Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21279
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea
Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung
der Piraterie vor der Küste Somalias auf
Grundlage des Seerechtsübereinkommens der
Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Re-
solutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816
(2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Ok-
tober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008,
1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897
(2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010)
vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom
22. November 2011 und nachfolgender Resolu-
tionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin-
dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/
GASP des Rates der Europäischen Union (EU)
vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/
907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesord-
nungspunkt 5)
Wir stimmen heute über ein geändertes Mandat für
die deutsche Beteiligung an der Anti-Piraterie-Mission
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 10.05.2012
Beckmeyer, Uwe SPD 10.05.2012*
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.05.2012
Birkwald, Matthias W. DIE LINKE 10.05.2012
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 10.05.2012
Brinkmann
(Hildesheim),
Bernhard
SPD 10.05.2012
Buschmann, Marco FDP 10.05.2012
Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 10.05.2012
Ernst, Klaus DIE LINKE 10.05.2012
Dr. Flachsbarth, Maria CDU/CSU 10.05.2012
Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 10.05.2012
Grütters, Monika CDU/CSU 10.05.2012
Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 10.05.2012
Höger, Inge DIE LINKE 10.05.2012
Homburger, Birgit FDP 10.05.2012
Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 10.05.2012
Kramme, Anette SPD 10.05.2012
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.05.2012
Lay, Caren DIE LINKE 10.05.2012
Leutheusser-
Schnarrenberger,
Sabine
FDP 10.05.2012
Lindemann, Lars FDP 10.05.2012
Lötzer, Ulla DIE LINKE 10.05.2012
Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.05.2012
Remmers, Ingrid DIE LINKE 10.05.2012
Rix, Sönke SPD 10.05.2012
Roth (Augsburg),
Claudia
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.05.2012
Schneider, Ulrich BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.05.2012
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 10.05.2012
Dr. Tauber, Peter CDU/CSU 10.05.2012
Vaatz, Arnold CDU/CSU 10.05.2012
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
21280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Atalanta vor dem Horn von Afrika ab. Diese Abstim-
mung findet mehrere Monate vor dem eigentlichen
Auslaufen des aktuell gültigen Mandats statt. Dies wird
damit begründet, dass die Bundesregierung den Bundes-
tag um die Zustimmung zur Ausweitung der Mission
bittet. Künftig soll Atalanta Piraten nicht nur auf See,
sondern auch innerhalb eines zwei Kilometer breiten
Küstenstreifens an Land bekämpfen.
Unsere Entscheidung haben wir mit Blick auf den zur
Abstimmung vorgelegten Mandatstext getroffen. Wir
wollen uns nicht von der Tatsache leiten lassen, dass im
Zweifel das alte Mandat weiterhin gültig wäre. Spätes-
tens im Dezember hätten wir dann erneut über diese
Frage entscheiden müssen, ohne Netz und doppelten
Boden.
Im Dezember 2011 haben wir für die Verlängerung
des Atalanta-Mandats gestimmt. Wir lehnen jedoch die
nun eingebrachte Ausweitung des Mandats und das da-
mit geplante militärische Vorgehen bis zu 2 000 Meter in
das Landesinnere hinein ab. Diese Ausweitung birgt
hohe Risiken sowohl für die Zivilbevölkerung wie auch
für die Soldatinnen und Soldaten. Wir bezweifeln, dass
die Ausweitung die gewünschten Ergebnisse liefert. Es
ist eher zu erwarten, dass sich die Piraten dem neuen
Operationsgebiet anpassen, sich womöglich in Städte
zurückziehen, wo Angriffe von Schiffen oder Hub-
schraubern aus mit erheblichen Gefahren für die Zivilbe-
völkerung verbunden bzw. gar nicht erst möglich wären.
Nicht zuletzt wurde eine Ausweitung des Mandats Ende
letzten Jahres selbst durch Experten der Regierung äu-
ßerst skeptisch beurteilt. Eine Zustimmung zu diesem
neuen Atalanta-Mandat ist daher für uns nicht möglich.
Die Atalanta-Schiffe sind jedoch nach wie vor uner-
lässlich, um die Lebensmittellieferungen für die notlei-
dende somalische Bevölkerung zu schützen und die Be-
satzungen von Handelsschiffen im Seegebiet vor
Somalia und dem Golf von Aden abzusichern. Die
Schiffe des Welternährungsprogrammes konnten da-
durch bisher ihre somalischen Zielhäfen sicher errei-
chen. Von ihren Nahrungsmittel- und Hilfsgüterlieferun-
gen sind über drei Millionen Menschen allein in Somalia
abhängig. Da wir der Meinung sind, dass der Schutz
dieser Schiffe auch weiterhin zwingend nötig ist, um die
Versorgung und damit das Leben der Bevölkerung zu si-
chern, können wir dieses Mandat auch nicht vollständig
ablehnen.
In der Konsequenz haben wir uns deshalb entschlos-
sen, uns zu enthalten. Der Entschließungsantrag unserer
Fraktion legt auch unsere Position näher dar und findet
entsprechend unsere Unterstützung.
Anlage 3
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung
der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta
zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste
Somalias auf Grundlage des Seerechtsüberein-
kommens der Vereinten Nationen (VN) von
1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom
15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008,
1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008)
vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De-
zember 2008, 1897 (2009) vom 30. November
2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020
(2011) vom 22. November 2011 und nachfolgen-
der Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in
Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/
851/GASP des Rates der Europäischen Union
(EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss
2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. De-
zember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP
des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Be-
schluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom
7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/
GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Ta-
gesordnungspunkt 5)
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Unab-
hängig von meiner grundsätzlich ablehnenden Position,
was den Auslandseinsatz deutscher Soldatinnen und Sol-
daten angeht, werde ich auch der Atalanta-Mission nicht
zustimmen. Der vorliegende Beschluss bedeutet eine
deutliche Ausweitung des Einsatzes unserer Soldaten am
Horn von Afrika.
Auch Luftangriffe auf Stellungen der Piraten an Land
werden jetzt möglich. Damit erhält die Atalanta-Mission
eine neue Qualität. Angriffe im Landesinnern schließen
die Gefährdung der Zivilbevölkerung mit ein. Aus der
bisher eher passiven Rolle im Rahmen der Mission
wechselt die Bundesrepublik in eine offensive, aktive
Position. Damit nimmt auch die Gefährdung deutscher
Soldaten erheblich zu. Dies ist genauso wenig vertretbar
wie die Gefährdung der Zivilbevölkerung.
Die umfangreiche geleistete humanitäre Hilfe für die
Menschen in Somalia ist anzuerkennen. Was jedoch
fehlt, ist eine wirtschaftliche Alternative für die Fischer
in dieser Region, deren Lebensunterhalt durch die Über-
fischung der Fischgründe seit Jahren nicht mehr gesi-
chert ist.
Kirsten Lühmann (SPD): Der Einsatz der deutschen
Marine unter dem Mandat der EU „Atalanta“ hat in der
bestehenden Form meine volle Unterstützung. Der heute
abzustimmenden Änderung bzw. Erweiterung des Man-
dats kann ich jedoch nicht zustimmen.
Das Mandat wird dergestalt erweitert, dass auch ein
militärisches Vorgehen gegen die sogenannten Piraten
auf einer Zone von 2 Kilometern an den jeweiligen Küs-
tenstreifen möglich ist. Ich halte ein solches Vorgehen
für nicht zielführend. Zum einen ist die Zone von 2 Kilo-
metern leicht zu umgehen, indem die Piraten ihre Stütz-
punkte einfach in das Landesinnere verlagern können.
Zum anderen birgt ein solcher militärischer Einsatz auf
fremdem Hoheitsgebiet aus meiner Sicht eine Vielzahl
von nicht absehbaren Risiken. Dieses Risiko steht mei-
ner Ansicht nach in keinem Verhältnis zu dem Nutzen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21281
(A) (C)
(D)(B)
den ein solcher Einsatz haben mag. Daher kann ich dem
Antrag der Bundesregierung auf eine Erweiterung des
Mandats nicht zustimmen.
Gisela Piltz (FDP): Dem Antrag der Bundesregie-
rung zur Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streit-
kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Be-
kämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias stimme
ich zu, weil ich die Notwendigkeit erkenne und dem Ziel
zustimme, dass sichere Seewege im innen- wie auch
außenpolitischen Interesse Deutschlands sind. Die Ge-
fährdung des internationalen Seehandels wie auch inter-
nationaler Hilfslieferungen auf dem Seewege durch Pira-
terie gefährdet die Sicherheit der Seeleute, den
friedlichen Handel und die Stabilität der Region, in der
die Überfälle stattfinden. Es ist daher auch meine Über-
zeugung, dass hier die internationale Staatengemein-
schaft und auch die Europäische Union ihren Beitrag zu
sicheren und friedlichen Seewegen leisten muss. Die Er-
füllung der internationalen Verpflichtung Deutschlands
durch die Entsendung deutscher Streitkräfte erkenne ich
ausdrücklich als sinnvoll und notwendig an.
Zugleich stelle ich aber fest, dass die Ausweitung des
Mandats auf die Ermöglichung von Angriffen auf am
Land befindliche Stützpunkte von Piraten auch Beden-
ken ausgesetzt ist. Wenngleich es unter militärischen Ge-
sichtspunkten nützlich erscheinen mag, Bodenangriffe
zu erlauben, ist dies nach meiner persönlichen Überzeu-
gung unverhältnismäßig. Das Mandat wurde geschaffen,
um die sichere Passage von Schiffen zu ermöglichen,
nicht, um sich in einen weitergehenden Kampf gegen
dort operierende Piratenbanden verwickeln zu lassen.
Angriffe auf an Land befindliche Basen von Piraten ber-
gen nicht nur die Gefahr einer erheblichen Eskalation
des Konflikts und stellen einen weiteren und ungleich
größeren Eingriff in die Souveränität Somalias dar, son-
dern können leicht auch zahlreiche Unschuldige treffen.
Ich stimme dem Gesetz dennoch zu, weil ich erwarte,
dass die Bundesregierung sich neben dem Engagement
deutscher Streitkräfte weiterhin mit allen Mitteln auf in-
ternationaler Ebene dafür einsetzt, für friedliche Verhält-
nisse in Somalia zu sorgen und den Staatsaufbau dort
voranzutreiben, den internationalen Pirateriegerichtshof
endlich zügig zu errichten, gemeinsam mit anderen
Staaten der Afrikanischen Union wie etwa Kenia zusam-
menzuarbeiten, um eine effektive Strafverfolgung zu er-
möglichen und aus der Piraterie erbeutete Mittel zu be-
schlagnahmen oder einzufrieren sowie gemeinsam mit
den deutschen Reedern für die Nutzung der definierten
sicheren Korridore zu werben und Konzepte zur Siche-
rung der Schiffe zu entwickeln.
Frank Schäffler (FDP): Dem Antrag der Bundesre-
gierung kann ich nicht zustimmen. Den bisherigen Ein-
satz vor der Küste Somalias habe ich mittragen können.
Er diente dem Schutz von zivilen Schiffen im Einsatzge-
biet. Nun soll das Einsatzgebiet vom Wasser auf einen
begrenzten Küstenstreifen ausgeweitet werden. Ich halte
dies aus drei Gründen für nicht geboten.
Erstens muss ich die Wirksamkeit der vorgeschlage-
nen Ausweitung auf die Piratenbekämpfung zu Lande
bezweifeln. Vorgeschlagen wird eine Ausweitung des
Einsatzgebietes auf einen 2 Kilometer breiten Küsten-
streifen in Somalia. Das wird zu Ausweichreaktionen
führen. Zum einen haben die Piraten bereits jetzt Basen
nach Eritrea verlegt. Das wird zunehmen. Im somali-
schen Küstengebiet sollen mögliche Ziele identifiziert
und allein aus der Luft bekämpft werden. Vorrangig soll
es um an Land gezogene Boote der Piraten gehen. Diese
Boote werden auf See von Mutterschiffen ausgesendet,
um Handelsschiffe anzugreifen. Nach den Angriffen
kehren sie zu den Mutterschiffen zurück. Diese bringen
die Boote anschließend zurück in Küstennähe, wo sie
von den Piraten per Hand angelandet werden. Die Boote
befinden sich dann in einem ganz schmalen Küstenstrei-
fen in unmittelbarer Wassernähe, wo sie aufgrund der
bisherigen Grenzen des Mandats nicht bekämpft werden
dürfen. Die Ausweitung des Einsatzgebiets auf den Küs-
tenstreifen wird diesen Umstand nicht wesentlich verän-
dern können. Wenn es um so kleine Boote geht, die von
Hand an Land verbracht werden können, dann können
sie auch auf Anhänger oder Lastkraftwagen verladen
werden, um sie dem militärischem Zugriff im ausgewei-
teten Kampfgebiet zu entziehen. Wir dürfen die Piraten-
organisationen und ihre Mittel nicht unterschätzen. Sie
sind hervorragend finanziert und arbeiten effizient. Es
mangelt ihnen weder an Mannschaftsstärke noch an lo-
gistischen Fähigkeiten oder anderen Mitteln, um die Ver-
legung von Booten aus dem Landesinneren ins Wasser in
kürzester Zeit durchzuführen.
Dieses zu erwartende Ausweichverhalten der Piraten
führt zum zweiten Grund meiner Ablehnung. Der bishe-
rige Auftrag birgt eine für militärische Operationen sehr
hohe Rechtssicherheit. Die Verteidigung von Handels-
schiffen gegen Angriffe von Piraten ermöglicht eine
zweifelsfreie Identifizierung, Bekämpfung und Verfol-
gung der Verbrecher. Nicht umsonst wurden bisher alle
von deutschen Kräften im Rahmen der Operation Ata-
lanta in Gewahrsam genommenen Personen auf der ho-
hen See in einer Entfernung zum Festland zwischen
50 und 250 Seemeilen aufgegriffen. Diese hohe Rechts-
sicherheit bei der Verteidigung gegen einen Angriff oder
beim Leisten von Nothilfe geht durch die Ausweitung
auf den Küstenstreifen verloren. An Land lassen sich Pi-
ratenboote nicht von zivilen Booten unterscheiden, denn
nur ihre Verwendung macht den Unterschied. Da die An-
griffe nur aus der Luft erfolgen dürfen, ist die Gefahr des
Verlusts von – auch unschuldigen – Menschenleben
wahrscheinlich. Wo Boote sind, da sind auch Menschen.
Wenn man die Menschen nicht bekämpfen will, dann
kann man die Boote nicht bekämpfen, wodurch die Aus-
weitung sinnlos wird. Will man die Boote bekämpfen,
dann muss man menschliche Verluste in Kauf nehmen.
Das gilt insbesondere für die Piratenhäfen. Es drängt
sich die ethische Frage auf, ob die Piraten oder von ih-
nen eingesetztes logistisches Hilfspersonal mit poten-
ziell tödlichen Mitteln bekämpft werden dürfen, ohne
dass ein gegenwärtiger Angriff stattfindet. Auch hier gilt
es wieder, den praktischen Erfindungsreichtum der Pira-
ten nicht zu unterschätzen. Es liegt nahe, dass sie Zivilis-
ten als menschliche Schutzschilde für die Boote im Zeit-
21282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
raum zwischen Anlandung und Verbringung außerhalb
des 2 Kilometer breiten Einsatzgebietes verwenden. In
Frage steht der ungerechtfertigte Tod von Piraten oder
Zivilisten. Auch aus Rücksicht auf das Wohlergehen un-
serer eigenen Einsatzkräfte bin ich dagegen, unsere Sol-
daten in eine solche Gewissensbedrängnis zu bringen.
Drittens gibt es mildere und besser geeignete Mittel.
Bezogen auf das Einsatzgebiet von Atalanta ist die Zahl
der erfolgreichen Piratenangriffe gegenüber dem Vorjahr
rückläufig. Geschuldet ist dies auch dem zunehmend er-
folgreicheren Einsatz von Vessel Protection Detach-
ments – VPD. Im Rahmen der Operation Atalanta konn-
ten schon bisher VPD an Bord von Handelsschiffen
eingesetzt werden. Von insgesamt 18 solchen Einsätzen
im Jahr 2011 wurden 6 durch deutsche VPD durchge-
führt. Diese dezentrale Sicherungsmaßnahme ist zu be-
grüßen. Obwohl das Mandat den Einsatz auf jedem zu
schützenden Handelsschiff erlaubt, wurden VPD nur an
Bord von Schiffen des Welternährungsprogramms statio-
niert. Eine Ausweitung und zufällige Verteilung auf an-
dere Handelsschiffe wäre eine vorzugswürdige mildere
Maßnahme mit Abschreckungseffekt, weil die Piraten
nicht wüssten, wo sie auf Widerstand treffen. Begleitet
werden müsste diese Maßnahme von einer Liberalisie-
rung des Waffenrechts auf Handelsschiffen unter deut-
scher Flagge. Immer mehr Handelsschiffe am Horn von
Afrika haben private bewaffnete Sicherheitskräfte – PBS –
zum Schutz gegen Piraterie an Bord. Das deutsche Recht
steht ihrem Einsatz auf Schiffen unter deutscher Flagge
nicht entgegen. Ein Drittel der deutschen Reeder setzt
sie bereits ein. Bislang ist kein Schiff, das PBS an Bord
hatte, erfolgreich gekapert worden. PBS dürfen bereits
heute Gewalt zur Notwehr anwenden. Ihr Einsatz würde
bei einer Liberalisierung des Marktes für maritime Si-
cherheit selbst entsprechend erleichtert und die Sicher-
heit der Handelsschifffahrt maßgeblich erhöht.
Nach alledem bleibt die Ausweitung des Einsatzes
auf die Küstenregion im besseren Fall weitgehend wir-
kungslos. Im Fall des größten Unglücks droht uns jedoch
der Verlust vieler Menschenleben. Diesen abschüssigen
Weg sollten wir nicht gehen. Zuvor sollten wir weiter
und schneller den unkonventionellen Weg über den Ein-
satz privater und militärischer Sicherheitskräfte be-
schreiten, die dezentral an Bord von Handelsschiffen
stationiert werden.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Den Antrag lehne ich ab.
Die Erweiterung des Mandats der Bundesmarine für
Kriegseinsätze vor der Küste Somalias jetzt auch auf das
Land in einem Küstenstreifen von 2 Kilometer Breite ist
verhängnisvoll und nicht zu verantworten. Diese Erwei-
terung folgt allenfalls einer militärischen Logik. Die
Politik darf ihr nicht folgen.
Die Eingrenzung dieser Erweiterung des Mandats auf
Angriffe nur aus der Luft mittels Hubschraubern, ledig-
lich auf die Logistik von Piraten und ohne Menschen ge-
fährden zu wollen, macht sie nicht besser.
Einerseits enthält sie die Ausnahme, dass Operationen
an Land zum Zwecke der Nothilfe etwa für abgeschos-
sene Hubschrauber erlaubt bleiben. Selbst wenn Hub-
schrauberabstürze weitgehend vermieden werden kön-
nen, können solche Nothilfeoperationen zu häufigen
Landeinsätzen der Bundeswehr führen, weil EU- und
NATO-Verbündete nicht gehindert sind, Operationen an
Land durchzuführen. Landeinsätze aber bringen das Ri-
siko einer immer weiteren Eskalation mit sich.
Zum anderen werden Piraten versuchen, ihre Logistik
durch die Anwesenheit von Menschen – Männern,
Frauen und Kindern – zu schützen. Damit wird die Ge-
fahr von „Kollateralschäden“ an Menschenleben erheb-
lich, selbst wenn beabsichtigt ist, Menschen nicht zu
treffen, zu töten oder zu verletzen.
Der gesamte kriegerische Einsatz der Bundesmarine
und der Armada von Kriegsschiffen aus 27 Nationen vor
der Küste Somalias und in weiten Teilen des Indischen
Ozeans ist politisch falsch und unverantwortlich. Er ist
nicht notwendig zur Sicherung des Welternährungspro-
gramms für Somalia, wie immer wieder behauptet wird.
Er ist auch mit der Beteuerung unvereinbar, dass Militär-
einsätze und kriegerische Mittel immer nur die letzte
Maßnahme sind, wenn alle anderen Mittel versagt haben
oder nicht geeignet sind, Sicherheit herzustellen. Es gibt
gegen die Gefahr von Piratenangriffen vor Somalia auf
Schiffe und Schiffsbesatzungen andere, weniger gefähr-
liche und weniger kriegerische Alternativen.
Es gibt die Möglichkeit, dass Handels-, Passagier-
und Versorgungsschiffe diese Gewässer passieren, ohne
von Piraten gekapert zu werden.
Internationale Organisationen haben Best-Practice-
Regeln genannt, an denen sich die Schifffahrt orientieren
soll, um nicht von Piraten aufgebracht zu werden. Dazu
gehören die Einreihung von Schiffen in Konvois, die mit
hoher Geschwindigkeit fahren und die Absicherung von
Reling und Außenbord etwa durch Stacheldraht. Bisher
ist in den letzten Jahren noch kein einziges Schiff von
Piraten aufgebracht worden, das sich an diese Regeln ge-
halten hat. Die Bundesregierung und ihr unterstellte
Stellen haben dies auf Fragen von mir bestätigt.
Es gibt ferner die Möglichkeit, dass Handelsschiffe
drei bis fünf Personen von zivilen Sicherheitsdiensten
für gefährliche Passagen an Bord nehmen, die nicht
schwer bewaffnet sein müssen. Auch für so zivil gesi-
cherte Schiffe gilt, dass bis heute kein einziges von Pira-
ten gekapert worden ist. Die Bundesregierung hat dies
ebenfalls ausdrücklich auf Fragen von mir bestätigt.
Da es diese zivilen Alternativen gibt, die sich für die
Herstellung von Sicherheit auf See vor der Küste Soma-
lias seit Jahren bewährt haben, dient der Einsatz der in-
ternationalen Kriegsflotten im Indischen Ozean letztlich
nur den unwilligen Reedereien und dem Schutz ihrer
Schiffe.
Es geht um die Schiffe, die entgegen der Best-
Practice-Empfehlungen einzeln und nicht im Konvoi so-
wie, um Kosten zu sparen, mit reduzierter Geschwindig-
keit und ohne zusätzliche Sicherungsmaßnahmen durch
gefährliche Meeresgebiete fahren. Die kriegerischen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21283
(A) (C)
(D)(B)
Einsätze sind dafür zu teuer, zu gefährlich und nicht
richtig, sondern falsch.
Stattdessen sollten die Ankündigungen des Außen-
ministers endlich angegangen und realisiert werden, die
internationalen Finanzströme der Erlöse aus Erpressung
und Raub für gekaperte Schiffe und die als Geiseln ge-
nommenen Besatzungen zu kappen und die Gelder ein-
zuziehen. Angeblich sind die Transferstationen dieser
Gelder in einem Scheichtum zu den Hintermännern in
Kenia und London längst bekannt. Aber es geschieht
nichts, die Kriegseinsätze scheinen die naheliegendere
Alternative.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Peter Beyer, Wolfgang
Bosbach, Helmut Brandt, Dr. Ralf Brauksiepe,
Ralph Brinkhaus, Cajus Caesar, Ingrid
Fischbach, Klaus-Peter Flosbach, Jürgen
Hardt, Dr. Matthias Heider, Ursula Heinen-
Esser, Rudolf Henke, Ansgar Heveling, Peter
Hintze, Thomas Jarzombek, Dieter Jasper,
Dr. Günter Krings, Dr. Carsten Linnemann,
Philipp Mißfelder, Michaela Noll, Beatrix
Philipp, Ruprecht Polenz, Thomas Rachel,
Johannes Röring, Dr. Norbert Röttgen, Karl
Schiewerling, Bernhard Schulte-Drüggelte,
Uwe Schummer, Detlef Seif, Reinhold Sendker,
Jens Spahn, Sabine Weiss (Wesel I). Elisabeth
Winkelmeier-Becker und Willi Zylajew (alle
CDU/CSU) zu den namentlichen Abstimmun-
gen über die Beschlussempfehlung zu den An-
trägen: „Leitlinien für Transparenz und Um-
weltverträglichkeit bei der Förderung von
unkonventionellem Erdgas“ und „Transparenz
und Kontrolle bei der Förderung von unkon-
ventionellem Erdgas in Deutschland“ sowie
über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag:
„Keine Erdgasförderung auf Kosten des Trink-
wassers – Fracking bei der Erdgasförderung
verbieten“ (Tagesordnungspunkt 10 a und b)
Den Anträgen der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke können wir in der vorliegen-
den Form nicht zustimmen und folgen deswegen den Be-
schlussempfehlungen der Ausschüsse für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit sowie für Wirtschaft
und Technologie. Unsere Position in der Sache erklären
wir wie folgt:
Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
liegt. Wir setzen uns für eine nachhaltige Energiepolitik
ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
gung auch in Zukunft.
Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch
über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und
flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis
von Kohle oder Gas notwendig. Bislang wird in Nord-
rhein-Westfalen kein Erdgas gefördert. Allerdings be-
steht bei verschiedenen Unternehmen Interesse, die
Potenziale sogenannter unkonventioneller Erdgasvor-
kommen zu untersuchen. Das Land Nordrhein-Westfalen
hat bereits 19 Genehmigungen zur Erkundung sogenann-
ter unkonventioneller Lagerstätten zu gewerblichen
Zwecken erteilt, insbesondere in Ostwestfalen, Südwest-
falen und im Münsterland.
In den betroffenen Regionen besteht ein hohes Maß
an Unsicherheit im Hinblick auf die Risiken, die mit der
Gewinnung von Gas verbunden sind. Dabei geht es ins-
besondere um eine mögliche Belastung des Grund- und
Trinkwassers durch das sogenannte Fracking – ein Ver-
fahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand und
chemischen Zusätzen in das umlagernde Gestein des Un-
tergrundes gepresst wird, um den Gasfluss hin zum
Bohrloch zu stimulieren und die Förderung zu ermögli-
chen.
Als Energieland Nummer eins haben wir in Nord-
rhein-Westfalen ein großes Interesse an Erhaltung und
Entwicklung neuer energiepolitischer Optionen.
Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um-
weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län-
der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss
das Land Nordrhein-Westfalen sicherstellen, dass der je-
weilige Antragsteller verpflichtet wird, alle für die Ent-
scheidung erforderlichen Informationen bereitzustellen
und die Auswirkungen auf die Umwelt umfassend zu do-
kumentieren.
Solange keine ausreichend fundierten wissenschaftli-
chen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
„Fracking“ vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen
werden. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die
Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Auf-
suchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventio-
nellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst
dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege-
benen Studien vorliegen.
Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
derung angepasst werden. Insbesondere halten wir eine
Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt-
verträglichkeitsprüfung – UVP –, die im Bergrecht für
die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für
das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist
aus unserer Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen
vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender
Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl
bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie
eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhal-
tet dann auch eine verpflichtende, transparente und
effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi-
gung des Probefrackings. Zudem sind die Wasserbehör-
den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen
Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf
das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können,
ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Wir un-
21284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
terstützen daher die Bemühung im Europäischen Parla-
ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
Eine Erdgasförderung in Nordrhein-Westfalen kommt
nur infrage, wenn sie von der Bevölkerung in der Region
akzeptiert wird. Dafür ist eine umfassende Transparenz
eine zentrale Voraussetzung. Die Landesregierung ist in
der Pflicht, die Aufklärung der Bevölkerung über die Ri-
siken des „Fracking“ deutlich zu verbessern.
Für uns hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmigun-
gen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwortliche
Risiken für Mensch und Natur vollständig ausgeschlos-
sen werden können.
Anlage 5
Erklärungen nach § 31 GO
zu den namentlichen Abstimmungen über die
Beschlussempfehlung zu den Anträgen: „Leit-
linien für Transparenz und Umweltverträglich-
keit bei der Förderung von unkonventionellem
Erdgas“ und „Transparenz und Kontrolle bei
der Förderung von unkonventionellem Erdgas
in Deutschland“ sowie über die Beschlussemp-
fehlung zu dem Antrag: „Keine Erdgasförde-
rung auf Kosten des Trinkwassers – Fracking
bei der Erdgasförderung verbieten“ (Tagesord-
nungspunkt 10 a und b)
Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich lehne den oben
genannten Antrag der SPD-Bundestagsfraktion nicht aus
inhaltlichen, sondern vor allem aus formalen Gründen
ab. Eine Abstimmung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht
sinnvoll, weil die Ergebnisse der vom Bundesumweltmi-
nisterium in Auftrag gegebenen Studie zum Fracking
noch nicht vorliegen. Leider ist der Zeitpunkt der Ab-
stimmung offenbar dem Wahlkampf in Nordrhein-West-
falen geschuldet. Ich kritisiere in diesem Zusammen-
hang ebenso, dass der Antrag der SPD auf die
Alternative verzichtet, Fracking ganz zu verbieten. Für
mich bleibt es bei meiner Haltung, die ich verschiedent-
lich in meinem Wahlkreis vertreten habe: Fracking
kommt für mich nicht in Betracht, wenn nicht durch
Umweltverträglichkeitsprüfungen jegliche schädlichen
Umwelteinwirkungen ausgeschlossen sind, keine Trink-
wasserschutzgebiete betroffen werden und eine Beteili-
gung aller kommunal- und wasserrechtlich zuständigen
Behörden und damit auch eine umfassende Bürgerbetei-
ligung gewährleistet sind.
Ich beziehe mich im Übrigen auf den Bericht des
Umweltausschusses zum Antrag der SPD-Bundestags-
fraktion und schließe mich den dort genannten Gründen
der Ablehnung durch die CDU/CSU-Bundestagsab-
geordneten im Umweltausschuss an. Aus den gleichen
Gründen lehne ich die ähnlichen Anträge zum Thema
Fracking von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke ebenso ab.
Axel Knoerig (CDU/CSU): Den Anträgen der Frak-
tionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke kann
ich in der vorliegenden Form nicht zustimmen und folge
deswegen den Beschlussempfehlungen der Ausschüsse
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie
für Wirtschaft und Technologie. Meine Position in der
Sache erkläre ich wie folgt:
Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik
ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
gung auch in Zukunft.
Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch
über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und
flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis
von Kohle oder Gas notwendig. Bislang wird in Nieder-
sachsen kein Erdgas aus unkonventionellen Quellen
– Schiefergas, Sandstein – gefördert. Allerdings besteht
bei verschiedenen Unternehmen Interesse, die Poten-
ziale sogenannter unkonventioneller Erdgasvorkommen
zu untersuchen.
In den betroffenen Regionen besteht ein hohes Maß
an Unsicherheit im Hinblick auf die Risiken, die mit der
Gewinnung von Gas verbunden sind. Dabei geht es ins-
besondere um eine mögliche Belastung des Grund- und
Trinkwassers durch das sogenannte Fracking – ein Ver-
fahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand und
chemischen Zusätzen in das umlagernde Gestein des Un-
tergrundes gepresst wird, um den Gasfluss hin zum
Bohrloch zu stimulieren und die Förderung zu ermögli-
chen.
Als das am meisten betroffene Bundesland hat Nie-
dersachsen ein großes Interesse an Erhaltung und Ent-
wicklung neuer energiepolitischer Optionen. Zuständig
für den Vollzug der bergbaulichen und umweltrechtli-
chen Vorschriften sind die Behörden der Länder. Bei der
Genehmigung von Probebohrungen muss das Land Nie-
dersachsen sicherstellen, dass der jeweilige Antragsteller
verpflichtet wird, alle für die Entscheidung erforder-
lichen Informationen bereitzustellen und die Auswirkun-
gen auf die Umwelt umfassend zu dokumentieren.
Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft-
lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer-
den. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Studie
„Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsu-
chung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionel-
len Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann
über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die
von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gegebenen
Studien vorliegen.
Eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung
– UVP –, die im Bergrecht für die reine Erkundung von
Bodenschätzen, also auch für das Probefracking, derzeit
nicht vorgeschrieben ist, ist aber unerlässlich. Umweltri-
siken bestehen vor allem dann, wenn unter Einsatz was-
sergefährdender Stoffe gefrackt wird. So müssen neben
Grund-, Trink- und Heilwasserquellen auch Mineralwas-
serquellen in die UVP-Prüfung aufgenommen werden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21285
(A) (C)
(D)(B)
und in diesen Gebieten ein umfassendes Fracking-Verbot
gelten.
Deshalb soll für diese Fälle sowohl bei der Erdgasge-
winnung als auch bei der Geothermie eine zwingende
UVP eingeführt werden. Diese beinhaltet dann auch eine
verpflichtende, transparente und effektive Öffentlich-
keitsbeteiligung vor einer Genehmigung des Probefra-
ckings. Zudem sind die Wasserbehörden verpflichtend
zu beteiligen, ebenso die betroffenen Landkreise und
Kommunen. Da die Auswirkungen auf das Grundwasser
auch grenzüberschreitend sein können, ist es geboten,
entsprechend hohe Regeln in den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union zu haben. Wir unterstützen daher
die Bemühung im Europäischen Parlament um ver-
gleichbar hohe Sicherheitsstandards.
Eine Förderung unkonventionellen Erdgases in Nie-
dersachsen kommt nur infrage, wenn die bundesrechtli-
chen Bedingungen nach dem Auslaufen des Moratori-
ums schnellstmöglich geregelt werden. Nach dem
Vorliegen der Fracking-Gutachten des Bundesumwelt-
ministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums
muss unverzüglich ein Gesetzentwurf dem Bundestag
vorgelegt werden. Ebenso muss erwartet werden, das
Fracking von der Bevölkerung in der Region akzeptiert
wird und Öffentlichkeitsarbeit geleistet wird. Dafür ist
umfassende Transparenz eine zentrale Voraussetzung.
Die Landesregierung ist in der Pflicht, die Aufklärung
der Bevölkerung über die Risiken des Fracking deutlich
zu verbessern.
Für mich hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmi-
gungen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwortli-
che Risiken für Mensch und Natur vollständig ausge-
schlossen werden können.
Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Als eine der
großen Wirtschaftsnationen der Welt hat Deutschland
ein großes Interesse an Erhaltung und Entwicklung
neuer energiepolitischer Optionen. Dies gilt für das
Energieland Nordrhein-Westfalen in besonderer Weise.
Solange keine ausreichend fundierten wissenschaftli-
chen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer-
den. Ich begrüße, dass die Bundesregierung die Studie
„Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsu-
chung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionel-
len Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann
über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die
von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gegebenen
Studien vorliegen.
Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
derung angepasst werden. Insbesondere halte ich eine
Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt-
verträglichkeitsprüfung, UVP, die im Bergrecht für die
reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für das
Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist aus
meiner Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen vor
allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender
Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl
bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie
eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhal-
tet dann auch eine verpflichtende, transparente und ef-
fektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi-
gung des Probefrackings. Zudem sind die Wasserbehör-
den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen
Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf
das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können,
ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Ich
unterstütze daher die Bemühung im Europäischen Parla-
ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
Eine Erdgasförderung in Nordrhein-Westfalen kommt
nur infrage, wenn sie von der Bevölkerung in der Region
akzeptiert wird. Dafür ist eine umfassende Transparenz
eine zentrale Voraussetzung. Die Landesregierung ist in
der Pflicht, die Aufklärung der Bevölkerung über die Ri-
siken des Fracking deutlich zu verbessern.
Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um-
weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län-
der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss
das Land Nordrhein-Westfalen sicherstellen, dass der je-
weilige Antragsteller verpflichtet wird, alle für die Ent-
scheidung erforderlichen Informationen bereitzustellen
und die Auswirkungen auf die Umwelt umfassend zu do-
kumentieren. Genehmigungen dürfen nur erteilt werden,
wenn unverantwortliche Risiken für Mensch und Natur
vollständig ausgeschlossen werden können.
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Den Anträgen der
Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
kann ich in der vorliegenden Form nicht zustimmen und
folge deswegen den Beschlussempfehlungen der Aus-
schüsse für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit
sowie für Wirtschaft und Technologie. Meine Position in
der Sache erkläre ich wie folgt:
Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik
ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
gung auch in Zukunft.
Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch
über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und
flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis
von Kohle oder Gas notwendig.
Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um-
weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län-
der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss das
Land Niedersachsen sicherstellen, dass der jeweilige An-
tragsteller verpflichtet wird, alle für die Entscheidung er-
forderlichen Informationen bereitzustellen und die Aus-
wirkungen auf die Umwelt umfassend zu dokumentieren.
Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft-
lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen
werden. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die
Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der
Aufsuchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonven-
21286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
tionellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst
dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege-
benen Studien vorliegen.
Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
derung angepasst werden. Insbesondere halte ich eine
Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt-
verträglichkeitsprüfung – UVP – die im Bergrecht für
die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für
das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist
aus meiner Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen
vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender
Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl
bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie
eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese bein-
haltet dann auch eine verpflichtende, transparente und
effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi-
gung des Probefracking. Zudem sind die Wasserbehör-
den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen
Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf
das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können,
ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Ich
unterstütze daher die Bemühung im Europäischen Parla-
ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
Auch die Entsorgung der Fracking-Flüssigkeiten so-
wohl bei der Förderung von Erdgas aus unkonventionel-
len als auch aus konventionellen Gasvorräten muss so
erfolgen, dass davon keine Gefahren für Mensch, Tier
und Umwelt ausgehen. Bei dem Transport durch unter-
irdische Leitungen kam es in der jüngsten Vergangenheit
vielfach im Land Niedersachsen zu Leckagen. In
Langwedel-Völkersen, das in meinem Wahlkreis liegt,
haben diese Leckagen zu einer Kontaminierung des
Bodens mit krebserregendem Benzol geführt und so
Mensch, Tier und Umwelt gefährdet. Äußerst kritisch ist
zudem die Verpressung von kontaminiertem Wasser in
Trinkwasserschutzgebieten.
Das bisher praktizierte Verfahren, dass das mit hoch-
giftigen Stoffen kontaminierte Wasser kilometerweit
durch unterirdische Leitungen zum Ort der Verpressung
im Boden transportiert wird, ist zu überprüfen. Bereits
jetzt ist es technisch möglich, das bei der Erdgasförde-
rung anfallende Lagerstättenwasser an der jeweiligen
Bohrstelle so aufzubereiten und zu reinigen, dass das ge-
reinigte Wasser anschließend in einer normalen Kläran-
lage entsorgt werden kann. Es muss das Ziel sein, die
Entsorgung des Lagerstättenwassers so vorzunehmen
und nicht weiter das kontaminierte Wasser in kilometer-
langen Leitungen zu transportieren und im Boden zu
verpressen.
Für mich hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmi-
gungen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwort-
liche Risiken für Mensch und Natur vollständig aus-
geschlossen werden können.
Tankred Schipanski (CDU/CSU): Den Anträgen
der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
Die Linke kann ich in der vorliegenden Form nicht
zustimmen und folge deswegen den Beschlussempfeh-
lungen der Ausschüsse für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit sowie für Wirtschaft und Technologie.
Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt:
Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik
ein sowie für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
gung auch in Zukunft. Als Ergänzung der erneuerbaren
Energien wird noch über Jahrzehnte hinweg der Einsatz
hoch effizienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraft-
werke auf der Basis von Kohle oder Gas notwendig sein.
