großveranstaltungen sich auf das Nötigste beschränken muss. Ein ganz besonderes Negativbeispiel für übermäßige Einflussnahme sind die Diskussionen zur anstehenden Fußball-Europameisterschaft 2012. Die Liste der Forderungen und Vorstöße aus den verschiedensten politischen Lagern, wie mit diesem Fußballfest vor dem Hintergrund der politischen Lage in dem Co-Gastgeberland Ukraine umgegangen werden soll, ist lang. Boykottaufrufe und Verlegungsforderungen, die zum Teil vorgebracht werden, sind aus vielen Gründen fehl am Platze. Es ist schwer nachvollziehbar, aus welchen Gründen die Ukraine in diesem überzogenen Maß angegriffen wird. Diese politische Fehlentwicklung vor allem auch in Deutschland widerspricht den bisherigen Maßstäben im Umgang mit Großveranstaltungen erheblich. Die Kritiker der EM in der Ukraine stellen Hürden auf, über die sie auch bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi sowie den Fußball-Weltmeisterschaften 2018 in Russland und 2022 in Katar springen müssten. Dennoch ist die Eishockey-Weltmeisterschaft 2014, die der Eishockey-Weltverband, IIHF, an Belarus vergeben hat, ein anderer Punkt. Dieser Fall ist in der Tat nicht mit der Lage in der Ukraine vergleichbar und hat eine andere Dimension. Der belarussische Präsident Lukaschenko ist der letzte Diktator Europas. Die Menschenrechtslage in dem Land ist seit längerem katastrophal. Lukaschenko führt das Land mittels brutaler Unterdrückung Andersdenkender und hält sich nur durch Wahlfälschungen an der Macht. Es gibt keine freie Presse, die Meinungsfreiheit ist erheblich eingeschränkt, Proteste werden mit massiver Gewalt im Keim erstickt, rechtsstaatliche Grundsätze werden mit Füßen bzw. Polizeistiefeln getreten. Unter dem Regime Lukaschenko wurden Hunderte von friedlichen Demonstranten, darunter Präsidentschaftskandidaten, Oppositionsführer, Journalisten, Vertreter der Zivilgesellschaft und normale belarussische Bürger, willkürlich festgenommen. Viele prominente Oppositionspolitiker sind noch immer in Haft. Die Unsäglichkeit der Zustände ändert sich auch dadurch nicht, dass kürzlich die Oppositionspolitiker Sannikow und Bondarenko entlassen wurden. Nur ein weiterer, besonders erschreckender Beleg für die inakzeptablen Zustände ist außerdem die Hinrichtung zweier junger Männer unter Missachtung aller rechtsstaatlichen Grundsätze. Belarus ist das einzige Land in Europa, das die Todesstrafe noch immer vollstreckt. Das Regime zeigt keinerlei Reformbereitschaft. Man muss weiterhin besonders hervorheben, dass sich Lukaschenko persönlich als glühender Eishockeyfan darstellt und die Bewerbung um die Weltmeisterschaft höchstpersönlich vorangetrieben hat und diese somit ein politisches Prestigeobjekt des Regimes darstellt. Es kann deshalb als sicher gelten, dass er die Veranstaltung für seine Zwecke im Inund Ausland propagandistisch missbrauchen würde. Lukaschenko will ganz bewusst die Popularität dieses Sports in seinem Land ausnutzen, um sich als erfolgreicher Landesvater darzustellen, wenn er sich mit den besten Teams der Welt präsentiert. Lukaschenko hat das Land so fest im Griff, dass er die Weltmeisterschaft ungehindert zu Propagandazwecken missbrauchen könnte. Aufgrund der in Europa beispiellosen Repression würde die Opposition keine Chance haben, die Veranstaltung als ein Vehikel für mehr Offenheit zu nutzen. All das zeigt, dass wir der Vergabe der EishockeyWeltmeisterschaft nach Belarus unter den derzeitigen Umständen nicht tatenlos zusehen dürfen und die beteiligten Verbände mit aller Nachdrücklichkeit auf die genannten Probleme hinweisen und darüber diskutieren müssen. Ändert sich nicht sehr bald merklich etwas an der Situation in Belarus, ist es sehr schwer vorstellbar bzw. schwer erträglich, dass die Eishockey-Weltmeisterschaft dort stattfindet. Nicht nur würden das Image und die Glaubwürdigkeit des Sports massiv beschädigt werden. Es steht auch zu befürchten, dass die Bemühungen um eine Veränderung der Lage in Belarus konterkariert und zurückgeworfen würden. Die Frage ist, wie man damit nun umgeht. Ein Antrag des Deutschen Bundestages ist jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt nicht der richtige Weg, weil er schlichtweg nichts bringen würde und eine zu massive politische Einmischung darstellt. Es würde damit der Anschein erweckt, als könnten der Bundestag und die von ihm im Antrag beauftragte Bundesregierung aktiv Einfluss auf die Entscheidung nehmen. Dem ist aber nicht so. Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die Entscheidungshoheit darüber, wo die Weltmeisterschaft stattfindet, ohne Wenn und Aber beim Eishockeyverband bzw. den zuständigen Gremien liegt. Es darf deshalb nicht der Eindruck entstehen, dass deutsche Verfassungsorgane in einem offiziellen Beschluss die Entscheidung eines Weltsportverbandes beeinflussen möchten. Im Gegenteil wäre ein entsprechender Beschluss sogar kontraproduktiv, weil dann der Verband erst recht seine Unabhängigkeit betonen würde und nicht ohne Gesichtsverlust eine Rücknahme der Vergabeentscheidung herbeiführen könnte. Zu Protokoll gegebene Reden Patrick Kurth Ein Antrag aber, der von vornherein keine ausreichende Aussicht auf eine Erreichung seiner Ziele hat, ist reine Symbolpolitik, weil man damit so tut, als ob man mit dem Antrag etwas bewirken könnte. Solche Schaufensteranträge werden aber der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht. Stattdessen müssen wir in einen direkten konstruktiven Dialog mit den Entscheidungsträgern des Verbands eintreten und diese für die Problematik noch mehr sensibilisieren und über alle möglichen Wege des Umgangs mit der Lage in Belarus offen diskutieren. Die Verlegung ist dabei sicherlich die wünschenswerteste Alternative, darf aber dabei nicht die einzige Option sein. Die Vergangenheit und die derzeitigen Diskussionen um die Fußball-EM zeigen, dass der Umgang mit großen, populären Sportereignissen besonders anfällig dafür ist, allzu populistisch angegangen zu werden. Dieser Gefahr dürfen wir aber nicht erliegen und Anträge des Deutschen Bundestages dazu beschließen, die reine Symbolpolitik sind. Dafür ist dieses Mittel nicht geschaffen. Die FDP steht jedenfalls für einen Umgang mit Augenmaß und Effizienz. Wir werden den Dialog mit den Entscheidungsträgern und Funktionären weiter suchen bzw. haben ihn bereits intensiv aufgenommen. Ich bin mir sicher, dass dies der beste und vor allem wirksamste Weg ist, die Verbände an ihre eigene Verantwortung für den Sport zu erinnern und mit ihnen darüber zu diskutieren. Diesen Weg wird die FDP jetzt konsequent weitergehen. Das Thema des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen könnte aktueller wohl kaum sein. Mit den Diskussionen um die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine in diesem Sommer, dem Formel-1-Rennen in Bahrain, sowie dem Eurovision-SongContest in Aserbaidschan Ende des Monats rückt nun auch die in Belarus 2014 geplante Eishockey-Weltmeisterschaft auf die politische Tagesordnung. Die sozialdemokratische und die grüne Fraktion hat die Forderung letzteres Sportereignis zu boykottieren, bereits im Europaparlament erhoben. SPD und Bündnis 90/Die Grünen wiederholen dies nun hier im Bundestag. Im Plenum gab es dafür ja schon den Beifall fast aller Fraktionen, als der CDU-Redner Ronald Pofalla sich kürzlich entsprechend äußerte. Wir teilen ihre Kritik an den Machthabern in Belarus zu 100 Prozent. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen, die beispielsweise Human Rights Watch zu Belarus aufzählt, ist lang. Statt echte Versammlungsfreiheit zu ermöglichen, wurden die Rechte zu demonstrieren 2011 erneut beschnitten. Pressefreiheit und ungehinderter Zugang zu sozialen Netzwerken – Fehlanzeige. Journalisten wurden verhaftet. Zwei mutmaßliche Attentäter wurden unter rechtsstaatlich fragwürdigen Bedingungen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wir haben dies hier gemeinsam verurteilt. Unsere Fraktion bleibt jedoch bei der Skepsis, die in der Debatte im Auswärtigen Ausschuss auch aus den Fraktionen von CDU/CSU und FDP geäußert wurde. Sicher, die Kritik am Regime Lukaschenko wird hier von allen geteilt und ein lautstarkes Signal wie dieses würde bestimmt gehört werden. Aber wenn man das allerdings wirklich ernst meint und fordert, dass die Eishockey-Weltmeisterschaft an ein anderes Land vergeben werden sollte, dann müsste man tatsächlich auch über die Absage der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine und über die Absage des Song Contest in Baku nachdenken. Und wenn man schon dabei ist: Dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar geplant ist, ist nicht außer Acht zu lassen. Auch hier ist die Lage der Menschenrechte doch mehr als bedenklich. Ebenso wie die in Bahrain. Dazu haben Sie allerdings bisher keine Anträge gestellt. Und dass in Russland nicht nur „lupenreine Demokraten“ regieren, dürfte inzwischen auch die SPD gemerkt haben. Was ist mit den Olympischen Winterspielen in Sotschi? Deshalb lassen Sie uns abwägen: Dass sich die Bedingungen für Oppositionelle in autoritären Regimen allein dadurch verbessern, dass dort viel beachtete Großveranstaltungen durchgeführt werden, kann man nun wirklich nicht behaupten. Trotz des Eurovision Song Contest in Aserbaidschan hat sich die Meinungs-, Presse-, und Religionsfreiheit nicht durchgesetzt. Auch hat sich die Lage der Menschen im Königreich Bahrain durch die Austragung des Formel-1-Rennens dort nicht verbessert. Es kommt dort weiterhin zu Verhaftungen von Demonstranten, Kritikern und Oppositionellen. Formel-1-Boss Bernie Ecclestone sagt dazu: „Wir mischen uns nicht in Politik oder Religion ein.“ Aber auch einige Boykotte der Vergangenheit haben wenig gebracht. Die Absage der westlichen Länder bei den Olympischen Spielen in Moskau 1980 war sicherlich medienwirksam. Aber als Sieg für Demokratie und Menschenrechte ist mir das nicht Erinnerung geblieben. Und trotzdem: Sport, Kultur und Politik konsequent trennen zu wollen, ist auch nicht sinnvoll. Der Sportboykott gegenüber dem Apartheidregime in Südafrika war richtig, die Durchführung einer FußballWM im Argentinien der Militärdikatur 1978 war falsch. Wir finden daher, dass der Eishockey-Weltverband ebenso wie die Veranstalter anderer Großveranstaltungen – seien es Olympia, Formel 1 oder Gesangswettbewerbe, im Vorfeld beachten sollten, wie die Lage in den entsprechenden Ländern ist. In den Kriterien für die Vergabe sollten Menschenrechte nicht nachrangig behandelt werden, sondern vorrangig, damit es nicht kurz vor der Durchführung eines Ereignisses zu solchen Diskussionen kommen muss. Wir finden es auch richtig, wenn Politikerinnen und Politiker sich deutlich zu den Vorgängen in den Ländern äußern. Wir finden es richtig, dass sie überdenken, ob sie wirklich mit Diktatoren auf Tribünen jubeln wollen. Zu Protokoll gegebene Reden Stefan Liebich Und wir finden es richtig, wenn sich Sportlerinnen und Sportler deutlich dazu äußern, was in den Ländern, in denen sie sich faire Wettbewerbe liefern wollen, vor sich geht. Wir begrüßen daher die Äußerungen von Fußballbundestrainer Joachim Löw und von Philipp Lahm. Und dem Parlament der Bundesrepublik stünde es gut zu Gesicht, sich noch mehr als bisher gegen die weltweiten Menschenrechtsverletzungen auszusprechen. Auch wenn gerade einmal keine wichtige Veranstaltung vor der Tür steht. Ob man wirklich Geschäfte mit Menschenrechtsverletzern wie Nursultan Nasarbajew aus Kasachstan machen muss, ob man Waffen in alle Welt liefern möchte, die am Ende solche Regime stärken, das sind Fragen, mit denen wir noch viel zu tun haben. Mit zweierlei Maß messen ist immer verkehrt. Aber wir teilen nicht Ihre Einschätzung, dass der Vorschlag des Bundestages an den Weltverband IIHF, die Eishockey-WM nicht in Belarus durchzuführen, den Menschen in Belarus hilft. Und das – und nicht das starke Signal – sollte doch das gemeinsame Ziel sein. Marieluise Beck GRÜNEN)

Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1717834900




(A) (C)


(D)(B)





(A) (C)


(D)(B)

Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717835000




(A) (C)


(D)(B)


Dieses Haus hat erst vor wenigen Wochen die Men-
schenrechtslage in Belarus diskutiert. Anlass für die De-
batte war die gnadenlose Hinrichtung zweier junger
Männer, denen ein brutaler Anschlag auf die Minsker
Metro zur Last gelegt worden war. Wir haben bereits auf
die schweren Mängel des Prozesses und der Beweisfüh-
rung hingewiesen. Nach rechtsstaatlichen Kriterien ist
die Schuld von Wladislaw Kowaljow und Dmitrij
Konowalow nie nachgewiesen worden, und damit haben
sie als unschuldig zu gelten. Auch in der Sache gibt es an
der Schuld der beiden große Zweifel.

Inzwischen ist durchgesickert, dass selbst die Begna-
digungskommission des Präsidenten dem belarussi-
schen Machthaber empfahl, die Todesurteile nicht zu
vollstrecken. Das heißt, Diktator Lukaschenko trägt die
persönliche Verantwortung für die Hinrichtung von
Wladislaw Kowaljow und Dmitrij Konowalow. Er hat
ihre Begnadigung gegen allen Rat und trotzt internatio-
naler Proteste abgelehnt. Damit liegt die Verantwortung
für die Hinrichtung allein bei ihm.

Die Herausgabe der Leichname von Wladislaw
Kowaljow und Dmitrij Konowalow wird den Angehöri-
gen verwehrt. Es soll keinen Ort zum Trauern geben.
Damit werden Angehörige zu Quasi-Mitschuldigen ge-
macht. Damit bedient sich der Diktator Lukaschenko ei-
nes bekannten Musters aus der Zeit Stalins.

Seit der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen
Wahlfälschung im Dezember 2010 wird jegliche Opposi-
tion in Belarus mit aller Härte verfolgt. Nahezu die ge-
samte Opposition wurde verhaftet. Im Gefängnis arbei-
tet das Regime an ihrer körperlichen und seelischen
Zerstörung. Unter Folter und Misshandlungen werden
den Oppositionellen Schuldeingeständnisse abgepresst
und damit ihre Selbstachtung zerstört. Die Begnadigten
werden öffentlich als Kriminelle denunziert. Für politi-

sches Engagement wird ihnen unumwunden erneute In-
haftierung angedroht. Die Opponenten des Diktators
sollen systematisch als politische Gegner ausgeschaltet
werden.

Die belarussische Opposition und Menschenrechtler
aus ganz Europa fordern deshalb, die Eishockey-Welt-
meisterschaft 2014 nicht in Belarus austragen zu lassen.

Sport ist in Belarus Chefsache. Der Diktator persön-
lich sitzt dem Nationalen Olympischen Komitee vor. Der
Biathlonverband wird vom KGB-Chef General Saizev
geleitet. Lukaschenko nutzt die Popularität des Eisho-
ckeysports gekonnt für sich und spielt gelegentlich selbst
im eigens für ihn gegründeten Präsidententeam. Das Re-
gime Lukaschenko ist kein würdiger Gastgeber für die
Eishockey-Weltmeisterschaft.

Die Vorstellung von Lukaschenko als Sonnenkönig ei-
ner Weltmeisterschaftsaustragung, während das Land zu
politischer Totenstille verdammt ist, ist unerträglich.
Welcher Sportler, der sich seiner gesellschaftlichen Be-
deutung bewusst ist, möchte neben diesem gnadenlosen
Herrscher auf dem Treppchen stehen?

Sport und Politik lassen sich nicht trennen, so oft die-
ser Grundsatz auch beschworen wird. Sportliche Groß-
ereignisse, ob die Sportler es wollen oder nicht, werden
immer auch von den politischen Machthabern genutzt,
um sich in Szene zu setzen. Nun ist die Frage gerechtfer-
tigt, wo denn dann die Grenze gezogen werden solle.
Nach aufrechten menschenrechtlichen und demokrati-
schen Kriterien dürften dann nur noch etwa 65 Länder
Austragungsort für große internationale Spiele sein.

Wir sprechen derzeit viel über die Fußball-Europa-
meisterschaft in der Ukraine. Dort gibt es politische Un-
terdrückung und politischen Missbrauch der Justiz.
Aber es gibt noch eine Opposition. Und die bittet, das
Sportereignis stattfinden zu lassen. Sie bittet außerdem,
es für den politischen Protest zu nutzen.

In Belarus gibt es nicht nur politische Justiz, in Bela-
rus wird gegen ein Prinzip verstoßen, das Europa sich
ansonsten überall zu eigen gemacht hat: keine Hinrich-
tungen mehr! Und es gibt keine politische Opposition,
die sich im Lande artikulieren könnte. Diese Opposition
bittet uns, dem Diktator nicht die Bühne für ein Schau-
spiel zu geben, in dem er sich als Vater der Nation auf-
spielt. Wir sollten dieser Bitte folgen.

Wir haben deshalb den Bundestagsfraktionen einen
interfraktionellen Antrag gegen die Austragung der Eis-
hockey-Weltmeisterschaft 2014 in Belarus vorgeschla-
gen. Wir brauchen ein starkes Signal des Bundestages,
dass wir die Weltmeisterschaft in Belarus ablehnen. Wir
freuen uns, dass wir mit unserem Antrag bei der sozial-
demokratischen Fraktion Unterstützung gefunden ha-
ben, ja, dass die SPD sich den Antrag quasi zu eigen ge-
macht hat. Die Koalition konnte sich nicht dazu
durchringen, unseren Antrag mitzutragen. Dies ist umso
unverständlicher, als Abgeordnete der Koalition in der
Presse ausführlich über ihren Brief an den Eishockey-
verband berichteten, in dem sie die Verlegung der Welt-
meisterschaft in ein anderes Land fordern. Eine Ein-
lassung des Parlaments hierzu halten sie aber

Zu Protokoll gegebene Reden





Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)


offensichtlich für unnötig. Es ist ein merkwürdiges
Selbstverständnis von Abgeordneten, wenn sie das Par-
lament nicht mehr als geeigneten Ort ihrer Arbeit anse-
hen, dafür aber die Zeitungen.

Ich hoffe, dass die Internationale Eishockey-Födera-
tion die internationalen Proteste gegen die Austragung
der Weltmeisterschaft in Belarus ernst nimmt und auf ih-
rer kommenden Tagung eine Verlegung des Turniers in
ein anderes Land beschließt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717835100

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf

der Drucksache 17/9557. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist abge-
lehnt bei Zustimmung durch Bündnis 90/Die Grünen
und SPD; die übrigen Fraktionen haben abgelehnt; ent-
halten hat sich niemand.

Tagesordnungspunkt 26:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe (Leipzig), Sönke Rix, Dr. h. c. Wolfgang
Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Rechtswidrige Extremismusklausel in den
Bundesprogrammen gegen Rechtsextremis-
mus sofort aufheben

– Drucksache 17/9558 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1717835200

Seit die Unterzeichnung der Demokratieerklärung als

unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt von Förder-
geldern aus dem Bundesprogramm „Toleranz fördern –
Kompetenz stärken“ im Jahr 2011 eingeführt wurde, ist
sie den Oppositionsparteien ein Dorn im Auge. Die in-
haltlichen Debatten beim Thema Extremismusbekämp-
fung konzentrieren sich seit Monaten einzig und allein
auf die Extremismusklausel, die von den zivilgesell-
schaftlichen Initiativen und Organisationen im Vorfeld
unterzeichnet werden muss.

Da kommt Ihnen als Opposition das aktuelle Urteil
des Verwaltungsgerichts Dresden gegen die Verwal-
tungsentscheidung des Landkreises Pirna wohl gerade
recht. Es überrascht niemanden hier in diesem Hause,
dass Sie sofort einen entsprechenden Antrag auf die Ta-
gesordnung haben setzen lassen. Ihre darin enthaltene
Forderung nach einer sofortigen Streichung der Bestäti-
gungserklärungen als Voraussetzung für die Zuwendung
aus den Bundesprogrammen „Toleranz fördern – Kom-
petenz stärken“, „Initiative Demokratie stärken“ und
„Zusammenarbeit durch Teilhabe“ war ebenfalls antizi-
pierbar.

Selbstverständlich ist uns die Gerichtsentscheidung
des VG Dresden bekannt. Die Bewilligungsbehörde
BAFzA steht im engen Kontakt mit dem Landkreis Pirna.

Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir jedoch keine voreili-
gen Schlüsse ziehen, denn eine schriftliche Urteilsbe-
gründung liegt noch nicht vor. Zudem ist das Urteil noch
nicht rechtskräftig, da das Gericht wegen der grundsätz-
lichen Bedeutung der Sache eine Berufung zugelassen
hat.

Wenn Sie sich genauer informiert hätten, wüssten Sie,
dass die Richter nicht die komplette Extremismusklau-
sel, wie sie vom BMFSFJ eingeführt wurde, beanstandet
haben. Das schriftliche Bekenntnis zur freiheitlich-
demokratischen Grundordnung in Satz 1 der Demokra-
tieerklärung kann durchaus zur Voraussetzung für den
Erhalt von Bundesfördermitteln gemacht werden.

Das hat auch der von Ihnen so gern und viel zitierte
Rechts- und Verwaltungswissenschaftlicher Ulrich
Battis in seinem Gutachten zur Zulässigkeit der Extre-
mismusklausel bestätigt. Danach sei der erste Satz der
Bestätigungserklärung, das heißt die daraus hervorge-
hende Unterzeichnung der Erklärung, rechtlich beden-
kenlos.

Wenn der Staat eigene Programme zur Bekämpfung
des politischen Extremismus auflegt, dann muss er auch
die Möglichkeit haben, darauf zu achten, dass nur dieje-
nigen Initiativen gefördert werden, die auf dem Boden
unseres Grundgesetzes stehen.

Auch das sind im Übrigen nach der Auffassung von
Herrn Battis legitime Ziele, nämlich die Förderung von
Demokratie und die Gewährleistung, dass nur die Pro-
jektträger unterstützt werden, die sich für Demokratie
im Sinne unseres Grundgesetzes einsetzen. Das hat nun
wirklich nichts mit Generalverdacht oder Gesinnungs-
schnüffelei zu tun! Als christlich-liberale Koalition wol-
len wir damit verhindern, dass sich – wie in einigen
Kitas in Mecklenburg-Vorpommern geschehen – Extre-
misten einschleichen, um ihre extremistischen Weltan-
schauungen zu verbreiten.

Beanstandet hat das Gericht den zweiten Teil der De-
mokratieerklärung, die Verbürgung der Projektpartner
für die Verfassungstreue ihrer Kooperationspartner. Die
Rechtswidrigkeit ergebe sich aus der Unbestimmtheit
und der Unschärfe der verwendeten Begriffe und For-
mulierungen, so die Richter.

