Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21279
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung der NATO
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea
        Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab-
        stimmung über die Beschlussempfehlung zu
        dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-
        waffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
        geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung
        der Piraterie vor der Küste Somalias auf
        Grundlage des Seerechtsübereinkommens der
        Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Re-
        solutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816
        (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Ok-
        tober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember 2008,
        1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897
        (2009) vom 30. November 2009, 1950 (2010)
        vom 23. November 2010, 2020 (2011) vom
        22. November 2011 und nachfolgender Resolu-
        tionen des Sicherheitsrates der VN in Verbin-
        dung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/
        GASP des Rates der Europäischen Union (EU)
        vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/
        907/GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
        2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
        der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
        766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
        2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
        Rates der EU vom 23. März 2012 (Tagesord-
        nungspunkt 5)
        Wir stimmen heute über ein geändertes Mandat für
        die deutsche Beteiligung an der Anti-Piraterie-Mission
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Bär, Dorothee CDU/CSU 10.05.2012
        Beckmeyer, Uwe SPD 10.05.2012*
        Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        10.05.2012
        Birkwald, Matthias W. DIE LINKE 10.05.2012
        Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 10.05.2012
        Brinkmann
        (Hildesheim),
        Bernhard
        SPD 10.05.2012
        Buschmann, Marco FDP 10.05.2012
        Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 10.05.2012
        Ernst, Klaus DIE LINKE 10.05.2012
        Dr. Flachsbarth, Maria CDU/CSU 10.05.2012
        Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 10.05.2012
        Grütters, Monika CDU/CSU 10.05.2012
        Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 10.05.2012
        Höger, Inge DIE LINKE 10.05.2012
        Homburger, Birgit FDP 10.05.2012
        Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 10.05.2012
        Kramme, Anette SPD 10.05.2012
        Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        10.05.2012
        Lay, Caren DIE LINKE 10.05.2012
        Leutheusser-
        Schnarrenberger,
        Sabine
        FDP 10.05.2012
        Lindemann, Lars FDP 10.05.2012
        Lötzer, Ulla DIE LINKE 10.05.2012
        Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        10.05.2012
        Remmers, Ingrid DIE LINKE 10.05.2012
        Rix, Sönke SPD 10.05.2012
        Roth (Augsburg),
        Claudia
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        10.05.2012
        Schneider, Ulrich BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        10.05.2012
        Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 10.05.2012
        Dr. Tauber, Peter CDU/CSU 10.05.2012
        Vaatz, Arnold CDU/CSU 10.05.2012
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Anlagen
        21280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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        Atalanta vor dem Horn von Afrika ab. Diese Abstim-
        mung findet mehrere Monate vor dem eigentlichen
        Auslaufen des aktuell gültigen Mandats statt. Dies wird
        damit begründet, dass die Bundesregierung den Bundes-
        tag um die Zustimmung zur Ausweitung der Mission
        bittet. Künftig soll Atalanta Piraten nicht nur auf See,
        sondern auch innerhalb eines zwei Kilometer breiten
        Küstenstreifens an Land bekämpfen.
        Unsere Entscheidung haben wir mit Blick auf den zur
        Abstimmung vorgelegten Mandatstext getroffen. Wir
        wollen uns nicht von der Tatsache leiten lassen, dass im
        Zweifel das alte Mandat weiterhin gültig wäre. Spätes-
        tens im Dezember hätten wir dann erneut über diese
        Frage entscheiden müssen, ohne Netz und doppelten
        Boden.
        Im Dezember 2011 haben wir für die Verlängerung
        des Atalanta-Mandats gestimmt. Wir lehnen jedoch die
        nun eingebrachte Ausweitung des Mandats und das da-
        mit geplante militärische Vorgehen bis zu 2 000 Meter in
        das Landesinnere hinein ab. Diese Ausweitung birgt
        hohe Risiken sowohl für die Zivilbevölkerung wie auch
        für die Soldatinnen und Soldaten. Wir bezweifeln, dass
        die Ausweitung die gewünschten Ergebnisse liefert. Es
        ist eher zu erwarten, dass sich die Piraten dem neuen
        Operationsgebiet anpassen, sich womöglich in Städte
        zurückziehen, wo Angriffe von Schiffen oder Hub-
        schraubern aus mit erheblichen Gefahren für die Zivilbe-
        völkerung verbunden bzw. gar nicht erst möglich wären.
        Nicht zuletzt wurde eine Ausweitung des Mandats Ende
        letzten Jahres selbst durch Experten der Regierung äu-
        ßerst skeptisch beurteilt. Eine Zustimmung zu diesem
        neuen Atalanta-Mandat ist daher für uns nicht möglich.
        Die Atalanta-Schiffe sind jedoch nach wie vor uner-
        lässlich, um die Lebensmittellieferungen für die notlei-
        dende somalische Bevölkerung zu schützen und die Be-
        satzungen von Handelsschiffen im Seegebiet vor
        Somalia und dem Golf von Aden abzusichern. Die
        Schiffe des Welternährungsprogrammes konnten da-
        durch bisher ihre somalischen Zielhäfen sicher errei-
        chen. Von ihren Nahrungsmittel- und Hilfsgüterlieferun-
        gen sind über drei Millionen Menschen allein in Somalia
        abhängig. Da wir der Meinung sind, dass der Schutz
        dieser Schiffe auch weiterhin zwingend nötig ist, um die
        Versorgung und damit das Leben der Bevölkerung zu si-
        chern, können wir dieses Mandat auch nicht vollständig
        ablehnen.
        In der Konsequenz haben wir uns deshalb entschlos-
        sen, uns zu enthalten. Der Entschließungsantrag unserer
        Fraktion legt auch unsere Position näher dar und findet
        entsprechend unsere Unterstützung.
        Anlage 3
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über die Be-
        schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung
        der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
        kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta
        zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste
        Somalias auf Grundlage des Seerechtsüberein-
        kommens der Vereinten Nationen (VN) von
        1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom
        15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008,
        1838 (2008) vom 7. Oktober 2008, 1846 (2008)
        vom 2. Dezember 2008, 1851 (2008) vom 16. De-
        zember 2008, 1897 (2009) vom 30. November
        2009, 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020
        (2011) vom 22. November 2011 und nachfolgen-
        der Resolutionen des Sicherheitsrates der VN in
        Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/
        851/GASP des Rates der Europäischen Union
        (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss
        2009/907/GASP des Rates der EU vom 8. De-
        zember 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP
        des Rates der EU vom 30. Juli 2010, dem Be-
        schluss 2010/766/GASP des Rates der EU vom
        7. Dezember 2010 und dem Beschluss 2012/174/
        GASP des Rates der EU vom 23. März 2012 (Ta-
        gesordnungspunkt 5)
        Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Unab-
        hängig von meiner grundsätzlich ablehnenden Position,
        was den Auslandseinsatz deutscher Soldatinnen und Sol-
        daten angeht, werde ich auch der Atalanta-Mission nicht
        zustimmen. Der vorliegende Beschluss bedeutet eine
        deutliche Ausweitung des Einsatzes unserer Soldaten am
        Horn von Afrika.
        Auch Luftangriffe auf Stellungen der Piraten an Land
        werden jetzt möglich. Damit erhält die Atalanta-Mission
        eine neue Qualität. Angriffe im Landesinnern schließen
        die Gefährdung der Zivilbevölkerung mit ein. Aus der
        bisher eher passiven Rolle im Rahmen der Mission
        wechselt die Bundesrepublik in eine offensive, aktive
        Position. Damit nimmt auch die Gefährdung deutscher
        Soldaten erheblich zu. Dies ist genauso wenig vertretbar
        wie die Gefährdung der Zivilbevölkerung.
        Die umfangreiche geleistete humanitäre Hilfe für die
        Menschen in Somalia ist anzuerkennen. Was jedoch
        fehlt, ist eine wirtschaftliche Alternative für die Fischer
        in dieser Region, deren Lebensunterhalt durch die Über-
        fischung der Fischgründe seit Jahren nicht mehr gesi-
        chert ist.
        Kirsten Lühmann (SPD): Der Einsatz der deutschen
        Marine unter dem Mandat der EU „Atalanta“ hat in der
        bestehenden Form meine volle Unterstützung. Der heute
        abzustimmenden Änderung bzw. Erweiterung des Man-
        dats kann ich jedoch nicht zustimmen.
        Das Mandat wird dergestalt erweitert, dass auch ein
        militärisches Vorgehen gegen die sogenannten Piraten
        auf einer Zone von 2 Kilometern an den jeweiligen Küs-
        tenstreifen möglich ist. Ich halte ein solches Vorgehen
        für nicht zielführend. Zum einen ist die Zone von 2 Kilo-
        metern leicht zu umgehen, indem die Piraten ihre Stütz-
        punkte einfach in das Landesinnere verlagern können.
        Zum anderen birgt ein solcher militärischer Einsatz auf
        fremdem Hoheitsgebiet aus meiner Sicht eine Vielzahl
        von nicht absehbaren Risiken. Dieses Risiko steht mei-
        ner Ansicht nach in keinem Verhältnis zu dem Nutzen,
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21281
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        den ein solcher Einsatz haben mag. Daher kann ich dem
        Antrag der Bundesregierung auf eine Erweiterung des
        Mandats nicht zustimmen.
        Gisela Piltz (FDP): Dem Antrag der Bundesregie-
        rung zur Fortsetzung der Beteiligung deutscher Streit-
        kräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Be-
        kämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias stimme
        ich zu, weil ich die Notwendigkeit erkenne und dem Ziel
        zustimme, dass sichere Seewege im innen- wie auch
        außenpolitischen Interesse Deutschlands sind. Die Ge-
        fährdung des internationalen Seehandels wie auch inter-
        nationaler Hilfslieferungen auf dem Seewege durch Pira-
        terie gefährdet die Sicherheit der Seeleute, den
        friedlichen Handel und die Stabilität der Region, in der
        die Überfälle stattfinden. Es ist daher auch meine Über-
        zeugung, dass hier die internationale Staatengemein-
        schaft und auch die Europäische Union ihren Beitrag zu
        sicheren und friedlichen Seewegen leisten muss. Die Er-
        füllung der internationalen Verpflichtung Deutschlands
        durch die Entsendung deutscher Streitkräfte erkenne ich
        ausdrücklich als sinnvoll und notwendig an.
        Zugleich stelle ich aber fest, dass die Ausweitung des
        Mandats auf die Ermöglichung von Angriffen auf am
        Land befindliche Stützpunkte von Piraten auch Beden-
        ken ausgesetzt ist. Wenngleich es unter militärischen Ge-
        sichtspunkten nützlich erscheinen mag, Bodenangriffe
        zu erlauben, ist dies nach meiner persönlichen Überzeu-
        gung unverhältnismäßig. Das Mandat wurde geschaffen,
        um die sichere Passage von Schiffen zu ermöglichen,
        nicht, um sich in einen weitergehenden Kampf gegen
        dort operierende Piratenbanden verwickeln zu lassen.
        Angriffe auf an Land befindliche Basen von Piraten ber-
        gen nicht nur die Gefahr einer erheblichen Eskalation
        des Konflikts und stellen einen weiteren und ungleich
        größeren Eingriff in die Souveränität Somalias dar, son-
        dern können leicht auch zahlreiche Unschuldige treffen.
        Ich stimme dem Gesetz dennoch zu, weil ich erwarte,
        dass die Bundesregierung sich neben dem Engagement
        deutscher Streitkräfte weiterhin mit allen Mitteln auf in-
        ternationaler Ebene dafür einsetzt, für friedliche Verhält-
        nisse in Somalia zu sorgen und den Staatsaufbau dort
        voranzutreiben, den internationalen Pirateriegerichtshof
        endlich zügig zu errichten, gemeinsam mit anderen
        Staaten der Afrikanischen Union wie etwa Kenia zusam-
        menzuarbeiten, um eine effektive Strafverfolgung zu er-
        möglichen und aus der Piraterie erbeutete Mittel zu be-
        schlagnahmen oder einzufrieren sowie gemeinsam mit
        den deutschen Reedern für die Nutzung der definierten
        sicheren Korridore zu werben und Konzepte zur Siche-
        rung der Schiffe zu entwickeln.
        Frank Schäffler (FDP): Dem Antrag der Bundesre-
        gierung kann ich nicht zustimmen. Den bisherigen Ein-
        satz vor der Küste Somalias habe ich mittragen können.
        Er diente dem Schutz von zivilen Schiffen im Einsatzge-
        biet. Nun soll das Einsatzgebiet vom Wasser auf einen
        begrenzten Küstenstreifen ausgeweitet werden. Ich halte
        dies aus drei Gründen für nicht geboten.
        Erstens muss ich die Wirksamkeit der vorgeschlage-
        nen Ausweitung auf die Piratenbekämpfung zu Lande
        bezweifeln. Vorgeschlagen wird eine Ausweitung des
        Einsatzgebietes auf einen 2 Kilometer breiten Küsten-
        streifen in Somalia. Das wird zu Ausweichreaktionen
        führen. Zum einen haben die Piraten bereits jetzt Basen
        nach Eritrea verlegt. Das wird zunehmen. Im somali-
        schen Küstengebiet sollen mögliche Ziele identifiziert
        und allein aus der Luft bekämpft werden. Vorrangig soll
        es um an Land gezogene Boote der Piraten gehen. Diese
        Boote werden auf See von Mutterschiffen ausgesendet,
        um Handelsschiffe anzugreifen. Nach den Angriffen
        kehren sie zu den Mutterschiffen zurück. Diese bringen
        die Boote anschließend zurück in Küstennähe, wo sie
        von den Piraten per Hand angelandet werden. Die Boote
        befinden sich dann in einem ganz schmalen Küstenstrei-
        fen in unmittelbarer Wassernähe, wo sie aufgrund der
        bisherigen Grenzen des Mandats nicht bekämpft werden
        dürfen. Die Ausweitung des Einsatzgebiets auf den Küs-
        tenstreifen wird diesen Umstand nicht wesentlich verän-
        dern können. Wenn es um so kleine Boote geht, die von
        Hand an Land verbracht werden können, dann können
        sie auch auf Anhänger oder Lastkraftwagen verladen
        werden, um sie dem militärischem Zugriff im ausgewei-
        teten Kampfgebiet zu entziehen. Wir dürfen die Piraten-
        organisationen und ihre Mittel nicht unterschätzen. Sie
        sind hervorragend finanziert und arbeiten effizient. Es
        mangelt ihnen weder an Mannschaftsstärke noch an lo-
        gistischen Fähigkeiten oder anderen Mitteln, um die Ver-
        legung von Booten aus dem Landesinneren ins Wasser in
        kürzester Zeit durchzuführen.
        Dieses zu erwartende Ausweichverhalten der Piraten
        führt zum zweiten Grund meiner Ablehnung. Der bishe-
        rige Auftrag birgt eine für militärische Operationen sehr
        hohe Rechtssicherheit. Die Verteidigung von Handels-
        schiffen gegen Angriffe von Piraten ermöglicht eine
        zweifelsfreie Identifizierung, Bekämpfung und Verfol-
        gung der Verbrecher. Nicht umsonst wurden bisher alle
        von deutschen Kräften im Rahmen der Operation Ata-
        lanta in Gewahrsam genommenen Personen auf der ho-
        hen See in einer Entfernung zum Festland zwischen
        50 und 250 Seemeilen aufgegriffen. Diese hohe Rechts-
        sicherheit bei der Verteidigung gegen einen Angriff oder
        beim Leisten von Nothilfe geht durch die Ausweitung
        auf den Küstenstreifen verloren. An Land lassen sich Pi-
        ratenboote nicht von zivilen Booten unterscheiden, denn
        nur ihre Verwendung macht den Unterschied. Da die An-
        griffe nur aus der Luft erfolgen dürfen, ist die Gefahr des
        Verlusts von – auch unschuldigen – Menschenleben
        wahrscheinlich. Wo Boote sind, da sind auch Menschen.
        Wenn man die Menschen nicht bekämpfen will, dann
        kann man die Boote nicht bekämpfen, wodurch die Aus-
        weitung sinnlos wird. Will man die Boote bekämpfen,
        dann muss man menschliche Verluste in Kauf nehmen.
        Das gilt insbesondere für die Piratenhäfen. Es drängt
        sich die ethische Frage auf, ob die Piraten oder von ih-
        nen eingesetztes logistisches Hilfspersonal mit poten-
        ziell tödlichen Mitteln bekämpft werden dürfen, ohne
        dass ein gegenwärtiger Angriff stattfindet. Auch hier gilt
        es wieder, den praktischen Erfindungsreichtum der Pira-
        ten nicht zu unterschätzen. Es liegt nahe, dass sie Zivilis-
        ten als menschliche Schutzschilde für die Boote im Zeit-
        21282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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        raum zwischen Anlandung und Verbringung außerhalb
        des 2 Kilometer breiten Einsatzgebietes verwenden. In
        Frage steht der ungerechtfertigte Tod von Piraten oder
        Zivilisten. Auch aus Rücksicht auf das Wohlergehen un-
        serer eigenen Einsatzkräfte bin ich dagegen, unsere Sol-
        daten in eine solche Gewissensbedrängnis zu bringen.
        Drittens gibt es mildere und besser geeignete Mittel.
        Bezogen auf das Einsatzgebiet von Atalanta ist die Zahl
        der erfolgreichen Piratenangriffe gegenüber dem Vorjahr
        rückläufig. Geschuldet ist dies auch dem zunehmend er-
        folgreicheren Einsatz von Vessel Protection Detach-
        ments – VPD. Im Rahmen der Operation Atalanta konn-
        ten schon bisher VPD an Bord von Handelsschiffen
        eingesetzt werden. Von insgesamt 18 solchen Einsätzen
        im Jahr 2011 wurden 6 durch deutsche VPD durchge-
        führt. Diese dezentrale Sicherungsmaßnahme ist zu be-
        grüßen. Obwohl das Mandat den Einsatz auf jedem zu
        schützenden Handelsschiff erlaubt, wurden VPD nur an
        Bord von Schiffen des Welternährungsprogramms statio-
        niert. Eine Ausweitung und zufällige Verteilung auf an-
        dere Handelsschiffe wäre eine vorzugswürdige mildere
        Maßnahme mit Abschreckungseffekt, weil die Piraten
        nicht wüssten, wo sie auf Widerstand treffen. Begleitet
        werden müsste diese Maßnahme von einer Liberalisie-
        rung des Waffenrechts auf Handelsschiffen unter deut-
        scher Flagge. Immer mehr Handelsschiffe am Horn von
        Afrika haben private bewaffnete Sicherheitskräfte – PBS –
        zum Schutz gegen Piraterie an Bord. Das deutsche Recht
        steht ihrem Einsatz auf Schiffen unter deutscher Flagge
        nicht entgegen. Ein Drittel der deutschen Reeder setzt
        sie bereits ein. Bislang ist kein Schiff, das PBS an Bord
        hatte, erfolgreich gekapert worden. PBS dürfen bereits
        heute Gewalt zur Notwehr anwenden. Ihr Einsatz würde
        bei einer Liberalisierung des Marktes für maritime Si-
        cherheit selbst entsprechend erleichtert und die Sicher-
        heit der Handelsschifffahrt maßgeblich erhöht.
        Nach alledem bleibt die Ausweitung des Einsatzes
        auf die Küstenregion im besseren Fall weitgehend wir-
        kungslos. Im Fall des größten Unglücks droht uns jedoch
        der Verlust vieler Menschenleben. Diesen abschüssigen
        Weg sollten wir nicht gehen. Zuvor sollten wir weiter
        und schneller den unkonventionellen Weg über den Ein-
        satz privater und militärischer Sicherheitskräfte be-
        schreiten, die dezentral an Bord von Handelsschiffen
        stationiert werden.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Den Antrag lehne ich ab.
        Die Erweiterung des Mandats der Bundesmarine für
        Kriegseinsätze vor der Küste Somalias jetzt auch auf das
        Land in einem Küstenstreifen von 2 Kilometer Breite ist
        verhängnisvoll und nicht zu verantworten. Diese Erwei-
        terung folgt allenfalls einer militärischen Logik. Die
        Politik darf ihr nicht folgen.
        Die Eingrenzung dieser Erweiterung des Mandats auf
        Angriffe nur aus der Luft mittels Hubschraubern, ledig-
        lich auf die Logistik von Piraten und ohne Menschen ge-
        fährden zu wollen, macht sie nicht besser.
        Einerseits enthält sie die Ausnahme, dass Operationen
        an Land zum Zwecke der Nothilfe etwa für abgeschos-
        sene Hubschrauber erlaubt bleiben. Selbst wenn Hub-
        schrauberabstürze weitgehend vermieden werden kön-
        nen, können solche Nothilfeoperationen zu häufigen
        Landeinsätzen der Bundeswehr führen, weil EU- und
        NATO-Verbündete nicht gehindert sind, Operationen an
        Land durchzuführen. Landeinsätze aber bringen das Ri-
        siko einer immer weiteren Eskalation mit sich.
        Zum anderen werden Piraten versuchen, ihre Logistik
        durch die Anwesenheit von Menschen – Männern,
        Frauen und Kindern – zu schützen. Damit wird die Ge-
        fahr von „Kollateralschäden“ an Menschenleben erheb-
        lich, selbst wenn beabsichtigt ist, Menschen nicht zu
        treffen, zu töten oder zu verletzen.
        Der gesamte kriegerische Einsatz der Bundesmarine
        und der Armada von Kriegsschiffen aus 27 Nationen vor
        der Küste Somalias und in weiten Teilen des Indischen
        Ozeans ist politisch falsch und unverantwortlich. Er ist
        nicht notwendig zur Sicherung des Welternährungspro-
        gramms für Somalia, wie immer wieder behauptet wird.
        Er ist auch mit der Beteuerung unvereinbar, dass Militär-
        einsätze und kriegerische Mittel immer nur die letzte
        Maßnahme sind, wenn alle anderen Mittel versagt haben
        oder nicht geeignet sind, Sicherheit herzustellen. Es gibt
        gegen die Gefahr von Piratenangriffen vor Somalia auf
        Schiffe und Schiffsbesatzungen andere, weniger gefähr-
        liche und weniger kriegerische Alternativen.
        Es gibt die Möglichkeit, dass Handels-, Passagier-
        und Versorgungsschiffe diese Gewässer passieren, ohne
        von Piraten gekapert zu werden.
        Internationale Organisationen haben Best-Practice-
        Regeln genannt, an denen sich die Schifffahrt orientieren
        soll, um nicht von Piraten aufgebracht zu werden. Dazu
        gehören die Einreihung von Schiffen in Konvois, die mit
        hoher Geschwindigkeit fahren und die Absicherung von
        Reling und Außenbord etwa durch Stacheldraht. Bisher
        ist in den letzten Jahren noch kein einziges Schiff von
        Piraten aufgebracht worden, das sich an diese Regeln ge-
        halten hat. Die Bundesregierung und ihr unterstellte
        Stellen haben dies auf Fragen von mir bestätigt.
        Es gibt ferner die Möglichkeit, dass Handelsschiffe
        drei bis fünf Personen von zivilen Sicherheitsdiensten
        für gefährliche Passagen an Bord nehmen, die nicht
        schwer bewaffnet sein müssen. Auch für so zivil gesi-
        cherte Schiffe gilt, dass bis heute kein einziges von Pira-
        ten gekapert worden ist. Die Bundesregierung hat dies
        ebenfalls ausdrücklich auf Fragen von mir bestätigt.
        Da es diese zivilen Alternativen gibt, die sich für die
        Herstellung von Sicherheit auf See vor der Küste Soma-
        lias seit Jahren bewährt haben, dient der Einsatz der in-
        ternationalen Kriegsflotten im Indischen Ozean letztlich
        nur den unwilligen Reedereien und dem Schutz ihrer
        Schiffe.
        Es geht um die Schiffe, die entgegen der Best-
        Practice-Empfehlungen einzeln und nicht im Konvoi so-
        wie, um Kosten zu sparen, mit reduzierter Geschwindig-
        keit und ohne zusätzliche Sicherungsmaßnahmen durch
        gefährliche Meeresgebiete fahren. Die kriegerischen
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21283
        (A) (C)
        (D)(B)
        Einsätze sind dafür zu teuer, zu gefährlich und nicht
        richtig, sondern falsch.
        Stattdessen sollten die Ankündigungen des Außen-
        ministers endlich angegangen und realisiert werden, die
        internationalen Finanzströme der Erlöse aus Erpressung
        und Raub für gekaperte Schiffe und die als Geiseln ge-
        nommenen Besatzungen zu kappen und die Gelder ein-
        zuziehen. Angeblich sind die Transferstationen dieser
        Gelder in einem Scheichtum zu den Hintermännern in
        Kenia und London längst bekannt. Aber es geschieht
        nichts, die Kriegseinsätze scheinen die naheliegendere
        Alternative.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Peter Beyer, Wolfgang
        Bosbach, Helmut Brandt, Dr. Ralf Brauksiepe,
        Ralph Brinkhaus, Cajus Caesar, Ingrid
        Fischbach, Klaus-Peter Flosbach, Jürgen
        Hardt, Dr. Matthias Heider, Ursula Heinen-
        Esser, Rudolf Henke, Ansgar Heveling, Peter
        Hintze, Thomas Jarzombek, Dieter Jasper,
        Dr. Günter Krings, Dr. Carsten Linnemann,
        Philipp Mißfelder, Michaela Noll, Beatrix
        Philipp, Ruprecht Polenz, Thomas Rachel,
        Johannes Röring, Dr. Norbert Röttgen, Karl
        Schiewerling, Bernhard Schulte-Drüggelte,
        Uwe Schummer, Detlef Seif, Reinhold Sendker,
        Jens Spahn, Sabine Weiss (Wesel I). Elisabeth
        Winkelmeier-Becker und Willi Zylajew (alle
        CDU/CSU) zu den namentlichen Abstimmun-
        gen über die Beschlussempfehlung zu den An-
        trägen: „Leitlinien für Transparenz und Um-
        weltverträglichkeit bei der Förderung von
        unkonventionellem Erdgas“ und „Transparenz
        und Kontrolle bei der Förderung von unkon-
        ventionellem Erdgas in Deutschland“ sowie
        über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag:
        „Keine Erdgasförderung auf Kosten des Trink-
        wassers – Fracking bei der Erdgasförderung
        verbieten“ (Tagesordnungspunkt 10 a und b)
        Den Anträgen der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/
        Die Grünen und Die Linke können wir in der vorliegen-
        den Form nicht zustimmen und folgen deswegen den Be-
        schlussempfehlungen der Ausschüsse für Umwelt, Na-
        turschutz und Reaktorsicherheit sowie für Wirtschaft
        und Technologie. Unsere Position in der Sache erklären
        wir wie folgt:
        Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
        rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
        Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
        liegt. Wir setzen uns für eine nachhaltige Energiepolitik
        ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
        gung auch in Zukunft.
        Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch
        über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und
        flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis
        von Kohle oder Gas notwendig. Bislang wird in Nord-
        rhein-Westfalen kein Erdgas gefördert. Allerdings be-
        steht bei verschiedenen Unternehmen Interesse, die
        Potenziale sogenannter unkonventioneller Erdgasvor-
        kommen zu untersuchen. Das Land Nordrhein-Westfalen
        hat bereits 19 Genehmigungen zur Erkundung sogenann-
        ter unkonventioneller Lagerstätten zu gewerblichen
        Zwecken erteilt, insbesondere in Ostwestfalen, Südwest-
        falen und im Münsterland.
        In den betroffenen Regionen besteht ein hohes Maß
        an Unsicherheit im Hinblick auf die Risiken, die mit der
        Gewinnung von Gas verbunden sind. Dabei geht es ins-
        besondere um eine mögliche Belastung des Grund- und
        Trinkwassers durch das sogenannte Fracking – ein Ver-
        fahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand und
        chemischen Zusätzen in das umlagernde Gestein des Un-
        tergrundes gepresst wird, um den Gasfluss hin zum
        Bohrloch zu stimulieren und die Förderung zu ermögli-
        chen.
        Als Energieland Nummer eins haben wir in Nord-
        rhein-Westfalen ein großes Interesse an Erhaltung und
        Entwicklung neuer energiepolitischer Optionen.
        Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um-
        weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län-
        der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss
        das Land Nordrhein-Westfalen sicherstellen, dass der je-
        weilige Antragsteller verpflichtet wird, alle für die Ent-
        scheidung erforderlichen Informationen bereitzustellen
        und die Auswirkungen auf die Umwelt umfassend zu do-
        kumentieren.
        Solange keine ausreichend fundierten wissenschaftli-
        chen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
        „Fracking“ vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen
        werden. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die
        Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Auf-
        suchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventio-
        nellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst
        dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
        die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege-
        benen Studien vorliegen.
        Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
        schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
        derung angepasst werden. Insbesondere halten wir eine
        Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt-
        verträglichkeitsprüfung – UVP –, die im Bergrecht für
        die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für
        das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist
        aus unserer Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen
        vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender
        Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl
        bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie
        eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhal-
        tet dann auch eine verpflichtende, transparente und
        effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi-
        gung des Probefrackings. Zudem sind die Wasserbehör-
        den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen
        Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf
        das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können,
        ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den Mit-
        gliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Wir un-
        21284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        terstützen daher die Bemühung im Europäischen Parla-
        ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
        Eine Erdgasförderung in Nordrhein-Westfalen kommt
        nur infrage, wenn sie von der Bevölkerung in der Region
        akzeptiert wird. Dafür ist eine umfassende Transparenz
        eine zentrale Voraussetzung. Die Landesregierung ist in
        der Pflicht, die Aufklärung der Bevölkerung über die Ri-
        siken des „Fracking“ deutlich zu verbessern.
        Für uns hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmigun-
        gen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwortliche
        Risiken für Mensch und Natur vollständig ausgeschlos-
        sen werden können.
        Anlage 5
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu den namentlichen Abstimmungen über die
        Beschlussempfehlung zu den Anträgen: „Leit-
        linien für Transparenz und Umweltverträglich-
        keit bei der Förderung von unkonventionellem
        Erdgas“ und „Transparenz und Kontrolle bei
        der Förderung von unkonventionellem Erdgas
        in Deutschland“ sowie über die Beschlussemp-
        fehlung zu dem Antrag: „Keine Erdgasförde-
        rung auf Kosten des Trinkwassers – Fracking
        bei der Erdgasförderung verbieten“ (Tagesord-
        nungspunkt 10 a und b)
        Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich lehne den oben
        genannten Antrag der SPD-Bundestagsfraktion nicht aus
        inhaltlichen, sondern vor allem aus formalen Gründen
        ab. Eine Abstimmung ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht
        sinnvoll, weil die Ergebnisse der vom Bundesumweltmi-
        nisterium in Auftrag gegebenen Studie zum Fracking
        noch nicht vorliegen. Leider ist der Zeitpunkt der Ab-
        stimmung offenbar dem Wahlkampf in Nordrhein-West-
        falen geschuldet. Ich kritisiere in diesem Zusammen-
        hang ebenso, dass der Antrag der SPD auf die
        Alternative verzichtet, Fracking ganz zu verbieten. Für
        mich bleibt es bei meiner Haltung, die ich verschiedent-
        lich in meinem Wahlkreis vertreten habe: Fracking
        kommt für mich nicht in Betracht, wenn nicht durch
        Umweltverträglichkeitsprüfungen jegliche schädlichen
        Umwelteinwirkungen ausgeschlossen sind, keine Trink-
        wasserschutzgebiete betroffen werden und eine Beteili-
        gung aller kommunal- und wasserrechtlich zuständigen
        Behörden und damit auch eine umfassende Bürgerbetei-
        ligung gewährleistet sind.
        Ich beziehe mich im Übrigen auf den Bericht des
        Umweltausschusses zum Antrag der SPD-Bundestags-
        fraktion und schließe mich den dort genannten Gründen
        der Ablehnung durch die CDU/CSU-Bundestagsab-
        geordneten im Umweltausschuss an. Aus den gleichen
        Gründen lehne ich die ähnlichen Anträge zum Thema
        Fracking von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
        Die Linke ebenso ab.
        Axel Knoerig (CDU/CSU): Den Anträgen der Frak-
        tionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke kann
        ich in der vorliegenden Form nicht zustimmen und folge
        deswegen den Beschlussempfehlungen der Ausschüsse
        für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie
        für Wirtschaft und Technologie. Meine Position in der
        Sache erkläre ich wie folgt:
        Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
        rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
        Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
        liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik
        ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
        gung auch in Zukunft.
        Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch
        über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und
        flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis
        von Kohle oder Gas notwendig. Bislang wird in Nieder-
        sachsen kein Erdgas aus unkonventionellen Quellen
        – Schiefergas, Sandstein – gefördert. Allerdings besteht
        bei verschiedenen Unternehmen Interesse, die Poten-
        ziale sogenannter unkonventioneller Erdgasvorkommen
        zu untersuchen.
        In den betroffenen Regionen besteht ein hohes Maß
        an Unsicherheit im Hinblick auf die Risiken, die mit der
        Gewinnung von Gas verbunden sind. Dabei geht es ins-
        besondere um eine mögliche Belastung des Grund- und
        Trinkwassers durch das sogenannte Fracking – ein Ver-
        fahren, bei dem ein Gemisch aus Wasser, Quarzsand und
        chemischen Zusätzen in das umlagernde Gestein des Un-
        tergrundes gepresst wird, um den Gasfluss hin zum
        Bohrloch zu stimulieren und die Förderung zu ermögli-
        chen.
        Als das am meisten betroffene Bundesland hat Nie-
        dersachsen ein großes Interesse an Erhaltung und Ent-
        wicklung neuer energiepolitischer Optionen. Zuständig
        für den Vollzug der bergbaulichen und umweltrechtli-
        chen Vorschriften sind die Behörden der Länder. Bei der
        Genehmigung von Probebohrungen muss das Land Nie-
        dersachsen sicherstellen, dass der jeweilige Antragsteller
        verpflichtet wird, alle für die Entscheidung erforder-
        lichen Informationen bereitzustellen und die Auswirkun-
        gen auf die Umwelt umfassend zu dokumentieren.
        Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft-
        lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
        Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer-
        den. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Studie
        „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsu-
        chung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionel-
        len Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann
        über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die
        von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gegebenen
        Studien vorliegen.
        Eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung
        – UVP –, die im Bergrecht für die reine Erkundung von
        Bodenschätzen, also auch für das Probefracking, derzeit
        nicht vorgeschrieben ist, ist aber unerlässlich. Umweltri-
        siken bestehen vor allem dann, wenn unter Einsatz was-
        sergefährdender Stoffe gefrackt wird. So müssen neben
        Grund-, Trink- und Heilwasserquellen auch Mineralwas-
        serquellen in die UVP-Prüfung aufgenommen werden
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21285
        (A) (C)
        (D)(B)
        und in diesen Gebieten ein umfassendes Fracking-Verbot
        gelten.
        Deshalb soll für diese Fälle sowohl bei der Erdgasge-
        winnung als auch bei der Geothermie eine zwingende
        UVP eingeführt werden. Diese beinhaltet dann auch eine
        verpflichtende, transparente und effektive Öffentlich-
        keitsbeteiligung vor einer Genehmigung des Probefra-
        ckings. Zudem sind die Wasserbehörden verpflichtend
        zu beteiligen, ebenso die betroffenen Landkreise und
        Kommunen. Da die Auswirkungen auf das Grundwasser
        auch grenzüberschreitend sein können, ist es geboten,
        entsprechend hohe Regeln in den Mitgliedstaaten der
        Europäischen Union zu haben. Wir unterstützen daher
        die Bemühung im Europäischen Parlament um ver-
        gleichbar hohe Sicherheitsstandards.
        Eine Förderung unkonventionellen Erdgases in Nie-
        dersachsen kommt nur infrage, wenn die bundesrechtli-
        chen Bedingungen nach dem Auslaufen des Moratori-
        ums schnellstmöglich geregelt werden. Nach dem
        Vorliegen der Fracking-Gutachten des Bundesumwelt-
        ministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums
        muss unverzüglich ein Gesetzentwurf dem Bundestag
        vorgelegt werden. Ebenso muss erwartet werden, das
        Fracking von der Bevölkerung in der Region akzeptiert
        wird und Öffentlichkeitsarbeit geleistet wird. Dafür ist
        umfassende Transparenz eine zentrale Voraussetzung.
        Die Landesregierung ist in der Pflicht, die Aufklärung
        der Bevölkerung über die Risiken des Fracking deutlich
        zu verbessern.
        Für mich hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmi-
        gungen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwortli-
        che Risiken für Mensch und Natur vollständig ausge-
        schlossen werden können.
        Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Als eine der
        großen Wirtschaftsnationen der Welt hat Deutschland
        ein großes Interesse an Erhaltung und Entwicklung
        neuer energiepolitischer Optionen. Dies gilt für das
        Energieland Nordrhein-Westfalen in besonderer Weise.
        Solange keine ausreichend fundierten wissenschaftli-
        chen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
        Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer-
        den. Ich begrüße, dass die Bundesregierung die Studie
        „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Aufsu-
        chung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionel-
        len Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst dann
        über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn die
        von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gegebenen
        Studien vorliegen.
        Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
        schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
        derung angepasst werden. Insbesondere halte ich eine
        Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt-
        verträglichkeitsprüfung, UVP, die im Bergrecht für die
        reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für das
        Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist aus
        meiner Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen vor
        allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender
        Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl
        bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie
        eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese beinhal-
        tet dann auch eine verpflichtende, transparente und ef-
        fektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi-
        gung des Probefrackings. Zudem sind die Wasserbehör-
        den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen
        Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf
        das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können,
        ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den
        Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Ich
        unterstütze daher die Bemühung im Europäischen Parla-
        ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
        Eine Erdgasförderung in Nordrhein-Westfalen kommt
        nur infrage, wenn sie von der Bevölkerung in der Region
        akzeptiert wird. Dafür ist eine umfassende Transparenz
        eine zentrale Voraussetzung. Die Landesregierung ist in
        der Pflicht, die Aufklärung der Bevölkerung über die Ri-
        siken des Fracking deutlich zu verbessern.
        Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um-
        weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län-
        der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss
        das Land Nordrhein-Westfalen sicherstellen, dass der je-
        weilige Antragsteller verpflichtet wird, alle für die Ent-
        scheidung erforderlichen Informationen bereitzustellen
        und die Auswirkungen auf die Umwelt umfassend zu do-
        kumentieren. Genehmigungen dürfen nur erteilt werden,
        wenn unverantwortliche Risiken für Mensch und Natur
        vollständig ausgeschlossen werden können.
        Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Den Anträgen der
        Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
        kann ich in der vorliegenden Form nicht zustimmen und
        folge deswegen den Beschlussempfehlungen der Aus-
        schüsse für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit
        sowie für Wirtschaft und Technologie. Meine Position in
        der Sache erkläre ich wie folgt:
        Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
        rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
        Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
        liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik
        ein und für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
        gung auch in Zukunft.
        Als Ergänzung der erneuerbaren Energien ist noch
        über Jahrzehnte hinweg der Einsatz hocheffizienter und
        flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke auf der Basis
        von Kohle oder Gas notwendig.
        Zuständig für den Vollzug der bergbaulichen und um-
        weltrechtlichen Vorschriften sind die Behörden der Län-
        der. Bei der Genehmigung von Probebohrungen muss das
        Land Niedersachsen sicherstellen, dass der jeweilige An-
        tragsteller verpflichtet wird, alle für die Entscheidung er-
        forderlichen Informationen bereitzustellen und die Aus-
        wirkungen auf die Umwelt umfassend zu dokumentieren.
        Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft-
        lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
        Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen
        werden. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die
        Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der
        Aufsuchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonven-
        21286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        tionellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst
        dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
        die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege-
        benen Studien vorliegen.
        Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
        schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
        derung angepasst werden. Insbesondere halte ich eine
        Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine Umwelt-
        verträglichkeitsprüfung – UVP – die im Bergrecht für
        die reine Erkundung von Bodenschätzen, also auch für
        das Probefracking, derzeit nicht vorgeschrieben ist, ist
        aus meiner Sicht unerlässlich. Umweltrisiken bestehen
        vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefährdender
        Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll für diese Fälle sowohl
        bei der Erdgasgewinnung als auch bei der Geothermie
        eine zwingende UVP eingeführt werden. Diese bein-
        haltet dann auch eine verpflichtende, transparente und
        effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer Genehmi-
        gung des Probefracking. Zudem sind die Wasserbehör-
        den verpflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen
        Landkreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf
        das Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können,
        ist es geboten, entsprechend hohe Regeln in den
        Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu haben. Ich
        unterstütze daher die Bemühung im Europäischen Parla-
        ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
        Auch die Entsorgung der Fracking-Flüssigkeiten so-
        wohl bei der Förderung von Erdgas aus unkonventionel-
        len als auch aus konventionellen Gasvorräten muss so
        erfolgen, dass davon keine Gefahren für Mensch, Tier
        und Umwelt ausgehen. Bei dem Transport durch unter-
        irdische Leitungen kam es in der jüngsten Vergangenheit
        vielfach im Land Niedersachsen zu Leckagen. In
        Langwedel-Völkersen, das in meinem Wahlkreis liegt,
        haben diese Leckagen zu einer Kontaminierung des
        Bodens mit krebserregendem Benzol geführt und so
        Mensch, Tier und Umwelt gefährdet. Äußerst kritisch ist
        zudem die Verpressung von kontaminiertem Wasser in
        Trinkwasserschutzgebieten.
        Das bisher praktizierte Verfahren, dass das mit hoch-
        giftigen Stoffen kontaminierte Wasser kilometerweit
        durch unterirdische Leitungen zum Ort der Verpressung
        im Boden transportiert wird, ist zu überprüfen. Bereits
        jetzt ist es technisch möglich, das bei der Erdgasförde-
        rung anfallende Lagerstättenwasser an der jeweiligen
        Bohrstelle so aufzubereiten und zu reinigen, dass das ge-
        reinigte Wasser anschließend in einer normalen Kläran-
        lage entsorgt werden kann. Es muss das Ziel sein, die
        Entsorgung des Lagerstättenwassers so vorzunehmen
        und nicht weiter das kontaminierte Wasser in kilometer-
        langen Leitungen zu transportieren und im Boden zu
        verpressen.
        Für mich hat Sicherheit höchste Priorität. Genehmi-
        gungen dürfen nur erteilt werden, wenn unverantwort-
        liche Risiken für Mensch und Natur vollständig aus-
        geschlossen werden können.
        Tankred Schipanski (CDU/CSU): Den Anträgen
        der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
        Die Linke kann ich in der vorliegenden Form nicht
        zustimmen und folge deswegen den Beschlussempfeh-
        lungen der Ausschüsse für Umwelt, Naturschutz und
        Reaktorsicherheit sowie für Wirtschaft und Technologie.
        Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt:
        Deutschland hat mit der Energiewende die Vorreiter-
        rolle für eine Energiezukunft übernommen, die in der
        Verbindung aus Wachstum und Ressourcenschonung
        liegt. Ich setze mich für eine nachhaltige Energiepolitik
        ein sowie für eine sichere und bezahlbare Energieversor-
        gung auch in Zukunft. Als Ergänzung der erneuerbaren
        Energien wird noch über Jahrzehnte hinweg der Einsatz
        hoch effizienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraft-
        werke auf der Basis von Kohle oder Gas notwendig sein.
        Vielerorts bestehen jedoch Bedenken angesichts mög-
        licher Gefahren, die mit der Gewinnung von Gas
        verbunden sind. Dabei geht es insbesondere um eine
        mögliche Belastung des Grund- und Trinkwassers durch
        das sogenannte Fracking – ein Verfahren, bei dem ein
        Gemisch aus Wasser, Quarzsand und chemischen Zusät-
        zen in das umlagernde Gestein des Untergrundes ge-
        presst wird, um den Gasfluss hin zum Bohrloch zu sti-
        mulieren und die Förderung zu ermöglichen.
        Solange keine ausreichend fundierten wissenschaft-
        lichen Kenntnisse zu den möglichen Auswirkungen von
        Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten geschaffen wer-
        den. Ich begrüße es daher, dass die Bundesregierung die
        Studie „Umweltauswirkungen von Fracking bei der Auf-
        suchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventio-
        nellen Lagerstätten“ in Auftrag gegeben hat und erst
        dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
        die von Bundes- und Landesregierung in Auftrag gege-
        benen Studien vorliegen. Dies ist nach meiner Überzeu-
        gung der richtige Weg, um den in der Bevölkerung be-
        stehenden Bedenken hinsichtlich möglicher Gefahren,
        die mit dieser Fördermethode verbunden sein können,
        gerecht zu werden.
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Erstens. Ich
        werde die Anträge von SPD und Die Linke ablehnen.
        Zweitens. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
        kann eine Grundlage für weitere Diskussionen sein.
        Drittens. Solange keine ausreichend fundierten wis-
        senschaftlichen Kenntnisse zu den möglichen Auswir-
        kungen von Fracking vorliegen, dürfen keine Fakten ge-
        schaffen werden. Ich begrüße, dass die Bundesregierung
        die Studie Umweltauswirkungen von Fracking bei der
        Aufsuchung und Gewinnung von Erdgas aus unkonven-
        tionellen Lagerstätten in Auftrag gegeben hat und erst
        dann über die Erdgasförderung entscheiden will, wenn
        die Studien vorliegen.
        Die Genehmigungsverfahren müssen den spezifi-
        schen Erfordernissen der unkonventionellen Erdgasför-
        derung angepasst werden. Insbesondere hält die CDU/
        CSU eine Änderung des Bergrechts für notwendig. Eine
        Umweltverträglichkeitsprüfung – UVP –, die im Berg-
        recht für das Probefracking derzeit nicht vorgeschrieben
        ist, ist aus unserer Sicht unerlässlich. Umweltrisiken be-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21287
        (A) (C)
        (D)(B)
        stehen vor allem dann, wenn unter Einsatz wassergefähr-
        dender Stoffe gefrackt wird. Deshalb soll bei der Erdgas-
        gewinnung eine zwingende UVP eingeführt werden.
        Diese beinhaltet dann auch eine verpflichtende, transpa-
        rente und effektive Öffentlichkeitsbeteiligung vor einer
        Genehmigung. Zudem sind die Wasserbehörden ver-
        pflichtend zu beteiligen, ebenso die betroffenen Land-
        kreise und Kommunen. Da die Auswirkungen auf das
        Grundwasser auch grenzüberschreitend sein können, un-
        terstütze ich die Bemühung des Mitglieds des Europäi-
        schen Parlaments Dr. Peter Liese im Europäischen Parla-
        ment um vergleichbar hohe Sicherheitsstandards.
        Viertens. Die beiden Anträge von SPD und Die Linke
        sind sowohl materiell-rechtlich als auch verfassungs-
        rechtlich zu beanstanden. Zudem ist die Einbringung
        beider Anträge zum jetzigen Zeitpunkt offensichtlich
        dem Umstand geschuldet, dass am 13. Mai 2012 in
        Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen stattfinden. Dass
        sich die SPD nun ereifert, ist heuchlerisch, hätte sie doch
        zu ihrer Regierungszeit bereits Regelungen treffen kön-
        nen. Was hat Herr Gabriel als Umweltminister von 2005
        bis 2009 eigentlich gemacht?
        Kurz vor den Landtagswahlen nun Vorschläge einzu-
        bringen, kann nur einem Zweck dienen, dem Wahl-
        kampf. Dies ist abzulehnen. Die Anträge vermögen es
        darüber hinaus nicht, den verfassungsrechtlichen Auf-
        trag, die Umwelt zu schützen, gemäß Art. 20 a Grundge-
        setz im Verhältnis zu anderen Interessen abzuwägen und
        eine sachorientierte Lösung zu schaffen.
        Vielmehr fordert die SPD, dass durch das Fracking
        eingetretene Schäden nicht von der Allgemeinheit, son-
        dern von den jeweiligen Betreibern getragen werden.
        Dies bedeutet, dass die SPD Schäden durchaus in Kauf
        nehmen will, Hauptsache jemand bezahlt dann dafür.
        Hier geht es aber um den Schutz unseres Trinkwassers.
        Dieses darf nicht verunreinigt werden. Wenn man im
        Nachgang dafür Geld bekommt, wird nichts besser, dann
        nämlich ist bereits ein unbezahlbarer Schaden eingetre-
        ten.
        Im Gegensatz hierzu steht der Antrag von Bündnis 90/
        Die Grünen. Dieser Antrag ist zumindest als Grundlage
        für weitere Beratungen als unterstützungswürdig anzuse-
        hen. Vor allem die Forderung nach einer Aussetzung des
        Verfahrens, bis weitere Erkenntnisse zum Fracking vor-
        liegen, die Forderung, die Öffentlichkeitsbeteiligung und
        Transparenz zu erhöhen, und die Forderung nach einer
        Umweltverträglichkeitsprüfung decken sich mit den For-
        derungen der CDU/CSU. Letztlich fordert dieser Antrag,
        in Anlehnung an die Initiative der Europäischen Kom-
        mission eine grundlegende Überprüfung des deutschen
        Rechtsrahmens für die Förderung von unkonventionel-
        lem Erdgas einzuleiten. Auch diese Forderung muss ich
        nicht ablehnen.
        Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen trägt mithin
        ausreichend Potenzial für einen weiteren verantwor-
        tungsvollen Umgang bei der Förderung von Erdgas in
        sich. Daher werde ich diesen Antrag nicht ablehnen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag: Schweinepest tier-
        schonend bekämpfen – Notimpfung ersetzt
        grundloses Keulen (Tagesordnungspunkt 11)
        Dieter Stier (CDU/CSU): Ich begrüße ausdrücklich
        diesen interfraktionellen Antrag mit dem tierschonenden
        Ansatz „Impfen statt keulen“ beim Auftreten der Schweine-
        pest. Dieser gemeinsame Antrag, welchen wir heute hier
        beraten, beweist einmal mehr, dass wir über Parteigren-
        zen hinweg ein gemeinsames Ziel haben: Ein Maximum
        an Tierschutz auch bei der Seuchenbekämpfung!
        Unvergessen sind die Bilder von Bergen gekeulter
        Schweine, die in der Vergangenheit durch die Medien
        gingen. Wie verheerend die Dimension der Schweine-
        pest sein kann, zeigte uns ein Seuchenausbruch in den
        Niederlanden 1997/1998, der zu einer Tötung von über
        12 Millionen Schweinen führte. Die direkt entstandenen
        Kosten wurden dabei auf circa 2,3 Milliarden Euro be-
        ziffert. Aus ökonomischer und tierschutzrelevanter Sicht
        eine Katastrophe!
        Diese Bilder haben die Verbraucher entsetzt und na-
        türlich zu Recht fragen lassen, ob eine Keulung wirklich
        auch heute noch zeitgemäß und das einzige Mittel zur
        Eindämmung der Schweinepest sei. Diese Frage ist be-
        rechtigt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die
        Wissenschaft in den letzten 15 Jahren wichtige Fort-
        schritte gemacht hat. Dank intensiver Forschungen ste-
        hen mittlerweile Markerimpfstoffe zur Verfügung, durch
        welche die Schweine wirkungsvoll vor der Tierkrankheit
        geschützt werden können.
        Des Weiteren kann mittlerweile auch der Erreger
        durch neue Verfahren schnell und zuverlässig nachge-
        wiesen werden.