Vielerorts bestehen jedoch Bedenken angesichts mög-
licher Gefahren, die mit der Gewinnung von Gas
verbunden sind. Dabei geht es insbesondere um eine
mögliche Belastung des Grund- und Trinkwassers durch
das sogenannte Fracking – ein Verfahren, bei dem ein
Gemisch aus Wasser, Quarzsand und chemischen Zusät-
zen in das umlagernde Gestein des Untergrundes ge-
presst wird, um den Gasfluss hin zum Bohrloch zu sti-
mulieren und die Förderung zu ermöglichen.
Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft-
lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer-
den. Ich begrüße es daher, dass die Bundesregierung die
Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Auf-
suchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventio-
nellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst
dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege-
benen Studien vorliegen. Dies ist nach meiner Überzeu-
gung der richtige Weg, um den in der Bevölkerung be-
stehenden Bedenken hinsichtlich möglicher Gefahren,
die mit dieser Fördermethode verbunden sein können,
gerecht zu werden.
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Erstens. Ich
werde die Anträge von SPD und Die Linke ablehnen.
Zweitens. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
kann eine Grundlage für weitere Diskussionen sein.
Drittens. Solange keine ausreichend fundierten wis-
senschaftlichen Kenntnisse zu den möglichen Auswir-
kungen von Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten ge-
schaffen werden. Ich begrüße, dass die Bundesregierung
die Studie Umweltauswirkungen von Fracking bei der
Aufsuchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonven-
tionellen Lagerstätten in Auftrag gegeben hat und erst
dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
die Studien vorliegen.
Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
derung angepasst werden. Insbesondere hält die CDU/
CSU eine Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine
Umweltverträglichkeitsprüfung – UVP –, die im Berg-
recht für das Probefracking derzeit nicht vorgeschrieben
ist, ist aus unserer Sicht unerlässlich. Umweltrisiken be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21287
(A) (C)
(D)(B)
stehen vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefähr-
dender Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll bei der Erdgas-
gewinnung eine zwingende UVP eingeführt werden.
Diese beinhaltet dann auch eine verpflichtende, transpa-
rente und effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer
Genehmigung. Zudem sind die Wasserbehörden ver-
pflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen Land-
kreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf das
Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können, un-
terstütze ich die Bemühung des Mitglieds des Europäi-
schen Parlaments Dr. Peter Liese im Europäischen Parla-
ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
Viertens. Die beiden Anträge von SPD und Die Linke
sind sowohl materiell-rechtlich als auch verfassungs-
rechtlich zu beanstanden. Zudem ist die Einbringung
beider Anträge zum jetzigen Zeitpunkt offensichtlich
dem Umstand geschuldet, dass am 13. Mai 2012 in
Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen stattfinden. Dass
sich die SPD nun ereifert, ist heuchlerisch, hätte sie doch
zu ihrer Regierungszeit bereits Regelungen treffen kön-
nen. Was hat Herr Gabriel als Umweltminister von 2005
bis 2009 eigentlich gemacht?
Kurz vor den Landtagswahlen nun Vorschläge einzu-
bringen, kann nur einem Zweck dienen, dem Wahl-
kampf. Dies ist abzulehnen. Die Anträge vermögen es
darüber hinaus nicht, den verfassungsrechtlichen Auf-
trag, die Umwelt zu schützen, gemäß Art. 20 a Grundge-
setz im Verhältnis zu anderen Interessen abzuwägen und
eine sachorientierte Lösung zu schaffen.
Vielmehr fordert die SPD, dass durch das Fracking
eingetretene Schäden nicht von der Allgemeinheit, son-
dern von den jeweiligen Betreibern getragen werden.
Dies bedeutet, dass die SPD Schäden durchaus in Kauf
nehmen will, Hauptsache jemand bezahlt dann dafür.
Hier geht es aber um den Schutz unseres Trinkwassers.
Dieses darf nicht verunreinigt werden. Wenn man im
Nachgang dafür Geld bekommt, wird nichts besser, dann
nämlich ist bereits ein unbezahlbarer Schaden eingetre-
ten.
Im Gegensatz hierzu steht der Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen. Dieser Antrag ist zumindest als Grundlage
für weitere Beratungen als unterstützungswürdig anzuse-
hen. Vor allem die Forderung nach einer Aussetzung des
Verfahrens, bis weitere Erkenntnisse zum Fracking vor-
liegen, die Forderung, die Öffentlichkeitsbeteiligung und
Transparenz zu erhöhen, und die Forderung nach einer
Umweltverträglichkeitsprüfung decken sich mit den For-
derungen der CDU/CSU. Letztlich fordert dieser Antrag,
in Anlehnung an die Initiative der Europäischen Kom-
mission eine grundlegende Überprüfung des deutschen
Rechtsrahmens für die Förderung von unkonventionel-
lem Erdgas einzuleiten. Auch diese Forderung muss ich
nicht ablehnen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen trägt mithin
ausreichend Potenzial für einen weiteren verantwor-
tungsvollen Umgang bei der Förderung von Erdgas in
sich. Daher werde ich diesen Antrag nicht ablehnen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Schweinepest tier-
schonend bekämpfen – Notimpfung ersetzt
grundloses Keulen (Tagesordnungspunkt 11)
Dieter Stier (CDU/CSU): Ich begrüße ausdrücklich
diesen interfraktionellen Antrag mit dem tierschonenden
Ansatz „Impfen statt keulen“ beim Auftreten der Schweine-
pest. Dieser gemeinsame Antrag, welchen wir heute hier
beraten, beweist einmal mehr, dass wir über Parteigren-
zen hinweg ein gemeinsames Ziel haben: Ein Maximum
an Tierschutz auch bei der Seuchenbekämpfung!
Unvergessen sind die Bilder von Bergen gekeulter
Schweine, die in der Vergangenheit durch die Medien
gingen. Wie verheerend die Dimension der Schweine-
pest sein kann, zeigte uns ein Seuchenausbruch in den
Niederlanden 1997/1998, der zu einer Tötung von über
12 Millionen Schweinen führte. Die direkt entstandenen
Kosten wurden dabei auf circa 2,3 Milliarden Euro be-
ziffert. Aus ökonomischer und tierschutzrelevanter Sicht
eine Katastrophe!
Diese Bilder haben die Verbraucher entsetzt und na-
türlich zu Recht fragen lassen, ob eine Keulung wirklich
auch heute noch zeitgemäß und das einzige Mittel zur
Eindämmung der Schweinepest sei. Diese Frage ist be-
rechtigt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die
Wissenschaft in den letzten 15 Jahren wichtige Fort-
schritte gemacht hat. Dank intensiver Forschungen ste-
hen mittlerweile Markerimpfstoffe zur Verfügung, durch
welche die Schweine wirkungsvoll vor der Tierkrankheit
geschützt werden können.
Des Weiteren kann mittlerweile auch der Erreger
durch neue Verfahren schnell und zuverlässig nachge-
wiesen werden.
Dank des wissenschaftlichen Fortschritts haben wir
nun eine wirksame und akzeptable Alternative gefunden,
die Massenkeulungen zur Eindämmung der Seuche un-
nötig machen. Notimpfungen tragen also entscheidend
zu einem Mehr an Tierschutz bei.
Die bisherige „Nichtimpfpolitik“ der Europäischen
Gemeinschaft bei der Klassischen Schweinepest ist folg-
lich nicht mehr zeitgemäß. Deshalb muss die Bundesre-
gierung nun auf EU-Ebene Überzeugungsarbeit leisten,
die in einen Paradigmenwechsel „Impfen statt keulen“
münden soll. Diese neue Impfstrategie muss im EU-
Tiergesundheitsrecht verankert werden. Auf nationaler
Ebene ist eine Anpassung an das Tierseuchenrecht not-
wendig.
Dieser klare gesetzliche Rahmen ist die Vorausset-
zung dafür, dass die EU-Kommission und die Mitglied-
staaten keine Handelssperre für die Impfregionen erlas-
sen können. Ebenso müssen die bilateral mit Dritt-
ländern geschlossenen Veterinärabkommen entspre-
chend angepasst werden.
21288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Der Lebensmitteleinzelhandel ist jedoch nur dann be-
reit, eine Notimpfstrategie mitzutragen, wenn das
Fleisch geimpfter Tiere auch ohne Einschränkungen in
allen EU-Mitgliedstaaten zu verkaufen ist. Dieser tier-
schonende Ansatz darf sich deshalb keinesfalls negativ
auf den Handel auswirken. Um die Wirtschaftlichkeit
und Vermarktung von Fleisch geimpfter Tiere sicherzu-
stellen, bedarf es einer genauen Aufklärung zur Ernäh-
rungssicherheit. Wirtschaft, Handel und insbesondere
die Konsumenten sind über die Unbedenklichkeit des
Fleisches notgeimpfter Tiere zu informieren. Diese Bot-
schaft muss in aller Deutlichkeit kommuniziert werden.
An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal auf die
Bedeutung der Prävention bei der Bekämpfung der
Schweinepest aufmerksam machen. Seit 2011 sind wie-
der verstärkt Ausbrüche der Schweinegrippe an den Au-
ßengrenzen der EU gemeldet worden. Im Februar 2012
fielen der Afrikanischen Schweinepest in Russland bis-
her rund 40 000 Schweine zum Opfer.
Das Friedrich-Löffler-Institut warnt vor allem vor
dem Einschleppungsrisiko des Virus durch verunreinigte
Lebensmittel und Speiseabfälle im Personen- und Güter-
verkehr. Auch kontaminierte und unzureichend desinfi-
zierte Transportfahrzeuge bergen ein erhöhtes Ein-
schleppungsrisiko. Perfektes Betriebsmanagement, ein
hohes Hygieneniveau in den Ställen, stetige Kontrollen
sowie die Verfütterung sicherer Futtermittel sind hier im-
mer noch die besten Mittel, um einen Ausbruch von
Schweinepest vorzubeugen.
Ein erfolgreiches Umsetzen der EU-Notimpfstrategie
könnte insbesondere auch unsere osteuropäischen EU-
Nachbarstaaten motivieren, sich an diesem Konzept zur
Notimpfung zu orientieren.
Ich würde mir in anderen Bereichen der Tierschutzde-
batte ebenfalls eine derart breite inhaltliche Übereinstim-
mung mit der Opposition wünschen. Bei den Kollegen
bedanke ich mich deshalb, dass wir diesen gemeinsamen
Antrag heute auf den Weg bringen können. Denn letzt-
lich haben wir alle das gemeinsame Ziel, dem Wohle der
Tiere, der Wirtschaftlichkeit der Betriebe und der Ge-
sundheit der Verbraucher Rechnung zu tragen.
Auf EU-Ebene wird Deutschland mit dieser Impfstra-
tegie seine Vorreiterfunktion in Sachen Tierschutz in
vorbildlicher Weise erneut unter Beweis stellen.
Marlene Mortler (CDU/CSU): Erst kommen die
Tiere und dann die Familie. So sind die Prioritäten in un-
seren landwirtschaftlichen Familienbetrieben seit eh und
je gesetzt. Das heißt, erst wenn es meinen Tieren gut
geht, kann ich mich um meine Familie kümmern.
Sie mögen das für übertrieben halten. Als Bäuerin
weiß ich: Das ist gelebte Praxis!
Das Tierwohl ist für uns alle ein wichtiges Anliegen.
Daher ist unser gemeinsamer Antrag ein wichtiges Si-
gnal nach außen: an unsere Bäuerinnen und Bauern, an
die Handelspartner, an die OIE – die Weltorganisation
für Tiergesundheit.
Warum? – Nach der geltenden Schweinepestverord-
nung werden bei einem Seuchenfall auch viele gesunde
Schweine im Sperrbezirk getötet, um eine Weiterverbrei-
tung der Seuche zu verhindern. So wurden zum Beispiel
beim letzten Seuchenzug in Nordrhein-Westfalen in acht
Fällen der Klassischen Schweinepest über 150 000
Schweine gekeult. Ein verantwortungsvoller Umgang
mit unserer Schöpfung sieht anders aus. Das ist ethisch
fragwürdig und im wahrsten Sinne des Wortes eine tödli-
che Verschwendung unserer Ressourcen. Gerade als
Bäuerin kann ich nachempfinden, wie sich meine Bau-
ern dabei gefühlt haben müssen. Es gibt nichts Schlim-
meres, als mitzuerleben, wie die eigenen gesunden Tiere
vorbeugend vernichtet werden müssen.
Ich finde es hervorragend, dass sich in dieser Angele-
genheit eine so breite politische Mehrheit gefunden hat.
Das ist ein klares Zeichen, dass wir uns unserer mora-
lisch-ethischen Verantwortung bewusst sind.
Die bisherige Praxis lässt sich auch angesichts der
neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht aufrechter-
halten. Insbesondere durch moderne Nachweisverfahren
haben wir die Möglichkeit, befallene Bestände schnell
einzugrenzen und mit dem Instrumentarium der Notimp-
fung dem Tierschutz gerecht zu werden. Dafür kämpfen
wir! Das ist unser gemeinsames Ziel!
Damit im Ernstfall der Grundsatz „Impfen statt Keu-
len“ in der Tierseuchenbekämpfung durchgreifend wirk-
sam umgesetzt wird, müssen alle Beteiligten mitmachen.
Es ist positiv, dass die Bundesregierung hier bereits Vor-
bereitungen getroffen hat, damit im Ernstfall eine Eilver-
ordnung, ein großflächiges „Stand still“ einleiten kann.
Die Länder, denen die Entscheidung für oder gegen eine
Notimpfung im Seuchenfall obliegt, müssen in diesem
Fall auch vom Bund durch die Versorgung mit entspre-
chenden Impfstoffen unterstützt werden. Von entschei-
dender Bedeutung wird aber sein, dass das Fleisch von
geimpften Tieren im Vergleich zum Fleisch von nicht ge-
impften Tieren bei der späteren Verwendung keinerlei
Beschränkungen unterliegt. Wir haben mit dem heutigen
Tag zusammen mit dem BMELV den Rahmen gesetzt.
Nun kommt der nächste Kraftakt. Die Wirtschaft
kann und muss hier ihren Beitrag leisten. Klar ist: Das
Fleisch geimpfter Tiere ist qualitativ absolut gleichran-
gig mit dem ungeimpfter Tiere. Hier muss auch vonsei-
ten der Wirtschaft unbegründeten Sorgen mit offensiver
Aufklärung begegnet werden.
Notgeimpfte, aber gesunde Tiere dürfen nicht länger
auf internationaler Ebene Verkaufs- und Handelsbe-
schränkungen unterliegen. Wir werben deshalb für einen
Paradigmenwechsel in der Tiergesundheitspolitik. Nur
so können wir unser Ziel erreichen, dass auf Dauer EU-
weit das Prinzip „Impfen statt Keulen“ durchgesetzt
wird.
Gerne sind wir hier Vorreiter – im Sinne des Tier-
schutzes europa- und weltweit.
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Als Tierarzt war ich
vor knapp zwanzig Jahren unmittelbar von den dramati-
schen Auswirkungen der Klassischen Schweinepest in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21289
(A) (C)
(D)(B)
Niedersachsen betroffen. Wozu hat die europäische Tier-
seuchenpolitik des Stamping-out in der Vergangenheit
geführt? Nach dem Ausbruch der Klassischen Schweine-
pest wurden Hunderttausende gesunder Tier gekeult, um
die Seuche in den Griff zu bekommen. Beim letzten Seu-
chenzug 2006 in NRW wurden acht betroffene Schwei-
nebestände identifiziert. Insgesamt wurden jedoch fast
130 000 Schweine gekeult. Die Folgekosten für die acht
infizierten Bestände lagen bei etwa 25 Millionen Euro,
die zum Teil aus öffentlichen Mitteln getragen wurden.
Weitere geschätzte 30 bis 40 Millionen Euro Verluste
mussten die deutschen Schweineerzeuger durch Han-
delsbeschränkungen hinnehmen. Auch bei den anderen
Seuchenzügen wurden im Regelfall zehnmal mehr
Schweine gekeult, als erkrankt waren. Das ist nicht mehr
hinnehmbar.
Auch die handelspolitischen Folgen in Bezug auf die
internationalen Vereinbarungen zum Tierseuchenschutz
sind teilweise absurd: So wurde im jüngsten Fall beim
Schmallenbergvirus Schweinefleisch für den Export ge-
sperrt, obwohl Schweine überhaupt nicht von diesem
Virus infiziert werden können. Wenn zweifelsfrei nach-
gewiesen wird, dass die Tiere nicht mit einem Feldvirus
infiziert sind, gibt es keine Notwendigkeit mehr für Han-
delsverbote. Das muss in internationalen Vereinbarun-
gen umgesetzt werden, damit handelspolitische Restrik-
tionen im bilateralen Handel entfallen können. Wir
müssen international im Rahmen der Weltorganisation
für Tiergesundheit und innerhalb der Handelsabkommen
der EU mit Drittstaaten in diesem Bereich zu verbindli-
chen Vereinbarungen kommen.
Wir müssen jetzt eine neue Tierseuchenbekämpfungs-
strategie umsetzen. Die Bekämpfung der Klassischen
Schweinepest muss an neuen wissenschaftlichen Er-
kenntnissen ausgerichtet werden. Die Forschung und
Impfstoffentwicklung hat in den letzten zwanzig Jahren
erhebliche Fortschritte gemacht. Die kostengünstigen
Hochdurchsatznachweisverfahren wie das PCR-Verfah-
ren sind mittlerweile so weit ausgereift, dass mit dem
Feldvirus infizierte Schweine von nicht infizierten ver-
lässlich und sicher unterschieden werden können. Au-
ßerdem bietet die Entwicklung eines neuen gentechnisch
hergestellten Markerimpfstoffs, der voraussichtlich 2014
zugelassen wird, eine gute Perspektive für eine verbes-
serte und moderne Bekämpfungsstrategie gegen die
Klassische Schweinepest.
Der bestehende Rechtsrahmen ist auf nationaler und
europäischer Ebene anzupassen. Die Bundesregierung
hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in Zu-
kunft eine effektive und tierschonende Bekämpfung der
Klassischen Schweinepest möglich wird.
Die Bundesregierung muss sich jetzt gemeinsam mit
den anderen europäischen Mitgliedstaaten dafür einset-
zen, dass Impfung und Diagnostik in eine europäisch
einheitliche Bekämpfungsstrategie einfließen. Prophy-
laktische Impfungen wird es sicher auch in Zukunft nicht
geben. Die sogenannten Notimpfungen werden aber
nach meinem Kenntnisstand von vielen Mitgliedslän-
dern befürwortet. Voraussetzung ist jedoch, dass die ge-
impften Tiere in der EU in den Verkehr gebracht werden
dürfen. Um dies abzusichern, ist vor allem auch die ge-
samte Kette vom Schlachtunternehmen über die Verar-
beitungsunternehmen bis zum Lebensmitteleinzelhandel
gefordert.
Vermeintliche Handelsrestriktionen sind nach meiner
Einschätzung kein vernünftiger Grund für das sinnlose
Töten von Tieren. Ich halte die bisherige Vorgehens-
weise auch für einen eklatanten Verstoß gegen das Tier-
schutzgesetz. Wenn wir an dem bisherigen Verfahren
festhalten und die Praxis nicht an die wissenschaftlichen
Entwicklungen und neuen Möglichkeiten der Tierseu-
chenbekämpfung anpassen, riskieren wir die gesell-
schaftliche Akzeptanz der Tierhaltung. Das massenhafte
Keulen gesunder Tiere wird bereits heute nicht mehr ak-
zeptiert, weder von Landwirten noch von Verbrauchern.
Wenn wir Wertschöpfung und die tierische Veredelung
in ländlichen Regionen in der bisherigen Form erhalten,
müssen wir dafür sorgen, dass die landwirtschaftliche
Tierproduktion gesellschaftlich akzeptiert bleibt.
Darüber hinaus ist es auch volkswirtschaftlich voll-
kommen unsinnig, zum Verzehr geeignete Tiere mit fi-
nanziellen Mitteln aus öffentlichen Haushalten in der
Tierkörperbeseitigungsanlage zu entsorgen. Das Tierseu-
chenrisiko in der Produktion muss auch durch die Ver-
besserung des Hygienemanagements gesenkt werden.
Die regionale Verdichtung von Tierhaltungsanlagen mit
gleichen Tiergattungen und damit die Potenzierung des
Ansteckungsrisikos ist zukünftig bei der Genehmigung
neuer Stallanlagen zu berücksichtigen. Erfahrungen aus
der Bekämpfung des porcinen reproduktiven und respi-
ratorischen Syndroms in Dänemark und den USA zei-
gen, dass PRRS-sanierte Bestände regelmäßig wieder
neu infiziert werden, wenn sie nicht 2 Kilometer von an-
deren entfernt liegen. Das macht deutlich: Zu geringe
Abstände und eine zu hohe Verdichtung der Tierproduk-
tion erhöhen das Tierseuchenrisiko, und die Folgen eines
Tierseuchenausbruchs potenzieren sich.
Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiative des
Deutschen Bauernverbands, des Zentralverbands der
Geflügelwirtschaft, der Interessengemeinschaft der
Schweinehalter Deutschlands, der Tierärzteverbände,
der Fleischwirtschaft und vor allem auch des Deutschen
Tierschutzbundes. Sie haben mit ihrer Resolution die
Fragen nach einer neuen Bekämpfungsstrategie auf die
politische Agenda gesetzt. Wir Sozialdemokraten haben
diese Initiative im Parlament aufgegriffen und führen sie
jetzt zum Erfolg. Eigentlich wäre bei diesem wichtigen
Thema die Regierung gefordert gewesen. Manchmal
muss man sowohl Regierung als auch Regierungspar-
teien zum Jagen tragen. Ich glaube, dass dies in diesem
wichtigen Themenfeld gelungen ist.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Ist in einem
Schweinestall die Klassische Schweinepest ausgebro-
chen, muss zurzeit der gesamte Tierbestand gekeult wer-
den. Getötet werden nicht nur kranke Tiere, sondern
auch vorbeugend die gesunden – auch im Umkreis von
3 Kilometern von dem betroffenen Stall. So wurden
2006 mehrere Tausend Schweine allein in Deutschland
gekeult.
21290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Für uns ist das Keulen ganzer Bestände keine über-
zeugende und zeitgemäße Antwort auf die Schweine-
pest. Das ist eher ein tierschutz- und agrarpolitischer Irr-
weg. Dass da eine Ab- und Umkehr überfällig ist, habe
ich schon vor mehreren Jahren erkannt und gefordert.
Entsprechende Anträge hat die FDP bereits in der
14. und 15. Wahlperiode in die parlamentarische Bera-
tung eingebracht. Umso mehr freue ich mich, dass wir
heute einen interfraktionellen Antrag in diese Richtung
verabschieden. Damit stellen wir die Weichen für einen
dringend notwendigen Modernisierungskurs in der Tier-
seuchenbekämpfung. Denn ohne den Paradigmenwech-
sel werden wir nicht eine moderne und tierschutzfreund-
liche Bekämpfungsstrategie herbeiführen können.
Die Klassische Schweinepest ist eine hochgradig an-
steckende Viruserkrankung, die zu hohen Tierverlusten
und schweren wirtschaftlichen Schäden in der Agrar-
wirtschaft führen kann. Deswegen muss der Seuche mit
präventiven Maßnahmen vorgebeugt werden, und jeder
Verdacht muss von den Landwirten ernst genommen und
gemeldet werden. Im Fall eines Ausbruchs zählt jeder
Tag. Bei einem chronischen Verlauf ist die Erkennung
häufig schwieriger als in der akuten Form. Infizierte Be-
stände müssen getötet und unschädlich entsorgt werden.
Damit keine gesunden Tiere unnötig getötet werden, for-
dern wir in unserem Antrag, dass Keulungen auf das un-
erlässliche Maß reduziert werden. Gesunde Tiere be-
kommen eine Notimpfung verabreicht.
Fleischprodukte, die von notgeimpften Tieren herge-
stellt wurden, sind gesundheitlich unbedenklich und eig-
nen sich für den menschlichen Verzehr. Durch verstärkte
Aufklärung müssen die Verbraucher über die Unbedenk-
lichkeit solcher Nahrungsmittel informiert werden. Es
darf nicht dazu kommen, dass die Konsumenten das Ver-
trauen in die Lebensmittel verlieren und die Produkte ab-
lehnen. Nur mit einer breiten und offensiven Kampagne
lassen wir Unsicherheiten nicht aufkommen.
Informieren und aufklären müssen wir auch die Han-
delspartner aus dem EU-Ausland und aus Drittländern.
Da Fleisch von geimpften Tieren nicht die gebotene Ak-
zeptanz findet, muss alles getan werden, damit es zu kei-
nen Problemen beim Absatz oder Export von Schweine-
produkten kommt. Nur durch Gespräch und Aufklärung
können wir Marktstörungen bzw. Handelshemmnissen
entgegenwirken. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel
muss sich auch der Problematik stellen und das Fleisch
von geimpften Tieren vermarkten. Denn – um es noch-
mals zu betonen – die Produkte von geimpften Schwei-
nen sind hundertprozentig gesund und sicher. Es wäre
verfehlt, aus handelspolitisch bedingten Gründen dieses
praktikable Notimpfkonzept scheitern zu lassen. Unsere
Fleischwirtschaft muss von der Regierung bei der Kon-
zeptentwicklung zur Schlachtung und Verarbeitung ge-
impfter Tiere unterstützt werden.
Auch auf europäischer Ebene muss sich die Bundes-
regierung entschieden für eine Änderung der Nichtimp-
fungspolitik in ganz Europa einsetzen. An die Stelle der
Nichtimpfungspolitik muss der Grundsatz „Impfen statt
Keulen“ treten. Nur durch eine gezielte Impfung lässt
sich die Ausbreitung der Schweinepest tierschonend ver-
hindern und großer Schaden von der Land- und Ernäh-
rungswirtschaft abwenden. Das Ministerium muss sich
bei den Verhandlungen über die neue Tiergesundheits-
strategie der Europäischen Union ab 2014 stark dafür
einsetzen, dass das Notimpfkonzept deutlicher zum Tra-
gen kommt. Durch verbesserte Rahmenbedingungen für
die Notimpfung gegen die Schweinepest in der gesamten
EU wäre auch die Frage der Vermarktung in den Mit-
gliedstaaten vom Tisch.
Der Ansatz „Impfen statt Keulen“ ist aus Verantwor-
tung für die Ernährungssicherheit und unter tierethischen
Aspekten eine praktikable Maßnahme, die einstimmig
von der Tierärzteschaft, der Landwirtschaft und von den
Tierschutzorganisationen befürwortet wird. Erfreuliche
Einstimmigkeit ist auch in den Reihen der Bundestags-
fraktionen festzustellen. An der Stelle möchte ich mich
bei allen Kolleginnen und Kollegen für die gute fach-
liche Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Antrags
bedanken. Ich freue mich auf eine weitere konstruktive
Zusammenarbeit in unserem Ausschuss. Im Tierschutz-
und Tiergesundheitsbereich steht noch einiges an, und
das können wir im kollegialen Austausch zum Wohl von
Mensch und Tier gut meistern.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Europäi-
sche oder Klassische Schweinepest ist eine der bedroh-
lichsten Tierseuchen für Haus- und Wildschweine, vor
allem deshalb, weil sie sehr leicht von Tier zu Tier, von
Stall zu Stall übertragbar ist. Wird sie amtlich festge-
stellt, kommt es zu drastischen Gegenmaßnahmen. Um
eine weitere Ausbreitung zu vermeiden, werden auch ge-
sunde Schweine unverzüglich getötet. Keulen nennt man
das. Das hat fatale Folgen, vor allem dort, wo viele
Schweine gehalten werden. So mussten zum Beispiel im
März 2006 in NRW mehr als 92 000 Schweine gekeult
werden. Das sind gigantische Mengen.
Ein Teil solcher vorsorglichen Tötungen könnte ver-
mieden werden, zum Beispiel mittels sofortiger Impfung
der Schweine. Wirksame Impfstoffe dafür gibt es, aber
solche Notimpfungen sind derzeit verboten, weil früher
geimpfte Schweine nicht sicher von infizierten Tieren
unterschieden werden konnten.
Doch mittlerweile kann man durch sogenannte Mar-
kerimpfstoffe die Antikörper aus natürlichen Infektionen
von solchen aus Impfungen unterscheiden. „Impfen statt
Keulen“ heißt daher das Gebot der Stunde.
Deshalb unterstützt die Linke ausdrücklich das Anlie-
gen des fraktionsübergreifenden Antrags. Notimpfungen
müssen endlich möglich sein.
Dieser Antrag wurde von allen fünf Fraktionen erar-
beitet. Leider wird die Linksfraktion im Autorenkollek-
tiv nicht mehr genannt. Auf Druck der Unionsfraktion
wurde nun schon zum dritten Mal in diesem Jahr ein ge-
meinsam erarbeiteter, interfraktioneller Antrag ohne die
Linksfraktion eingereicht.
Deshalb auch heute meine Forderung an die Union:
Beenden Sie den kalten Krieg.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21291
(A) (C)
(D)(B)
SPD, Grüne und FDP frage ich: Wie lange wollen Sie
eigentlich dieses vordemokratische Spiel mitmachen?
Das nagt auch an Ihrer Glaubwürdigkeit!
Doch zurück zum Antrag. Der greift leider insgesamt
zu kurz. Er blendet aus, dass ein strategischer Ansatz zur
Bekämpfung der Schweinepest nötig ist. Infektions- und
Verbreitungsrisiken müssen minimiert, effektive Be-
kämpfungsstrategien entwickelt und erprobt werden.
Wir brauchen dafür erstens mehr Forschung und
zweitens eine andere Marktausrichtung. Das will ich
gern näher erläutern.
Zur Forschung: Noch wichtiger als die Erlaubnis von
Notimpfungen ist die Vermeidung von Schweinepestin-
fektionen. Dazu werden wissenschaftlich begründete
Konzepte zur Risikovermeidung und effektiven Be-
kämpfung gebraucht. Kosten und Nutzen solcher Maß-
nahmen müssen sachlich fundiert für jede Einzelsitua-
tion abgewogen werden können. Wie groß muss zum
Beispiel ein Sperrbezirk sein, damit eine Weiterverbrei-
tung verhindert, der wirtschaftliche Schaden durch die
Sperrung aber begrenzt wird? Welche Risikofaktoren
müssen wie berücksichtigt werden? Angewandte Tier-
seuchenforschung, insbesondere epidemiologische For-
schung, muss deshalb gestärkt, erworbene Erkenntnisse
in die Praxis umgesetzt sowie in Lehre und Ausbildung
eingeführt werden.
Stattdessen bauen alle Bundesregierungen seit 1996
in der Agrarressortforschung kräftig Personal ab und
schließen Forschungsstandorte. Vermeintlich prestige-
trächtige Grundlagenforschung und Exzellenzinstitute
pflegt man. Dagegen fristet das Epidemiologische Insti-
tut des FLI in Wusterhausen/Dosse seit Jahren ein gedul-
detes Schattendasein. Ende 2013 soll dort endgültig der
Letzte das Licht ausmachen und zur Insel Riems umzie-
hen. Regional- und sozialpolitisch ist das ein Desaster.
Kurzfristiges haushalterisches Denken hat hier wieder
einmal über wissenschaftliche Arbeitsfähigkeit und
Standortpolitik gesiegt.
Zurück zum Antrag: Er verschweigt auch die eigentli-
chen Gründe für die Nichtimpfpolitik in der EU. Imp-
fungen wären ein Handelshemmnis. Es ist sicherer, Tiere
mit Infektionsverdacht zu töten als das Restrisiko einer
Infektionsverbreitung einzugehen. Aber können Han-
delswünsche vernünftige Gründe zur Tötung gesunder
Tiere sein, die das Tierschutzgesetz vorschreibt, mal
ganz davon abgesehen, dass der Export und damit Trans-
port lebender Tiere ohnehin zu hinterfragen ist?
Leider klammert der Antrag diesen Aspekt größten-
teils aus. Die Antragsteller machen sich vor allem Sor-
gen darüber, ob skeptische Verbraucherinnen und Ver-
braucher innerhalb der EU von der Unbedenklichkeit des
Fleischs geimpfter Schweine überzeugt werden können.
Wenn wir über das Schweinepestrisiko reden, ist auch
ein Blick auf den gesamten Schweinemarkt erhellend.
Zur Infektionsvermeidung müsste er komplett anders
ausgerichtet werden.
257 Millionen Schweine werden dieses Jahr in der
EU produziert, davon 46 Millionen in Deutschland.
Zwar ist die Produktion damit leicht gesunken. Aber
noch immer wird in der EU Schweinefleisch deutlich
über der einheimischen Nachfrage produziert: 110 Pro-
zent. Da innerhalb der EU immer weniger Schweine-
fleisch gegessen wird, muss immer mehr exportiert wer-
den. Der weltweite Handel mit Schweinefleisch ist im
Jahr 2011 auf ein Rekordniveau gestiegen und wuchs ge-
genüber 2010 um über 10 Prozent.
Das hat neben dem Risiko einer Infektionsverbreitung
eine weitere Schattenseite: Das für diese Überproduktion
benötigte Futter wird nur zum Teil in der EU produziert.
Über 80 Prozent der Eiweißfutterpflanzen werden ak-
tuell in die EU importiert. Das sind 40 Millionen Tonnen
pro Jahr. Weil Europa reich ist, kann das Futter billig auf
dem Weltmarkt eingekauft werden. Nachhaltig ist das
nicht. Dabei brauchen wir mehr soziale und ökologische
Verantwortung. Fleischproduktion muss sich klarer am
einheimischen Bedarf orientieren. Eine strategische
Ausrichtung auf Export lehnt die Linke ab. Wir müssen
wieder mehr selbst Futtermittel anbauen, natürlich gen-
technikfrei. Auch über eine Beschränkung der Futtermit-
telimporte müssen wir nachdenken.
Fazit: Der Antrag hat seine Schwächen, aber das An-
liegen teilen wir. Daher enthält sich die Linke.
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wer nach dem massiven Schweinepestausbruch
vor nun bald 15 Jahren die Mengen zwangsgetöteter
Tiere gesehen hat, wer mit den psychisch Betroffenen in
den leeren Ställen gesprochen hat, wer den riesigen
volkswirtschaftlichen Schaden wahrgenommen hat, den
das zigtausendfache Töten von absolut gesunden Tieren
in der Nähe von betroffenen Betrieben angerichtet hat,
der kann nur zustimmen, dass „Impfen statt Keulen“ der
richtige Ansatz für die Bekämpfung der Schweinepest
ist.
Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, die wir durch
neue Marktimpfstoffe haben. Die erheblichen Handels-
hemmnisse für geimpfte Tiere müssen abgebaut werden.
Es ist nicht mehr einzusehen, warum geimpfte Tiere
nicht vom Handel akzeptiert werden. Wir können durch
Notimpfungen das massenhafte Töten von gesunden
Tieren vermeiden. Daher unterstützen wir Grüne diesen
fraktionsübergreifenden Antrag.
Die Seuchenausrottungsstrategie – wie bei der
Schweinepest – ist in Zeiten des globalisierten Tierhan-
dels nicht mehr zeitgemäß. Im Extremfall, wie bei BSE,
dieser Herausforderung mit der Verbrennung von Tier-
kadaverscheiterhaufen entgegentreten zu wollen, ist äu-
ßerst widerwärtig, brutal und aussichtslos; auch weil
zum Beispiel die zahlreichen Wildschweinpopulationen
in unseren Wäldern und auf unseren Maisäckern ein end-
loses Reservoir für die Schweinepest sind.
Übrigens: Mit der Variante der Vogelgrippe haben wir
ein ganz ähnliches Problem. Obwohl große Einigkeit be-
steht, dass das Fleisch der befallenen Tiere für Verbrau-
cher völlig ungefährlich ist, wird weiterhin gekeult. Zu-
letzt 2010 in Mecklenburg-Vorpommern. Der ganz
banale Grund lautete: Weder Schlachthöfe noch Fleisch-
21292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
verarbeiter waren bereit, die 17 000 Tiere und deren
Fleisch abzunehmen.
Als ersten Schritt brauchen wir eine Änderung der ge-
setzlichen Vorgaben auf EU-Ebene. Die Einstufung als
Land mit Schweinepest wird bisher durch eine Impfung
verlängert. Impfen muss – wo immer möglich – zur Re-
gel werden, Keulen die Ausnahme. Gemeinsam mit
Fleischverarbeitern und Verbrauchervertretern müssen
wir nach Möglichkeiten suchen, das Fleisch geimpfter
Tiere zu vermarkten.
Doch vordringlich müssen wir uns mit aller Kraft der
Vermeidung von Tierseuchen widmen. Deshalb müssen
wir die regional viel zu hohen Konzentrationen von In-
tensivmassentierhaltung abbauen. Riesige Ställe mit
mehreren Zehntausenden von Schweinen, Regionen mit
Viehdichten von mehr als zwei Großvieheinheiten je
Hektar, in denen Tiere nur noch Produktionsfaktor sind,
sind eine ideale Voraussetzung für massive Seuchenaus-
brüche, weil die Viren sich sehr schnell verbreiten kön-
nen. Sie, Frau Ministerin Aigner, leisten dieser Tierhal-
tungsform nach wie vor Vorschub – gegen den Willen
der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger –, durch Ihr
ewiges Postulat: Wir wollen die Welt mit Fleisch ernäh-
ren.
In den viehdichten Regionen Nordwestdeutschlands
sind die Seuchengefahren eine immerwährende, massive
Bedrohung. Die sorglose oft prophylaktische Verabrei-
chung von Antibiotika erhöht die Probleme zusätzlich.
Nicht zuletzt spielen wir ein gefährliches Spiel, indem
wir Tiere kreuz und quer durch Europa und bis an den
Ural karren. Völlig zu Recht bezeichnen die EU-Chefve-
terinäre Tiertransporte als den wichtigsten Faktor für die
Verbreitung von Tierseuchen. Beim Treffen der EU-Ve-
terinäre mit den russischen Veterinären wurde insbeson-
dere der mangelnde Seuchen- und Hygienestatus der
deutschen Lieferungen beklagt. Trotzdem werden immer
mehr Tiere transportiert. Allein zwischen 2005 und 2009
haben Schweinetransporte in Europa um 70 Prozent zu-
genommen. Und Deutschland hat hier die unrühmliche
Spitzenposition: Wir erhalten 50 Prozent aller in der EU
transportierten Schweine. Damit öffnen wir Krankheits-
erregern Tür und Tor.
Die Kosten, die durch Ausbrüche von Krankheiten
wie der Schweinepest entstehen, für die Tötung und Ent-
sorgung der Schweine lagen zwischen 1993 und 1996
bei 660 Millionen Euro; vom unnötigen Töten der
1,2 Millionen meist gesunden Lebewesen ganz zu
schweigen. In den Niederlanden lagen die Kosten für
den Ausbruch 1997/1998 sogar bei 2 Milliarden Euro!
Eine erhebliche Belastung für die niederländische Wirt-
schaft.