Eine ersatzlose Streichung der Klausel bei der Ver-
gabe der Zuwendungen – wie Sie sie fordern – ist aber
deshalb nicht notwendig! Die Unterzeichnung der Er-
klärung ist für uns eine Selbstverständlichkeit, nicht
mehr als eine Formsache. Das Gericht hat auch nicht
gesagt, dass die Klausel abgeschafft werden muss. Im
Übrigen darf ich Sie daran erinnern, dass die Klausel
ursprünglich eine Erfindung aus der rot-grünen Regie-
rungszeit ist, die bereits seit 2005 in den Zuwendungsbe-
scheiden verwendet wurde.

Unsere Aufgabe ist es nun, zu schauen, inwieweit die
Klausel einer Überarbeitung bedarf, das heißt präzisiert
und verbessert werden muss, damit sie rechtlichen Be-
stand hat. Das weitere Vorgehen ist abhängig von der
schriftlichen Urteilsbegründung. Bis dahin bleibt die
„Demokratieerklärung“ unverändert Nebenbestim-





Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)


mung und somit Bestandteil der erteilten Zuwendungs-
bescheide.

Die Demokratieerklärung ist aus guten Gründen ein-
geführt worden und muss beibehalten werden, denn der
Grundgedanke ist richtig: Die Demokratieerklärung
soll verhindern, dass extremistische Organisationen
finanziell unterstützt werden oder ihnen unwillentlich
eine Plattform geboten wird, wo sie ihr extremistisches
Gedankengut mit öffentlichen Mitteln, den Steuergel-
dern unserer Bürger, verbreiten können.

Aus diesen Gründen können wir Ihren Antrag auf
Streichung der Klausel nur ablehnen.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1717835300

Mit ihrem Antrag vom 8. Mai 2012 heftet sich die

SPD an die Entscheidung des Verwaltungsgerichts
Dresden vom 25. April 2012.

Bislang liegt noch keine Urteilsbegründung vor. Le-
diglich aus einer Presseerklärung ist zu entnehmen,
weshalb das Gericht die von Zuwendungsempfängern im
Rahmen des Bundesprogramms „Toleranz fördern –
Kompetenz stärken“ geforderte Einverständniserklä-
rung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung für
rechtswidrig erklärt hat. Das Gericht folgt wohl in sei-
ner Entscheidung dem Gutachten des Sachverständigen
Professor Dr. Dr. h. c. Ulrich Battis vom 29. November
2010.

Battis hält die Demokratieerklärung grundsätzlich
für rechtmäßig. Es ist richtig, so Battis, dass die Vereine,
die für ihren Kampf gegen den Extremismus eine Förde-
rung erhalten, selbst keine extremistischen Ideologien
verfolgen dürfen. Wenn für die Bekämpfung einer extre-
mistischen Ideologie Vereine, die selbst eine extremisti-
sche Ideologie verfolgen, Fördergelder beanspruchen
dürfen, wäre das ein Circulus vitiosus.

In dieser Demokratieerklärung wird aber von den
Vereinen, die extremistische Ideologien bekämpfen,
auch verlangt, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten
und auf eigene Verantwortung dafür Sorge tragen, dass
die als Partner ausgewählten Organisationen und Refe-
renten sich ebenfalls den Zielen des Grundgesetzes ver-
pflichten. Die Demokratieerklärung sieht vor, dass nicht
einmal der Anschein erweckt werden darf, dass durch
Zuwendungen für den Kampf gegen Extremismus gerade
auch extremistische Gruppierungen unterstützt werden.

Battis und das Gericht halten diese sich auf Dritte be-
ziehenden Forderungen der Demokratieklausel für zu
unbestimmt und zu unklar. So sei unklar, wer als Partner
anzusehen ist und welches Verhalten konkret von dem je-
weiligen Verein abverlangt werden darf. Das Gericht
kommt also nicht zu dem Ergebnis, dass die Demokratie-
klausel selbst unzulässig ist, sondern es ist der Auffas-
sung, dass lediglich bestimmte Formulierungen dieser
Erklärung dem Anspruch der Rechtsklarheit und Ein-
deutigkeit nicht entsprechen. Deshalb kam es zur Aufhe-
bung dieser Demokratieklausel.

Grundsätzlich also ist das Gericht ebenso wie Battis
der Meinung, dass diejenigen, die eine öffentliche För-

derung für ihren Einsatz gegen extremistische Gruppie-
rungen in Anspruch nehmen, nicht selbst extremis-
tischen Strömungen angehören dürfen. Dies gilt auch für
die Personen und Organisationen, mit denen diese Ver-
eine ein bestimmtes öffentlich gefördertes Projekt durch-
führen. Dies hieße ja am Ende, den Teufel mit dem Beel-
zebub auszutreiben.

Entgegen der Entscheidung des Gerichts ist aber klar,
was man sich im vorgenannten Sinn unter einer Partner-
schaft vorzustellen hat. Auch ist klar, wie sich der jewei-
lige Verein zu verhalten hat, damit nicht einmal der An-
schein erweckt wird, mit öffentlichen Geldern würden
am Ende extremistische Ideologien und Gruppierungen
gefördert, die zwar gegen andere Extremisten vorgehen,
aber selbst unsere demokratische Grundordnung nicht
bejahen.

Die Formulierungen sind also klar und präzise ge-
nug. Es ist zu hoffen, dass die Berufungsinstanz die Ent-
scheidung des Verwaltungsgerichts Dresden korrigiert.
Sonst müsste eine andere Formulierung, aber nicht eine
andere Zielrichtung der Demokratieerklärung gefunden
werden.

Der SPD geht es aber in ihrem Antrag gar nicht da-
rum, eine Präzisierung der Formulierung der Demokra-
tieklausel herbeizuführen. Die SPD lehnt die Demokra-
tieklausel entgegen der Auffassung des Gerichts
vielmehr grundsätzlich ab. Sie will überhaupt keine De-
mokratieklausel. Dies ist nicht nachvollziehbar. Der
SPD müsste es doch auch darum gehen, dass für extre-
mistische Gruppierungen nicht auch noch staatliche
Gelder zur Verfügung gestellt werden.

Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger sel-
ber. So dumm aber ist die SPD nicht. Es geht ihr viel-
mehr ganz offensichtlich allein darum, die Regierung
anzugreifen, um ein bestimmtes extremistisches Klientel
zu bedienen. Die SPD will Wählerinnen und Wähler von
den Linken abziehen, und dies mit allen Mitteln – auch
auf Kosten der Demokratie. Dies aber ist verantwor-
tungslos.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1717835400

Manchmal braucht es erst den Hinweis der Justiz, da-

mit der Bundesregierung Offenkundiges bewusst wird.
Daher bin ich dem Alternativen Kultur- und Bildungs-
zentrum AKuBiZ in Pirna sehr dankbar. Dankbar für
seinen Mut und seine Hartnäckigkeit, mit dem dieser
Verein dem Recht zur Geltung verholfen hat. Das
AKuBiz hatte geklagt gegen den Zuwendungsbescheid
des Landkreises, der die Pflicht zur Unterzeichnung der
Extremismusklausel enthielt. Geklagt und gewonnen.

Das Verwaltungsgericht Dresden hat die Extremis-
musklausel in den Richtlinien des Bundesprogramms
„Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ für rechtswid-
rig erklärt.

Dabei hatte sich Frau Dr. Schröder das so schön ge-
dacht. Je unsauberer der Rechtsbegriff, desto größer die
Streuweite. Einfach ein Bekenntnis von den Initiativen
verlangen, dass „die als Partner ausgewählten Organi-
sationen, Referenten etc. sich ebenfalls den Zielen des

Zu Protokoll gegebene Reden





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)


Grundgesetzes verpflichten“. Dies möge bitte überprüft
werden. Daneben sollte natürlich „keinesfalls der An-
schein erweckt werden“, dass extremistische Strukturen
unterstützt werden.

Das Gericht bemängelt zu Recht, dass die Erklärung
zu unbestimmt ist. Es ist beispielsweise vollkommen un-
klar, wer „Partner“ im Sinne der Klausel ist. Ebenfalls
bleibt im Dunkeln, welches Verhalten den Zuwendungs-
empfängern konkret abverlangt wird. Dass diese Formu-
lierungen unsauber und in der Konsequenz rechtswidrig
sind, wird niemand überraschen. Selbst die Kollegen
von der FDP haben darauf schon kritisch hingewiesen.

Aber es geht hierbei um weit mehr als die juristische
Betrachtung. Die Extremismusklausel in den Program-
men von Frau Dr. Schröder und analog auch in denen
von Herrn Dr. Friedrich ist auch politisch falsch. Sie
stellt einen staatlichen Generalverdacht gegen die Zivil-
gesellschaft dar. Sie setzt die Initiativen unter einen
fragwürdigen Bekenntnisdruck. Und Sie fordert die Ini-
tiativen konkret auf, ihre Partner auszuhorchen, in der
Vergangenheit von Referentinnen herumzuwühlen oder
das Umfeld von Veranstaltungsmoderatoren zu durch-
forsten.

Demokratie heißt produktiver Streit um Veränderung.
Bekenntnisforderungen hingegen sind ein Akt einer au-
toritären politischen Kultur. Sie verfehlen den Wesens-
gehalt demokratischer Kultur. Statt Bekenntnissen be-
darf es der Überzeugungsarbeit. Ich habe den Eindruck,
dass diese Bundesregierung sich davor scheut.

Denn die Initiativen, die gegen Rechtsextremismus
arbeiten, decken viele gesellschaftliche Missstände auf.
Sie wirbeln Staub auf, den mancher lieber unter den
Teppich kehren würde. Diese Initiativen sind manchmal
anstrengend, zu anstrengend für die Bundesregierung.
Sie denkt sich offenbar: Was sich da tummelt, das kann
man nicht hinreichend kontrollieren, das muss eingehegt
werden.

Was für ein überkommenes Staatsverständnis Sie pfle-
gen, zeigt der Obrigkeitsgeist dieser Erklärung. Die Ex-
tremismusklausel diskreditiert symbolisch die Initiati-
ven, die sich gegen Neonazis und Ideologien der
Ungleichwertigkeit einsetzen. Aber schlimmer noch: Sie
macht ihnen auch faktisch das Leben schwer. Die von
Frau Dr. Schröder erfundene Klausel gefährdet den
Kampf gegen Rechtsextremismus substanziell.

„Alleingelassen im Kampf gegen Rechts“ über-
schrieb „Spiegel Online“ neulich zutreffend einen Be-
richt über die Unterfinanzierung und Gängelei der De-
mokratieinitiativen. Die Initiativen und Vereine, die sich
gegen Rechtsextremismus und für Demokratie engagie-
ren, tragen schon schwer an der unzureichenden und
kurzfristigen Finanzierung ihrer Arbeit. Durch die Ex-
tremismusklausel werden sie vor zusätzliche bürokra-
tische Hürden gestellt.

Wie stellt sich die Bundesregierung vor, dass die Ini-
tiativen zu belastbaren Einschätzungen kommen? Schon
die Urteile des Verfassungsschutzes zu bestimmten Ak-
teuren gehen oft weit auseinander. Nicht einmal die be-
hördlichen Instanzen, die mit einem hohen Personal-

und Ressourcenaufwand an der Überprüfung potenziell
extremistischer Strukturen arbeiten, kommen bezüglich
der Verfassungsmäßigkeit dieser Akteure regelmäßig zu
einhelligen Ergebnissen. Jenseits der grundsätzlichen
Kritik an diesem staatlich verordneten Observationsauf-
trag haben zivilgesellschaftliche Initiativen weder die
Fähigkeit noch die Legitimation, eine belastbare Ein-
schätzung über die Qualifizierung der politischen Ziele
jeder ihrer Kooperationspartner einzuholen.

Einige der Träger haben schon entnervt aufgegeben.
In meiner Heimatstadt Leipzig sind mir mindestens zwei
Träger bekannt, die Projekte wegen der Extremismus-
klausel zurückgezogen haben, die Stadt Jena hat auf
Gelder für einen Lokalen Aktionsplan verzichtet, und
hier in Berlin kann die Mobile Beratung nur Dank einer
Ersatzfinanzierung durch das Land weiter arbeiten. Um
eine systematische Erfassung der Auswirkungen der Ex-
tremismusklausel drückt sich das Ministerium herum.

Es geht hier nicht um einen banalen Verwaltungsvor-
gang und auch nicht um Detailkritik an Förderkriterien.
Wir reden hier nicht über ein paar Euro für bessere Wär-
medämmung oder die Details der steuerlichen Absetz-
barkeit von Geschäftsessen. Die Kritik an der Extremis-
musklausel wiegt deshalb so schwer, weil die durch sie
behinderte gesellschaftliche Aufgabe eine existenzielle
ist: der Schutz unserer Demokratie vor Neonazismus
und Ideologien der Ungleichwertigkeit.

Die Bildungs- und Präventionsarbeit, die die Bundes-
programme fördern, ist unersetzbarer Teil einer syste-
matischen Bekämpfung rechtsextremistischer Ideologie
und Gewalt und somit zentrale gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Das haben alle im Deutschen Bundestag ver-
tretenen Fraktionen angesichts des Bekanntwerdens der
Mordserie der Neonaziterrorgruppe „Nationalsozialis-
tischer Untergrund“ noch einmal einhellig bekräftigt.
Niemand mehr wird den Rechtsextremismus in diesem
Land als Jugend- oder Randproblem verharmlosen wol-
len.

Daher hat der Deutsche Bundestag in seiner gemein-
samen Entschließung vom 22. November 2011 beschlos-
sen, zu überprüfen, wo dem Engagement demokratischer
Gruppen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit und Antisemitismus Hindernisse entgegenstehen.
Diese Prüfung kann vor dem Hintergrund der weitrei-
chenden Kritik an der Klausel aus der Zivilgesellschaft
und angesichts des aktuellen Urteils nur lauten: Es ist
auch die Extremismusklausel, die den Kampf gegen
Rechtsextremismus behindert.

Frau Dr. Schröder, Herr Dr. Friedrich, nehmen Sie
dieses Urteil ernst, und heben Sie die Extremismusklau-
sel umgehend auf!


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1717835500

Bevor ich auf den vorliegenden Antrag der SPD-

Fraktion eingehe, ist es mir ein Bedürfnis, hervorzu-
heben, dass die Initiativen gegen politischen Extremis-
mus in unserem Land eine großartige Arbeit leisten.
Manche Engagierte gehen ihrer Arbeit trotz massiver
Bedrohungen und Einschüchterungen gegen sie selbst

Zu Protokoll gegebene Reden





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)


und ihr Umfeld nach. Gerade mit Blick auf das Ziel einer
weltoffenen, toleranten Gesellschaft, das zum politi-
schen Erbgut der Liberalen gehört, können wir vor die-
sen vielen Engagierten nur den Hut ziehen. Diesen Men-
schen gilt meine Anerkennung und die der gesamten
FDP-Bundestagsfraktion.

Wenn nun von der linken Seite des Hauses der billige
wie durchsichtige Versuch unternommen wird, diese
Haltung mittels eines Antrages zur Abschaffung der so-
genannten Extremismusklausel infrage zu stellen, ist das
schäbig und der Sache nicht würdig. Gerne erkläre ich
Ihnen auch, warum.

Erstens sollten wir uns klarmachen, welche Aufgabe
die in Rede stehenden Programme haben: Die Bundes-
programme gegen politischen Extremismus haben die
Aufgabe, Menschen in unserem Land die Vorzüge unse-
res demokratisch verfassten Rechtsstaates zu verdeut-
lichen und sie zu bestärken, sich zu ihrer Demokratie zu
bekennen und für diese einzutreten. Wir wollen Men-
schen für unsere Demokratie gewinnen, sie begeistern
und nicht nur gegen irgendetwas sein. Daher sind diese
Programme für kleinliche Parteitaktik denkbar ungeeig-
net. Vielmehr sollten wir als politisch Verantwortliche
uns hinter diesen Initiativen versammeln und ihnen den
Rücken stärken.

Zweitens. Wenn Sie das Urteil des Verwaltungs-
gerichts Dresden, auf das Sie sich beziehen, aufmerksam
gelesen hätten, wäre Ihnen aufgefallen, dass das Be-
kenntnis von Zuwendungsempfängern zur freiheitlich-
demokratischen Grundordnung überhaupt nicht infrage
gestellt wird, von niemandem. Dazu verlieren Sie in
Ihrem Antrag jedoch kein Wort. Stattdessen verkürzen
Sie das Urteil und stürzen sich geradezu auf die beiden
beanstandeten Sätze zwei und drei. Das lässt tief bli-
cken.

Selbstverständlich kann der Staat von Initiativen, die
Gelder zur Arbeit gegen politischen Extremismus erhal-
ten möchten, ein Bekenntnis zu unserer Verfassung ver-
langen. Für mich als Demokraten ist das eine Selbstver-
ständlichkeit. Dass Sie dies indirekt in Abrede stellen,
indem Sie von einem „Generalverdacht“ gegen die Ini-
tiativen sprechen, schlägt dem Fass den Boden aus.

Das Verwaltungsgericht Dresden bemängelt ledig-
lich, dass die Sätze zwei und drei der Demokratieerklä-
rung zu unbestimmt seien. Und die Haltung der FDP-
Bundestagsfraktion, dass hier eine klarere Formulie-
rung wünschenswert wäre, zum Beispiel im Sinne der
sächsischen Demokratieerklärung, ist ja bekannt. Dazu
stehen wir auch nach wie vor. Aber die Klausel an sich
muss keinesfalls gestrichen werden. Es gilt eher, sie zu
präzisieren. Auf dieses Gesprächsangebot sind Sie aber
bis heute nicht eingegangen. Auch das belegt: Es geht
Ihnen nicht um die Sache, es geht Ihnen um Demagogie.

Was mich besonders irritiert – damit bin ich bei mei-
nem dritten Punkt angelangt –, ist die Vehemenz, mit der
gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, die Koalition in dieser Frage angehen.
Schließlich ist die Klausel nicht vom Himmel gefallen.
Und sie ist auch nicht, wie Sie so oft fälschlicherweise

behaupten, von Frau Ministerin Schröder erdacht wor-
den. Sie stammt aus Ihrer eigenen rot-grünen Regie-
rungszeit, von Bundesinnenminister Otto Schily, und das
wissen Sie auch. Das Einzige, was sich geändert hat: Sie
muss nun noch einmal explizit von Projektträgern unter-
schrieben werden. Ansonsten entspricht sie eins zu eins
der Belehrung, die damals, zu Ihrer Regierungszeit, an
die Träger und Zuwendungsempfänger der Förderpro-
gramme verschickt wurde.

Wo war denn damals Ihr Aufschrei? Wo waren denn
Ihre Proteste?

Auf all diese Fragen haben Sie seit der letzten De-
batte zu diesem Thema, die etwas über ein Jahr her ist,
keine Antwort gegeben. Aber Ihr Schweigen spricht
Bände. Schweigen ist eben doch nicht immer Gold.

Heute legen Sie nun erneut einen Antrag zur Strei-
chung der Klausel vor. Die pikante Parallele: So wie
diese Woche standen wir auch beim letzten Mal, als wir
über die Extremismusklausel debattierten, vor Land-
tagswahlen. Damals, im Februar 2011, standen unter
anderem Wahlen in Hamburg, Rheinland-Pfalz und
Baden-Württemberg ins Haus. Am kommenden Wochen-
ende wählt nun NRW.

Der Fall ist klar, Ihre Absichten sind eindeutig: Es
geht hier um Schützenhilfe im Wahlkampf für die in Düs-
seldorf gescheiterte rot-grüne Schuldenkoalition – um
nichts anderes.


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1717835600

Wir führen die parlamentarische Debatte über die

sogenannte Extremismusklausel oder auch Demokratie-
erklärung schon sehr lange, oft mit der gleichen Drama-
turgie. Leider habe ich das Gefühl, dass die Oppo-
sitionsparteien, gerade die antragstellende SPD, in
diesem Thema einfach nicht dazulernen wollen. Das
lässt zumindest der vorliegende Antrag vermuten.

Man kann die Diskussion über die Demokratieerklä-
rung anhand von zwei Fragen betrachten: Erstens: Ist
eine solche Erklärung überhaupt notwendig? Zweitens:
Wie soll die Demokratieerklärung konkret ausgestaltet
sein? Bisher sind wir in den Debatten im Bundestag lei-
der nie über die erste Frage hinausgekommen. Das be-
dauere ich außerordentlich. Es muss doch eine Selbst-
verständlichkeit sein, dass sich ein Projektträger, der
vom Staat Geld im Kampf gegen den Extremismus er-
hält, zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung be-
kennt. In sämtlichen wissenschaftlichen Gutachten, über
die wir in der Vergangenheit gesprochen haben, ist die-
ser Gedanke zu finden. Und auch das jüngste Urteil des
Verwaltungsgerichts Dresden, auf das sich der SPD-An-
trag bezieht, geht in dieselbe Richtung. Natürlich muss
man hier die genaue Urteilsbegründung abwarten, die
momentan noch nicht vorliegt. Aber aus der Pressemit-
teilung des Verwaltungsgerichts lässt sich schon ablesen,
dass grundsätzlich nichts gegen eine Demokratieerklä-
rung spricht. Der hierfür wichtige Satz 1 der Erklärung
wurde vom Verwaltungsgericht offensichtlich nicht be-
anstandet. Dazu findet sich im Antrag der SPD leider
kein einziges Wort. Vielmehr stellen die Antragssteller

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


pauschal fest, dass die Extremismusklausel rechtswidrig
sei und die Arbeit der Projektträger gefährde. Das ist
leider viel zu undifferenziert! Und die Grundaussage wi-
derspricht im Übrigen auch der Politik, die die SPD
noch in Regierungsverantwortung hochgehalten und
verteidigt hat.

Auch vom praktischen Gesichtspunkt her kann ich die
pauschale Ablehnung der Demokratieerklärung im
SPD-Antrag nicht teilen. In den Gesprächen, die ich mit
vielen Projektträgern geführt habe, wurde mir bestätigt,
dass gegen ein Bekenntnis zu unserer Verfassung grund-
sätzlich nichts einzuwenden sei. Ebenso bestätigten mir
die Verantwortlichen in den beteiligten Ministerien, dass
die Projektträger die Unterschrift unter die Demokratie-
erklärung prinzipiell nicht als Problem ansehen würden.
Die Ausgestaltung in der Praxis müsse nur stimmen.

Und hier kommen wir zur eigentlich wichtigen Frage,
zu der die SPD bedauerlicherweise schweigt: Wie kann
eine im politischen Anliegen berechtigte Demokratieer-
klärung so ausgestaltet werden, dass sie die wichtige
und segensreiche Arbeit der Projektträger für unsere
Demokratie nicht unnötig belastet? Als Antwort haben
wir Liberalen immer wieder betont, dass wir die Sätze 2
und 3 der jetzigen Demokratieerklärung der Bundes-
ministerien nicht immer für geeignet halten. Diese
Tendenz wurde auch im Urteil des Dresdner Verwal-
tungsgerichts bestätigt. Aus unserer Sicht dürfen die
Projektträger nicht vor hohe bürokratische Hürden ge-
stellt werden, wenn sie ein Bekenntnis zu unserer Verfas-
sung abgeben. Es muss stets klar sein, welche konkreten
Handlungen von den Trägern zur Erfüllung der Demo-
kratieerklärung erwartet werden. Und die Handlungen
selbst müssen verhältnismäßig sein. Es kann eben nicht
sein, dass ein Projektträger durch eigene Ermittlungstä-
tigkeit sämtliche Partner hinsichtlich ihrer Verfassungs-
treue überprüft und dann nicht zur eigentlich wichtigen
Arbeit für Toleranz und Demokratie kommt. Deshalb
sollte man die Sätze 2 und 3 überarbeiten und eine prak-
tikable Lösung für alle Beteiligten finden. Eine mögliche
Lösungsvariante – und auch das haben wir in den De-
batten stets hervorgehoben – wäre die Demokratieerklä-
rung der sächsischen Landesregierung. Aber leider sind
wir in unseren bisherigen Diskussionen nie bis zu die-
sem Punkt gekommen. Denn die Oppositionsparteien
haben immer schon in der Frage des Ob die falsche Ant-
wort gewählt und sich damit lernresistent gezeigt.