        Dank des wissenschaftlichen Fortschritts haben wir
        nun eine wirksame und akzeptable Alternative gefunden,
        die Massenkeulungen zur Eindämmung der Seuche un-
        nötig machen. Notimpfungen tragen also entscheidend
        zu einem Mehr an Tierschutz bei.
        Die bisherige „Nichtimpfpolitik“ der Europäischen
        Gemeinschaft bei der Klassischen Schweinepest ist folg-
        lich nicht mehr zeitgemäß. Deshalb muss die Bundesre-
        gierung nun auf EU-Ebene Überzeugungsarbeit leisten,
        die in einen Paradigmenwechsel „Impfen statt keulen“
        münden soll. Diese neue Impfstrategie muss im EU-
        Tiergesundheitsrecht verankert werden. Auf nationaler
        Ebene ist eine Anpassung an das Tierseuchenrecht not-
        wendig.
        Dieser klare gesetzliche Rahmen ist die Vorausset-
        zung dafür, dass die EU-Kommission und die Mitglied-
        staaten keine Handelssperre für die Impfregionen erlas-
        sen können. Ebenso müssen die bilateral mit Dritt-
        ländern geschlossenen Veterinärabkommen entspre-
        chend angepasst werden.
        21288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Der Lebensmitteleinzelhandel ist jedoch nur dann be-
        reit, eine Notimpfstrategie mitzutragen, wenn das
        Fleisch geimpfter Tiere auch ohne Einschränkungen in
        allen EU-Mitgliedstaaten zu verkaufen ist. Dieser tier-
        schonende Ansatz darf sich deshalb keinesfalls negativ
        auf den Handel auswirken. Um die Wirtschaftlichkeit
        und Vermarktung von Fleisch geimpfter Tiere sicherzu-
        stellen, bedarf es einer genauen Aufklärung zur Ernäh-
        rungssicherheit. Wirtschaft, Handel und insbesondere
        die Konsumenten sind über die Unbedenklichkeit des
        Fleisches notgeimpfter Tiere zu informieren. Diese Bot-
        schaft muss in aller Deutlichkeit kommuniziert werden.
        An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal auf die
        Bedeutung der Prävention bei der Bekämpfung der
        Schweinepest aufmerksam machen. Seit 2011 sind wie-
        der verstärkt Ausbrüche der Schweinegrippe an den Au-
        ßengrenzen der EU gemeldet worden. Im Februar 2012
        fielen der Afrikanischen Schweinepest in Russland bis-
        her rund 40 000 Schweine zum Opfer.
        Das Friedrich-Löffler-Institut warnt vor allem vor
        dem Einschleppungsrisiko des Virus durch verunreinigte
        Lebensmittel und Speiseabfälle im Personen- und Güter-
        verkehr. Auch kontaminierte und unzureichend desinfi-
        zierte Transportfahrzeuge bergen ein erhöhtes Ein-
        schleppungsrisiko. Perfektes Betriebsmanagement, ein
        hohes Hygieneniveau in den Ställen, stetige Kontrollen
        sowie die Verfütterung sicherer Futtermittel sind hier im-
        mer noch die besten Mittel, um einen Ausbruch von
        Schweinepest vorzubeugen.
        Ein erfolgreiches Umsetzen der EU-Notimpfstrategie
        könnte insbesondere auch unsere osteuropäischen EU-
        Nachbarstaaten motivieren, sich an diesem Konzept zur
        Notimpfung zu orientieren.
        Ich würde mir in anderen Bereichen der Tierschutzde-
        batte ebenfalls eine derart breite inhaltliche Übereinstim-
        mung mit der Opposition wünschen. Bei den Kollegen
        bedanke ich mich deshalb, dass wir diesen gemeinsamen
        Antrag heute auf den Weg bringen können. Denn letzt-
        lich haben wir alle das gemeinsame Ziel, dem Wohle der
        Tiere, der Wirtschaftlichkeit der Betriebe und der Ge-
        sundheit der Verbraucher Rechnung zu tragen.
        Auf EU-Ebene wird Deutschland mit dieser Impfstra-
        tegie seine Vorreiterfunktion in Sachen Tierschutz in
        vorbildlicher Weise erneut unter Beweis stellen.
        Marlene Mortler (CDU/CSU): Erst kommen die
        Tiere und dann die Familie. So sind die Prioritäten in un-
        seren landwirtschaftlichen Familienbetrieben seit eh und
        je gesetzt. Das heißt, erst wenn es meinen Tieren gut
        geht, kann ich mich um meine Familie kümmern.
        Sie mögen das für übertrieben halten. Als Bäuerin
        weiß ich: Das ist gelebte Praxis!
        Das Tierwohl ist für uns alle ein wichtiges Anliegen.
        Daher ist unser gemeinsamer Antrag ein wichtiges Si-
        gnal nach außen: an unsere Bäuerinnen und Bauern, an
        die Handelspartner, an die OIE – die Weltorganisation
        für Tiergesundheit.
        Warum? – Nach der geltenden Schweinepestverord-
        nung werden bei einem Seuchenfall auch viele gesunde
        Schweine im Sperrbezirk getötet, um eine Weiterverbrei-
        tung der Seuche zu verhindern. So wurden zum Beispiel
        beim letzten Seuchenzug in Nordrhein-Westfalen in acht
        Fällen der Klassischen Schweinepest über 150 000
        Schweine gekeult. Ein verantwortungsvoller Umgang
        mit unserer Schöpfung sieht anders aus. Das ist ethisch
        fragwürdig und im wahrsten Sinne des Wortes eine tödli-
        che Verschwendung unserer Ressourcen. Gerade als
        Bäuerin kann ich nachempfinden, wie sich meine Bau-
        ern dabei gefühlt haben müssen. Es gibt nichts Schlim-
        meres, als mitzuerleben, wie die eigenen gesunden Tiere
        vorbeugend vernichtet werden müssen.
        Ich finde es hervorragend, dass sich in dieser Angele-
        genheit eine so breite politische Mehrheit gefunden hat.
        Das ist ein klares Zeichen, dass wir uns unserer mora-
        lisch-ethischen Verantwortung bewusst sind.
        Die bisherige Praxis lässt sich auch angesichts der
        neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht aufrechter-
        halten. Insbesondere durch moderne Nachweisverfahren
        haben wir die Möglichkeit, befallene Bestände schnell
        einzugrenzen und mit dem Instrumentarium der Notimp-
        fung dem Tierschutz gerecht zu werden. Dafür kämpfen
        wir! Das ist unser gemeinsames Ziel!
        Damit im Ernstfall der Grundsatz „Impfen statt Keu-
        len“ in der Tierseuchenbekämpfung durchgreifend wirk-
        sam umgesetzt wird, müssen alle Beteiligten mitmachen.
        Es ist positiv, dass die Bundesregierung hier bereits Vor-
        bereitungen getroffen hat, damit im Ernstfall eine Eilver-
        ordnung, ein großflächiges „Stand still“ einleiten kann.
        Die Länder, denen die Entscheidung für oder gegen eine
        Notimpfung im Seuchenfall obliegt, müssen in diesem
        Fall auch vom Bund durch die Versorgung mit entspre-
        chenden Impfstoffen unterstützt werden. Von entschei-
        dender Bedeutung wird aber sein, dass das Fleisch von
        geimpften Tieren im Vergleich zum Fleisch von nicht ge-
        impften Tieren bei der späteren Verwendung keinerlei
        Beschränkungen unterliegt. Wir haben mit dem heutigen
        Tag zusammen mit dem BMELV den Rahmen gesetzt.
        Nun kommt der nächste Kraftakt. Die Wirtschaft
        kann und muss hier ihren Beitrag leisten. Klar ist: Das
        Fleisch geimpfter Tiere ist qualitativ absolut gleichran-
        gig mit dem ungeimpfter Tiere. Hier muss auch vonsei-
        ten der Wirtschaft unbegründeten Sorgen mit offensiver
        Aufklärung begegnet werden.
        Notgeimpfte, aber gesunde Tiere dürfen nicht länger
        auf internationaler Ebene Verkaufs- und Handelsbe-
        schränkungen unterliegen. Wir werben deshalb für einen
        Paradigmenwechsel in der Tiergesundheitspolitik. Nur
        so können wir unser Ziel erreichen, dass auf Dauer EU-
        weit das Prinzip „Impfen statt Keulen“ durchgesetzt
        wird.
        Gerne sind wir hier Vorreiter – im Sinne des Tier-
        schutzes europa- und weltweit.
        Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Als Tierarzt war ich
        vor knapp zwanzig Jahren unmittelbar von den dramati-
        schen Auswirkungen der Klassischen Schweinepest in
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21289
        (A) (C)
        (D)(B)
        Niedersachsen betroffen. Wozu hat die europäische Tier-
        seuchenpolitik des Stamping-out in der Vergangenheit
        geführt? Nach dem Ausbruch der Klassischen Schweine-
        pest wurden Hunderttausende gesunder Tier gekeult, um
        die Seuche in den Griff zu bekommen. Beim letzten Seu-
        chenzug 2006 in NRW wurden acht betroffene Schwei-
        nebestände identifiziert. Insgesamt wurden jedoch fast
        130 000 Schweine gekeult. Die Folgekosten für die acht
        infizierten Bestände lagen bei etwa 25 Millionen Euro,
        die zum Teil aus öffentlichen Mitteln getragen wurden.
        Weitere geschätzte 30 bis 40 Millionen Euro Verluste
        mussten die deutschen Schweineerzeuger durch Han-
        delsbeschränkungen hinnehmen. Auch bei den anderen
        Seuchenzügen wurden im Regelfall zehnmal mehr
        Schweine gekeult, als erkrankt waren. Das ist nicht mehr
        hinnehmbar.
        Auch die handelspolitischen Folgen in Bezug auf die
        internationalen Vereinbarungen zum Tierseuchenschutz
        sind teilweise absurd: So wurde im jüngsten Fall beim
        Schmallenbergvirus Schweinefleisch für den Export ge-
        sperrt, obwohl Schweine überhaupt nicht von diesem
        Virus infiziert werden können. Wenn zweifelsfrei nach-
        gewiesen wird, dass die Tiere nicht mit einem Feldvirus
        infiziert sind, gibt es keine Notwendigkeit mehr für Han-
        delsverbote. Das muss in internationalen Vereinbarun-
        gen umgesetzt werden, damit handelspolitische Restrik-
        tionen im bilateralen Handel entfallen können. Wir
        müssen international im Rahmen der Weltorganisation
        für Tiergesundheit und innerhalb der Handelsabkommen
        der EU mit Drittstaaten in diesem Bereich zu verbindli-
        chen Vereinbarungen kommen.
        Wir müssen jetzt eine neue Tierseuchenbekämpfungs-
        strategie umsetzen. Die Bekämpfung der Klassischen
        Schweinepest muss an neuen wissenschaftlichen Er-
        kenntnissen ausgerichtet werden. Die Forschung und
        Impfstoffentwicklung hat in den letzten zwanzig Jahren
        erhebliche Fortschritte gemacht. Die kostengünstigen
        Hochdurchsatznachweisverfahren wie das PCR-Verfah-
        ren sind mittlerweile so weit ausgereift, dass mit dem
        Feldvirus infizierte Schweine von nicht infizierten ver-
        lässlich und sicher unterschieden werden können. Au-
        ßerdem bietet die Entwicklung eines neuen gentechnisch
        hergestellten Markerimpfstoffs, der voraussichtlich 2014
        zugelassen wird, eine gute Perspektive für eine verbes-
        serte und moderne Bekämpfungsstrategie gegen die
        Klassische Schweinepest.
        Der bestehende Rechtsrahmen ist auf nationaler und
        europäischer Ebene anzupassen. Die Bundesregierung
        hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in Zu-
        kunft eine effektive und tierschonende Bekämpfung der
        Klassischen Schweinepest möglich wird.
        Die Bundesregierung muss sich jetzt gemeinsam mit
        den anderen europäischen Mitgliedstaaten dafür einset-
        zen, dass Impfung und Diagnostik in eine europäisch
        einheitliche Bekämpfungsstrategie einfließen. Prophy-
        laktische Impfungen wird es sicher auch in Zukunft nicht
        geben. Die sogenannten Notimpfungen werden aber
        nach meinem Kenntnisstand von vielen Mitgliedslän-
        dern befürwortet. Voraussetzung ist jedoch, dass die ge-
        impften Tiere in der EU in den Verkehr gebracht werden
        dürfen. Um dies abzusichern, ist vor allem auch die ge-
        samte Kette vom Schlachtunternehmen über die Verar-
        beitungsunternehmen bis zum Lebensmitteleinzelhandel
        gefordert.
        Vermeintliche Handelsrestriktionen sind nach meiner
        Einschätzung kein vernünftiger Grund für das sinnlose
        Töten von Tieren. Ich halte die bisherige Vorgehens-
        weise auch für einen eklatanten Verstoß gegen das Tier-
        schutzgesetz. Wenn wir an dem bisherigen Verfahren
        festhalten und die Praxis nicht an die wissenschaftlichen
        Entwicklungen und neuen Möglichkeiten der Tierseu-
        chenbekämpfung anpassen, riskieren wir die gesell-
        schaftliche Akzeptanz der Tierhaltung. Das massenhafte
        Keulen gesunder Tiere wird bereits heute nicht mehr ak-
        zeptiert, weder von Landwirten noch von Verbrauchern.
        Wenn wir Wertschöpfung und die tierische Veredelung
        in ländlichen Regionen in der bisherigen Form erhalten,
        müssen wir dafür sorgen, dass die landwirtschaftliche
        Tierproduktion gesellschaftlich akzeptiert bleibt.
        Darüber hinaus ist es auch volkswirtschaftlich voll-
        kommen unsinnig, zum Verzehr geeignete Tiere mit fi-
        nanziellen Mitteln aus öffentlichen Haushalten in der
        Tierkörperbeseitigungsanlage zu entsorgen. Das Tierseu-
        chenrisiko in der Produktion muss auch durch die Ver-
        besserung des Hygienemanagements gesenkt werden.
        Die regionale Verdichtung von Tierhaltungsanlagen mit
        gleichen Tiergattungen und damit die Potenzierung des
        Ansteckungsrisikos ist zukünftig bei der Genehmigung
        neuer Stallanlagen zu berücksichtigen. Erfahrungen aus
        der Bekämpfung des porcinen reproduktiven und respi-
        ratorischen Syndroms in Dänemark und den USA zei-
        gen, dass PRRS-sanierte Bestände regelmäßig wieder
        neu infiziert werden, wenn sie nicht 2 Kilometer von an-
        deren entfernt liegen. Das macht deutlich: Zu geringe
        Abstände und eine zu hohe Verdichtung der Tierproduk-
        tion erhöhen das Tierseuchenrisiko, und die Folgen eines
        Tierseuchenausbruchs potenzieren sich.
        Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiative des
        Deutschen Bauernverbands, des Zentralverbands der
        Geflügelwirtschaft, der Interessengemeinschaft der
        Schweinehalter Deutschlands, der Tierärzteverbände,
        der Fleischwirtschaft und vor allem auch des Deutschen
        Tierschutzbundes. Sie haben mit ihrer Resolution die
        Fragen nach einer neuen Bekämpfungsstrategie auf die
        politische Agenda gesetzt. Wir Sozialdemokraten haben
        diese Initiative im Parlament aufgegriffen und führen sie
        jetzt zum Erfolg. Eigentlich wäre bei diesem wichtigen
        Thema die Regierung gefordert gewesen. Manchmal
        muss man sowohl Regierung als auch Regierungspar-
        teien zum Jagen tragen. Ich glaube, dass dies in diesem
        wichtigen Themenfeld gelungen ist.
        Hans-Michael Goldmann (FDP): Ist in einem
        Schweinestall die Klassische Schweinepest ausgebro-
        chen, muss zurzeit der gesamte Tierbestand gekeult wer-
        den. Getötet werden nicht nur kranke Tiere, sondern
        auch vorbeugend die gesunden – auch im Umkreis von
        3 Kilometern von dem betroffenen Stall. So wurden
        2006 mehrere Tausend Schweine allein in Deutschland
        gekeult.
        21290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
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        Für uns ist das Keulen ganzer Bestände keine über-
        zeugende und zeitgemäße Antwort auf die Schweine-
        pest. Das ist eher ein tierschutz- und agrarpolitischer Irr-
        weg. Dass da eine Ab- und Umkehr überfällig ist, habe
        ich schon vor mehreren Jahren erkannt und gefordert.
        Entsprechende Anträge hat die FDP bereits in der
        14. und 15. Wahlperiode in die parlamentarische Bera-
        tung eingebracht. Umso mehr freue ich mich, dass wir
        heute einen interfraktionellen Antrag in diese Richtung
        verabschieden. Damit stellen wir die Weichen für einen
        dringend notwendigen Modernisierungskurs in der Tier-
        seuchenbekämpfung. Denn ohne den Paradigmenwech-
        sel werden wir nicht eine moderne und tierschutzfreund-
        liche Bekämpfungsstrategie herbeiführen können.
        Die Klassische Schweinepest ist eine hochgradig an-
        steckende Viruserkrankung, die zu hohen Tierverlusten
        und schweren wirtschaftlichen Schäden in der Agrar-
        wirtschaft führen kann. Deswegen muss der Seuche mit
        präventiven Maßnahmen vorgebeugt werden, und jeder
        Verdacht muss von den Landwirten ernst genommen und
        gemeldet werden. Im Fall eines Ausbruchs zählt jeder
        Tag. Bei einem chronischen Verlauf ist die Erkennung
        häufig schwieriger als in der akuten Form. Infizierte Be-
        stände müssen getötet und unschädlich entsorgt werden.
        Damit keine gesunden Tiere unnötig getötet werden, for-
        dern wir in unserem Antrag, dass Keulungen auf das un-
        erlässliche Maß reduziert werden. Gesunde Tiere be-
        kommen eine Notimpfung verabreicht.
        Fleischprodukte, die von notgeimpften Tieren herge-
        stellt wurden, sind gesundheitlich unbedenklich und eig-
        nen sich für den menschlichen Verzehr. Durch verstärkte
        Aufklärung müssen die Verbraucher über die Unbedenk-
        lichkeit solcher Nahrungsmittel informiert werden. Es
        darf nicht dazu kommen, dass die Konsumenten das Ver-
        trauen in die Lebensmittel verlieren und die Produkte ab-
        lehnen. Nur mit einer breiten und offensiven Kampagne
        lassen wir Unsicherheiten nicht aufkommen.
        Informieren und aufklären müssen wir auch die Han-
        delspartner aus dem EU-Ausland und aus Drittländern.
        Da Fleisch von geimpften Tieren nicht die gebotene Ak-
        zeptanz findet, muss alles getan werden, damit es zu kei-
        nen Problemen beim Absatz oder Export von Schweine-
        produkten kommt. Nur durch Gespräch und Aufklärung
        können wir Marktstörungen bzw. Handelshemmnissen
        entgegenwirken. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel
        muss sich auch der Problematik stellen und das Fleisch
        von geimpften Tieren vermarkten. Denn – um es noch-
        mals zu betonen – die Produkte von geimpften Schwei-
        nen sind hundertprozentig gesund und sicher. Es wäre
        verfehlt, aus handelspolitisch bedingten Gründen dieses
        praktikable Notimpfkonzept scheitern zu lassen. Unsere
        Fleischwirtschaft muss von der Regierung bei der Kon-
        zeptentwicklung zur Schlachtung und Verarbeitung ge-
        impfter Tiere unterstützt werden.
        Auch auf europäischer Ebene muss sich die Bundes-
        regierung entschieden für eine Änderung der Nichtimp-
        fungspolitik in ganz Europa einsetzen. An die Stelle der
        Nichtimpfungspolitik muss der Grundsatz „Impfen statt
        Keulen“ treten. Nur durch eine gezielte Impfung lässt
        sich die Ausbreitung der Schweinepest tierschonend ver-
        hindern und großer Schaden von der Land- und Ernäh-
        rungswirtschaft abwenden. Das Ministerium muss sich
        bei den Verhandlungen über die neue Tiergesundheits-
        strategie der Europäischen Union ab 2014 stark dafür
        einsetzen, dass das Notimpfkonzept deutlicher zum Tra-
        gen kommt. Durch verbesserte Rahmenbedingungen für
        die Notimpfung gegen die Schweinepest in der gesamten
        EU wäre auch die Frage der Vermarktung in den Mit-
        gliedstaaten vom Tisch.
        Der Ansatz „Impfen statt Keulen“ ist aus Verantwor-
        tung für die Ernährungssicherheit und unter tierethischen
        Aspekten eine praktikable Maßnahme, die einstimmig
        von der Tierärzteschaft, der Landwirtschaft und von den
        Tierschutzorganisationen befürwortet wird. Erfreuliche
        Einstimmigkeit ist auch in den Reihen der Bundestags-
        fraktionen festzustellen. An der Stelle möchte ich mich
        bei allen Kolleginnen und Kollegen für die gute fach-
        liche Zusammenarbeit bei der Erarbeitung des Antrags
        bedanken. Ich freue mich auf eine weitere konstruktive
        Zusammenarbeit in unserem Ausschuss. Im Tierschutz-
        und Tiergesundheitsbereich steht noch einiges an, und
        das können wir im kollegialen Austausch zum Wohl von
        Mensch und Tier gut meistern.
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Die Europäi-
        sche oder Klassische Schweinepest ist eine der bedroh-
        lichsten Tierseuchen für Haus- und Wildschweine, vor
        allem deshalb, weil sie sehr leicht von Tier zu Tier, von
        Stall zu Stall übertragbar ist. Wird sie amtlich festge-
        stellt, kommt es zu drastischen Gegenmaßnahmen. Um
        eine weitere Ausbreitung zu vermeiden, werden auch ge-
        sunde Schweine unverzüglich getötet. Keulen nennt man
        das. Das hat fatale Folgen, vor allem dort, wo viele
        Schweine gehalten werden. So mussten zum Beispiel im
        März 2006 in NRW mehr als 92 000 Schweine gekeult
        werden. Das sind gigantische Mengen.
        Ein Teil solcher vorsorglichen Tötungen könnte ver-
        mieden werden, zum Beispiel mittels sofortiger Impfung
        der Schweine. Wirksame Impfstoffe dafür gibt es, aber
        solche Notimpfungen sind derzeit verboten, weil früher
        geimpfte Schweine nicht sicher von infizierten Tieren
        unterschieden werden konnten.
        Doch mittlerweile kann man durch sogenannte Mar-
        kerimpfstoffe die Antikörper aus natürlichen Infektionen
        von solchen aus Impfungen unterscheiden. „Impfen statt
        Keulen“ heißt daher das Gebot der Stunde.
        Deshalb unterstützt die Linke ausdrücklich das Anlie-
        gen des fraktionsübergreifenden Antrags. Notimpfungen
        müssen endlich möglich sein.
        Dieser Antrag wurde von allen fünf Fraktionen erar-
        beitet. Leider wird die Linksfraktion im Autorenkollek-
        tiv nicht mehr genannt. Auf Druck der Unionsfraktion
        wurde nun schon zum dritten Mal in diesem Jahr ein ge-
        meinsam erarbeiteter, interfraktioneller Antrag ohne die
        Linksfraktion eingereicht.
        Deshalb auch heute meine Forderung an die Union:
        Beenden Sie den kalten Krieg.
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        SPD, Grüne und FDP frage ich: Wie lange wollen Sie
        eigentlich dieses vordemokratische Spiel mitmachen?
        Das nagt auch an Ihrer Glaubwürdigkeit!
        Doch zurück zum Antrag. Der greift leider insgesamt
        zu kurz. Er blendet aus, dass ein strategischer Ansatz zur
        Bekämpfung der Schweinepest nötig ist. Infektions- und
        Verbreitungsrisiken müssen minimiert, effektive Be-
        kämpfungsstrategien entwickelt und erprobt werden.
        Wir brauchen dafür erstens mehr Forschung und
        zweitens eine andere Marktausrichtung. Das will ich
        gern näher erläutern.
        Zur Forschung: Noch wichtiger als die Erlaubnis von
        Notimpfungen ist die Vermeidung von Schweinepestin-
        fektionen. Dazu werden wissenschaftlich begründete
        Konzepte zur Risikovermeidung und effektiven Be-
        kämpfung gebraucht. Kosten und Nutzen solcher Maß-
        nahmen müssen sachlich fundiert für jede Einzelsitua-
        tion abgewogen werden können. Wie groß muss zum
        Beispiel ein Sperrbezirk sein, damit eine Weiterverbrei-
        tung verhindert, der wirtschaftliche Schaden durch die
        Sperrung aber begrenzt wird? Welche Risikofaktoren
        müssen wie berücksichtigt werden? Angewandte Tier-
        seuchenforschung, insbesondere epidemiologische For-
        schung, muss deshalb gestärkt, erworbene Erkenntnisse
        in die Praxis umgesetzt sowie in Lehre und Ausbildung
        eingeführt werden.
        Stattdessen bauen alle Bundesregierungen seit 1996
        in der Agrarressortforschung kräftig Personal ab und
        schließen Forschungsstandorte. Vermeintlich prestige-
        trächtige Grundlagenforschung und Exzellenzinstitute
        pflegt man. Dagegen fristet das Epidemiologische Insti-
        tut des FLI in Wusterhausen/Dosse seit Jahren ein gedul-
        detes Schattendasein. Ende 2013 soll dort endgültig der
        Letzte das Licht ausmachen und zur Insel Riems umzie-
        hen. Regional- und sozialpolitisch ist das ein Desaster.
        Kurzfristiges haushalterisches Denken hat hier wieder
        einmal über wissenschaftliche Arbeitsfähigkeit und
        Standortpolitik gesiegt.