Einmal mehr wird deutlich, wie absurd das System
der industriellen Tierhaltung ist. Die Billigfleischpro-
duktion ist nur möglich, weil Schäden durch industrielle
Tierhaltung kaum auf die Produktion umgeschlagen
werden. Erkennen Sie endlich an, Frau Ministerin
Aigner, dass wir an die Grenzen des Systems gestoßen
sind! In den viehdichten Regionen Niedersachsens weiß
Ihr Parteikollege Lindemann schon nicht einmal mehr,
wohin mit der Gülle. Dem zusätzlichen wilden Wachs-
tum der Anlagen ohne eigene Fläche müssen wir einen
Riegel vorschieben. Wir brauchen eine bäuerliche Land-
wirtschaft und Tierhaltung, die auf regionale Kreisläufe
setzt und damit auch das Seuchenrisiko für Tiere und
Menschen minimiert.
„Klasse statt Masse!“ muss endlich der Leitsatz unse-
rer Landwirtschaft werden. Frau Ministerin Aigner, zei-
gen Sie endlich den Mut zu einer wirklichen Umgestal-
tung der Landwirtschaft!
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Forschung für die zi-
vile Sicherheit (Tagesordnungspunkt 13)
Florian Hahn (CDU/CSU): Sicherheit ist die Basis
unserer Demokratie. Damit wir auch in Zukunft in einer
zunehmend globalisierten Welt ein freies Leben ohne
Bedrohungen führen können, forschen wir unentwegt an
neuen Sicherheitsstrategien.
So konnte sich dank des Engagements der Bundesre-
gierung die zivile Sicherheitsforschung in Deutschland
als eigenständiges Forschungsgebiet mit einer gut ver-
netzten Akteurslandschaft etablieren.
Im Mittelpunkt des Rahmenprogramms „Forschung
für die zivile Sicherheit“ stehen Lösungen, die die
Sicherheit des freiheitlichen Lebensstils der Bevölke-
rung gewährleisten sollen.
Die Sicherheitsrisiken haben sich in den letzten Jah-
ren drastisch verändert: Naturkatastrophen und Großun-
fälle, rasante Fortschritte in den Informations- und Kom-
munikationstechnologien oder der Klimawandel stellen
ganz neue Herausforderungen an den Staat.
Das zunehmende Wachsen von Ballungszentren so-
wie die steigende Vernetzung unterschiedlicher Lebens-
bereiche haben eine neue Qualität der Verletzlichkeit zur
Folge.
So geraten vor allem Fragen der urbanen Sicherheit
gerade bei Massenveranstaltungen wie Public Viewing,
aber auch beim täglichen Gebrauch von öffentlichen
Verkehrsmitteln immer wieder in den Mittelpunkt.
Aufbauend auf den Erfolgen des ersten Programms
und vor dem Hintergrund neuer globaler Herausforde-
rungen wurde die zivile Sicherheitsforschung um gesell-
schaftswissenschaftliche Aspekte erweitert. So fließen
ganze 50 Millionen in die Erforschung gesellschaftlicher
Fragestellungen wie Katastrophenkommunikation und
die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung. Auch die in-
ternationale Kooperation mit Ländern wie den USA,
Frankreich und Israel soll um diese sozialen Aspekte er-
gänzt werden.
Ich denke, so ist es noch deutlicher geworden, dass es
in diesem Programm nicht um Wehrforschung geht, wie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21293
(A) (C)
(D)(B)
einige Kollegen – Röspel, SPD – kritisierten, sondern
um die Sicherheit der Bürger im zivilen Leben.
Von einem engen Sicherheitsbegriff kann nicht die
Rede sein. Genannte Schwerpunkte wie urbane Sicher-
heit, Sicherheit von Infrastrukturen und Wirtschaft, IT-
Sicherheitsforschung sprechen für sich und haben keinen
militärischen Charakter.
Ich bitte Sie daher, das Programm, welches einer zivi-
len Gesellschaft zugute kommt und viele Arbeitsplätze
in mittelständischen Betrieben schafft, in seiner Gesamt-
heit zu betrachten.
Wir wollen die kritischen Infrastrukturen einer zivilen
Gesellschaft schützen. Diese befinden sich in einer digi-
tal vernetzten Welt vor allem online. Deshalb freue ich
mich auch besonders über die neu aufgenommene IT-
Forschung im Rahmenprogramm. In der Tat gibt es in
diesem Bereich großen Forschungsbedarf.
Gerade hat die vbw – die Vereinigung der Bayeri-
schen Wirtschaft – im Vorfeld der Münchner Sicher-
heitskonferenz dieses Jahres über die Risiken moderner
Kommunikations- und Informationstechnologien für die
Wirtschaft aufgeklärt. Die globale Vernetzung und IT-
Trends, wie Cloud oder Mobile Computing, stellen die
Unternehmen vor ganz neue Herausforderungen.
Cyberangriffe lösen bisherige Formen der Wirt-
schaftskriminalität zunehmend ab. Deshalb ist es wich-
tig, die Betriebe dafür zu sensibilisieren und ihnen auf-
zuzeigen, wie sie ihre IT-Sicherheitsstrukturen gegen
virtuelle Überfälle rüsten können. Dafür braucht
Deutschland gut ausgebildete Fachkräfte. Das BMBF
fördert auch schon drei Kompetenzzentren für IT-
Sicherheitsforschung.
Trotzdem beklagt ein Unternehmen aus meinem
Wahlkreis, welches Vorreiter bei dem Thema IT-Sicher-
heit ist, schon jetzt einen Fachkräftemangel. Tatsächlich
ist das Thema IT-Security nur an 44 Informatikstudien-
gängen vertreten und kommt in der Elektrotechnik und
generell in den Ingenieurswissenschaften noch seltener
vor.
Ich möchte an dieser Stelle an die Universitäten ap-
pellieren, das Lehrangebot an den Informatik-, aber vor
allem auch an den Ingenieurslehrstühlen zu erweitern!
Wir haben das auch schon in unserem Antrag hervor-
gehoben und halten es nach wie vor vor allem für die
mittelständische Wirtschaft für wichtig, die Forschung
auszubauen. Sie profitiert nämlich in zweierlei Hinsicht:
einerseits, weil sie durch die Sicherheitstechnologien
besser geschützt wird, andererseits weil sie es ist, die an
der Entwicklung maßgeblich beteiligt ist. Wir erwarten
eine 50-prozentige Volumensteigerung des Markts für
zivile Sicherheitsforschung bis 2020 – 2010: 20 Milliar-
den. Die teilnehmenden Firmen, die zu 60 Prozent aus
kleinen oder mittelständischen Unternehmen bestehen,
schauen guten Zeiten entgegen.
Deshalb möchten wir mit unserem Antrag die Fort-
schreibung des Rahmenprogramms Sicherheitsfor-
schung der Bundesregierung unterstützen.
Lassen Sie mich noch zuletzt sagen, dass ich es per-
sönlich für verheerend halte, wenn wir in eine hysteri-
sche Angstdiskussion über die Beschneidung von Frei-
heitsrechten abdriften und das Programm mit seinen
vielen innovativen sicherheitstechnische Lösungen da-
mit ersticken.
Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit muss
unbedingt gewahrt bleiben. Gerade deshalb brauchen
wir Sicherheitslösungen, die die Bürger schützen und sie
dadurch erst befähigen sich in einer modernen Gesell-
schaft frei zu entfalten.
Der vorliegende Antrag zur Fortführung der zivilen
Sicherheitsforschung steht hiermit im Einklang und da-
her bitte ich Sie um Zustimmung!
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Die erste Debatte
zum vorliegenden Antrag und auch die Unterrichtung
der Bundesregierung zur Fortsetzung des Rahmenpro-
gramms „Forschung für zivile Sicherheit“ hat bereits
deutlich gemacht, dass es bei der Forschung zur zivilen
Sicherheit insbesondere um das grundlegende Verhältnis
von Sicherheit und Freiheit in unserer Gesellschaft geht.
Es geht darum, die Balance von Freiheit und Sicherheit
zu wahren. Wir sind uns zum Glück ja alle einig: Auf-
gabe der Politik ist es, für die Sicherheit der Bürger in ei-
ner freien und offenen Gesellschaft zu sorgen. Dabei
müssen wir die Frage nach der Balance zwischen not-
wendiger Sicherheit und persönlichen Freiheitsrechten
der einzelnen Bürger beantworten. Es ist eben nicht so,
wie Westernhagen in einem Song von 2005 singt: „Alles
ist möglich. Alles ist erlaubt!“
Die technische Möglichkeit, etwas zu tun, ist nur die
eine Seite der Medaille, die gesellschaftliche Machbar-
keit die andere.
Unser Kollege Professor Neumann hat in seiner Rede
in der 158. Sitzung am 9. Februar 2012 die interessante
Frage aufgeworfen, ob wir bereit sind, ein Restrisiko
hinzunehmen. Auf dem „Innovationsforum zivile Si-
cherheit“ im April 2012 des Bundesministeriums für Bil-
dung und Forschung hat der ehemalige Verfassungsrich-
ter Udo Di Fabio dazu die passende Antwort gegeben:
Nach der Verfassung schuldet der Staat dem Bürger
keine absolute Sicherheit. Er übernimmt aber die
Gewährleistungsverantwortung für die Infrastruktur
einer modernen Gesellschaft, was vom Straßenver-
kehr bis zur Datensicherheit und der Absicherung
des Urheberrechtes reicht.
Udo Di Fabio hat auch deutlich betont, dass das ei-
gentliche Problem dabei die Akzeptanz der jeweiligen
Lösungen durch die Bevölkerung ist. Diese muss der
Gesetzgeber im Dialog mit der gesamten Gesellschaft
erreichen.
Uns ist klar: Die Gewährleistungsverantwortung, die
der Staat und die Politik gegenüber den Bürgern haben,
ist groß, und gerade in heutiger Zeit wird es immer
schwerer, ihr gerecht zu werden.
Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein
hochkomplexes Netzwerk kritischer Infrastrukturen aus.
21294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Sichere Energienetze, funktionierende Wasser- und Le-
bensmittelversorgung, Verkehrsträger, Transportwesen
und Kommunikationsnetze sind die Lebensadern aller
hochtechnisierten Industrienationen.
Die Bedrohungen sind vielfältig und unterliegen ei-
nem ständigen Wechsel. Mitunter können kleine Störun-
gen große Auswirkungen haben. Der Staat und seine Si-
cherheitsbehörden, aber auch die gesamte Gesellschaft
sehen sich einem andauernden Anpassungsdruck ausge-
setzt.
Neue Sicherheitsvorkehrungen und -konzepte sind
notwendig, um die Sicherheit und Freiheit der Menschen
gegen die sich drastisch veränderten Risiken zu bewah-
ren.
Die Abhängigkeit der Gesellschaft von diesen kriti-
schen Infrastrukturen hat sich anhand verschiedener Na-
turkatastrophen und technischer Störungen in den letzten
Jahren immer wieder gezeigt.
Sehr deutlich illustriert wurde die Problematik in dem
Bericht „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Ge-
sellschaften – am Beispiel eines großräumigen und lang
andauernden Ausfalls der Stromversorgung“ des Büros
für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundes-
tag, der einen sehr guten Überblick über Probleme und
Handlungsnotwendigkeiten im Falle eines solchen
Stromausfalls gibt.
Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen solchen
großflächigen und langandauernden Stromausfall gering
ist, Deutschland über ein leistungsfähiges und hochent-
wickeltes Katastrophenmanagementsystem verfügt und
die Ausfallsicherheit der kritischen Infrastrukturen in
Deutschland auf einem hohen Niveau ist, macht der Be-
richt deutlich, dass auf allen Ebenen weitere Anstren-
gungen erforderlich sind, um die Widerstandsfähigkeit
kritischer Infrastrukturen kurz- und mittelfristig zu erhö-
hen sowie die Kapazitäten des nationalen Systems des
Katastrophenmanagements weiter zu optimieren.
Insbesondere besteht ein erheblicher Forschungsbe-
darf in technischen und gesellschaftswissenschaftlichen
Feldern, die angegangen werden müssen.
Daher bin ich sehr froh, dass es ein Forschungspro-
gramm für die zivile Sicherheit gibt, bei dem gemeinsam
mit allen Akteuren nach Präventions- und Handlungs-
konzepten für mögliche Bedrohungen, Schadensfälle
und Ähnliches gesucht wird.
In den letzten fünf Jahren wurden dafür 250 Millio-
nen Euro in 120 Verbundprojekte investiert. So wird
beispielsweise eine Vielzahl der im TAB-Bericht aufge-
worfenen Fragestellungen bereits in verschiedenen Pro-
jekten untersucht und durch die Bundesregierung finan-
ziert.
Die Schwerpunkte der Förderung liegen in der For-
schung zur Prävention und Früherkennung von Bedro-
hungen, zur Verhinderung von Kaskadeneffekten, zur
Krisenbewältigung durch zeitnahe und effiziente Siche-
rungs- und Entkoppelungsmaßnahmen und zum Aufbau
einer wirksamen Notfallversorgung.
Ein gutes Beispiel ist das Projekt „Intelligente Not-
stromversorgungskonzepte unter Einbeziehung Erneuer-
barer Energien (Smart Emergency Supply System
SES²)“, bei dem Wissenschaftler der Fachhochschule
Südwestfalen aus technischen Fachbereichen gemein-
sam mit Sozialwissenschaftlern der Leuphana Universi-
tät Lüneburg und Unternehmen wie den Stadtwerken
Geesthacht GmbH versuchen, mithilfe dezentraler Wand-
lersysteme und regenerativer Energiequellen neue de-
zentrale Notstromversorgungsstrukturen aufzubauen, die
eine Minimalversorgung von Haushalten sicherstellen
sollen, um so die Gefahr einer sozialen Destabilisierung
zu vermeiden.
Dieses Projekt ist deshalb ein gutes Beispiel, weil es
die wichtigen Merkmale des alten Rahmenprogramms,
die im neuen fortgesetzt und weiter fokussiert werden,
deutlich zeigt: Die Wichtigkeit der Einbindung aller Ak-
teure von Forschern bis hin zu den letztendlichen An-
wendern und die Einbindung von gesellschaftlichen und
ethischen Aspekten von technischen Neuerungen und
Lösungen gehören von Anfang an in den Blick genom-
men.
Durch die Einbindung der Geistes- und Sozialwissen-
schaften muss zudem sichergestellt werden, dass keine
Konzepte entwickelt werden, die nicht umsetzbar sind,
weil ihnen die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt.
Um realisierbare und zugleich innovative Konzepte
entwickeln zu können, muss die zivile Sicherheitsfor-
schung richtigerweise interdisziplinär angelegt sein und
den Dialog aller Wissenschaftsdisziplinen fördern.
Durch das Zusammenspiel von Natur- und Technikwis-
senschaften mit den Geistes-, Sozial- und Kulturwissen-
schaften sind Lösungen erreichbar, die technisch sinn-
voll und ethisch zu verantworten sind.
Rund 20 Prozent der Gesamtfördersumme, also
50 Millionen Euro, wurden deshalb für gesellschaftswis-
senschaftliche Forschungsfragen verwendet. Das finden
wir sehr richtig und wichtig. Deshalb fordern wir für die
jetzt beginnende zweite Programmphase ausdrücklich in
unserem Antrag zur „Forschung zur zivilen Sicherheit“,
die Forschungsanstrengungen im Bereich der gesell-
schaftlichen Aspekte weiter zu intensivieren.
Neben allen technischen Problemlösungsstrategien
hat der TAB-Bericht zum Stromausfall eines deutlich
gezeigt: Das empirische Wissen über menschliches Ver-
halten beispielsweise in Gefahrensituationen ist sehr ge-
ring.
Deshalb unterstütze ich den Ansatz des neuen Rah-
menprogramms, gesellschaftliche Aspekte als zentrales
Problem stärker zu adressieren.
Lassen Sie mich noch kurz auf einen spezifischen An-
satz eingehen: das Problem der Kommunikation.
Ich finde es richtig und notwendig, dass nicht nur an
neuen und effizienten Kommunikationsprozessen für
Behörden, sondern eben auch für die Bevölkerung ge-
forscht wird.
Ganz im Sinne des bereits erwähnten TAB-Berichts
geht die Bundesregierung von der folgenden Grundan-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21295
(A) (C)
(D)(B)
nahme aus: Menschen sind nicht nur als Opfer zu sehen,
sondern auch als potenzielle Helfer und aktiv Handelnde
zu betrachten, die zur Bewältigung einer Krise beitragen
können.
Die Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen
sind noch nicht ausreichend untersucht. Annahmen, die
davon ausgehen, dass die Menschen überwiegend unso-
zial und panikartig reagieren werden, sind bestenfalls
fragwürdig.
Fakt ist, dass ein Großschadensfall wie ein plötzlicher
Stromausfall, der Zusammenbruch der Versorgung und
Kommunikation zu Angst, Stress und Ungewissheit
führt. Dies kann ein breites Spektrum von unterschiedli-
chen und widersprüchlichen Reaktionen zur Folge haben
und muss nicht zwingend zu negativem Verhalten füh-
ren.
Wir müssen vielmehr weitere Forschungsanstrengun-
gen im präventiven Sinne unternehmen, um Menschen
auf besondere Situationen vorzubereiten. Angst und Un-
sicherheit werden dann minimiert, wenn Menschen die
Gewissheit haben, dass sie im Ernstfall zielgerichtet un-
terstützt werden.
Wir sollten daher neue Kommunikationsstrategien
und Selbstschutzkonzepte erforschen, um die Kommuni-
kation mit der Bevölkerung in Krisensituationen zu ge-
währleisten und die Menschen in die Lage zu versetzen,
sich da, wo es geht, selbst zu helfen. Dies ist ein interdis-
ziplinärer Ansatz, der Forscher und Anwender aller
Fachbereiche gleichermaßen fordert.
Ich bin mir sicher: Wenn Menschen aufgeklärt sind
und im Krisenfall mit Informationen versorgt werden,
kann jeder selbst einen Beitrag zur Bewältigung von
schwierigen Situationen leisten.
Sinnvolle Ansatzpunkte hierfür sind meines Erach-
tens die neuen Medien. Allerdings muss man sich auch
über die Krisenkommunikation im Schadensfall Gedan-
ken machen, die gegebenenfalls ohne Strom und damit
ohne Internet, Telefon und Fernseher auskommen muss.
Die Forschung zur zivilen Sicherheit setzt hier die
richtigen Akzente.
René Röspel (SPD): Stellen Sie sich einmal vor, in
Ihrer Region würde plötzlich über mehrere Tage der
Strom ausfallen. Auf was müssten Sie plötzlich alles
verzichten? Könnten Sie noch kochen und heizen? Wie
viele und welche Vorräte haben Sie zu Hause, und könn-
ten Sie sie noch nutzen? Wie lang, meinen Sie, wäre ihr
Supermarkt ohne Strom funktionsfähig? Wie viel Geld
besitzen Sie, falls die Bankautomaten ausfallen? Wie
könnten Sie sich fortbewegen, wenn der öffentliche
Nahverkehr zusammenbricht und die Tankstellen kein
Benzin mehr verkaufen? Welche Medikamente benöti-
gen Sie, und woher erhalten Sie diese im Notfall? All
diese Fragen haben sich Bürgerinnen und Bürger 2005
im Münsterland gestellt. Die möglichen katastrophalen
Folgen eines flächendeckenden Stromausfalls hat in ei-
ner vielbeachteten Studie vor kurzem das Büro für Tech-
nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag,
TAB, aufgearbeitet. Das Szenario Stromausfall ist für
unsere Gesellschaft also durchaus realistisch. Deshalb
müssen wir uns darauf vorbereiten.
Die Vermeidung bzw. der Umgang mit einem großflä-
chigen Stromausfall ist nur ein Thema des zivilen Sicher-
heitsforschungsprogramms des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung, BMBF. Die Bandbreite der zu
bearbeitenden Themen und Ansätze ist größer. Umso un-
verständlicher ist es, dass die Regierungskoalition von
CDU/CSU und FDP sich in ihrem uns vorliegenden An-
trag einseitig auf die realitätsferneren Szenarien konzen-
triert. Nach Ansicht dieser Fraktionen sollen in erster Li-
nie Terrorismus, Sabotage, organisierte Kriminalität und
Piraterie bekämpft werden, wichtige Themen durchaus.
Aber das sind doch nicht die primären Aspekte, die un-
sere Gesellschaft gefährden! In den letzten Jahren haben
vielmehr Massenpaniken, Naturkatastrophen, Großun-
fälle oder natürliche Erreger Menschleben in Deutsch-
land und Europa gefährdet. Genau deshalb gibt es we-
nigstens im BMBF Ansätze für ein Umdenken. Nur
leider scheinen diese Erkenntnisse in der Regierungsko-
alition noch nicht angekommen zu sein.
Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir aber noch
weitere Kritikpunkte hinsichtlich des vorliegenden An-
trags. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
haben seit Beginn des Programms die Techniklastigkeit
des Sicherheitsforschungsprogramms bemängelt. Denn
Phänomene wie Massenpaniken oder die Auswirkungen
des demografischen Wandels auf unsere Rettungskräfte
müssen mindestens genauso intensiv von Psychologen
oder Soziologen bearbeitet werden. Erst danach kann
nach adäquaten Lösungen gesucht werden. Wenn die
Bundesregierung im Ausschuss ein Projekt erwähnt, bei
dem mit Sensoren in U-Bahn-Tunneln Rauchschwaden
detektiert werden können, so ist das interessant und
technisch sicherlich anspruchsvoll. Vermutlich aber
werden Sie die Sicherheit und das Sicherheitsempfinden
von U-Bahn-Fahrern deutlich erhöhen, wenn Sie ein-
fach wieder mehr Schaffner und Personal einsetzen
würden. Wäre das nicht eine bessere Antwort auf die
Herausforderung „mehr Sicherheit“? Zugutezuhalten ist
der Bundesregierung beim Lesen des Rahmenpro-
gramms der Eindruck, dass hier wenigstens teilweise un-
sere Kritik gewirkt hat. Denn das aktuelle BMBF-Pro-
gramm räumt dem nichttechnischen Ansatz jetzt einen
viel größeren Anteil ein. Leider haben CDU/CSU und
FDP auch diese Präferenzverschiebung des BMBF in ih-
ren Antrag nicht aufgenommen.
Die im Sicherheitsforschungsprogramm entwickelten
Techniken und Erkenntnisse sollten natürlich so schnell
wie möglich in die Praxis überführt werden. Der Groß-
teil der staatlichen Rettungskräfte liegt aber in der Ver-
antwortung der Länder und Kommunen. In beiden sind,
unter anderem dank schwarz-gelber Steuergeschenke,
die Haushaltskassen leer. Ob die neuen Techniken und
Erkenntnisse am Ende den Bürgerinnen und Bürgern
überhaupt zugutekommen, bleibt somit leider fraglich.
Auch zu dieser Problematik schweigt sich der uns hier
vorliegende Antrag aus.
21296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Bei der Sicherheitsdebatte muss uns allen aber auch
klar sein, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt.
Auch die besten Sicherheitstechniken oder Programme
können darüber nicht hinwegtäuschen. Es wird deshalb
vermehrt darum gehen, das individuelle Verständnis von
Risiko und Wahrscheinlichkeiten zu verbessern, so wie
es Professor Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für
Bildungsforschung vor Jahren angesprochen hat. Inso-
fern ist es nur folgerichtig, dass man sich nach Ansicht
des BMBF im aktuellen Forschungsprogramm verstärkt
mit diesem Ansatz beschäftigen soll. Aber auch zu die-
sem richtigen Punkt findet sich in Ihrem Antrag, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen,
leider nichts.
Am Ende Ihres Antrags schreiben Sie, dass sich die
technologischen Forschungsaktivitäten an das Prinzip
„Security by Design“ halten sollen. Das ist nicht falsch.
Aber wie steht es mit dem Prinzip „Privacy by Design“?
Sprich: dass bei der Technologieentwicklung von An-
fang an der Datenschutz mit zu bedenken ist, um so auch
nichtintendierte Folgen zu verhindern. Die gesellschaft-
liche Debatte um den sogenannten Nacktscanner hat das
Problem noch einmal verdeutlicht. Aber zu diesem An-
satz findet sich im Antrag leider auch kein einziges
Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, hätte
nicht gerade das der Schwerpunkt eines liberalen An-
trags sein müssen? Ihr Schweigen ist mir bei diesem
Thema wirklich unerklärlich.
Problematisch finden wir als Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten auch, dass CDU/CSU und FDP
explizit fordern, dass die Evaluation des alten Sicher-
heitsforschungsprogramms erst jetzt, also nach dem Be-
ginn des neuen Sicherheitsforschungsprogramms, be-
ginnen soll. Wie sollen denn so mögliche Evaluations-
ergebnisse in das neue Programm eingearbeitet werden?
Hätte man nicht bereits wenigstens Teile des Pro-
gramms evaluieren können? Viele Fragen, im Antrag
finden sich leider auch dazu keine Antworten.
Bei den Sicherheitsforschungsprogrammen geht es
explizit um zivile Sicherheit, sprich: Prävention und Un-
terstützung von Polizei, Feuerwehr oder THW. Militäri-
sche Anwendungen der Forschungsergebnisse sind nicht
Ziel des Programms – und das ist auch gut so. Als ehe-
maliges Mitglied des Unterausschusses für Abrüstung,
Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ist mir aber die
Dual-use-Problematik sehr gut bekannt. Produkte wie
zum Beispiel bestimmte Fahrzeugmotoren können eben
in Lkw oder Panzer eingebaut werden. Die aktuelle Dis-
kussion um die Veröffentlichungen der Forschungser-
gebnisse hochansteckender Grippeviren zeigt, dass die
Dual-use-Problematik auch in anderen Bereichen der zi-
vilen Forschung thematisiert werden muss. Mit dieser
Problematik dürfen wir Politikerinnen und Politiker die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber nicht al-
leinlassen. Auch zu diesem Thema hätte man sich in ei-
nem Antrag zur Sicherheitsforschung äußern können.
Umso wichtiger finde ich es, dass wir als Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgeabschätzung nun
beschlossen haben, uns diesem Thema in einem Fachge-
spräch näher zu widmen. Auf die Ergebnisse bin ich be-
reits jetzt gespannt.
Um zum Schluss zu kommen: Das von der Bundesre-
gierung vorgelegte Rahmenprogramm zur zivilen Si-
cherheitsforschung klingt im Ganzen erst einmal positiv.
Scheinbar hat das Ministerium aus der Kritik an dem
letzten Programm gelernt. Aber leider wissen wir bei
dieser Regierung auch, dass Texte schnell geschrieben
sind, es dann aber an der Umsetzung hapert. Die Regie-
rungsfraktionen CDU/CSU und FDP hingegen sind be-
reits beim Schreiben eines Antrags überfordert. In ihrem
Text werden zwar durchaus bekannte und richtige Fak-
ten widergegeben; aber die neuen und entscheidenden
Akzente des Programms sucht man in diesem Antrag ver-
geblich. Aus diesem Grund werden wir als Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten den vorliegenden Antrag
der Koalition ablehnen.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Die christ-
lich-liberale Koalition hat mit dem vorgelegten Antrag
„Forschung für die zivile Sicherheit“ ein überaus aktuel-
les Thema aufgegriffen, dessen Bedeutung in den zu-
rückliegenden Jahren stetig zugenommen hat. Denn die
Frage nach der zivilen Sicherheit stellt sich neu, weil
sich das Sicherheitsumfeld für eine offene Gesellschaft
verändert hat. Neue Risiken, neue Bedrohungs- und Ge-
fahrenlagen sind entstanden, durch terroristische An-
schläge ebenso wie durch Pandemien oder durch Kata-
strophen bei Großveranstaltungen. Schmerzlich haben
wir in der Vergangenheit lernen müssen, dass unsere Ge-
sellschaft nicht ausreichend auf diese Herausforderun-
gen eingestellt ist.
Zudem haben wir anerkennen müssen, dass die Glo-
balisierung, eine gestiegene gesellschaftliche Mobilität
genauso wie der technologische Fortschritt zu diesem
veränderten Sicherheitsumfeld beigetragen haben. Das
Verkehrssystem, die zentral aufgestellte Stromversor-
gung oder die Anbindung vieler Anwendungen an IT
sind in einer vernetzten Gesellschaft zu bedeutenden In-
frastrukturen geworden. Mit diesem Wandel verstärkt
sich gleichzeitig auch die Abhängigkeit und Anfällig-
keit.
Eine Gesellschaft, die frei und offen bleiben möchte,
muss sich demnach fragen, welche Vorstellung sie von
ziviler Sicherheit hat und welche Kriterien angelegt wer-
den sollen. Einen bedeutenden Impuls zur Beantwortung
dieser Frage setzen wir als christlich-liberale Koalition
mit dem vorgelegten Antrag und dem von der Bundesre-
gierung beschlossenen Sicherheitsforschungsprogramm.
Im Fokus steht die Balance von individueller Freiheit
und ziviler Sicherheit. Denn wir wissen, dass der Schutz
zur Wahrung der Freiheit gleichzeitig das Gefahrenpo-
tenzial für Persönlichkeitsrechte birgt. Deshalb setzen
wir Liberale in der zweiten Programmphase des nationa-
len Sicherheitsforschungsprogramms – 2012 bis 2017 –
auf jene austarierte Abwägung zwischen persönlicher
Freiheit und Sicherheit.
Unser Antrag und das Forschungsprogramm für die
zivile Sicherheit greifen, anders als es die Oppositions-
fraktionen glauben machen wollen, keine Szenarien aus
der Luft. Die thematischen Schwerpunkte sind in Vorbe-
reitung des Forschungsprogramms mit allen relevanten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21297
(A) (C)
(D)(B)
Akteuren gemeinsam erarbeitet worden, unter Beratung
von Wissenschaftlern und den Endnutzern wie den Ein-
satzkräften von THW und Feuerwehr. Zur Erarbeitung
wurden, wie die Bundesregierung im Ausschuss erklärte,
auch zahlreiche Workshops durchgeführt – im Übrigen
wie üblich bei Erarbeitung eines Forschungsprogramms.
Die Kritik, es gebe keinen Bottom-up-Prozess, ist
schlichtweg falsch.
Anstoß und Grundlage des Forschungsprogramms
war auch das überfraktionell erarbeitete Grünbuch „Risi-
ken und Herausforderungen für die öffentliche Sicher-
heit in Deutschland“. Das Grünbuch wurde gemeinsam
von Innenpolitikern der CDU/CSU, FDP, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen in 2008 verfasst. Gemeinsam
hat man sich zu Leitfragen und Zielsetzungen der zivilen
Sicherheit verständigt. Es wurde im Konsens festgehal-
ten, dass sich die Sicherheitsarchitektur in Deutschland
wandeln muss, dass es neue Lösungen braucht. Insofern
ist die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorge-
brachte Kritik im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung etwas schizophren. Denn
man widerspricht gemeinsam festgestellten innenpoliti-
schen Vorstellungen. Man konterkariert politische Ab-
stimmungen.
Die darüber hinaus in der Ausschussberatung vorge-
brachte Kritik vonseiten der Opposition, das For-
schungsprogramm sei zu technologieorientiert, ist
ebenso unverständlich. Denn das Forschungsprogramm
zielt auf den Schutz kritischer Infrastrukturen, auf Si-
cherheit im urbanen Raum und bei Großveranstaltungen.
Hierzu bedarf es zuvorderst technologischer Lösungen.
Das hat nichts mit einer Affinität oder starker Technolo-
gieorientierung zu tun, sondern mit dem einfachen
Wissen, dass es zuvorderst neuer Technologien und As-
sistenzsysteme bedarf. Bei alledem ist eine geisteswis-
senschaftliche Begleitung in diesem Programm imple-
mentiert und auch gewollt. Denn wir erkennen natürlich
die sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Frage-
stellungen in diesem Zusammenhang an.
Einem weiteren Kritikpunkt der Opposition muss ich
widersprechen. Die Beurteilung, das Forschungspro-
gramm sei unscharf und die Ausrichtung zu unkonkret,
ist ebenso falsch wie der von der SPD vorgebrachte Kri-
tikpunkt, dass die Bedrohungsszenarien für die Bevölke-
rung nicht ausreichend definiert seien. Wie beliebig
diese Kritik ist, brauche ich nicht weiter zu erwähnen.
Aber anscheinend hat man in den Oppositionsfraktionen
nicht verstanden, dass es sich um eine Programmfor-
schung handelt und nicht um Auftragsforschung. Es gibt
Programmlinien und thematische Schwerpunkte, die den
Rahmen setzen. Es besteht Offenheit für Vorschläge und
Ideen aus der Wissenschaft und Wirtschaft für For-
schungsprojekte. Denn das ist das Ziel der Programm-
forschung – Forschungsfragen im Vorhinein nicht einzu-
schränken. Insofern besteht keine Berechtigung, die
vorgebrachte Kritik ernst zu nehmen.
Das Forschungsprogramm für die zivile Sicherheit
hat die volle Unterstützung der christlich-liberalen Ko-
alition. Dies bekräftigen wir mit dem vorgelegten An-
trag. Die von den Oppositionsfraktionen geäußerte Kri-
tik ist wenig hilfreich. Anscheinend findet man keinen
wirklichen Ansatz, das Sicherheitsforschungsprogramm
zu kritisieren, und zieht sich deshalb an Beliebigkeiten
hoch.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Bei der Debatte des
vorliegenden Koalitionsantrags im Ausschuss hob
Staatssekretär Rachel hervor, dass immerhin 20 Prozent
der Mittel für die gesellschaftswissenschaftliche For-
schung ausgegeben werden. Das war unter anderem an
uns adressiert. Denn seit Beginn der Förderlinie im
BMBF verlangt Die Linke, dass zunächst die Nachfrage
nach Sicherheit und Quellen von Unsicherheit in der Be-
völkerung wissenschaftlich geklärt werden, bevor man
Millionen Steuergelder in teure Überwachungskonzepte
und in eine gut prosperierende Industrie steckt.
Ich sehe bei den 20 Prozent keinen Grund zum Feiern.
Im Umkehrschluss gehen fast 200 der bewilligten
240 Millionen Euro in Technologieentwicklung oder
technikzentrierte Infrastrukturprojekte. Das Programm
bedient weiterhin in erster Linie das selbsterklärte Ziel
der Markterschließung für die Sicherheitswirtschaft. Zu
wenig trägt es aber dazu bei, die hoheitliche Aufgabe
„Sicherheit“ mithilfe aktueller Forschungserkenntnisse
zu durchdenken und zu modernisieren. Denn: Dass man
in europäischen Gesellschaften beim Thema Sicherheit
mit dem bislang dominanten Blick der Ingenieure und
IT-Spezialisten nicht weiterkommt, haben die geschei-
terte Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und das
Nacktscannerdesaster ausreichend deutlich gemacht.
Wohin die Reise gehen kann, machen aber gerade ak-
tuelle Ergebnisse der BMBF-geförderten gesellschafts-
wissenschaftlichen Forschung deutlich. Beim „Innova-
tionsforum Sicherheit“ des BMBF im April dieses Jahres
machten Forscherinnen und Forscher unter anderem
klar, dass Unsicherheit für die allermeisten Menschen
mitnichten von Lieblingsthemen der Koalition wie Ter-
roranschläge, organisierte Kriminalität oder Krankheits-
epidemien bestimmt ist. Sicherheitserwartungen richten
sich vielmehr auf Alltagsdelikte wie Diebstahl und Stö-
rungen der öffentlichen Ordnung, auf Unsicherheitsku-
lissen wie schlecht beleuchtete Bahnhöfe etc. Mehrere
Forschungsteams fanden heraus, dass es die Kommuni-
kation und Bilder von Unsicherheit sind, die das Sicher-
heitsempfinden maßgeblich beeinflussen. Mit der fak-
tischen Unsicherheitslage vor Ort, die man in
Kriminalstatistiken nachschlagen kann, hat das subjek-
tive Empfinden hingegen wenig zu tun. Positiv aus-
schlaggebend ist aber sehr wohl die soziale Sicherheit
wie gutes Auskommen und gut ausgebaute zivilgesell-
schaftliche Netzwerke. Hier also sollte ein vorsorgender
Staat wirklich ansetzen!
Auch beim Thema Krisenbewältigung haben For-
scherinnen und Forscher den Ministerien Hausaufgaben
mitgegeben. So gäbe es zurzeit weder ausreichend Wis-
sen noch Willen in Behörden für eine gute Risikokom-
munikation im Krisenfall. Pate stehen hier die Schwei-
negrippe und unnötige Millionenausgaben für
Impfstoffe, die am Ende keiner haben wollte und nie-
mand brauchte. Der Grund dafür lag nicht zuletzt darin,
21298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
dass die traditionell hierarchische Kommunikation der
Behörden die soziale Dynamik im Internet völlig außen
vor ließ und dringend nötiges Vertrauen verspielt hat.
Die Forschung empfiehlt hier eindeutig mehr Trans-
parenz, weniger Allwissenheit und den Dialog mit den
Bürgern über Vorgehensweisen der Behörden, beispiels-
weise via Web 2.0. Zur Selbsthilfe fähige und wider-
standfähige Bürger, die ja ganz oben auf der Agenda der
Katastrophenschützer stehen, erhalte man nur, wenn
man ihnen auf Augenhöhe begegnet und an Prozessen
beteiligt, so das Credo.
Das neue Rahmenprogramm für Sicherheitsforschung
verspricht „Sicherheitslösungen so zu gestalten, dass sie
die Bedürfnisse, Bedenken und Erwartungen der Bürge-
rInnen berücksichtigen“. Die Schwerpunktsetzung des
auslaufenden Programms hat das nicht geleistet, so mein
Fazit. Ob es die neue besser vermag, hängt stark damit
zusammen, ob gewonnene Forschungsergebnisse tat-
sächlich in die Ministerien zurückgespiegelt werden.
Das betrifft insbesondere das mitunter neue Verständnis
davon, wie Sicherheit und Unsicherheit im Alltag reflek-
tiert werden. Mehr Beteiligungskultur und Bedarfsorien-
tierung statt Hinterzimmerpolitik mit Lobbyisten ist
nach wie vor die größte Herausforderung beim Thema
zivile Sicherheit.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dem
weiterentwickelten Bundesprogramm „Forschung für
die zivile Sicherheit“ nehmen interdisziplinäre Ansätze,
gesellschaftliche Fragestellungen und die Einbindung
von Stakeholdern einen größeren Stellenwert ein als im
Vorgängerprogramm. Offenbar hat die Bundesregierung
hier Kritiken und Anregungen aufgenommen, was
durchaus zu begrüßen ist. Es fehlt aber bisher an Trans-
parenz über die Schwerpunkte der Mittelverteilung, über
Forschungsvorhaben und deren Zielrichtung sowie über
Themen und Beteiligte. Transparenz muss die Bundesre-
gierung auch über die bisherige Verwendung der Förder-
mittel herstellen. Wir erwarten, dass die Bundesregie-
rung den Bundestag über die Evaluierungsergebnisse
und die Evaluierungskriterien bei der Auswertung der
ersten Programmphase informiert und auch die Evalua-
tion der zweiten Programmphase transparent gestaltet.
Das nationale Programm zur zivilen Sicherheitsfor-
schung der Bundesregierung umfasst bisher Bereiche,
die im Englischen mit dem Begriff Security umschrieben
werden, was der Wissenschaftliche Programmausschuss
als die Verhinderung böswillig zugefügten Schadens ver-
steht. Unter Safety subsumiert er hingegen zum Beispiel
Fragen von Betriebs-, Unfallsicherheit und Arbeits-
schutz. Diese Trennung lässt sich schon im anwendungs-
nahen Bereich nicht durchhalten. Auch beim Schutz vor
Naturkatastrophen helfen diese Definitionen nicht wei-
ter. Statt an solch rigiden Definitionen sollte das Pro-
gramm sich eher an vorhandenen oder zu erwartenden
Problemstellungen orientieren.