Als positiv denkender Mensch habe ich noch nicht
den Glauben verloren, dass wir in der weiteren parla-
mentarischen Beratung des SPD-Antrags noch einmal
zur Frage des Wie kommen können. Ich würde es begrü-
ßen, wenn wir die an sich richtige Demokratieerklärung
modifizieren und für die Projektträger noch praktikabler
gestalten könnten. Die bisherige Dramaturgie dieser
Debatten lässt mich jedoch zweifeln, ob sich zumindest
Teile der Oppositionsparteien in die richtige Richtung
bewegen wollen. Wenn SPD und Grüne aber nicht auf
den Pfad der Tugend kommen wollen – bei der Linkspar-
tei ist diesbezüglich ja jede Hoffnung verloren –, können
wir ihren Antrag wie immer nur ablehnen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717835700

Die SPD beantragt, die rechtswidrige Extremismus-

klausel in den Bundesprogrammen gegen Rechtsextre-
mismus sofort aufzuheben. Wir haben es hier mit einer
gemeinsamen Forderung aller Oppositionsparteien und
breiter zivilgesellschaftlicher Kreise einschließlich der
Zentralräte der Juden und der Muslime zu tun. Selbst-
verständlich unterstützt die Linke dieses Anliegen.

Als „Demokratieerklärung“ wird die seit Januar
2011 gültige Extremismusklausel offiziell von der Bun-
desregierung bezeichnet. Das erinnert doch schon arg
an George Orwells Neusprech. Denn mit Demokratie
hat diese Klausel nichts zu tun. Sie ist vielmehr – wie
jetzt das Dresdner Verwaltungsgericht geurteilt hat – ein
in wesentlichen Teilen rechtswidriger Maulkorb für an-
tifaschistische Projekte.

Die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus
waren eine Reaktion auf eine neue Welle neofaschisti-
scher und fremdenfeindlicher Anschläge und Übergriffe
zu Anfang des Jahrtausends. Ihr Ziel ist die Stärkung
bürgerschaftlichen Engagements und damit demokrati-
scher Strukturen vor Ort. Doch unter der schwarz-
gelben Bundesregierung wurden diese seit Jahren enga-
giert und unter großem persönlichen Einsatz arbeiten-
den Projekte plötzlich selber unter Extremismusverdacht
– den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit – gestellt.
Auf Betreiben der selbsternannten Extremismusexpertin
der Unionsfraktion, Bundesfamilienministerin Kristina
Schröder, müssen Projektträger sich mit der Unterzeich-
nung der Extremismusklausel nicht nur selber zur
Grundgesetztreue bekennen. Das ist schon ein unver-
schämter Misstrauenserweis, schließlich machen sich
diese Initiativen Tag für Tag um die Demokratie ver-
dient! Aber damit nicht genug. Sie müssen zugleich eine
Garantieerklärung für alle Kooperationspartner abge-
ben. Im Klartext müssen sich die Projektträger damit zur
Gesinnungsschnüffelei verpflichten – auch unter Zuhil-
fenahme von Verfassungsschutzberichten. Die Extremis-
musklausel soll keineswegs sicherstellen, dass staatliche
Gelder wirklich gegen Nazis verwendet werden. Das ist
sowieso der Fall. Sie soll aber sicherstellen, dass nur
solche Initiativen Gelder kriegen, die aus Sicht der
Bundesregierung und ihres Geheimdienstes brav und
harmlos sind. Dabei ist ja bekannt, wie schnell der Ver-
fassungsschutz ungerechtfertigte Vorwürfe gegen antifa-
schistische Gruppierungen erhebt: Die etwa im bayeri-
schen Verfassungsschutzbericht genannte Vereinigung
der Verfolgten des Naziregims – Bund der Antifaschis-
ten, VVN-BdA, oder die mehrfach ausgezeichnete Anti-
faschistische Informations-, Dokumentations- und Ar-
chivstelle A.I.D.A. in München dürften damit ebenso
wenig als Kooperationspartner herangezogen werden
wie Teile der Linkspartei, die in Verfassungsschutzbe-
richten als „extremistisch“ diffamiert werden. Ziel die-
ser Politik: Es soll sichergestellt werden, dass, wer auf
den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus
hinweist, nicht gefördert wird. Schon die bloße Koope-
ration mit antikapitalistischen Organisationen wird
sanktioniert. Die konservative Bundesregierung, die
kein höheres Ziel kennt, als die Interessen der Reichen
zu bedienen, will nur einen zahnlosen Antifaschismus

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


dulden, der keinem Kapitalisten wehtut. Es ist zu be-
fürchten, dass im vorauseilenden Gehorsam von einigen
Projekten Referenten gar nicht erst angefragt und brei-
ten antifaschistischen Bündnissen eine Absage erteilt
werden, um die eigene Förderung nicht zu gefährden.
Der nicht erst seit Bekanntwerden der Mordserie der
Naziterroristen des sogenannten Nationalsozialistischen
Untergrunds, NSU, so bitter notwendige Kampf gegen
Neofaschismus und Fremdenfeindlichkeit wird damit ge-
schwächt.

Das Alternative Kultur- und Bildungszentrum Sächsi-
sche Schweiz, AkuBiZ, hat sich standhaft geweigert, die
denunziatorische Klausel zu unterschreiben. Deshalb
wurden ihm vom Landkreis bereits bewilligte Gelder für
eine Flugschrift zum Gedenken an ein Außenlager des
KZ Flossenbürg in Königstein verweigert. Darin sah das
AKuBiZ zu Recht einen Verstoß gegen das grundgesetz-
liche Diskriminierungsverbot, wonach niemand auf-
grund seiner politischen Ansichten benachteiligt werden
dürfe. In den Augen des Dresdener Gerichts war diese
Verweigerung der Förderung „rechtswidrig“, weil es
erhebliche Einwände gegen den zweiten Teil der Klausel
gibt, der „nicht ausreichend bestimmt“ sei.

Wer hat denn nun den Boden der Verfassung verlas-
sen, Frau Schröder? Die antifaschistischen Initiativen,
die sich seit Jahren für Demokratie und Menschenrechte
engagieren? Oder Sie, die diese Initiativen mit der
Extremismusklausel zu kriminalisieren versuchen? Das
Dresdner Verwaltungsgericht hat uns die Antwort vorge-
legt.

Frau Schröder, streichen Sie die Extremismusklausel
sofort und ersatzlos. Machen Sie den Schaden, den Sie
bereits bei der Bekämpfung des Neofaschismus ange-
richtet haben, mit Ihrer ideologischen Verblendung nicht
noch größer. Antifaschistisches, bürgerschaftliches
Engagement gehört gefördert und nicht an Fußfesseln
gelegt!


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717835800

Die sogenannte Extremismusklausel behindert die

Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und ist eine
Beleidigung für aufrechte, mutige Akteure. Das haben
engagierte Initiativen von Anfang an betont, und das kri-
tisieren alle Oppositionsfraktionen im Bundestag.

Es gab verschiedene juristische Gutachten gegen die
Klausel und einen breiten Protest in Wissenschaft und
Zivilgesellschaft. Mehrfach haben wir im Plenarsaal des
Bundestages bereits über Sinn oder Unsinn dieser Klau-
sel gestritten; die Argumente sind also alle bekannt.

Doch inzwischen gibt es Neuigkeiten: Die Klausel ist
nicht nur abwegig und schikanös – sondern auch rechts-
widrig. Das erklärte das Dresdener Verwaltungsgericht
am 25. April, nachdem der Pirnaer Verein AKuBiZ e.V.,
mit dem Rückhalt vieler anderer Akteure, gegen die
Klausel geklagt hatte. Eine schriftliche Urteilsbegrün-
dung steht zwar noch aus, doch bereits in den mündli-
chen Ausführungen während der Verhandlung wurde
klar: Das Urteil ist für Ministerin Schröder eine Nieder-
lage. Die Klausel kann, zumindest in ihrer derzeitigen

Form, nicht bestehen bleiben. Das Gericht erläuterte
zur Rechtswidrigkeit, dass Forderungen, die sich auf
Dritte beziehen, zu unbestimmt formuliert seien.

Damit sind die besonders strittigen Passagen ge-
meint, mit denen Initiativen gezwungen werden sollen,
die Verfassungstreue ihrer Partner zu garantieren. So
sei beispielsweise unklar, wer überhaupt zu den „Part-
nern“ gezählt werden müsse und welches Verhalten von
den Initiativen konkret abverlangt würde.

Die Nötigung, Projektpartner bezüglich ihrer Gesin-
nung auszuspionieren, vergiftet das Miteinander in der
Arbeit gegen Rechts und bindet Ressourcen vor Ort, die
eigentlich der Projektarbeit zugute kommen sollen. Die
Rechtsunsicherheit und das gefühlte Misstrauen stellen
für die Zivilgesellschaft eine erhebliche Belastung dar.

Bündnis 90/Die Grünen begrüßen die kritische Ziel-
richtung des Urteils. Wir danken AKuBiZ e. V. und allen
anderen Mutigen, die sich von den staatlichen Krimina-
lisierungsversuchen nicht haben einschüchtern lassen,
sondern offensiv für unsere Demokratie einstehen.

Allerdings finden wir es traurig, dass in einer solchen
Frage überhaupt juristische Schritte unternommen wer-
den müssen, weil kein Konsens zwischen Staat und Zivil-
gesellschaft herstellbar war. Neben der formal-juristi-
schen Einschätzung ist uns daher auch der politische
Blick auf die Klausel wichtig. Natürlich lehnen wir jede
Gesinnungsschnüffelei kategorisch ab. Aber die erzwun-
gene schriftliche Bejahung der freiheitlich-demokrati-
schen Grundordnung halten wir ebenfalls für fragwür-
dig. Diese wurde auch bereits in einem Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom Ja-
nuar 2011 als grundgesetzwidrig problematisiert.

Demokratische Werte lassen sich nicht per Unter-
schrift in die Köpfe der Menschen pressen und veran-
kern. Wo immer eine Auseinandersetzung mit Haltungen
notwendig scheint, muss sie argumentativ geführt wer-
den. Die zahlreichen Untersuchungen zur gruppenbezo-
genen Menschenfeindlichkeit in der sogenannten Mitte
der Gesellschaft verdeutlichen: Wir müssen uns die
Mühe machen, zu überzeugen. Meinungsfreiheit muss
als hohes Gut geachtet und geschützt werden. Repres-
sion sollte eindeutigen Gefährdungslagen, zum Beispiel
bei tätlicher Gewaltausübung, vorbehalten bleiben.

Ein schriftliches Bekenntnis unterschreiben kann je-
der. Über die tatsächliche innere Überzeugung sagt das
nichts aus. Diese erkennt man am Handeln.

Und das Handeln der zivilgesellschaftlichen Initiati-
ven gegen Rechts ist vorbildlich. Sie zeigen tagtäglich
vor Ort, wie couragiert und entschlossen sie sich für un-
sere Demokratie einsetzen und rechten Schlägern und
Menschenfeinden entgegentreten. Hierfür brauchen sie
Anerkennung, Ermutigung und staatlichen Rückhalt.

Wie unverzichtbar eine starke Zivilgesellschaft ist,
wurde mit der rechten Terrorserie wieder einmal deut-
lich. Deshalb forderte der ganze Bundestag im Novem-
ber 2011 in einer gemeinsamen Entschließung auch eine
Prüfung, wo dem Engagement demokratischer Gruppen
gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und

Zu Protokoll gegebene Reden





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)


Antisemitismus Hindernisse entgegenstehen. Die Klau-
sel zählt zu diesen Hindernissen, die es aus dem Weg zu
räumen gilt.

Anderthalb Jahre blendet Ministerin Schröder die
zahlreichen berechtigten Einwände aus. Es ist zu hoffen,
dass ihre Lernresistenz endlich bröckelt – oder sie zu-
mindest die Rechtsprechung unseres Landes respektiert.
Allerdings scheint ihre Intention, wie ich hörte, in eine
andere Richtung zu gehen: Ihr Ministerium hat die geg-
nerische Partei von AKuBiZ e. V., den Landkreis Sächsi-
sche Schweiz-Osterzgebirge, massiv unter Druck ge-
setzt, unbedingt in die Berufung zu gehen. Repression
scheint Frau Schröders Politikansatz schlechthin zu
sein.

Die Ministerin sollte das Urteil zum Anlass nehmen,
über bessere Rahmenbedingungen für zivilgesellschaft-
lich Engagierte nachzudenken. Ihr bietet sich jetzt die
Chance, ein Zeichen zu setzen, um das Vertrauen der
Zivilgesellschaft zurückzugewinnen und die Zusammen-
arbeit aller Demokratinnen und Demokraten in kon-
struktiver Weise zu fördern.

Wir erwarten drei Dinge von Frau Schröder:

Erstens. Entschuldigen Sie sich bei den Initiativen für
die Misstrauensunkultur, die Sie geschürt haben!

Zweitens. Streichen Sie die unsägliche Klausel umge-
hend – und zwar ersatzlos! Demokratische Bündnisse
gegen rechtsextreme Verfassungsfeinde gedeihen nur auf
der Basis von Vertrauen.

Drittens. Passen Sie Ihr Bundesprogramm gegen den
sogenannten Extremismus den Realitäten in unserem
Land an! Wir brauchen ein 50-Millionen-Euro-Pro-
gramm gegen alle Formen gruppenbezogener Men-
schenfeindlichkeit. Es muss ehrenamtlichen Projekten
einen direkten, unbürokratischen Zugang ermöglichen
sowie eine dauerhafte Strukturförderung für bewährte
Initiativen sichern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717835900

Es wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache

17/9558 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 27:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Umfassende Teilhabe am Sport für Menschen
mit Behinderung ermöglichen – UN-Behinder-
tenrechtskonvention umsetzen

– Drucksache 17/9190 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1717836000

Ich freue mich sehr, heute zur Teilhabe am Sport von

Menschen mit Behinderungen in Deutschland und zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention spre-
chen zu können. Zeigt doch das gestiegene Interesse am
Behindertensport allgemein wie auch die umfangreichen
Maßnahmen der Bundesregierung zusammen mit dem
Deutschen Behindertensportverband sowie anderen
Partnern, wie positiv sich dieser Bereich bisher entwi-
ckelt hat.

Am 29. August 2012 werden in London die XIV. Para-
lympischen Sommerspiele eröffnet. Damit richtet sich
der internationale Fokus erneut auf den Sport von Men-
schen mit Behinderungen. Seit den Olympischen Spielen
in Peking 2008 kann man von einer positiven Zeiten-
wende sprechen, was sich nicht nur am stärkeren öffent-
lichen und medialen Interesse zeigt. Auch die Paralym-
pics in London 2012 werden uns vor Augen führen, mit
wie viel Leistungswillen, Leidenschaft und Fairplay die
Athleten für ihre Sache eintreten. Dabei reicht die
Strahlkraft des Leistungssports von Menschen mit Be-
hinderungen weit über die nationalen Grenzen und weit
über die einzelnen Platzierungen bei den Wettbewerben
hinaus. Das Filmprojekt „Du bist GOLD“ zeigt im Vor-
feld der Paralympics die Geschichte dreier herausra-
gender Athleten und unverwechselbarer Persönlichkei-
ten, die ihre Tragödie zum Triumph gewendet haben. Die
Athleten zeigen, „dass Gold ist, immer wenn dein Wille
dein Weg bestimmt und immer wenn du niemals dein Ziel
aus den Augen verlierst“. Die Dokumentation bringt
zum Ausdruck, wie Leistungen von Menschen mit Handi-
cap für ein selbstbestimmtes Leben stehen. Der Sport
von Menschen mit Behinderungen bedeutet, „dass du
mehr kannst, als du denkst und dass dein Leben das ist,
was du daraus machst“!

Dabei unterstützt die Bundesregierung den Behinder-
tensport und diese lebensbejahende Botschaft und Le-
benseinstellung nicht nur bei internationalen Großsport-
ereignissen wie den Paralympischen Sommer- und
Winterspielen. So fördert das Bundesministerium des In-
nern, BMI, in Höhe von 200 000 Euro den Bundeswettbe-
werb „Jugend trainiert für Paralympics“, der morgen,
11. bis 13. Mai 2012, in Kienbaum bei Berlin erstmals
stattfinden wird. In Blick auf die Talentfindung und -för-
derung für Menschen mit Behinderung im Breiten- oder
Leistungssportbereich liegt die Kompetenz grundsätzlich
bei den Bundesländern. Das BMI beteiligt sich aber an
dem Bundeswettbewerb im Rahmen der Nachwuchsge-
winnung für den Leistungssport der Menschen mit Behin-
derung. Zusammen mit der Deutschen Schulsportstif-
tung, dem Deutschen Behindertensportverband sowie
weiteren wichtigen Partnern aus Politik und Wirtschaft
setzt man hier ein wichtiges Zeichen – allen voran in Ver-
bindung zur Inklusion.





Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)


Die Diskussion um die Förderung des Behinderten-
sports in Deutschland und die Umsetzung der UN-Be-
hindertenrechtskonvention ist zu wichtig, um daraus
eine parteipolitische Debatte zu machen. Deshalb
möchte ich im Folgenden auch nicht die einzelnen For-
derungspunkte in dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit zahllosen Gegenbeispielen entkräften oder die Ini-
tiatoren über zuwendungsrechtliche Bestimmungen bzw.
Kompetenzbereiche des Bundes aufklären. Die vielfälti-
gen Maßnahmen und Programme der Bundesregierung
sprechen meines Erachtens deutlich dafür, dass uns der
Behindertensport und die UN-Behindertenrechtskon-
vention ein wichtiges Anliegen sind und uns die sport-
treibenden Menschen mit und ohne Handicap am Her-
zen liegen.

So hat am 15. Juni 2011 die Bundesregierung den Na-
tionalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behinder-
tenrechtskonvention beschlossen. Der Sport spielt bei
dem Übereinkommen – neben vielen anderen bedeuten-
den Feldern – eine wichtige Rolle. In Hinblick auf die
Umsetzung in Deutschland sowie deren Förderung
durch die Bundesregierung ist jedoch zu beachten, dass
grundsätzlich der Bund für den Spitzensport und die
Bundesländer für den Breitensport zuständig ist. Auch
ist bezüglich des Zeitrahmens vorweg zu unterstreichen,
dass mit der Umsetzung des Übereinkommens ein Zeit-
horizont von zehn Jahren verbunden ist. Dementspre-
chend sind wir in der Startphase und noch lange nicht
am Ziel, gleichwohl wir – gerade im internationalen
Vergleich – schon viele kräftige Schritte gemacht haben.
Daran anschließend haben wir uns in der Sitzung des
Sportausschusses am 26. Oktober 2011 intensiv mit der
Thematik befasst, um den aktuellen Stand zu erfahren
und uns für die weitere Entwicklung starkzumachen.

Der Leistungssport der Menschen mit Behinderungen
wird nach dem Leistungssportprogramm des Bundes-
ministeriums des Innern, BMI, schon bereits seit 2005
nach den gleichen Kriterien gefördert wie der Spitzen-
sport der Nichtbehinderten. Hierunter fallen zum Bei-
spiel die Förderung des Leistungssportpersonals und
der Sportjahresplanungen der Behindertensportver-
bände. Die spezifischen Belange der Menschen mit Be-
hinderung werden insofern bereits berücksichtigt. Eine
Gleichbehandlung spiegelt sich auch in der Höhe der
Haushaltsmittel wider: Der Deutsche Behindertensport-
verband, DBS, der Deutsche Gehörlosen-Sportverband,
DBSB, und Special Olympics Deutschland, SOD, wer-
den mit insgesamt circa 5 Millionen Euro jährlich unter-
stützt. Laut dem Vorbericht des Beauftragten der Bun-
desregierung für die Belange behinderter Menschen
zum Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechts-
konvention im Sportbereich sind die konkreten Maßnah-
men einzelner Sportverbände wie auch jene des Deut-
schen Olympischen Sportbundes, DOSB, ausdrücklich
zu würdigen. Natürlich haben wir, wie bereits deutlich
gemacht, noch lange nicht die Zielmarke erreicht, die
wir uns wünschen und für die wir uns auch weiterhin
einsetzen werden.

An dieser Stelle sei aber auch einmal angemerkt, dass
gerade im Blick auf den behindertengerechten Ausbau
von Sportstätten und der Infrastruktur im Allgemeinen

es nicht allein nur um Sportlerinnen und Sportler geht.
Mit Blick in die Zukunft werden die Verbindungslinien
zum demografischen Wandel und den sich wandelnden
Bedürfnissen einer zunehmend älter werdenden Gesell-
schaft deutlich. Mit dem Wandel sind ganz allgemein
veränderte Anforderungen an die Infrastruktur ver-
knüpft. Der Sport kann – zum Beispiel durch die Austra-
gung von Großsportereignissen – hierbei übrigens als
ein Entwicklungsmotor und Beschleuniger für Moderni-
sierungen dienen. Die leider gescheiterte Bewerbung
um die Austragung der Olympischen Winterspiele 2018
hat deutlich gemacht, welches Potenzial die Spiele für
die Region und Deutschland insgesamt hinsichtlich ei-
ner Modernisierung gehabt hätten.

Zusammen mit den Bundesländern sowie dem Bun-
desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
BMVBS, werden sukzessiv die durch den Bund geförder-
ten Sportanlagen hinsichtlich der Herstellung der Barri-
erefreiheit modernisiert. Im Rahmen des Konjunkturpa-
kets II konnte die Infrastruktur des Spitzen- und
Breitensports über die bisherigen Möglichkeiten hinaus
gefördert werden. Laut dem 12. Sportbericht der Bun-
desregierung stellte das Bundesministerium des Innern
speziell für den Spitzensport für die Jahre 2009 und
2010 weitere 10 Millionen Euro zur Verfügung, wovon
rund 6,6 Millionen Euro dem Sportstättenbau zuguteka-
men. Ein bundesweites Sportstätten-Sanierungspro-
gramm ist aber aufgrund der Kompetenzverteilung zwi-
schen Bund und Ländern und auch in Blick auf die
derzeitige Haushaltskonsolidierung nicht möglich. Wie
bereits beschrieben, unterstützt das BMVBS im Rahmen
des Möglichen diverse Maßnahmen zur Herstellung der
Barrierefreiheit bei Sportstätten, deren Modernisierung
bzw. Sanierung in Gebieten der Städtebauförderung üb-
rigens ebenso förderfähig ist. Ergänzend sei darauf hin-
gewiesen, dass laut Beschluss der 137. Sportreferenten-
konferenz die „AG Sportstätten“ der Länder derzeit
damit beauftragt ist, den tatsächlichen Bedarf an Sport-
stättensanierung – die grundsätzlich in der Zuständig-
keit der Bundesländer liegt – festzustellen.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales,
BMAS, und das Bundesministerium für Gesundheit,
BMG, haben sich in der Vergangenheit für Sportange-
bote der Krankenkassen, Rentenversicherungsträger
und Unfallkassen starkgemacht. Die personelle Ausstat-
tung für den Leistungssport behinderter Sportler wurde
seit 2008 stetig aufgebaut. Die „duale Karriere“ von
Leistungssport und beruflicher Entwicklung behinderter
Sportler wurde auf Initiative des BMI und des Bundes-
ministeriums der Finanzen, BMF, durch den neu ge-
schaffenen, ressortübergreifenden Stellenpool bei Bun-
desbehörden maßgeblich vorangebracht. Durch die
Besetzung bzw. schnelle Überführung in reguläre Plan-
stellen können nun sogar freie Plätze neu genutzt wer-
den. An dieser Stelle sei auch einmal der Leitung und
den Mitarbeitern der verschiedenen Bundesministerien
und den nachgeordneten Behörden für ihren persönli-
chen Einsatz gedankt. Eine Herausforderung stellt hier-
bei nicht nur die Stellenschaffung dar, sondern vor allem
das Bereitstellen einer Stelle, die den zeitlichen, örtli-
chen, sozialen Bedingungen und Anforderungen in Hin-

Zu Protokoll gegebene Reden





Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)


blick auf die jeweilige Behinderung gerecht wird. Über-
geordnet unterstützt die Bundesregierung zudem das
ehrenamtliche Engagement im Sportverein, nicht zuletzt
durch Bürokratieabbau und die Schaffung rechtlicher
Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel steuerlicher,
vereins- und haftungsrechtlicher Regelungen.