        Zurück zum Antrag: Er verschweigt auch die eigentli-
        chen Gründe für die Nichtimpfpolitik in der EU. Imp-
        fungen wären ein Handelshemmnis. Es ist sicherer, Tiere
        mit Infektionsverdacht zu töten als das Restrisiko einer
        Infektionsverbreitung einzugehen. Aber können Han-
        delswünsche vernünftige Gründe zur Tötung gesunder
        Tiere sein, die das Tierschutzgesetz vorschreibt, mal
        ganz davon abgesehen, dass der Export und damit Trans-
        port lebender Tiere ohnehin zu hinterfragen ist?
        Leider klammert der Antrag diesen Aspekt größten-
        teils aus. Die Antragsteller machen sich vor allem Sor-
        gen darüber, ob skeptische Verbraucherinnen und Ver-
        braucher innerhalb der EU von der Unbedenklichkeit des
        Fleischs geimpfter Schweine überzeugt werden können.
        Wenn wir über das Schweinepestrisiko reden, ist auch
        ein Blick auf den gesamten Schweinemarkt erhellend.
        Zur Infektionsvermeidung müsste er komplett anders
        ausgerichtet werden.
        257 Millionen Schweine werden dieses Jahr in der
        EU produziert, davon 46 Millionen in Deutschland.
        Zwar ist die Produktion damit leicht gesunken. Aber
        noch immer wird in der EU Schweinefleisch deutlich
        über der einheimischen Nachfrage produziert: 110 Pro-
        zent. Da innerhalb der EU immer weniger Schweine-
        fleisch gegessen wird, muss immer mehr exportiert wer-
        den. Der weltweite Handel mit Schweinefleisch ist im
        Jahr 2011 auf ein Rekordniveau gestiegen und wuchs ge-
        genüber 2010 um über 10 Prozent.
        Das hat neben dem Risiko einer Infektionsverbreitung
        eine weitere Schattenseite: Das für diese Überproduktion
        benötigte Futter wird nur zum Teil in der EU produziert.
        Über 80 Prozent der Eiweißfutterpflanzen werden ak-
        tuell in die EU importiert. Das sind 40 Millionen Tonnen
        pro Jahr. Weil Europa reich ist, kann das Futter billig auf
        dem Weltmarkt eingekauft werden. Nachhaltig ist das
        nicht. Dabei brauchen wir mehr soziale und ökologische
        Verantwortung. Fleischproduktion muss sich klarer am
        einheimischen Bedarf orientieren. Eine strategische
        Ausrichtung auf Export lehnt die Linke ab. Wir müssen
        wieder mehr selbst Futtermittel anbauen, natürlich gen-
        technikfrei. Auch über eine Beschränkung der Futtermit-
        telimporte müssen wir nachdenken.
        Fazit: Der Antrag hat seine Schwächen, aber das An-
        liegen teilen wir. Daher enthält sich die Linke.
        Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wer nach dem massiven Schweinepestausbruch
        vor nun bald 15 Jahren die Mengen zwangsgetöteter
        Tiere gesehen hat, wer mit den psychisch Betroffenen in
        den leeren Ställen gesprochen hat, wer den riesigen
        volkswirtschaftlichen Schaden wahrgenommen hat, den
        das zigtausendfache Töten von absolut gesunden Tieren
        in der Nähe von betroffenen Betrieben angerichtet hat,
        der kann nur zustimmen, dass „Impfen statt Keulen“ der
        richtige Ansatz für die Bekämpfung der Schweinepest
        ist.
        Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, die wir durch
        neue Marktimpfstoffe haben. Die erheblichen Handels-
        hemmnisse für geimpfte Tiere müssen abgebaut werden.
        Es ist nicht mehr einzusehen, warum geimpfte Tiere
        nicht vom Handel akzeptiert werden. Wir können durch
        Notimpfungen das massenhafte Töten von gesunden
        Tieren vermeiden. Daher unterstützen wir Grüne diesen
        fraktionsübergreifenden Antrag.
        Die Seuchenausrottungsstrategie – wie bei der
        Schweinepest – ist in Zeiten des globalisierten Tierhan-
        dels nicht mehr zeitgemäß. Im Extremfall, wie bei BSE,
        dieser Herausforderung mit der Verbrennung von Tier-
        kadaverscheiterhaufen entgegentreten zu wollen, ist äu-
        ßerst widerwärtig, brutal und aussichtslos; auch weil
        zum Beispiel die zahlreichen Wildschweinpopulationen
        in unseren Wäldern und auf unseren Maisäckern ein end-
        loses Reservoir für die Schweinepest sind.
        Übrigens: Mit der Variante der Vogelgrippe haben wir
        ein ganz ähnliches Problem. Obwohl große Einigkeit be-
        steht, dass das Fleisch der befallenen Tiere für Verbrau-
        cher völlig ungefährlich ist, wird weiterhin gekeult. Zu-
        letzt 2010 in Mecklenburg-Vorpommern. Der ganz
        banale Grund lautete: Weder Schlachthöfe noch Fleisch-
        21292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
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        verarbeiter waren bereit, die 17 000 Tiere und deren
        Fleisch abzunehmen.
        Als ersten Schritt brauchen wir eine Änderung der ge-
        setzlichen Vorgaben auf EU-Ebene. Die Einstufung als
        Land mit Schweinepest wird bisher durch eine Impfung
        verlängert. Impfen muss – wo immer möglich – zur Re-
        gel werden, Keulen die Ausnahme. Gemeinsam mit
        Fleischverarbeitern und Verbrauchervertretern müssen
        wir nach Möglichkeiten suchen, das Fleisch geimpfter
        Tiere zu vermarkten.
        Doch vordringlich müssen wir uns mit aller Kraft der
        Vermeidung von Tierseuchen widmen. Deshalb müssen
        wir die regional viel zu hohen Konzentrationen von In-
        tensivmassentierhaltung abbauen. Riesige Ställe mit
        mehreren Zehntausenden von Schweinen, Regionen mit
        Viehdichten von mehr als zwei Großvieheinheiten je
        Hektar, in denen Tiere nur noch Produktionsfaktor sind,
        sind eine ideale Voraussetzung für massive Seuchenaus-
        brüche, weil die Viren sich sehr schnell verbreiten kön-
        nen. Sie, Frau Ministerin Aigner, leisten dieser Tierhal-
        tungsform nach wie vor Vorschub – gegen den Willen
        der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger –, durch Ihr
        ewiges Postulat: Wir wollen die Welt mit Fleisch ernäh-
        ren.
        In den viehdichten Regionen Nordwestdeutschlands
        sind die Seuchengefahren eine immerwährende, massive
        Bedrohung. Die sorglose oft prophylaktische Verabrei-
        chung von Antibiotika erhöht die Probleme zusätzlich.
        Nicht zuletzt spielen wir ein gefährliches Spiel, indem
        wir Tiere kreuz und quer durch Europa und bis an den
        Ural karren. Völlig zu Recht bezeichnen die EU-Chefve-
        terinäre Tiertransporte als den wichtigsten Faktor für die
        Verbreitung von Tierseuchen. Beim Treffen der EU-Ve-
        terinäre mit den russischen Veterinären wurde insbeson-
        dere der mangelnde Seuchen- und Hygienestatus der
        deutschen Lieferungen beklagt. Trotzdem werden immer
        mehr Tiere transportiert. Allein zwischen 2005 und 2009
        haben Schweinetransporte in Europa um 70 Prozent zu-
        genommen. Und Deutschland hat hier die unrühmliche
        Spitzenposition: Wir erhalten 50 Prozent aller in der EU
        transportierten Schweine. Damit öffnen wir Krankheits-
        erregern Tür und Tor.
        Die Kosten, die durch Ausbrüche von Krankheiten
        wie der Schweinepest entstehen, für die Tötung und Ent-
        sorgung der Schweine lagen zwischen 1993 und 1996
        bei 660 Millionen Euro; vom unnötigen Töten der
        1,2 Millionen meist gesunden Lebewesen ganz zu
        schweigen. In den Niederlanden lagen die Kosten für
        den Ausbruch 1997/1998 sogar bei 2 Milliarden Euro!
        Eine erhebliche Belastung für die niederländische Wirt-
        schaft.
        Einmal mehr wird deutlich, wie absurd das System
        der industriellen Tierhaltung ist. Die Billigfleischpro-
        duktion ist nur möglich, weil Schäden durch industrielle
        Tierhaltung kaum auf die Produktion umgeschlagen
        werden. Erkennen Sie endlich an, Frau Ministerin
        Aigner, dass wir an die Grenzen des Systems gestoßen
        sind! In den viehdichten Regionen Niedersachsens weiß
        Ihr Parteikollege Lindemann schon nicht einmal mehr,
        wohin mit der Gülle. Dem zusätzlichen wilden Wachs-
        tum der Anlagen ohne eigene Fläche müssen wir einen
        Riegel vorschieben. Wir brauchen eine bäuerliche Land-
        wirtschaft und Tierhaltung, die auf regionale Kreisläufe
        setzt und damit auch das Seuchenrisiko für Tiere und
        Menschen minimiert.
        „Klasse statt Masse!“ muss endlich der Leitsatz unse-
        rer Landwirtschaft werden. Frau Ministerin Aigner, zei-
        gen Sie endlich den Mut zu einer wirklichen Umgestal-
        tung der Landwirtschaft!
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag: Forschung für die zi-
        vile Sicherheit (Tagesordnungspunkt 13)
        Florian Hahn (CDU/CSU): Sicherheit ist die Basis
        unserer Demokratie. Damit wir auch in Zukunft in einer
        zunehmend globalisierten Welt ein freies Leben ohne
        Bedrohungen führen können, forschen wir unentwegt an
        neuen Sicherheitsstrategien.
        So konnte sich dank des Engagements der Bundesre-
        gierung die zivile Sicherheitsforschung in Deutschland
        als eigenständiges Forschungsgebiet mit einer gut ver-
        netzten Akteurslandschaft etablieren.
        Im Mittelpunkt des Rahmenprogramms „Forschung
        für die zivile Sicherheit“ stehen Lösungen, die die
        Sicherheit des freiheitlichen Lebensstils der Bevölke-
        rung gewährleisten sollen.
        Die Sicherheitsrisiken haben sich in den letzten Jah-
        ren drastisch verändert: Naturkatastrophen und Großun-
        fälle, rasante Fortschritte in den Informations- und Kom-
        munikationstechnologien oder der Klimawandel stellen
        ganz neue Herausforderungen an den Staat.
        Das zunehmende Wachsen von Ballungszentren so-
        wie die steigende Vernetzung unterschiedlicher Lebens-
        bereiche haben eine neue Qualität der Verletzlichkeit zur
        Folge.
        So geraten vor allem Fragen der urbanen Sicherheit
        gerade bei Massenveranstaltungen wie Public Viewing,
        aber auch beim täglichen Gebrauch von öffentlichen
        Verkehrsmitteln immer wieder in den Mittelpunkt.
        Aufbauend auf den Erfolgen des ersten Programms
        und vor dem Hintergrund neuer globaler Herausforde-
        rungen wurde die zivile Sicherheitsforschung um gesell-
        schaftswissenschaftliche Aspekte erweitert. So fließen
        ganze 50 Millionen in die Erforschung gesellschaftlicher
        Fragestellungen wie Katastrophenkommunikation und
        die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung. Auch die in-
        ternationale Kooperation mit Ländern wie den USA,
        Frankreich und Israel soll um diese sozialen Aspekte er-
        gänzt werden.
        Ich denke, so ist es noch deutlicher geworden, dass es
        in diesem Programm nicht um Wehrforschung geht, wie
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21293
        (A) (C)
        (D)(B)
        einige Kollegen – Röspel, SPD – kritisierten, sondern
        um die Sicherheit der Bürger im zivilen Leben.
        Von einem engen Sicherheitsbegriff kann nicht die
        Rede sein. Genannte Schwerpunkte wie urbane Sicher-
        heit, Sicherheit von Infrastrukturen und Wirtschaft, IT-
        Sicherheitsforschung sprechen für sich und haben keinen
        militärischen Charakter.
        Ich bitte Sie daher, das Programm, welches einer zivi-
        len Gesellschaft zugute kommt und viele Arbeitsplätze
        in mittelständischen Betrieben schafft, in seiner Gesamt-
        heit zu betrachten.
        Wir wollen die kritischen Infrastrukturen einer zivilen
        Gesellschaft schützen. Diese befinden sich in einer digi-
        tal vernetzten Welt vor allem online. Deshalb freue ich
        mich auch besonders über die neu aufgenommene IT-
        Forschung im Rahmenprogramm. In der Tat gibt es in
        diesem Bereich großen Forschungsbedarf.
        Gerade hat die vbw – die Vereinigung der Bayeri-
        schen Wirtschaft – im Vorfeld der Münchner Sicher-
        heitskonferenz dieses Jahres über die Risiken moderner
        Kommunikations- und Informationstechnologien für die
        Wirtschaft aufgeklärt. Die globale Vernetzung und IT-
        Trends, wie Cloud oder Mobile Computing, stellen die
        Unternehmen vor ganz neue Herausforderungen.
        Cyberangriffe lösen bisherige Formen der Wirt-
        schaftskriminalität zunehmend ab. Deshalb ist es wich-
        tig, die Betriebe dafür zu sensibilisieren und ihnen auf-
        zuzeigen, wie sie ihre IT-Sicherheitsstrukturen gegen
        virtuelle Überfälle rüsten können. Dafür braucht
        Deutschland gut ausgebildete Fachkräfte. Das BMBF
        fördert auch schon drei Kompetenzzentren für IT-
        Sicherheitsforschung.
        Trotzdem beklagt ein Unternehmen aus meinem
        Wahlkreis, welches Vorreiter bei dem Thema IT-Sicher-
        heit ist, schon jetzt einen Fachkräftemangel. Tatsächlich
        ist das Thema IT-Security nur an 44 Informatikstudien-
        gängen vertreten und kommt in der Elektrotechnik und
        generell in den Ingenieurswissenschaften noch seltener
        vor.
        Ich möchte an dieser Stelle an die Universitäten ap-
        pellieren, das Lehrangebot an den Informatik-, aber vor
        allem auch an den Ingenieurslehrstühlen zu erweitern!
        Wir haben das auch schon in unserem Antrag hervor-
        gehoben und halten es nach wie vor vor allem für die
        mittelständische Wirtschaft für wichtig, die Forschung
        auszubauen. Sie profitiert nämlich in zweierlei Hinsicht:
        einerseits, weil sie durch die Sicherheitstechnologien
        besser geschützt wird, andererseits weil sie es ist, die an
        der Entwicklung maßgeblich beteiligt ist. Wir erwarten
        eine 50-prozentige Volumensteigerung des Markts für
        zivile Sicherheitsforschung bis 2020 – 2010: 20 Milliar-
        den. Die teilnehmenden Firmen, die zu 60 Prozent aus
        kleinen oder mittelständischen Unternehmen bestehen,
        schauen guten Zeiten entgegen.
        Deshalb möchten wir mit unserem Antrag die Fort-
        schreibung des Rahmenprogramms Sicherheitsfor-
        schung der Bundesregierung unterstützen.
        Lassen Sie mich noch zuletzt sagen, dass ich es per-
        sönlich für verheerend halte, wenn wir in eine hysteri-
        sche Angstdiskussion über die Beschneidung von Frei-
        heitsrechten abdriften und das Programm mit seinen
        vielen innovativen sicherheitstechnische Lösungen da-
        mit ersticken.
        Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit muss
        unbedingt gewahrt bleiben. Gerade deshalb brauchen
        wir Sicherheitslösungen, die die Bürger schützen und sie
        dadurch erst befähigen sich in einer modernen Gesell-
        schaft frei zu entfalten.
        Der vorliegende Antrag zur Fortführung der zivilen
        Sicherheitsforschung steht hiermit im Einklang und da-
        her bitte ich Sie um Zustimmung!
        Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Die erste Debatte
        zum vorliegenden Antrag und auch die Unterrichtung
        der Bundesregierung zur Fortsetzung des Rahmenpro-
        gramms „Forschung für zivile Sicherheit“ hat bereits
        deutlich gemacht, dass es bei der Forschung zur zivilen
        Sicherheit insbesondere um das grundlegende Verhältnis
        von Sicherheit und Freiheit in unserer Gesellschaft geht.
        Es geht darum, die Balance von Freiheit und Sicherheit
        zu wahren. Wir sind uns zum Glück ja alle einig: Auf-
        gabe der Politik ist es, für die Sicherheit der Bürger in ei-
        ner freien und offenen Gesellschaft zu sorgen. Dabei
        müssen wir die Frage nach der Balance zwischen not-
        wendiger Sicherheit und persönlichen Freiheitsrechten
        der einzelnen Bürger beantworten. Es ist eben nicht so,
        wie Westernhagen in einem Song von 2005 singt: „Alles
        ist möglich. Alles ist erlaubt!“
        Die technische Möglichkeit, etwas zu tun, ist nur die
        eine Seite der Medaille, die gesellschaftliche Machbar-
        keit die andere.
        Unser Kollege Professor Neumann hat in seiner Rede
        in der 158. Sitzung am 9. Februar 2012 die interessante
        Frage aufgeworfen, ob wir bereit sind, ein Restrisiko
        hinzunehmen. Auf dem „Innovationsforum zivile Si-
        cherheit“ im April 2012 des Bundesministeriums für Bil-
        dung und Forschung hat der ehemalige Verfassungsrich-
        ter Udo Di Fabio dazu die passende Antwort gegeben:
        Nach der Verfassung schuldet der Staat dem Bürger
        keine absolute Sicherheit. Er übernimmt aber die
        Gewährleistungsverantwortung für die Infrastruktur
        einer modernen Gesellschaft, was vom Straßenver-
        kehr bis zur Datensicherheit und der Absicherung
        des Urheberrechtes reicht.
        Udo Di Fabio hat auch deutlich betont, dass das ei-
        gentliche Problem dabei die Akzeptanz der jeweiligen
        Lösungen durch die Bevölkerung ist. Diese muss der
        Gesetzgeber im Dialog mit der gesamten Gesellschaft
        erreichen.
        Uns ist klar: Die Gewährleistungsverantwortung, die
        der Staat und die Politik gegenüber den Bürgern haben,
        ist groß, und gerade in heutiger Zeit wird es immer
        schwerer, ihr gerecht zu werden.
        Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein
        hochkomplexes Netzwerk kritischer Infrastrukturen aus.
        21294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Sichere Energienetze, funktionierende Wasser- und Le-
        bensmittelversorgung, Verkehrsträger, Transportwesen
        und Kommunikationsnetze sind die Lebensadern aller
        hochtechnisierten Industrienationen.
        Die Bedrohungen sind vielfältig und unterliegen ei-
        nem ständigen Wechsel. Mitunter können kleine Störun-
        gen große Auswirkungen haben. Der Staat und seine Si-
        cherheitsbehörden, aber auch die gesamte Gesellschaft
        sehen sich einem andauernden Anpassungsdruck ausge-
        setzt.
        Neue Sicherheitsvorkehrungen und -konzepte sind
        notwendig, um die Sicherheit und Freiheit der Menschen
        gegen die sich drastisch veränderten Risiken zu bewah-
        ren.
        Die Abhängigkeit der Gesellschaft von diesen kriti-
        schen Infrastrukturen hat sich anhand verschiedener Na-
        turkatastrophen und technischer Störungen in den letzten
        Jahren immer wieder gezeigt.
        Sehr deutlich illustriert wurde die Problematik in dem
        Bericht „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Ge-
        sellschaften – am Beispiel eines großräumigen und lang
        andauernden Ausfalls der Stromversorgung“ des Büros
        für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundes-
        tag, der einen sehr guten Überblick über Probleme und
        Handlungsnotwendigkeiten im Falle eines solchen
        Stromausfalls gibt.
        Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen solchen
        großflächigen und langandauernden Stromausfall gering
        ist, Deutschland über ein leistungsfähiges und hochent-
        wickeltes Katastrophenmanagementsystem verfügt und
        die Ausfallsicherheit der kritischen Infrastrukturen in
        Deutschland auf einem hohen Niveau ist, macht der Be-
        richt deutlich, dass auf allen Ebenen weitere Anstren-
        gungen erforderlich sind, um die Widerstandsfähigkeit
        kritischer Infrastrukturen kurz- und mittelfristig zu erhö-
        hen sowie die Kapazitäten des nationalen Systems des
        Katastrophenmanagements weiter zu optimieren.
        Insbesondere besteht ein erheblicher Forschungsbe-
        darf in technischen und gesellschaftswissenschaftlichen
        Feldern, die angegangen werden müssen.
        Daher bin ich sehr froh, dass es ein Forschungspro-
        gramm für die zivile Sicherheit gibt, bei dem gemeinsam
        mit allen Akteuren nach Präventions- und Handlungs-
        konzepten für mögliche Bedrohungen, Schadensfälle
        und Ähnliches gesucht wird.
        In den letzten fünf Jahren wurden dafür 250 Millio-
        nen Euro in 120 Verbundprojekte investiert. So wird
        beispielsweise eine Vielzahl der im TAB-Bericht aufge-
        worfenen Fragestellungen bereits in verschiedenen Pro-
        jekten untersucht und durch die Bundesregierung finan-
        ziert.
        Die Schwerpunkte der Förderung liegen in der For-
        schung zur Prävention und Früherkennung von Bedro-
        hungen, zur Verhinderung von Kaskadeneffekten, zur
        Krisenbewältigung durch zeitnahe und effiziente Siche-
        rungs- und Entkoppelungsmaßnahmen und zum Aufbau
        einer wirksamen Notfallversorgung.
        Ein gutes Beispiel ist das Projekt „Intelligente Not-
        stromversorgungskonzepte unter Einbeziehung Erneuer-
        barer Energien (Smart Emergency Supply System
        SES²)“, bei dem Wissenschaftler der Fachhochschule
        Südwestfalen aus technischen Fachbereichen gemein-
        sam mit Sozialwissenschaftlern der Leuphana Universi-
        tät Lüneburg und Unternehmen wie den Stadtwerken
        Geesthacht GmbH versuchen, mithilfe dezentraler Wand-
        lersysteme und regenerativer Energiequellen neue de-
        zentrale Notstromversorgungsstrukturen aufzubauen, die
        eine Minimalversorgung von Haushalten sicherstellen
        sollen, um so die Gefahr einer sozialen Destabilisierung
        zu vermeiden.
        Dieses Projekt ist deshalb ein gutes Beispiel, weil es
        die wichtigen Merkmale des alten Rahmenprogramms,
        die im neuen fortgesetzt und weiter fokussiert werden,
        deutlich zeigt: Die Wichtigkeit der Einbindung aller Ak-
        teure von Forschern bis hin zu den letztendlichen An-
        wendern und die Einbindung von gesellschaftlichen und
        ethischen Aspekten von technischen Neuerungen und
        Lösungen gehören von Anfang an in den Blick genom-
        men.
        Durch die Einbindung der Geistes- und Sozialwissen-
        schaften muss zudem sichergestellt werden, dass keine
        Konzepte entwickelt werden, die nicht umsetzbar sind,
        weil ihnen die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt.
        Um realisierbare und zugleich innovative Konzepte
        entwickeln zu können, muss die zivile Sicherheitsfor-
        schung richtigerweise interdisziplinär angelegt sein und
        den Dialog aller Wissenschaftsdisziplinen fördern.
        Durch das Zusammenspiel von Natur- und Technikwis-
        senschaften mit den Geistes-, Sozial- und Kulturwissen-
        schaften sind Lösungen erreichbar, die technisch sinn-
        voll und ethisch zu verantworten sind.
        Rund 20 Prozent der Gesamtfördersumme, also
        50 Millionen Euro, wurden deshalb für gesellschaftswis-
        senschaftliche Forschungsfragen verwendet. Das finden
        wir sehr richtig und wichtig. Deshalb fordern wir für die
        jetzt beginnende zweite Programmphase ausdrücklich in
        unserem Antrag zur „Forschung zur zivilen Sicherheit“,
        die Forschungsanstrengungen im Bereich der gesell-
        schaftlichen Aspekte weiter zu intensivieren.
        Neben allen technischen Problemlösungsstrategien
        hat der TAB-Bericht zum Stromausfall eines deutlich
        gezeigt: Das empirische Wissen über menschliches Ver-
        halten beispielsweise in Gefahrensituationen ist sehr ge-
        ring.
        Deshalb unterstütze ich den Ansatz des neuen Rah-
        menprogramms, gesellschaftliche Aspekte als zentrales
        Problem stärker zu adressieren.
        Lassen Sie mich noch kurz auf einen spezifischen An-
        satz eingehen: das Problem der Kommunikation.
        Ich finde es richtig und notwendig, dass nicht nur an
        neuen und effizienten Kommunikationsprozessen für
        Behörden, sondern eben auch für die Bevölkerung ge-
        forscht wird.
        Ganz im Sinne des bereits erwähnten TAB-Berichts
        geht die Bundesregierung von der folgenden Grundan-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21295
        (A) (C)
        (D)(B)
        nahme aus: Menschen sind nicht nur als Opfer zu sehen,
        sondern auch als potenzielle Helfer und aktiv Handelnde
        zu betrachten, die zur Bewältigung einer Krise beitragen
        können.
        Die Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen
        sind noch nicht ausreichend untersucht. Annahmen, die
        davon ausgehen, dass die Menschen überwiegend unso-
        zial und panikartig reagieren werden, sind bestenfalls
        fragwürdig.
        Fakt ist, dass ein Großschadensfall wie ein plötzlicher
        Stromausfall, der Zusammenbruch der Versorgung und
        Kommunikation zu Angst, Stress und Ungewissheit
        führt. Dies kann ein breites Spektrum von unterschiedli-
        chen und widersprüchlichen Reaktionen zur Folge haben
        und muss nicht zwingend zu negativem Verhalten füh-
        ren.