Dabei ist ein partizipativer Forschungsansatz, also die
rechtzeitige Einbindung der verschiedenen Stakeholder
wie Unternehmen, Arbeitsschutz, Katastrophenschutz,
öffentliche und private Betreiber von Infrastrukturen der
Daseinsvorsorge, von großer Bedeutung. Hierbei fehlt
uns neben der Beteiligung verschiedener Bundesbehör-
den die Einbeziehung der kommunalen Ebene. Die
Kommunen spielen aber nicht nur eine große Rolle im
Zusammenhang mit lokalen und dezentralen Infrastruk-
turen, sondern sie haben auch entscheidenden Einfluss
darauf, ob bestimmte Lösungsansätze überhaupt zur An-
wendung kommen. Dabei geht es dann sicher nicht nur
um das technisch Machbare, sondern auch um Fragen
der Kosten-Nutzen-Relation.
Für die Frage, ob Ergebnisse der Sicherheitsfor-
schung Eingang finden in die gesellschaftliche Praxis,
spielt deren Implementierung in Studiengänge und in die
berufliche Aus- und Weiterbildung eine bedeutende
Rolle. Dieses Transferthemas sollte die Bundesregierung
sich explizit annehmen.
Dies ist auch deshalb bedeutsam, weil es in Zukunft
sicher nicht nur einen wachsenden Markt für sicherheits-
technologische Produkte geben wird, sondern weil auch
im Bereich der sicherheitsrelevanten Dienstleistungen,
der Vermarktung von Beratung und Know-how wach-
sende Wertschöpfungspotenziale liegen.
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung sich in den
Verhandlungen zum neuen EU-Forschungsrahmenpro-
gramm „Horizon 2020“ dafür einsetzt, dass die Sozial-
und Geisteswissenschaften eine gesonderte Programmli-
nie bekommen, denn es wäre sicher zu kurz gedacht, die
sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung nur als
„Wasserträger der Sicherheitsforschung“ zu verstehen,
auch wenn natürlich interdisziplinäre und gesellschaftli-
che Fragestellungen auch bei der EU-Förderung der Si-
cherheitsforschung integriert werden sollten.
Im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung stellt
sich nicht zuletzt die Frage, inwiefern eine Abgrenzung
von der militärischen Sicherheitsforschung vorgenom-
men werden kann. Der Wissenschaftliche Programmaus-
schuss weist zu Recht darauf hin, dass es in bestimmten
Fällen eine unvermeidbare Dual-use-Problematik gibt,
die nicht ohne Weiteres aufgehoben werden kann. Der
Programmausschuss empfiehlt, klare Richtlinien und
Kriterien zu entwickeln, um den zivilen Charakter des
Rahmenprogramms zu erhalten. Wir fordern die Bundes-
regierung auf, dieser Empfehlung nachzukommen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Freiheit von For-
schung und Lehre schützen – Transparenz in
Kooperationen von Hochschulen und For-
schungseinrichtungen mit Unternehmen brin-
gen (Tagesordnungspunkt 14)
Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Ganz besonders
in der Forschung muss für uns gelten: So viel Freiheit
wie möglich, so wenig Bürokratie wie möglich. Wir, die
Fraktion der CDU/CSU, wollen die Freiheit von For-
schung und Lehre schützen. Wir stehen zur Forschungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21299
(A) (C)
(D)(B)
freiheit, zur Wissenschaftsfreiheit und zur Freiheit der
Lehre.
Ihr Antrag zum Schutz von Forschung und Lehre,
liebe Abgeordnete der Linken, ist aber eine staatlich ver-
ordnete Kooperationsvorschrift für Wirtschaft und Wis-
senschaft.
Das garantiert keine Freiheit, sondern bewirkt das Ge-
genteil. Angeblich, so Ihr Argument, nimmt die Wirt-
schaft durch Kooperationen mit der Wissenschaft Ein-
fluss auf die zu generierenden Forschungsergebnisse.
Vielleicht gibt es solche Einzelfälle, und denen muss und
wird nachgegangen. Aber Ihre Annahmen stellen Ko-
operationen von Wirtschaft und Wissenschaft unter ei-
nen Generalverdacht. Das schützt aber weder Forschung
noch Lehre, es schadet vielmehr unserem Wissenschafts-
standort und dem Ruf der deutschen Wissenschaft im
Allgemeinen.
Mit ihrem geforderten „Katalog“ zur guten Koopera-
tionspraxis schaffen Sie keine Transparenz, sondern ei-
nen bürokratischen Apparat des Misstrauens. Eine sol-
che Bürokratie ist nicht transparent, und sie ist eine
Hürde für dringend notwendige Kooperationsvorhaben.
Wir wollen doch mehr Kooperationen und nicht weniger,
gerade zwischen KMU und der Wissenschaft.
Ein gutes Beispiel dafür, warum wir Kooperationen
zwischen Wirtschaft und Wissenschaft nicht nur brau-
chen, sondern ihnen auch den großmöglichsten Freiraum
zur wissenschaftlichen Entfaltung bieten sollten, ist das
Kompetenzzentrum Biomassennutzung in meinem Hei-
matland Schleswig-Holstein. Das Kompetenzzentrum
Biomassennutzung ist ein seit 2006 existierender
Verbund von Fachhochschulen und Universitäten in
Schleswig-Holstein. Hier geht es um Kooperationen mit
Institutionen, mit der Landwirtschaft und mit Wirt-
schaftsunternehmen. Es geht darum, anwendungsorien-
tierte Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Bereich
der Biomassennutzung gemeinsam zu bearbeiten. Und
die aus dieser Kooperation entstehenden Ergebnisse
kommen allen in Schleswig-Holstein zugute. Wir kön-
nen aus diesen Ergebnissen Rohstoffe, Produkte und
Verfahren entwickeln, und wir können Biomasse so noch
effizienter und umweltverträglicher einsetzen. Ja, unsere
Wirtschaft profitiert von dieser Bündelung an technolo-
gischen Ressourcen und dem Know-how der Hochschu-
len in Schleswig-Holstein. Aber sie beeinflusst die Wis-
senschaft nicht. Nein, es ist ja gerade das gemeinsame
Ziel, neue Produkte und Verfahren daraus abzuleiten.
Und übrigens, ganz transparent.
Um es noch deutlicher zu machen: Ich weiß nicht, ob
Sie schon einmal vom „Algenstammtisch“ gehört ha-
ben? Nicht? Dann lassen Sie mich diesen Stammtisch
mit ein paar Sätzen erläutern. Dieser Stammtisch, zum
Kompetenzzentrum Biomassennutzung gehörend, bietet
einen Ort zum Erfahrungs- und Wissensaustausch. Be-
teiligt sind Interessierte aus Forschung, Industrie, Unter-
nehmen, Politik, Behörden und Medien. Die unter-
schiedlichen Interessen sollen hier zusammengeführt
und diskutiert werden, damit in Schleswig-Holstein neue
Wissenschafts- und Geschäftsfelder erschlossen werden
können. Durch die stets wechselnden Unternehmen, die
diesen Stammtisch begleiten sowie die verschiedenen
Forscher, Wissenschaftler oder auch kommunalen Be-
hörden, die an dieser Runde teilnehmen, entsteht ein of-
fener, Transparenz schaffender Dialog. Die Teilnehmer
des Algenstammtischs sind damit schon viel weiter als
Sie, liebe Mitglieder der Linken. Das Beispiel zeigt
auch, dass viel mehr durch Freiheit und Eigenverantwor-
tung Transparenz geschaffen wird und nicht durch Vor-
schriften, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Linken, es hier in Ihrem Antrag fordern.
Dafür brauchen wir keinen Katalog, der die „gute Pra-
xis bei der Kooperation von Wissenschaft und Wirt-
schaft“ vorschreibt. Nein, ganz im Gegenteil: Wir brau-
chen mehr Autonomie der Hochschulen und
Forschungseinrichtungen. Deshalb brauchen wir auch
das von uns erarbeitete Wissenschaftsfreiheitsgesetz: Es
bringt ein Mehr an Autonomie und Eigenverantwortung.
Es wird die Forschungseinrichtungen stärken. Wie ich
bereits eingangs erwähnte: So viel Freiheit wie möglich,
so wenig Bürokratie wie möglich! Diese Aussage steht
überhaupt nicht im Einklang mit Ihrem Antrag, und die-
ser kann deshalb nur abgelehnt werden.
Mit Ihrem Antrag sprechen Sie den Forschungsein-
richtungen die wissenschaftliche Unabhängigkeit ab.
Die Aufgabe der Politik aber ist es, den Forschungs-
kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft
ein Maximum an Vertrauen entgegenzubringen. Dieses
Vertrauen gewinnen wir eben nicht, indem wir ihnen
eine – und ich zitiere hier aus Ihrem Antrag – „gute Pra-
xis der Kooperation“ staatlich verordnen. Nein, wir
brauchen nicht mehr Vorschriften, sondern allein ein
konsequentes und transparentes Verfolgen von Fehlver-
halten. Und dies geschieht auch.
In Deutschland brauchen wir Innovationen, um auf
Dauer wettbewerbsfähig zu bleiben und um unseren
Wohlstand zu sichern. Innovationen beruhen auf neuen,
kreativen Ideen, die vor allem dadurch gesichert werden,
dass wir Wirtschaft und Wissenschaft bei ihren Koopera-
tionsvorhaben positiv unterstützen. Wir müssen den For-
schungskooperationen aus Wissenschaft und Wirtschaft
das größtmögliche Maß an Freiheit bieten. Alles andere
wäre kontraproduktiv.
Axel Knoerig (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
hat einen Antrag vorgelegt, um mehr Transparenz in der
Kooperation zwischen Hochschulen und Unternehmen
zu schaffen. Als Begründung führt sie an, damit die Frei-
heit von Forschung und Lehre zu schützen. Ich möchte
meinen Redebeitrag dazu nutzen, einige Ungereimthei-
ten dieses Antrags anzusprechen und die daraus resultie-
renden Fehlinterpretationen richtigzustellen.
Dieser Antrag macht wieder einmal deutlich, dass die
Linke im Bereich Bildung und Forschung mehr Büro-
kratie zur Kontrolle der Kooperationen zwischen Wis-
senschaft und Wirtschaft fordert. Selbstverständlich ist
Wissenschaftsfreiheit ein hohes Gut, das wir alle aner-
kennen. Im Gegensatz zu Ihnen allerdings legen wir
Wert darauf, den wissenschaftlichen Partnern an Hoch-
schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun-
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gen erst einmal Selbstorganisation und Eigenverantwor-
tung zu gewähren.
Aus dem Antrag der Linken spricht ein tiefes Miss-
trauen gegen die Wirtschaft. Dem Interesse unserer Un-
ternehmen, in Forschung und Entwicklung zu investie-
ren und mit Hochschulen zu kooperieren, wird direkt die
zweifelhafte Absicht unterstellt, Einfluss auf die For-
schungsergebnisse zu nehmen. Dieses Bild ist verant-
wortungslos, realitätsfern und rückständig. Es schadet
dem Wissenschafts- und Innovationsstandort Deutsch-
land. Denn die Praxis zeigt ein völlig anderes Bild. Man
braucht nur im Internet nachzuschauen: Jede Universität
und jede Fachhochschule wirbt stolz mit den Ergebnis-
sen ihrer wirtschaftlichen Kooperationsprojekte. Ob sich
daraus nun Kontakte der Hochschulabsolventen zum Ar-
beitsmarkt oder zu regionalen Wirtschaftsunternehmen
ergeben – eines ist klar: Es handelt sich hierbei um einen
Austauschprozess, in den beide Seiten investieren und
von dem beide gleichzeitig profitieren.
Nach einer Studie des deutschen Stifterverbandes hat
bereits im Jahr 2009 jedes fünfte deutsche Unternehmen
Hochschulen gefördert durch die Unterstützung dualer
Studiengänge, die Bereitstellung von Lehrbeauftragten,
die Betreuung von Abschlussarbeiten und Praktika so-
wie Engagement in der Lehre. Dabei kann das damalige
Fördervolumen von 1,5 Milliarden Euro nur annähernd
andeuten, wie viele Initiativen tatsächlich vor Ort laufen.
Wir setzen auf eine vertrauensvolle, geregelte Koopera-
tion zwischen Wissenschaftskultur und Unternehmertum
und bremsen diese nicht willkürlich aus – auf der Suche
nach irgendwelchen Transparenzdefiziten.
Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode
mit der Hightech-Strategie 2020 neue Impulse für den
Wissens- und Technologietransfer geschaffen. Um den
Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Wirtschaft
zu festigen, wurden neue Kooperationsformen geschaf-
fen. Denn Forschungsergebnisse mit Innovationspoten-
zial müssen erkannt sowie schnell und erfolgreich am
Markt umgesetzt werden. Nur so sichern wir Wachstum
und Beschäftigung in unserem Land.
Ein Großteil unserer innovativen Unternehmen ist
mittelständisch. Daher werden speziell diese in der Pro-
jektförderung des BMWi und des BMBF unterstützt.
Insbesondere mit den Programmen „ZIM“ und „KMU
innovativ“ fördern wir Forschung und Entwicklung in
kleineren Betrieben.
Da der Begriff Drittmittelforschung in der öffentli-
chen Wahrnehmung häufig eher negativ belegt ist, hier
eine kurze Definition: Drittmittel zur Finanzierung von
Forschungsvorhaben werden ergänzend zum regulären
Hochschulhaushalt eingeworben. Sie können aus öffent-
lichen oder privaten Mitteln stammen. Dazu zählen: die
Projektförderung der Bundesministerien – BMBF,
BMWi, BMVBS, BMU, BMELV –, Mittel aus Investi-
tions- und Tilgungsfonds – Konjunkturpakete –, Mittel
aus dem Technologietransfer – Hightech-Strategie – und
aus dem Hochschulpakt 2020, Mittel der EU und ihrer
Organisationen – EFRE, ESF –, Mittel der Wirtschaft,
Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft – DFG –,
Mittel der Bundesanstalt für Arbeit, Stiftungslehrstühle,
Graduierten-, Postdoktoranden- und Habilitationsstipen-
dien.
Ein deutliches Bild ergibt sich bei der Zusammenset-
zung der Drittmittel – jüngste Zahlen 2009 –: Den
höchsten Anteil hat die Deutsche Forschungsgemein-
schaft mit 34,8 Prozent, gefolgt von der Wirtschaft mit
22,9 Prozent. Der Anteil des Bundes liegt bei 21,1 Pro-
zent. Es folgt die Europäische Union mit 9 Prozent.
Nichtöffentliche Drittmittelgeber wie zum Beispiel Stif-
tungen liegen bei 7,5 Prozent. Das sind die Drittmittelre-
alitäten: Die Wirtschaft liegt mit fast 23 Prozent auf
Platz zwei hinter der Deutschen Forschungsgemein-
schaft und vor dem Bund.
Werfen wir einmal einen Blick auf die Zusammenar-
beit von Hochschulen, außeruniversitärer Forschung und
Firmen: Als Beispiel möchte ich die Metropolregion
Hannover/Braunschweig/Göttingen/Wolfsburg in mei-
nem Bundesland Niedersachsen nennen. Hier wird in der
sogenannten Schaufensterregion Elektromobilität vor-
bildlich zusammengearbeitet. Rund 5 800 Firmen ko-
operieren mit der Automobilindustrie, und zwar in der
gesamten Wertschöpfungskette: Fahrzeugentwicklung,
Batterieforschung, Fertigungsprozesse, Carsharing-Pro-
jekte. Der Forschungsverbund der Niedersächsischen
Technischen Hochschulen, NTH, bündelt hierbei Kom-
petenzen in den dazugehörigen Forschungsbereichen.
Ein weiterer Kooperationspartner ist das Niedersächsi-
sche Forschungszentrum Fahrzeugtechnik, NFF. Dieses
wurde 2007 mit Unterstützung von Volkwagen als For-
schungsplattform der TU Braunschweig gegründet.
Hier werden keine Forschungsergebnisse verschleiert.
Alle Formen der Zusammenarbeit sind vertraglich trans-
parent gestaltet und zwar in Forschungszielen, Mittelein-
satz sowie Projekt- und Finanzplänen. Umgesetzt wer-
den die Kooperationsvereinbarungen unter anderem
durch strategische Partnerschaften, Beraterverträge, öf-
fentliche Beiträge zu Forschung und Entwicklung, Be-
auftragung von Instituten und Professuren, Industrieko-
operationen und Auftragsforschung.
Union und FDP haben mit dem Wissenschaftsfrei-
heitsgesetz bewiesen, dass nicht staatliche Reglementie-
rung der richtige Weg ist, sondern der eigenverantwortli-
che Umgang zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Das
Wissenschaftsfreiheitsgesetz gibt der außeruniversitären
Forschung mehr Flexibilität in der Mittelbewirtschaf-
tung mit der Einführung von Globalhaushalten, der
Übertragung von Mitteln auf Folgejahre, der vollständi-
gen Deckungsfähigkeit zwischen Betriebs- und Investi-
tionsmitteln und der Möglichkeit, nichtöffentliche Dritt-
mittel einzusetzen, um bei der Gestaltung von Gehältern
auch Spitzenkräfte aus dem In- und Ausland gewinnen
und auch halten zu können. Das ist der richtige Weg in
der Forschungspolitik. Auch die Wirtschaft muss ihren
Beitrag zu Forschung und Entwicklung leisten und kann
das am besten in Kooperation mit Universitäten, Fach-
hochschulen und außeruniversitärer Forschung.
Das Wirtschaftsbild der Linken ist dagegen reichlich
diffus. Dass es komplett an der Realität vorbeigeht, be-
weist auch das folgende Beispiel: Vor zwei Wochen hat
der Erdölkonzern ExxonMobil in Berlin eine Studie zum
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Thema Fracking vorgestellt. Dahinter verbirgt sich die
Förderung von Erdgas mithilfe chemischer Mittel. Mit
der Untersuchung hatte das Unternehmen einen neutra-
len Expertenkreis – unter Leitung des Helmholtz-Zent-
rums für Umweltforschung in Magdeburg – beauftragt.
Eine inhaltliche Einflussnahme von ExxonMobil war zu-
vor vertraglich ausgeschlossen worden. Ein solches Vor-
gehen ist keineswegs ungewöhnlich und belegt einmal
mehr, dass Wirtschaftsunternehmen auf außeruniversi-
täre Forschungsinstitute zugehen, um objektive Experti-
sen zu bekommen.
Wie man sieht: Hier wird die Wissenschaftsfreiheit
nicht eingeschränkt. Sie gilt vielmehr als Gütesiegel für
die Seriosität deutscher Forscherarbeit. Das ist die Hand-
schrift der Koalition in der Forschungspolitik. So brin-
gen wir den Innovationsstandort Deutschland voran.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): In den letzten Mo-
naten ist die Frage, wie Hochschulen und Unternehmen
kooperieren, welche Möglichkeiten und Grenzen beste-
hen und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, ver-
stärkt diskutiert worden. Wir haben diese Debatte ebenso
wie die Fraktion Die Linke mit einem Antrag aufgegrif-
fen.
Worum geht es? Auslöser für diese Diskussion waren
Kooperationsverträge von Hochschulen mit Wirtschafts-
unternehmen, die Zweifel aufkommen ließen, ob die
Hochschulen ausreichend unabhängig bleiben.
In unserem Antrag „Kooperationen von Hochschulen
und Unternehmen transparent gestalten“ benennen wir
als Beispiel einen Kooperationsvertrag der Deutschen
Bank mit der Humboldt-Universität und mit der Techni-
schen Universität Berlin im Bereich Angewandte Fi-
nanzmathematik. Die TU Berlin legt Wert auf die Fest-
stellung, dass der Kooperationsvertrag vor seinem
Inkrafttreten öffentlich in den akademischen Gremien
diskutiert wurde und es sich um eine Einrichtung der
Bank handelte, deren Infrastruktur die Hochschulmit-
glieder im Rahmen gemeinsamer Projekte nutzen konn-
ten.
Gleichwohl hat diese Kooperation, als sie einer brei-
teren Öffentlichkeit bekannt wurde, viele Wissenschaft-
ler und auch Angehörige der beteiligten Universitäten
die Hände über den Kopf zusammenschlagen lassen. Es
entstand der Eindruck, dass sich möglicherweise ein Un-
ternehmen Wissenschaft einkauft – und zwar nicht, in-
dem es Wissenschaftler beschäftigt, sondern indem es
auf die Wissenschaft zugreift, sich weitgehende Mitspra-
che- und Entscheidungsrechte sichert, etwa hinsichtlich
der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, und
somit eine Privatisierung der bislang freien und öffent-
lich verantworteten Wissenschaft betreibt.
Wie auch immer das in diesem oder in anderen Ein-
zelfällen genau gewesen sein mag: Wir können und wol-
len das von dieser Stelle aus nicht im Detail beurteilen.
Was wir aber können, wollen und auch müssen, ist, klar-
zustellen, dass die Freiheit der öffentlichen Forschung
nicht angetastet werden darf, und dass der Staat seinen
Teil dazu beizutragen hat, dass die Forschungsfreiheit
gewährleistet bleibt. Die Wissenschaft ist für alle Men-
schen da und nicht für einige Unternehmen.
Darum begrüße ich ausdrücklich, dass die Humboldt-
Universität inzwischen darauf besteht, dass in allen Ko-
operationsverträgen mit Unternehmen ein ausdrückli-
cher Hinweis auf die unabdingbare Freiheit und Unab-
hängigkeit der Wissenschaft und Forschung enthalten
ist. Das zeigt, dass die Debatte etwas bewegt hat und
dass auch die Wissenschaft ihr Verhalten reflektiert.
Nun sind wir weit davon entfernt, jede Zusammenar-
beit von Wirtschaft und Hochschulen zu verteufeln. Im
Gegenteil wollen und fördern wir Kooperationen. Denn
wir wollen ja, dass sich die Kompetenzen zur Beantwor-
tung von Forschungsfragen ergänzen. Wir wollen, dass
Forschungsergebnisse angewandt werden, dass gesell-
schaftliche, technische, soziale und wirtschaftliche Pro-
bleme gelöst werden. Und wir wollen, dass Akademiker
von den Unternehmen aufgenommen werden, dass Wirt-
schaft angekurbelt, Gewinne gemacht und Arbeitsplätze
geschaffen werden.
Doch steht auf der anderen Seite eine offenkundige
potenzielle Bedrohung der Forschungsfreiheit – hier
nicht durch den Staat, sondern durch Privatinteressen.
Wir haben es also mit einem Spannungsfeld zu tun, in
dem die Regeln austariert werden müssen. Doch was
können das für Regeln sein? Wir sollten uns an dieser
Stelle nicht anmaßen, ein detailliertes Regelwerk auszu-
arbeiten. Das wiederum könnte einen staatlichen Eingriff
in die Freiheit der Wissenschaft darstellen.
Ein erster naheliegender Schritt ist aber ein anderer,
nämlich: eine Veröffentlichungspflicht für Koopera-
tionsverträge von Hochschulen und Unternehmen. Es
geht dabei darum, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass
eine Zusammenarbeit stattfindet und wer eigentlich zu-
sammenarbeitet. Das ist nur recht und billig, da die Wis-
senschaft schließlich vornehmlich öffentlich finanziert
ist und eine öffentliche Verantwortung hat.
Ich habe im letzten Jahr die Bundesregierung gefragt,
wie sie dazu steht. Die Antwort ist aufschlussreich.
Der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel
schreibt, dass eine Veröffentlichungspflicht von Koope-
rationsverträgen nicht zielführend und zudem rechtlich
fragwürdig sei. Mit anderen Worten: Nach Auffassung
der Bundesregierung geht das nicht, und sie will das
nicht.
Ob es rechtlich geht, habe ich den Wissenschaftlichen
Dienst des Deutschen Bundestages gefragt. Der hat in ei-
ner wirklich klaren und gut lesbaren Ausarbeitung deut-
lich gemacht, dass zwar erstens eine umfassende Ver-
öffentlichungspflicht problematisch wäre, weil damit
Wissensvorsprünge sowie Betriebs- und Geschäftsge-
heimnisse offengelegt werden müssten. Zweitens jedoch
bestehe ein öffentliches Interesse daran, Kooperations-
verträge transparenter zu gestalten. So könnten einsei-
tige Abhängigkeiten und jeder Anschein davon vermie-
den werden. Eine auf die Summe und die Laufzeit
beschränkte Veröffentlichungspflicht sei daher mit der
Vertragsfreiheit vereinbar.
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An dieser Stelle nochmal herzlichen Dank an den
Wissenschaftlichen Dienst, der im Rahmen der rechtli-
chen Güterabwägung ganz im Gegensatz zur Bundesre-
gierung das Problem erkannt und eine gangbare Lö-
sungsmöglichkeit aufgezeigt hat.
Das ist dann auch einer der beiden Punkte in unserem
Antrag: Wir wollen, dass die Bundesregierung gemein-
sam mit den Bundesländern eine einheitliche Offenle-
gungspflicht von Kooperationen zwischen den Hoch-
schulen und Unternehmen, die sich auf die Fördersumme
sowie die Laufzeit bezieht, anstrebt. Kommen Sie mir,
Kolleginnen und Kollegen der Koalition, nicht wieder mit
der Zuständigkeit der Länder. Diese Karte ziehen Sie im-
mer, wenn Sie nichts machen wollen. Aber der Bund ist
mit in der Verantwortung für die Freiheit der Wissen-
schaft, und er finanziert die Hochschulen auch ordent-
lich mit. Also kann, also muss er da auch ran.
Der andere Punkt unseres Antrages richtet sich letzt-
lich an die Wissenschaft. Ich habe oben deutlich ge-
macht, dass wir kein detailliertes Regelwerk erstellen
können und auch gar nicht sollten. Deshalb wollen wir,
dass die Bundesregierung im Wissenschaftsrat darauf
hinwirkt, einen Kodex zu erarbeiten, mit dem die Bun-
desländer und Hochschulen Kriterien für die Ausgestal-
tung und Grenzen von Kooperationen mit Unternehmen
erhalten. Wohlgemerkt: Es geht hier um einen wissen-
schaftsgeleiteten Prozess.
Wir fordern die Bundesregierung und die Koalitions-
fraktionen auf, sich mit diesem Anliegen auseinanderzu-
setzen und nicht nur mit den üblichen Schlagworten zu
kommen, mit denen Sie Handlungsunwilligkeit überde-
cken wollen. Die Freiheit der Wissenschaft ist eine
Überlegung wert.
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es vor-
weg zu sagen: Für uns Liberale ist Wissenschaftsfreiheit
bzw. Freiheit von Forschung und Lehre ein überaus ho-
hes und kostbares Gut. Es ist aber nicht nur ein bedeu-
tendes Grundrecht, sondern nach unserem Verständnis
Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens und Fundament
unseres Wissenschaftssystems. Deshalb messen wir dem
Schutz der Wissenschaftsfreiheit eine hohe Bedeutung
bei und treten auch als christlich-liberale Koalition voll-
umfänglich für die Wissenschaftsfreiheit ein. Gerade
weil wir ein umfassendes Freiheitsverständnis reklamie-
ren, stößt der vorgelegte Antrag der Linken in unseren
Reihen auf Unverständnis und Ablehnung.
Wir lehnen den Antrag ab, denn der Freiheitsbegriff,
den die Linke hier verwendet, ist verkürzt. Ihre Defini-
tion blendet die Selbstbestimmung und Eigenverantwor-
tung der Wissenschaftler aus. Sie wollen vermeintlich
die Freiheit von Forschung und Lehre vor staatlichen
Eingriffen schützen, fordern aber gleichsam staatliche
Lenkungseingriffe. Sie umschreiben es im Antrag mit
„Initiative ergreifen“; tatsächlich aber stehen dahinter
staatlich verordnete Transparenz, Regeln und Verpflich-
tungen bei Kooperationen zwischen Wissenschaft und
Unternehmen. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit ernst
nehmen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass der
Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt und
selbst entscheidet, welche Kooperationen und Aufträge
er annimmt.
Für uns Liberale und diese Koalition bedeutet Wis-
senschaftsfreiheit aber noch mehr. Unser Freiheitsver-
ständnis geht tiefer. Denn Wissenschaftler und Wissen-
schaftseinrichtungen – Hochschulen oder außeruniversi-
täre Forschungseinrichtungen – tragen auch eine starke Ei-
genverantwortung. Sie tragen Verantwortung, dass sie
um die Freiheit und ihr Grundrecht wissen und verant-
wortungsvoll damit umgehen.
Ein Eingreifen von Bundesregierung oder Bundestag
ist aus unserer Sicht weder erforderlich noch zielfüh-
rend. Denn die Wissenschaft lässt sich keine system-
fremden Standards oktroyieren. Die Selbstreflexion fin-
det nach Maßstäben der Wissenschaft statt und eben
nicht auf der Referenzgrundlage von Politik. Es ent-
scheidet das Wissenschaftssystem für sich und aus sich
heraus. Denn das Wissenschaftssystem folgt seinen eige-
nen, inhärenten Leitlinien und Regeln.
In Wahrheit zieht sich Ihr Antrag doch an Einzelfällen
hoch. Sie zählen ganze vier Fälle auf. Vier Fälle, in de-
nen nach Ansicht der Linken Drittmittelgeber Einfluss
auf die Wissenschaft geltend gemacht haben. Angeblich,
denn keiner der Fälle hat gezeigt, dass die Wissenschaft-
ler in ihrer Wissenschaftsfreiheit bedrängt wurden oder
dass die Wissenschaftsfreiheit aufgegeben wurde oder
gar Wissenschaftler auf Grundlage einer Unterfinanzie-
rung in eine Abhängigkeit gedrängt wurden. Der von Ih-
nen konstruierte Zusammenhang zwischen Drittmittelfi-
nanzierung, einer wissenschaftlichen Einflussnahme und
Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit lässt sich nicht be-
gründen oder aufzeigen, weder durch die angeführten
Beispiele noch durch die im Antrag aufgegriffene Zu-
nahme an Drittmitteln gegenüber der Grundfinanzie-
rung.
Es ist richtig, dass das Aufkommen an Drittmitteln in
der zurückliegenden Dekade stärker zugenommen hat
als die Grundfinanzierung der Hochschulen. Aber an-
ders, als es die Darstellung im Antrag vermuten lässt, ist
die Verschiebung nicht dramatisch. Trotz einer Verdopp-
lung machen Drittmittel noch immer nur einen kleinen
Anteil an der Grundfinanzierung aus. Nach den aktuells-
ten Zahlen aus 2008 liegt der Anteil der gewerblichen
Wirtschaft am Gesamtbudget der Hochschulen lediglich
bei 4,6 Prozent, der Anteil der Stiftungen sogar nur bei
1,3 Prozent.
Wenn wir also über Drittmittel im Zusammenhang
mit Wissenschaftsfreiheit sprechen, ist es mehr als ange-
bracht, auf die Stimmen aus der Wissenschaft zu hören.
Hier möchte ich kurz auf Wissenschaftsrat und Hoch-
schulrektorenkonferenz verweisen. Beide sehen in der
Drittmittelfinanzierung keine Gefährdung der Wissen-
schaftsfreiheit. Im Gegenteil, beide führen aus, dass die
Hochschulforschung durch die Möglichkeit, öffentliche
und private Drittmittel einwerben zu können, vielmehr
profitiert. Der Wissenschaftsrat begrüßte in den zurück-
liegenden Jahren sogar, dass es mehr drittmittelfinan-
zierte Forschung gibt. Denn durch Drittmittel entstehen
im Wissenschaftssystem Impulse für mehr Wettbewerb.
Wissenschaftler können durch diese zusätzlichen Mittel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21303
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ihre Forschungsaktivitäten sogar ausweiten – Effekte,
die mehr Wissenschaftsfreiheit und nicht weniger schaf-
fen. Das zeigt sich dem Wissenschaftsrat nach in der ge-
stiegenen Qualität und Leistungsfähigkeit des deutschen
Wissenschaftssystems.
Die eigentlich wichtigen Fragen, über die es sich
wirklich zu diskutieren gelohnt hätte, greift der Antrag
jedoch mit keinem einzigen Wort auf, beispielsweise die
Frage nach der Verantwortung der Länder für eine um-
fassende und auskömmliche Grundfinanzierung von
Hochschulen oder die Frage, wie man mehr Wissen-
schaftsfreiheit für die Hochschulen schaffen kann. Zu
beiden Fragen hätte die Linke Stellung beziehen müssen.
Dann hätte sie sich aber eingestehen und vorhalten las-
sen müssen, wie wenig sie tatsächlich für Hochschulen
und Wissenschaftsfreiheit wirklich tut und bisher getan
hat. Am Rande sei nur die prekäre Lage des Wissen-
schaftsstandortes Berlin und Brandenburg notiert.
Interessanterweise zeigt sich, dass es in den Ländern
und im Bund stets eine christlich-liberale Koalition ist,
die ihre Verantwortung für Wissenschaftsfreiheit und
Hochschulen wahrnimmt. Noch in diesem Jahr werden
wir als christlich-liberale Koalition ein Wissenschafts-
freiheitsgesetz für die außeruniversitären Forschungsein-
richtungen verabschieden. Nachdem wir in Nordrhein-
Westfalen 2006 ein Hochschulfreiheitsgesetz auf den
Weg gebracht haben und tatsächlich für mehr Autono-
mie der Wissenschaft und Freiheit für Forschung und
Lehre gesorgt haben, ist unser Freiheitsbegriff auf dem
Vormarsch.
Zudem hat diese christlich-liberale Koalition kon-
krete Schritte unternommen, um sich an der Finanzie-
rung von Hochschulen zu beteiligen. Wir haben
schmerzlich lernen müssen, dass nicht alle Länder in der
Lage oder gar willens sind, ihren Hochschulen ausrei-
chend Grundmittel für exzellente Forschung und Lehre
zur Verfügung zu stellen. Deshalb haben wir den Hoch-
schulpakt sowie den Qualitätspakt für Forschung und
Lehre mit zusätzlichen Mitten aufgestockt. Noch in die-
sem Jahr werden wir in das Grundgesetz korrigierend
eingreifen, um dem Bund auch zu ermöglichen – im
Nachgang der Exzellenzinitiative –, zusätzliche Finanz-
mittel in den Hochschulsektor zu bringen.
Der Antrag der Linken wird dem Anspruch an das
Wissenschaftssystem nicht gerecht. Aus diesem Grund
lehnen wir – wie bereits eingangs erwähnt – den Antrag
ab.
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die Bundesregierung
hat gerade das Gesetz zur Flexibilisierung von haushalts-
rechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer
Wissenschaftseinrichtungen beschlossen, ein Vorhaben,
das Sie euphemistisch Wissenschaftsfreiheitsgesetz nen-
nen. Allerdings wird bei Ihnen der große Verfassungs-
grundsatz der Freiheit von Forschung und Lehre auf die
Deregulierung staatlicher Steuerung und auf unterneh-
merische Institutsführung reduziert. Ihre Wissenschafts-
freiheit ist die Freiheit, Spitzenwissenschaftlerinnen und
Spitzenwissenschaftler in den Bereichen einzusetzen, in
denen man private Geldgeber findet. Das ist Freiheit
nach Lesart der FDP!
Die Freiheit von Forschung und Lehre ist bedroht –
doch die Gefahr kommt von ganz anderer Seite; denn
viele Forscherinnen und Forscher müssen um ihre Auto-
nomie kämpfen, müssen darum kämpfen, sich ihre The-
men selbst aussuchen zu können, müssen darum kämp-
fen, wirklich erkenntnisgeleitet forschen zu können und
nicht abhängig von Drittmittelgebern zu sein. Unterneh-
men und Verbände nutzen die schwache Situation der
unterfinanzierten Hochschulen aus, um ihre Interessen in
der Wissenschaft durchzusetzen. Nicht immer, aber auf-
fällig oft führt das dazu, dass massiv Einfluss auf
Forschung und Lehre genommen wird. Da werden Er-
gebnisse zurückgehalten, umgedeutet, Forschung zu be-
stimmten Themen untersagt oder Gefälligkeitsgutachten
in Auftrag gegeben.
Beispiele gefällig? An der Humboldt-Uni Berlin soll
ein Professor im Auftrag des Deutschen Atomforums
eine Studie verfassen, die pünktlich zur letzten Bundes-
tagswahl 2009 vorrechnen sollte, warum Kernenergie
nicht nur den Konzernen Milliarden bringt, sondern vor
allem der Gesellschaft nützt. Das Geld für diese Studie
– immerhin 135 000 Euro sollten insgesamt fließen –
kassiert der Professor über die Firma seiner Frau. Doch
die Uni stellt die weitere Überprüfung des Falles ein.
Anderer Fall: Die Universität Bremen hat sich 1986
eine Zivilklausel gegeben, wonach nur zu friedlichen
und zivilen Zwecken geforscht werden darf, und in der
die Mitglieder der Universität aufgefordert werden, For-
schungsmittel abzulehnen, die Rüstungszwecken dienen
könnten. Nun bietet der OHB-Konzern der klammen Uni
eine Stiftungsprofessur im Bereich Raumfahrttechnolo-
gie an. Bedingung: Die Zivilklausel muss weg.
Oder der nächste Fall: Die Deutsche Bank sponsort
ein Forschungszentrum für Finanzmathematik an zwei
Berliner Universitäten. Der Kooperationsvertrag wird
bekannt. Er sieht Mitspracherechte der Bank bei der Be-
rufung von Professuren vor, bei der Veröffentlichungs-
praxis und bei den Rechten an den entstandenen Publika-
tionen. In strittigen Fällen soll nicht etwa die
Hochschule entscheiden dürfen, sondern ein Vertreter
der Bank. Angesichts dieser Entwicklungen sieht sich
mittlerweile sogar der wirtschaftsnahe Stifterverband ge-
nötigt, einen Verhaltenskodex für Stiftungsprofessuren
aufzustellen.
Erschwert wird eine Aufklärung und Bewertung sol-
cher Fälle dadurch, dass Unternehmen für ihre Koopera-
tionsverträge mit den Hochschulen aus „wettbewerbs-
rechtlichen Gründen“ fast immer Geheimhaltung
durchgesetzt haben, sodass niemand nachvollziehen
kann, wie viel Einfluss die Unternehmen haben und wie
weitreichend die Vereinbarungen sind. Die Liste der
Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung solche
Verträge ist lang: BASF, Google in Berlin, der Pharma-
konzern Bayer in Köln, Eon in Aachen und so weiter.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Koali-
tion etwas für die Wissenschaftsfreiheit tun wollen, dann
müssen Sie zuerst einmal für Transparenz sorgen. Ver-
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träge von staatlichen Hochschulen und Forschungsein-
richtungen mit Unternehmen sind keine Privatsache,
sondern eine öffentliche Angelegenheit. Diese Angaben
müssen offengelegt werden! Wir brauchen Regeln für
die Kooperation. Berufungen, Stellenbesetzungen, Ver-
öffentlichungen, Patente – für diese Bereiche muss ein
präziser Verhaltenskodex entwickelt werden. Und: Wenn
Ihnen die Freiheit von Forschung und Lehre wirklich ein
hohes Gut ist, sollten Sie die Wissenschaft ordentlich fi-
nanzieren und vor der Einflussnahme durch Privatinte-
ressen schützen!