Liebe Sportlerinnen und Sportler mit und ohne Handi-
cap, ich könnte die Erläuterungen noch um viele interes-
sante und innovative Punkte ergänzen, die unser Enga-
gement für und um den Behindertensport und in Hinblick
auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
untermauern. Doch lassen Sie mich abschließend noch
mal auf das am Anfang genannte Filmprojekt – „Du bist
GOLD“ – hinweisen. Du und – vor dem Hintergrund der
Inklusion – wir sind zusammen „Gold“, wenn immer
unser gemeinsamer Wille den Weg bestimmt und wir –
beim Thema Behindertensport – unser Ziel nicht aus
den Augen verlieren. Nach diesem Motto wird sich die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch weiterhin kraftvoll
dafür einsetzen, sportliche Leistungen von Menschen
mit Handicap mit Blick auf ein selbstbestimmtes Leben
zu unterstützen. Der Sport in Deutschland von Men-
schen mit und ohne Behinderung bedeutet, dass du mehr
kannst, als du denkst, und dass dein Leben das ist, was
du daraus machst!


Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1717836100

Ihrem Lob für die Entwicklung des Behindertensports

in Deutschland und für die herausragende Bedeutung
der Verbände für den Breitensport kann ich mich nur an-
schließen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion die Linke. Sie haben recht: Die Erfolge der
deutschen Sportlerinnen und Sportler im Spitzensport,
bei den Paralympischen Spielen, sind bemerkenswert.
Ich stimme Ihnen auch zu, was die Bedeutung von Sport
für das Wohlbefinden und vor allem für die Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen angeht.

Sport trägt dazu bei, die Lebensqualität von Men-
schen mit Behinderungen zu verbessern. Er erhält und
steigert die Leistungsfähigkeit und weckt Selbstver-
trauen. Durch die Begegnung der Menschen mit Behin-
derung untereinander und mit Nichtbehinderten leistet
der Sport einen wichtigen Beitrag zu der von uns ange-
strebten Inklusion, also zu der umfassenden Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der
Gesellschaft. Spitzensportlerinnen und -sportler mit Be-
hinderung machen mit ihren außergewöhnlichen Leis-
tungen anderen Menschen mit Behinderung Mut, den
Weg zum Sport zu finden und ihr Leben aktiv zu gestal-
ten.

Die christlich-liberale Koalition setzt sich dafür ein,
dass Menschen mit Behinderungen an allen Bereichen
des gesellschaftlichen Lebens teilhaben können. Das ha-
ben wir auch im Koalitionsvertrag verankert. Menschen
sind nicht behindert, sondern sie werden behindert –
und wir sorgen dafür, dass die Hindernisse abgebaut
werden. Das ist unser Ziel. Wir sind auf einem guten
Weg zur barrierefreien Gesellschaft. Auch im Sport.

Das gilt ebenso für den Spitzensport wie auch für den
Breitensport. In Bezug auf die Förderung durch die Bun-

desregierung ist jedoch zu beachten, dass der Bund für
den Spitzensport zuständig ist und die Länder für den
Breitensport. Deshalb sind diese Punkte ebenso die For-
derungen, die den Bereich Schul- und Hochschulsport
betreffen, an dieser Stelle fehl am Platz. Die Forderun-
gen in Ihrem Antrag sind ohnehin vor allem eins: über-
holt. Sie verlangen etwas, woran wir schon lange arbei-
ten.

Am 15. Juni 2011 hat die Bundesregierung den Natio-
nalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention beschlossen, in der der Sport eine
wichtige Rolle spielt. Das Zeitfenster für die Umsetzung
beträgt 10 Jahre. Wir sind längst aus den Startblöcken
gestartet. Es wird aber natürlich noch etwas dauern, bis
wir die Zielgerade erreichen und alle Punkte umgesetzt
haben.

Wir haben auf unserem Weg schon viele Erfolge er-
zielt, unter anderem: Der Leistungssport von Menschen
mit Behinderung wird durch das Bundesministerium des
Innern nach den gleichen Kriterien gefördert wie der
Spitzensport der Nichtbehinderten. Das Bundesministe-
rium des Innern unterstützt die Bemühungen der Behin-
dertensportverbände, die Betreuung von Leistungssport-
lerinnen und -sportlern mit Behinderung zu verbessern.
Sportanlagen werden hinsichtlich der Herstellung der
Barrierefreiheit modernisiert. Die „Duale Karriere“
von Leistungssport und beruflicher Entwicklung behin-
derter Sportler wurde vorangebracht.

Auch die Maßnahmen, die Sie von der Bundesregie-
rung zum Bewusstseinswandel in der Gesellschaft for-
dern, sind überholt. Der Bewusstseinswandel findet
statt. Inklusion ist nicht nur Thema, sondern auch Reali-
tät. Es gibt beeindruckende Beispiele von Inklusion im
Bereich des Sports: Denken Sie an den südafrikanischen
Sprinter Oscar Pistorius, der gemeinsam mit Jason
Smyth der erste Sportler mit Behinderung überhaupt ist,

(der Nichtbehinderten!)

sich selbst auch nicht als behindert, sondern als „ohne
Beine“.

Ein Beispiel aus Deutschland: Im Februar dieses
Jahres wurde der „Große Stern des Sports“ in Berlin
von unserer Bundeskanzlerin verliehen. Es ist eine Aus-
zeichnung des Deutschen Olympischen Sportbunds und
der Volks- und Raiffeisenbanken für soziales Engage-
ment von Sportvereinen. Dabei ist deutlich geworden,
dass Inklusion kein Randthema ist. Für die meisten der
18 Preisträger sind Konzepte zur Inklusion von Men-
schen mit Behinderung eine Selbstverständlichkeit.

Auch die Zahlen vom Deutschen Behindertensport-
verband belegen, dass der Behindertensport in Deutsch-
land eine große Rolle spielt: Der Deutsche Behinderten-
sportverband hat weit mehr als 600 000 Mitglieder in
über 5 800 Vereinen. Über 31 000 lizenzierte Übungslei-
terinnen und Übungsleiter sowie 100 000 ehrenamtliche
Vereinsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter sind für den
DBS tätig. Die hohe Mitgliederzahl des Deutschen Be-
hindertensportverbands, seine Funktion als Nationales
Paralympisches Komitee für Deutschland und seine

Zu Protokoll gegebene Reden





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)


Konzepte für die Jugend sorgen für eine breite Wirkung
und Bekanntheit in der ganzen Gesellschaft.

Auch durch die starke Medienpräsenz während der
Paralympischen Winter- und Sommerspiele rückt das
Thema Behindertensport in den Fokus der Öffentlich-
keit.

In Ihrem Antrag finden sich auch ganz absurde Ein-
wände, zum Beispiel dieser: „Im Vergleich zu Menschen
ohne Behinderung betreiben Menschen mit Behinderung
prozentual weniger Sport.“ Erwarten Sie etwa, dass wir
behinderten Menschen Sport per Gesetz verordnen? Was
der Gesetzgeber tun kann und tun muss, ist, Menschen
mit Behinderungen zu ermöglichen, Sport zu treiben.
Der Vergleich zwischen dem sportlichen Engagement
von Menschen mit und ohne Behinderung kann doch im
Ernst kein sinnvoller Indikator für den barrierefreien
Zugang zum Sport sein.

Wir müssen die Rahmenbedingungen für die Teilhabe
schaffen. Und das tun wir: Wir ermöglichen Menschen
mit Behinderung die gleichberechtigte Teilnahme in al-
len Lebensbereichen, und zwar nicht, weil es Gesetz ist,
sondern weil es eine Selbstverständlichkeit ist.


Sabine Bätzing (SPD):
Rede ID: ID1717836200

Menschen sind unterschiedlich. Jeder Mensch verfügt

über andere Stärken und Schwächen. Trotzdem gelingt
es uns, in unserer Gesellschaft, trotz all der Unter-
schiede, miteinander zu leben. Das liegt nicht zuletzt
auch daran, wie wir politische Willensbildung organi-
sieren. Oder, um es mit Gandhi zu sagen: „Unter Demo-
kratie verstehe ich, dass sie dem Schwächsten die glei-
chen Chancen einräumt wie dem Stärksten.“

Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion ha-
ben einen Antrag vorgestellt, in dem gute Punkte ange-
sprochen werden. Wir sind, nicht nur im Sport, noch weit
davon entfernt, allen Menschen in unserer Gesellschaft
wirklich gleiche Chancen zu bieten.

Menschen mit Behinderung haben weniger Möglich-
keiten, Sport zu treiben. Vereine und Sportstätten sind oft
nicht darauf eingestellt, ihnen dies zu ermöglichen, da
sie wahrscheinlich zu Zeiten gebaut wurden, als behin-
derte Menschen noch nicht „gesellschaftsfähig“ waren,
als die Behinderung anstatt des Menschen wahrgenom-
men wurde.

Richtig ist auch, dass Sport im Bereich der Rehabili-
tationsarbeit, gerade für Menschen mit Behinderung,
wichtig und notwendig ist und dass entsprechende Ange-
bote oft nicht vorhanden oder – und den Begriff ver-
wende ich durchaus bewusst im doppelten Wortsinn – zu
hochschwellig sind.

Richtig ist zudem auch, dass sowohl in der UN-Behin-
dertenrechtskonvention als auch im Nationalen Aktions-
plan der Bundesregierung der Bereich Sport peinlich
kurz abgehandelt wird. Und selbst diese wenigen Maß-
nahmen warten noch auf vollständige Umsetzung.

Diese Missstände sorgen dafür, dass unsere Gesell-
schaft als Ganzes durch den Ausschluss von wenigen ein
Verlust an Gerechtigkeit erfährt.

Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, stellen einen
ausführlichen Katalog an Forderungen an die Bundes-
regierung auf, wie all diese Missstände zu beheben
seien. Vieles davon stößt auch bei uns auf offene Ohren,
nicht nur deshalb, weil wir die Handschrift des Deut-
schen Behindertensportverbandes wiedererkennen, mit
dem auch wir schon lange zusammenarbeiten – etwa bei
der Forderung nach konsequenter Umsetzung von Kon-
vention und Aktionsplan oder der Forderung nach Wei-
terentwicklung des Aktionsplans im Sportbereich oder
auch der Forderung, die Spitzensportförderprogramme
des Bundes besser für Sportlerinnen und Sportler mit
Behinderung zugänglich zu machen und diesen wie de-
ren nichtbehinderten Kolleginnen und Kollegen duale
Karrieren zu ermöglichen.

Auch Ihre Forderung, den inklusiven Umgang mit be-
hinderten Menschen in Lehramtsstudiengängen zum
verpflichtenden Teil zu machen, finden wir unterstüt-
zenswert. Damit erhielten mehr Menschen das ihnen zu-
stehende Maß an Gerechtigkeit und die Chancen, die sie
benötigen.

In manchen Bereichen sehen wir allerdings noch
Raum für Diskussionen und für Verbesserungen, etwa
hinsichtlich des von Ihnen vorgeschlagenen Sanierungs-
programms von Sportstätten. Natürlich ist dies notwen-
dig und sinnvoll. Allerdings fielen die Kosten hierfür
wahrscheinlich hauptsächlich den Kommunen zu, die
ohnehin bereits heute mehr Aufgaben zu tragen haben,
als sie finanziell zu erfüllen in der Lage sind. Oder bei
Ihrer Forderung, den Breitensport stärker bei der För-
derung zu berücksichtigen. Dies ist ureigene Aufgabe
der Länder. An diesen Stellen müssen wir auf Bundes-
ebene aufpassen, dass wir uns im Namen von Gerechtig-
keit nichts Fremdes anmaßen.

Bei einer Reihe Ihrer Forderungen bleiben Sie zudem
bedauerlicherweise unkonkret und symbolisch, etwa in
Ihrer Forderung nach Unterstützung des Ehrenamtes
von Menschen mit Behinderung. Klingt sehr gut, ist aber
leider wenig greifbar. Oder bei der Forderung, die „Be-
deutung des Sports von und für Menschen mit Behinde-
rung in der Öffentlichkeit stärker zu würdigen“. Das ist
sicher wichtig, aber mit ein paar Beispielen wäre Ihrem
Antrag an dieser Stelle auch gut gedient gewesen. Im-
merhin adressieren Sie mit Ihren Forderungen die Bun-
desregierung; da kann man ruhig spezifischere Forde-
rungen aufstellen.

Aber verstehen Sie die hier aufgeführten Kritikpunkte
bitte nicht als Ablehnung. Sie haben ein wichtiges
Thema angesprochen und auf bestehende Mängel hinge-
wiesen, die wir ähnlich sehen. Sie sprechen ein Thema
an, das seinen Platz auf der Tagesordnung des Bundes-
tages verdient hat und in dem wir bei vielen Punkten ei-
ner Meinung sind. Inklusion von Menschen mit Behinde-
rung ist eine Aufgabe, der sich unsere Gesellschaft auf
allen Ebenen stellen muss.

Wir freuen uns darauf, in den Ausschüssen gemein-
sam an Ihrem Antrag zu arbeiten und so für mehr
Menschen Chancen zu schaffen, ihre Potenziale auszu-
schöpfen, für mehr Sportlerinnen und Sportler mit Be-
hinderungen Möglichkeiten zu schaffen, auf den Spiel-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sabine Bätzing-Lichtenthäler


(A) (C)



(D)(B)


feldern an ihre Grenzen zu stoßen, nicht schon auf dem
Weg dorthin, und für unsere gesamte Gesellschaft etwas
mehr Gerechtigkeit zu schaffen und Chancen etwas
gleichmäßiger zu verteilen.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1717836300

Wir Liberalen bekennen uns uneingeschränkt zu der

UN-Behindertenrechtskonvention und setzen uns für ein
freies und selbstbestimmtes Leben ohne Diskriminierung
für Menschen mit Behinderung ein. Aus diesem Grund
begrüßen wir, dass die Linke mit ihrem Antrag auf die
noch immer bestehenden Benachteiligungen geistig und
körperlich behinderter Menschen in unserem Land hin-
weist. Insbesondere mit Blick auf die im Sommer in Lon-
don stattfindenden Olympischen und Paralympischen
Spiele freut es mich besonders, dass dieses Thema heute
im Plenum debattiert wird.

Sport, der Menschen verschiedenster Kulturen mitei-
nander verbindet und innerhalb der Gesellschaft Inte-
gration fördert, indem er Toleranz, Respekt und Fair-
ness vermittelt, erreicht dies noch viel intensiver bei be-
hinderten Menschen.

Die Teilnahme behinderter Menschen an sportlichen
Großereignissen, das Aufzeigen, dass auch behinderte
Menschen Höchstleistungen erbringen und stolz auf ihre
Leistung sind, hat maßgeblich zum Wandel im Umgang
mit behinderten Menschen in unserer Gesellschaft bei-
getragen. Fernsehsender zeigen zunehmend längere
Beiträge über die Wettbewerbe, und die deutsche Bevöl-
kerung feuert die behinderten Sportler an.

Die Unterstützung der Leistungssportler mit Behin-
derung hat einen Prozess ins Rollen gebracht, der aus
meiner Sicht allen behinderten Menschen, ob Sport trei-
bend oder nicht, geholfen hat und ihr Ansehen und ihre
Wertschätzung in der Gesellschaft weiter stärkt.
Deutschland ist hier auf einem guten Weg.

Wünschenswert wäre, dass auch Sponsoren den Wert
der behinderten Leistungssportler erkennen und ihnen
bessere Verträge anbieten, um ihr finanzielle Situation
zu stärken. Auch müssen die Verbände reagieren und auf
den Sport von behinderten Menschen aufmerksam ma-
chen, damit mehr Menschen mit Behinderung zum Sport
finden und ein größerer Teil der Bevölkerung den Sport,
auch im Ehrenamt, unterstützt.

Ich möchte auch an das Internationale Olympische
Komitee appellieren, zu überlegen, ob in Zukunft die Pa-
ralympischen Spiele nicht direkt im Anschluss an die
Olympischen Spiele stattfinden könnten. Dies würde das
Interesse an den Paralympischen Spielen sicherlich ver-
größern.

Wir hoffen sehr, dass die Debatte einmal mehr die
Aufmerksamkeit auf die behinderten Sport- und Leis-
tungssporttreibenden in unserer Gesellschaft lenkt und
sich dadurch das Verhalten gegenüber behinderten Men-
schen verbessert und die gesellschaftliche Anerkennung
zunimmt.

Die von der Linken im Antrag geforderten Initiativen
betreffen insbesondere Verbände, Vereine und die Län-
der, die hier durch ihre räumliche Nähe sehr viel besser

als die Bundesregierung die Integration von behinder-
ten Menschen in den Sport sowie die Gewährung von
Barrierefreiheit in Sportstätten und Stadien voranbrin-
gen kann. Die Forderungen an Fernsehen und Sponso-
ren sind berechtigt, können jedoch nur von diesen und
nicht durch die Bundesregierung umgesetzt werden. Für
den Großteil der – teilweise berechtigten – Forderung
der Linken muss daher festgestellt werden, dass sie den
falschen Adressaten haben. Meine Fraktion wird diesen
Antrag daher ablehnen.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717836400

In 111 Tagen beginnen die Paralympischen Sommer-

spiele in London. Ich freue mich darauf, wenn unsere
Athletinnen und Athleten an den Start gehen und Men-
schen auf der ganzen Welt ihnen zujubeln. Ich freue mich
besonders darüber, dass auch das Medieninteresse ge-
wachsen ist und es deutlich mehr Übertragungszeit im
Fernsehen geben wird als in der Vergangenheit. Mit den
diesjährigen Paralympischen Spielen geht es zurück zu
den Wurzeln des Behindertensports. 1948 fanden in der
Nähe von London erstmals die „Stoke Mandeville
Games“ statt, eine Sportveranstaltung für Kriegsver-
sehrte.

Die Entwicklung seitdem kann sich sehen lassen. Ne-
ben den Paralympischen Sommer- und Winterspielen
gibt es unter anderem noch die Deaflympics für gehör-
lose Menschen sowie die Special Olympics für Men-
schen mit sogenannter geistiger Behinderung. Die Spe-
cial Olympics National Summer Games beginnen in
wenigen Tagen in München. Der Deutsche Behinderten-
sportverband e. V. verzeichnet nunmehr nach 60-jähri-
gem Bestehen 600 000 Mitglieder. Sport von Menschen
mit Behinderungen wird auch in der Öffentlichkeit end-
lich als Sport wahrgenommen

Wir sind auf einem guten Weg, aber es muss noch viel
getan werden. Seit März 2009 ist die UN-Behinderten-
rechtskonvention für Deutschland verbindlich. Men-
schen mit Behinderungen müssen die Möglichkeit
bekommen, gleichberechtigt an Sportangeboten teilzu-
haben. Sie sollen die freie Wahl haben, ob sie Sport im
Freizeit- oder Leistungsbereich ausüben wollen.

In der Realität ist dies leider nicht immer gewährleis-
tet. Spitzensportlerinnen und Spitzensportler mit Be-
hinderungen haben faktisch nicht die gleichen Voraus-
setzungen wie ihre Kolleginnen und Kollegen ohne
Behinderung, obwohl das Leistungssportprogramm der
Bundesregierung eine Gleichbehandlung vorsieht. Die
Prämien für Medaillen bei Paralympischen Spielen sind
niedriger als bei Olympischen Spielen, und für Europa-
und Weltmeisterschaften gibt es gar keine Prämie. In ei-
nigen Olympiastützpunkten gibt es Stufen und zu
schmale Durchgänge, sodass Rollstuhlfahrerinnen und
-fahrer nicht barrierefrei trainieren können. Das sollen
an dieser Stelle nur einige der Punkte sein, bei denen
Handlungsbedarf im Leistungssportbereich besteht.

Große Probleme gibt es auch im Nachwuchs- und
Breitensport. Häufig fehlt das Bewusstsein für die Be-
deutung des Sports. Eltern, Lehrerinnen und Lehrern,
aber auch Medizinerinnen und Medizinern muss deut-
lich gemacht werden, dass Sport das Wohlbefinden von

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)


Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen steigern
kann. Er stärkt das Selbstvertrauen und kann dazu bei-
tragen, Unfall oder Krankheit, die zu der Behinderung
geführt haben, besser zu verarbeiten. Häufig erlebt man,
dass Kinder, die erst irgendwann nach der Geburt eine
Behinderung davontragen, zunächst einfach eine Sport-
befreiung bekommen. Sie werden damit jedoch noch
stärker aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen, da sie
von ihren Schulfreundinnen und Schulfreunden ausge-
grenzt werden. Dadurch entsteht erst recht das Stigma
des Andersseins.

Ich glaube, gerade Kindern kann man beim Umgang
mit Menschen mit Behinderungen mehr zutrauen als uns
Erwachsenen. Hier und da können wir sicher noch von
ihnen lernen! Kinder haben noch keine Vorurteile und
erworbene Berührungsängste. Vielmehr gehen sie offen
und neugierig aufeinander zu. Hier liegt ein großes
Potenzial für die gesamte Gesellschaft. Der Bewusst-
seinswandel, wie er häufig gefordert wird, ist ein lang-
fristiger Prozess, und wir müssen heute bei den Jüngsten
anfangen.

Medizinerinnen und Mediziner sollten über Sport-
angebote in der direkten Umgebung informiert sein. So
können sie den Eltern von Kindern mit Behinderungen
eine erste Information mit auf den Weg geben. Eine noch
größere Rolle spielt die Schule. Kinder mit Behinderung
sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten unbedingt am
Schulsport teilnehmen. Gerade in Schulen mit überwie-
gend Schülerinnen und Schülern ohne Behinderung
muss es Konzepte für gemeinsamen Sportunterricht ge-
ben. Dies setzt jedoch voraus, dass Lehrerinnen und
Lehrer auch entsprechend ausgebildet sind. Sie brau-
chen qualifiziertes Wissen für den Umgang mit Men-
schen mit Behinderungen. Dieses Wissen sollen sie im
Rahmen ihres Studiums verpflichtend erwerben. Bloße
freiwillige Zusatzqualifikationen reichen meiner Mei-
nung nach nicht aus. Auch Trainerinnen und Trainer in
allgemeinen Sportvereinen brauchen entsprechende
Qualifikationen.