        Wir müssen vielmehr weitere Forschungsanstrengun-
        gen im präventiven Sinne unternehmen, um Menschen
        auf besondere Situationen vorzubereiten. Angst und Un-
        sicherheit werden dann minimiert, wenn Menschen die
        Gewissheit haben, dass sie im Ernstfall zielgerichtet un-
        terstützt werden.
        Wir sollten daher neue Kommunikationsstrategien
        und Selbstschutzkonzepte erforschen, um die Kommuni-
        kation mit der Bevölkerung in Krisensituationen zu ge-
        währleisten und die Menschen in die Lage zu versetzen,
        sich da, wo es geht, selbst zu helfen. Dies ist ein interdis-
        ziplinärer Ansatz, der Forscher und Anwender aller
        Fachbereiche gleichermaßen fordert.
        Ich bin mir sicher: Wenn Menschen aufgeklärt sind
        und im Krisenfall mit Informationen versorgt werden,
        kann jeder selbst einen Beitrag zur Bewältigung von
        schwierigen Situationen leisten.
        Sinnvolle Ansatzpunkte hierfür sind meines Erach-
        tens die neuen Medien. Allerdings muss man sich auch
        über die Krisenkommunikation im Schadensfall Gedan-
        ken machen, die gegebenenfalls ohne Strom und damit
        ohne Internet, Telefon und Fernseher auskommen muss.
        Die Forschung zur zivilen Sicherheit setzt hier die
        richtigen Akzente.
        René Röspel (SPD): Stellen Sie sich einmal vor, in
        Ihrer Region würde plötzlich über mehrere Tage der
        Strom ausfallen. Auf was müssten Sie plötzlich alles
        verzichten? Könnten Sie noch kochen und heizen? Wie
        viele und welche Vorräte haben Sie zu Hause, und könn-
        ten Sie sie noch nutzen? Wie lang, meinen Sie, wäre ihr
        Supermarkt ohne Strom funktionsfähig? Wie viel Geld
        besitzen Sie, falls die Bankautomaten ausfallen? Wie
        könnten Sie sich fortbewegen, wenn der öffentliche
        Nahverkehr zusammenbricht und die Tankstellen kein
        Benzin mehr verkaufen? Welche Medikamente benöti-
        gen Sie, und woher erhalten Sie diese im Notfall? All
        diese Fragen haben sich Bürgerinnen und Bürger 2005
        im Münsterland gestellt. Die möglichen katastrophalen
        Folgen eines flächendeckenden Stromausfalls hat in ei-
        ner vielbeachteten Studie vor kurzem das Büro für Tech-
        nikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag,
        TAB, aufgearbeitet. Das Szenario Stromausfall ist für
        unsere Gesellschaft also durchaus realistisch. Deshalb
        müssen wir uns darauf vorbereiten.
        Die Vermeidung bzw. der Umgang mit einem großflä-
        chigen Stromausfall ist nur ein Thema des zivilen Sicher-
        heitsforschungsprogramms des Bundesministeriums für
        Bildung und Forschung, BMBF. Die Bandbreite der zu
        bearbeitenden Themen und Ansätze ist größer. Umso un-
        verständlicher ist es, dass die Regierungskoalition von
        CDU/CSU und FDP sich in ihrem uns vorliegenden An-
        trag einseitig auf die realitätsferneren Szenarien konzen-
        triert. Nach Ansicht dieser Fraktionen sollen in erster Li-
        nie Terrorismus, Sabotage, organisierte Kriminalität und
        Piraterie bekämpft werden, wichtige Themen durchaus.
        Aber das sind doch nicht die primären Aspekte, die un-
        sere Gesellschaft gefährden! In den letzten Jahren haben
        vielmehr Massenpaniken, Naturkatastrophen, Großun-
        fälle oder natürliche Erreger Menschleben in Deutsch-
        land und Europa gefährdet. Genau deshalb gibt es we-
        nigstens im BMBF Ansätze für ein Umdenken. Nur
        leider scheinen diese Erkenntnisse in der Regierungsko-
        alition noch nicht angekommen zu sein.
        Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir aber noch
        weitere Kritikpunkte hinsichtlich des vorliegenden An-
        trags. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
        haben seit Beginn des Programms die Techniklastigkeit
        des Sicherheitsforschungsprogramms bemängelt. Denn
        Phänomene wie Massenpaniken oder die Auswirkungen
        des demografischen Wandels auf unsere Rettungskräfte
        müssen mindestens genauso intensiv von Psychologen
        oder Soziologen bearbeitet werden. Erst danach kann
        nach adäquaten Lösungen gesucht werden. Wenn die
        Bundesregierung im Ausschuss ein Projekt erwähnt, bei
        dem mit Sensoren in U-Bahn-Tunneln Rauchschwaden
        detektiert werden können, so ist das interessant und
        technisch sicherlich anspruchsvoll. Vermutlich aber
        werden Sie die Sicherheit und das Sicherheitsempfinden
        von U-Bahn-Fahrern deutlich erhöhen, wenn Sie ein-
        fach wieder mehr Schaffner und Personal einsetzen
        würden. Wäre das nicht eine bessere Antwort auf die
        Herausforderung „mehr Sicherheit“? Zugutezuhalten ist
        der Bundesregierung beim Lesen des Rahmenpro-
        gramms der Eindruck, dass hier wenigstens teilweise un-
        sere Kritik gewirkt hat. Denn das aktuelle BMBF-Pro-
        gramm räumt dem nichttechnischen Ansatz jetzt einen
        viel größeren Anteil ein. Leider haben CDU/CSU und
        FDP auch diese Präferenzverschiebung des BMBF in ih-
        ren Antrag nicht aufgenommen.
        Die im Sicherheitsforschungsprogramm entwickelten
        Techniken und Erkenntnisse sollten natürlich so schnell
        wie möglich in die Praxis überführt werden. Der Groß-
        teil der staatlichen Rettungskräfte liegt aber in der Ver-
        antwortung der Länder und Kommunen. In beiden sind,
        unter anderem dank schwarz-gelber Steuergeschenke,
        die Haushaltskassen leer. Ob die neuen Techniken und
        Erkenntnisse am Ende den Bürgerinnen und Bürgern
        überhaupt zugutekommen, bleibt somit leider fraglich.
        Auch zu dieser Problematik schweigt sich der uns hier
        vorliegende Antrag aus.
        21296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Bei der Sicherheitsdebatte muss uns allen aber auch
        klar sein, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt.
        Auch die besten Sicherheitstechniken oder Programme
        können darüber nicht hinwegtäuschen. Es wird deshalb
        vermehrt darum gehen, das individuelle Verständnis von
        Risiko und Wahrscheinlichkeiten zu verbessern, so wie
        es Professor Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für
        Bildungsforschung vor Jahren angesprochen hat. Inso-
        fern ist es nur folgerichtig, dass man sich nach Ansicht
        des BMBF im aktuellen Forschungsprogramm verstärkt
        mit diesem Ansatz beschäftigen soll. Aber auch zu die-
        sem richtigen Punkt findet sich in Ihrem Antrag, liebe
        Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen,
        leider nichts.
        Am Ende Ihres Antrags schreiben Sie, dass sich die
        technologischen Forschungsaktivitäten an das Prinzip
        „Security by Design“ halten sollen. Das ist nicht falsch.
        Aber wie steht es mit dem Prinzip „Privacy by Design“?
        Sprich: dass bei der Technologieentwicklung von An-
        fang an der Datenschutz mit zu bedenken ist, um so auch
        nichtintendierte Folgen zu verhindern. Die gesellschaft-
        liche Debatte um den sogenannten Nacktscanner hat das
        Problem noch einmal verdeutlicht. Aber zu diesem An-
        satz findet sich im Antrag leider auch kein einziges
        Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, hätte
        nicht gerade das der Schwerpunkt eines liberalen An-
        trags sein müssen? Ihr Schweigen ist mir bei diesem
        Thema wirklich unerklärlich.
        Problematisch finden wir als Sozialdemokratinnen
        und Sozialdemokraten auch, dass CDU/CSU und FDP
        explizit fordern, dass die Evaluation des alten Sicher-
        heitsforschungsprogramms erst jetzt, also nach dem Be-
        ginn des neuen Sicherheitsforschungsprogramms, be-
        ginnen soll. Wie sollen denn so mögliche Evaluations-
        ergebnisse in das neue Programm eingearbeitet werden?
        Hätte man nicht bereits wenigstens Teile des Pro-
        gramms evaluieren können? Viele Fragen, im Antrag
        finden sich leider auch dazu keine Antworten.
        Bei den Sicherheitsforschungsprogrammen geht es
        explizit um zivile Sicherheit, sprich: Prävention und Un-
        terstützung von Polizei, Feuerwehr oder THW. Militäri-
        sche Anwendungen der Forschungsergebnisse sind nicht
        Ziel des Programms – und das ist auch gut so. Als ehe-
        maliges Mitglied des Unterausschusses für Abrüstung,
        Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ist mir aber die
        Dual-use-Problematik sehr gut bekannt. Produkte wie
        zum Beispiel bestimmte Fahrzeugmotoren können eben
        in Lkw oder Panzer eingebaut werden. Die aktuelle Dis-
        kussion um die Veröffentlichungen der Forschungser-
        gebnisse hochansteckender Grippeviren zeigt, dass die
        Dual-use-Problematik auch in anderen Bereichen der zi-
        vilen Forschung thematisiert werden muss. Mit dieser
        Problematik dürfen wir Politikerinnen und Politiker die
        Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber nicht al-
        leinlassen. Auch zu diesem Thema hätte man sich in ei-
        nem Antrag zur Sicherheitsforschung äußern können.
        Umso wichtiger finde ich es, dass wir als Ausschuss für
        Bildung, Forschung und Technikfolgeabschätzung nun
        beschlossen haben, uns diesem Thema in einem Fachge-
        spräch näher zu widmen. Auf die Ergebnisse bin ich be-
        reits jetzt gespannt.
        Um zum Schluss zu kommen: Das von der Bundesre-
        gierung vorgelegte Rahmenprogramm zur zivilen Si-
        cherheitsforschung klingt im Ganzen erst einmal positiv.
        Scheinbar hat das Ministerium aus der Kritik an dem
        letzten Programm gelernt. Aber leider wissen wir bei
        dieser Regierung auch, dass Texte schnell geschrieben
        sind, es dann aber an der Umsetzung hapert. Die Regie-
        rungsfraktionen CDU/CSU und FDP hingegen sind be-
        reits beim Schreiben eines Antrags überfordert. In ihrem
        Text werden zwar durchaus bekannte und richtige Fak-
        ten widergegeben; aber die neuen und entscheidenden
        Akzente des Programms sucht man in diesem Antrag ver-
        geblich. Aus diesem Grund werden wir als Sozialdemo-
        kratinnen und Sozialdemokraten den vorliegenden Antrag
        der Koalition ablehnen.
        Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Die christ-
        lich-liberale Koalition hat mit dem vorgelegten Antrag
        „Forschung für die zivile Sicherheit“ ein überaus aktuel-
        les Thema aufgegriffen, dessen Bedeutung in den zu-
        rückliegenden Jahren stetig zugenommen hat. Denn die
        Frage nach der zivilen Sicherheit stellt sich neu, weil
        sich das Sicherheitsumfeld für eine offene Gesellschaft
        verändert hat. Neue Risiken, neue Bedrohungs- und Ge-
        fahrenlagen sind entstanden, durch terroristische An-
        schläge ebenso wie durch Pandemien oder durch Kata-
        strophen bei Großveranstaltungen. Schmerzlich haben
        wir in der Vergangenheit lernen müssen, dass unsere Ge-
        sellschaft nicht ausreichend auf diese Herausforderun-
        gen eingestellt ist.
        Zudem haben wir anerkennen müssen, dass die Glo-
        balisierung, eine gestiegene gesellschaftliche Mobilität
        genauso wie der technologische Fortschritt zu diesem
        veränderten Sicherheitsumfeld beigetragen haben. Das
        Verkehrssystem, die zentral aufgestellte Stromversor-
        gung oder die Anbindung vieler Anwendungen an IT
        sind in einer vernetzten Gesellschaft zu bedeutenden In-
        frastrukturen geworden. Mit diesem Wandel verstärkt
        sich gleichzeitig auch die Abhängigkeit und Anfällig-
        keit.
        Eine Gesellschaft, die frei und offen bleiben möchte,
        muss sich demnach fragen, welche Vorstellung sie von
        ziviler Sicherheit hat und welche Kriterien angelegt wer-
        den sollen. Einen bedeutenden Impuls zur Beantwortung
        dieser Frage setzen wir als christlich-liberale Koalition
        mit dem vorgelegten Antrag und dem von der Bundesre-
        gierung beschlossenen Sicherheitsforschungsprogramm.
        Im Fokus steht die Balance von individueller Freiheit
        und ziviler Sicherheit. Denn wir wissen, dass der Schutz
        zur Wahrung der Freiheit gleichzeitig das Gefahrenpo-
        tenzial für Persönlichkeitsrechte birgt. Deshalb setzen
        wir Liberale in der zweiten Programmphase des nationa-
        len Sicherheitsforschungsprogramms – 2012 bis 2017 –
        auf jene austarierte Abwägung zwischen persönlicher
        Freiheit und Sicherheit.
        Unser Antrag und das Forschungsprogramm für die
        zivile Sicherheit greifen, anders als es die Oppositions-
        fraktionen glauben machen wollen, keine Szenarien aus
        der Luft. Die thematischen Schwerpunkte sind in Vorbe-
        reitung des Forschungsprogramms mit allen relevanten
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21297
        (A) (C)
        (D)(B)
        Akteuren gemeinsam erarbeitet worden, unter Beratung
        von Wissenschaftlern und den Endnutzern wie den Ein-
        satzkräften von THW und Feuerwehr. Zur Erarbeitung
        wurden, wie die Bundesregierung im Ausschuss erklärte,
        auch zahlreiche Workshops durchgeführt – im Übrigen
        wie üblich bei Erarbeitung eines Forschungsprogramms.
        Die Kritik, es gebe keinen Bottom-up-Prozess, ist
        schlichtweg falsch.
        Anstoß und Grundlage des Forschungsprogramms
        war auch das überfraktionell erarbeitete Grünbuch „Risi-
        ken und Herausforderungen für die öffentliche Sicher-
        heit in Deutschland“. Das Grünbuch wurde gemeinsam
        von Innenpolitikern der CDU/CSU, FDP, SPD und
        Bündnis 90/Die Grünen in 2008 verfasst. Gemeinsam
        hat man sich zu Leitfragen und Zielsetzungen der zivilen
        Sicherheit verständigt. Es wurde im Konsens festgehal-
        ten, dass sich die Sicherheitsarchitektur in Deutschland
        wandeln muss, dass es neue Lösungen braucht. Insofern
        ist die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorge-
        brachte Kritik im Ausschuss für Bildung, Forschung und
        Technikfolgenabschätzung etwas schizophren. Denn
        man widerspricht gemeinsam festgestellten innenpoliti-
        schen Vorstellungen. Man konterkariert politische Ab-
        stimmungen.
        Die darüber hinaus in der Ausschussberatung vorge-
        brachte Kritik vonseiten der Opposition, das For-
        schungsprogramm sei zu technologieorientiert, ist
        ebenso unverständlich. Denn das Forschungsprogramm
        zielt auf den Schutz kritischer Infrastrukturen, auf Si-
        cherheit im urbanen Raum und bei Großveranstaltungen.
        Hierzu bedarf es zuvorderst technologischer Lösungen.
        Das hat nichts mit einer Affinität oder starker Technolo-
        gieorientierung zu tun, sondern mit dem einfachen
        Wissen, dass es zuvorderst neuer Technologien und As-
        sistenzsysteme bedarf. Bei alledem ist eine geisteswis-
        senschaftliche Begleitung in diesem Programm imple-
        mentiert und auch gewollt. Denn wir erkennen natürlich
        die sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Frage-
        stellungen in diesem Zusammenhang an.
        Einem weiteren Kritikpunkt der Opposition muss ich
        widersprechen. Die Beurteilung, das Forschungspro-
        gramm sei unscharf und die Ausrichtung zu unkonkret,
        ist ebenso falsch wie der von der SPD vorgebrachte Kri-
        tikpunkt, dass die Bedrohungsszenarien für die Bevölke-
        rung nicht ausreichend definiert seien. Wie beliebig
        diese Kritik ist, brauche ich nicht weiter zu erwähnen.
        Aber anscheinend hat man in den Oppositionsfraktionen
        nicht verstanden, dass es sich um eine Programmfor-
        schung handelt und nicht um Auftragsforschung. Es gibt
        Programmlinien und thematische Schwerpunkte, die den
        Rahmen setzen. Es besteht Offenheit für Vorschläge und
        Ideen aus der Wissenschaft und Wirtschaft für For-
        schungsprojekte. Denn das ist das Ziel der Programm-
        forschung – Forschungsfragen im Vorhinein nicht einzu-
        schränken. Insofern besteht keine Berechtigung, die
        vorgebrachte Kritik ernst zu nehmen.
        Das Forschungsprogramm für die zivile Sicherheit
        hat die volle Unterstützung der christlich-liberalen Ko-
        alition. Dies bekräftigen wir mit dem vorgelegten An-
        trag. Die von den Oppositionsfraktionen geäußerte Kri-
        tik ist wenig hilfreich. Anscheinend findet man keinen
        wirklichen Ansatz, das Sicherheitsforschungsprogramm
        zu kritisieren, und zieht sich deshalb an Beliebigkeiten
        hoch.
        Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Bei der Debatte des
        vorliegenden Koalitionsantrags im Ausschuss hob
        Staatssekretär Rachel hervor, dass immerhin 20 Prozent
        der Mittel für die gesellschaftswissenschaftliche For-
        schung ausgegeben werden. Das war unter anderem an
        uns adressiert. Denn seit Beginn der Förderlinie im
        BMBF verlangt Die Linke, dass zunächst die Nachfrage
        nach Sicherheit und Quellen von Unsicherheit in der Be-
        völkerung wissenschaftlich geklärt werden, bevor man
        Millionen Steuergelder in teure Überwachungskonzepte
        und in eine gut prosperierende Industrie steckt.
        Ich sehe bei den 20 Prozent keinen Grund zum Feiern.
        Im Umkehrschluss gehen fast 200 der bewilligten
        240 Millionen Euro in Technologieentwicklung oder
        technikzentrierte Infrastrukturprojekte. Das Programm
        bedient weiterhin in erster Linie das selbsterklärte Ziel
        der Markterschließung für die Sicherheitswirtschaft. Zu
        wenig trägt es aber dazu bei, die hoheitliche Aufgabe
        „Sicherheit“ mithilfe aktueller Forschungserkenntnisse
        zu durchdenken und zu modernisieren. Denn: Dass man
        in europäischen Gesellschaften beim Thema Sicherheit
        mit dem bislang dominanten Blick der Ingenieure und
        IT-Spezialisten nicht weiterkommt, haben die geschei-
        terte Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und das
        Nacktscannerdesaster ausreichend deutlich gemacht.
        Wohin die Reise gehen kann, machen aber gerade ak-
        tuelle Ergebnisse der BMBF-geförderten gesellschafts-
        wissenschaftlichen Forschung deutlich. Beim „Innova-
        tionsforum Sicherheit“ des BMBF im April dieses Jahres
        machten Forscherinnen und Forscher unter anderem
        klar, dass Unsicherheit für die allermeisten Menschen
        mitnichten von Lieblingsthemen der Koalition wie Ter-
        roranschläge, organisierte Kriminalität oder Krankheits-
        epidemien bestimmt ist. Sicherheitserwartungen richten
        sich vielmehr auf Alltagsdelikte wie Diebstahl und Stö-
        rungen der öffentlichen Ordnung, auf Unsicherheitsku-
        lissen wie schlecht beleuchtete Bahnhöfe etc. Mehrere
        Forschungsteams fanden heraus, dass es die Kommuni-
        kation und Bilder von Unsicherheit sind, die das Sicher-
        heitsempfinden maßgeblich beeinflussen. Mit der fak-
        tischen Unsicherheitslage vor Ort, die man in
        Kriminalstatistiken nachschlagen kann, hat das subjek-
        tive Empfinden hingegen wenig zu tun. Positiv aus-
        schlaggebend ist aber sehr wohl die soziale Sicherheit
        wie gutes Auskommen und gut ausgebaute zivilgesell-
        schaftliche Netzwerke. Hier also sollte ein vorsorgender
        Staat wirklich ansetzen!
        Auch beim Thema Krisenbewältigung haben For-
        scherinnen und Forscher den Ministerien Hausaufgaben
        mitgegeben. So gäbe es zurzeit weder ausreichend Wis-
        sen noch Willen in Behörden für eine gute Risikokom-
        munikation im Krisenfall. Pate stehen hier die Schwei-
        negrippe und unnötige Millionenausgaben für
        Impfstoffe, die am Ende keiner haben wollte und nie-
        mand brauchte. Der Grund dafür lag nicht zuletzt darin,
        21298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        dass die traditionell hierarchische Kommunikation der
        Behörden die soziale Dynamik im Internet völlig außen
        vor ließ und dringend nötiges Vertrauen verspielt hat.
        Die Forschung empfiehlt hier eindeutig mehr Trans-
        parenz, weniger Allwissenheit und den Dialog mit den
        Bürgern über Vorgehensweisen der Behörden, beispiels-
        weise via Web 2.0. Zur Selbsthilfe fähige und wider-
        standfähige Bürger, die ja ganz oben auf der Agenda der
        Katastrophenschützer stehen, erhalte man nur, wenn
        man ihnen auf Augenhöhe begegnet und an Prozessen
        beteiligt, so das Credo.
        Das neue Rahmenprogramm für Sicherheitsforschung
        verspricht „Sicherheitslösungen so zu gestalten, dass sie
        die Bedürfnisse, Bedenken und Erwartungen der Bürge-
        rInnen berücksichtigen“. Die Schwerpunktsetzung des
        auslaufenden Programms hat das nicht geleistet, so mein
        Fazit. Ob es die neue besser vermag, hängt stark damit
        zusammen, ob gewonnene Forschungsergebnisse tat-
        sächlich in die Ministerien zurückgespiegelt werden.
        Das betrifft insbesondere das mitunter neue Verständnis
        davon, wie Sicherheit und Unsicherheit im Alltag reflek-
        tiert werden. Mehr Beteiligungskultur und Bedarfsorien-
        tierung statt Hinterzimmerpolitik mit Lobbyisten ist
        nach wie vor die größte Herausforderung beim Thema
        zivile Sicherheit.
        Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dem
        weiterentwickelten Bundesprogramm „Forschung für
        die zivile Sicherheit“ nehmen interdisziplinäre Ansätze,
        gesellschaftliche Fragestellungen und die Einbindung
        von Stakeholdern einen größeren Stellenwert ein als im
        Vorgängerprogramm. Offenbar hat die Bundesregierung
        hier Kritiken und Anregungen aufgenommen, was
        durchaus zu begrüßen ist. Es fehlt aber bisher an Trans-
        parenz über die Schwerpunkte der Mittelverteilung, über
        Forschungsvorhaben und deren Zielrichtung sowie über
        Themen und Beteiligte. Transparenz muss die Bundesre-
        gierung auch über die bisherige Verwendung der Förder-
        mittel herstellen. Wir erwarten, dass die Bundesregie-
        rung den Bundestag über die Evaluierungsergebnisse
        und die Evaluierungskriterien bei der Auswertung der
        ersten Programmphase informiert und auch die Evalua-
        tion der zweiten Programmphase transparent gestaltet.
        Das nationale Programm zur zivilen Sicherheitsfor-
        schung der Bundesregierung umfasst bisher Bereiche,
        die im Englischen mit dem Begriff Security umschrieben
        werden, was der Wissenschaftliche Programmausschuss
        als die Verhinderung böswillig zugefügten Schadens ver-
        steht. Unter Safety subsumiert er hingegen zum Beispiel
        Fragen von Betriebs-, Unfallsicherheit und Arbeits-
        schutz. Diese Trennung lässt sich schon im anwendungs-
        nahen Bereich nicht durchhalten. Auch beim Schutz vor
        Naturkatastrophen helfen diese Definitionen nicht wei-
        ter. Statt an solch rigiden Definitionen sollte das Pro-
        gramm sich eher an vorhandenen oder zu erwartenden
        Problemstellungen orientieren.
        Dabei ist ein partizipativer Forschungsansatz, also die
        rechtzeitige Einbindung der verschiedenen Stakeholder
        wie Unternehmen, Arbeitsschutz, Katastrophenschutz,
        öffentliche und private Betreiber von Infrastrukturen der
        Daseinsvorsorge, von großer Bedeutung. Hierbei fehlt
        uns neben der Beteiligung verschiedener Bundesbehör-
        den die Einbeziehung der kommunalen Ebene. Die
        Kommunen spielen aber nicht nur eine große Rolle im
        Zusammenhang mit lokalen und dezentralen Infrastruk-
        turen, sondern sie haben auch entscheidenden Einfluss
        darauf, ob bestimmte Lösungsansätze überhaupt zur An-
        wendung kommen. Dabei geht es dann sicher nicht nur
        um das technisch Machbare, sondern auch um Fragen
        der Kosten-Nutzen-Relation.
        Für die Frage, ob Ergebnisse der Sicherheitsfor-
        schung Eingang finden in die gesellschaftliche Praxis,
        spielt deren Implementierung in Studiengänge und in die
        berufliche Aus- und Weiterbildung eine bedeutende
        Rolle. Dieses Transferthemas sollte die Bundesregierung
        sich explizit annehmen.
        Dies ist auch deshalb bedeutsam, weil es in Zukunft
        sicher nicht nur einen wachsenden Markt für sicherheits-
        technologische Produkte geben wird, sondern weil auch
        im Bereich der sicherheitsrelevanten Dienstleistungen,
        der Vermarktung von Beratung und Know-how wach-
        sende Wertschöpfungspotenziale liegen.