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
heutigen Wissenschaftsbereich gibt es zahlreiche An-
knüpfungspunkte für Kooperationen zwischen Hoch-
schulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen
und Unternehmen. Kooperationen spielen eine Rolle im
Prozess der Ausdifferenzierung und Profilschärfung der
Hochschulen, bei der anwendungsorientierten For-
schung, bei gemeinsamen Forschungsprojekten, bei der
Translation, bei Stiftungsprofessuren, beim Wissens-
und Technologietransfer. Ebenso vielfältig sind die Ebe-
nen des kooperativen Austausches. Sie reichen von dua-
len Studiengängen und hochschulischen Fort- und Wei-
terbildungsangeboten über Diplomarbeiten und
Dissertationen, die durch Kooperationen mit Unterneh-
men zustande kommen, bis hin zur gemeinsamen Nut-
zung von Forschungsinfrastrukturen, der gemeinsamen
Forschungsbeteiligung, der Auftragsforschung, der Be-
ratung oder anderen forschungsbezogenen Dienstleistun-
gen. Im Regelfall sind diese Kooperationsbeziehungen
außerordentlich produktiv und durchaus wünschenswert.
Das im Antrag der Fraktion Die Linke formulierte
Anliegen, auf mehr Transparenz zu dringen, wo es um
Vertrags- und Kooperationsbeziehungen zwischen Un-
ternehmen und Hochschulen bzw. außeruniversitären
Einrichtungen geht, ist sicher berechtigt. Klar ist aber
auch, dass nicht an sämtliche Kooperationsformen die-
selben Prinzipien angelegt werden können. Dem Antrag
der Linken ist vor allem im Feststellungsteil deutlich an-
zumerken, dass ihm zwei unterschiedliche Philosophien
zugrunde liegen: eine Haltung, der Kooperationsbezie-
hungen generell suspekt sind und die sie unter den Ver-
dacht der unlauteren Einflussnahme und Vereinnahmung
vonseiten der Unternehmen stellt, und eine zweite Hal-
tung, die um Differenzierung bemüht ist und vor allem
auf die Einhaltung und Durchsetzung von Prinzipen gu-
ter Praxis setzt. Ich halte es daher für richtig, etwas abzu-
schichten und die Probleme zu differenzieren.
Um missbräuchlicher Einflussnahme von Unterneh-
men im Rahmen von Kooperationen mit Hochschule und
außeruniversitären Einrichtungen von vornherein einen
Riegel vorzuschieben, ist es sicher richtig, wenn aus der
Wissenschaft heraus Leitlinien und Codes of Conduct
entwickelt werden, die regeln, welche Prinzipien für
gute Kooperationsbeziehungen gelten sollen.
Transparenzregeln und Codes of Conduct sind aber
nicht nur wichtig für die Beziehungen zwischen Hoch-
schulen bzw. außeruniversitären Einrichtungen und Un-
ternehmen. Faire, transparente Regeln als Basis für den
gemeinsamen Austausch sind überall dort von Bedeu-
tung, wo private Geldgeber mit Hochschulen und außer-
universitären Forschungseinrichtungen kooperieren. Auf
dieser Grundlage können Interessenskonflikte austa-
riert, Fairness im Umgang hergestellt und Kooperation
auf Augenhöhe sichergestellt werden.
Wie gesagt dürfen aber nicht sämtliche Kooperations-
formen in ein und denselben Topf geworfen werden.
Hier gilt es, zu differenzieren: Selbstverständlich zum
Beispiel sollten Stiftungsverträge öffentlich einsehbar
sein. Ebenso klar ist, dass ausgeschlossen sein muss,
dass private Geldgeber Einfluss zum Beispiel auf Beru-
fungsentscheidungen nehmen. Es wäre aber Unsinn, so
zu tun, als sei unlautere Einflussnahme bei Stiftungspro-
fessuren der Regelfall. Sehr oft werden mit solchen Stif-
tungen ideelle Zwecke verfolgt. Ob eine Uni eine be-
stimmte Professur will oder nicht, darüber muss sie dann
schon selbst entscheiden.
Im anwendungsnahen Bereich muss man differenzier-
ter mit Offenlegungspflichten umgehen. So ist es sicher
problematisch, überall und immer von einer generellen
Offenlegungspflicht in Bezug zum Beispiel auf Patente
auszugehen. An dieser Stelle sind vielmehr transparente
Spielregeln der konkreten Zusammenarbeit gefragt.
Die Hochschulen sollten Standards für ihre Koopera-
tionsbeziehungen mit Unternehmen setzen. Ausgehend
von diesen Standards müssen sie sich dann mit den Un-
ternehmen auf faire Regeln für den Umgang miteinander
verständigen, die die Interessen der Hochschulen nicht
unterlaufen. Unter welchen Bedingungen sollen eventu-
elle Patente genutzt werden können? Welche Ansprüche
bestehen mit Blick auf die Zurechnung von Forschungs-
leistungen und die Autorschaft bei wissenschaftlichen
Veröffentlichungen? Wie kann einseitiger Know-how-
Abfluss und Braindrain verhindert werden? In solchen
und ähnlichen Fragen müssen bei Kooperationen, die
sich im Spannungsfeld von Kooperation und Konkur-
renz bewegen, faire und klare Regeln gelten.
Darüber hinaus wäre es im Sinne der Transparenz si-
cher ein guter Ansatz – und dazu haben wir Grünen ei-
nen entsprechenden Vorschlag gemacht – die Zuwen-
dung öffentlicher Mittel für Forschungsprojekte,
insbesondere durch die Deutsche Forschungsgemein-
schaft und den Bund, an die Bedingung zu knüpfen: In
einer öffentlich zugänglichen zentralen Datenbank soll-
ten das Forschungsprojekt, die Ziele und die Resultate in
allgemeinverständlicher Form dargelegt und über den
Umfang der Förderung und die beteiligten Wissenschaft-
lerinnen, Wissenschaftler und Forschungseinrichtungen
Auskunft gegeben werden.
Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt zu spre-
chen kommen, wo einiges durcheinandergeht: Es wird
im Antrag der Linken der Eindruck erweckt, dass das
Missverhältnis zwischen Grundfinanzierung und Dritt-
mitteln an Hochschulen vor allem mit dem Hauptpro-
blem steigender unternehmerischer Einflussnahme ein-
hergehe. Der Großteil der von Hochschulen eingeworbe-
nen Drittmittel stammt aber von der öffentlichen Hand.
Hintergrund ist, dass in den letzten Jahren mit der Exzel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21305
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lenzinitiative und den Mittelaufwüchsen bei der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft, den Programmen des
BMBF und des Bundes und den Forschungsrahmenpro-
grammen der Europäischen Union die öffentliche Dritt-
mittelfinanzierung der Hochschulforschung rasant zuge-
nommen hat.
Nun gibt es gute Gründe, das Missverhältnis zwi-
schen steigendem Drittmittelanteil und stagnierender
oder rückläufiger Grundfinanzierung der Hochschulen
zu kritisieren und eine neue Balance einzufordern: Dritt-
mittel sind eine sinnvolle Ergänzung zu Grundmitteln;
aber sie taugen nicht dazu, die solide Finanzierung der
Daueraufgaben in Forschung und Lehre zu ersetzen. Die
Schieflage im Verhältnis zwischen staatlichen Grund-
und Drittmitteln bekämpft man aber sicher nicht da-
durch, dass man das Engagement privater Geldgeber an-
greift. In Deutschland haben wir doch viel eher das Pro-
blem, dass die Bereitschaft von Unternehmen und
privaten Geldgebern, sich an der Finanzierung des Wis-
senschaftssystems zu beteiligen, nach wie vor unterent-
wickelt ist.
Mich wundert, dass Sie wie auch die SPD in ihrem
Antrag ein Thema ziemlich unterbelichtet lassen: Ich
meine das Thema Nebentätigkeiten von Professorinnen
und Professoren. Auch hier müssen Transparenz und
Spielregeln gelten. Hier geht es nicht nur um den Um-
fang und die Art der Nebentätigkeit, sondern auch um
mögliche Interessenskonflikte. Auch hier sind die Hoch-
schulen aufgefordert, Standards zu setzen und vor allem
sicherzustellen, dass sie von den Professorinnen und
Professoren akzeptiert und eingehalten werden.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung: Bericht der
Bundesregierung über die Maßnahmen zur
Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des
Bundesvertriebenengesetzes in den Jahren 2009
und 2010 (Tagesordnungspunkt 15)
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Wir disku-
tieren heute den Bericht der Bundesregierung über ihre
Aktivitäten zur Pflege des Kulturguts der Vertriebenen
und Flüchtlinge sowie zur Förderung der wissenschaftli-
chen Forschung in den Jahren 2009 und 2010. Ange-
sichts der Vertreibung vieler Millionen Landsleute haben
sich Bund und Länder Anfang der 50er-Jahre geschwo-
ren, Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen
Europa niemals vergessen zu machen. Dem Auftrag sah
sich bis heute jede Bundesregierung in besonderem
Maße verpflichtet.
Das reiche kulturelle Erbe, das die Deutschen aus ih-
rer jahrhundertelangen Geschichte im östlichen Europa
mitbrachten, ist für unsere Kulturnation von außeror-
dentlicher Bedeutung. In den ehemals deutsch geprägten
Gebieten erwuchsen über die Jahrhunderte in schöpferi-
schem Geiste deutsche Musik, Literatur, Philosophie,
Baukunst und Malerei; auch Wissenschaft und For-
schung waren an den Universitäten in unseren Nachbar-
ländern angesiedelt. Durch diese unterschiedlichen Fa-
cetten besitzt unser Vaterland heute einen einzigartigen
kulturellen Reichtum, um den uns andere Länder benei-
den.
Das kulturelle Erbe im östlichen Europa zu bewahren,
ist der vordringliche gesetzlich festgeschriebene Auftrag
aus § 96 Bundesvertriebenengesetz. Diesen erfüllte die
Bundesregierung auch 2009 und 2010 mit großer Tat-
kraft. Wir Christdemokraten sehen uns in diesem Zu-
sammenhang jedoch immer auch verpflichtet, an das
Unrecht von Flucht und Vertreibung zu erinnern.
Jüngere Menschen, deren eigenes Schicksal durch
diese Ereignisse nicht geprägt wurde, sind sich kaum be-
wusst, wie widrig die Umstände waren, unter denen das
heutige Deutschland entstanden ist. Es lag nicht nur das
ganze Land in Trümmern – eine Tatsache, die im Ge-
schichtsunterricht noch weitgehend verdeutlicht wird –
nein, die Gesellschaft war nach dem Krieg auch eine
ganz andere als vorher: 14 Millionen Deutsche, die Jahr-
hunderte im östlichen Europa gelebt hatten und nach
dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben wurden,
suchten eine neue Heimat; das war damals etwa ein
Fünftel der Gesamtbevölkerung. Als Folge des Krieges
und der verständlichen Wut auf die Deutschen mussten
sie über Nacht ihre Heimat in Ost- und Westpreußen,
Danzig und Pommern, Ober- und Niederschlesien, dem
Sudetenland, dem Banat und Siebenbürgen verlassen,
2 Millionen von ihnen kamen ums Leben, noch bevor sie
ihre neue Heimat erreicht hatten. Die Überlebenden hat
die Erinnerung an die erlittenen Grausamkeiten und die
Trauer über den Verlust der Heimat ihr ganzes Leben
lang gequält.
Angesichts der Lebensleistung der Vertriebenen kann
man nicht ohne Scham auf den öffentlichen Umgang mit
ihrem Schicksal blicken, der über viele Jahrzehnte vor-
herrschend war; denn allzu lange sind Flucht und Ver-
treibung aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt
worden; allzu lange war das Thema tabu. Nur zögerlich
und erst allmählich wurde in den 1990er-Jahren die
Mauer des Schweigens durchbrochen. Im Koalitionsver-
trag von 2005 vereinbarten wir mit den Sozialdemokra-
ten, im Geiste der Versöhnung ein „sichtbares Zeichen“
für das Unrecht von Vertreibung zu setzen. Bis zur Grün-
dung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im
Jahr 2008 war es somit ein langer und beschwerlicher
Weg.
Indem wir das Kulturerbe der Vertriebenen und
Flüchtlinge, der Aussiedler und Spätaussiedler entde-
cken und bewahren, gedenken wir somit immer auch ih-
rer wechselvollen Geschichte. Das eine ohne das andere
darzustellen wäre verkürzt und würde dem Schicksal der
Menschen nicht gerecht.
In den Jahren 2009 und 2010, um die es heute geht,
unterstützte die Bundesregierung die Kulturarbeit der
Vertriebenen mit 34 Millionen Euro. Dies sind 6 Millio-
nen mehr als noch 2007 und 2008, wo die Mittel eben-
falls schon aufgestockt worden waren. Dieser erfreuliche
Trend zeigt: Die Regierung unter Bundeskanzlerin
Angela Merkel betrachtet den Auftrag, Kultur und Ge-
21306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
schichte zu bewahren, nicht als bloße Verpflichtung,
sondern sieht ihn als eine Herzensangelegenheit an.
Warum ist uns das so wichtig? Nun, zunächst und vor
allen Dingen, weil wir überzeugt sind, mit der Erinne-
rung an Vertreibungen in der Vergangenheit mögliches
Unrecht in der Zukunft zu verhindern. Ohne Gedenken
und Versöhnung ist keine gemeinsame Zukunft in einem
friedlichen Europa möglich. Erinnern wir uns daran, was
nach fast 70 Jahren immer mehr in Vergessenheit gerät:
Frieden zwischen den europäischen Völkern ist keine
Selbstverständlichkeit. Verständigung und Aussöhnung
innerhalb Europas setzen voraus, dass wir neben den
Konflikten auch Verbindendes in unserer Geschichte su-
chen. Bei der Förderung setzen wir daher den Schwer-
punkt auf Erinnerung, Begegnung und kulturellen Aus-
tausch. Die Vertriebenenorganisationen leisten hierzu
mit guten Kontakten in ihre frühere Heimat ebenfalls un-
ersetzliche Dienste. Kultur und Geschichte der Deut-
schen im östlichen Europa stellen ein gemeinsames eu-
ropäisches Erbe dar. Die Kulturarbeit wird so zu einem
Brückenschlag zwischen denen, die fliehen mussten, und
denen, die bleiben konnten.
Ganz konkret etwas bewirken können wir, wo die Ge-
fahr neuen Leids noch nicht gebannt ist. Ich denke be-
sonders an die Staaten des ehemaligen Jugoslawien, wo
ab dem 17. Jahrhundert die Donauschwaben lebten. In
Serbien und den Nachbarländern schwelen noch immer
ethnische Konflikte. Schlichtend tätig werden können
wir am besten direkt vor Ort. Die Kulturreferenten, die
wir im Jahr 2009 endlich dauerhaft einstellen konnten,
spielen dabei eine wichtige Rolle. Vor Ort fördern sie zi-
vilgesellschaftliche Einrichtungen und kulturelle Bil-
dungsprojekte, die für das friedliche Zusammenleben
der Mehrheitsbevölkerungen mit ihren Minderheiten
eintreten.
Die Bundesregierung verfolgt bei der Kulturförde-
rung seit einigen Jahren einen neuen Ansatz. „Gemein-
same Geschichtsschreibung“ oder auch „Erinnerungs-
kultur“ sind die Stichworte. Bevor wir in eine
gemeinsame Zukunft schauen können, sollten wir unsere
Sicht auf die Vergangenheit teilen. Hierfür ist gemein-
same Forschung unerlässlich. Lange bestand keine Ei-
nigkeit über die historischen Fakten; jedes Land ver-
folgte seine eigene Wahrheitsfindung. Aus diesem
Grund unterstützt die Bundesregierung nun vor allem
Kooperationsprojekte zwischen deutschen Wissenschaft-
lern und jenen der Nachbarländer. Gemeinsame For-
schungsprojekte, Wanderausstellungen etwa oder Ju-
gendbegegnungen, tragen zu einem geteilten und
gemeinsamen Geschichtsverständnis bei. Das große Ziel
sind Schulbücher, die die gleichen Inhalte vermitteln.
Wir sind zudem stolz darauf, dass von uns unter-
stützte Institute Lehrveranstaltungen an zahlreichen aus-
ländischen Universitäten abhalten. Vor allem aber för-
dern wir den akademischen Nachwuchs mit der
Finanzierung von Tagungen zum wissenschaftlichen
Austausch, Stipendien und Juniorprofessuren.
Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an Ge-
schichte. Deshalb ist Geschichtsforschung selbst dann
nicht abgeschlossen, wenn wir glauben, alles zu wissen.
Ein weiterer großer Teil der Förderung kommt den
Museen zugute. Das Interesse am deutschen Kulturerbe
im Osten beschränkt sich schon längst nicht mehr auf die
Betroffenen und deren Nachkommen. Die Neugier
wächst sowohl bei uns als auch in den Nachbarländern.
Immer drängender wird die Aufzeichnung von Zeitzeu-
genberichten, da diese Erinnerungen ebenso bedeutend
wie vergänglich sind, weil immer weniger Menschen
den nachfolgenden Generationen von eigenen Erlebnis-
sen berichten können werden. Kultur und Geschichte der
deutschen Minderheiten und vor allem auch Flucht und
Vertreibung werden in den Schulen nur untergeordnet
behandelt. Dies ist ein beklagenswerter Mangel, und
auch gerade aus diesem Grund müssen Museen als Lern-
orte vor allem für junge Menschen ausgestattet werden.
Die Erinnerung wachzuhalten, ist auch das oberste
Ziel der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. De-
ren Arbeit unterstützt der Bund mit jährlich 2,5 Millio-
nen Euro. Heute steht fest, wie das neue Ausstellungsge-
bäude für Flucht und Vertreibung aussehen soll. Das
„Deutschlandhaus“ hier in Berlin wird umgebaut und ar-
chitektonisch mit der „Topographie des Terrors“ verbun-
den. Die Dokumentation der NS-Schreckensherrschaft
wird damit durch die Erinnerung an ihre schrecklichen
Konsequenzen ergänzt. Mit den Zuwendungen werden
bereits heute Stücke für die Dauerausstellung ange-
schafft. Auf der Berlin Biennale für zeitgenössische
Kunst, die dieser Tage stattfindet, zeigt die Stiftung zu-
dem persönliche Erinnerungsstücke, die viele von ihrer
Flucht gespendet haben.
Für all diese und viele weitere Aspekte von Ge-
schichte, Kultur und Wissenschaft stand die unionsge-
führte Bundesregierung in den Jahren 2009 und 2010.
Mit dem Vorsatz, das deutsche Kulturerbe im östlichen
Europa zu entdecken und zu bewahren, nehmen wir Ver-
antwortung an: Verantwortung gegenüber unseren Nach-
barn, dass wir das Vermächtnis unserer Vorfahren nicht
einfach verkommen lassen, und Verantwortung gegen-
über denjenigen Mitgliedern unserer Gesellschaft, die
ihre Heimat schmerzlich verloren haben und sich hier so
bescheiden wie erfolgreich eingegliedert haben Kultur
und Geschichte von 14 Millionen Deutschen dürfen nie-
mals in Vergessenheit geraten. Sie sind Teil der Ge-
schichte unseres Landes. Dazu stehen wir gerade auch
heute.
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Osten gibt es viel
Neues zu vermelden. Ich meine aber nicht die von vielen
Experten für unmöglich gehaltene Rochade zwischen
Präsident und Ministerpräsident in Russland oder die
politischen Entwicklungen in der Ukraine, deren künf-
tige Ausrichtung die Zukunft Europas weit mehr prägen
wird als die gegenwärtige westeuropäische Schulden-
krise. Ich meine den bemerkenswerten Wandel in Mittel-
und Osteuropa, welchen der aktuelle Bericht der Bun-
desregierung zur Kulturförderung nach § 96 Bundesver-
triebenengesetz, BVFG, dokumentiert, zu dem unsere
Fraktion diese Debatte im Deutschen Bundestag initiiert
hat.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21307
(A) (C)
(D)(B)
Denn in den letzten Jahren, so konstatiert die Bundes-
regierung treffend, habe sich die Perspektive auf Kultur
und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa we-
sentlich verändert, und zwar zum Positiven. Ich zitiere:
Dies hat zu einer – wieder – stärkeren und auch
vielschichtigeren Wahrnehmung der ehemals deut-
schen oder von Deutschen besiedelten Gebiete im
östlichen Europa geführt. Heute geht das Interesse
weit über die sogenannte Erlebnisgeneration und
über die Familien der Vertriebenen hinaus. Neue
Fragen an die Geschichte und eine neue Offenheit
für die vielfältigen Aspekte des deutschen Kulturer-
bes in den einschlägigen Regionen des östlichen
Europas prägen den Diskurs, der in der Mitte der
Gesellschaft angekommen ist und dabei wie selbst-
verständlich keineswegs auf Deutschland be-
schränkt ist, sondern sich im europäischen und
grenzüberschreitenden Dialog entfaltet.
Wer hätte gedacht, wie der Ausblick des Berichts fest-
hält, dass die wachsende Bedeutung regionaler Identitä-
ten, die heute in vielen Ländern zu konstatieren sei, zu
einer „ganz neuen Bewertung des deutschen Kulturer-
bes“ führe. Zitat; „Was einst ideologisch entzweite, wird
zunehmend als verbindendes Merkmal in einem Europa
der Regionen verstanden.“
Vielleicht ist es noch zu früh, die Wiederentdeckung
der Kultur und Geschichte der Deutschen im Osten
Europas in diesem Hohen Haus auszurufen, die jahrhun-
dertelang schaffensreich und friedlich gewirkt hat, wo-
ran endlich anzuknüpfen wäre; aber wir sind auf einem
guten Weg dorthin. Bund und Länder haben sich be-
kanntlich in § 96 BVFG dazu verpflichtet, das Kulturgut
der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu prä-
sentieren und zu erforschen. Dabei geht es um histori-
sche Regionen und Siedlungsgebiete wie Schlesien, Ost-
und Westpreußen, Siebenbürgen oder das Banat, in de-
nen früher Deutsche gelebt haben und zum Teil noch
heute ansässig sind. Beim diesjährigen Heimattag der
Siebenbürger Sachsen gibt übrigens der in Kronstadt ge-
borene Rocksänger Peter Maffay ein Benefizkonzert,
dessen Erlöse für den Wiederaufbau der Kirchenburg
Radeln sowie für den dortigen Bau eines Kindererho-
lungsheims verwendet werden. Es kann daher nicht oft
genug betont werden, dass dieses historische Erbe Teil
der Kultur aller Deutschen und für uns als Kulturnation
von bleibender Bedeutung ist.
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass nicht alle
Fraktionen im Deutschen Bundestag das wohl so sehen.
Wie sonst ist die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die
Grünen im letzten Jahr, Drucksache 17/5991, zu verste-
hen, in der scheinheilig auf die deutlichen Kürzungen
der Kulturförderung nach § 96 BVFG „um die Jahrtau-
sendwende“ – also unter rot-grüner Bundesregierung –
verwiesen und kritisiert wird, seit 2005 „jedoch wachsen
die Ausgaben in diesem Bereich wieder“?
Es stimmt, die jetzige Bundesregierung hingegen
nimmt die Verantwortung für den Erhalt und die Pflege
des deutschen Erbes im östlichen Europa als ein nach
wie vor wichtiges kulturpolitisches Handlungsfeld ernst
und hat dafür gesorgt, dass die Förderung seit der Regie-
rungsübernahme von circa 12 Millionen Euro schritt-
weise auf knapp 17 Millionen Euro im Bundeshaushalt
2012 erhöht wurde.
Auf dem diesjährigen Jahresempfang des Bundes der
Vertriebenen hat die Bundeskanzlerin erklärt, wie wich-
tig es sei, dieses Erbe zu erforschen und jungen Men-
schen zu vermitteln. Sie unterstrich dabei die Bedeutung
der Kulturförderung, wovon zum Beispiel der Ausbau
von Landesmuseen zeuge.
Zu den geförderten Einrichtungen gehören neben der
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin die
regionalen Museen wie etwa das Pommersche Landes-
museum in Greifswald oder das Schlesisches Museum
zu Görlitz sowie die Wissenschaftszentren wie das Her-
der-Institut in Marburg oder die Martin-Opitz-Bibliothek
in Herne. Die vertriebenenpolitische Gruppe der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion hat es sich in dieser Legislatur-
periode zur Aufgabe gemacht, sämtliche Einrichtungen
zu besuchen und eine Bestandsaufnahme vorzunehmen,
da teilweise bereits jetzt Modernisierungsbedarf erkenn-
bar ist. Aus der Vielzahl der laufenden Maßnahmen will
ich nur einige nennen. So wird jetzt das Ostpreußische
Landesmuseum in Lüneburg baulich um eine Baltische
Abteilung erweitert und dadurch auch die Dauerausstel-
lung ergänzt und modernisiert. Das Westpreußische Lan-
desmuseum in Münster zieht in diesem Jahr an einen
neuen Standort um, wo ebenfalls die Dauerausstellung
bis zur Wiedereröffnung 2013 überarbeitet werden soll.
Das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deut-
schen im östlichen Europa, BKGEj, hat schon 2008 ein
großes Projekt gestartet, das die vollständige Erfassung
und Präsentation aller in Deutschland bestehenden Hei-
matsammlungen vorsieht. Zudem ist eine begleitende
Gesamtdarstellung der circa 500 Sammlungen vorgese-
hen.
Das Amt des Bundesbeauftragten für Kultur und Me-
dien, BKM, hat zusammen mit dem BKGE ein mit
800 000 Euro dotiertes Akademisches Förderprogramm
ins Leben gerufen, um neues Interesse zu wecken und
die Thematik an den deutschen Universitäten nachhaltig
zu verankern. Nicht zuletzt hat die Bundesstiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Anfang dieses Jahres
mit dem erfolgreichen Abschluss des Architektenwettbe-
werbs für den Umbau des Deutschlandhauses ein wichti-
ges Etappenziel erreicht. Realisiert werden soll ein am-
bitionierter Entwurf der österreichischen Architekten
Bernhard und Stefan Marte, eine überzeugende Arbeit,
die sich nicht nur in der Berliner Museumslandschaft se-
hen lassen kann. Einerseits wird dem Charakter des his-
torischen Gebäudes und dem Denkmalschutz Rechnung
getragen, indem die Fassaden an der Stresemannstraße
und Anhalter Straße erhalten bleiben. Andererseits er-
möglicht der Entwurf im Gebäudekern den Neubau eines
zeitgenössischen Museums, welches der geplanten Dau-
erausstellung großzügigen Raum gibt.
Zudem zeigt die Bundesstiftung in diesen Tagen in ei-
ner ersten Ausstellung die eindrücklichen Ergebnisse ei-
nes Sammlungsaufrufs nach persönlichen Erinnerungs-
21308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
stücken an Flucht, Vertreibung und Heimatverlust. Nach
nur sechswöchigem Sammlungsaufruf – als erstem Test-
durchlauf – gingen bei der Stiftung etwa 100 Exponate
ein, darunter einige sehr wertvolle Objekte, die der Stif-
tung dauerhaft zur Verfügung gestellt wurden und von
rund 30 Familienschicksalen erzählen. Dabei handelt es
sich um einmalige Zeitdokumente wie der Armbinde mit
aufgenähtem Buchstaben vom Juni 1945, die alle Sude-
tendeutschen bis zu ihrer Vertreibung tragen mussten,
oder original erhaltenes Fluchtgepäck.
Die Bundesstiftung ist – und daran halten wir unbeirrt
fest – eines der wesentlichen Projekte für unsere natio-
nale Identität, in der das millionenfache Schicksal der
deutschen Heimatvertriebenen, die historischen Hinter-
gründe von Flucht und Vertreibung sowie deren europäi-
sche Dimensionen dokumentiert werden soll. Wir wer-
den uns deshalb weiter für den konsequenten Ausbau der
Bundesstiftung mit voller Kraft einsetzen.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Weil Bundesre-
gierungen keine Klientelpolitik betreiben sollten, haben
wir im Jahr 2000, damals in rot-grüner Regierungsver-
antwortung, bei der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesver-
triebenengesetz einen Paradigmenwechsel vollzogen:
Die Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und
Geschichte im östlichen Europa muss seitdem eine brei-
tere Öffentlichkeit berücksichtigen und im Geiste des
Austausches und der Verständigung erfolgen!
Auf keinen Fall wollten und wollen wir hermetische
„Parallelwelten“ und zweifelhafte, revisionistische Ge-
schichtsbilder institutionell verfestigen. Denn nicht Ver-
drängung ist der richtige Weg, sondern eine gemeinsame
historische Vergewisserung, die erst aus dem gemeinsa-
men Blick von Deutschen, Polen, Tschechen und ande-
ren auf die Traditionen in ehemals deutschen Kultur-
landschaften entstehen kann.
Konkret haben wir im Jahr 2000 deshalb auf eine Öff-
nung und die Professionalisierung der Kulturarbeit ge-
mäß § 96 Bundesvertriebenengesetz gedrungen und um-
fassende Umstrukturierungen vorgenommen. Der
vorliegende Bericht zeigt für die Jahre 2009 und 2010,
wie richtig unsere Konzeption und wie notwendig der
Kurswechsel war.
Museen und Kulturarbeit müssen ihre Präsentationen
und Projekte im Kontext aktueller museologischer und
wissenschaftlicher Diskurse planen. Zeitgemäße Metho-
den und Medien sind bei der Vermittlung einzusetzen.
Die Angebote haben sich an ein breiteres Publikum zu
richten.
Ebenso wichtig ist die Bildung professioneller, inter-
nationaler Netzwerke. Museen und Kulturarbeit müssen
in ständigem Dialog mit jenen osteuropäischen Nach-
barn stehen, auf deren Länder und Regionen die jeweili-
gen Darstellungen von Kultur, Geschichte und Erinne-
rung Bezug nehmen. Hier hat sich – und es freut mich,
dass der Bericht dies bestätigt – das Instrument der Stif-
tungsprofessur bewährt. Es ist dieser Dialog zwischen
Wissenschaftlern, Studenten und einer interessierten Öf-
fentlichkeit aus Deutschland und den Ländern Mittelost-
europas, der zu echter Verständigung fuhren kann. Nur
gemeinsam lässt sich die Zukunft Europas friedlich ge-
stalten.
Besonders ist deshalb auch der Jugendaustausch wei-
ter zu fördern. Persönliche Beziehungen sind von un-
schätzbarem Wert. Die Programme müssen sich aller-
dings noch stärker als bisher in den Kontext der
gesamteuropäischen Entwicklung einfügen. Hier sind
die notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Der Be-
richt deutet dies in seinem Ausblick an.
Mein Fazit: Unsere Neujustierung der Kulturarbeit
nach dem Bundesvertriebenengesetz hat sich bewährt
und wird – auch dies macht der Bericht deutlich – von
Schwarz-Gelb nicht infrage gestellt.
So kann ich nur begrüßen, dass es Herrn Neumann
gelungen ist, die unter Rot-Grün eingeführten Stellen der
Kulturreferenten zu entfristen. Das hilft nicht nur den
Referenten, sondern ist ein richtiges Signal: eine Aner-
kennung der großen Bedeutung der Jugendarbeit.
Denn auch hier liegt der Bericht richtig – Zitat – „Es
sind keineswegs allein die Vertriebenen und Flüchtlinge,
die Aussiedler und Spätaussiedler, die sich für ihre frü-
here Heimat interessieren und zahlreiche Brücken zu den
heute dort lebenden Menschen gebaut haben. In
Deutschland und seinen Nachbarländern sind inzwi-
schen neue Generationen herangewachsen, die sich mit
dem deutschen Kulturerbe im östliche Europa auseinan-
dersetzen.“
Die Strukturen der Kulturforderung gemäß § 96 Bun-
desvertriebenengesetz sind inzwischen also zukunftsfä-
hig – doch gilt das auch für die Politik, die Inhalte der
Koalition?
Zweifel sind angebracht, beispielsweise wenn wir uns
die Errichtung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung ins Gedächtnis rufen, die im Dezember 2008 als
unselbstständige Stiftung unter dem Dach des Deutschen
Historischen Museums gegründet wurde.
Ich muss nicht alle die Streitigkeiten bei der Beset-
zung der Gremien wiederholen – doch sind die rück-
wärtsgewandten, populistischen Äußerungen, Maßnah-
men und Wünsche aus den Reihen der CDU, die bis
heute das große Projekt der Aussöhnung und Versöh-
nung mit unseren östlichen Nachbarn immer wieder er-
schweren, nicht nur mir in schlechter Erinnerung. Des-
halb appelliere ich an CDU/CSU: Nehmen Sie den
vorgelegten Bericht ernst und handeln Sie danach. Revi-
sionismus ist nicht zukunftsweisend!
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Flucht und Ver-
treibung sind traurige und tragische Kapitel der deut-
schen und europäischen Geschichte. In Ost- und Mittel-
europa wurden in den vergangenen 100 Jahren Millionen
von Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben,
darunter mindestens 12 Millionen Deutsche. Sie wurden
so ihrer Heimat beraubt, deren Kulturerbe sie zum Teil
über Jahrhunderte mitgestaltet hatten. Heute finden sich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21309
(A) (C)
(D)(B)
Orte wie die Marienburg im früheren Ostpreußen oder
die Friedenskirchen in Niederschlesien auf der Liste der
Weltkulturerbestätten. Dennoch bleiben sie auch Teil un-
seres kulturellen Erbes, selbst wenn sie nicht mehr inner-
halb der Grenzen Deutschlands liegen. Die Geschichte
der Deutschen im östlichen Europa ist ein zentraler As-
pekt unserer Erinnerungskultur.
Das Leid der Vertriebenen und ihr kulturelles Erbe in
Osteuropa darf und wird niemals vergessen werden. Es
ist die Aufgabe von Gesellschaft und Politik, diesen Teil
der deutschen und der europäischen Geschichte in all
seinen Facetten aufzuarbeiten und für künftige Genera-
tionen in Erinnerung zu halten. Vor allem die konkreten
Schicksale sind ergreifend: Menschen, die pauschal Op-
fer von Vertreibung wurden, haben einen Anspruch da-
rauf, dass ihr Leben und Leid gewürdigt wird. Dabei ver-
gessen wir nicht: Die Ursache des Vertreibungsunrechts
liegt beim menschenfeindlichen NS-Regime. Ohne den
Krieg Hitlers hätte es auch keine Vertreibungen von
Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa gegeben.
Indes beobachten wir heute, dass sich auch jüngere
Generationen mit den deutschen Wurzeln in Osteuropa
auseinandersetzen. Es existiert ein großes Interesse für
diesen Teil der deutschen Geschichte, und zwar über die
Zeitzeugengeneration und die Nachkommen der Vertrie-
benen hinaus. Wir fördern diese erfreuliche Entwicklung
durch unsere Maßnahmen im Rahmen des Bundesver-
triebenengesetzes. Unser Engagement in dieser Frage
spiegelt sich in harten Zahlen: Nach den massiven Kür-
zungen durch die rot-grüne Bundesregierung hat
Schwarz-Gelb die Förderung konsolidiert. Standen 2005
noch 12 Millionen Euro jährlich zur Verfügung, sind es
heute rund 17 Millionen Euro. Allein 2011 haben wir die
Mittel um 5,3 Prozent erhöht.
Wichtig ist dabei, dass die geförderte Kulturarbeit
nicht allein zu einer Aufgabe von Forschern, Restaurato-
ren und Museumsdirektoren wird. So bedeutend die Be-
wahrung und wissenschaftliche Erforschung der Kultur
der Vertriebenen ist, sie darf sich nicht auf die Museali-
sierung des Vergangenen beschränken. Ein Schwerpunkt
muss auch auf gegenseitigem Austausch, Vermittlungs-
und Versöhnungsarbeit liegen. Längst ist heute ein Groß-
teil der Vertreibungsgebiete Teil der Europäischen Union
geworden. Staatliche Grenzen trennen uns nicht länger,
sie verbinden. Dadurch ergeben sich großartige Mög-
lichkeiten der Verständigung.
Junge Deutsche fahren auf Bildungsreisen gen Osten,
in die böhmischen Gebiete, nach Krakau, Danzig oder
Tilsit. Hautnah lernen sie so die weitverzweigten Wur-
zeln unserer Geschichte und Kultur kennen. Ganze
Schulen kooperieren länderübergreifend, beispielsweise
in Theaterprojekten. Nicht zuletzt kommen auch viele
osteuropäische Studenten für einen Studienaufenthalt
nach Deutschland. Über Stipendienprogramme und
Sommerakademien bringen wir junge Menschen zusam-
men. In vielen Fällen wird all dies aus Mitteln des Bun-
desvertriebenengesetzes finanziert.
Dadurch fördern wir auch den sich wandelnden Zeit-
geist der jüngeren Generation in Osteuropa. Dort gibt es
ein neues und frisches Interesse an der Geschichte und
der engen Beziehung dieser Länder zu Deutschland.
Viele junge Osteuropäer haben das Kulturerbe der einst
dort lebenden Deutschen positiv angenommen, es ist ein
Teil ihrer Lebenswelt geworden. Durch Dialog, gegen-
seitige Neugier und Austausch mit den osteuropäischen
Nachbarn entwickelt sich so ein neuer und versöhnender
Umgang mit der gemeinsamen Geschichte.
Über den Erinnerungs- und Versöhnungsaspekt hi-
naus haben diese Aktivitäten im Rahmen des Bundesver-
triebenengesetz weitere positive Effekte. Durch unsere
Maßnahmen begeistern wir junge, qualifizierte Men-
schen in Osteuropa für unsere Kultur und machen
Deutschland attraktiv. Genau diese Menschen müssen
wir erreichen, da wir durch demografischen Wandel und
Fachkräftemangel zunehmend auf ausländische Hoch-
qualifizierte angewiesen sind. Auch in der auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik wollen wir uns aus diesem
Grund noch stärker auf Osteuropa konzentrieren. Nach
jahrelanger Vernachlässigung durch die Vorgängerregie-
rungen investiert Schwarz-Gelb verstärkt an dieser
Stelle.
Selbstredend widmet sich aber nicht nur die neue Ge-
neration dem deutschen Kulturerbe in Osteuropa. Sehr
wichtig ist auch die verständigungspolitische Arbeit der
Vertriebenen und ihrer Nachkommen. Wer könnte besser
zum gegenseitigen Kennenlernen zwischen Deutschen
und Polen, Tschechen oder Rumänen beitragen als die
Vertriebenen? Der Bund der Vertriebenen leistet dafür
einen entscheidenden Beitrag – ebenso wie zur Erinne-
rung an Flucht und Vertreibung. Dafür gebühren ihm un-
ser Dank und unsere Anerkennung. Von diesem Engage-
ment profitieren nicht nur unser Zusammenleben im
Alltag und der europäische Verständigungsprozess, son-
dern davon lebt auch unsere Demokratie.