Gemeinsame Projekte oder Sportveranstaltungen in
Schule oder Verein tragen dazu bei, dass Inklusion aktiv
gelebt wird. Nur auf diese Weise kann sichergestellt wer-
den, dass es auch künftig ausreichend Nachwuchs für
den Spitzensport geben wird. Ohne Breitensport gibt es
langfristig keinen Spitzensport!

Eine gelungene Veranstaltung für Nachwuchsathle-
tinnen und -athleten ist „Jugend trainiert für Paralym-
pics“. Diese findet ab morgen wieder in Kienbaum statt.
Aber auch hier zeigt sich, dass nicht alles Gold ist, was
glänzt. Da es sich um einen Schulsportwettbewerb han-
delt, können Schülerinnen und Schüler mit Behinderung,
die keine Förderschule besuchen, nicht an diesem Wett-
bewerb teilnehmen.

Sie sehen, es gibt viel zu tun! Mit unserem Antrag
wollen wir den guten Weg etwas schneller voranschrei-
ten. Geht nicht gibt’s nicht! Ich fordere Sie auf, den Ver-
pflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention
nachzukommen. Stimmen Sie unserem Antrag zu.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717836500

Für den Sport gelten dieselben Ziele, wie sie aus zahl-

reichen anderen Bereichen der Politik von und für Men-
schen mit Behinderungen bekannt sind: Selbstbestim-
mung, Teilhabe, Barrierefreiheit, Gleichberechtigung,
Bewusstseinswandel, Inklusion und Verbesserung der
Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger.

Leider stehen diese Ziele selten in Mittelpunkt, wenn
es medienwirksam um Sport behinderter Menschen geht.
Häufig liegt der Schwerpunkt eher auf den Paralympics.
Mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen mit
Behinderungen hat das allerdings wenig zu tun. Hier
spielen der Schulsport, der Sport im Sportverein um die
Ecke und der Rehabilitationssport eine sehr viel größere
Rolle. Und hier gibt es viel zu tun. Wir sind noch weit
entfernt von einer Situation, in der Menschen mit Behin-
derungen selbstverständlich mit nichtbehinderten Men-
schen zusammen Sport treiben können. Viel zu selten
sind Sportstätten barrierefrei. Dass Trainerinnen und
Trainer dazu ausgebildet sind, behinderte und nichtbe-
hinderte Menschen gemeinsam zu trainieren, ist eben-
falls nicht die Regel.

Sportangebote für Menschen mit Behinderungen flä-
chendeckend zu öffnen und attraktiver zu gestalten, ist
nicht nur Teil der Umsetzung einer Verpflichtung, die die
Bundesrepublik mit der UN-Behindertenrechtskonven-
tion eingegangen ist. Hier liegt auch eine große Chance:
Wenn Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam
Sport treiben, dabei Spaß haben und irgendwann er-
schöpft sind, bei Wettbewerben gemeinsam gewinnen
oder verlieren, wäre das ein großer Schritt nach vorn für
den viel beschworenen Bewusstseinswandel. Menschen
mit Behinderungen machen so gerne oder ungerne Sport
wie nichtbehinderte Menschen auch. Einige sind fähig
zu sportlichen Spitzenleistungen, andere haben daran
gar kein Interesse. Durch die flächendeckende Öffnung
von Sportangeboten allen Menschen die Möglichkeit zu
geben, diese Erfahrung zu machen, ist ein gutes Mittel
gegen den medizinisch geprägten und defizitorientierten
Blick auf Menschen mit Behinderungen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717836600

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache

17/9190 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Ta-
gesordnung stehen. – Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 28:

Beratung der Unterrichtung durch den Deutschen
Ethikrat

Stellungnahme des Deutschen Ethikrats

Intersexualität

– Drucksache 17/9088 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Die Reden sind zu Protokoll genommen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1717836700

Mit der Vorlage der Stellungnahme des Deutschen

Ethikrates zum Thema Intersexualität geht ein sehr in-
tensiver Prozess zu diesem vielfach in unserer Gesell-
schaft unbeachteten Themenbereich zu Ende. Die Bun-
desregierung hatte den Ethikrat Ende 2010 gebeten, die
Situation Intersexueller zu beleuchten und Handlungs-
bedarf zu benennen.

Der Deutsche Ethikrat ist dem Auftrag der Bundesre-
gierung nachgekommen. Er hat dies in einer beachtens-
werten Art und mit großer Fachkompetenz getan. Insbe-
sondere durch den systematischen Ansatz ist der Bericht
für den Diskurs über die gesamte Frage eine zentrale
Bereicherung. In einem mehrstufigen Diskursverfahren
hat man sich mit dem Thema Intersexualität auseinan-
dergesetzt. Ein Diskurs, bei dem nicht nur eine Seite an-
gehört wird, sondern Mediziner, Psychologen, Juristen,
Vertreter von Elterninitiativen, Vereine, Organisationen
und natürlich nicht zuletzt die Betroffenen selbst.

Nach der Anfang Mai des zurückliegenden Jahres
initiierten Befragung von Sachverständigen und der On-
linebefragung von Betroffenen sowie der öffentlichen
Anhörung im Juni 2011 war der Onlinediskurs die dritte
Stufe eines bislang einmaligen Diskursprojekts des
Deutschen Ethikrates.

Hauptbestandteil der Diskursplattform ist ein Blog,
auf dem vom 8. Juni bis 7. August 2011 zweimal wö-
chentlich Artikel von Experten und Betroffenen veröf-
fentlicht wurden, die das Thema Intersexualität aus
verschiedenen Perspektiven beleuchteten. Interessierte
waren eingeladen, diese Autorenbeiträge auf der Betei-
ligungsplattform zu diskutieren und zu kommentieren,
um dem Ethikrat einen tieferen Einblick in die gesell-
schaftlichen Einstellungen und Einschätzungen zu ver-
schaffen.

Unser Dank gilt daher allen Beteiligten des gesamten
Prozesses, von den Sachverständigen über die Mitglie-
der und hauptamtlichen Mitarbeiter bis hin zu den Teil-
nehmern an den Beteiligungsinstrumenten. Ein besonde-
rer Dank geht an die intersexuellen Menschen, die bereit
waren, uns einen Einblick in ihr Leben zu gewähren. Die
Vorlage des Berichts ist gerade für die Politik eine wich-
tige Arbeitsgrundlage. Er ist Situationsanalyse und
Handlungsempfehlung zugleich. Das macht den Bericht
sehr wertvoll für die weitere Arbeit. Es ist gelungen, das
Thema als das, was es ist, aufzubereiten, nämlich als ein
Querschnittsthema, das in seinem Facettenreichtum
ganz verschiedene gesellschaftliche Bereiche berührt.
Dabei ist besonders entscheidend, das Thema zu objek-
tivieren und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auf der
anderen Seite haben die Fallberichte dazu beigetragen,
sich besser in die Gedanken der intersexuellen Men-
schen einfinden zu können.

Aus diesem Grund war es auch ein richtiger Schritt,
die Stellungnahme des Ethikrats mit in die Anhörung zur
Intersexualität einzubeziehen. Ich hoffe, dass es uns ge-
lingt, die üblichen parteipolitischen Auseinandersetzun-
gen zu überwinden und eine ehrliche Bestandsaufnahme
voranzubringen, die das Interesse und die Bedürfnisse

der Betroffenen in den Vordergrund stellt. Die dazu not-
wendige Vorarbeit hat der Ethikrat bereits geleistet.

Dafür, wie es in der Frage „Wie können wir den inter-
sexuellen Menschen helfen?“ weitergeht, sind die Emp-
fehlungen des Ethikrates bedeutsam. Insgesamt wurden
dabei drei zentrale Bereiche identifiziert. Dies ist der ge-
samte medizinische Bereich, der für die Betroffenen be-
sonders bedeutend ist. Allem voran steht: Wir müssen si-
cherstellen, dass sich früher begangene Fehler nicht
wiederholen. Wir müssen verhindern, dass jemand ge-
gen seinen Willen und sein Gefühl in eine Geschlechts-
rolle gezwängt wird. Und wir müssen sicherstellen, dass
all jene, die in der Vergangenheit – auch unter dem As-
pekt eines medizinischen Machbarkeitswahns – schlim-
mes Leid erfahren haben, die Hilfe bekommen, die sie
brauchen. Die Empfehlungen des Ethikrates zu medizi-
nischen Fragen und den damit verbundenen Problemen
weisen dabei einen Weg. Ich bin sicher, dass dies auch in
der Anhörung eine sehr zentrale Rolle spielen wird.

Eine ganze Reihe von Empfehlungen gibt der Ethikrat
auch zur Frage des Personenstandsrechts. Dabei geht es
unter anderem auch um die Frage, ob zukünftig die
Möglichkeit eingeräumt werden kann, eine dritte Ge-
schlechtskategorie zu schaffen. Damit soll der Zwang
von den intersexuellen Menschen genommen werden,
sich gegen ihre tatsächliche Lebenswirklichkeit einem
Geschlecht zuordnen zu müssen. Wir werden uns in der
Anhörung auch darüber informieren, welche rechtlichen
Folgen in anderen Bereichen damit verbunden wären
und welche weiteren Schritte in unserem Rechtssystem
dabei zu bedenken sind.

Wichtig ist auch die Feststellung des Ethikrats, dass
dafür Sorge getragen werden muss, dass Intersexuellen
mit Respekt entgegengetreten wird. Dies ist selbstver-
ständlich eine gesellschaftliche Aufgabe, die nicht mit
Anhörungen, Resolutionen oder Anträgen zu lösen ist,
sondern in gesellschaftliche Verhaltensweisen überführt
werden muss. Intersexuelle Menschen müssen als Teil
der gesellschaftlichen Vielfalt und als biologische Reali-
tät anerkannt werden. Dazu ist insbesondere die Wis-
sensvermittlung bedeutsam. Zu Recht kommentiert die
„Süddeutsche Zeitung“ zum Verständnis von intersexu-
ellen Menschen: „Das ist … ein Bereich, über den die
Leute wenig wissen, weil sie wenig darüber wissen wol-
len. Es ist gut, dass der Ethikrat von Zeit zu Zeit zum
Wissen zwingt.“ Der in großer Einmütigkeit aller Mit-
glieder des Ethikrats verabschiedete Bericht setzt hinter
diese Aussage noch einmal ein deutliches Ausrufezei-
chen. Auch wir im Bundestag sollten dazu unseren Bei-
trag leisten, und dies möglichst offen und ohne ideologi-
sche Scheuklappen vor den Augen.

Ich bin sehr gespannt, wie sich die kommenden Bera-
tungen gestalten werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir
am Ende querschnittliche Regelungen für die inter-
sexuellen Menschen in den verschiedenen Bereichen
schaffen, die dieser Personengruppe Verbesserungen
und Erleichterungen in ihrer individuellen Lebensper-
spektive bringen.

Zu Protokoll gegebene Reden






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(D)(B)



Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1717836800

Wir debattieren heute über die Stellungnahme und die

Empfehlungen des Deutsche Ethikrats zur Situation in-
tersexueller Menschen.

Für meine Fraktion begrüße ich diese Stellungnahme.
Sie ist das Ergebnis eines mehrstufigen Beratungspro-
zesses. Der Deutsche Ethikrat hat sich mit großem
Engagement mit der für Viele neuen und unbekannten
Thematik intensiv auseinandergesetzt. Eine Befragung,
eine Anhörung sowie ein Internetdiskurs waren zentrale
Elemente der Befassung. In Internet sind alle Dokumente
auf den Seiten des Ethikrats unter www.ethikrat.org hinter-
legt und erlauben so allen interessierten Bürgerinnen
und Bürgern, sich umfassend zu informieren.

So erfahren intersexuelle Menschen endlich die Wert-
schätzung und die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie
lange Jahre vermissen mussten. Gleichzeitig bietet die
Stellungnahme uns Politikerinnen und Politikern eine
sehr gute Grundlage für weitere Debatten über konkrete
gesetzgeberische Maßnahmen.

Intersexualität ist ein sehr komplexes Thema; der Be-
griff wird nicht einheitlich verwendet, Menschen werden
teilweise als intersexuell bezeichnet, obwohl sie selbst
sich gegen diese Benennung wehren.

Sie alle aber eint eine Kernforderung, über die
glaube ich parteiübergreifend glücklicherweise längst
Einigkeit herrscht. Die eindeutige Feststellung: Inter-
sexualität ist keine Krankheit, sondern eine spezifische
geschlechtliche Identität, die es uneingeschränkt zu re-
spektieren gilt!

Intersexuelle Menschen sind folglich auch nicht zu
„heilen“, sondern sie haben das selbstverständliche
Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und kör-
perliche Unversehrtheit, wie jeder Bürger und jede Bür-
gerin unseres Staats.

Wir als Politikerinnen und Politiker müssen dafür
sorgen, dass schnellstmöglich die Rahmenbedingungen
dafür geschaffen werden, dieses fundamentale Men-
schenrecht zu sichern.

Daher begrüße ich sehr, dass auch der Deutsche
Ethikrat in seinem Bericht unmissverständlich betont:
„… Intersexuelle Menschen (müssen) als Teil gesell-
schaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Ge-
sellschaft erfahren. Zudem müssen sie vor medizinischen
Fehlentwicklungen und Diskriminierungen in der Ge-
sellschaft geschützt werden.“

Ich denke, hier besteht breiter Konsens, nun geht es
darum, genau die verschiedenen Bereiche zu identifizie-
ren und den konkreten Handlungsbedarf zu definieren.

Ich möchte mich im Folgenden auf drei zentrale
Handlungsfelder konzentrieren. Medizin, Öffentlichkeit
und Recht.

Intersexualität ist keine Krankheit. Diese schlichte
Tatsache scheint sich teilweise innerhalb der Ärzteschaft
leider immer noch nicht herumgesprochen zu haben.
Leidtragende sind die intersexuellen Menschen und ihre
mit ihren Ängsten und Unsicherheiten oftmals alleine

gelassenen Eltern. Sie werden noch zu oft von wohlmei-
nenden Ärzten zu einer Operation gedrängt, um das ver-
meintliche Problem des uneindeutigen Geschlechts ihres
Kindes zu beheben.

Doch damit beginnen erst die wirklichen Probleme!
Denn als Baby oder Kleinkind ist überhaupt noch gar
nicht feststellbar, ob die betreffende Person später eine
männliche oder weibliche Geschlechtsidentität entwi-
ckeln wird.

Operationen an Babies bzw. Kleinkindern sind daher
schlichtweg unverantwortlich und können sich unter
Umständen traumatisch auf die spätere Entwicklung der
Persönlichkeit auswirken.

Der Deutsche Ethikrat stellt daher völlig zutreffend
fest: „Irreversible medizinische Maßnahmen zur Ge-
schlechtszuordnung […] stellen einen Eingriff in das
Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der ge-
schlechtlichen und sexuellen Identität und das Recht auf
eine offene Zukunft und oft auch in das Recht auf Fort-
pflanzungsfreiheit dar“. Leider ist die daraus abgelei-
tete Forderung aber nicht eindeutig genug. Es heißt
„Die Entscheidung über solche Eingriffe ist höchstper-
sönlich und sollte daher grundsätzlich von den entschei-
dungsfähigen Betroffenen selbst getroffen werden“.

Nein, das reicht so nicht! Die Entscheidung über eine
irreversible geschlechtszuweisende Operation soll aus-
schließlich der direkt betroffene entscheidungsfähige
Mensch treffen dürfen. Auch Eltern sollen künftig auf-
grund von Ängsten und Unsicherheiten über die Zukunft
ihres Kindes keine derart weitreichende Entscheidung
für ihr Kind mehr treffen dürfen!

In diesem Zusammenhang halte ich die Entscheidung
des Ethikrats, zwischen „geschlechtsvereindeutigen-
den“ und „geschlechtszuordnenden“ Operationen zu
differenzieren, nicht für sinnvoll.

Was also ist zu tun?

Wir müssen dafür sorgen, dass der Medizin die Deu-
tungshoheit über das Phänomen Intersexualität entzo-
gen wird. Es muss Schluss sein mit der Vorstellung, mit
chirurgischen Mitteln eine vermeintliche Normalität
herstellen zu können.

Stattdessen brauchen Eltern nach der Geburt eines
intersexuellen Kindes ausreichend Zeit und umfassende
Beratung und Information, wie sie mit der für sie irritie-
renden Situation umgehen können.

Es ist zentral, die Eltern in ihrer Sorge zu begleiten
und ihnen dabei zu helfen, diese durch psychologische
Unterstützung und den Kontakt zu Selbsthilfegruppen
von und für intersexuelle Menschen zu überwinden.

Ich wünsche mir künftig keine Mediziner mehr, die
ausschließlich im Denksystem von krank und gesund
und der vermeintlich schnellen Lösung einer chirurgi-
schen „Behandlung“ verhaftet sind. Vielmehr sollten
alle Mediziner den Eltern signalisieren, dass es sich bei
Intersexualität nicht um eine Krankheit sondern um eine
besondere Geschlechtsausprägung handelt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Christel Humme


(A) (C)



(D)(B)


Der derzeitige Entscheidungsdruck, der auf vielen El-
tern lastet, ist schädlich und verhindert einen besonne-
nen Umgang mit dieser speziellen Situation.

Wir sollten daher in Kooperation mit den Ländern
dafür sorgen, dass das professionelle Beratungsangebot
bundesweit gestärkt wird und die aktuelle auf medizini-
sche Diagnostik und Therapie verengte Diskussion in
den Hintergrund tritt.

Ich stehe den vom Ethikrat in die Diskussion ge-
brachten bundesweiten interdisziplinär besetzten Be-
treuungsstellen sehr aufgeschlossen gegenüber.

Gleichzeitig müssen die einschlägigen Richtlinien der
Ärzteschaft zum Umgang mit Intersexualität dringend
überarbeitet und der Lebenswirklichkeit angepasst wer-
den. Denn wer heute noch denkt, Intersexualität heilen
zu müssen, hat den Sachverhalt nicht verstanden.

Stichwort Öffentlichkeit: Dem Ethikrat gebührt gro-
ßer Dank dafür, die vielfältige Lebenssituation Interse-
xueller, das Leid und Unrecht, die Fremdbestimmung
Dritter über ihren eigenen Körper und ihr Leben sicht-
bar und öffentlich gemacht zu haben.

Darüber hinaus brauchen wir im Alltag eine stärkere
Sensibilität der gesellschaftlichen Mehrheit für die
selbstverständlichen Bedürfnisse und Rechte von Min-
derheiten und generell eine stärkere Akzeptanz des „An-
dersseins“.

Eine starke Antidiskriminierungsstelle des Bundes
kann durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit dazu
beitragen, die vielfältigen Beratungs- und Hilfsangebote
von und für Intersexuelle Menschen und ihre Angehöri-
gen sichtbarer zu machen und in die Bevölkerung hinein
stärker zu sensibilisieren.

Ebenso müssen beispielsweise Erzieherinnen und Er-
zieher, Lehrpersonal an Schulen, Trainerinnen und Trai-
ner stärker als bisher auf den Umgang mit Intersexuali-
tät vorbereitet werden.

Der dritte relevante Aspekt ist der Bereich des Rechts,
speziell des deutschen Namens- und Personenstands-
rechts.

Hier hat der Deutsche Ethikrat mutig scheinbar in
Stein Gemeißeltes grundsätzlich infrage gestellt.

Warum gibt es in Deutschland nur die Möglichkeit,
„männlich“ oder „weiblich“ als mögliches Geschlecht
eintragen zu lassen?

Was spricht eigentlich dagegen, in Deutschland auch
ein sogenanntes Drittes Geschlecht, die Kategorie „an-
ders“ einzuführen oder zumindest die Möglichkeit zu
bieten, den entsprechenden Eintrag bis zu einem gewis-
sen Stichtag frei zu lassen?

Außerdem wirft der Ethikrat die spannende Frage
auf, ob eine Eintragung des Geschlechts im Personen-
standsregister überhaupt noch erforderlich ist.

Hier sind vor allem die Rechts- und Innenpolitikerin-
nen und -politiker gefragt, nach möglichen Lösungen zu
suchen, die den Bedürfnissen der Intersexuellen Men-

schen Rechnung tragen, aber gleichzeitig in unserem be-
stehenden Rechtssystem praktisch umsetzbar sind.

In einer Anhörung wird sich der Familienausschuss
am 25. Juni mit der Stellungnahme des Ethikrats und
dem Antrag der Grünen beschäftigen, der ebenfalls viele
gute Ansätze enthält.

Ich wünsche mir, dass wir fraktionsübergreifend zu
Lösungen kommen, mit denen wir konkret die Lebens-
situation intersexueller Menschen verbessern und ihr
Recht auf Selbstbestimmung sicherstellen können.


Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1717836900

Dass es Menschen gibt, die sich nicht eindeutig als

„Mann“ oder „Frau“ positionieren wollen bzw. können,
löst auch heute noch starke Irritationen in der Gesell-
schaft aus. Wir halten für „normal“ oder „natürlich“,
was wir erlebt haben, was unserer Gewohnheit, unserer
Neigung und unseren Vorlieben entspricht. Die Gesell-
schaft, Traditionen, Religion und selbst die Wissenschaft
sind oft sehr leichtfertig und vorschnell dabei, be-
stimmte Entwicklungen zu ihrem Maßstab zu machen
und alles Abweichende für „unnormal“, „unnatürlich“
oder „krankhaft“ zu erklären.

Bis heute gibt es daher in der Medizin die Bereit-
schaft, nicht eindeutige genitale, chromosomale oder
gonadische Geschlechtsmerkmale meist schon in frühes-
ter Kindheit chirurgisch zu ändern.

Die Betroffenen können sich im Kindesalter nicht ge-
gen die Eingriffe wehren und verstehen erst langsam,
was ihnen widerfahren ist. Sie fordern zu Recht, Inter-
sexualität rechtlich und gesellschaftlich anzuerkennen.
Dabei berufen sie sich auch auf das Diskriminierungs-
verbot der UN und das Recht auf körperliche Unver-
sehrtheit.

Bislang ungeklärt waren sowohl der Zeitpunkt und
die Reichweite solcher Maßnahmen als auch die rechtli-
chen Konsequenzen, die ein „drittes Geschlecht“ haben
könnte. Der Deutsche Ethikrat ist daher von der Bundes-
regierung zu einer Stellungnahme aufgefordert worden
und hat unter anderem eine Onlinedebatte gestartet und
eine Befragung Betroffener durchgeführt.

Der Ethikrat stellte zunächst die Frage, ob es sich bei
den einzelnen Formen von Intersexualität um eine Stö-
rung oder um eine Variante der Geschlechtsentwicklung
handelt. Davon ausgehend ergaben sich eine Reihe me-
dizin-, rechts- und sozialethischer Fragen, die der Ethik-
rat klären wollte:

Wie verhalten sich korrigierende oder angleichende
Eingriffe im Kindesalter mit entsprechenden lebenslan-
gen Folgen für die Betroffenen zum Recht auf physische
und psychische Unversehrtheit und Selbstbestimmung?

Was spricht gegen eine Vielfalt an Körpern, Ge-
schlechtsidentitäten und Rollenverhalten?

Welche Verantwortung trägt die Gesellschaft im Um-
gang mit dem Anderssein? Ist die Politik gefordert?

Zu Protokoll gegebene Reden





Sibylle Laurischk


(A) (C)



(D)(B)


Welche Erfahrungen und Bedürfnisse haben Betrof-
fene, und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus
ableiten?