        Wir begrüßen, dass die Bundesregierung sich in den
        Verhandlungen zum neuen EU-Forschungsrahmenpro-
        gramm „Horizon 2020“ dafür einsetzt, dass die Sozial-
        und Geisteswissenschaften eine gesonderte Programmli-
        nie bekommen, denn es wäre sicher zu kurz gedacht, die
        sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung nur als
        „Wasserträger der Sicherheitsforschung“ zu verstehen,
        auch wenn natürlich interdisziplinäre und gesellschaftli-
        che Fragestellungen auch bei der EU-Förderung der Si-
        cherheitsforschung integriert werden sollten.
        Im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung stellt
        sich nicht zuletzt die Frage, inwiefern eine Abgrenzung
        von der militärischen Sicherheitsforschung vorgenom-
        men werden kann. Der Wissenschaftliche Programmaus-
        schuss weist zu Recht darauf hin, dass es in bestimmten
        Fällen eine unvermeidbare Dual-use-Problematik gibt,
        die nicht ohne Weiteres aufgehoben werden kann. Der
        Programmausschuss empfiehlt, klare Richtlinien und
        Kriterien zu entwickeln, um den zivilen Charakter des
        Rahmenprogramms zu erhalten. Wir fordern die Bundes-
        regierung auf, dieser Empfehlung nachzukommen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Freiheit von For-
        schung und Lehre schützen – Transparenz in
        Kooperationen von Hochschulen und For-
        schungseinrichtungen mit Unternehmen brin-
        gen (Tagesordnungspunkt 14)
        Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Ganz besonders
        in der Forschung muss für uns gelten: So viel Freiheit
        wie möglich, so wenig Bürokratie wie möglich. Wir, die
        Fraktion der CDU/CSU, wollen die Freiheit von For-
        schung und Lehre schützen. Wir stehen zur Forschungs-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21299
        (A) (C)
        (D)(B)
        freiheit, zur Wissenschaftsfreiheit und zur Freiheit der
        Lehre.
        Ihr Antrag zum Schutz von Forschung und Lehre,
        liebe Abgeordnete der Linken, ist aber eine staatlich ver-
        ordnete Kooperationsvorschrift für Wirtschaft und Wis-
        senschaft.
        Das garantiert keine Freiheit, sondern bewirkt das Ge-
        genteil. Angeblich, so Ihr Argument, nimmt die Wirt-
        schaft durch Kooperationen mit der Wissenschaft Ein-
        fluss auf die zu generierenden Forschungsergebnisse.
        Vielleicht gibt es solche Einzelfälle, und denen muss und
        wird nachgegangen. Aber Ihre Annahmen stellen Ko-
        operationen von Wirtschaft und Wissenschaft unter ei-
        nen Generalverdacht. Das schützt aber weder Forschung
        noch Lehre, es schadet vielmehr unserem Wissenschafts-
        standort und dem Ruf der deutschen Wissenschaft im
        Allgemeinen.
        Mit ihrem geforderten „Katalog“ zur guten Koopera-
        tionspraxis schaffen Sie keine Transparenz, sondern ei-
        nen bürokratischen Apparat des Misstrauens. Eine sol-
        che Bürokratie ist nicht transparent, und sie ist eine
        Hürde für dringend notwendige Kooperationsvorhaben.
        Wir wollen doch mehr Kooperationen und nicht weniger,
        gerade zwischen KMU und der Wissenschaft.
        Ein gutes Beispiel dafür, warum wir Kooperationen
        zwischen Wirtschaft und Wissenschaft nicht nur brau-
        chen, sondern ihnen auch den großmöglichsten Freiraum
        zur wissenschaftlichen Entfaltung bieten sollten, ist das
        Kompetenzzentrum Biomassennutzung in meinem Hei-
        matland Schleswig-Holstein. Das Kompetenzzentrum
        Biomassennutzung ist ein seit 2006 existierender
        Verbund von Fachhochschulen und Universitäten in
        Schleswig-Holstein. Hier geht es um Kooperationen mit
        Institutionen, mit der Landwirtschaft und mit Wirt-
        schaftsunternehmen. Es geht darum, anwendungsorien-
        tierte Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Bereich
        der Biomassennutzung gemeinsam zu bearbeiten. Und
        die aus dieser Kooperation entstehenden Ergebnisse
        kommen allen in Schleswig-Holstein zugute. Wir kön-
        nen aus diesen Ergebnissen Rohstoffe, Produkte und
        Verfahren entwickeln, und wir können Biomasse so noch
        effizienter und umweltverträglicher einsetzen. Ja, unsere
        Wirtschaft profitiert von dieser Bündelung an technolo-
        gischen Ressourcen und dem Know-how der Hochschu-
        len in Schleswig-Holstein. Aber sie beeinflusst die Wis-
        senschaft nicht. Nein, es ist ja gerade das gemeinsame
        Ziel, neue Produkte und Verfahren daraus abzuleiten.
        Und übrigens, ganz transparent.
        Um es noch deutlicher zu machen: Ich weiß nicht, ob
        Sie schon einmal vom „Algenstammtisch“ gehört ha-
        ben? Nicht? Dann lassen Sie mich diesen Stammtisch
        mit ein paar Sätzen erläutern. Dieser Stammtisch, zum
        Kompetenzzentrum Biomassennutzung gehörend, bietet
        einen Ort zum Erfahrungs- und Wissensaustausch. Be-
        teiligt sind Interessierte aus Forschung, Industrie, Unter-
        nehmen, Politik, Behörden und Medien. Die unter-
        schiedlichen Interessen sollen hier zusammengeführt
        und diskutiert werden, damit in Schleswig-Holstein neue
        Wissenschafts- und Geschäftsfelder erschlossen werden
        können. Durch die stets wechselnden Unternehmen, die
        diesen Stammtisch begleiten sowie die verschiedenen
        Forscher, Wissenschaftler oder auch kommunalen Be-
        hörden, die an dieser Runde teilnehmen, entsteht ein of-
        fener, Transparenz schaffender Dialog. Die Teilnehmer
        des Algenstammtischs sind damit schon viel weiter als
        Sie, liebe Mitglieder der Linken. Das Beispiel zeigt
        auch, dass viel mehr durch Freiheit und Eigenverantwor-
        tung Transparenz geschaffen wird und nicht durch Vor-
        schriften, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
        den Linken, es hier in Ihrem Antrag fordern.
        Dafür brauchen wir keinen Katalog, der die „gute Pra-
        xis bei der Kooperation von Wissenschaft und Wirt-
        schaft“ vorschreibt. Nein, ganz im Gegenteil: Wir brau-
        chen mehr Autonomie der Hochschulen und
        Forschungseinrichtungen. Deshalb brauchen wir auch
        das von uns erarbeitete Wissenschaftsfreiheitsgesetz: Es
        bringt ein Mehr an Autonomie und Eigenverantwortung.
        Es wird die Forschungseinrichtungen stärken. Wie ich
        bereits eingangs erwähnte: So viel Freiheit wie möglich,
        so wenig Bürokratie wie möglich! Diese Aussage steht
        überhaupt nicht im Einklang mit Ihrem Antrag, und die-
        ser kann deshalb nur abgelehnt werden.
        Mit Ihrem Antrag sprechen Sie den Forschungsein-
        richtungen die wissenschaftliche Unabhängigkeit ab.
        Die Aufgabe der Politik aber ist es, den Forschungs-
        kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft
        ein Maximum an Vertrauen entgegenzubringen. Dieses
        Vertrauen gewinnen wir eben nicht, indem wir ihnen
        eine – und ich zitiere hier aus Ihrem Antrag – „gute Pra-
        xis der Kooperation“ staatlich verordnen. Nein, wir
        brauchen nicht mehr Vorschriften, sondern allein ein
        konsequentes und transparentes Verfolgen von Fehlver-
        halten. Und dies geschieht auch.
        In Deutschland brauchen wir Innovationen, um auf
        Dauer wettbewerbsfähig zu bleiben und um unseren
        Wohlstand zu sichern. Innovationen beruhen auf neuen,
        kreativen Ideen, die vor allem dadurch gesichert werden,
        dass wir Wirtschaft und Wissenschaft bei ihren Koopera-
        tionsvorhaben positiv unterstützen. Wir müssen den For-
        schungskooperationen aus Wissenschaft und Wirtschaft
        das größtmögliche Maß an Freiheit bieten. Alles andere
        wäre kontraproduktiv.
        Axel Knoerig (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke
        hat einen Antrag vorgelegt, um mehr Transparenz in der
        Kooperation zwischen Hochschulen und Unternehmen
        zu schaffen. Als Begründung führt sie an, damit die Frei-
        heit von Forschung und Lehre zu schützen. Ich möchte
        meinen Redebeitrag dazu nutzen, einige Ungereimthei-
        ten dieses Antrags anzusprechen und die daraus resultie-
        renden Fehlinterpretationen richtigzustellen.
        Dieser Antrag macht wieder einmal deutlich, dass die
        Linke im Bereich Bildung und Forschung mehr Büro-
        kratie zur Kontrolle der Kooperationen zwischen Wis-
        senschaft und Wirtschaft fordert. Selbstverständlich ist
        Wissenschaftsfreiheit ein hohes Gut, das wir alle aner-
        kennen. Im Gegensatz zu Ihnen allerdings legen wir
        Wert darauf, den wissenschaftlichen Partnern an Hoch-
        schulen und außeruniversitären Forschungseinrichtun-
        21300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
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        gen erst einmal Selbstorganisation und Eigenverantwor-
        tung zu gewähren.
        Aus dem Antrag der Linken spricht ein tiefes Miss-
        trauen gegen die Wirtschaft. Dem Interesse unserer Un-
        ternehmen, in Forschung und Entwicklung zu investie-
        ren und mit Hochschulen zu kooperieren, wird direkt die
        zweifelhafte Absicht unterstellt, Einfluss auf die For-
        schungsergebnisse zu nehmen. Dieses Bild ist verant-
        wortungslos, realitätsfern und rückständig. Es schadet
        dem Wissenschafts- und Innovationsstandort Deutsch-
        land. Denn die Praxis zeigt ein völlig anderes Bild. Man
        braucht nur im Internet nachzuschauen: Jede Universität
        und jede Fachhochschule wirbt stolz mit den Ergebnis-
        sen ihrer wirtschaftlichen Kooperationsprojekte. Ob sich
        daraus nun Kontakte der Hochschulabsolventen zum Ar-
        beitsmarkt oder zu regionalen Wirtschaftsunternehmen
        ergeben – eines ist klar: Es handelt sich hierbei um einen
        Austauschprozess, in den beide Seiten investieren und
        von dem beide gleichzeitig profitieren.
        Nach einer Studie des deutschen Stifterverbandes hat
        bereits im Jahr 2009 jedes fünfte deutsche Unternehmen
        Hochschulen gefördert durch die Unterstützung dualer
        Studiengänge, die Bereitstellung von Lehrbeauftragten,
        die Betreuung von Abschlussarbeiten und Praktika so-
        wie Engagement in der Lehre. Dabei kann das damalige
        Fördervolumen von 1,5 Milliarden Euro nur annähernd
        andeuten, wie viele Initiativen tatsächlich vor Ort laufen.
        Wir setzen auf eine vertrauensvolle, geregelte Koopera-
        tion zwischen Wissenschaftskultur und Unternehmertum
        und bremsen diese nicht willkürlich aus – auf der Suche
        nach irgendwelchen Transparenzdefiziten.
        Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode
        mit der Hightech-Strategie 2020 neue Impulse für den
        Wissens- und Technologietransfer geschaffen. Um den
        Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Wirtschaft
        zu festigen, wurden neue Kooperationsformen geschaf-
        fen. Denn Forschungsergebnisse mit Innovationspoten-
        zial müssen erkannt sowie schnell und erfolgreich am
        Markt umgesetzt werden. Nur so sichern wir Wachstum
        und Beschäftigung in unserem Land.
        Ein Großteil unserer innovativen Unternehmen ist
        mittelständisch. Daher werden speziell diese in der Pro-
        jektförderung des BMWi und des BMBF unterstützt.
        Insbesondere mit den Programmen „ZIM“ und „KMU
        innovativ“ fördern wir Forschung und Entwicklung in
        kleineren Betrieben.
        Da der Begriff Drittmittelforschung in der öffentli-
        chen Wahrnehmung häufig eher negativ belegt ist, hier
        eine kurze Definition: Drittmittel zur Finanzierung von
        Forschungsvorhaben werden ergänzend zum regulären
        Hochschulhaushalt eingeworben. Sie können aus öffent-
        lichen oder privaten Mitteln stammen. Dazu zählen: die
        Projektförderung der Bundesministerien – BMBF,
        BMWi, BMVBS, BMU, BMELV –, Mittel aus Investi-
        tions- und Tilgungsfonds – Konjunkturpakete –, Mittel
        aus dem Technologietransfer – Hightech-Strategie – und
        aus dem Hochschulpakt 2020, Mittel der EU und ihrer
        Organisationen – EFRE, ESF –, Mittel der Wirtschaft,
        Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft – DFG –,
        Mittel der Bundesanstalt für Arbeit, Stiftungslehrstühle,
        Graduierten-, Postdoktoranden- und Habilitationsstipen-
        dien.
        Ein deutliches Bild ergibt sich bei der Zusammenset-
        zung der Drittmittel – jüngste Zahlen 2009 –: Den
        höchsten Anteil hat die Deutsche Forschungsgemein-
        schaft mit 34,8 Prozent, gefolgt von der Wirtschaft mit
        22,9 Prozent. Der Anteil des Bundes liegt bei 21,1 Pro-
        zent. Es folgt die Europäische Union mit 9 Prozent.
        Nichtöffentliche Drittmittelgeber wie zum Beispiel Stif-
        tungen liegen bei 7,5 Prozent. Das sind die Drittmittelre-
        alitäten: Die Wirtschaft liegt mit fast 23 Prozent auf
        Platz zwei hinter der Deutschen Forschungsgemein-
        schaft und vor dem Bund.
        Werfen wir einmal einen Blick auf die Zusammenar-
        beit von Hochschulen, außeruniversitärer Forschung und
        Firmen: Als Beispiel möchte ich die Metropolregion
        Hannover/Braunschweig/Göttingen/Wolfsburg in mei-
        nem Bundesland Niedersachsen nennen. Hier wird in der
        sogenannten Schaufensterregion Elektromobilität vor-
        bildlich zusammengearbeitet. Rund 5 800 Firmen ko-
        operieren mit der Automobilindustrie, und zwar in der
        gesamten Wertschöpfungskette: Fahrzeugentwicklung,
        Batterieforschung, Fertigungsprozesse, Carsharing-Pro-
        jekte. Der Forschungsverbund der Niedersächsischen
        Technischen Hochschulen, NTH, bündelt hierbei Kom-
        petenzen in den dazugehörigen Forschungsbereichen.
        Ein weiterer Kooperationspartner ist das Niedersächsi-
        sche Forschungszentrum Fahrzeugtechnik, NFF. Dieses
        wurde 2007 mit Unterstützung von Volkwagen als For-
        schungsplattform der TU Braunschweig gegründet.
        Hier werden keine Forschungsergebnisse verschleiert.
        Alle Formen der Zusammenarbeit sind vertraglich trans-
        parent gestaltet und zwar in Forschungszielen, Mittelein-
        satz sowie Projekt- und Finanzplänen. Umgesetzt wer-
        den die Kooperationsvereinbarungen unter anderem
        durch strategische Partnerschaften, Beraterverträge, öf-
        fentliche Beiträge zu Forschung und Entwicklung, Be-
        auftragung von Instituten und Professuren, Industrieko-
        operationen und Auftragsforschung.
        Union und FDP haben mit dem Wissenschaftsfrei-
        heitsgesetz bewiesen, dass nicht staatliche Reglementie-
        rung der richtige Weg ist, sondern der eigenverantwortli-
        che Umgang zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Das
        Wissenschaftsfreiheitsgesetz gibt der außeruniversitären
        Forschung mehr Flexibilität in der Mittelbewirtschaf-
        tung mit der Einführung von Globalhaushalten, der
        Übertragung von Mitteln auf Folgejahre, der vollständi-
        gen Deckungsfähigkeit zwischen Betriebs- und Investi-
        tionsmitteln und der Möglichkeit, nichtöffentliche Dritt-
        mittel einzusetzen, um bei der Gestaltung von Gehältern
        auch Spitzenkräfte aus dem In- und Ausland gewinnen
        und auch halten zu können. Das ist der richtige Weg in
        der Forschungspolitik. Auch die Wirtschaft muss ihren
        Beitrag zu Forschung und Entwicklung leisten und kann
        das am besten in Kooperation mit Universitäten, Fach-
        hochschulen und außeruniversitärer Forschung.
        Das Wirtschaftsbild der Linken ist dagegen reichlich
        diffus. Dass es komplett an der Realität vorbeigeht, be-
        weist auch das folgende Beispiel: Vor zwei Wochen hat
        der Erdölkonzern ExxonMobil in Berlin eine Studie zum
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21301
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        Thema Fracking vorgestellt. Dahinter verbirgt sich die
        Förderung von Erdgas mithilfe chemischer Mittel. Mit
        der Untersuchung hatte das Unternehmen einen neutra-
        len Expertenkreis – unter Leitung des Helmholtz-Zent-
        rums für Umweltforschung in Magdeburg – beauftragt.
        Eine inhaltliche Einflussnahme von ExxonMobil war zu-
        vor vertraglich ausgeschlossen worden. Ein solches Vor-
        gehen ist keineswegs ungewöhnlich und belegt einmal
        mehr, dass Wirtschaftsunternehmen auf außeruniversi-
        täre Forschungsinstitute zugehen, um objektive Experti-
        sen zu bekommen.
        Wie man sieht: Hier wird die Wissenschaftsfreiheit
        nicht eingeschränkt. Sie gilt vielmehr als Gütesiegel für
        die Seriosität deutscher Forscherarbeit. Das ist die Hand-
        schrift der Koalition in der Forschungspolitik. So brin-
        gen wir den Innovationsstandort Deutschland voran.
        Swen Schulz (Spandau) (SPD): In den letzten Mo-
        naten ist die Frage, wie Hochschulen und Unternehmen
        kooperieren, welche Möglichkeiten und Grenzen beste-
        hen und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, ver-
        stärkt diskutiert worden. Wir haben diese Debatte ebenso
        wie die Fraktion Die Linke mit einem Antrag aufgegrif-
        fen.
        Worum geht es? Auslöser für diese Diskussion waren
        Kooperationsverträge von Hochschulen mit Wirtschafts-
        unternehmen, die Zweifel aufkommen ließen, ob die
        Hochschulen ausreichend unabhängig bleiben.
        In unserem Antrag „Kooperationen von Hochschulen
        und Unternehmen transparent gestalten“ benennen wir
        als Beispiel einen Kooperationsvertrag der Deutschen
        Bank mit der Humboldt-Universität und mit der Techni-
        schen Universität Berlin im Bereich Angewandte Fi-
        nanzmathematik. Die TU Berlin legt Wert auf die Fest-
        stellung, dass der Kooperationsvertrag vor seinem
        Inkrafttreten öffentlich in den akademischen Gremien
        diskutiert wurde und es sich um eine Einrichtung der
        Bank handelte, deren Infrastruktur die Hochschulmit-
        glieder im Rahmen gemeinsamer Projekte nutzen konn-
        ten.
        Gleichwohl hat diese Kooperation, als sie einer brei-
        teren Öffentlichkeit bekannt wurde, viele Wissenschaft-
        ler und auch Angehörige der beteiligten Universitäten
        die Hände über den Kopf zusammenschlagen lassen. Es
        entstand der Eindruck, dass sich möglicherweise ein Un-
        ternehmen Wissenschaft einkauft – und zwar nicht, in-
        dem es Wissenschaftler beschäftigt, sondern indem es
        auf die Wissenschaft zugreift, sich weitgehende Mitspra-
        che- und Entscheidungsrechte sichert, etwa hinsichtlich
        der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, und
        somit eine Privatisierung der bislang freien und öffent-
        lich verantworteten Wissenschaft betreibt.
        Wie auch immer das in diesem oder in anderen Ein-
        zelfällen genau gewesen sein mag: Wir können und wol-
        len das von dieser Stelle aus nicht im Detail beurteilen.
        Was wir aber können, wollen und auch müssen, ist, klar-
        zustellen, dass die Freiheit der öffentlichen Forschung
        nicht angetastet werden darf, und dass der Staat seinen
        Teil dazu beizutragen hat, dass die Forschungsfreiheit
        gewährleistet bleibt. Die Wissenschaft ist für alle Men-
        schen da und nicht für einige Unternehmen.
        Darum begrüße ich ausdrücklich, dass die Humboldt-
        Universität inzwischen darauf besteht, dass in allen Ko-
        operationsverträgen mit Unternehmen ein ausdrückli-
        cher Hinweis auf die unabdingbare Freiheit und Unab-
        hängigkeit der Wissenschaft und Forschung enthalten
        ist. Das zeigt, dass die Debatte etwas bewegt hat und
        dass auch die Wissenschaft ihr Verhalten reflektiert.
        Nun sind wir weit davon entfernt, jede Zusammenar-
        beit von Wirtschaft und Hochschulen zu verteufeln. Im
        Gegenteil wollen und fördern wir Kooperationen. Denn
        wir wollen ja, dass sich die Kompetenzen zur Beantwor-
        tung von Forschungsfragen ergänzen. Wir wollen, dass
        Forschungsergebnisse angewandt werden, dass gesell-
        schaftliche, technische, soziale und wirtschaftliche Pro-
        bleme gelöst werden. Und wir wollen, dass Akademiker
        von den Unternehmen aufgenommen werden, dass Wirt-
        schaft angekurbelt, Gewinne gemacht und Arbeitsplätze
        geschaffen werden.
        Doch steht auf der anderen Seite eine offenkundige
        potenzielle Bedrohung der Forschungsfreiheit – hier
        nicht durch den Staat, sondern durch Privatinteressen.
        Wir haben es also mit einem Spannungsfeld zu tun, in
        dem die Regeln austariert werden müssen. Doch was
        können das für Regeln sein? Wir sollten uns an dieser
        Stelle nicht anmaßen, ein detailliertes Regelwerk auszu-
        arbeiten. Das wiederum könnte einen staatlichen Eingriff
        in die Freiheit der Wissenschaft darstellen.
        Ein erster naheliegender Schritt ist aber ein anderer,
        nämlich: eine Veröffentlichungspflicht für Koopera-
        tionsverträge von Hochschulen und Unternehmen. Es
        geht dabei darum, dass die Öffentlichkeit erfährt, dass
        eine Zusammenarbeit stattfindet und wer eigentlich zu-
        sammenarbeitet. Das ist nur recht und billig, da die Wis-
        senschaft schließlich vornehmlich öffentlich finanziert
        ist und eine öffentliche Verantwortung hat.
        Ich habe im letzten Jahr die Bundesregierung gefragt,
        wie sie dazu steht. Die Antwort ist aufschlussreich.
        Der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel
        schreibt, dass eine Veröffentlichungspflicht von Koope-
        rationsverträgen nicht zielführend und zudem rechtlich
        fragwürdig sei. Mit anderen Worten: Nach Auffassung
        der Bundesregierung geht das nicht, und sie will das
        nicht.
        Ob es rechtlich geht, habe ich den Wissenschaftlichen
        Dienst des Deutschen Bundestages gefragt. Der hat in ei-
        ner wirklich klaren und gut lesbaren Ausarbeitung deut-
        lich gemacht, dass zwar erstens eine umfassende Ver-
        öffentlichungspflicht problematisch wäre, weil damit
        Wissensvorsprünge sowie Betriebs- und Geschäftsge-
        heimnisse offengelegt werden müssten. Zweitens jedoch
        bestehe ein öffentliches Interesse daran, Kooperations-
        verträge transparenter zu gestalten. So könnten einsei-
        tige Abhängigkeiten und jeder Anschein davon vermie-
        den werden. Eine auf die Summe und die Laufzeit
        beschränkte Veröffentlichungspflicht sei daher mit der
        Vertragsfreiheit vereinbar.
        21302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        An dieser Stelle nochmal herzlichen Dank an den
        Wissenschaftlichen Dienst, der im Rahmen der rechtli-
        chen Güterabwägung ganz im Gegensatz zur Bundesre-
        gierung das Problem erkannt und eine gangbare Lö-
        sungsmöglichkeit aufgezeigt hat.
        Das ist dann auch einer der beiden Punkte in unserem
        Antrag: Wir wollen, dass die Bundesregierung gemein-
        sam mit den Bundesländern eine einheitliche Offenle-
        gungspflicht von Kooperationen zwischen den Hoch-
        schulen und Unternehmen, die sich auf die Fördersumme
        sowie die Laufzeit bezieht, anstrebt. Kommen Sie mir,
        Kolleginnen und Kollegen der Koalition, nicht wieder mit
        der Zuständigkeit der Länder. Diese Karte ziehen Sie im-
        mer, wenn Sie nichts machen wollen. Aber der Bund ist
        mit in der Verantwortung für die Freiheit der Wissen-
        schaft, und er finanziert die Hochschulen auch ordent-
        lich mit. Also kann, also muss er da auch ran.
        Der andere Punkt unseres Antrages richtet sich letzt-
        lich an die Wissenschaft. Ich habe oben deutlich ge-
        macht, dass wir kein detailliertes Regelwerk erstellen
        können und auch gar nicht sollten. Deshalb wollen wir,
        dass die Bundesregierung im Wissenschaftsrat darauf
        hinwirkt, einen Kodex zu erarbeiten, mit dem die Bun-
        desländer und Hochschulen Kriterien für die Ausgestal-
        tung und Grenzen von Kooperationen mit Unternehmen
        erhalten. Wohlgemerkt: Es geht hier um einen wissen-
        schaftsgeleiteten Prozess.