Dem Bund der Vertriebenen geht es dabei nicht da-
rum, zu verklären oder die deutsche Geschichte zu relati-
vieren. Gerade die Partei Die Linke wirft dies immer
wieder vor. Dabei sind sie selbst Weltmeister darin, Ge-
schichte zu verdrehen. Die SED und ihre Nachfolgepar-
tei verklärten nach der Wende die Geschichte des DDR-
Unrechtsstaates. So etwas haben die Vertrieben nicht ge-
tan.
Nicht zuletzt ist und bleibt Vertreibung auch ein ak-
tuelles Thema. Die Konflikte im ehemaligen Jugosla-
wien Ende der 90er-Jahre oder in der sudanesischen Re-
gion Darfur sind nur zwei Beispiele dafür. Deswegen ist
es wichtig, Flucht und Vertreibung nicht nur zu erinnern,
sondern auch offen zu thematisieren und urteilsfähig zu
bleiben. Dazu gehört es auch, die Schrecken der Vertrei-
bung und das Schicksal der Millionen Flüchtlinge ein-
dringlich zu schildern, um sie der breiten Öffentlichkeit
erfahrbar zu machen. Gerade die Aktivitäten der Stiftung
Flucht, Vertreibung, Versöhnung leisten an dieser Stelle
Wertvolles. Es ist ein Hauptanliegen der Stiftung, Ver-
treibungen als politisches Instrument und Menschen-
rechtsverletzung zu jeder Zeit und an jedem Ort zu äch-
ten. Gerade die Deutschen tragen als Täter und Opfer
von Vertreibungen besondere Verantwortung. Wir müs-
21310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
sen das Bewusstsein, dass Vertreibung unrecht ist, bei
jungen Menschen aufrechterhalten. Deutschland ist da-
für auf einem guten Weg.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Im Ein-
gangstext des Berichts der Bundesregierung über die
Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit nach § 96
des Bundesvertriebenengesetzes für 2009 und 2010 heißt
es: „Jede Generation entwickelt ihre eigenen Sichtwei-
sen auf die Geschichte und stellt deshalb jeweils neue
Fragen an die Vergangenheit.“ Wohl wahr. Aber wird
diesem Grundsatz auch die gegenwärtige Kulturarbeit
Deutschlands im östlichen Europa gerecht? Mir scheint,
das ist nicht der Fall – trotz vieler Beschwörungen des
„Miteinanders verschiedener Kulturen“, der „verbinden-
den Funktion“ eines gemeinsamen kulturellen Erbes und
seinen Möglichkeiten, als „Brücke“ zwischen den Völ-
kern zu dienen. Diesen schön klingenden Beschwörungen
zum Trotz beschreibt der Bericht eine Kulturförderung
immer noch im Geist der deutschen Vertriebenenorgani-
sationen.
So heißt es im Kapitel 2 „Struktur der Bundesförde-
rung“: „Gemäß § 96 BVFG haben Bund und Länder das
Kulturgut der historischen deutschen Ost- und Sied-
lungsgebiete im Bewusstsein der Vertriebenen und
Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des
Auslandes zu erhalten.“ Welche Rangfolge wird hier
nach wie vor festgeschrieben? Müsste es nicht ganz und
gar umgekehrt heißen: erstens im Bewusstsein des ge-
samten deutschen Volkes, zweitens des Auslandes und
drittens der Vertriebenen und Flüchtlinge? Das gilt ge-
rade dann, wenn man die europäische Dimension dieser
Kulturförderung in den Mittelpunkt stellen will und die
kulturelle Vielfalt.
Mit Verlaub: Es geht um eine Aufgabe des Bundes
und der Länder, also des gesamten deutschen Volkes,
ausgerichtet auf das östliche Europa, also das Ausland.
Diese beiden übergreifenden Kriterien müssen heutzu-
tage Grundlage der Förderung der Kulturarbeit sein –
und nicht an erster Stelle und damit vorrangig das „Be-
wusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge“.
Aber sowohl strukturell als auch praktisch geht es um
Förderung der Vertriebenenverbände und ihre Sicht auf
Geschichte und Kultur. Da heißt es im Bericht über die
seit 2009 festangestellten Kulturreferentinnen und Kul-
turreferenten, die in den Museen Ulm, Lüneburg, Gun-
delsheim, Münster, Greifswald und Görlitz arbeiten:
„Mit einem eigenen Förderetat unterstützen sie geeig-
nete Projekte Dritter insbesondere aus dem Vertriebe-
nenbereich.“ Und hier ist nicht von ein paar Tausend
Euro die Rede: 2009 und 2010 stellte der Bund für die
Arbeit der Kulturreferenten 847 000 bzw. 824 000 Euro
zur Verfügung. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass die
Kulturreferenten mit rund 447 000 Euro zusätzlich zu ei-
genen Vorhaben insgesamt 196 externe Projekte förder-
ten. Davon entfielen 144 Projektzuwendungen auf die
Landsmannschaften und andere Organisationen der
deutschen Heimatvertriebenen.
So geht das praktisch mit den Vertriebenenprojekten
immer weiter. Weswegen ja ein ganzes Kapitel des Be-
richts überschrieben ist: „Erinnerung an Flucht und Ver-
treibung wachhalten“. – Und da ist nach wie vor kein
Wort über die millionenfache Vertreibung der Juden,
Osteuropäer und Sinti und Roma, sondern es geht vor-
rangig um die Deutschen.
Wobei wir auf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ hingewiesen werden als „zukunftsweisenden
Beitrag“ dafür, dass Vertreibungen als Mittel der Politik
nachhaltig geächtet werden“. Dafür wollen wir uns ganz
und gar einsetzen – in der Tat! Allerdings muss, wer dies
wirklich will, als erstes den Krieg ächten; denn er war
und ist der Auslöser des Vertreibungselends, überall auf
der Welt.
Über die Arbeit der Stiftung erfahren wir wenig in
diesem Bericht – außer dass sie sich auf einem guten
Weg befindet. Dabei ist noch immer alles beim Alten:
Arnold Tölg und Hartmut Saenger sind nach wie vor für
den Bund der Vertriebenen als stellvertretende Mitglie-
der im Stiftungsrat. Der Zentralrat der Juden lässt des-
wegen bis heute seine Mitgliedschaft im Stiftungsrat ru-
hen. Im Beirat ist immer noch kein Mitglied der Sinti
und Roma vertreten. Von all dem und den öffentlichen
Auseinandersetzungen hierüber findet sich kein Wort im
Bericht.
Wie wäre es endlich mit der Gründung und Finanzie-
rung von multinationalen Stiftungen zur Förderung von
Kultur und Wissenschaft in multiethnischen Regionen
Europas? Wir haben dies schon 2007 in unserem Son-
dervotum zum Enquete-Bericht „Kultur in Deutschland“
gefordert. Mit 16 Millionen Euro Förderung nach § 96
BVFG ließe sich bestimmt viel ermöglichen – kulturelle
Förderung des gegenwärtigen Miteinanders in Verant-
wortung vor der Geschichte. Vielleicht finden wir einen
solchen Posten unter den Aktiva des nächsten Regie-
rungsberichts.
Grundsätzlich ist zu fragen, ob eine Kulturförderung
nach dem § 96 des Bundesvertriebenengesetzes noch
zeitgemäß ist. Zum Zeitpunkt des Entstehens des Bun-
desvertriebenengesetzes im Jahr 1953 ging es um die In-
tegration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebe-
nen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Heute aber geht es darum, das kulturelle Erbe der
deutschsprachigen Flüchtlinge und Vertriebenen als Teil
der europäischen kulturellen Vielfalt auch für spätere
Generationen zu bewahren. Hier ist es an der Zeit für ei-
nen Perspektivenwechsel. Es ist auch an der Zeit, die
bisher gesondert geförderten Einrichtungen nach und
nach in vorhandene Institutionen und damit in die „nor-
male“ Kulturförderung zu integrieren.
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Der Bericht der Bundesregierung ist am zentralen
Punkt ein Dokument des Schönredens und Verdrängens.
Er verdrängt eine der schärfsten kulturpolitischen Kon-
troversen, die es in den letzten Jahren im Bundestag
– und auch darüber hinaus – gegeben hat, eine Kontro-
verse, die im Zeitraum 2009 und 2010, über den die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21311
(A) (C)
(D)(B)
Bundesregierung berichtet, hohe Wellen schlug und die
weiter für Unruhe sorgt und längst nicht abgeschlossen
ist, nämlich die Kontroverse um die Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“. Zwar erwähnt der Bericht
den Zweck der Stiftung, nämlich „im Geiste der Versöh-
nung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und
Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext
des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen
Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen
wachzuhalten“, aber mit keinem Wort geht er darauf ein,
wie diesem Zweck Hohn gesprochen worden ist.
Die Gesetzesnovelle von 2010, die den Stiftungsrat
aufblähte, wird damit gerechtfertigt, dass die Stiftung so
der „Komplexität der Aufgabenstellung“ besser gerecht
werden sollte. Aber jeder weiß doch, dass es um einen
faulen Deal der Bundesregierung mit Spitzenfunktionä-
ren und ganz persönlich mit der Präsidentin des Bundes
der Vertriebenen, Frau Steinbach, ging. Für einen Ver-
zicht von Frau Steinbach auf einen Stiftungsratssitz bot
man dem Bund der Vertriebenen drei zusätzliche Sitze
an. Das war der Kern des Deals, der mit der Gesetzes-
novelle besiegelt wurde. Die Zeitungen im Berichtszeit-
raum sind voll vom Streit um diesen Vorgang, den Kanz-
lerin Merkel monatelang schwelen ließ und der die
Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern be-
lastete. Kein Wort darüber im Bericht der Bundesregie-
rung, auch darüber nicht, dass mit der Gesetzesnovelle
eine Art Blockwahlsystem für die Stiftungsratssitze ein-
geführt wurde, das dem Bundestag keine wirkliche Aus-
wahlmöglichkeit gibt.
Wir haben dieses Auswahlverfahren scharf kritisiert.
Und unsere Befürchtungen waren nur zu berechtigt.
Denn mit Arnold Tölg und Hartmut Saenger gelangten
Vertriebenenfunktionäre in den Stiftungsrat, die sich ge-
gen die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter
des NS-Regimes ausgesprochen bzw. Polen die Verant-
wortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu-
geschoben hatten. Der ebenfalls in den Stiftungsrat ge-
wählte Vertriebenenfunktionär Stephan Grigat hatte eine
Reise durch Ostpreußen als „Reise in ein besetztes
Land“ bezeichnet. Das sind Äußerungen und Positionen,
die dem Versöhnungszweck der Stiftung diametral ent-
gegenlaufen. Dennoch sind die drei Vertreter weiter im
Amt.
Aufgrund der problematischen Vorgänge rund um die
Stiftung verließen namhafte Wissenschaftler aus unseren
östlichen Nachbarländern den wissenschaftlichen Beirat
der Stiftung. Der Zentralrat der Juden lässt seine Mit-
gliedschaft im Stiftungsrat seit September 2010 ruhen,
und die Sinti und Roma sind dort nach wie vor nicht ver-
treten. Auch darüber wird von der Bundesregierung
nicht berichtet, genauso wenig wie über die Forderungen
aus verschiedenen Fraktionen, die Bundesmittel für die
Stiftung zu streichen und einen kompletten Neustart der
Stiftung anzugehen, der dringend nötig ist, um den Stif-
tungszweck der Versöhnung zu erfüllen.
Ein Bericht, der es schafft, Vorgänge von einer sol-
chen Tragweite schlicht auszusparen, ist mehr als man-
gelhaft. Er zeugt davon, dass die Bundesregierung vor
ihrer politischen Verantwortung davonläuft und sich ihr
nicht stellt.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für eine grundle-
gende Reform der Pflegeversicherung – Nutzer-
orientiert, solidarisch, zukunftsfest (Tagesord-
nungspunkt 16)
Willi Zylajew (CDU/CSU): Vor zwei Wochen, ge-
nauer gesagt am 26. April, fand die erste Lesung des
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes statt. Die Debatte, ins-
besondere die Redebeiträge des Ministers und der Mit-
glieder der christlich-liberalen Koalition haben gezeigt,
wohin die Reise geht.
Wir werden das Spektrum an Leistungen für die pfle-
gebedürftigen Menschen und deren Angehörige in unse-
rem Land deutlich ausweiten, insbesondere demenziell
erkrankte Frauen und Männer werden eine deutliche
Besserstellung ihrer Situation erfahren. Wir werden da-
für sorgen, dass Menschen so lange wie möglich in ih-
rem häuslichen Umfeld bleiben können. Wir stärken die
pflegenden Angehörigen, zum Beispiel durch eine bes-
sere rentenrechtliche Absicherung der Pflegeleistung.
Des Weiteren verbessern wir die ärztliche Versorgung
von pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrich-
tungen. Kurzum, das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist
eine zuverlässige Weiterentwicklung der Blüm’schen
Pflegeversicherung und gibt die richtigen Antworten auf
die Herausforderungen der demografischen Entwick-
lung.
Um die Leistungen nachhaltig zu finanzieren, erhö-
hen wir den Beitragssatz um 0,1 Prozent. Damit bleiben
die Sozialabgaben unter 40 Prozent. Das ist derzeitig
verkraftbar, schont den Geldbeutel der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer und sichert Arbeitsplätze. Aber
vor allem sorgen wir für eine verlässliche Finanzierung
der Leistungen.
Nun zum Antrag der Grünen. Er stellt eine grundle-
gende Reform der Pflegeversicherung in Aussicht, die
nutzerorientiert, solidarisch und zukunftsfest sein soll.
Die inhaltliche Richtung ist einerseits begrüßenswert,
andererseits ist es doch etwas verwunderlich, woher auf
einmal der Tatendrang kommt. Es wäre besser gewesen,
in der Zeit von 1998 bis 2005, also als die Grünen in der
Regierungsverantwortung waren, die Energien in die Er-
arbeitung von konkreten Gesetzen zu lenken. Aber was
ist damals passiert? Nichts, kein Gesetz, keine Initiativen
zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Jetzt
liegt zwar ein Antrag mit einer bedenkenswerten Leis-
tungserweiterung vor. Doch bei genauer Befassung er-
weisen sich viele Forderungen des Antrages als un-
konkret, überholt und gehen an den tatsächlichen
Gegebenheiten vorbei.
So wird beispielsweise die Weiterentwicklung des
Pflegebedürftigkeitsbegriffes gefordert. Es ist bekannt,
dass wir ebenfalls eine Weiterentwicklung wollen. Der
21312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
frühere Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeits-
begriffes hat bereits wichtige Vorarbeiten geleistet. Fakt
ist aber auch, dass eine Umsetzung der Vorschläge der-
zeit nicht möglich ist, da noch zahlreiche Fachfragen
detailliert zu klären sind. Fragen Sie den Kollegen
Wolfgang Zöller, wie intensiv zurzeit im Fachgremium
beraten wird – detailgetreu, lösungsorientiert, aber auch
kontrovers aus Sicht der verschiedenen Experten.
Es darf nicht unser Anspruch sein, Dinge einfach um-
zusetzen. Unser Anspruch muss sein, sie richtig umzu-
setzen. Daher ist es ein Gebot der Vernunft, die offenen
Fragen in aller Sachlichkeit und Ruhe zu klären, damit
ein neuer Pflegebegriff auch in der Praxis Bestand haben
kann.
Und auch wenn es bis zur Umsetzung noch einige
Zeit dauern wird, lassen wir die Menschen in der Zwi-
schenzeit nicht alleine. Bis ein konkreter Zeitplan fest-
steht, sieht das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz höhere
Leistungen für Menschen mit demenziellen Erkrankun-
gen ab Januar 2013 vor. Denn es ist klar, dass diese Men-
schen, die unbestreitbar einen höheren Betreuungsauf-
wand haben, unsere besondere Unterstützung brauchen.
Insbesondere in der Pflegestufe 0, aber auch in den Pfle-
gestufen I und II wird es zusätzliche Leistungen geben.
Für die Demenzkranken, aber auch für deren Angehö-
rige, bedeutet dies eine spürbare Verbesserung. Sie kön-
nen so eine bessere Betreuung sicherstellen und sich
ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, auch mal ein
paar Stunden Zeit nur für sich nehmen. Die Betreuung
von Demenzkranken ist eine Herausforderung, die phy-
sisch und psychisch an den Kräften zerrt. Jeder, der
schon einmal in solch einer Situation war, weiß, wie
wertvoll auch nur kleine Auszeiten sind.
Der Antrag der Grünen fordert weiterhin bessere
Wohn- und Versorgungsangebote im Sinne des Grund-
satzes „ambulant vor stationär“ als auch zielgerichtete
Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Angehöriger.
Auch in diesen Bereichen sieht das Pflege-Neuausrich-
tungs-Gesetz zahlreiche Verbesserungen vor. Mit der
Stärkung neuer Wohnformen greifen wir ein Anliegen
von vielen älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf,
die möglichst lange selbstbestimmt in den eigenen vier
Wänden wohnen bleiben wollen. Wir untermauern die-
sen Wunsch mit drei konkreten Ansätzen. Erstens stär-
ken wir den gezielten Einsatz von Einzelpflegekräften,
die für die Organisation und Sicherstellung der Pflege
sorgen. Zweitens wollen wir einen Zuschlag gewähren
für die Organisation von Wohngruppen. Und drittens
werden wir ein zeitlich befristetes Initiativprogramm
auflegen, mit dem zum Beispiel erforderliche altersge-
rechte oder barrierearme Umbaumaßnahmen gefördert
werden können.
Pflegende Angehörige sind besonderen Belastungen
ausgesetzt. Deshalb sind Rehabilitation und Vorsorge be-
sonders wichtig. Im Rahmen der bestehenden Regeln
unterstreichen wir den Anspruch pflegender Angehöri-
ger auf Vorsorge und Rehamaßnahmen. Hervorzuheben
ist, dass wir es pflegenden Angehörigen künftig ermögli-
chen, Rehamaßnahmen in solchen Einrichtungen in An-
spruch zu nehmen, die zugleich auch die Pflege und Be-
treuung des zu Pflegenden gewährleisten. Denn genau
die Abwesenheit und das Unwissen, wie es dem Pflege-
bedürftigen geht während man sich in einer mehrwöchi-
gen Behandlung weg von zu Hause befindet, sind oft-
mals Gründe, die pflegende Angehörige davon abhalten,
eine Rehamaßnahme in Anspruch zu nehmen. Mit der
hälftigen Weiterzahlung des Pflegegeldes bei Leistungen
der Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege schaffen wir
Anreize, dass sich pflegende Angehörige auch einmal
Urlaub nehmen, ohne finanzielle Einbußen zu haben.
Eine weitere große Errungenschaft im Pflege-Neu-
ausrichtungs-Gesetz ist die bessere rentenrechtliche Be-
rücksichtigung bei der Pflege mehrerer Pflegebedürfti-
ger. Sie wissen, Rentenversicherungsbeiträge werden
derzeit nur dann entrichtet, wenn der jeweilige Pfle-
gende mindestens 14 Stunden in der Woche pflegerische
Tätigkeit leistet. Sind es auch nur 30 Minuten weniger,
erhält man bislang keine Verbesserung seiner Alterssi-
cherung. Nunmehr ist es möglich, den zeitlichen Auf-
wand, den man für die Pflege benötigt, zusammenzu-
rechnen und somit bei der Rente berücksichtigen zu
lassen.
Diese Maßnahmen sind große Zeichen der Wertschät-
zung für die Arbeit der pflegenden Angehörigen. Wir
sorgen für echte Verbesserungen, die bei den Menschen
ankommen und die sie im Alltag spüren.
Eine Frage hat sich mir beim Lesen des Antrags der
Grünen immer wieder gestellt: Warum auf einmal dieser
große Tatendrang? Es hat den Anschein, als seien die
Grünen nur in der Opposition fähig, sich ernsthaft mit
dem Thema Pflege zu befassen. Ich muss mich leider
wiederholen: Während der Regierungszeit von Rot-Grün
ist in diesem Bereich nichts, aber auch gar nichts pas-
siert. Die CDU hingegen ist ein verlässlicher Partner für
die pflegebedürftigen Frauen und Männer in unserem
Land. Wir haben unter Norbert Blüm die Pflegeversiche-
rung eingeführt, wir haben sie mit dem Pflege-Weiter-
entwicklungsgesetz 2008 entscheidend vorangetrieben.
Ich denke hier insbesondere an die Einführung von Be-
treuungskräften für demenziell Erkrankte in stationären
Pflegeeinrichtungen und die Erhöhung der Betreuungs-
zuschläge für Demenzkranke in ambulanter Betreuung.
Und auch in dieser Legislaturperiode sorgen wir für eine
verlässliche Weiterentwicklung der Strukturen.
Die Grünen hingegen produzieren wohlklingende
Worthülsen, aber sobald sie in der Verantwortung sind,
platzen diese wie Seifenblasen. Ein weiterer Beleg für
diese Strategie ist übrigens auch das Handeln der Grünen
in den Bundesländern. Da, wo Grüne in den Landesre-
gierungen sind, ist das Thema Pflege für sie kein Thema
von besonderer Bedeutung. An den Taten kann man je-
denfalls nichts Bemerkenswertes erkennen.
Noch ein paar Anmerkungen zum Thema Bürgerver-
sicherung. Trotz des verlässlichen Engagements der Kol-
legin Scharfenberg, die sich seit Jahren mit ihrem Sach-
verstand in die Beratungen einbringt und auch aus der
Opposition heraus wichtige Denkanstöße liefert, ist in
Sachen Bürgerversicherung leider kein Umdenken zu
bemerken. Fakt ist: Die Finanzierung der Pflegeversi-
cherung auf ein Bürgerversicherungsmodell umzustel-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21313
(A) (C)
(D)(B)
len, führt nicht zu einer Entlastung. Kurzfristig träumen
die Grünen von mehr Beitragszahlern und mehr Geld.
Demgegenüber stehen aber auch mehr Leistungsempfän-
ger. Langfristig wäre also bei einer Bürgerversicherung
nichts gewonnen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Antrag
der Grünen keine nachhaltige Grundlage für eine nähere
Befassung bietet. Die christlich-liberale Koalition hinge-
gen hat mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ein
vielfältiges Maßnahmenpaket erarbeitet, mit dem die
Herausforderungen, die sich uns in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten stellen werden, angegangen werden
können. Darauf können sich die Menschen, aber auch
die Leistungserbringer und die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter bei ihrer guten und wichtigen Arbeit verlas-
sen.
Wir sorgen dafür, dass die pflegebedürftigen Men-
schen ein Leben in Würde führen können, dass den be-
sonderen Bedürfnissen an Demenz erkrankter Menschen
besser entsprochen wird und dass pflegende Angehörige
und Familien besser unterstützt werden.
Hilde Mattheis (SPD): Im vorliegenden Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Für eine grundlegende
Reform der Pflegeversicherung – Nutzerorientiert, solida-
risch, zukunftsfest“ werden richtige Aspekte angespro-
chen, jedoch detaillierte Ausführungen nicht geleistet.
Vieles bleibt offen, und viele Punkte für ein Gesamtkon-
zept fehlen. In vielen Punkten stimmen wir – die SPD –
mit Ihnen überein. Alle acht von Ihnen eingebrachten
Punkte sind richtig. Was fehlt – und das betone ich noch
einmal – ist eine inhaltliche Ausformulierung der einzel-
nen Forderungen. Ein Antrag mit acht knappen Punkten
auf nur zwei Seiten kann kein ganzheitliches Konzept
zur Reform der Pflegeversicherung sein.
Uns eint als Opposition die Kritik am sogenannten
Pflege-Neuausrichtungsgesetz der Regierung. Wir sind
uns einig, dass der vorliegende Gesetzentwurf der Re-
gierung die drängenden Probleme in der Pflege nicht
löst. Wir alle wollen die Umsetzung des neuen Pflegebe-
dürftigkeitsbegriffs. Da stehen wir mit der gesamten
Fachwelt auf einer Seite. Der aktuelle, zu stark soma-
tisch ausgerichtete Pflegebedürftigkeitsbegriff wird ins-
besondere den Bedürfnissen von Menschen mit einge-
schränkter Alltagskompetenz nicht ausreichend gerecht.
Mit der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und
dem damit verbundenen neuen Begutachtungsverfahren
wollen wir weg von der „Minutenpflege“ und hin zu
Teilhabe und Selbstbestimmung. Die Berichte des Bei-
rats liegen seit mehreren Jahren vor. Einer politischen
Umsetzung stünde nichts im Wege.
Im hier vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen wird in Punkt 3 die Problematik der Schnittstel-
len zwischen SGB XI, SGB IX und SGB XII aufgegrif-
fen. Auch ich sehe diese Problematik. Es ist allerdings
nicht detailliert ausgeführt, wie sie gelöst werden soll.
Darüber müssen wir sprechen und zusammen mit den
Ländern eine Lösung suchen. Auch die Stärkung der
Pflegeberatung, die in Punkt vier aufgeführt ist, kann ich
nur unterstützen. Auch dieser Punkt ist jedoch im Antrag
nicht ausreichend ausgeführt.
Wir haben damals im Pflege-Weiterentwicklungs-
gesetz die Pflegestützpunkte verankert und damit eine
wohnortnahe Beratung und Versorgung Hilfsbedürftiger
„aus einer Hand“ gewährleistet. Diese Angebotsstruktu-
ren sind für die Entlastung, Betreuung und Versorgung
von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen extrem
wichtig und müssen ausgebaut werden. Notwendig ist
eine niedrigschwellige Beratung, die auch aufsuchend
ist.
Wir brauchen eine Pflege-Infrastruktur, die einen
möglichst langen Verbleib in der eigenen Häuslichkeit
ermöglicht. Eine Pflege der Zukunft bedeutet Pflege im
Quartier und in der Kommune. Die Begleitung und Un-
terstützung der pflegebedürftigen Menschen und deren
Angehörigen braucht eine umfassende, sozialräumliche
und integrierte Sozialplanung, die nur auf örtlicher
Ebene erfüllt werden kann. In den Kommunen müssen
die Alltagsinfrastruktur, die Unterstützungsinfrastruktur
vor und bei Pflegebedürftigkeit und die Infrastruktur zur
Stärkung der Selbsthilfepotenziale ausgebaut werden.
Was darüber hinaus im Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen fehlt, ist ein Finanzierungskonzept. Der Ver-
weis auf eine Bürgerversicherung ist hier nicht ausrei-
chend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen, in den Grundsätzen sind wir uns ei-
nig. Als SPD gehen wir in unserem Positionspapier, das
auch noch als Antrag von uns eingebracht wird, detail-
lierter auf die Anforderungen einer umfassenden Pflege-
reform ein. Wir bieten ein Gesamtkonzept: Wir wollen
die Situation Pflegebedürftiger durch die Einführung des
neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs verbessern, wir wol-
len Pflegepersonen durch eine bessere Vereinbarkeit von
Pflege und Beruf entlasten, wir wollen eine Aufwertung
des Pflegeberufs unter anderem durch die Reform der
Ausbildung, wir wollen eine Stärkung der Rehabilitation
und Prävention, und wir wollen die Kommunen beim
Aufbau der Pflegeinfrastruktur unterstützen. Dies alles
wollen wir mit einer solidarischen Bürgerversicherung
finanzieren. Uns allen muss klar sein: Gute Pflege muss
uns etwas wert sein.
Ich freue mich auf den gemeinsamen Austausch mit
Ihnen und bin sicher, dass wir gemeinsam ein gutes Kon-
zept hinbekommen.
Mechthild Rawert (SPD): Pflege ist und bleibt das
große gesellschaftliche Thema, an dem sich entscheidet,
wie solidarisch wir miteinander leben, wie würdevolles
Altern ohne Angst davor, pflegebedürftig zu werden, für
alle Bevölkerungsgruppen und nicht nur für die Besser-
verdienen möglich ist. Wir brauchen dazu auch eine
nachhaltige, eine solidarische Finanzierung, wir brau-
chen die solidarische Bürgerversicherung.
Pflege geht uns alle an. Das von Bundesgesundheits-
minister Daniel Bahr am 26. April 2012 eingebrachte
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz reicht bei weitem nicht
21314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
aus. Es richtet nichts neu aus, sondern ist ein Spiel auf
Zeit.
Sie können es vielleicht nicht mehr hören; richtig
bleibt das Argument trotzdem: Für die Einbringung ei-
nes Gesetzes zur Mehrwertsteuererleichterung für Hote-
liers hat die CDU/CSU/FDP-Regierung im Jahr 2009
ganze 12 Tage gebraucht. Für die Vorlage eines Gesetzes
für die Pflege hat Schwarz-Gelb dagegen mit Heulen
und Zähneklappern, mit gegenseitigen Beschimpfungen
sage und schreibe fast drei Jahre gebraucht.
Wir alle wissen es: Ein neuer Pflegebedürftigkeitsbe-
griff ist nötig. Dieser scheitert daran, dass sich CDU/
CSU und FDP nicht auf eine adäquate Finanzierung eini-
gen können, sondern mutlos vor sich hin dilettieren, und
das, obwohl die sehr guten Vorarbeiten des Pflegebeirats
schon zum Anfang ihrer Regierungszeit 2009 vorlagen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich zum Thema
Pflegereform schon klar positioniert und begrüßt deshalb
prinzipiell die Intention des hier heute in erster Lesung
eingeführten Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
In der in der nächsten Sitzungswoche stattfindenden
Anhörung zum Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz der Bun-
desregierung wird sich zeigen, dass die Lösung der Pro-
bleme in der Pflege mit den Vorstellungen der Bundesre-
gierung nicht gelingen kann. Um eine würdevolle Pflege
in selbstgewählter, in häuslicher Umgebung in Zukunft
gewährleisten zu können, sind vielmehr grundlegende
Weichenstellungen nötig. Einige davon hat meine Kolle-
gin Hilde Mattheis in ihrer Rede bereits benannt.
Ich möchte noch zwei Punkte hinzufügen.
Erstens. Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege stär-
ken: Wir müssen endlich der sogenannten Sandwich-Ge-
neration wirksam unter die Arme greifen. Wir wollen
den Frauen und Männern, die voll im Beruf stehen, für
die Ausbildung der Kinder sorgen und gleichzeitig die
Pflege ihrer Eltern managen, wirksame und den Alltag
auch lebbar machende Rechte geben. Wir wissen, dass
sich viele dieser Mittvierziger, Mittfünfziger wegen un-
zureichenden Regelungen zur Vereinbarkeit von familiä-
rer Situation und Beruf häufig alleingelassen fühlen. Im-
mer mehr fühlen sich von den Belastungen ausgezehrt.
Die SPD möchte hier ansetzen: Wir wollen Angehöri-
gen Hilfen bei plötzlich eintretender Pflegebedürftigkeit
an die Hand geben. Dazu sollen Angehörige analog zum
Kinderkrankengeld bei plötzlich eintretender Pflegebe-
dürftigkeit einen Rechtsanspruch auf Lohnersatzleistung
erhalten. Mit diesem Rechtsanspruch auf Lohnersatzleis-
tung unterstützt, sollen sie die bis zu zehn Tage beste-
hende Freistellungsmöglichkeit nach dem Pflegezeitge-
setz für privates Pflegemanagement beanspruchen
können.
Das Familienpflegezeitgesetz der Regierung Merkel
verbessert die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht
nachhaltig. Es gibt keinen gesetzlichen Anspruch auf
eine Familienpflegezeit, keinen Kündigungsschutz, noch
wird der Anspruch auf alle Betriebe unabhängig von ei-
ner bestimmten Arbeitnehmerzahl ausgeweitet.
Wir wollen das Pflegezeitgesetz, das den Anspruch
auf eine sechsmonatige Freistellung beinhaltet, weiter-
entwickeln. Dazu wollen wir das Modell eines flexibel
handhabbaren Zeitbudgets für Angehörige von pflegebe-
dürftigen Menschen einführen. Unser Ziel ist dabei, dass
mehr Frauen und Männer sich die Verantwortung für
Sorgearbeit gleichberechtigt aufteilen.
Zweitens. Maßnahmen gegen den Personalmangel in
der Pflege: Neben besseren Arbeitsbedingungen und ne-
ben einer besseren Vergütung gehört für mich in erster
Linie auch die Reform der Ausbildungen in der Pflege
zu den wichtigsten Maßnahmen. Nur mit einer verbes-
serten bundeseinheitlichen Ausbildung werden wir mehr
junge Menschen in dieses Berufsfeld bekommen und
langfristig dort auch halten. Pflege ist ein zukunftsorien-
tiertes Berufsfeld, die Ausbildungsstrukturen sind daher
zu modernisieren.
Wir wollen als SPD-Bundestagsfraktion daher: Im In-
teresse der jungen Menschen und der überall hohen An-
forderungen im Berufsfeld Pflege soll nur noch ein Be-
rufsabschluss am Ende der gemeinsamen Ausbildung
stehen. Wir wollen eine generalistische Ausbildung von
Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege mit einer da-
ran anschließenden weiterführenden Spezialisierung.
Die Ausbildung in der Alten-, Kranken- und Kinder-
krankenpflege muss künftig gebührenfrei sein. Das von
Auszubildenden selbst zu tragende Schulgeld muss ab-
geschafft werden.
Nicht ausbildende Einrichtungen sind künftig an der
Finanzierung der Ausbildung und Ausbildungsvergü-
tung über einen Fonds zu beteiligen. Einen Wettbe-
werbsvorteil von nicht ausbildenden Unternehmen ge-
genüber Ausbildungsbetrieben darf es auch angesichts
der notwendigen Fachkräftesicherung im gesamten Be-
reich nicht geben.
Da Umschulungsmaßnahmen in der Pflege immer
wichtiger werden, ist zur Förderung des dritten Ausbil-
dungsjahres für die berufliche Weiterbildung in der Al-
ten- und Krankenpflege mit den Bundesländern eine
nachhaltige Grundlage für die Finanzierung zu erarbei-
ten. Die Förderung durch die Bundesagentur soll nach
unserem Willen bis 2013 verlängert werden.
Die Bildungslandschaft Pflege muss grundlegend re-
formiert werden. Wir wollen horizontale und vertikale
Durchlässigkeit, wollen „Kein Abschluss ohne An-
schluss“. Berufserfahrenen Pflegehilfskräften mit Eig-
nung zur Pflegefachkraft müssen Bildungswege zur
Weiterqualifizierung eröffnet werden, auch sie sollen
Aufstiegsmöglichkeiten garantiert bekommen.
Die Richtlinie zur Heilkundeübertragung muss von
den gesetzlichen Krankenkassen und Leistungserbrin-
gern schnell in die Praxis umgesetzt werden. Pflegefach-
kräfte müssen Weiterbildungsmöglichkeiten zur Aus-
übung der in der Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten
erhalten.
Und wir wollen weiterhin: Es muss in der Pflegebran-
che leistungsgerechter bezahlt werden. Die Lohnunter-
schiede in Ost und West müssen beendet werden. Die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21315
(A) (C)
(D)(B)
Tarifpartner sind aufgefordert, hier einen flächendecken-
den Tarifvertrag für eine bessere Bezahlung umzusetzen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Ich halte
diese Bundesregierung für sehr schwach bei der Moder-
nisierung der Pflege, und dabei brennt es uns allen unter
den Nägeln.
Mir macht aber Mut, dass es die vielen guten Bei-
spiele aus der Pflege gibt, die zeigen, dass unser Pflege-
nachwuchs willens ist, die Anforderungen der Pflege in
der Zukunft zu meistern.
Ansporn sind mir die vielen Menschen in der Pflege
selbst, die sich mit viel Kompetenz und Engagement für
die Pflegebedürftigen – und wir alle können von einem
Moment zum anderen dazugehören – einsetzen.
Ich danke deshalb allen Engagierten in der Pflege, in
der Pflegeausbildung für ihr tagtägliches Engagement,
für ihre Vorbildfunktion. Unsere Gesellschaft des länge-
ren Lebens braucht Sie alle als „Mutmacher“ und „An-
packer“.
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Der vorlie-
gende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt
eine Reihe von Notwendigkeiten auf, die die christlich-
liberale Koalition mit dem Pflege-Neuausrichtungs-
Gesetz bereits angegangen hat. Es ist sehr erfreulich,
dass es offenbar einen Konsens darüber gibt, dass die
Pflegebedürftigkeit insbesondere im Hinblick auf De-
menzerkrankungen neu definiert werden muss. Bei der
Fragestellung sind wir uns also im Grunde einig, doch
bei den Antworten kommen wir nicht auf einen Nenner.
Während Sie immer nur fordern und sich in überbor-
dender Lyrik ergehen, handeln wir – und das ganz konkret.
Schon im Vorgriff auf eine Neudefinition des Pflegebe-
dürftigkeitsbegriffs wird es konkrete Leistungsverbesse-
rungen für Demenzkranke geben. Uns ist bewusst, dass
Demenzkranke bislang zu wenig Leistungen erhalten,
die sie aber dringend benötigen. Daher wird es schon ab
dem 1. Januar 2013 mehr Geld gaben, und das schon ab
Pflegestufe 0. Erstmals erhält man in der Pflegestufe 0
50 Prozent der Leistungen der Pflegestufe 1. In Zahlen:
225 Euro für Sachleistungen oder 120 Euro Betreuungs-
geld. Auch in der Pflegestufe 1 gibt es mehr Leistungen
als die bestehenden Angebote von 100 bzw. 200 Euro:
554 Euro für Sachleistungen oder 305 Euro für Betreu-
ungsleistungen. In Pflegestufe 2 gibt es dann auch noch
mal ein Drittel der Pflegestufe 3: 1 250 Euro für Sach-
leistungen oder 525 Euro Betreuungsgeld.
Das sind ganz konkrete Mehrleistungen, die die Men-
schen besserstellen. Das ist immer mehr wert als umfas-
sende Ankündigungen!
Hinzu kommt, dass wir das Leistungsrecht flexibili-
sieren. Das ist dringend notwendig, weil wir von der
Minutenpflege wegkommen wollen. Zukünftig wird es
möglich sein, statt starrer Leistungskomplexe auch Zeit-
kontingente zur Versorgung und Betreuung eines Pflege-
bedürftigen abzurufen. Damit werden wir nicht nur den
tatsächlichen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen selbst
gerecht, sondern entlasten auch die pflegenden Angehö-
rigen. Denn sie sind es, die in den meisten Fällen den
eigenen Alltag und den der Pflegebedürftigen organisie-
ren und bewältigen müssen.
Wir setzen auf Wahlfreiheit und Flexibilisierung und
stärken damit ganz konkret den ambulanten Sektor, auch
deshalb, weil der Großteil der Menschen in der eigenen
Häuslichkeit und von vertrauten Menschen gepflegt wer-
den möchte. Zusätzlich stärken wir alternative Wohnfor-
men wie zum Beispiel Pflege-WG, in denen auf ganz in-
dividuelle Wünsche eingegangen werden kann.
Das Wichtigste an unserer Reform ist, dass wir ganz
konkret handeln und dass alle Maßnahmen auch seriös
finanziert sind. Im Gegensatz zum Schaufensterantrag
der Grünen steht unser Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
auf einem soliden Fundament.