Seit Februar dieses Jahres liegt uns nunmehr die ab-
schließende Stellungnahme des Ethikrats vor. Darin
kommt der Ethikrat zu dem Ergebnis, dass intersexuelle
Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt
und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen.
Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklungen
und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt wer-
den.

Eine zentrale Fragestellung der Diskussion war, ob
chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorganen von
Menschen mit Besonderheiten der geschlechtlichen Ent-
wicklung, und insbesondere bei betroffenen Kleinkin-
dern, überhaupt zulässig sein sollten.

Der Deutsche Ethikrat führt dazu in seiner Stellung-
nahme aus, dass irreversible medizinische Maßnahmen
zur Geschlechtszuordnung bei Menschen mit nicht ein-
deutigem Geschlecht einen Eingriff in das Recht auf kör-
perliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen
und sexuellen Identität und das Recht auf eine offene Zu-
kunft und oft auch in das Recht auf Fortpflanzungsfrei-
heit darstellen. Die Entscheidung darüber ist höchst
persönlich. Daher empfiehlt der Ethikrat, dass sie
grundsätzlich von den Betroffenen selbst getroffen wer-
den sollte. Bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen
Betroffenen sollten solche Maßnahmen nur erfolgen,
wenn dies nach umfassender Abwägung aller Vor- und
Nachteile des Eingriffs und seiner langfristigen Folgen
aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls er-
forderlich ist. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn – so
führt der Deutsche Ethikrat aus – die Maßnahme der
Abwendung einer konkreten schwerwiegenden Gefahr
für die physische Gesundheit oder das Leben der Betrof-
fenen dient.

Die Behauptung, man könne das Geschlecht eines
Menschen durch medizinische Eingriffe festlegen, führt,
abgesehen von der Schmerzhaftigkeit dieser Eingriffe,
auch mittel- und langfristig zu physischen und psychi-
schen Komplikationen und dauerhaften Schäden. Viele
intersexuelle Menschen scheinen aufgrund der schmerz-
haften Eingriffe körperliche Schäden davonzutragen –
etwa wenn sie aufgrund einer Verkleinerung die Sensibi-
lität der Klitoris verlieren, wenn vernarbte Stellen bei
sexueller Erregung zu Schmerzen führen oder wenn
schon bei Kleinkindern die angelegte Neovagina – zum
Teil bis ins hohe Alter – bougiert werden muss. Ebenso
werden durch die kontrachromosomale Hormontherapie
oft multiple Stoffwechselstörungen hervorgerufen. Er-
schwerend kommt die bisherige Praxis hinzu, wonach
die Betroffenen und deren Angehörige häufig nicht über
das chromosomale Geschlecht informiert wurden; da-
durch werden den Betroffenen vielfach die Unterlagen
– Aufbewahrungszeit 30 Jahre – vorenthalten. Dies kann
eine falsche medizinische Behandlung zur Folge haben,
zum Beispiel weibliche Krankenkassenkarte trotz Kern-
geschlecht xy-chromosomal. Zu den psychischen Schä-
den gehören starke Traumatisierungen durch die Opera-
tionen und ihre Folgen. Zudem sind die Reaktionen des

auf eine angeblich mögliche Geschlechtsfestlegung
drängenden sozialen Umfelds und die Tabuisierung der
Intersexualität oft belastend.

Betroffene und der Deutsche Ethikrat kritisieren aus
diesen Gründen zu Recht die Zwangsfestlegung insbe-
sondere im Kindesalter und fordern, die Genitalopera-
tionen erst dann durchzuführen, wenn der intersexuelle
Mensch die Operation aus eigenem Willen möchte und
ihr zustimmen kann. Chirurgische Anpassungen im Kin-
desalter werden von Betroffenen mit der unsäglichen
Praxis der Beschneidung weiblicher Genitalien gleich-
gesetzt – eine Auffassung, für die ich sehr viel Verständ-
nis habe. Persönlich bin ich der Auffassung, dass nie-
mand ohne Erlaubnis – und durch das Lebensalter der
Betroffenen anzunehmende Einsicht – das Recht hat,
Veränderungen an den Genitalien eines Kindes oder Ju-
gendlichen vorzunehmen.

Die Sexualität hat viele Gesichter, und manchmal ir-
ritieren sie uns und unser Verständnis von Normalität.
Intersexualität ist ein solches Beispiel, sie ist eine He-
rausforderung für Gesellschaft, Medizin, Recht und
Ethik.

Die bloße statistische Seltenheit, das Unbekannte,
Fremde oder scheinbar Unverständliche genügt oft, um
Abweichendes zu diskriminieren. Dieses diffamierende
Vorgehen müssen wir immer wieder thematisieren und
eine Lösung herbeiführen, die den Betroffenen hilft und
einer toleranten Gesellschaft Rechnung trägt.

Die am 25. Juni im Familienausschuss geplante öf-
fentliche Sachverständigenanhörung wird uns neben der
nun vorliegenden Stellungnahme des Deutschen Ethik-
rates weiteren Aufschluss darüber geben, wie wir mit
dem Thema Intersexualität in Zukunft umgehen, und uns
im Rahmen unserer parlamentarischen Arbeit weitere
Handlungsempfehlungen an die Hand geben. Im An-
schluss daran müssen wir zügig Lösungen finden, die
dazu beitragen, die rechtliche und gesellschaftliche An-
erkennung von intersexuellen Menschen umzusetzen.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717837000

Die Fraktion Die Linke begrüßt die Stellungnahme

des Ethikrats zum Thema Intersexualität. Diese Stel-
lungnahme nimmt sich des Problems endlich ausführlich
und wissenschaftlich an. Sie ist ein wichtiger Baustein,
um die schweren Menschenrechtsverletzungen, began-
gen an intersexuellen Menschen, anzuerkennen. Das
Leid, das diesen Menschen fortwährend widerfahren ist
und widerfährt, wird nun an die Öffentlichkeit gerückt.
Bereits im Jahr 2009 rügte der CEDAW-Ausschuss der
Vereinten Nationen in einer abschließenden Bemerkung
zu ihrem Staatenbericht, dass die Bundesregierung kei-
nen Dialog mit den Betroffenen gesucht hat. Der Bericht
ist das Ergebnis dieser Rüge. Immerhin.

Intersexuelle Menschen sind – vereinfacht gesagt –
Menschen, die sich von ihren Geschlechtsmerkmalen
nicht eindeutig einem männlichen oder weiblichen Ge-
schlecht zuordnen lassen. Früher bezeichnete man sie
als Zwitter oder Hermaphrodit. Medizin, Psychiatrie
und Rechtswissenschaften warfen zum Ende des

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Barbara Höll


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(D)(B)


19. Jahrhunderts ein besonderes Augenmerk auf Herm-
aphroditen. Zuvor waren diese Menschen anerkannt als
Menschen, die sich irgendwie zwischen den Geschlech-
tern befinden. Dann begann ein abendländischer Blick
auf dieses Phänomen. Man wollte dieses Dazwischen
überwinden. Es sollte und es konnte in dieser Vorstel-
lung nur zwei Geschlechter geben. Der französische
Philosoph Michel Foucault hat uns die Erkenntnis mit-
gegeben, dass die Wissenschaften hier maßgeblich an
einer gesellschaftlichen Setzung mitwirkten.

Dieser Blick auf die Geschlechter bestimmt auch
heute noch das Denken. Ein Denken, dessen düsterer
Schatten sich in den zahllosen Operationen, sogar früh-
kindlichen Operationen, zur Herstellung eines eindeuti-
gen Geschlechts ausdrückt. Mediziner glaubten, das
Richtige zu tun, wenn sie Penisse wegschnitten, Vaginen
herstellten oder aus einer Klitoris einen Penis machten.
Den Eltern wurde und wird nahegelegt, dass dies im In-
teresse des Kindes geschieht, weil es sonst in unange-
nehme Situationen käme. Nicht erst seit heute wissen
wir, dass dieses paternalistische Eingreifen massive Fol-
gen hat. Diese Menschen müssen ihr Leben lang Hor-
mone nehmen, vielen wurden die Gründe für die wieder-
holten schweren Eingriffe in ihrem Intimbereich spät
oder auch gar nicht mitgeteilt, andere durchliefen in der
Pubertät eine Phase, in der sich das operativ entfernte
Geschlecht wieder herausbildete und vieles mehr.
Schwere physische Leiden, psychische Traumatisierun-
gen und ein unglaublich hohes Suizidrisiko prägten und
prägen das Leben von intersexuellen Menschen, auch
und gerade weil die Gesellschaft sie nicht wahrnehmen
und anerkennen wollte.

Die Bundestagsfraktion Die Linke und die PDS haben
in zahlreichen Kleinen Anfragen immer und immer wie-
der die Bundesregierung zu dieser Problematik befragt.
Leider beschied uns jede Bundesregierung, dass dies al-
lein ein Problem der Medizin sei. Doch mit der Stellung-
nahme und den Empfehlungen des Ethikrats wissen wir,
dass es ein Problem von uns allen ist. Es handelt sich um
schwere Menschenrechtsverletzungen. Stellungnahme
und Empfehlungen geben uns die Möglichkeit, das Pro-
blem umfassend zu diskutieren. Auch wenn ich diese
nicht in allen Punkten teile, wie zum Beispiel darin, dass
die Gruppe der Intersexuellen geteilt wird, da Intersexu-
elle mit adrenogenitalem Syndrom, AGS, ausgeklammert
werden, so begrüßen wir die erhöhte Aufmerksamkeit
auf diese Problematik.

Intersexuelle zeigen uns: Es gibt mehr als zwei Ge-
schlechter. Dies müssen wir akzeptieren. Die schweren
Menschenrechtverletzungen müssen aufgearbeitet und
sofort beendet werden.

Die Linke fordert ein sofortiges Verbot aller frühkind-
lichen Operationen an Intersexuellen, die zu Herstel-
lung der Geschlechtseindeutigkeit vollzogen werden.

Die Linke fordert einen Fonds für die betroffenen
Menschen, damit sie für ihr Leid entschädigt werden.

Die Linke fordert, dass Krankenkassen den Betroffe-
nen großzügig bei ihren physischen und psychischen
Problemen helfen.

Die Linke fordert, dass das Personenstandsrecht an-
gepasst wird, sodass Intersexuelle als Menschen und als
Rechtssubjekte anerkannt werden.

Wir müssen handeln, damit nicht weiteres Leid ge-
schieht.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717837100

Der Bundestag befasst sich heute zum zweiten Mal

mit dem Thema Intersexualität. Ende letzten Jahres ha-
ben wir über den grünen Antrag „Grundrechte von in-
tersexuellen Menschen wahren“ beraten. Heute be-
schäftigen wir uns mit der Stellungnahme des Deutschen
Ethikrates zum gleichen Thema.

Nachdem die Bundesregierung in ihrem Sechsten
Staatenbericht zum Übereinkommen zur Beseitigung je-
der Form von Diskriminierung der Frau, CEDAW, die
Frage der Intersexualität nicht aufgegriffen hatte, legte
der Verein Intersexuelle Menschen und seine ange-
schlossene Selbsthilfegruppe XY-Frauen einen Schatten-
bericht vor. Dann folgte die Aufforderung des UN-Aus-
schusses zur Überwachung des CEDAW an die deutsche
Bundesregierung, in einen Dialog mit intersexuellen
Menschen zu treten und Maßnahmen zum Schutz ihrer
Menschenrechte zu ergreifen.

Im Ergebnis wurde 2010 dem Deutschen Ethikrat der
Auftrag erteilt, den Dialog mit den von Intersexualität
betroffenen Menschen und ihren Selbsthilfeorganisatio-
nen fortzuführen und ihre Situation und die damit ver-
bundenen Herausforderungen umfassend und unter
Einbeziehung der ärztlichen, therapeutischen, sozial-
wissenschaftlichen und juristischen Sichtweisen aufzu-
arbeiten und dabei klar von Fragen der Transsexualität
abzugrenzen.

Die grüne Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich
die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Situa-
tion intersexueller Menschen. Wir freuen uns, dass die
Stellungnahme nicht nur unter Einbeziehung der wissen-
schaftlichen Sichtweisen, sondern auch im Dialog mit
den Betroffenen und ihren Selbsthilfeorganisationen
vorbereitet wurde. Besonders freuen wir uns über die
Empfehlungen, die der Deutsche Ethikrat an die Bun-
desregierung formuliert hat. Sie decken sich mit dem
grünen Antrag, in dem wir einen Maßnahmenkatalog
vorgeschlagen haben, der die Situation Intersexueller
verbessern und künftigen Menschenrechtsverletzungen
und gesellschaftlicher Ausgrenzung entgegenwirken
soll.

Der Deutsche Ethikrat empfiehlt Kompetenzzentren
und Betreuungsstellen, Peer-to-Peer-Beratung, Geld für
Selbsthilfegruppen und einen Fonds für „Anerkennung
und Hilfe“. Patientenakten sollen länger aufbewahrt
werden, Verjährungsfristen bis zur Volljährigkeit ruhen.
Das Gremium fordert, Medizinerinnen und Mediziner,
Psychologinnen und Psychologen sowie Hebammen
besser auszubilden, die Öffentlichkeit aufzuklären und
bürokratische Hürden abzubauen, etwa bei der Erstat-
tung von Medikamentenkosten.

Es ist aber auch wichtig, dass nicht nur die medizini-
sche und psychologische Behandlung intersexueller

Zu Protokoll gegebene Reden





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)


Menschen verbessert wird, sondern auch das Personen-
standsrecht deren Existenz Rechnung trägt. Hier schlägt
der Deutsche Ethikrat vor, dass bei Personen, deren Ge-
schlecht nicht eindeutig feststellbar ist, neben der Ein-
tragung als „weiblich“ oder „männlich“ auch „ande-
res“ gewählt werden kann. Zusätzlich sollte geregelt
werden, dass kein Eintrag erfolgen muss, bis die betrof-
fene Person sich selbst entschieden hat. Der Gesetzge-
ber sollte ein Höchstalter der betroffenen Person festle-
gen, bis zu dem sie sich zu entscheiden hat.

Bei der Debatte über den grünen Antrag im Novem-
ber letzten Jahres haben sich Kolleginnen und Kollegen
aller Fraktionen dem Thema Intersexualität mit viel Em-
pathie zugewandt. Mit Freude habe ich viel Verständnis
bemerkt, was unsere Forderungen betrifft, und große
Bereitschaft gespürt, den intersexuellen Menschen zu
helfen. Allerdings haben die Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition immer wieder auf die Arbeit des Deut-
schen Ethikrates hingewiesen, deren Ergebnisse wir zu-
nächst abwarten sollten.

Nun liegt die Stellungnahme vor, und sie enthält viele
Empfehlungen. Dies bedeutet für die Bundesregierung,
aber auch für uns Abgeordnete, sich an die Arbeit zu
machen und die Empfehlungen umzusetzen.

Ich bin optimistisch, dass wir beginnend mit der An-
hörung am 25. Juni im Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend interfraktionell zu einem guten Er-
gebnis kommen.

Wir bieten dabei gerne unsere Unterstützung an.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717837200

Es wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9088 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. – Damit sind Sie einver-
standen. Dann ist so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 29:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Umfassende Visaliberalisierungen für Men-
schen in Russland und Osteuropa

– Drucksache 17/9191 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1717837300

Seit Wochen debattiert ganz Europa die Menschen-

rechtslage in der Ukraine. Wir verlangen eine Rückkehr
der Ukraine zu demokratischen Prinzipien und zur
Einhaltung der Menschenrechte. Wir wollen, dass alle

politischen Gefangenen freigelassen werden und dass
insbesondere Julija Timoschenko die medizinische Ver-
sorgung erhält, die sie dringend benötigt. Die Europäi-
sche Union hat völlig zu Recht die Entscheidung über
ein Assoziierungsabkommen erst einmal auf Eis gelegt.
Europa schaut angesichts der Fußball-Europameister-
schaft besonders intensiv auf die Ukraine. Wir erwarten
mit allem Nachdruck, dass die ukrainische Führung sich
dadurch veranlasst sieht, Schritte der Demokratisierung
des Landes und der Achtung der Menschenrechte einzu-
leiten. Diesen Prozess gilt es sehr aufmerksam zu be-
obachten. Dass die Linke mitten in diese Diskussion hi-
nein mit einem Antrag kommt, in dem sie die Visafreiheit
für die Ukraine fordert, macht einen sprachlos und zeigt,
welch gestörtes Verhältnis sie zum Thema Wahrung der
Menschenrechte hat.

Unabhängig von der aktuellen politischen Lage in
der Ukraine und natürlich auch in Russland könnte man
beim Lesen des Antrags der Linken den Eindruck gewin-
nen, als ob es die Visaaffäre der damaligen rot-grünen
Bundesregierung nie gegeben hätte. Wir haben als
christlich-liberale Koalition daraus die Konsequenzen
gezogen und eine Visa-Warndatei beschlossen, die den
Mitarbeitern in den Visastellen bessere technische Rah-
menbedingungen gibt, um frühzeitig Visamissbrauch zu
erkennen. Diese Visa-Warndatei wird wegen der Not-
wendigkeit einer europaweiten Ausschreibung vor Mitte
2013 nicht zur Verfügung stehen.

Es ist für die Innenpolitiker der CDU/CSU völlig un-
vorstellbar, dass auch nur ansatzweise über eine Locke-
rung des Visaverfahrens nachgedacht wird, bevor diese
Visa-Warndatei nicht in der Praxis eingesetzt worden ist
und erste Erfahrungen damit gemacht wurden. Insofern
sollte von dieser Debatte eine ganz klare Botschaft aus-
gehen: Mit den Innenpolitikern von CDU und CSU wird
es in dieser Legislaturperiode keine Änderungen im
Visumverfahren oder gar im Visumrecht geben. Das gilt
übrigens auch für Pläne des Auswärtigen Amtes, die
Visavergabe durch Privatfirmen durchführen zu lassen.
Eine solche Privatisierung von wichtigen Aufgaben für
die Wahrung der Sicherheit und Ordnung unseres Lan-
des ist ohnehin mit allergrößter Vorsicht zu genießen.
Sie ist aber in jedem Fall ausgeschlossen, bevor uns die
Visa-Warndatei nicht zur Verfügung steht.

Wir sollten uns auch immer wieder vor Augen führen,
welche Konsequenzen unbedachte Entscheidungen für
die Visafreiheit haben können. Ich verweise in dieser
Hinsicht nur auf das Beispiel Serbien und Montenegro.
Gegen die allergrößten Bedenken der Innenpolitiker der
Koalition ist hier die Visapflicht gefallen. Das Ergebnis
kann in zahlreichen deutschen Kommunen, vor allem in
Baden-Württemberg, betrachtet werden. Sofort sind die
Asylbewerberzahlen aus diesen Ländern in die Höhe ge-
schnellt und der baden-württembergische Städte- und
Gemeindebund wandte sich bereits nach wenigen Wo-
chen mit einem Hilferuf an die Bundespolitik, weil man
in den Kommunen mit der Unterbringung serbischer
und montenegrinischer Asylbewerber völlig überfordert
war. Dieses Beispiel zeigt, dass eine vorschnelle Visa-
freiheit ungesteuerte Zuwanderung nach Deutschland
unmittelbar zur Folge hat und damit vor allem eines er-





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


reicht wird: dass sich neue Probleme im Bereich der In-
tegration auftürmen. Das kann nicht ernsthaft politisch
gewollt sein!

Wer sich einmal bei der Bundespolizei über die große
Zahl von Aufgriffen von illegalen Zuwanderern mit
ukrainischer oder russischer Staatsangehörigkeit infor-
miert, der kann nicht bestreiten, dass es auch aus der
Ukraine und Russland einen starken Migrationsdruck
gibt, der sich ähnlich problematisch auswirken würde
wie die Visafreiheit für Serbien und Montenegro. Dass
sich dieser Migrationsdruck besonders auch aus Län-
dern wie Moldau und Georgien ergeben würde, versteht
sich wohl von selbst.

Es ist bezeichnend, dass der Ostausschuss der Deut-
schen Wirtschaft ausdrücklich von der Fraktion Die
Linke für seine verschiedenen Initiativen zur Visafreiheit
für Russland, die Ukraine und andere osteuropäische
Länder gelobt wird. Wenn der Ostausschuss bisher noch
nicht gemerkt hat, auf welchen Holzweg er sich hier be-
geben hat, dann sollte dies dem Ausschuss vielleicht klar
werden, wenn er sich einmal umschauen würde, wer sich
da mit ihm auf Wanderschaft begeben hat. Die deutsche
Wirtschaft und die Linke Schulter an Schulter. Wenn es
noch eines Beweises bedurft hätte, dass sich einige im
BDI völlig verrannt haben, dann wohl diese unheilige
politische Allianz, die sich da ergeben hat. In einer sonst
von Sachkenntnis völlig ungetrübten Pressemitteilung
des Ostausschusses ist zu lesen, dass die Visafreiheit an
den Innenpolitikern der CDU/CSU scheitert. Das ist so
und dabei wird es auch erst einmal bleiben!

Der Ostausschuss hat es bis heute nicht vermocht, ei-
nen einzigen Beleg dafür zu erbringen, weshalb die Vi-
safreiheit für Russland und die Ukraine überhaupt nötig
ist und nicht bereits mit dem bestehenden Instrumenta-
rium alle Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft zufrie-
denstellend geregelt werden können.

Wir haben das Notenstellenverfahren, wir haben das
Bona-fide-Verfahren, wir haben längst die Regelung,
dass nach zwei Schengen-Visa, die ein Ausländer erhal-
ten hat, auf eine erneute persönliche Vorsprache in der
Visastelle der Botschaft oder des Konsulats verzichtet
werden kann. Es gibt die verstärkte Erteilung von Mehr-
jahresvisa für Geschäftsleute. Ich frage mit allem Nach-
druck: Wo ist das Problem?

Deutsche und ausländische Unternehmen, die sich
zum Beispiel bei unserer Botschaft in Moskau registrie-
ren lassen und als seriös bekannt sind, können für russi-
sche Staatsbürger Visa beantragen und es kann auf eine
persönliche Vorsprache verzichtet werden. Warum reicht
das für die Leichtigkeit des Visumverkehrs nicht aus?
Ich will das nochmals betonen: Wir haben als Innenpoli-
tiker der CDU/CSU immer und immer wieder den Ost-
ausschuss und andere Kritiker der jetzigen Visaregelun-
gen aufgefordert, uns ganz praktische Fälle zu
präsentieren, aus denen ablesbar wäre, dass das deut-
sche Visasystem Geschäftskontakte behindert, den wis-
senschaftlichen Austausch erschwert oder kulturelle und
religiöse Begegnungen unmöglich macht. Bis zum heuti-
gen Tage ist uns kein einziger Fall genannt worden. Wir

diskutieren hier über ein Problem, das es in Wahrheit
nicht gibt.

Wenn aber trotzdem mit einer solchen Verve Lobby-
druck ausgeübt wird, dann muss man schon die Frage
stellen: Was steckt dahinter? Man kann sich als Innen-
politiker, der im Zweifel eben nicht nur die Reisefreiheit,
sondern auch die Sicherheit im Blick hat, nicht des Ein-
drucks erwehren, dass eben doch aus wirtschaftlichen
Gründen solche Personen reisen dürfen sollen, bei de-
nen man bei intensiverer Prüfung vielleicht zu Bedenken
käme, diese Personen ins Land zu lassen. Vor diesem
Hintergrund kann ich nur sagen: Markt ohne Moral
sollte es auch in diesem Bereich nicht geben!