        Wir fordern die Bundesregierung und die Koalitions-
        fraktionen auf, sich mit diesem Anliegen auseinanderzu-
        setzen und nicht nur mit den üblichen Schlagworten zu
        kommen, mit denen Sie Handlungsunwilligkeit überde-
        cken wollen. Die Freiheit der Wissenschaft ist eine
        Überlegung wert.
        Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Um es vor-
        weg zu sagen: Für uns Liberale ist Wissenschaftsfreiheit
        bzw. Freiheit von Forschung und Lehre ein überaus ho-
        hes und kostbares Gut. Es ist aber nicht nur ein bedeu-
        tendes Grundrecht, sondern nach unserem Verständnis
        Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens und Fundament
        unseres Wissenschaftssystems. Deshalb messen wir dem
        Schutz der Wissenschaftsfreiheit eine hohe Bedeutung
        bei und treten auch als christlich-liberale Koalition voll-
        umfänglich für die Wissenschaftsfreiheit ein. Gerade
        weil wir ein umfassendes Freiheitsverständnis reklamie-
        ren, stößt der vorgelegte Antrag der Linken in unseren
        Reihen auf Unverständnis und Ablehnung.
        Wir lehnen den Antrag ab, denn der Freiheitsbegriff,
        den die Linke hier verwendet, ist verkürzt. Ihre Defini-
        tion blendet die Selbstbestimmung und Eigenverantwor-
        tung der Wissenschaftler aus. Sie wollen vermeintlich
        die Freiheit von Forschung und Lehre vor staatlichen
        Eingriffen schützen, fordern aber gleichsam staatliche
        Lenkungseingriffe. Sie umschreiben es im Antrag mit
        „Initiative ergreifen“; tatsächlich aber stehen dahinter
        staatlich verordnete Transparenz, Regeln und Verpflich-
        tungen bei Kooperationen zwischen Wissenschaft und
        Unternehmen. Wenn Sie Wissenschaftsfreiheit ernst
        nehmen, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass der
        Wissenschaftler seine eigenen Maßstäbe anlegt und
        selbst entscheidet, welche Kooperationen und Aufträge
        er annimmt.
        Für uns Liberale und diese Koalition bedeutet Wis-
        senschaftsfreiheit aber noch mehr. Unser Freiheitsver-
        ständnis geht tiefer. Denn Wissenschaftler und Wissen-
        schaftseinrichtungen – Hochschulen oder außeruniversi-
        täre Forschungseinrichtungen – tragen auch eine starke Ei-
        genverantwortung. Sie tragen Verantwortung, dass sie
        um die Freiheit und ihr Grundrecht wissen und verant-
        wortungsvoll damit umgehen.
        Ein Eingreifen von Bundesregierung oder Bundestag
        ist aus unserer Sicht weder erforderlich noch zielfüh-
        rend. Denn die Wissenschaft lässt sich keine system-
        fremden Standards oktroyieren. Die Selbstreflexion fin-
        det nach Maßstäben der Wissenschaft statt und eben
        nicht auf der Referenzgrundlage von Politik. Es ent-
        scheidet das Wissenschaftssystem für sich und aus sich
        heraus. Denn das Wissenschaftssystem folgt seinen eige-
        nen, inhärenten Leitlinien und Regeln.
        In Wahrheit zieht sich Ihr Antrag doch an Einzelfällen
        hoch. Sie zählen ganze vier Fälle auf. Vier Fälle, in de-
        nen nach Ansicht der Linken Drittmittelgeber Einfluss
        auf die Wissenschaft geltend gemacht haben. Angeblich,
        denn keiner der Fälle hat gezeigt, dass die Wissenschaft-
        ler in ihrer Wissenschaftsfreiheit bedrängt wurden oder
        dass die Wissenschaftsfreiheit aufgegeben wurde oder
        gar Wissenschaftler auf Grundlage einer Unterfinanzie-
        rung in eine Abhängigkeit gedrängt wurden. Der von Ih-
        nen konstruierte Zusammenhang zwischen Drittmittelfi-
        nanzierung, einer wissenschaftlichen Einflussnahme und
        Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit lässt sich nicht be-
        gründen oder aufzeigen, weder durch die angeführten
        Beispiele noch durch die im Antrag aufgegriffene Zu-
        nahme an Drittmitteln gegenüber der Grundfinanzie-
        rung.
        Es ist richtig, dass das Aufkommen an Drittmitteln in
        der zurückliegenden Dekade stärker zugenommen hat
        als die Grundfinanzierung der Hochschulen. Aber an-
        ders, als es die Darstellung im Antrag vermuten lässt, ist
        die Verschiebung nicht dramatisch. Trotz einer Verdopp-
        lung machen Drittmittel noch immer nur einen kleinen
        Anteil an der Grundfinanzierung aus. Nach den aktuells-
        ten Zahlen aus 2008 liegt der Anteil der gewerblichen
        Wirtschaft am Gesamtbudget der Hochschulen lediglich
        bei 4,6 Prozent, der Anteil der Stiftungen sogar nur bei
        1,3 Prozent.
        Wenn wir also über Drittmittel im Zusammenhang
        mit Wissenschaftsfreiheit sprechen, ist es mehr als ange-
        bracht, auf die Stimmen aus der Wissenschaft zu hören.
        Hier möchte ich kurz auf Wissenschaftsrat und Hoch-
        schulrektorenkonferenz verweisen. Beide sehen in der
        Drittmittelfinanzierung keine Gefährdung der Wissen-
        schaftsfreiheit. Im Gegenteil, beide führen aus, dass die
        Hochschulforschung durch die Möglichkeit, öffentliche
        und private Drittmittel einwerben zu können, vielmehr
        profitiert. Der Wissenschaftsrat begrüßte in den zurück-
        liegenden Jahren sogar, dass es mehr drittmittelfinan-
        zierte Forschung gibt. Denn durch Drittmittel entstehen
        im Wissenschaftssystem Impulse für mehr Wettbewerb.
        Wissenschaftler können durch diese zusätzlichen Mittel
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21303
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        ihre Forschungsaktivitäten sogar ausweiten – Effekte,
        die mehr Wissenschaftsfreiheit und nicht weniger schaf-
        fen. Das zeigt sich dem Wissenschaftsrat nach in der ge-
        stiegenen Qualität und Leistungsfähigkeit des deutschen
        Wissenschaftssystems.
        Die eigentlich wichtigen Fragen, über die es sich
        wirklich zu diskutieren gelohnt hätte, greift der Antrag
        jedoch mit keinem einzigen Wort auf, beispielsweise die
        Frage nach der Verantwortung der Länder für eine um-
        fassende und auskömmliche Grundfinanzierung von
        Hochschulen oder die Frage, wie man mehr Wissen-
        schaftsfreiheit für die Hochschulen schaffen kann. Zu
        beiden Fragen hätte die Linke Stellung beziehen müssen.
        Dann hätte sie sich aber eingestehen und vorhalten las-
        sen müssen, wie wenig sie tatsächlich für Hochschulen
        und Wissenschaftsfreiheit wirklich tut und bisher getan
        hat. Am Rande sei nur die prekäre Lage des Wissen-
        schaftsstandortes Berlin und Brandenburg notiert.
        Interessanterweise zeigt sich, dass es in den Ländern
        und im Bund stets eine christlich-liberale Koalition ist,
        die ihre Verantwortung für Wissenschaftsfreiheit und
        Hochschulen wahrnimmt. Noch in diesem Jahr werden
        wir als christlich-liberale Koalition ein Wissenschafts-
        freiheitsgesetz für die außeruniversitären Forschungsein-
        richtungen verabschieden. Nachdem wir in Nordrhein-
        Westfalen 2006 ein Hochschulfreiheitsgesetz auf den
        Weg gebracht haben und tatsächlich für mehr Autono-
        mie der Wissenschaft und Freiheit für Forschung und
        Lehre gesorgt haben, ist unser Freiheitsbegriff auf dem
        Vormarsch.
        Zudem hat diese christlich-liberale Koalition kon-
        krete Schritte unternommen, um sich an der Finanzie-
        rung von Hochschulen zu beteiligen. Wir haben
        schmerzlich lernen müssen, dass nicht alle Länder in der
        Lage oder gar willens sind, ihren Hochschulen ausrei-
        chend Grundmittel für exzellente Forschung und Lehre
        zur Verfügung zu stellen. Deshalb haben wir den Hoch-
        schulpakt sowie den Qualitätspakt für Forschung und
        Lehre mit zusätzlichen Mitten aufgestockt. Noch in die-
        sem Jahr werden wir in das Grundgesetz korrigierend
        eingreifen, um dem Bund auch zu ermöglichen – im
        Nachgang der Exzellenzinitiative –, zusätzliche Finanz-
        mittel in den Hochschulsektor zu bringen.
        Der Antrag der Linken wird dem Anspruch an das
        Wissenschaftssystem nicht gerecht. Aus diesem Grund
        lehnen wir – wie bereits eingangs erwähnt – den Antrag
        ab.
        Nicole Gohlke (DIE LINKE): Die Bundesregierung
        hat gerade das Gesetz zur Flexibilisierung von haushalts-
        rechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer
        Wissenschaftseinrichtungen beschlossen, ein Vorhaben,
        das Sie euphemistisch Wissenschaftsfreiheitsgesetz nen-
        nen. Allerdings wird bei Ihnen der große Verfassungs-
        grundsatz der Freiheit von Forschung und Lehre auf die
        Deregulierung staatlicher Steuerung und auf unterneh-
        merische Institutsführung reduziert. Ihre Wissenschafts-
        freiheit ist die Freiheit, Spitzenwissenschaftlerinnen und
        Spitzenwissenschaftler in den Bereichen einzusetzen, in
        denen man private Geldgeber findet. Das ist Freiheit
        nach Lesart der FDP!
        Die Freiheit von Forschung und Lehre ist bedroht –
        doch die Gefahr kommt von ganz anderer Seite; denn
        viele Forscherinnen und Forscher müssen um ihre Auto-
        nomie kämpfen, müssen darum kämpfen, sich ihre The-
        men selbst aussuchen zu können, müssen darum kämp-
        fen, wirklich erkenntnisgeleitet forschen zu können und
        nicht abhängig von Drittmittelgebern zu sein. Unterneh-
        men und Verbände nutzen die schwache Situation der
        unterfinanzierten Hochschulen aus, um ihre Interessen in
        der Wissenschaft durchzusetzen. Nicht immer, aber auf-
        fällig oft führt das dazu, dass massiv Einfluss auf
        Forschung und Lehre genommen wird. Da werden Er-
        gebnisse zurückgehalten, umgedeutet, Forschung zu be-
        stimmten Themen untersagt oder Gefälligkeitsgutachten
        in Auftrag gegeben.
        Beispiele gefällig? An der Humboldt-Uni Berlin soll
        ein Professor im Auftrag des Deutschen Atomforums
        eine Studie verfassen, die pünktlich zur letzten Bundes-
        tagswahl 2009 vorrechnen sollte, warum Kernenergie
        nicht nur den Konzernen Milliarden bringt, sondern vor
        allem der Gesellschaft nützt. Das Geld für diese Studie
        – immerhin 135 000 Euro sollten insgesamt fließen –
        kassiert der Professor über die Firma seiner Frau. Doch
        die Uni stellt die weitere Überprüfung des Falles ein.
        Anderer Fall: Die Universität Bremen hat sich 1986
        eine Zivilklausel gegeben, wonach nur zu friedlichen
        und zivilen Zwecken geforscht werden darf, und in der
        die Mitglieder der Universität aufgefordert werden, For-
        schungsmittel abzulehnen, die Rüstungszwecken dienen
        könnten. Nun bietet der OHB-Konzern der klammen Uni
        eine Stiftungsprofessur im Bereich Raumfahrttechnolo-
        gie an. Bedingung: Die Zivilklausel muss weg.
        Oder der nächste Fall: Die Deutsche Bank sponsort
        ein Forschungszentrum für Finanzmathematik an zwei
        Berliner Universitäten. Der Kooperationsvertrag wird
        bekannt. Er sieht Mitspracherechte der Bank bei der Be-
        rufung von Professuren vor, bei der Veröffentlichungs-
        praxis und bei den Rechten an den entstandenen Publika-
        tionen. In strittigen Fällen soll nicht etwa die
        Hochschule entscheiden dürfen, sondern ein Vertreter
        der Bank. Angesichts dieser Entwicklungen sieht sich
        mittlerweile sogar der wirtschaftsnahe Stifterverband ge-
        nötigt, einen Verhaltenskodex für Stiftungsprofessuren
        aufzustellen.
        Erschwert wird eine Aufklärung und Bewertung sol-
        cher Fälle dadurch, dass Unternehmen für ihre Koopera-
        tionsverträge mit den Hochschulen aus „wettbewerbs-
        rechtlichen Gründen“ fast immer Geheimhaltung
        durchgesetzt haben, sodass niemand nachvollziehen
        kann, wie viel Einfluss die Unternehmen haben und wie
        weitreichend die Vereinbarungen sind. Die Liste der
        Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung solche
        Verträge ist lang: BASF, Google in Berlin, der Pharma-
        konzern Bayer in Köln, Eon in Aachen und so weiter.
        Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Koali-
        tion etwas für die Wissenschaftsfreiheit tun wollen, dann
        müssen Sie zuerst einmal für Transparenz sorgen. Ver-
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        träge von staatlichen Hochschulen und Forschungsein-
        richtungen mit Unternehmen sind keine Privatsache,
        sondern eine öffentliche Angelegenheit. Diese Angaben
        müssen offengelegt werden! Wir brauchen Regeln für
        die Kooperation. Berufungen, Stellenbesetzungen, Ver-
        öffentlichungen, Patente – für diese Bereiche muss ein
        präziser Verhaltenskodex entwickelt werden. Und: Wenn
        Ihnen die Freiheit von Forschung und Lehre wirklich ein
        hohes Gut ist, sollten Sie die Wissenschaft ordentlich fi-
        nanzieren und vor der Einflussnahme durch Privatinte-
        ressen schützen!
        Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im
        heutigen Wissenschaftsbereich gibt es zahlreiche An-
        knüpfungspunkte für Kooperationen zwischen Hoch-
        schulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen
        und Unternehmen. Kooperationen spielen eine Rolle im
        Prozess der Ausdifferenzierung und Profilschärfung der
        Hochschulen, bei der anwendungsorientierten For-
        schung, bei gemeinsamen Forschungsprojekten, bei der
        Translation, bei Stiftungsprofessuren, beim Wissens-
        und Technologietransfer. Ebenso vielfältig sind die Ebe-
        nen des kooperativen Austausches. Sie reichen von dua-
        len Studiengängen und hochschulischen Fort- und Wei-
        terbildungsangeboten über Diplomarbeiten und
        Dissertationen, die durch Kooperationen mit Unterneh-
        men zustande kommen, bis hin zur gemeinsamen Nut-
        zung von Forschungsinfrastrukturen, der gemeinsamen
        Forschungsbeteiligung, der Auftragsforschung, der Be-
        ratung oder anderen forschungsbezogenen Dienstleistun-
        gen. Im Regelfall sind diese Kooperationsbeziehungen
        außerordentlich produktiv und durchaus wünschenswert.
        Das im Antrag der Fraktion Die Linke formulierte
        Anliegen, auf mehr Transparenz zu dringen, wo es um
        Vertrags- und Kooperationsbeziehungen zwischen Un-
        ternehmen und Hochschulen bzw. außeruniversitären
        Einrichtungen geht, ist sicher berechtigt. Klar ist aber
        auch, dass nicht an sämtliche Kooperationsformen die-
        selben Prinzipien angelegt werden können. Dem Antrag
        der Linken ist vor allem im Feststellungsteil deutlich an-
        zumerken, dass ihm zwei unterschiedliche Philosophien
        zugrunde liegen: eine Haltung, der Kooperationsbezie-
        hungen generell suspekt sind und die sie unter den Ver-
        dacht der unlauteren Einflussnahme und Vereinnahmung
        vonseiten der Unternehmen stellt, und eine zweite Hal-
        tung, die um Differenzierung bemüht ist und vor allem
        auf die Einhaltung und Durchsetzung von Prinzipen gu-
        ter Praxis setzt. Ich halte es daher für richtig, etwas abzu-
        schichten und die Probleme zu differenzieren.
        Um missbräuchlicher Einflussnahme von Unterneh-
        men im Rahmen von Kooperationen mit Hochschule und
        außeruniversitären Einrichtungen von vornherein einen
        Riegel vorzuschieben, ist es sicher richtig, wenn aus der
        Wissenschaft heraus Leitlinien und Codes of Conduct
        entwickelt werden, die regeln, welche Prinzipien für
        gute Kooperationsbeziehungen gelten sollen.
        Transparenzregeln und Codes of Conduct sind aber
        nicht nur wichtig für die Beziehungen zwischen Hoch-
        schulen bzw. außeruniversitären Einrichtungen und Un-
        ternehmen. Faire, transparente Regeln als Basis für den
        gemeinsamen Austausch sind überall dort von Bedeu-
        tung, wo private Geldgeber mit Hochschulen und außer-
        universitären Forschungseinrichtungen kooperieren. Auf
        dieser Grundlage können Interessenskonflikte austa-
        riert, Fairness im Umgang hergestellt und Kooperation
        auf Augenhöhe sichergestellt werden.
        Wie gesagt dürfen aber nicht sämtliche Kooperations-
        formen in ein und denselben Topf geworfen werden.
        Hier gilt es, zu differenzieren: Selbstverständlich zum
        Beispiel sollten Stiftungsverträge öffentlich einsehbar
        sein. Ebenso klar ist, dass ausgeschlossen sein muss,
        dass private Geldgeber Einfluss zum Beispiel auf Beru-
        fungsentscheidungen nehmen. Es wäre aber Unsinn, so
        zu tun, als sei unlautere Einflussnahme bei Stiftungspro-
        fessuren der Regelfall. Sehr oft werden mit solchen Stif-
        tungen ideelle Zwecke verfolgt. Ob eine Uni eine be-
        stimmte Professur will oder nicht, darüber muss sie dann
        schon selbst entscheiden.
        Im anwendungsnahen Bereich muss man differenzier-
        ter mit Offenlegungspflichten umgehen. So ist es sicher
        problematisch, überall und immer von einer generellen
        Offenlegungspflicht in Bezug zum Beispiel auf Patente
        auszugehen. An dieser Stelle sind vielmehr transparente
        Spielregeln der konkreten Zusammenarbeit gefragt.
        Die Hochschulen sollten Standards für ihre Koopera-
        tionsbeziehungen mit Unternehmen setzen. Ausgehend
        von diesen Standards müssen sie sich dann mit den Un-
        ternehmen auf faire Regeln für den Umgang miteinander
        verständigen, die die Interessen der Hochschulen nicht
        unterlaufen. Unter welchen Bedingungen sollen eventu-
        elle Patente genutzt werden können? Welche Ansprüche
        bestehen mit Blick auf die Zurechnung von Forschungs-
        leistungen und die Autorschaft bei wissenschaftlichen
        Veröffentlichungen? Wie kann einseitiger Know-how-
        Abfluss und Braindrain verhindert werden? In solchen
        und ähnlichen Fragen müssen bei Kooperationen, die
        sich im Spannungsfeld von Kooperation und Konkur-
        renz bewegen, faire und klare Regeln gelten.
        Darüber hinaus wäre es im Sinne der Transparenz si-
        cher ein guter Ansatz – und dazu haben wir Grünen ei-
        nen entsprechenden Vorschlag gemacht – die Zuwen-
        dung öffentlicher Mittel für Forschungsprojekte,
        insbesondere durch die Deutsche Forschungsgemein-
        schaft und den Bund, an die Bedingung zu knüpfen: In
        einer öffentlich zugänglichen zentralen Datenbank soll-
        ten das Forschungsprojekt, die Ziele und die Resultate in
        allgemeinverständlicher Form dargelegt und über den
        Umfang der Förderung und die beteiligten Wissenschaft-
        lerinnen, Wissenschaftler und Forschungseinrichtungen
        Auskunft gegeben werden.
        Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt zu spre-
        chen kommen, wo einiges durcheinandergeht: Es wird
        im Antrag der Linken der Eindruck erweckt, dass das
        Missverhältnis zwischen Grundfinanzierung und Dritt-
        mitteln an Hochschulen vor allem mit dem Hauptpro-
        blem steigender unternehmerischer Einflussnahme ein-
        hergehe. Der Großteil der von Hochschulen eingeworbe-
        nen Drittmittel stammt aber von der öffentlichen Hand.
        Hintergrund ist, dass in den letzten Jahren mit der Exzel-
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        lenzinitiative und den Mittelaufwüchsen bei der Deut-
        schen Forschungsgemeinschaft, den Programmen des
        BMBF und des Bundes und den Forschungsrahmenpro-
        grammen der Europäischen Union die öffentliche Dritt-
        mittelfinanzierung der Hochschulforschung rasant zuge-
        nommen hat.
        Nun gibt es gute Gründe, das Missverhältnis zwi-
        schen steigendem Drittmittelanteil und stagnierender
        oder rückläufiger Grundfinanzierung der Hochschulen
        zu kritisieren und eine neue Balance einzufordern: Dritt-
        mittel sind eine sinnvolle Ergänzung zu Grundmitteln;
        aber sie taugen nicht dazu, die solide Finanzierung der
        Daueraufgaben in Forschung und Lehre zu ersetzen. Die
        Schieflage im Verhältnis zwischen staatlichen Grund-
        und Drittmitteln bekämpft man aber sicher nicht da-
        durch, dass man das Engagement privater Geldgeber an-
        greift. In Deutschland haben wir doch viel eher das Pro-
        blem, dass die Bereitschaft von Unternehmen und
        privaten Geldgebern, sich an der Finanzierung des Wis-
        senschaftssystems zu beteiligen, nach wie vor unterent-
        wickelt ist.
        Mich wundert, dass Sie wie auch die SPD in ihrem
        Antrag ein Thema ziemlich unterbelichtet lassen: Ich
        meine das Thema Nebentätigkeiten von Professorinnen
        und Professoren. Auch hier müssen Transparenz und
        Spielregeln gelten. Hier geht es nicht nur um den Um-
        fang und die Art der Nebentätigkeit, sondern auch um
        mögliche Interessenskonflikte. Auch hier sind die Hoch-
        schulen aufgefordert, Standards zu setzen und vor allem
        sicherzustellen, dass sie von den Professorinnen und
        Professoren akzeptiert und eingehalten werden.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Unterrichtung: Bericht der
        Bundesregierung über die Maßnahmen zur
        Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des
        Bundesvertriebenengesetzes in den Jahren 2009
        und 2010 (Tagesordnungspunkt 15)
        Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Wir disku-
        tieren heute den Bericht der Bundesregierung über ihre
        Aktivitäten zur Pflege des Kulturguts der Vertriebenen
        und Flüchtlinge sowie zur Förderung der wissenschaftli-
        chen Forschung in den Jahren 2009 und 2010. Ange-
        sichts der Vertreibung vieler Millionen Landsleute haben
        sich Bund und Länder Anfang der 50er-Jahre geschwo-
        ren, Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen
        Europa niemals vergessen zu machen. Dem Auftrag sah
        sich bis heute jede Bundesregierung in besonderem
        Maße verpflichtet.
        Das reiche kulturelle Erbe, das die Deutschen aus ih-
        rer jahrhundertelangen Geschichte im östlichen Europa
        mitbrachten, ist für unsere Kulturnation von außeror-
        dentlicher Bedeutung. In den ehemals deutsch geprägten
        Gebieten erwuchsen über die Jahrhunderte in schöpferi-
        schem Geiste deutsche Musik, Literatur, Philosophie,
        Baukunst und Malerei; auch Wissenschaft und For-
        schung waren an den Universitäten in unseren Nachbar-
        ländern angesiedelt. Durch diese unterschiedlichen Fa-
        cetten besitzt unser Vaterland heute einen einzigartigen
        kulturellen Reichtum, um den uns andere Länder benei-
        den.
        Das kulturelle Erbe im östlichen Europa zu bewahren,
        ist der vordringliche gesetzlich festgeschriebene Auftrag
        aus § 96 Bundesvertriebenengesetz. Diesen erfüllte die
        Bundesregierung auch 2009 und 2010 mit großer Tat-
        kraft. Wir Christdemokraten sehen uns in diesem Zu-
        sammenhang jedoch immer auch verpflichtet, an das
        Unrecht von Flucht und Vertreibung zu erinnern.
        Jüngere Menschen, deren eigenes Schicksal durch
        diese Ereignisse nicht geprägt wurde, sind sich kaum be-
        wusst, wie widrig die Umstände waren, unter denen das
        heutige Deutschland entstanden ist. Es lag nicht nur das
        ganze Land in Trümmern – eine Tatsache, die im Ge-
        schichtsunterricht noch weitgehend verdeutlicht wird –
        nein, die Gesellschaft war nach dem Krieg auch eine
        ganz andere als vorher: 14 Millionen Deutsche, die Jahr-
        hunderte im östlichen Europa gelebt hatten und nach
        dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben wurden,
        suchten eine neue Heimat; das war damals etwa ein
        Fünftel der Gesamtbevölkerung. Als Folge des Krieges
        und der verständlichen Wut auf die Deutschen mussten
        sie über Nacht ihre Heimat in Ost- und Westpreußen,
        Danzig und Pommern, Ober- und Niederschlesien, dem
        Sudetenland, dem Banat und Siebenbürgen verlassen,
        2 Millionen von ihnen kamen ums Leben, noch bevor sie
        ihre neue Heimat erreicht hatten. Die Überlebenden hat
        die Erinnerung an die erlittenen Grausamkeiten und die
        Trauer über den Verlust der Heimat ihr ganzes Leben
        lang gequält.