Wenn man nur einzelne Punkte Ihres Antrags heraus-
greift, zum Beispiel den rechtsverbindlichen Anspruch
auf eine dreimonatige Pflegezeit bei vollem Lohnaus-
gleich und natürlich voll aus Steuermitteln finanziert,
dann hört sich das schön an, ist aber in der Realität
schlicht nicht umsetzbar. Denn: Die einzige Antwort auf
die Frage der Finanzierbarkeit Ihres ausufernden
Wunschkonzerts ist die eierlegende Wollmilchsau der
Bürgerversicherung.
Die Bürgerversicherung scheint Ihre Universalant-
wort auf alle Herausforderungen in den sozialen Siche-
rungssystemen zu sein. Selbst wenn wir dieses unsinnige
Konstrukt einführen würden, könnten wir diese Mehr-
einnahmen auch nur einmal ausgeben. Sie indes geben
jeden Euro mehrfach aus. Das ist unseriös und unverant-
wortlich. Sie gaukeln den Menschen vor: Wir nehmen
ein bisschen Geld von den Reichen und entwickeln uns
damit immer mehr in Richtung Pflegevollkaskoversiche-
rung.
Sie stellen in den Raum, eine Überführung der priva-
ten Pflegversicherung in eine Bürgerversicherung ginge
problemlos und von heute auf morgen. Damit offenbaren
Sie ein zweifelhaftes Verständnis von Eigentumsrechten.
Ich empfehle Ihnen daher einen Blick ins Grundgesetz in
den Art. 14. Solange wir dieses Grundgesetz haben, wer-
den auch die Grünen nicht so mir nichts dir nichts die
Leute enteignen können.
Eingedenk dieser Tatsachen steht Ihr gesamter
Wunschkatalog auf tönernen Füßen und lässt sich daher
nicht seriös umsetzen.
Die christlich-liberale Koalition bringt die Neuaus-
richtung der Pflege auf den Weg. Wir arbeiten intensiv
an der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs,
werden diesen sorgsam und verlässlich umsetzen und
keine Schnellschüsse machen.
Unser Konzept ist kohärent, bedarfsorientiert und rea-
listisch, und es hilft den Pflegebedürftigen und ihren An-
gehörigen konkret weiter. Wir verzichten auf leere Ver-
sprechungen und Worthülsen. Zugleich sorgen wir für
eine Finanzierung, die weder die Beitragszahler noch die
Lohnnebenkosten zu sehr belastet.
21316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Das ist seriöse und lösungsorientierte Politik und
nicht ein Wunschkonzert, wie Sie es mit Ihrem Antrag
vortragen.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Der Antrag
der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen greift
– wie auch der bereits im Verfahren befindliche Antrag
der Fraktion Die Linke im Bundestag „Pflege tatsächlich
neu ausrichten – Ein Leben in Würde ermöglichen“,
Bundestagsdrucksache 17/9393 – ein entscheidendes
Problem auf: Eine grundlegende und umfassende Re-
form der Pflegeversicherung ist längst überfällig. Die
Pflegeversicherung ist zu einem wichtigen Bestandteil
des Systems sozialer Sicherung geworden. Doch das
Fundament der Pflegeversicherung trägt seit langem
nicht mehr. Wackelig war das Konstrukt Pflegeversiche-
rung von Anfang an, denn bereits mit Einführung der
Pflegeversicherung 1995 wurde bewusst eine Fehlkon-
struktion in Kauf genommen. Von Anfang an bestimm-
ten Kostengründe das Leistungsspektrum. Deshalb soll-
ten lediglich körperliche Gebrechen bei der Feststellung
der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt werden. Die
Folge: Insbesondere Menschen mit erheblicher einge-
schränkter Alltagskompetenz werden noch heute in der
Pflegeversicherung strukturell benachteiligt. Das sind
beispielsweise Menschen, die an Demenz erkrankt sind.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung vermag es mit
ihrem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz nicht, genau die-
ses Problem anzugehen. Im Gegenteil: Die Bundesregie-
rung scheitert an der Aufgabe, eine grundlegende Re-
form der Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen.
Die Bezeichnung Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist
vermessen. Eine Neuausrichtung der Pflege wird es mit
diesem Gesetz nicht geben. Zwar sind vereinzelt zusätz-
liche Leistungen unter anderem für Menschen, die auf-
grund einer demenziellen Erkrankung auf Hilfe und Be-
treuung angewiesen sind, vorgesehen. Doch es bleibt
Stückwerk. Gerade weil nur vereinzelte und minimale
Verbesserungen geplant sind und sich nichts strukturell
an der Ausrichtung der Pflegeversicherung ändert, fällt
das Urteil zu diesem pflegepolitischen Fehlgriff von al-
len Seiten verheerend aus.
Es ist breiter Konsens, dass wir ein neues Verständnis
von Pflege in der Pflegeversicherung verankern müssen.
Dafür liegt bereits seit gut drei Jahren der neue Pflegebe-
griff vor. Der hierzu seinerzeit vorgelegte Vorschlag des
Beirats der Bundesregierung zur Überprüfung des Pfle-
gebedürftigkeitsbegriffs ist geeignet, endlich die entwür-
digende „Minutenpflege“ zu beenden und Selbstbestim-
mung und Teilhabe zum Leitbild der Pflegeversicherung
zu machen. Der Beirat hat bereits 2009 ein neues Begut-
achtungsinstrument vorgelegt, und das bisherige starre
Pflegestufenmodell könnte längst durch neue und zielge-
nauere Bedarfsgrade abgelöst werden. Doch die Bundes-
regierung scheut eine politische Entscheidung zur Um-
setzung des neuen Pflegebegriffs. Vielmehr versteckt sie
sich hinter einem neu berufenen Beirat.
Schlimmer noch: Die Bundesregierung ist überhaupt
nicht bereit, sich auf einen finanziellen Rahmen für ei-
nen neuen Pflegebegriff festzulegen. Da muss die Frage
erlaubt sein, wie ernst es der Bundesregierung mit der
Umsetzung des neuen Pflegebegriffs eigentlich ist. Wir
wissen, dass sogar einige Mitglieder des neu berufenen
Beirats Bauchschmerzen haben und nicht ernsthaft an
eine Umsetzung noch in dieser Legislatur glauben.
Die Linke ist überzeugt: Ohne eine Festlegung auf ei-
nen Finanzrahmen kann eine sachgerechte Umsetzung
des neuen Pflegebegriffs niemals gelingen. Und ich
warne eindringlich davor, den neuen Pflegebegriff dazu
zu missbrauchen, die Leistung der Pflegeversicherung
mit einem „Pflegebegriff light“ zwar in ein neues Ge-
wand zu hüllen, aber im Verborgenen Leistungskürzun-
gen zu forcieren bzw. aus Kostengründen in Kauf zu
nehmen. Womit zwangsläufig ein weiterer ernstzuneh-
mender Konstruktionsfehler der Pflegeversicherung nur
allzu offensichtlich wird: Die Pflegeversicherung ist in
ihrer Konstruktion als Teilkaskoversicherung chronisch
unterfinanziert. Die Linke hat zur Überwindung der Teil-
kostendeckung konkrete Vorschläge vorgelegt, während
die Bundesregierung einerseits eine Beitragserhöhung
ins Gesetz schreibt und andererseits mit der Aussicht auf
eine freiwillige Pflegezusatzversicherung – einer Art
Pflege-Riester – die bewährte Umlagefinanzierung der
Pflegeversicherung in Richtung Kapitaldeckung abwi-
ckeln will. Beides ist – so wie vorgesehen – ungerecht.
Beitragserhöhungen sind falsch, solange sie auf der
Grundlage einer unsolidarischen Finanzierung beruhen.
Denn einerseits ist die Trennung zwischen privater und
sozialer Pflegeversicherung ungerecht, und andererseits
ist nicht mehr begründbar, dass andere Einkommensar-
ten, wie beispielsweise Kapital-, Miet- und Pachterträge,
bei den Pflegeversicherungsbeiträgen keine Berücksich-
tigung finden.
Die freiwillige kapitalgedeckte Pflegezusatzversiche-
rung ist ein Irrweg. Das ist offensichtlich angesichts der
dunklen Wolken der Finanzkrise, die noch immer be-
drohlich am Himmel stehen. Das Geld der Menschen ist
in einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversiche-
rung besser aufgehoben, als bei der Finanzindustrie, die
es als Zubrot für ihr unsicheres Geschäft gebrauchen
will.
Die Linke hat dazu eine klare Meinung: Pflege taugt
nicht zur Geschäftemacherei, unter welchem Aspekt
auch immer. Deshalb ist es mir auch unverständlich, wa-
rum Bündnis 90/Die Grünen ernsthaft daran festhalten,
unter den Bedingungen ihrer Bürgerversicherung private
Versicherungsunternehmen einbinden zu wollen. Das
wird nicht funktionieren, wenn man ernsthaft an einer
solidarischen Finanzierung der Pflegeversicherung inte-
ressiert ist.
Wissenschaftlich belegt ist, dass mit der solidarischen
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Linken der
Beitragssatz in der Pflegeversicherung trotz Leistungs-
verbesserungen dauerhaft unter 2 Prozent gehalten wer-
den könnte. Damit könnte die finanzielle Grundlage für
eine tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversicherung
geschaffen werden. Gelingen wird das aber nur, wenn als
Sofortmaßnahme der Realwertverlust der Pflegeversi-
cherung vollständig ausgeglichen wird und die Sachleis-
tungsbeträge um weitere 25 Prozent erhöht werden. An-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21317
(A) (C)
(D)(B)
sonsten fliegen uns die Probleme in der Pflege sehr bald
um die Ohren; das prophezeie nicht nur ich.
Perspektivisch – und das sage ich, weil Gesundheits-
minister Bahr immer wieder das Gegenteil behauptet –
müssen sich die Leistungen am individuellen Bedarf der
Menschen orientieren. Das Teilkaskosystem der Pflege-
versicherung muss zur Disposition gestellt werden. An-
sonsten werden die vielschichtigen Probleme in der
Pflege langfristig nicht behoben, sei es nun die miserable
Bezahlung des Pflegepersonals, die persönliche und fi-
nanzielle Überforderung der Angehörigen und Ehren-
amtlichen und die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs
hin zum tatsächlichen Bedarf der Menschen.
Gute Pflege ist ein Menschenrecht. Es liegt in unserer
Verantwortung, dafür endlich den Stein des Anstoßes ins
Rollen zu bringen.
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf zur Pfle-
geneuausrichtung zeigt die Bundesregierung ihr Unver-
ständnis für die Belange der Pflege. Zudem unterbleibt
– anders als der Name vermuten lässt – eine grundstän-
dige Neuorientierung. Das Pflege-Neuausrichtungs-Ge-
setz verkommt zur Verbrauchertäuschung.
Ein klarer Fall für die Rubrik Mogelpackungen der
Zeitschrift der Stiftung Warentest. Dort werden Produkte
angeprangert, deren Verpackung oder deren Aufdruck
viel mehr Inhalt verspricht als tatsächlich drin ist.
Wir fordern Sie deshalb auf, dass Sie in der Pflegere-
form eine tatsächliche Neuorientierung vornehmen. Re-
formieren Sie doch mal richtig! Nichts weniger als das
ist notwendig.
Das Korrigieren einzelner Sachverhalte kann man
noch nicht als Reformprozess bezeichnen. Reformen ste-
hen für eine größere, geplante und nachhaltige Umge-
staltung bestehender Systeme.
Was wir brauchen, ist eine Pflegeoffensive, die die
strukturellen wie finanziellen Herausforderungen richtig
anpackt. Das macht unser Antrag ganz deutlich. Sie da-
gegen planen ein paar Verbesserungen, ohne dafür Sorge
zu tragen, wie das in Zukunft finanziert werden soll –
und das von einem FDP-geführten Ministerium. Da fällt
man doch vom Glauben ab!
Dass wir den Pflegebegriff einführen müssen, ist je-
dem verständlich. Das benötigt Zeit – auch das ist rich-
tig. Aber wir müssen uns doch zuerst klar darüber wer-
den, was wir bereit sind zu bezahlen, damit an Demenz
erkrankte Menschen endlich einen gesetzlich veranker-
ten Rechtsanspruch auf Leistungen erhalten. Wir Grüne
bekennen uns zu einem neuen Pflegebegriff und haben
auch einen Finanzierungsvorschlag vorgelegt. Unsere
grüne Pflege-Bürgerversicherung macht es möglich, die
Pflege auch in Zukunft solidarisch zu finanzieren und
die notwendige Leistungsausweitung durch einen Pfle-
gebegriff vorzunehmen.
Gleichzeitig müssen der Reformprozess der Pflege
und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe har-
monisiert werden. Sonst haben wir hier einen Verschie-
bebahnhof. Ältere Menschen mit einer Behinderung
werden von Einrichtungen der Eingliederungshilfe in
Pflegeheime verfrachtet, und älteren Menschen mit Pfle-
gebedarf wird die gesellschaftliche Teilhabe verweigert.
Hier besteht Handlungsbedarf.
Die Kommunen sind bei der Gestaltung der pflegeri-
schen Zukunft wichtige Verbündete. Nur mit ihnen kann
eine menschenwürdige Pflege und Lebensqualität bis
zum Schluss ermöglicht werden. Doch dazu müssen wir
die Akteure vor Ort wieder ernst nehmen und sie dazu
befähigen, in Altenhilfe-, Sozial- und Stadtplanung zu
investieren. Das geht weit über die häufig befristete Pro-
jektförderung von örtlichen Initiativen hinaus. Seien wir
doch mal ehrlich: Das sind doch alles nur Strohfeuer.
Nach der meist zweijährigen Förderphase kann man
doch keinen nachhaltigen Erfolg erwarten oder gar, dass
sich gebildete Strukturen von allein tragen.
Ein weiterer wichtiger Baustein in einer umfassenden
Pflegereform betrifft die Unterstützung pflegender An-
gehöriger – im Alltag, im Beruf, im Haushalt, aber auch
bei der Organisation von Pflege, wenn sie weit weg
wohnen und sich gar nicht um den Pflegebedürftigen
kümmern können – und ebenso der professionell Pfle-
genden. Hier können wir nicht genug investieren, um
neue Ideen und Entlastungsangebote zu entwickeln.
Wir nehmen die Pflegepolitik ernst, denken über den
Tellerrand hinaus und weiter und setzen mit unserem
Antrag ein starkes Signal.
Die Pflege ist das Thema der Zukunft. Diese Tatsache
wird von der Bundesregierung absolut verkannt, von uns
Grünen nicht!
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Schutz der biologi-
schen Vielfalt? Die Taxonomie in der Biologie
stärken (Tagesordnungspunkt 17)
Josef Göppel (CDU/CSU): Nur auf der Grundlage
einer detaillierten Kenntnis der Vielfalt des Lebens lässt
sich ebendiese Vielfalt wirksam schützen. Ich unter-
stütze daher das Bemühen um eine verbesserte Ausstat-
tung naturkundlicher Museen. Die Präsentation echter
Lebewesen und Lebensvorgänge ist gerade in Zeiten der
virtuellen Computerwelten wichtig. Nur durch greifbare
Anschauung haben Kinder und Jugendliche die Gelegen-
heit, ihr Auge an der Realität zu schulen. Die Taxonomie
spielt in der Betrachtung der Fülle des Lebens eine wich-
tige Rolle. Sie eröffnet uns die Möglichkeit, den Einzel-
fall in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen und
systematische Aussagen zu treffen. Die Taxonomie ist
das Teilgebiet der Biologie, das die verwandtschaftli-
chen Beziehungen von Lebewesen in einem hierarchi-
schen System erfasst. Von daher ist der Gedanke, die
biologische Vielfalt durch eine verbesserte Taxonomie
zu stärken, richtig.
21318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Der Antrag der SPD beinhaltet folgende Forderun-
gen: Erstens: Einigung mit den Bundesländern auf ein
Konzept für eine bessere Ausstattung der naturkund-
lichen Museen und Sammlungen; zweitens: Förderung
des wissenschaftlichen Nachwuchses im Bereich Taxo-
nomie; drittens: Etablierung eines Bundesforschungs-
programms für biologische Taxonomie; viertens: bessere
Darstellungsmöglichkeiten für naturkundliche Museen
und Sammlungen; fünftens: Ausbau der Taxonomie im
8. EU-Forschungsrahmenprogramm; sechstens: Einsatz
bei den internationalen Verhandlungen über die biologi-
sche Vielfalt für eine Regelung des Zugangs zu geneti-
schen Ressourcen und der gerechten Gewinnbeteiligung.
Zum Zeitpunkt des Antrags fand gerade die 10. Ver-
tragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt der CBD
in Nagoya statt. Dort einigte man sich auf ein Protokoll
zur Regelung des Zugangs zu genetischen Ressourcen
und der gerechten Gewinnbeteiligung bei der Nutzung
dieser Ressourcen. Damit besteht nun ein international
rechtsverbindliches Instrument zur Verhinderung von
Biopiraterie, das allen Beteiligten einen verlässlichen
Rahmen bei der Nutzung genetischer Ressourcen gibt.
Für Fälle, die nicht eindeutig im Rahmen des neuen In-
struments geklärt werden können, wurde die Einrichtung
eines multilateralen Fonds im Protokoll verankert. Im
Bereich Taxonomie hat die Konferenz von Nagoya einen
Beschluss zur globalen Taxonomieinitiative gefasst, der
die Vertragsparteien zu einem stärkeren Kapazitätenauf-
bau in der Taxonomie auffordert.
Durch die Verhandlungsergebnisse in Nagoya ist die
Forderung Nummer sechs des SPD-Antrags erfüllt. Der
in Nagoya verabschiedete Beschluss zur globalen Taxo-
nomieinitiative trägt den Anliegen des Antrags zur Stär-
kung der Taxonomie umfassend Rechnung. In der Natio-
nalen Strategie zur biologischen Vielfalt (Beschluss der
Bundesregierung vom November 2007) sind die Themen
„Taxonomie, Bedeutung naturkundlicher Museen und
Sammlungen“ und „ABS“, Access and Benefit Sharing,
aufgegriffen worden.
Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, war als Anschub für die Nagoya-Konferenz ge-
rechtfertigt. Heute sind seine Ziele großteils erfüllt.
Ich halte es jetzt für viel wichtiger, das Nagoya-Ab-
kommen durch den Deutschen Bundestag zu ratifizieren,
und zwar vor der nächsten internationalen Konferenz in
Hyderabad.
Deutschland trug in Nagoya maßgeblich zum Ver-
handlungserfolg bei. Nun müssen wir als Parlamentarier
durch eine rasche Ratifizierung zeigen, dass wir hinter
den vereinbarten Zielen stehen.
Ewa Klamt (CDU/CSU): Die biologische Vielfalt ist
die wertvollste Ressource unseres Planeten. Ihr Erhalt ist
nicht nur ethisch-moralischer Anspruch unserer Politik,
sondern wahrlich eine Existenzfrage. Trotzdem schreitet
der Biodiversitätsverlust in alarmierendem Tempo vo-
ran. Das Ziel der internationalen Gemeinschaft, das Ar-
tensterben bis zum Jahr 2012 signifikant zu reduzieren,
ist weit verfehlt worden. Hier müssen wir dringend
nachsteuern! Die laufende UN-Dekade zur biologischen
Vielfalt, die die Vereinten Nationen bis 2020 ausgerufen
haben, trägt entscheidend dazu bei, dass die Biodiversi-
tät zunehmend in den Fokus von Politik und Gesellschaft
rückt.
Die Antragsteller haben selbst in der Debatte im Aus-
schuss dargestellt, dass das Hauptanliegen ihres Antrags
darin besteht, den Schutz der biologischen Vielfalt zu si-
chern. In diesem Anliegen sind wir uns grundsätzlich ei-
nig. Die Stärkung der Taxonomie kann dabei wichtige
Impulse setzen. Die Beschreibung neuer Arten und de-
ren Einordnung in ein natürliches System aufgrund ihrer
verwandtschaftlichen Beziehungen sind unverzichtbarer
Bestandteil der Biodiversitätsforschung. Es können nur
Arten beforscht werden, die man auch kennt. Und hier
gibt es noch viel zu tun. Schätzungen zufolge ist erst ein
Zehntel aller Arten überhaupt bekannt.
Allerdings halten wir, die CDU/CSU-Fraktion, für
den Erhalt der Biodiversität einen breiteren, mehrere
Fachdisziplinen umfassenden strategisch angelegten
Förderansatz für zielführender. Und es ist ja keineswegs
so, als würde im Bereich der Taxonomie nichts getan:
Die Taxonomie wird national wie international mit etwa
15 Millionen Euro bzw. 20 Millionen Euro gefördert.
Damit wird dieser Bereich bereits stärker gefördert als
andere Teildisziplinen der Biodiversitätsforschung.
Neben den bereits in den zurückliegenden Debatten
aufgezeigten Initiativen wie das mit dem 2 Milliarden
Euro geförderten Forschungsrahmenprogramm „For-
schung für nachhaltige Entwicklung“ haben Bundesfor-
schungsministerium und Bundesumweltministerium im
Dezember letzten Jahres gemeinsam eine neue Förder-
bekanntmachung zur Umsetzung der Nationalen Strate-
gie zur biologischen Vielfalt veröffentlicht. Für entspre-
chende Projekte stehen in den nächsten sechs Jahren
30 Millionen Euro bereit. Selbstverständlich können
auch Anträge zur Taxonomie eingereicht werden.
Das „German Barcode of Life“-Projekt – kurz:
GBOL –, das vom Bundesforschungsministerium mit
5 Millionen Euro gefördert wird, hat die Inventarisie-
rung und genetische Charakterisierung der Tiere, Pflan-
zen und Pilze Deutschlands zum Ziel. Die Projektpartner
stellen ihre professionelle taxonomische Expertise und
ihre bereits existierende Infrastruktur zur Verfügung, um
umfassend und flächendeckend die Tier- und Pflanzen-
arten Deutschlands zu sammeln, zu katalogisieren, wis-
senschaftlich zu beschreiben, zu sequenzieren und in die
kostenlose globale Referenz-Barcode-Datenbank „BOLD“
einzuspeisen. Auf diese Daten können die Forscher zu-
greifen, um taxonomische Fragen zu lösen.
Wenn nach Angaben von Taxonomen das eigentliche
Problem darin besteht, dass Universitäten und Naturkun-
demuseen mehr Stellen schaffen müssten, um den Taxo-
nomen eine berufliche Perspektive zu bieten, ist dies
eine nachvollziehbare Forderung. Verantwortlich für die
Personalentwicklung sind in erster Linie aber die Hoch-
schulen und die außeruniversitären Forschungseinrich-
tungen. Die Sicherstellung der hierfür notwendigen
Grundfinanzierung ist Aufgabe der Länder.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21319
(A) (C)
(D)(B)
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
insgesamt ist uns ein zentrales Anliegen. Dass die ak-
tuelle Lage unbefriedigend ist, haben wir gerade in der
gestrigen Debatte im Ausschuss festgestellt. Hier besteht
Konsens. Daher hat die Koalition auch den Antrag „Ex-
zellente Bedingungen für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs fortentwickeln“ eingebracht. Untätig ist der Bund
trotz föderaler Hemmnisse jedoch keineswegs. Mit dem
„Pakt für Forschung und Innovation“ steigen die Zu-
schüsse für die gemeinsam mit den Bundesländern ge-
förderten Forschungseinrichtungen in den Jahren 2011
bis 2015 jährlich um 5 Prozent. Von der Erhöhung dieser
Zuschüsse profitieren indirekt auch die DFG-Pro-
gramme zur Förderung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses. Ferner wurden die Promotionsstipendien der
zwölf durch das Ministerium für Bildung und Forschung
unterstützten Begabtenförderungswerke ausgebaut. In
der dritten Runde der Exzellenzinitiative wurde das För-
dervolumen um 30 Prozent auf rund 2,7 Milliarden Euro
mit einer Laufzeit bis 2017 gesteigert. „Hochschulpakt
2020“ und Qualitätspakt für Lehre fördern gleichfalls in-
direkt die Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses
durch neue Einstellungsmöglichkeiten. Mit ihren Pro-
grammen haben Bund und Länder dafür gesorgt, dass
auch die „kleinen Fächer“ profitieren und eine faire
Chance erhalten.
Beim Schutz der biologischen Vielfalt sind wir uns
alle einig. Zulasten anderer anwendungsorientierter und
problemorientierter Biodiversitätsforschung hierfür ein
„Sonderprogramm“ für den Taxonomie-Nachwuchs auf-
zulegen, halten wir jedoch nach wie vor nicht für den
richtigen Weg.
René Röspel (SPD): Das Thema der Taxonomie in
der Biologie steht heute zu später Stunde auf der Tages-
ordnung. Das ist schade, denn, wie ich noch ausführen
werde, handelt es sich hierbei um ein Thema, das mehr
Aufmerksamkeit, auch in der Politik, verdient hätte.
Bei der Taxonomie handelt es sich um die Wissen-
schaft der systematischen Bestimmung und Einteilung
von Tieren und Pflanzen in Kategorien wie Familie, Gat-
tung und Art. Nachgewiesen sind auf unserer Erde circa
1,5 bis 1,75 Millionen Pflanzen- und Tierarten. Schät-
zungen gehen aber davon aus, dass es weltweit mindes-
tens zwischen 13 und 20 Millionen Arten gibt. Viele Ar-
ten sind bisher noch nicht entdeckt und wissenschaftlich
eingeordnet worden. Die Benennung neuentdeckter
Tiere und Pflanzen fällt ebenfalls in die Arbeit von Ta-
xonomen. Man geht heute davon aus, dass täglich zwi-
schen 2 und 130 Arten aussterben. Da jede Art seine
Rolle innerhalb des Ökosystems hat, geht dabei nicht nur
die Art in ihrer Einzigartigkeit unwiderruflich verloren,
sondern es kann im Zweifel Auswirkungen auf das ge-
samte System haben. Die Taxonomie liefert somit wich-
tige Informationen und Daten zum Schutz der biologi-
schen Vielfalt. Taxonomen werden aber auch bei der
ökologischen Beurteilung von Biotopen im Rahmen von
Umweltverträglichkeitsprüfungen oder beim Monitoring
von geschützten Gebieten angefragt. Auch zur Bestim-
mung invasiver Arten, die Millionenschäden verursa-
chen können, wird auf die Taxonomie zurückgegriffen.
Die Taxonomie bildet somit eine Grundlage für viele
Wissenschaftsgebiete. Immer wichtiger werden die Fä-
higkeiten und Kenntnisse von Taxonomen aber auch au-
ßerhalb der Biologie. So greifen immer mehr Branchen
der Wirtschaft auf das Wissen der Taxonomie zurück.
Bereits heute existieren mehr und mehr Produkte auf Ba-
sis pflanzlicher oder tierischer Bestandteile. Allein in der
chemischen Industrie betrug der Anteil nachwachsender
Rohstoffe 2008 bereits 13 Prozent. Die Umstellung von
einer erdölbasierenden hin zu einer Produktion auf Basis
nachwachsender Rohstoffe wird diesen Trend weiter
verstärken.
Wenn man sich die Liste der Anwendungsmöglich-
keiten der Taxonomie anschaut, könnte man meinen,
dieser Wissenschaftszweig müsste von Politik und Wirt-
schaft doch eigentlich in jedem möglichen Maße unter-
stützt werden. Aber nein, genau das Gegenteil ist in
Deutschland der Fall. Die Taxonomie blutet hier lang-
sam aus. So gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für Taxo-
nomie mehr. In der Wissenschaft fehlen somit Stellen für
angehende Taxonomen. Ohne Berufs- und Ausbildungs-
chancen bricht auch der wissenschaftliche Nachwuchs
weg, und das in einer Situation, wo es bereits heute für
bestimmte Tier- oder Pflanzenarten weltweit nur noch
eine Expertin oder einen Experten gibt. Wenn der oder
diese stirbt, dann geht mit dieser Person unwiderruflich
das gesamte nicht niedergeschriebene Wissen und vor al-
lem viel Erfahrung über diese Art verloren. Können und
wollen wir uns das in unserer „Wissensgesellschaft“
wirklich leisten? Ich denke, nein! Insbesondere, wenn
man bedenkt, welche Herausforderungen im Bereich der
Biodiversität, des Klimawandels, aber auch der Energie
und Medizin noch vor uns liegen.
Ende 2010 hat sich eine Arbeitsgruppe von Nach-
wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die
„Jungen Systematiker“, mit einem offenen Brief an Poli-
tik, Wissenschaft und Gesellschaft gewandt. Dabei for-
dern sie, unter anderem das Ausbildungs- und For-
schungsfach Taxonomie gezielt wiederzubeleben,
langfristige Perspektiven für Taxonomen zum Beispiel
durch unbefristete Stellen im universitären Mittelbau zu
schaffen, ein spezielles Forschungsprogramm zur Förde-
rung der Taxonomie einzurichten und für eine bessere
finanzielle Unterstützung der naturhistorischen Museen
und Botanischen Gärten zu sorgen. Als SPD-Bundes-
tagsfraktion teilen wir diese Forderungen voll und ganz.
Sie finden sich auch in unserem Antrag wieder.
Wenn man sich die Reden zur ersten Lesung unseres
Antrages vom November 2010 zu Gemüte führt, hat man
den Eindruck, dass selbst die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU und FDP unseren Analysen und Forde-
rungen zustimmen können. So stellt Frau Klamt von der
CDU/CSU zum Beispiel den positiven Beitrag der Taxo-
nomie für die Biodiversität heraus. Und Frau Brunkhorst
von der FDP verweist auf den Nachwuchsmangel im Be-
reich der Taxonomie in Deutschland. Umso unverständ-
licher ist mir, warum die Fraktionen von CDU/CSU und
FDP im Ausschuss gegen unseren Antrag votiert haben.
Und bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Argu-
ment, dass die Taxonomie nur ein Wissenschaftsbereich
von vielen sei, der sich mit dem Artenschwund und der
21320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Biodiversität auseinandersetzt. Denn erstens benötigen
wir, wie oben beschrieben, die Taxonomie eben nicht nur
zum Schutz der Biodiversität, und zweitens stellt die Ta-
xonomie ja gerade die Grundlage für die Biodiversitäts-
forschung dar. Oder wie wollen Sie ein Gebiet schützen,
wenn niemand bestimmen kann, welche Arten dort über-
haupt leben? Entschuldigen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen, aber Ihr Argument ist
so absurd, wie wenn Sie einem Bauarbeiter sagen, ein
Fundament sei für den Hausbau unwichtig!
Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der FDP, ich könnte ja noch nachvollzie-
hen, dass es Ihnen einfach schwerfällt, einem guten An-
trag einer Oppositionsfraktion zuzustimmen. Aber wenn
dem so wäre, warum haben Sie dann nicht einfach einen
eigenen Antrag verfasst? Genug Zeit hatten Sie dafür
seit Oktober 2010, dem Zeitpunkt der Einbringung unse-
res Antrages, nun wirklich. Mit der Presseberichterstat-
tung, unter anderem auch zur ersten Lesung unseres An-
trages, müsste doch selbst Ihnen aufgefallen sein, dass
die Situation der Taxonomie auch über die Grenzen der
Biologie als Problem wahrgenommen wird. Außerdem
haben Sie hoffentlich doch auch Gespräche mit betroffe-
nen Taxonomen geführt. Wieso verschließen Sie sich de-
ren Argumenten? Nichts zu tun ist in so einem Fall doch
keine Option.
Insofern: Springen Sie zum Schutz der Biodiversität
und der Verbesserung der Arbeits- und Ausbildungssitua-
tion von Taxonomen in Deutschland über Ihren Schat-
ten, und stimmen Sie unserem Antrag zu.
Dr. Peter Röhlinger (FDP): Biodiversität ist ein
sehr wichtiges Thema; da stimmen wir den Kolleginnen
und Kollegen von der SPD durchaus zu. Eine Stärkung
nicht nur, aber auch zum Beispiel der Taxonomie, trägt
mit Sicherheit zum Schutz der biologischen Vielfalt bei.
Die SPD sieht hier Defizite. Deshalb möchte ich einmal
aufzeigen, was wir auf diesem Gebiet bereits auf den
Weg gebracht haben.
Die naturwissenschaftlichen Museen mit Forschungs-
aufgaben sind in die Leibniz-Gemeinschaft aufgenom-
men worden und werden somit je zur Hälfte vom Bund
und von den Ländern finanziert. Mit dem Pakt für For-
schung und Innovation haben wir diesen Forschungs-
museen in Frankfurt am Main – Forschungsinstitut und
Naturmuseum Senckenberg –, Bonn – Zoologisches For-
schungsmuseum Alexander Koenig –, Berlin – Museum
für Naturkunde –, Görlitz – Staatliches Museum für Na-
turkunde – und Dresden – Staatliche Naturhistorische
Sammlungen – Planungssicherheit bis 2015 gegeben.
Bis 2015 können sie mit einem Mittelaufwuchs von etwa
5 Prozent pro Jahr rechnen. Das ist beachtlich in einer Zeit,
in der die Haushaltskonsolidierung oberstes Ziel ist.
Das UN-Übereinkommen über die biologische Viel-
falt setzen wir in der nationalen Biodiversitätsstrategie
um. Wir unterstützen im Rahmen dieser Strategie For-
schungsvorhaben zum Schutz der biologischen Vielfalt
mit etwa 15 Millionen Euro pro Jahr. Etwa 330 Ziele
wurden definiert und rund 430 Maßnahmen konzipiert,
die im Rahmen der UN-Dekade „Biologische Vielfalt“
bis 2020 dazu beitragen werden, dem Artenverlust ent-
gegenzuwirken.
Eine solche nationale Strategie geht über die Förde-
rung einer einzelnen Disziplin, also zum Beispiel der Ta-
xonomie in der Biologie, weit hinaus. Sie ist sowohl hin-
sichtlich der Fachdisziplinen als auch hinsichtlich der
Akteure sehr viel breiter angelegt. Nicht nur Wissen-
schaftler sind angesprochen, sondern die ganze Gesell-
schaft. Die Länder und Kommunen sind ebenso einbezo-
gen wie Waldbesitzer, Landnutzer und Naturschutz-
verbände. Viele machen mit. So haben zum Beispiel
60 Kommunen aus ganz Deutschland am 1. Februar
2012 in Frankfurt am Main das Bündnis „Kommunen für
biologische Vielfalt“ gegründet.
Ende April 2012 haben die UN beschlossen, das UN-
Sekretariat des internationalen Wissenschaftlerrats für
Biodiversität – IPBES – in Bonn anzusiedeln. Mit dieser
Entscheidung wird das deutsche Engagement für den Er-
halt der biologischen Vielfalt auch international aner-
kannt.
Ebenfalls Ende April hat die DFG die Einrichtung ei-
nes neuen Forschungszentrums zur Biodiversität in
Leipzig beschlossen. Ab 2012 werden hier interdiszipli-
när und auf international sichtbarem Niveau verschie-
denste Forschungsaktivitäten zur Biodiversität gebündelt
und in den kommenden vier Jahren mit rund 33 Millio-
nen Euro gefördert. Der Standort ist Leipzig; die Univer-
sitäten Leipzig, Jena und Halle-Wittenberg haben sich
gemeinsam erfolgreich um dieses Forschungszentrum
beworben. Darüber freue ich mich natürlich ganz beson-
ders.
Wir unternehmen also einiges zum Schutz der biologi-
schen Vielfalt. Den vorliegenden Antrag der SPD können
wir nicht unterstützen, denn die Taxonomie in der Biolo-
gie ist nur eine Facette des großen Themenspektrums
Biodiversität.
Angelika Brunkhorst (FDP): Rund 10 Millionen
Tiere und Pflanzen, die auf unserer Erde leben, sind un-
erforscht. Gleichzeitig kämpfen wir weltweit mit einem
ungebremsten Artensterben. Somit gehen uns tagtäglich
Tiere und Pflanzen verloren, die möglicherweise segens-
reiche Eigenschaften besitzen, sei es als Vorbild für tech-
nische Entwicklungen oder als Heilmittel in der Medi-
zin. Das ist eine Entwicklung, der wir entgegentreten
müssen. So weit stimmen wir Liberale mit dem Antrag
der SPD überein.
Anfang der Woche skizzierte Professor Johannes Vogel,
der neue Generaldirektor des Museums für Naturkunde
in Berlin, seine Vision von der Taxonomie der Zukunft.
Er fordert eine „gläserne Biodiversitätsfabrik“ und den
Artencheck anhand des genetischen „Barcoding“. Beim
Barcording geben kleinste Gewebeteile Aufschluss über
Verwandtschaftsverhältnisse und helfen bei der Artab-
grenzung. So werden Tiere und Pflanzen nicht mehr nur
nach ihrer Struktur und Form kategorisiert, sondern auch
mithilfe ihrer DNA. Automatisiert bringt dies eine im-
mense Zeitersparnis. In den kommenden 50 Jahren
könnte so die gesamte biologische Vielfalt erfasst und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21321
(A) (C)
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dokumentiert werden – ein ambitioniertes Ziel, zu dem
neue Wege beschritten und Kooperationen geschlossen
werden müssen. Vor allem gilt es, Wissen transparent zu
machen und weltweit zu vernetzen. Die Finanzierung
des teuren Projekts soll die Wirtschaft übernehmen, die
letztlich von den Ergebnissen profitieren wird. Arten-
vielfalt soll finanziell messbar werden. Nur so lässt sich
das Artensterben aufhalten. Dies ist ein zukunftsweisen-
der Vorschlag der Wissenschaft. Hieran zeigt sich, dass
auch ohne Druck der Politik die Wissenschaft innovative
Lösungsvorschläge präsentieren kann, ganz ohne Forde-
rungskatalog der SPD.
Auch bei der Förderung sind wir dem Antrag der SPD
voraus. Die Bundesregierung hat in Abstimmung mit
den Ländern die naturwissenschaftlichen Museen mit
Forschungsaufgaben gestärkt, indem sie in die Leibniz-
Gemeinschaft eingegliedert wurden. Die Museen erhal-
ten somit eine 50/50 Bund-Länder-Förderung. Das
betrifft das Forschungsinstitut und Naturmuseum
Senckenberg in Frankfurt am Main, das Zoologische
Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn, das
Museum für Naturkunde in Berlin, das Staatliche Mu-
seum für Naturkunde Görlitz und die Staatlichen Natur-
historischen Sammlungen Dresden. Mit dem Pakt für
Forschung und Innovation wird diesen Forschungs-
museen bis 2015 ein jährlicher Mittelaufwuchs von rund
5 Prozent zugesichert.
Im Rahmen der Nationalen Biodiversitätsstrategie
werden die notwendigen Forschungsarbeiten zum
Schutz der biologischen Vielfalt unterstützt. 2011 wurde
das neue Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“ offi-
ziell gestartet. Das Förderprogramm soll die Umsetzung
der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt unter-
stützen. 15 Millionen Euro werden dafür ab sofort jähr-
lich im Bundeshaushalt bereitgestellt. Seit 2012 bündeln
das Bundesforschungsministerium und das Bundesum-
weltministerium in einer gemeinsamen Förderinitiative
ihre Kräfte bei der Umsetzung der Nationalen Strategie
zur biologischen Vielfalt.