Und Markt und Mafia sollte es erst recht nicht geben.
Es ist schon sehr bemerkenswert, dass die Linke in ihrem
Antrag auch Visafreiheit für Georgien oder die Republik
Moldau fordert. Zu Moldau gehört die Republik Trans-
nistrien. Das ist eine der Hochburgen der Organisierten
Kriminalität in Osteuropa. Es ist das Mekka der Pro-
duktpiraterie und des Zigarettenschmuggels. Wollen wir
ernsthaft auch solche Länder und Regionen in eine Visa-
freiheit mit einbeziehen?

Man wird darauf hinweisen dürfen, dass schon heute
in Deutschland zahlreiche Gruppen der Organisierten
Kriminalität operieren, bei denen russische Tatverdäch-
tige dominieren. Eine Visafreiheit würde den Aufbau
weitergehender OK-Strukturen mit engen Verbindungen
in die jeweiligen Herkunftsregionen der Tatverdächtigen
sehr erleichtern.

Und man muss sich ganz nüchtern vor Augen führen,
dass bei einer Aufhebung der Visumpflicht auch Ange-
hörige extremistischer und terroristischer Organisatio-
nen ungehindert Einreisemöglichkeiten nach Deutsch-
land hätten. Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien
oder auch Nordossetien sind Regionen innerhalb der
Russischen Föderation, die besonderen Bezug zum isla-
mischen Terrorismus haben. Ich will hier keine Gefah-
ren heraufbeschwören, aber dass man unter Sicherheits-
gesichtspunkten intensiv untersuchen muss, ob hier
Reisefreiheit gewährt werden sollte, scheint mir mehr
als geboten.

Der Hinweis im Antrag der Linken, man könne die
deutsche Visavergabepraxis durch die Nutzung von
Schengen-Visa für andere Länder umgehen, ist nichts
anderes als ein Aufruf zum Rechtsbruch. Wenn Polen ein
Schengen-Visum vergibt, dann muss man auch dafür ei-
gentlich einen korrekten Reisegrund angeben. Der
Grund für eine Reise muss sich auf Polen beziehen und
nicht auf Deutschland. Das Argument, die lockere Visa-
vergabe anderer Staaten habe zu keinen Gefährdungen
geführt, ist eine beharrliche Verweigerung der Wahrneh-
mung von Tatsachen.

Man muss nur die täglichen Berichte unserer Bundes-
polizeidirektionen lesen und kann erkennen, dass mit
Schengen-Visa anderer EU-Staaten zum Beispiel ille-
gale Arbeitskräfte, Prostituierte und als Straftäter Ver-
dächtige in unser Land eingereist sind. Insofern kann
eine Forderung, die sich an den Interessen unseres Lan-
des orientiert, nur lauten, dass die Praxis der Visaver-

Zu Protokoll gegebene Reden





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


gabe in den osteuropäischen Ländern vergleichbarer
werden und dabei der deutsche Prüfungsmaßstab die
Grundlage bilden muss.

Wir lehnen strikt den Vorschlag der Linken ab, weit-
gehend auf die persönliche Vorsprache bei der Visaver-
gabe zu verzichten. So wird dem Missbrauch Tür und
Tor geöffnet, wie wir aus der Visaaffäre wissen. Noch
einmal: Ich rede nicht wie der Blinde von der Farbe. Wir
haben doch mit anderen Kollegen aus dem Innenaus-
schuss im Visauntersuchungsausschuss gesessen. Wir
können doch vielfältig erzählen, wie erfindungsreich
Schlepper- und Schleuserbanden sind. Wir kennen doch
den Fall der Handballnationalmannschaft von Sri
Lanka, die zu einem Trainingslager nach Bayern anrei-
sen wollte, dort aber nie ankam, sondern sich sofort am
Flughafen in alle Winde zerstreute, weil es in Sri Lanka
alles Mögliche gibt, aber keine Handballnationalmann-
schaft. Wir kennen doch die Fälle von Volkstanzgruppen
aus der Ukraine, wo am Ende die weiblichen Teilnehmer
in Lokalen landeten, wo Volkstänze eher selten aufge-
führt werden.

Die EU befindet sich in einem Visadialog mit Russ-
land. Das ist kein isoliert zu behandelndes Thema. Dazu
gehört nicht nur eine Angleichung der Bedingungen für
die Visaerteilung, sondern eine Angleichung bei Fragen
gemeinsamer Wertvorstellungen und einer Rechtsstaat-
lichkeit, die sich in der Praxis bewährt. Die jüngsten
Bilder von den Demonstrationen aus Anlass des Beginns
der neuerlichen Präsidentschaft von Wladimir Putin und
die Situation der Presse- und Meinungsfreiheit in Russ-
land zeigen, dass wir davon noch sehr weit entfernt sind.

Wir sind als CDU/CSU dafür, den Visadialog mit den
osteuropäischen Ländern mit dem Ziel zu führen, zu Vi-
sumserleichterungen zu kommen. Aber dies ist ein
schwieriger Dialog, der von Russland und der Ukraine
angesichts der dortigen innenpolitischen Entwicklungen
weiter erschwert wurde. Wir brauchen differenzierte Lö-
sungen, wie sie im Antrag der Fraktion Die Linke ge-
rade nicht zu finden sind. Deshalb lehnen wir ihn ab!


Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1717837400

Es ist schon ein bemerkenswerter Antrag, den uns die

Linke da heute vorlegt, bemerkenswert in vielfacher
Hinsicht: zum einen deshalb, weil anscheinend völlige
Visafreiheit unabhängig vom Schutzbedürfnis unseres
Landes und ausgebeuteter Menschen gefordert wird; be-
merkenswert aber auch deshalb, weil die Linke offen-
sichtlich in einem historischen Paradigmenwechsel nun
zum Sachwalter der Arbeitgeber und deren Interessen-
verbänden geworden ist. Insgesamt sechsmal wird näm-
lich in dem Antrag der Ost-Ausschuss der Deutschen
Wirtschaft zur Begründung der eigenen Forderungen
herangezogen. Diese neue Kapitalismusfreundlichkeit
der Linken wird die Kolleginnen und Kollegen der FDP
sicherlich erfreuen. Uns macht sie stutzig.

Denn in der Tat wissen wir darum, dass gerade jene
Wirtschaftskreise bereits seit langer Zeit die Haupt-
lobbyisten für diese Forderung sind. Nun verschließt
sich die SPD selbstverständlich nicht jedem begründe-
ten Wunsch nach mehr Reisefreiheit. Allerdings sage ich

hier klipp und klar: Wer diese Debatte beginnt, der darf
nicht bei Russland enden, vielleicht noch nicht einmal
damit beginnen. Was ist zum Beispiel mit der Visafreiheit
gegenüber der Türkei?

Ich stelle außerdem fest: Legitime Interessen unserer
exportorientierten Wirtschaft sind uns wichtig, aber
nicht heilig. Sie dürfen bei der Entscheidung nicht ein-
seitig dominieren.

Freier Handel und Wandel sind gut und notwendig.
Reisefreiheit ist obendrein ein Wert jeder offenen und
freien Gesellschaft, doch nicht um den Preis der Auf-
gabe unserer Sicherheitsinteressen.

Im Visa-Untersuchungsausschuss haben wir recht
übereinstimmend erfahren, dass Kriminelle, die zum
Beispiel junge Frauen zur Prostitution zwingen, von ei-
ner liberalen Visapraxis profitieren und jede noch so gut
gemeinte Liberalisierung missbrauchen. Seit jener Zeit
ist viel geschehen. Manchmal ist unser Visaregime sogar
zu streng geworden, wie wir wohl alle schon als Wahl-
kreisabgeordnete erfahren haben.

Es ist heute daher durchaus sinnvoll und richtig, über
Möglichkeiten einer Liberalisierung nachzudenken, zum
Beispiel bei Vertrauenspersonen, im Bereich des Aus-
tauschs mit der Wissenschaft oder bei Vielreisenden.
Dazu stehen wir zur Verfügung. Wir stehen allerdings
nicht zur Verfügung für den völligen Wegfall der Vi-
sumpflicht, gerade gegenüber Russland. Denn organi-
sierte Kriminalität, Terroraktivitäten und Drogenhandel
würden dann noch leichter ein Einfallstor finden.

Daher erwarten wir, dass die Regierungsfraktionen,
bei denen ja im Falle der Unionsfraktionen ein deutli-
cher Riss zwischen Außen- und Innenpolitikern erkenn-
bar ist, vor allem einmal sagen, was sie denn wollen.
Das gilt auch für die Regierung: Sie muss sagen, was sie
will: völlige Visafreiheit, wie die Kanzlerin andeutete,
ein gelockertes Regime oder gar keine Veränderung.

Wir werden uns im Ausschuss orientiert mit allen
durchdachten Vorschlägen fair auseinandersetzen,
selbstverständlich auch mit dem Antrag der Linken. Un-
ser Maßstab wird dabei das Gesamtwohl unseres Landes
sein, nichts anderes.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Deutschland ist ein weltoffenes Land.

Deutschland braucht auch Zuwanderung. Angesichts
der demografischen Entwicklung ist es unerlässlich, da-
für zu sorgen, dass Menschen sich dafür entscheiden,
nach Deutschland zu kommen. Dabei geht es nicht da-
rum, wie von vielen Seiten befürchtet, Tür und Tor unge-
hemmt zu öffnen; vielmehr muss es im Interesse der
deutschen Wirtschaft, aber auch der deutschen Gesell-
schaft liegen, Menschen nach Deutschland zu locken,
die einen Beitrag zur wirtschaftlichen und gesellschaft-
lichen Entwicklung des Landes leisten wollen und kön-
nen.

Deutschland muss daher seine Willkommenskultur
ausbauen und die Hürden für die Zuwanderung senken.
Da hat die FDP gemeinsam mit dem Koalitionspartner

Zu Protokoll gegebene Reden





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


CDU/CSU nun Deutschland einen entscheidenden
Schritt vorangebracht: mit der Umsetzung der soge-
nannten Bluecard-Richtlinie. Dadurch werden für Fach-
kräfte aus dem außereuropäischen Ausland endlich Er-
leichterungen für den Antritt eines Arbeitsverhältnisses
innerhalb der EU geschaffen: Die Vorrangprüfung ent-
fällt, die Mindestgehaltsschwelle ist auf 44 000 Euro ab-
gesenkt, bei Mangelberufen, wie beispielsweise Ärzten
und Ingenieuren, sogar auf 33 000 (Stand 2011).

Bisher mussten Hochqualifizierte in der Regel ein
Mindestgehalt von 66 000 Euro nachweisen, um diese zu
erlangen. Gerade in mittelständischen Unternehmen
können aber diese Gehälter nicht bezahlt werden. Um
die Attraktivität für Arbeitnehmer aus dem Nicht-EU-
Ausland zu steigern, war die Absenkung der Mindestge-
haltsschwelle längst überfällig.

Auch für ausländische Studierende und Hochschulab-
solventen gibt es deutliche Erleichterungen. Die Visa-
Warndatei, die wir geschaffen haben, kann einen wichti-
gen Beitrag zum Abbau der Bürokratie und zum Abbau
von Wartezeiten im Visumverfahren bringen. Bisher hat-
ten die Auslandsvertretungen jeweils eigene Datenban-
ken mit den Daten zu Visumantragstellern, Einladern
etc. Gab es bei einer Antragstellung Auffälligkeiten,
musste kompliziert eruiert werden, ob bereits woanders
Daten vorliegen. Jetzt wird durch eine einheitliche Visa-
warndatei erreicht, dass alle am Visumverfahren betei-
ligten Behörden die gleichen Informationen haben. Da-
mit können Wartezeiten für Antragsteller verringert wer-
den.

Beide genannten Punkte sind wichtige Schritte für die
Öffnung Deutschlands für Fachkräfte. Darüber hinaus
wird aber auch weiterhin an anderen Stellen, wie im
Auswärtigen Amt, an Vereinfachungen des Verfahrens
gearbeitet.

Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle hat hier
wichtige Schritte eingeleitet: Die persönliche Vorspra-
che bei Reisenden, die innerhalb von zwei Jahren min-
destens zweimal ein Schengen-Visum erhalten haben,
wird abgeschafft und durch die Vielreisendenregelung
ersetzt. Mittlerweile verfügen fast die Hälfte aller Ge-
schäftsreisenden über Mehrjahresvisa für häufig Rei-
sende. Außenhandelskammern, die vom Deutschen In-
dustrie- und Handelskammertag benannt worden sind,
können für ihre Mitglieder und deren Beschäftigte Vi-
saanträge entgegennehmen.

Geplant ist weiterhin, den Abschluss der Visadialoge
mit den osteuropäischen Staaten gegenüber der EU-
Kommission zu forcieren und darauf hinzuwirken, auch
mit der Türkei in einen Visadialog zu treten.

Die Vision eines offenen Wirtschaftsraumes „von Lis-
sabon bis Wladiwostok“ ist gerade für Liberale beste-
chend. Es muss möglich sein, ohne Erosion der sozialen
Sicherheit die wirtschaftlichen Barrieren abzubauen
und Handelshemmnisse zu beseitigen.

Die FDP wird sich im Dialog mit Wirtschaftsverbän-
den, Unternehmen, Ausländer- und Sicherheitsbehörden
weiterhin zunächst für eine wesentliche Vereinfachung

und Entbürokratisierung des Visumverfahrens einsetzen.
Rechtssichere und einfache Lösungen sind gefragt.

Weltoffenheit ist im Interesse der deutschen Gesell-
schaft.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717837500

Es ist mir außerordentlich wichtig, dass wir das

Thema der Visafreiheit mit Russland und Osteuropa hier
im Bundestag beraten. Glücklicher wäre ich gewesen,
wenn es zu einer gemeinsamem Initiative der Mitglieder
des Auswärtigen Ausschusses gekommen wäre. Denn es
geht hier nicht um parteipolitisches Geplänkel, sondern
um die Reisefreiheit von Millionen von Menschen, Bür-
gerinnen und Bürgern der EU und Russlands und Ost-
europas. Es ist nur noch absurd, dass sich die Mög-
lichkeiten, zum Beispiel zwischen Deutschland und
Russland hin und her zu reisen, in den letzten Jahren
verschlechtert haben.

Während wir in dieser Frage nicht weiterkommen,
stehen sich Abertausende von Menschen die Beine vor
deutschen Konsulaten in den Bauch. Endlich drinnen
angekommen, werden sie dann mit der weiteren Erbrin-
gung von Dokumenten beauftragt. Viele reisen in Flä-
chenstaaten wie Russland dafür tagelang zu den deut-
schen Konsulaten. Wir Mitglieder des Auswärtigen
Ausschusses und die mit der Region befassten Experten
bei unserer Anhörung waren uns einig: Wir verbreiten
eine Unwillkommenskultur anstelle einer Willkommens-
kultur.

Da nützt es uns auch nichts, wenn die Bundesregie-
rung viel Geld in ein Deutschland-Jahr in Russland in-
vestiert. Die können uns ja eh nicht besuchen kommen!

Und die Beziehungen der Staaten untereinander lei-
den: Als ich Anfang Februar in Moskau war, sagte mir
der verantwortliche Abteilungsleiter im russischen Au-
ßenministerium, dass Russland die scharfen Visarege-
lungen von Deutschland als letztes Element des Kalten
Krieges wahrnehme und dass eine substanzielle Verbes-
serung des deutsch-russischen Verhältnisses nur mög-
lich sei, wenn dieses Problem endlich aus der Welt ge-
schafft sei.

Die Dekanin der deutsch-russischen Fakultät der
Universität Uljanowsk schrieb mir am 3. Mai, nachdem
sie ein Interview von mir zur Visafreiheit im russischen
Fernsehen gesehen hatte: „Meines Erachtens nach kön-
nen unsere Länder nicht eher eine Annäherung anstre-
ben, bis die unnötigen Bürokratieerscheinungen aus
dem Weg geräumt sind.“ Die Studienzeit ihrer Deutsch-
studenten würde sich um ein ganzes Jahr verzögern,
weil diese immer so lange auf die Visaerteilung ihres
Deutschland-Aufenthaltes warten müssten, so die Deka-
nin weiter.

Auch andere Staaten haben reagiert. EU-Bürger dür-
fen in Belarus und Aserbaidschan ihre Visa nicht mehr
direkt bei der Einreise beantragen. Kasachstan ver-
langte zwischendurch ein persönliches Vorsprechen von
Antragsstellerinnen und Antragsstellern. Russland ver-
schärfte die Bedingungen zur Visavergabe speziell für

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)


Deutsche. Anders als früher muss die Rückkehrwilligkeit
und Rückkehrfähigkeit belegt werden.

Nun gab es mehr als einen EU-Russland-Gipfel in
Brüssel, bei dem die Zielsetzung einer Visafreiheit von
beiden Seiten bestätigt wurde. Wenn man sich dann um-
hört, warum das nicht zu echten Aktivitäten führt, dann
hört man von Moskau bis nach Madrid: Deutschland
bremst. Das darf nicht sein.

In unserem Antrag haben wir die Initiative des Ost-
Ausschusses der Deutschen Wirtschaft gelobt, wobei wir
immer anmerken, dass sichergestellt werden muss, dass
nicht nur Vertreter von Wirtschaft und Wissenschaft,
sondern alle Menschen vereinfacht reisen können. Und
wir haben uns sehr über die positive Rückmeldung des
Ost-Ausschusses zu unserem Antrag gefreut. Dankes-
schreiben von Wirtschaftsverbänden bekommen wir ja
auch nicht alle Tage.

Natürlich sind die Vorschläge, die im Papier des Ost-
Ausschusses gemacht werden und die wir auch mit gro-
ßer Übereinstimmung auf unserer gemeinsamen Anhö-
rung am 30. September 2012 im Auswärtigen Ausschuss
diskutiert haben, richtig: Die desaströse Visasituation
muss schnell mit sofortigen Maßnahmen verbessert wer-
den. Dazu gehört, die Anzahl der angeforderten Unter-
lagen drastisch zu reduzieren, das Einreichen von Ko-
pien zu erlauben, auf persönliche Vorsprachen vielfach
zu verzichten, Onlineverfahren zu ermöglichen, ein Be-
schwerdemanagement einzuführen und vieles mehr.
Diese Verbesserungen dürfen aber nicht zur Erhöhung
der Gebühren genutzt werden. Dabei darf das Ziel einer
Visafreiheit nicht aus den Augen verloren, sondern muss
vorangetrieben werden.

Die Visazahlen der letzten Jahre zeigen den im euro-
päischen Vergleich unfreundlichen Umgang Deutsch-
lands mit Menschen, die zu uns kommen wollen:
Deutschland hat nur ein Drittel der Visa an Russinnen
und Russen ausgegeben, die Finnland ausgegeben hat:
350 000 im Vergleich zu 960 000. Die Anzahl der Mehr-
fachvisa blieb gering.

Es sind nicht nur die Antragstellerinnen und Antrag-
steller, denen das Leben durch die aktuelle Visapraxis
schwer gemacht wird. Konsulatsmitarbeiterinnen und
-mitarbeiter beklagen die aufwendige Bearbeitung der
Anträge. Universitäten, Verbände und Firmen innerhalb
Europas sehen sich in ihren Handlungsmöglichkeiten
eingeschränkt. Familien können einander nicht besuchen.
Zivilgesellschaftliche Kontakte sind kaum möglich – das
alles in einer Zeit, wo wir uns alle darüber einig sind,
dass das Reden miteinander, das Zuhören und das von-
einander Lernen das Wichtigste ist, was Menschen aus
verschiedenen Ländern miteinander tun können.

Deswegen appellieren wir an Sie, Frau Merkel, an
die Bundesregierung, an die Bremserinnen und Bremser
aus der Innenpolitik. Das Ziel liegt so nah. Es gibt eine
Arbeitsgrundlage für gemeinsames Handeln in Europa,
dadurch sogar eine Verpflichtung, es gibt viel Willen und
viel Hoffnung auf allen Seiten. Ergreifen Sie die Hand,
die sich ausstreckt.

Wir protestieren: Schluss mit der menschenunwürdi-
gen Behandlung unserer Nachbarinnen und Nachbarn.
Schluss mit den Ausreden, dem Hinhalten, dem Bremsen.
Wir wollen eine Visafreiheit, und ich glaube, eine große
Mehrheit der im internationalen Bereich vertretenen Ab-
geordneten des Bundestages will sie auch.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Man kann es der Fraktion der Linken nicht verden-
ken, dass es ihr eine gewisse Freude bereitet haben
muss, den Vorstoß des Ost-Ausschusses der Deutschen
Wirtschaft zur Visaliberalisierung hier in einem Antrag
vorzulegen. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirt-
schaft hatte das Thema Visaliberalisierung vor allem
vor dem Hintergrund der Verbesserung der wirtschaftli-
chen Kooperation auf seine Tagesordnung gesetzt. Die
Außenpolitiker von CDU und SPD folgten daraufhin
dem Druck aus dem Ost-Ausschuss mit dem altbekann-
ten Motto: Und wenn du nicht mehr weiterweißt, dann
gründe einen Arbeitskreis. – Dieser tagte in steter Re-
gelmäßigkeit und großer Gemeinsamkeit und hatte nur
einen Haken: Die gemeinsame Einsicht, dass eine gera-
dezu paranoide Visapolitik, wie sie auf deutschen Kon-
sulaten zum Teil gehandhabt wird, nicht mehr in die Zeit
von Globalisierung und einer weltoffenen Politik passt,
wurde von allen Außenpolitikern geteilt. Die Innenpoli-
tiker beider großen Fraktionen blieben allerdings voll-
kommen unbeeindruckt und tauchten nicht einmal zu
den Sitzungen des Arbeitskreises auf. So verwundert es
nicht, dass sich die beiden Vorsitzenden des Arbeitskrei-
ses bislang in Schweigen gehüllt haben, was eine ge-
meinsame parlamentarische Initiative hinsichtlich der
Visaliberalisierung betrifft.

Beim Thema „Visa“ bricht in der deutschen Politik
fast der Angstschweiß aus. Der politische Coup, mit dem
die Union vor sieben Jahren den grünen Außenminister
und die rot-grüne Regierung ins Abseits manövrieren
wollte, indem man den drohenden Untergang Deutsch-
lands heraufbeschwor, hat bis zum heutigen Tag seine
Spuren hinterlassen. Im Klartext bedeutet dies, dass in
den konsularischen Behörden das Innenministerium
quasi immer mit am Tisch sitzt. Aus Angst vor Konse-
quenzen und Anwürfen aus dem Innenministerium han-
deln Sachbearbeiter zu ihrem eigenen Schutz lieber res-
triktiv statt liberal. Den Schaden haben das Ansehen
Deutschlands und diejenigen, die im ganz normalen
Austausch mit unserem Land stehen: Geschäftsleute,
Studierende, Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler und Familienangehörige.

In dieser Hinsicht ist der generelle Antrag, den die
Fraktion Die Linke vorgelegt hat, von seiner Intention
her richtig. Allerdings wirft er auch Fragen auf: Wie
möchte die Fraktion Die Linke begründen, dass zum
Beispiel Georgier oder Ukrainer Nutznießer einer ge-
meinsamen Liberalisierung werden sollen, Menschen
aus der bereits assoziierten Türkei in diesem Antrag
aber nicht erwähnt werden? Da ist offensichtlich bei
dem Wunsch, der Regierungskoalition eins auszuwi-
schen, die unkritische Übernahme der Thesen des Ost-
Ausschusses der Deutschen Wirtschaft zu einer politi-

Zu Protokoll gegebene Reden





Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)


schen Falle geworden. Wir fragen außerdem: Warum
fehlt in diesem Antrag eigentlich das Kosovo, dessen
Bürgerinnen und Bürger als einziges Land des westli-
chen Balkan immer noch keine visafreie Einreise in den
Schengen-Raum möglich ist? Zufall oder Absicht? Be-
vor wir uns zu diesem Antrag verhalten, fordern wir in
dieser Angelegenheit Klarheit.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717837600

Es wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9191 in die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. Die Federführung ist je-
doch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP
wünschen die Federführung beim Innenausschuss, die
Fraktion Die Linke beim Auswärtigen Ausschuss.

Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktion Die Linke. Wer stimmt da-
für? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dafür
haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die
Koalitionsfraktionen. Der Überweisungsvorschlag ist
abgelehnt.

Wir kommen jetzt zu dem Überweisungsvorschlag
von CDU/CSU und FDP, die Federführung beim Innen-
ausschuss vorzusehen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen gibt es keine. Dann ist die
Überweisung so bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktio-
nen beschlossen.

Tagesordnungspunkt 30:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin im Aus-
wärtigen Amt anerkennen

– Drucksache 17/7488 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

Die Reden sind zu Protokoll genommen.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1717837700

Historische Würdigungen erfordern oft eine sehr

komplexe und eingehende Betrachtung der Begleitum-
stände. Das gilt auch für den Fall von Ilse Stöbe. War
Ilse Stöbe eine Widerstandskämpferin gegen den Natio-
nalsozialismus? Das ist möglich. Es gibt Hinweise da-
rauf. Wir sollten das überprüfen, und wenn es sich bestä-
tigt, dann sollten wir sie auch als solche anerkennen, als
die einzige Form nachholender Gerechtigkeit, die uns
noch möglich ist.

Aber eingehender prüfen müssen wir es doch. Wenn
eine Anerkennung als Widerstandskämpfer mehr sein
soll als subjektive Wertung, dann muss sie in Tat und
Motiv nachvollziehbar sein. Der vorliegende Antrag
macht es sich einfach, zu einfach. Auf welche Informa-
tionen stützt er sich? Ich will diese Kernaussagen kon-

zentriert zusammenfassen: Erstens. Ilse Stöbe hat in der
Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes gearbei-
tet. Zweitens hat sie seit 1933 Informationen an die
Sowjetunion weitergeleitet. Drittens haben dazu Pla-
nungen des Überfalls auf die Sowjetunion gehört. Vier-
tens wurde sie 1942 in Plötzensee hingerichtet.

Vieles spricht dafür, dass ihr Schicksal ein Ausweis
nationalsozialistischen Unrechts ist. Aber viele Fragen
bleiben unbeantwortet. Vor allem gilt das für die Frage
nach der Motivation. Ohne das Motiv besagen Handlun-
gen und Tatsachen noch nichts über ihre moralische und
rechtliche Qualität. Diesen Zusammenhang gilt es zu
klären, um ein vollständiges Bild zu gewinnen. Im Aus-
wärtigen Amt wird derzeit erörtert, ob Ilse Stöbe als Wi-
derstandskämpferin zu würdigen ist. Wir sollten diesen
Prozess jetzt erst einmal abwarten und ihm nicht vor-
greifen, im Sinne der Sachlichkeit und der Gerechtigkeit.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1717837800

Zur Zeit des Nationalsozialismus haben sich in

Deutschland einige wenige Menschen als Einzelne oder
als kleine Gruppen gegen die übergroße Mehrheit ge-
stellt. Diese Mehrheit war eine Mehrheit des Schwei-
gens, des Duldens oder gar der aktiven Unterstützung
des menschenverachtenden Naziregimes. Schon deshalb
erforderte der Widerstand der wenigen ein großes Maß
an Mut und Entschlossenheit. Viele haben diesen Mut
mit Verhaftung und Folter, viele auch mit ihrem Leben
bezahlt.

An diese Menschen zu erinnern, ist unsere Pflicht, ge-
rade wenn sie durch ihren Widerstand ihr Leben riskiert
oder gar verloren haben. Sie bilden eine wichtige Linie
der Tradition des Widerstands gegen die Unmenschlich-
keit. Auf diese Tradition darf und will unsere Demokra-
tie, darf Deutschland nicht verzichten.

Deshalb begrüße ich auch das Grundanliegen des
Antrags der Fraktion der Linken, Frau Ilse Stöbe als Wi-
derstandskämpferin anzuerkennen. Sie hat ohne Zweifel
wichtigen Widerstand geleistet, unter anderem, indem
sie Informationen über die Pläne Hitlers für einen An-
griff auf die Sowjetunion weitergab. Sie wurde deshalb
von der Gestapo verhaftet und auf grausame Weise er-
mordet.

Ilse Stöbe wird deshalb auch zu Recht in der Ausstel-
lung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendler-
block in Berlin genannt und geehrt. Insofern ist die
Grundforderung, ihren Widerstand öffentlich anzuer-
kennen, bereits erfüllt.

Die Antragsteller erwecken allerdings den Eindruck,
dass die Agententätigkeit von Frau Stöbe für die Sowjet-
union bislang ein Hinderungsgrund gewesen ist, sie zu
ehren. Ich kann dazu nur feststellen, dass es zum Glück
nach dem Ende des Kalten Krieges ein breiter gesell-
schaftlicher Konsens in Deutschland ist, dass die Agen-
tentätigkeit gegen das nationalsozialistische Deutsch-
land im Auftrag von Alliierten – also auch im Auftrag
der Sowjetunion – längst nicht mehr als ehrenrührig an-
gesehen wird.





Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)


Zur Forderung der Antragsteller, Frau Stöbe auf die
Ehrentafel der Widerstandskämpfer im Auswärtigen Amt
aufzunehmen, kann ich hier in der ersten Lesung nicht
abschließend Stellung nehmen. Das ist in jedem Fall zu
prüfen. Das Auswärtige Amt will offenbar diese Prüfung
auch auf der Grundlage von Moskauer Dokumenten
vornehmen. Ich plädiere dafür, dass dies zügig ge-
schieht.

In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt blei-
ben, dass das Auswärtige Amt bereits Rudolf von
Schelihas auf seiner Erinnerungstafel gedenkt. Er war
der Vorgesetzte von Frau Stöbe im Auswärtigen Amt und
ist am 22. Dezember 1942 mit ihr gemeinsam von der
NS-Unrechtsjustiz abgeurteilt und in Berlin-Plötzensee
exekutiert worden.

Im Gegensatz zu ihm hat Ilse Stöbe keine überleben-
den näheren Verwandten, die sich in der Bundesrepublik
für ihr Andenken hätten einsetzen können. Ihre Mutter
war ebenfalls von den Nazis im KZ Ravensbrück ermor-
det worden. Ihr Halbbruder wurde im Gefängnis Bran-
denburg-Görden hingerichtet.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines betonen:
Wenn man zur Person Ilse Stöbe recherchiert, kommt
man auch nicht daran vorbei, dass die Staatssicherheit
in der DDR sie sehr in Ehren hielt als erfolgreiche So-
wjetspionin. Die Tatsache, dass Ilse Stöbe von der Stasi
als „eine der ihren“ vereinnahmt wurde, sollte aber in
unseren Augen nichts an ihren tatsächlichen Verdiensten
ändern. Wir sollten uns nur gemeinsam darum bemühen,
dass nicht der falsche Eindruck entsteht, es solle hier an
eine unselige Tradition des Ministeriums für Staats-
sicherheit angeknüpft werden.

Denn die Stasi hat im Gegensatz zum wiedervereinig-
ten Deutschland keineswegs alle Widerstandskämpfer
gleich geehrt. Im Gegenteil, in der DDR und auch in der
Sowjetunion wurden die meisten Vertreter des nichtkom-
munistischen Widerstands als Konterrevolutionäre
gebrandmarkt. Nur die Kommunisten galten dort als
„echte“ Widerstandskämpfer. So erkennt man gerade
am Umgang mit der eigenen Geschichte, wie fragwürdig
die Ideologie der SED und der Stasi war.

So geht es in unserer Debatte heute darum, allen Ge-
rechtigkeit widerfahren zu lassen, die Widerstand geleis-
tet haben – unabhängig davon, ob es um Christen, Ju-
den, Sozialdemokraten, Kommunisten oder andere geht.
Ilse Stöbe wird zu Recht als Widerstandskämpferin ge-
ehrt, unabhängig von ihrer politischen Überzeugung.
Und das ist auch gut so.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1717837900

Es ist eine unmissverständliche und unantastbare

Grundvoraussetzung für unseren gesellschaftlichen
Grundkonsens: Menschen, die gegen die Nazis aktiv wa-
ren, und diejenigen, die Opfer des Systems wurden, fin-
den unsere Anerkennung, Ehrung und Würdigung. Dazu
gehört aber auch Umsichtigkeit und Genauigkeit, um
Pauschalehrungen zu unterlassen und den tatsächlichen
Opfern und Widerstandskämpfern zu gedenken. Sicher-
lich ist Ilse Stöbe eine Gegnerin und ein Opfer des un-

menschlichen NS-Regimes gewesen. Sie hat wohl wäh-
rend ihrer Tätigkeit beim Auswärtigen Amt den Sowjets
Informationen zugespielt und wurde dafür von den Nazis
zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dennoch ist der
vorgelegte Antrag aus zwei Gründen abzulehnen.

Zum einen ist er schon inhaltlich konfus, unvollstän-
dig und zum Teil unrichtig. Bevor Ilse Stöbe von der
Bundesregierung in einem Festakt als verdiente Wider-
standskämpferin gegen die Naziherrschaft geehrt wer-
den kann, muss zweifelsfrei belegt sein, dass ihr Wirken
auch diese Auszeichnung verdient. Bislang gibt es nur
sehr spärliche und unvollständige Informationen über
das Leben von Ilse Stöbe sowie ihr Handeln und die ge-
nauen Beweggründe hierfür. Auch die Studie „Das Amt“
von 2010 beschäftigt sich nicht ausführlich mit ihr und
sagt keineswegs eindeutig, dass es „längst überfällig“
sei, Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin zu ehren und
auf die Ehrentafel für verdiente Widerstandskämpfer im
Auswärtigen Amt zu setzen. Das Kapitel, in dem sie le-
diglich an wenigen Stellen genannt wird, beschäftigt
sich nur ausführlich mit dem Wirken von Rudolf
Scheliha und den Umständen um dessen Rehabilitierung
und Auszeichnung nach dem Krieg.

Im Zuge der Vergangenheitsaufarbeitung des Aus-
wärtigen Amts wird dieses natürlich auch prüfen, inwie-
weit weitere verdiente frühere Mitarbeiter eine Ehrung
verdienen. Bezüglich Ilse Stöbe steht das Auswärtige
Amt derzeit auch in Kontakt mit entsprechenden Histori-
kern, um mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Wenn
diese Untersuchungen mehr Erkenntnisse über das Le-
ben und Wirken von Frau Stöbe ergeben und diese zu
dem Ergebnis kommen, dass sie als eine verdiente Wi-
derstandskämpferin geehrt werden muss, dann wird das
Auswärtige Amt sich dem sicherlich nicht verwehren.
Aber dazu bedarf es ausführlicher Recherche und weite-
rer gesicherter Fakten. Ein Antrag mit vielen unbelegten
Behauptungen reicht dafür nicht aus.

Ganz abgesehen davon kann der Antrag auch deshalb
nur abgelehnt werden, weil die Linke damit in Wirklich-
keit wieder einmal ihre ideologische Linie untermauern
will, wenn es um die Aufarbeitung der Gewaltherrschaf-
ten in der deutschen Geschichte geht. Es drängt sich er-
neut der Eindruck auf, dass es ihr nicht so sehr um die
Person Ilse Stöbe geht, sondern vielmehr darum, die Le-
gende zu befeuern, dass kommunistische Widerstands-
kämpfer bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts bei Eh-
rungen systematisch ignoriert worden seien. Dass noch
immer Anträge mit solch klassenkämpferischem Duktus
eingebracht werden, zeigt das verfahrene Weltbild der
Linken. Sicherlich: Bei der Aufarbeitung der NS-Dikta-
tur wurden in Westdeutschland Fehler begangen, die
aber nach und nach – zuletzt auch durch die Studie „Das
Amt“ – erkannt und bestmöglich angegangen worden
sind. Mit den antikommunistischen, paranoiden Ver-
schwörungstheorien leistet die Linke sicherlich keinen
Beitrag zu einer nachhaltigen Aufarbeitungskultur. Im
Gegenteil zeigt die Partei gerade bei der Aufarbeitung
des DDR-Unrechts, dass sie einer Kultur des Vergessens
das Wort reden will. Es wäre wünschenswert, wenn die
Linke auch bei der Identifizierung und Ehrung von Wi-
derstandskämpfern gegen das SED-Regime den gleichen

Zu Protokoll gegebene Reden





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)


Eifer an den Tag legen würde. Dies ist aber schon des-
halb nicht zu erwarten, weil sie in ihren Reihen dabei
nicht fündig werden würde.

Diese Bundesregierung geht bei der Aufarbeitung der
eigenen Vergangenheit einen sehr guten Weg. Dazu ge-
hört nicht nur die Aufdeckung von bisher unbekannten
Verflechtungen, sondern zweifelsfrei auch die Ehrung
bisher unberücksichtigter verdienter Kämpfer gegen das
NS-Regime. Dies wird mit der notwendigen Sorgfalt und
ohne jegliche ideologische Aufgeregtheiten erforscht
und umgesetzt.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1717838000

Der im Antrag von meiner Fraktion beschriebene

Wunsch, dass Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin ge-
gen den Nationalsozialismus nun endlich Anerkennung
findet, ist mir ein sehr wichtiges Anliegen. Deswegen hat
es mich auch besonders gefreut, dass das Auswärtige
Amt bereits zugesagt hat, eine Aufnahme Stöbes in die
berühmte Galerie der Widerstandskämpfer zu prüfen.

Die Notwendigkeit, sich dieser Angelegenheit endlich
anzunehmen, wurde mir erneut bewusst, als ich den Be-
richt der Historikerkommission zur Geschichte des Aus-
wärtigen Amts las. An dieser Stelle möchte ich betonen,
dass ich – bei allen möglichen Differenzen in den Reihen
der Historiker – den Bericht der Autoren Conze, Frei,
Hayes und Zimmermann für eine große und notwendige
Leistung halte. Am Ende der Abhandlung über den lan-
gen juristischen Kampf der Familie Scheliha für dessen
Anerkennung als Widerstandskämpfer heißt es auf Seite
569: „Ilse Stöbe, Schelihas Mitarbeiterin in der Infor-
mationsabteilung, die am gleichen Tag mit ihm verurteilt
und in Plötzensee hingerichtet wurde, fehlt nach wie vor
auf der Tafel. Sie hatte keine Verwandten mehr, die sich
für sie einsetzen konnten, ihre Mutter war in Ravens-
brück ermordet, ihr Halbruder in Brandenburg-Görden
hingerichtet worden.“ Dazu muss man erwähnen, dass
beide sich sowohl politisch gegen die Nazis im Wider-
stand engagierten als auch untergetauchten Juden hal-
fen.

Den Beitrag Ilse Stöbes für den Widerstand gegen den
Nationalsozialismus und ihr Leben haben wir in unse-
rem Antrag kurz skizziert. Angeregt durch Rudolf
Herrnstadt gab Ilse Stöbe Informationen an den sowjeti-
schen Geheimdienst GRU weiter, in den Jahren 1940
und 1941 auch aus dem Auswärtigen Amt heraus, wo sie
– auch das ist inzwischen nachgewiesen – ordentlich an-
gestellt gewesen ist. Im September 1942 wurde sie im
Rahmen der Gestapo-Aktionen gegen die von der Ge-
stapo sogenannte Rote Kapelle verhaftet. Der einzige
Zusammenhang zwischen Stöbe, Herrnstadt, Scheliha
und der Roten Kapelle war jedoch, dass sie zum glei-
chen Funker Kontakt hatten. Die Hinrichtung Ilse
Stöbes erfolgte am 22. Dezember 1942 durch das Fall-
beil in Plötzensee.

Wir haben das vergangene Jahr genutzt, um alle vor-
handenen Informationen zu Ilse Stöbe zusammenzutra-
gen. In dem Artikel „Rote Nelken für Alta“ – das war
Ilse Stöbes Deckname beim sowjetischen Geheimdienst
GRU –, steht, was Ilse Stöbe Ende Februar 1941 an die

Zentrale des GRU mitteilte: „Die Vorbereitungen zu ei-
nem Krieg gegen die UdSSR sind schon weit gediehen.
… Es werden drei Armeegruppen unter der Führung der
Feldmarschälle Bock, Rundstedt und Leeb gebildet. …
Als Termin für den Angriff muss man mit dem 20. Mai
rechnen.“ Auch wenn der schreckliche Angriff, der als
Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion in die
Geschichte einging, dann erst am 22.Juni begann, zeigt
sich, mit welchen präzisen Informationen Ilse Stöbe ver-
suchte, die sowjetische Führung zu warnen. Sie tat dies
aus der inneren Überzeugung heraus, dass es die einzige
Möglichkeit sei, dem faschistischen Deutschland Einhalt
zu gebieten und bezahlte dies, wie so viele andere, mit
ihrem Leben. Ilse Stöbe hat keine Familie mehr, die für
ihre Anerkennung kämpfen kann. Deswegen haben wir
diesen Antrag hier im Parlament eingereicht.

Dazu kommt: Ilse Stöbe entstammte einer Arbeiterfa-
milie aus Lichtenberg, und sie ist eine Frau, die ihre Wi-
derstandstätigkeit zwar in Zusammenarbeit mit Män-
nern, aber doch eigenständig organisierte.

Alle drei Umstände mögen dazu beigetragen haben,
dass sie bisher nicht geehrt wurde. Die Autorin Sabine
Kebir konstatiert außerdem einen Zusammenhang zu
den dominanten Deutungsmustern in Bezug auf die ei-
gene Geschichte in beiden deutschen Staaten. Sie meint,
dass es nie zu einer Anerkennung des Lebenswerkes von
Ilse Stöbe kam, weil sie in der Bundesrepublik als Kom-
munistin diskreditiert war. Dabei bestand ihr Wider-
standsnetzwerk keinesfalls nur aus Kommunisten, wie
die enge Zusammenarbeit mit Scheliha zeigt.

In der DDR erfuhr Ilse Stöbe zwar Ehrungen; eine
Zeit lang war eine Schule in Berlin-Lichtenberg nach ihr
benannt. Aber man scheute sich doch, ihr Lebensbild in
die Öffentlichkeit zu bringen. Gewichtiger Grund hier-
für war ihre Verbindung zu Rudolf Herrnstadt, der nach
seinem Sturz als Chefredakteur des „Neuen Deutsch-
land“ am 17. Juni 1953 zur Unperson wurde.

Es scheint, als sei der Moment gekommen, in dem all
die genannten Widerstände überwunden werden könn-
ten. Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, um
der überfälligen Ehrung Ilse Stöbes durch den Deut-
schen Bundestag Nachdruck zu verleihen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Die Aufarbeitung der deutschen Geschichte und der
wahrhaftige Umgang mit den Verbrechen der Nazizeit
gehören zu den Grundlagen unserer Gesellschaft, unse-
res Staates und unserer Politik.

Dagegen lag lange Jahre ein Schleier des Schweigens
über der Rolle der deutschen Ministerien im Holocaust;
insbesondere die Rolle des Auswärtigen Amtes war un-
klar bis verklärt. Das änderte sich, als der grüne Außen-
minister Joschka Fischer im Rahmen der sogenannten
Nachrufdebatte eine Studie in Auftrag gab, die die Ver-
gangenheit des Amtes aufarbeiten sollte. Die Studie
wurde unter dem Titel „Das Amt“ veröffentlicht. Außen-
minister Fischer war durch einen Brief der ehemaligen
Mitarbeiterin des Auswärtigen Amtes, Marga Henseler,

Zu Protokoll gegebene Reden





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


darauf aufmerksam geworden, dass Diplomaten mit Na-
zivergangenheit immer noch im Amt mit Nachrufen ge-
ehrt würden.

Die Studie brachte erschreckende Fakten über die ak-
tive Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes an der
Vernichtung der Juden zutage. Spätestens seitdem ist die
These, das Auswärtige Amt sei nur „Mitläufer“ gewe-
sen, obsolet. In diesem Kontext bewirkte Außenminister
Joschka Fischer außerdem, dass Fritz Kolbe 2004 als
Widerstandskämpfer anerkannt und auf der Gedenktafel
im Auswärtigen Amt geehrt wurde.

Nun fordert die Linke in ihrem Antrag, der uns heute
vorliegt, dass Ilse Stöbe auf die Ehrentafel der Wider-
standskämpferinnen und Widerstandskämpfer im Aus-
wärtigen Amt aufgenommen wird. Sie war Mitarbeiterin
in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amts und
wurde am 22. Dezember 1942 im Rahmen der Aktion
„Rote Kapelle“ von den Nazis hingerichtet.

Wir unterstützen dieses Ansinnen auf der ganzen Li-
nie. Die Erkenntnisse der Studie „Das Amt“ über Ilse
Stöbe stützen die Forderung, und die Autoren bemän-
geln, dass sie nicht auf der Ehrentafel steht. Auf Seite
569 heißt es: „Ilse Stöbe, Schelihas Mitarbeiterin in der
Informationsabteilung, die am gleichen Tag mit ihm ver-
urteilt und in Plötzensee hingerichtet wurde, fehlt nach
wie vor auf der Tafel. Sie hatte keine Verwandten mehr,
die sich für sie einsetzen konnten, ihre Mutter war in Ra-
vensbrück ermordet, ihr Halbruder in Brandenburg-
Görden hingerichtet worden.“

Mehrere Historikergruppen unterschiedlicher For-
schungseinrichtungen prüfen den Fall intensiv. Wir ge-
hen fest davon aus, dass sie im Ergebnis empfehlen wer-
den, Ilse Stöbe zu ehren.

Ich möchte aber noch auf zwei weitere Punkte einge-
hen, die mir wichtig sind:

Erstens. Die Panzerschränke müssen geöffnet wer-
den. Joschka Fischers Ansinnen – und das unterstrei-
chen wir nach wie vor – war die lückenlose Aufarbei-

tung der Geschichte des Amts. Wenn nun die Autoren der
Studie „Das Amt“ in der FAZ vom 5. Mai 2012 bekla-
gen, dass das politische Archiv des Amts die For-
schungsarbeit behindere, kann etwas nicht stimmen. Die
Autoren sprechen von vernichteten Akten, verschwunde-
nen Dokumenten und Beitrag zur Vertuschung. Es muss
endlich freien und ungehinderten Zugang für unabhän-
gige Forscher zum Politischen Archiv geben. Hier muss
sich die historisch-politische Kultur des Archivs des
Auswärtigen Amts ändern. Transparenz sollte selbstver-
ständlich zum Ethos des Archivs geworden sein.

Zweitens. Wir sollten über eine veränderte Gedenk-
und Ehrenpraxis nachdenken. Ilse Stöbe war Wider-
standskämpferin. Dafür muss sie geehrt werden. Aber
Ilse Stöbe war auch das Opfer eines verbrecherischen
Regimes, gegen das sie sich in Ausübung ihrer Tätigkeit
auflehnte. Im Auswärtigen Amt gab es viele Opfer des
Nationalsozialismus. Es gab jüdische Diplomaten und
homosexuelle Diplomaten, die verfolgt und getötet wur-
den. Ihrer muss ebenfalls gedacht werden.

Ich würde mir wünschen, dass ein modernes Ge-
schichtsverständnis endlich auch zur dezidierten Haus-
politik des Auswärtigen Amts wird.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1717838100

Es wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache

17/7488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie wiederum ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.

Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ge-
nießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen
Einsichten.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 11. Mai 2012, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.