Der vorliegende SPD-Antrag beschreibt die Notwen-
digkeit einer umfassenden Bewahrung der Biologischen
Vielfalt und fordert eine Stärkung der Taxonomie. Hier-
bei sind wir mit Ihnen einer Meinung. Jedoch fordern
wir nicht nur, wir handeln bereits. Ihr Antrag hinkt der
Entwicklung hinterher. Deshalb lehnen wir den SPD-
Antrag ab.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): In den vergangenen
Tagen erschien eine Studie der finnischen Akademie der
Wissenschaften, die auch hierzulande für Furore sorgte.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforsch-
ten den Zusammenhang zwischen der Umgebung, in der
Kinder aufwachsen, und ihrer Neigung zu Allergien als
Jugendliche. Das Ergebnis: Je vielfältiger die natürliche
Flora und Fauna war, mit der die Kinder in Berührung
kamen, umso niedriger die Anfälligkeit für Allergien.
Dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Die Biodiversi-
tät, die kaum ermessliche Vielfalt unserer biologischen
Umwelt, ist kein Accessoire romantischer Naturverklä-
rung oder alleiniger Gegenstand verschrobener Schmet-
terlingssammler.
Der Reichtum an Arten und Gattungen dient uns allen
als existenzielle Lebensgrundlage – in Fragen der Ernäh-
rung, des Bodens, der Gesundheit. Wenn diese Vielfalt
abnimmt, weil etwa 100 Arten täglich aussterben, dann
kann dies Folgen nachsichziehen, deren Komplexität wir
nicht beherrschen. Die Bedeutung der Biodiversität lässt
sich daher durchaus mit der des globalen Klimas verglei-
chen.
Kürzlich wurde die Internationale Plattform für Bio-
diversität und Ökosystemdienstleistungen (IPBES) ge-
gründet, die in etwa dem Weltklimarat vergleichbar ist.
Man entschied sich für Bonn als Sitz dieser Plattform.
Von hier aus soll zukünftig das Wissen über Artenvielfalt
gebündelt und zu fundierten Beratungen für die Politik
entwickelt werden. Dass diese wichtige Einrichtung in
unserem Land gegründet wird, sollte uns allen als Ver-
pflichtung gelten, mehr für die Erforschung des Arten-
sterbens und den Kampf dagegen zu tun. Alle bisherigen
Vereinbarungen der Staatengemeinschaft, den Verlust
von Arten zu stoppen, sind bisher gescheitert. Bereits
2010 sollte das Ziel erreicht sein, 2010 ist es um weitere
zehn Jahre aufgeschoben worden.
Die Plattform wird allerdings keine eigene For-
schungseinrichtung. Sie ist darauf angewiesen, dass die
Staaten der Welt, insbesondere die forschungsstarken
Industriestaaten, dieses Forschungsfeld entsprechend
ausbauen. Es ist richtig, dass die Bundesregierung Mittel
für die Unterstützung von Entwicklungsländern in der
IPBES zugesagt hat. Zusätzlich muss jedoch auch die
Forschungslandschaft im eigenen Land aus- und nicht
abgebaut werden.
Ich freue mich daher sehr, dass das neue DFG-For-
schungszentrum zur Biodiversität in meiner Heimatuni-
versität Halle und in Leipzig sowie Jena entsteht. Mit
33 Millionen Euro für vier Jahre können wir wirkliche
Wissenssprünge auf hohem Niveau erreichen. Die Ein-
richtung dieses Zentrums sehe ich als hoffnungsvolles
Zeichen gegen den schleichenden Bedeutungsverlust der
Biodiversität in der Forschungsförderung. Gebraucht
werden neben einer kontinuierlichen Nachwuchsförde-
rung auch endlich wieder feste Lehrstühle, die ein sol-
ches Forschungsfeld auf lange Frist verankern. Auch für
das neue Rahmenprogramm der EU „Horizont 2020“
müssen seitens der Bundesregierung klare Initiativen für
eine Stärkung der Taxonomie und der Biodiversitätsfor-
schung ergriffen werden.
Die Erhaltung der Artenvielfalt ist nichts, womit sich
kurzfristig Märkte schaffen und Produkte der Green
Technologies verkaufen lassen. Diese Aufgabe verlangt
von uns eher eine Entschleunigung und eine konzen-
trierte Folgenabschätzung unseres eigenen politischen
und ökonomischen Handelns. Wenn wir den Reichtum
der Natur für uns nutzen wollen, etwa in der Bionik,
dann müssen wir ihn auch erhalten.
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Es heißt immer wieder, dass Wissen Macht
21322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
sei; auf jeden Fall sollte man Entscheidungen nicht ohne
das nötige Wissen fällen. Im Bereich des Biodiversitäts-
schutzes sind wir – das müssen wir uns leider eingeste-
hen – ziemlich ahnungslos und damit auch machtlos.
Weil es das zu ändern gilt, begrüßen und unterstützen
wir den Antrag zum Schutz der biologischen Vielfalt
(Drucksache 17/3484) ausdrücklich.
Leider müssen wir aber auch feststellen, dass die De-
batten um den Antrag zum Teil ziemlich am Thema vor-
beigegangen sind. Der Antrag stellt richtigerweise fest,
dass wir ein enormes Problem im Forschungsbereich der
Taxonomie haben.
Da ist es für mich aber schon verwunderlich, dass die
Biodiversitätsforschung und speziell die Taxonomie in
einem Atemzug mit der Nationalen Forschungsstrategie
zur BioÖkonomie behandelt wurde. Denn in dieser For-
schungsstrategie ist die Taxonomie mit keiner Silbe er-
wähnt, und inhaltlich zielt die Nationale Forschungsstra-
tegie zur BioÖkonomie auch in eine andere Richtung.
Die Forschungsstrategie formuliert die „verantwor-
tungsvolle Gentechnik“ als eines ihrer Ziele und wider-
spricht somit dem eigentlichen Ziel des Antrags unserer
Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Ziel des
Antrags ist es, die biologische Vielfalt zu schützen, dazu
diese Vielfalt kennenzulernen, ihre Funktionen zu be-
greifen und besser bestimmen zu können. Dazu muss die
Taxonomie gestärkt werden, denn ohne Wissen das Wis-
sen über die Arten kommen wir beim Schutz der Arten-
vielfalt nicht weiter.
Es gibt heute leider zu wenig Nachwuchswissen-
schaftlerinnen und -wissenschaftler, die in diesem Ge-
biet ausgebildet werden. Somit fehlen uns zunehmend
jene Expertinnen und Experten, die über die biologische
Vielfalt konkret Auskunft geben können, sie erfassen
und dokumentieren könnten.
Die Biodiversitätsforschung hat in den letzten 20 Jah-
ren trotz stagnierender finanzieller Unterstützung Fort-
schritte bei Erkenntnisgewinn und interdisziplinärer Ver-
netzung gemacht, weist aber immer noch eklatante
Defizite auf. Millionen von Arten sind noch immer un-
entdeckt. Viele von ihnen rottet der Mensch aus, bevor er
sie überhaupt kennengelernt hat. Große Ökosysteme wie
die Tiefsee, der Boden oder das Grundwasser sind noch
weitgehend unerforscht. Das Verständnis der funktiona-
len Zusammenhänge innerhalb von Ökosystemen und
die Wirkung menschlicher Aktivitäten darauf ist für
viele Systeme noch lückenhaft.
Die Taxonomie schafft eine der Grundlagen für Maß-
nahmen, die auf biologische und ökologische Systeme
und ihren Schutz abzielen. Eines scheint klar: Um arbei-
ten und forschen zu können, benötigen die Wissenschaft
und die Forschung im Bereich der Biodiversität mehr ge-
sellschaftliche Unterstützung und Anerkennung. Leider
gehört aber gerade die Taxonomie zu den vernachlässig-
ten Wissensgebieten, die als vermeintlich nachrangig an-
gesehen werden, zumindest in den Augen der CDU/CSU
und der FDP.
Nationale wie internationale Anforderungen im Be-
reich der Biodiversitätspolitik haben die Biodiversitäts-
forschung wieder etwas gestärkt. So begrüßen wir es,
dass das UN-Sekretariat des internationalen Wissen-
schaftlergremiums für Biodiversität, IPBES, in Bonn an-
gesiedelt werden soll. Damit erwarten wir aber auch von
der Bundesregierung, dass die Biodiversitätsforschung
und insbesondere die Taxonomie in Deutschland ihre ge-
bührende Wertschätzung in Wissenschaft und Forschung
erhält und dies auch durch eine bessere Förderung zum
Ausdruck gebracht wird.
Der Verlust von Arten, Lebensräumen und geneti-
scher Vielfalt bedeutet ein kaum kalkulierbares Risiko
für die Integrität unserer Umwelt, unserer Landnut-
zungssysteme, der natürlichen Rohstoffquellen, der Was-
serversorgung großer Regionen etc., erst recht, wenn wir
zugeben müssen, dass wir von den Zusammenhängen
und den Akteuren in diesen Ökosystemen nur ein extrem
lückenhaftes Wissen haben.
In den Hochschulen muss die wissenschaftliche Aus-
bildung von Biologen, Taxonomen, Biogeografen und
Umweltbildungsfachleuten wieder einen größeren Stel-
lenwert erhalten. Gesamtstaatliche Förderinstrumente
können Anreize schaffen, mit denen eine gewisse über-
regionale Steuerung möglich ist. Eine nationale Schwer-
punktbildung der vorhandenen Fachkompetenzen und
Sammlungsressourcen muss begonnen werden. Damit
muss ermöglicht werden, auf aktuelle Entwicklungen
forschungspolitisch schnell zu reagieren. Ebenso müssen
entsprechende Forschungsprojekte besser europäisch
vernetzt und international angebunden werden.
Ein weiteres spezielles Problem im Bereich der Bio-
diversitätsforschung stellen die Sammlungen dar, und zu
Recht verlangt der Antrag nach einem besseren Konzept
für die Erhaltung dieser Sammlungen. Der Verlust von
Sammlungen ist gleichzusetzen mit dem Verlust von
Wissen, da jeweils große Teile der Sammlungen unwie-
derbringlich sind. Es kommt darauf an, das vorhandene
Wissen zu bewahren und zu erweitern.
Deutschland hat sich international zur Erhaltung seiner
naturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Sammlun-
gen verpflichtet. Doch diesen Verpflichtungen wird die
Politik von Schwarz-Gelb nicht gerecht. Sammlungen
sind unverzichtbare Institutionen im Gefüge der globa-
len Forschungsinfrastruktur; sie tragen darüber hinaus
zur Ausbildung von Spezialisten bei und vermitteln na-
turwissenschaftliches Wissen an die Öffentlichkeit, Inte-
ressenverbände, Schülerinnen, Schüler und Studierende
und sind somit wichtige Partner für den Naturschutz, die
Raum- und Landschaftsplanung sowie für staatliche Be-
hörden. Doch die personelle Besetzung der Forschungs-
museen gestaltet sich zunehmend dramatisch; für viele
Arbeitsgebiete und Organismengruppen gibt es bereits
keine Spezialisten mehr. Daher bedarf es der Auflage ei-
nes Förderprogramms und eines umfassenden Konzepts
für wissenschaftliche Sammlungen analog zur Förder-
ung von Sammlungen im Bereich der Kultur, zum Bei-
spiel für die Rettung und dauerhafte Erhaltung akut
bedrohter Sammlungen oder zur Modernisierung der
Sammlungsinfrastruktur einschließlich der Digitalisie-
rung und Stärkung der arbeitsteiligen Zusammenarbeit
zwischen den Sammlungen. Hier muss die Bundesregie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21323
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rung deutlich aktiver werden und endlich die Zeichen
der Zeit erkennen und ihre Verpflichtungen wahrneh-
men. Indem sie eine zusätzliche Förderung der Taxono-
mie als „nicht zielführend“ ablehnt, ignoriert sie die Be-
deutung der Taxonomie und der taxonomischen
Sammlungen für den Naturschutz, aber auch für die
Wohlstandsentwicklung unserer Gesellschaft. Sie han-
delt damit grob fahrlässig!
Mit jeder aussterbenden Tier- und Pflanzenart gehen
raffinierte technische Lösungen und andere Werte für
den Menschen für immer verloren. Es war Konrad
Adenauer, der sagte: „Es gibt auf Dauer keinen wirt-
schaftlichen Fortschritt, ohne dass die Wissenschaft auch
gepflegt wird.“ Das ist richtig, aber man muss dazu auch
noch Frederic Vester zitieren, der davon sprach, dass es
„Sinn mache, von der Natur zu lernen, einer Firma, die
in 4 Milliarden Jahren nicht Pleite gemacht hat“. In die-
sem Sinne müssen wir die wachsende Bedeutung der
Biodiversitätsforschung nicht nur für den Erhalt der Ar-
tenvielfalt, sondern auch für Ernährung, Land- und
Forstwirtschaft, Klimaschutz, Medizin, Pharmazie, Bio-
nik bis hin zur Vorbereitung internationaler Schutzab-
kommen stärker anerkennen und besser fördern. Daher
unterstützen meine Fraktion und ich diesen Antrag und
stimmen ihm zu.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Einvernehmensher-
stellung von Bundestag und Bundesregierung
zur geplanten Einberufung einer Regierungs-
konferenz und zum geplanten Beschluss der Re-
gierungskonferenz über die Zustimmung zum
Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölke-
rung bezüglich des Vertrags von Lissabon
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenar-
beit von Bundesregierung und Deutschem Bun-
destag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
(Zusatztagesordnungspunkt 5)
Michael Stübgen (CDU/CSU): Der Europäische Rat
hat im Juni 2009 im Wege eines rechtsverbindlichen Be-
schlusses der Staats- und Regierungschefs ein zusätzli-
ches Protokoll für den Vertrag von Lissabon vereinbart,
das sogenannte Irische Protokoll. Dieses Protokoll war
ein wichtiges Element zur Vorbereitung des Referen-
dums in Irland zum Vertrag von Lissabon im Jahr 2009.
In dem Protokoll wird festgestellt, dass die Bestimmun-
gen des Vertrags in den Bereichen Recht auf Leben, Fa-
milie und Bildung, Steuerpolitik sowie der Gemeinsa-
men Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP, im
Einklang mit der irischen Verfassung stehen. Durch die
Hinzufügung dieses Protokolls wird der Vertrag von Lis-
sabon in seiner Substanz nicht geändert.
Der Beschluss aus dem Jahre 2009 muss von allen
Mitgliedstaaten nach ihren innerstaatlich vorgeschriebe-
nen Verfahren ratifiziert werden. Vereinbart wurde, das
Protokoll im zeitlichen Zusammenhang mit dem nächs-
ten Beitrittsvertrag zu ratifizieren. Jetzt soll bereits eine
Regierungskonferenz für den 16. Mai 2012 zur Ände-
rung der Verträge einberufen werden. Der Beschluss der
Regierungskonferenz über die Zustimmung zum Iri-
schen Protokoll ist einstimmig zu fassen; das Protokoll
bedarf der anschließenden Ratifizierung durch die Mit-
gliedstaaten. Die dänische Ratspräsidentschaft hat den
sehr engen Zeitplan damit begründet, dass die Regie-
rungskonferenz zum Irischen Protokoll möglichst noch
vor dem irischen Referendum zum Fiskalvertrag am 31.
Mai 2012 abgeschlossen werden solle.
Der Deutsche Bundestag hat gemäß den einschlägi-
gen gesetzlichen Regelungen das Recht zur Stellung-
nahme, von dem er heute Gebrauch macht. Vor der
abschließenden Entscheidung im Rat soll die Bundesre-
gierung gemäß § 10 Absatz 3 i.V.m. Absatz 2 EUZBBG
Einvernehmen mit dem Bundestag herstellen. Ich will
nochmals deutlich machen, dass wir der Auffassung
sind, dass die Einvernehmensherstellung des Bundesta-
ges eine konstitutive Voraussetzung für eine Zustim-
mung der Bundesregierung ist. In anderen Worten be-
deutet dies, dass der Vertreter der Bundesregierung im
Rat nicht zustimmen darf, solange das Parlament nicht
sein Einvernehmen erklärt hat. Deshalb ist jede Bundes-
regierung gut beraten, rechtzeitig auf die Beteiligungs-
rechte des Bundestages hinzuweisen und gegebenenfalls
einen Parlamentsvorbehalt einzulegen.
Mit Blick auf den engen Zeitplan musste der Antrag
nun binnen weniger Tage erarbeitet, am Dienstag in den
Koalitionsfraktionen abgestimmt werden und steht heute
im Plenum zur Abstimmung.
Ich will mit aller Deutlichkeit sagen, dass dieser Zeit-
plan für eine angemessene Behandlung im Parlament ei-
gentlich nicht ausreichend ist. Gerade in den Fragen, in
denen es um die Änderung der europäischen Verträge
geht – und tatsächlich handelt es sich beim Irischen Pro-
tokoll um eine vereinfachte Vertragsänderung – muss der
Deutsche Bundestag hinreichend Zeit zur Beratung ha-
ben. Wegen des jetzt vorliegenden Zeitplans konnte zum
Beispiel keine Beratung im für diese Fragen federfüh-
renden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union erfolgen.
Es ist wirklich nur der Tatsache geschuldet, dass das
Irische Protokoll bereits im Jahr 2009 anlässlich der Ra-
tifizierung des Vertrags von Lissabon Gegenstand einer
breiteren Diskussion war und deshalb in der Sache völlig
unproblematisch ist, die uns hier interfraktionell zu einer
raschen Verständigung kommen lässt. An dieser Stelle
will ich mich ausdrücklich bei den Oppositionsfraktio-
nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bedanken. Die
schnelle Abstimmung untereinander und das Aufsetzen
des Antrags als Vier-Fraktionen-Antrag zeigen, dass es
im Deutschen Bundestag – jedenfalls unter allen demo-
kratischen Fraktionen, die sich zu Europa bekennen – ei-
nen Konsens jenseits des täglichen Parteienstreits gibt.
Bedauerlich ist nur, dass die Fraktion Die Linke schon
21324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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(D)(B)
wieder nicht bereit war, sich zur Europäischen Union
und Integration zu bekennen.
Der Beschluss der Staats- und Regierungschefs aus
dem Jahre 2009, der am Ende den Weg für die Zustim-
mung Irlands zum Vertrag von Lissabon in einem zwei-
ten Referendum geebnet hat, fand damals und findet
heute die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion im
Deutschen Bundestag. Das gilt auch für die heute erfor-
derliche Einvernehmenserklärung des Deutschen Bun-
destages. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Antrag
und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Alois Karl (CDU/CSU): Wenn wir uns heute mit der
Einvernehmensherstellung des Deutschen Bundestages
zu einem Antrag der Bundesregierung befassen, so ist
dies fast eine Selbstverständlichkeit.
Wir bewegen uns in einer Materie der europäischen
Einigung, die es dem Deutschen Bundestag nach dem
Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Euro-
päischen Union zuweist, dass sich der Deutsche Bundes-
tag mit dieser Materie beschäftigt, obwohl es sich ei-
gentlich um ein „Geschäft der laufenden Verwaltung“
handelt, eine Angelegenheit also, die die deutsche Bun-
desregierung selbst erledigen könnte.
Worum geht es? Die irische Regierung hat bereits im
Jahre 2009 im Wege eines Anhangs zum Vertrag von
Lissabon festgestellt, dass die Bestimmungen des Lissa-
bon-Vertrages in verschiedenen Bereichen nicht mit der
irischen Verfassung kollidieren. Inhalt dieses Irischen
Protokolls war es insbesondere, dass es Anliegen der iri-
schen Regierung war, festzuhalten, dass in Bereichen
des Rechts auf Leben, der Familie und der Bildung, aber
auch der Steuerpolitik wie auch der gemeinsamen Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik irisches Recht durch
den Lissaboner-Vertrag nicht tangiert wird.
Diesen Beschluss haben seinerzeit die Staats- und Re-
gierungschefs gefasst. Es war wichtig, um dem damali-
gen Referendum Irlands zum Vertrag von Lissabon zu
einem Erfolg zu verhelfen.
Erinnern wir uns zurück: Irland hatte in einem ersten
Referendum im Jahre 2008 die Vertiefung der Europäi-
schen Gemeinschaft abgelehnt, und zwar durch ein ne-
gatives Votum der Bevölkerung, durch den negativen
Ausgang eines Volksentscheides. Einen weiteren negati-
ven Ausgang eines Referendums konnte man sich nicht
leisten!
Das Referendum von 2009 wurde durch die Hinzufü-
gung dieses Irischen Protokolls gewiss gestützt; es ging
positiv aus und der Vertrag von Lissabon wurde in Irland
angenommen. Das Irische Protokoll selbst hat den Ver-
trag von Lissabon natürlich in seiner Substanz in gar kei-
ner Weise berührt.
Jetzt geht es darum, dass die EU-Ratspräsidentschaft
zu einer Regierungskonferenz einlädt. Dabei soll die Re-
gierungskonferenz über die Zustimmung zum Irischen
Protokoll, also zu den genannten Anliegen der irischen
Bevölkerung, einen einstimmigen Beschluss fassen.
Auch dieser jetzige Zeitplan ist nicht ohne Absicht. Die
jetzt beabsichtigte Beschlussfassung liegt kurz vor dem
31. Mai 2012, an dem in Irland wiederum ein Referen-
dum abgehalten werden soll, diesmal zum Fiskalvertrag.
Wir als Koalitionsfraktion unterstützen ausdrücklich
den Fiskalvertrag. Es ist für uns selbstverständlich, dass
wir das unsere dazu tun, um diesem Fiskalvertrag so-
wohl in Deutschland als auch in den anderen europäi-
schen Ländern zum Durchbruch zu verhelfen.
Aus diesem Grunde stimmen wir zu, dass wir als
Deutscher Bundestag unser Einvernehmen dafür ertei-
len, dass die Bundesregierung im Europäischen Rat ei-
nem Beschluss zustimmt, der entsprechend dem Irischen
Protokoll dem Anliegen der irischen Bevölkerung Rech-
nung trägt. Wir sind dabei einverstanden, dass es des-
sentwegen keinen Konvent einzuberufen braucht. Wir
geben selbstverständlich unser Einvernehmen dafür,
dass der Vertreter der Bundesregierung in der entspre-
chenden Regierungskonferenz am 16. Mai 2012 sich an
einem dementsprechenden Beschluss beteiligt. Wir se-
hen es für richtig an, dass dann die Bundesregierung den
Deutschen Bundestag wieder informiert.
Abschließend sei festgehalten, dass es schade ist, dass
die Oppositionsparteien, die ursprünglich den Antrag
mitgetragen haben, jetzt hiervon Abstand genommen ha-
ben. Auch sie sollten ein Interesse daran haben, dass der
Fiskalvertrag möglichst schnell verabschiedet wird, so-
wohl im Deutschen Bundestag – und auch im Bundesrat –
als auch in den anderen europäischen Ländern. Es ist
schade, dass die Oppositionsparteien nicht die Größe ha-
ben, dem jetzigen Antrag zuzustimmen.
Nichtsdestotrotz wird dieser Antrag der Regierung
hier eine Mehrheit finden, und das zu Recht.
Michael Roth (Heringen) (SPD): §10 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union, EUZBB, sieht für Vorschläge und Initiati-
ven zur Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen
der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union
neben den geltenden Unterrichtungspflichten und dem
Recht zur Stellungnahme gemäß § 9 EUZBBG vor, dass
vor der abschließenden Entscheidung im Rat die Bun-
desregierung Einvernehmen mit dem Deutschen Bun-
destag herstellen soll.Dieses Einvernehmen wollen wir
heute im Deutschen Bundestag mit dem Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen herstellen.
Der Europäische Rat hat im Juni 2009 ein zusätzli-
ches Protokoll zum Anliegen der irischen Bevölkerung
wegen des Vertrags von Lissabon rechtsverbindlich ver-
einbart. Im sogenannten Irischen Protokoll wird festge-
halten, dass der Lissabon-Vertrag bezüglich „Recht auf Le-
ben, Familie und Bildung“, „Steuerwesen“ und „Sicherheit
und Verteidigung“ im Einklang mit der irischen Verfas-
sung steht. Der Vertrag von Lissabon berührt insbeson-
dere nicht Irlands traditionelle Politik der militärischen
Neutralität. Es bleibt Sache der Mitgliedstaaten, mit na-
tionalen Rechtsvorschriften an einer ständigen Zusam-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21325
(A) (C)
(D)(B)
menarbeit teilzunehmen oder sich an der Europäischen
Verteidigungsagentur zu beteiligen.
Ursprünglich war geplant, das Protokoll beim Beitritt
Kroatiens mit zu verabschieden. Die irische Regierung
hat jedoch gegenüber der dänischen Ratspräsidentschaft
den Wunsch geäußert, noch vor dem für den 31. Mai ge-
planten Referendum zum Fiskalvertrag die Ratifizierung
des Protokolls abzuschließen.
Daraus resultiert der sehr enge Zeitplan, mit dem wir
alle konfrontiert worden sind. Ärgerlich ist allerdings die
sehr späte Zuleitung der Bundesregierung. Erst mit
Schreiben vom 4. Mai, eingegangen am 7. Mai, hat
Staatsminister Link den Bundestagspräsidenten um die
Einvernehmensherstellung gebeten.
Der Europäische Rat hatte bereits am 23. Oktober
2011 die Anhörung des Europäischen Parlaments und
der Kommission veranlasst und vorgeschlagen, auf die
Einberufung eines Konvents zu verzichten. Das Europäi-
sche Parlament hat am 18. April eine positive Stellung-
nahme abgegeben, die Kommission am 7. Mai. Schon
am 16. Mai soll eine Regierungskonferenz abgehalten
werden.
Die SPD-Fraktion begrüßt, dass die bereits vereinbar-
ten Klarstellungen zum Lissabon-Vertrag nun auch ver-
bindlich für die irische Bevölkerung festgehalten wer-
den. Daher werden wir dem neuen Zeitplan, dem
Verzicht auf einen Konvent und der Einvernehmensher-
stellung mit der Bundesregierung nach § 10 EUZBBG
zustimmen.
Joachim Spatz (FDP): Die Staats- und Regierungs-
chefs haben auf dem Europäischen Rat im Juni 2009
durch einen rechtsverbindlichen Beschluss ein zusätzli-
ches Protokoll für den Vertrag von Lissabon vereinbart,
das sogenannte Protokoll zu den Anliegen der irischen
Bevölkerung bezüglich des Vertrages von Lissabon. Da-
rin ist festgehalten, dass die Bestimmungen des Vertra-
ges sowohl in den Bereichen Recht auf Leben, Familie
und Bildung, Steuerpolitik als auch in der Gemeinsamen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Einklang mit
der irischen Verfassung stehen. Durch die Hinzufügung
des irischen Protokolls wird der Vertrag von Lissabon
substanziell nicht geändert.
Ursprünglich wurde vereinbart, dass das irische Pro-
tokoll im zeitlichen Zusammenhang mit dem nächsten
Beitrittsvertrag ratifiziert wird. Aus dem nun sehr engen
Zeitplan, mit einer geplanten Regierungskonferenz zur
Änderung der Verträge bereits am 16. Mai 2012, ergibt
sich, dass das irische Protokoll noch vor dem anstehen-
den Referendum in Irland zum Fiskalvertrag am 31. Mai
beschlossen werden soll und somit im Anschluss den
Mitgliedstaaten zur Ratifikation zugeleitet werden kann.
Die für die Zustimmung des deutschen Vertreters bei
der Regierungskonferenz notwendige Einvernehmens-
herstellung zwischen Deutschem Bundestag und Bun-
desregierung konnte trotz der kurzen Frist erreicht wer-
den. Dabei hat sich wieder einmal bestätigt, dass der
Deutsche Bundestag auch unter engen zeitlichen Vorga-
ben dazu in der Lage ist, seine Beteiligungsrechte in An-
gelegenheiten der Europäischen Union umfänglich
wahrzunehmen.
Sowohl der Deutsche Bundestag als auch die Bundes-
regierung unterstützen das Ziel, dem irischen Volk die
bereits politisch auf Ebene der Staats- und Regierungs-
chefs vereinbarten Klarstellungen zum Vertrag von Lis-
sabon zu geben. Am 31. Mai 2012 findet in Irland das
Referendum zum Fiskalvertrag statt. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion sieht im Fiskalvertrag einen entscheidenden
Pfeiler zur Stabilisierung unserer Gemeinschaftswäh-
rung und einen großen Schritt zu mehr Haushaltsdiszi-
plin in Europa. Irland befindet sich seit geraumer Zeit
auf einem erfolgreichen Konsolidierungskurs. Der Fis-
kalvertrag stellt unserer Ansicht nach eine gelungene
vertragliche Begleitung der irischen Reformanstrengun-
gen dar. Wir sind der Überzeugung, dass die im Irischen
Protokoll gegenüber der irischen Bevölkerung formu-
lierten Klarstellungen eine positive Wirkung auf andere
politische Vorhaben auf europäischer Ebene haben, wie
eben der erfolgreichen Ratifizierung des Vertrags über
Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirt-
schafts- und Währungsunion.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Das Irische Proto-
koll, welches den vorliegenden Antrag erst nötig macht,
wurde aufgelegt, nachdem die Iren in einem ersten Refe-
rendum den Vertrag von Lissabon abgelehnt hatten. Um
ihnen die Zustimmung in einem zweiten Referendum zu
„erleichtern“, wurden in besagtem Protokoll diverse
politische Erklärungen fixiert, welche unter anderem be-
sagen, dass das Recht auf Leben in Irland durch die EU-
Grundrechtecharta nicht berührt wird, weshalb das in Ir-
land geltende Abtreibungsverbot aufrechterhalten wer-
den kann. Außerdem soll mit ihm sichergestellt werden,
dass die irische Dumping-Steuerpolitik durch die EU-
Verträge nicht beeinträchtigt wird. Beides sind unserer
Auffassung nach höchst kritikwürdige Punkte; positiv
sehen wir lediglich die politische Klarstellung, dass die
irische Neutralität durch die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik und die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik nicht ausgehebelt wird. Doch es
soll uns jetzt hier gar nicht weiter um die inhaltliche Kri-
tik des Protokolls gehen, sondern das Verfahren zu sei-
ner Inkorporation in den Vertrag von Lissabon und der
Zweck dieses Vorgehens stehen im Vordergrund unserer
Kritik.
Die mit dem vorliegenden Antrag von vier Fraktionen
gewünschte Herstellung des Einvernehmens zwischen
Deutschem Bundestag und Bundesregierung nach § 10
EUZBBG lehnen wir ab. Dieser fordert nämlich, dem
Beschluss des Europäischen Rates, eine Änderung der
EU-Verträge ohne die Einberufung eines Konvents her-
beizuführen, zuzustimmen und stattdessen ein Mandat
für das erwünschte Format einer Regierungskonferenz zu
erteilen. Damit aber – und das ist Ihnen allen hier klar –
wird versucht, mindestens die Iren vorzuführen. Nach-
dem deren Zustimmung zum Vertrag von Lissabon mit
dem Protokoll erkauft wurde, soll es nun offenbar wie-
der in diesem Sinne zur Anwendung kommen, denn
seine Inkorporation war eigentlich im Zusammenhang
mit dem nächsten Beitrittsvertrag mit Kroatien geplant.
21326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
(A) (C)
(D)(B)
Doch Rat und Kommission scheinen die Entscheidung
des irischen Volkes zum Fiskalvertrag zu fürchten. Mit
Blick auf die Wahlergebnisse vom Sonntag, wo sowohl
in Frankreich als auch in Griechenland die Spardiktate
der Troika und der sie tragenden jeweiligen nationalen
Regierungen eindeutig abgewählt wurden, mutet ein
Leugnen dieses Zusammenhangs geradezu lächerlich an.
Die EU, der Raum von „Recht, Demokratie und Frei-
heit“, hat deshalb kein Problem damit, in bester vorauf-
klärerischer Manier mit der Zustimmung zum Irischen
Protokoll Entgegenkommen zu signalisieren, nur um die
Iren mit dem Fiskalvertrag über ein weitaus höheres
Stöckchen springen zu lassen!
All denen in diesem Hohen Haus, die sich nun auf den
Standpunkt stellen, dass ihnen irische Befindlichkeiten
keine schlaflosen Nächte bereiten, sollte aber ungleich
mehr zu denken geben, dass mit dem hier gewählten
Verfahren die parlamentarische Entscheidungsfindung
ausgehebelt und damit demokratische Mitwirkung mas-
siv eingeschränkt wird.
Der Bundestag wurde am Montag früh darüber infor-
miert, dass eine Regierungskonferenz in der folgenden
Woche (16. Mai) einberufen werden soll. Im Schweins-
galopp soll der Europäische Rat die dafür im Vorfeld
erforderlichen Beschlüsse im schriftlichen Umlaufver-
fahren fassen. Damit werden eine ausreichende parla-
mentarische Befassung, die für die demokratische Legi-
timation jeder Vertragsänderung – und sei sie noch so
marginal, und auch wenn Sie jetzt darauf verweisen,
dass das Protokoll selbst hervorhebt, dass sein Inhalt die
Regelungen des Lissabon-Vertrags nicht tangiert – un-
verzichtbar ist, sowie die öffentliche Debatte verhindert.
Und bitte bedenken Sie: Mit dem vorliegenden An-
trag erklären Sie von den anderen vier Fraktionen Ihre
Zustimmung zu diesem skandalösen Verfahren und tra-
gen damit zur Schaffung eines Präzedenzfalls bei.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem vorliegenden Antrag nimmt der Deutsche Bun-
destag seine Beteiligungsrechte in Angelegenheiten der
Europäischen Union war. Der Deutsche Bundestag stellt
mit der Bundesregierung sein Einvernehmen her zur ge-
planten Einberufung einer Regierungskonferenz und
zum geplanten Beschluss der Regierungskonferenz über
die Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen der iri-
schen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissa-
bon. Was zunächst sehr technisch klingt, hat folgenden
Hintergrund: Bereits im Juni 2009 hat der Europäische
Rat ein zusätzliches sogenanntes Irisches Protokoll für
den Vertrag von Lissabon vereinbart. In diesem Proto-
koll wird festgeschrieben, dass die Bestimmungen des
Vertrags von Lissabon in den Bereichen Recht auf Le-
ben, Familie und Bildung, Steuerwesen sowie Sicherheit
und Verteidigung im Einklang mit der irischen Verfas-
sung stehen. Die Vereinbarung des Europäischen Rates
war ein wichtiges, wenn nicht sogar entscheidendes Ele-
ment zur Vorbereitung des irischen Referendums über
den Vertrag von Lissabon im Jahr 2009.
Nachdem sowohl das Europäische Parlament als auch
die Europäische Kommission zugestimmt haben, für den
Beschluss des vorliegenden Irischen Protokolls eine Re-
gierungskonferenz einzuberufen, soll nun auf der wahr-
scheinlich am 16. Mai 2012 stattfindenden Regierungs-
konferenz lediglich das beschlossen werden, was bereits
vor drei Jahren, im Juni 2009, auf europäischer Ebene
einstimmig vereinbart wurde. Auch wenn die Bundes-
regierung mit der Einvernehmensherstellung früher auf
den Bundestag hätte zukommen müssen, liegt es uns
fern, einen auf europäischer Ebene unter Beteiligung al-
ler EU-Institutionen einhellig vereinbarten Fahrplan zu
torpedieren. Deswegen gibt auch meine Fraktion der
Bundesregierung grünes Licht für das weitere geplante
Vorgehen. Unser Ja zur Einvernehmensherstellung hat
aber nichts, rein gar nichts mit unserer Bewertung des
Fiskalvertrags zu tun.
An dieser Stelle deshalb nur noch eine kleine, aber
dennoch wichtige Randnotiz. Zugegeben, die zweifache
– und ich betone: zweifache – Einvernehmensherstel-
lung von Bundestag und Bundesregierung zur geplanten
Einberufung einer Regierungskonferenz und zum ge-
planten Beschluss der Regierungskonferenz über die Zu-
stimmung zum Irischen Protokoll hört sich nach einer
rein formalen Ausführung der Parlamentsrechte gemäß
§ 10 des EU-Beteiligungsgesetzes, EUZBBG, an. Aber
es ist ein wenig mehr als das. Die zweifache Einverneh-
mensherstellung korrigiert eine Fehlinterpretation des
EUZBBG seitens der Koalitionsfraktionen. Noch bei der
Einvernehmensherstellung über die Änderung des
Art. 136 Abs. 3 AEUV hinsichtlich eines Stabilitätsme-
chanismus für die Euro-Staaten war meine Fraktion als
Einzige der Auffassung, dass der Bundestag nicht nur
zum Verhandlungsergebnis, sondern ebenso zum Ver-
handlungsmandat sein Einvernehmen erteilen muss. Ich
freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den
Koalitionsreihen, dass Sie auf den grünen Kurs ein-
geschwenkt sind und – zumindest was diesen Punkt be-
trifft – für starke Parlamentsrechte des Deutschen Bun-
destages im Geiste des Lissabon-Urteils eintreten. Wenn
Sie nun an unserer Seite auch noch Mitkämpfer für ange-
messene Parlamentsrechte beim Fiskalvertrag werden
würden, könnte die in der Vergangenheit leider häufig
vollzogene Missachtung des Parlaments seitens der Bun-
desregierung ein wenig geheilt werden. Ich bin gespannt,
ob Sie als Parlamentarier mutig genug sein werden, um
sich selbst starke Parlamentsrechte zu geben, oder ob Sie
hierzu tatsächlich auf ein Urteil aus Karlsruhe warten
müssen.
178. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3Regierungserklärung zum G 8- und zum NATO-Gipfel
TOP 4Kooperation bei Bildung und Wissenschaft
TOP 36, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren,
TOP 37, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Aktuelle Stunde zu „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“
TOP 5EU-Operation Atalanta
TOP 6 Individuelle Gesundheitsleistungen
TOP 7 KFOR-Einsatz
TOP 8Besteuerung von Kapitalerträgen und Managerbezüge
TOP 10Förderung von unkonventionellem Erdgas
TOP 33Enquete „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
TOP 9 Umsetzung des Bologna-Prozesses
TOP 12Entwicklungspolitik der Europäischen Union
TOP 11 Tierschonende Bekämpfung der Schweinepest
TOP 14 Kooperation von Hochschulen undUnternehmen
TOP 13 Forschung für zivile Sicherheit
TOP 16 Reform der Pflegeversicherung
TOP 15 Deutsches Kulturerbe im östlichen Europa
ZP 5 Irisches Protokoll zum Vertrag von Lissabon
TOP 17 Schutz der biologischen Vielfalt
TOP 18 Europäische Förderung der Atomenergie
TOP 19 Schutz sozialer Errungenschaften in der EU
TOP 20 Antibiotikamissbrauch in der Tierhaltung
TOP 21 Umsetzung der UN-Resolution 1325
TOP 22 Müllverbrennung und Abfallmitverbrennung
TOP 23 Versandhandel rezeptfreier Arzneimittel
TOP 24 UN-Sozialpakt
TOP 25 Eishockey-Weltmeisterschaft in Belarus 2014
TOP 26 Extremismusklausel in Programmen gegenRechtsextremismus
TOP 27 Teilhabe am Sport für Menschen mitBehinderung
TOP 28 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zurIntersexualität
TOP 29 Visa für Menschen aus Russland und Osteuropa
TOP 30 Ilse Stöbe
Anlagen