        Angesichts der Lebensleistung der Vertriebenen kann
        man nicht ohne Scham auf den öffentlichen Umgang mit
        ihrem Schicksal blicken, der über viele Jahrzehnte vor-
        herrschend war; denn allzu lange sind Flucht und Ver-
        treibung aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt
        worden; allzu lange war das Thema tabu. Nur zögerlich
        und erst allmählich wurde in den 1990er-Jahren die
        Mauer des Schweigens durchbrochen. Im Koalitionsver-
        trag von 2005 vereinbarten wir mit den Sozialdemokra-
        ten, im Geiste der Versöhnung ein „sichtbares Zeichen“
        für das Unrecht von Vertreibung zu setzen. Bis zur Grün-
        dung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im
        Jahr 2008 war es somit ein langer und beschwerlicher
        Weg.
        Indem wir das Kulturerbe der Vertriebenen und
        Flüchtlinge, der Aussiedler und Spätaussiedler entde-
        cken und bewahren, gedenken wir somit immer auch ih-
        rer wechselvollen Geschichte. Das eine ohne das andere
        darzustellen wäre verkürzt und würde dem Schicksal der
        Menschen nicht gerecht.
        In den Jahren 2009 und 2010, um die es heute geht,
        unterstützte die Bundesregierung die Kulturarbeit der
        Vertriebenen mit 34 Millionen Euro. Dies sind 6 Millio-
        nen mehr als noch 2007 und 2008, wo die Mittel eben-
        falls schon aufgestockt worden waren. Dieser erfreuliche
        Trend zeigt: Die Regierung unter Bundeskanzlerin
        Angela Merkel betrachtet den Auftrag, Kultur und Ge-
        21306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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        schichte zu bewahren, nicht als bloße Verpflichtung,
        sondern sieht ihn als eine Herzensangelegenheit an.
        Warum ist uns das so wichtig? Nun, zunächst und vor
        allen Dingen, weil wir überzeugt sind, mit der Erinne-
        rung an Vertreibungen in der Vergangenheit mögliches
        Unrecht in der Zukunft zu verhindern. Ohne Gedenken
        und Versöhnung ist keine gemeinsame Zukunft in einem
        friedlichen Europa möglich. Erinnern wir uns daran, was
        nach fast 70 Jahren immer mehr in Vergessenheit gerät:
        Frieden zwischen den europäischen Völkern ist keine
        Selbstverständlichkeit. Verständigung und Aussöhnung
        innerhalb Europas setzen voraus, dass wir neben den
        Konflikten auch Verbindendes in unserer Geschichte su-
        chen. Bei der Förderung setzen wir daher den Schwer-
        punkt auf Erinnerung, Begegnung und kulturellen Aus-
        tausch. Die Vertriebenenorganisationen leisten hierzu
        mit guten Kontakten in ihre frühere Heimat ebenfalls un-
        ersetzliche Dienste. Kultur und Geschichte der Deut-
        schen im östlichen Europa stellen ein gemeinsames eu-
        ropäisches Erbe dar. Die Kulturarbeit wird so zu einem
        Brückenschlag zwischen denen, die fliehen mussten, und
        denen, die bleiben konnten.
        Ganz konkret etwas bewirken können wir, wo die Ge-
        fahr neuen Leids noch nicht gebannt ist. Ich denke be-
        sonders an die Staaten des ehemaligen Jugoslawien, wo
        ab dem 17. Jahrhundert die Donauschwaben lebten. In
        Serbien und den Nachbarländern schwelen noch immer
        ethnische Konflikte. Schlichtend tätig werden können
        wir am besten direkt vor Ort. Die Kulturreferenten, die
        wir im Jahr 2009 endlich dauerhaft einstellen konnten,
        spielen dabei eine wichtige Rolle. Vor Ort fördern sie zi-
        vilgesellschaftliche Einrichtungen und kulturelle Bil-
        dungsprojekte, die für das friedliche Zusammenleben
        der Mehrheitsbevölkerungen mit ihren Minderheiten
        eintreten.
        Die Bundesregierung verfolgt bei der Kulturförde-
        rung seit einigen Jahren einen neuen Ansatz. „Gemein-
        same Geschichtsschreibung“ oder auch „Erinnerungs-
        kultur“ sind die Stichworte. Bevor wir in eine
        gemeinsame Zukunft schauen können, sollten wir unsere
        Sicht auf die Vergangenheit teilen. Hierfür ist gemein-
        same Forschung unerlässlich. Lange bestand keine Ei-
        nigkeit über die historischen Fakten; jedes Land ver-
        folgte seine eigene Wahrheitsfindung. Aus diesem
        Grund unterstützt die Bundesregierung nun vor allem
        Kooperationsprojekte zwischen deutschen Wissenschaft-
        lern und jenen der Nachbarländer. Gemeinsame For-
        schungsprojekte, Wanderausstellungen etwa oder Ju-
        gendbegegnungen, tragen zu einem geteilten und
        gemeinsamen Geschichtsverständnis bei. Das große Ziel
        sind Schulbücher, die die gleichen Inhalte vermitteln.
        Wir sind zudem stolz darauf, dass von uns unter-
        stützte Institute Lehrveranstaltungen an zahlreichen aus-
        ländischen Universitäten abhalten. Vor allem aber för-
        dern wir den akademischen Nachwuchs mit der
        Finanzierung von Tagungen zum wissenschaftlichen
        Austausch, Stipendien und Juniorprofessuren.
        Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an Ge-
        schichte. Deshalb ist Geschichtsforschung selbst dann
        nicht abgeschlossen, wenn wir glauben, alles zu wissen.
        Ein weiterer großer Teil der Förderung kommt den
        Museen zugute. Das Interesse am deutschen Kulturerbe
        im Osten beschränkt sich schon längst nicht mehr auf die
        Betroffenen und deren Nachkommen. Die Neugier
        wächst sowohl bei uns als auch in den Nachbarländern.
        Immer drängender wird die Aufzeichnung von Zeitzeu-
        genberichten, da diese Erinnerungen ebenso bedeutend
        wie vergänglich sind, weil immer weniger Menschen
        den nachfolgenden Generationen von eigenen Erlebnis-
        sen berichten können werden. Kultur und Geschichte der
        deutschen Minderheiten und vor allem auch Flucht und
        Vertreibung werden in den Schulen nur untergeordnet
        behandelt. Dies ist ein beklagenswerter Mangel, und
        auch gerade aus diesem Grund müssen Museen als Lern-
        orte vor allem für junge Menschen ausgestattet werden.
        Die Erinnerung wachzuhalten, ist auch das oberste
        Ziel der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. De-
        ren Arbeit unterstützt der Bund mit jährlich 2,5 Millio-
        nen Euro. Heute steht fest, wie das neue Ausstellungsge-
        bäude für Flucht und Vertreibung aussehen soll. Das
        „Deutschlandhaus“ hier in Berlin wird umgebaut und ar-
        chitektonisch mit der „Topographie des Terrors“ verbun-
        den. Die Dokumentation der NS-Schreckensherrschaft
        wird damit durch die Erinnerung an ihre schrecklichen
        Konsequenzen ergänzt. Mit den Zuwendungen werden
        bereits heute Stücke für die Dauerausstellung ange-
        schafft. Auf der Berlin Biennale für zeitgenössische
        Kunst, die dieser Tage stattfindet, zeigt die Stiftung zu-
        dem persönliche Erinnerungsstücke, die viele von ihrer
        Flucht gespendet haben.
        Für all diese und viele weitere Aspekte von Ge-
        schichte, Kultur und Wissenschaft stand die unionsge-
        führte Bundesregierung in den Jahren 2009 und 2010.
        Mit dem Vorsatz, das deutsche Kulturerbe im östlichen
        Europa zu entdecken und zu bewahren, nehmen wir Ver-
        antwortung an: Verantwortung gegenüber unseren Nach-
        barn, dass wir das Vermächtnis unserer Vorfahren nicht
        einfach verkommen lassen, und Verantwortung gegen-
        über denjenigen Mitgliedern unserer Gesellschaft, die
        ihre Heimat schmerzlich verloren haben und sich hier so
        bescheiden wie erfolgreich eingegliedert haben Kultur
        und Geschichte von 14 Millionen Deutschen dürfen nie-
        mals in Vergessenheit geraten. Sie sind Teil der Ge-
        schichte unseres Landes. Dazu stehen wir gerade auch
        heute.
        Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Osten gibt es viel
        Neues zu vermelden. Ich meine aber nicht die von vielen
        Experten für unmöglich gehaltene Rochade zwischen
        Präsident und Ministerpräsident in Russland oder die
        politischen Entwicklungen in der Ukraine, deren künf-
        tige Ausrichtung die Zukunft Europas weit mehr prägen
        wird als die gegenwärtige westeuropäische Schulden-
        krise. Ich meine den bemerkenswerten Wandel in Mittel-
        und Osteuropa, welchen der aktuelle Bericht der Bun-
        desregierung zur Kulturförderung nach § 96 Bundesver-
        triebenengesetz, BVFG, dokumentiert, zu dem unsere
        Fraktion diese Debatte im Deutschen Bundestag initiiert
        hat.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21307
        (A) (C)
        (D)(B)
        Denn in den letzten Jahren, so konstatiert die Bundes-
        regierung treffend, habe sich die Perspektive auf Kultur
        und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa we-
        sentlich verändert, und zwar zum Positiven. Ich zitiere:
        Dies hat zu einer – wieder – stärkeren und auch
        vielschichtigeren Wahrnehmung der ehemals deut-
        schen oder von Deutschen besiedelten Gebiete im
        östlichen Europa geführt. Heute geht das Interesse
        weit über die sogenannte Erlebnisgeneration und
        über die Familien der Vertriebenen hinaus. Neue
        Fragen an die Geschichte und eine neue Offenheit
        für die vielfältigen Aspekte des deutschen Kulturer-
        bes in den einschlägigen Regionen des östlichen
        Europas prägen den Diskurs, der in der Mitte der
        Gesellschaft angekommen ist und dabei wie selbst-
        verständlich keineswegs auf Deutschland be-
        schränkt ist, sondern sich im europäischen und
        grenzüberschreitenden Dialog entfaltet.
        Wer hätte gedacht, wie der Ausblick des Berichts fest-
        hält, dass die wachsende Bedeutung regionaler Identitä-
        ten, die heute in vielen Ländern zu konstatieren sei, zu
        einer „ganz neuen Bewertung des deutschen Kulturer-
        bes“ führe. Zitat; „Was einst ideologisch entzweite, wird
        zunehmend als verbindendes Merkmal in einem Europa
        der Regionen verstanden.“
        Vielleicht ist es noch zu früh, die Wiederentdeckung
        der Kultur und Geschichte der Deutschen im Osten
        Europas in diesem Hohen Haus auszurufen, die jahrhun-
        dertelang schaffensreich und friedlich gewirkt hat, wo-
        ran endlich anzuknüpfen wäre; aber wir sind auf einem
        guten Weg dorthin. Bund und Länder haben sich be-
        kanntlich in § 96 BVFG dazu verpflichtet, das Kulturgut
        der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu prä-
        sentieren und zu erforschen. Dabei geht es um histori-
        sche Regionen und Siedlungsgebiete wie Schlesien, Ost-
        und Westpreußen, Siebenbürgen oder das Banat, in de-
        nen früher Deutsche gelebt haben und zum Teil noch
        heute ansässig sind. Beim diesjährigen Heimattag der
        Siebenbürger Sachsen gibt übrigens der in Kronstadt ge-
        borene Rocksänger Peter Maffay ein Benefizkonzert,
        dessen Erlöse für den Wiederaufbau der Kirchenburg
        Radeln sowie für den dortigen Bau eines Kindererho-
        lungsheims verwendet werden. Es kann daher nicht oft
        genug betont werden, dass dieses historische Erbe Teil
        der Kultur aller Deutschen und für uns als Kulturnation
        von bleibender Bedeutung ist.
        An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass nicht alle
        Fraktionen im Deutschen Bundestag das wohl so sehen.
        Wie sonst ist die Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die
        Grünen im letzten Jahr, Drucksache 17/5991, zu verste-
        hen, in der scheinheilig auf die deutlichen Kürzungen
        der Kulturförderung nach § 96 BVFG „um die Jahrtau-
        sendwende“ – also unter rot-grüner Bundesregierung –
        verwiesen und kritisiert wird, seit 2005 „jedoch wachsen
        die Ausgaben in diesem Bereich wieder“?
        Es stimmt, die jetzige Bundesregierung hingegen
        nimmt die Verantwortung für den Erhalt und die Pflege
        des deutschen Erbes im östlichen Europa als ein nach
        wie vor wichtiges kulturpolitisches Handlungsfeld ernst
        und hat dafür gesorgt, dass die Förderung seit der Regie-
        rungsübernahme von circa 12 Millionen Euro schritt-
        weise auf knapp 17 Millionen Euro im Bundeshaushalt
        2012 erhöht wurde.
        Auf dem diesjährigen Jahresempfang des Bundes der
        Vertriebenen hat die Bundeskanzlerin erklärt, wie wich-
        tig es sei, dieses Erbe zu erforschen und jungen Men-
        schen zu vermitteln. Sie unterstrich dabei die Bedeutung
        der Kulturförderung, wovon zum Beispiel der Ausbau
        von Landesmuseen zeuge.
        Zu den geförderten Einrichtungen gehören neben der
        Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin die
        regionalen Museen wie etwa das Pommersche Landes-
        museum in Greifswald oder das Schlesisches Museum
        zu Görlitz sowie die Wissenschaftszentren wie das Her-
        der-Institut in Marburg oder die Martin-Opitz-Bibliothek
        in Herne. Die vertriebenenpolitische Gruppe der CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion hat es sich in dieser Legislatur-
        periode zur Aufgabe gemacht, sämtliche Einrichtungen
        zu besuchen und eine Bestandsaufnahme vorzunehmen,
        da teilweise bereits jetzt Modernisierungsbedarf erkenn-
        bar ist. Aus der Vielzahl der laufenden Maßnahmen will
        ich nur einige nennen. So wird jetzt das Ostpreußische
        Landesmuseum in Lüneburg baulich um eine Baltische
        Abteilung erweitert und dadurch auch die Dauerausstel-
        lung ergänzt und modernisiert. Das Westpreußische Lan-
        desmuseum in Münster zieht in diesem Jahr an einen
        neuen Standort um, wo ebenfalls die Dauerausstellung
        bis zur Wiedereröffnung 2013 überarbeitet werden soll.
        Das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deut-
        schen im östlichen Europa, BKGEj, hat schon 2008 ein
        großes Projekt gestartet, das die vollständige Erfassung
        und Präsentation aller in Deutschland bestehenden Hei-
        matsammlungen vorsieht. Zudem ist eine begleitende
        Gesamtdarstellung der circa 500 Sammlungen vorgese-
        hen.
        Das Amt des Bundesbeauftragten für Kultur und Me-
        dien, BKM, hat zusammen mit dem BKGE ein mit
        800 000 Euro dotiertes Akademisches Förderprogramm
        ins Leben gerufen, um neues Interesse zu wecken und
        die Thematik an den deutschen Universitäten nachhaltig
        zu verankern. Nicht zuletzt hat die Bundesstiftung
        „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Anfang dieses Jahres
        mit dem erfolgreichen Abschluss des Architektenwettbe-
        werbs für den Umbau des Deutschlandhauses ein wichti-
        ges Etappenziel erreicht. Realisiert werden soll ein am-
        bitionierter Entwurf der österreichischen Architekten
        Bernhard und Stefan Marte, eine überzeugende Arbeit,
        die sich nicht nur in der Berliner Museumslandschaft se-
        hen lassen kann. Einerseits wird dem Charakter des his-
        torischen Gebäudes und dem Denkmalschutz Rechnung
        getragen, indem die Fassaden an der Stresemannstraße
        und Anhalter Straße erhalten bleiben. Andererseits er-
        möglicht der Entwurf im Gebäudekern den Neubau eines
        zeitgenössischen Museums, welches der geplanten Dau-
        erausstellung großzügigen Raum gibt.
        Zudem zeigt die Bundesstiftung in diesen Tagen in ei-
        ner ersten Ausstellung die eindrücklichen Ergebnisse ei-
        nes Sammlungsaufrufs nach persönlichen Erinnerungs-
        21308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        stücken an Flucht, Vertreibung und Heimatverlust. Nach
        nur sechswöchigem Sammlungsaufruf – als erstem Test-
        durchlauf – gingen bei der Stiftung etwa 100 Exponate
        ein, darunter einige sehr wertvolle Objekte, die der Stif-
        tung dauerhaft zur Verfügung gestellt wurden und von
        rund 30 Familienschicksalen erzählen. Dabei handelt es
        sich um einmalige Zeitdokumente wie der Armbinde mit
        aufgenähtem Buchstaben vom Juni 1945, die alle Sude-
        tendeutschen bis zu ihrer Vertreibung tragen mussten,
        oder original erhaltenes Fluchtgepäck.
        Die Bundesstiftung ist – und daran halten wir unbeirrt
        fest – eines der wesentlichen Projekte für unsere natio-
        nale Identität, in der das millionenfache Schicksal der
        deutschen Heimatvertriebenen, die historischen Hinter-
        gründe von Flucht und Vertreibung sowie deren europäi-
        sche Dimensionen dokumentiert werden soll. Wir wer-
        den uns deshalb weiter für den konsequenten Ausbau der
        Bundesstiftung mit voller Kraft einsetzen.
        Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Weil Bundesre-
        gierungen keine Klientelpolitik betreiben sollten, haben
        wir im Jahr 2000, damals in rot-grüner Regierungsver-
        antwortung, bei der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesver-
        triebenengesetz einen Paradigmenwechsel vollzogen:
        Die Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und
        Geschichte im östlichen Europa muss seitdem eine brei-
        tere Öffentlichkeit berücksichtigen und im Geiste des
        Austausches und der Verständigung erfolgen!
        Auf keinen Fall wollten und wollen wir hermetische
        „Parallelwelten“ und zweifelhafte, revisionistische Ge-
        schichtsbilder institutionell verfestigen. Denn nicht Ver-
        drängung ist der richtige Weg, sondern eine gemeinsame
        historische Vergewisserung, die erst aus dem gemeinsa-
        men Blick von Deutschen, Polen, Tschechen und ande-
        ren auf die Traditionen in ehemals deutschen Kultur-
        landschaften entstehen kann.
        Konkret haben wir im Jahr 2000 deshalb auf eine Öff-
        nung und die Professionalisierung der Kulturarbeit ge-
        mäß § 96 Bundesvertriebenengesetz gedrungen und um-
        fassende Umstrukturierungen vorgenommen. Der
        vorliegende Bericht zeigt für die Jahre 2009 und 2010,
        wie richtig unsere Konzeption und wie notwendig der
        Kurswechsel war.
        Museen und Kulturarbeit müssen ihre Präsentationen
        und Projekte im Kontext aktueller museologischer und
        wissenschaftlicher Diskurse planen. Zeitgemäße Metho-
        den und Medien sind bei der Vermittlung einzusetzen.
        Die Angebote haben sich an ein breiteres Publikum zu
        richten.
        Ebenso wichtig ist die Bildung professioneller, inter-
        nationaler Netzwerke. Museen und Kulturarbeit müssen
        in ständigem Dialog mit jenen osteuropäischen Nach-
        barn stehen, auf deren Länder und Regionen die jeweili-
        gen Darstellungen von Kultur, Geschichte und Erinne-
        rung Bezug nehmen. Hier hat sich – und es freut mich,
        dass der Bericht dies bestätigt – das Instrument der Stif-
        tungsprofessur bewährt. Es ist dieser Dialog zwischen
        Wissenschaftlern, Studenten und einer interessierten Öf-
        fentlichkeit aus Deutschland und den Ländern Mittelost-
        europas, der zu echter Verständigung fuhren kann. Nur
        gemeinsam lässt sich die Zukunft Europas friedlich ge-
        stalten.
        Besonders ist deshalb auch der Jugendaustausch wei-
        ter zu fördern. Persönliche Beziehungen sind von un-
        schätzbarem Wert. Die Programme müssen sich aller-
        dings noch stärker als bisher in den Kontext der
        gesamteuropäischen Entwicklung einfügen. Hier sind
        die notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Der Be-
        richt deutet dies in seinem Ausblick an.
        Mein Fazit: Unsere Neujustierung der Kulturarbeit
        nach dem Bundesvertriebenengesetz hat sich bewährt
        und wird – auch dies macht der Bericht deutlich – von
        Schwarz-Gelb nicht infrage gestellt.
        So kann ich nur begrüßen, dass es Herrn Neumann
        gelungen ist, die unter Rot-Grün eingeführten Stellen der
        Kulturreferenten zu entfristen. Das hilft nicht nur den
        Referenten, sondern ist ein richtiges Signal: eine Aner-
        kennung der großen Bedeutung der Jugendarbeit.
        Denn auch hier liegt der Bericht richtig – Zitat – „Es
        sind keineswegs allein die Vertriebenen und Flüchtlinge,
        die Aussiedler und Spätaussiedler, die sich für ihre frü-
        here Heimat interessieren und zahlreiche Brücken zu den
        heute dort lebenden Menschen gebaut haben. In
        Deutschland und seinen Nachbarländern sind inzwi-
        schen neue Generationen herangewachsen, die sich mit
        dem deutschen Kulturerbe im östliche Europa auseinan-
        dersetzen.“
        Die Strukturen der Kulturforderung gemäß § 96 Bun-
        desvertriebenengesetz sind inzwischen also zukunftsfä-
        hig – doch gilt das auch für die Politik, die Inhalte der
        Koalition?
        Zweifel sind angebracht, beispielsweise wenn wir uns
        die Errichtung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöh-
        nung ins Gedächtnis rufen, die im Dezember 2008 als
        unselbstständige Stiftung unter dem Dach des Deutschen
        Historischen Museums gegründet wurde.
        Ich muss nicht alle die Streitigkeiten bei der Beset-
        zung der Gremien wiederholen – doch sind die rück-
        wärtsgewandten, populistischen Äußerungen, Maßnah-
        men und Wünsche aus den Reihen der CDU, die bis
        heute das große Projekt der Aussöhnung und Versöh-
        nung mit unseren östlichen Nachbarn immer wieder er-
        schweren, nicht nur mir in schlechter Erinnerung. Des-
        halb appelliere ich an CDU/CSU: Nehmen Sie den
        vorgelegten Bericht ernst und handeln Sie danach. Revi-
        sionismus ist nicht zukunftsweisend!
        Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Flucht und Ver-
        treibung sind traurige und tragische Kapitel der deut-
        schen und europäischen Geschichte. In Ost- und Mittel-
        europa wurden in den vergangenen 100 Jahren Millionen
        von Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben,
        darunter mindestens 12 Millionen Deutsche. Sie wurden
        so ihrer Heimat beraubt, deren Kulturerbe sie zum Teil
        über Jahrhunderte mitgestaltet hatten. Heute finden sich
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21309
        (A) (C)
        (D)(B)
        Orte wie die Marienburg im früheren Ostpreußen oder
        die Friedenskirchen in Niederschlesien auf der Liste der
        Weltkulturerbestätten. Dennoch bleiben sie auch Teil un-
        seres kulturellen Erbes, selbst wenn sie nicht mehr inner-
        halb der Grenzen Deutschlands liegen. Die Geschichte
        der Deutschen im östlichen Europa ist ein zentraler As-
        pekt unserer Erinnerungskultur.
        Das Leid der Vertriebenen und ihr kulturelles Erbe in
        Osteuropa darf und wird niemals vergessen werden. Es
        ist die Aufgabe von Gesellschaft und Politik, diesen Teil
        der deutschen und der europäischen Geschichte in all
        seinen Facetten aufzuarbeiten und für künftige Genera-
        tionen in Erinnerung zu halten. Vor allem die konkreten
        Schicksale sind ergreifend: Menschen, die pauschal Op-
        fer von Vertreibung wurden, haben einen Anspruch da-
        rauf, dass ihr Leben und Leid gewürdigt wird. Dabei ver-
        gessen wir nicht: Die Ursache des Vertreibungsunrechts
        liegt beim menschenfeindlichen NS-Regime. Ohne den
        Krieg Hitlers hätte es auch keine Vertreibungen von
        Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa gegeben.
        Indes beobachten wir heute, dass sich auch jüngere
        Generationen mit den deutschen Wurzeln in Osteuropa
        auseinandersetzen. Es existiert ein großes Interesse für
        diesen Teil der deutschen Geschichte, und zwar über die
        Zeitzeugengeneration und die Nachkommen der Vertrie-
        benen hinaus. Wir fördern diese erfreuliche Entwicklung
        durch unsere Maßnahmen im Rahmen des Bundesver-
        triebenengesetzes. Unser Engagement in dieser Frage
        spiegelt sich in harten Zahlen: Nach den massiven Kür-
        zungen durch die rot-grüne Bundesregierung hat
        Schwarz-Gelb die Förderung konsolidiert. Standen 2005
        noch 12 Millionen Euro jährlich zur Verfügung, sind es
        heute rund 17 Millionen Euro. Allein 2011 haben wir die
        Mittel um 5,3 Prozent erhöht.
        Wichtig ist dabei, dass die geförderte Kulturarbeit
        nicht allein zu einer Aufgabe von Forschern, Restaurato-
        ren und Museumsdirektoren wird. So bedeutend die Be-
        wahrung und wissenschaftliche Erforschung der Kultur
        der Vertriebenen ist, sie darf sich nicht auf die Museali-
        sierung des Vergangenen beschränken. Ein Schwerpunkt
        muss auch auf gegenseitigem Austausch, Vermittlungs-
        und Versöhnungsarbeit liegen. Längst ist heute ein Groß-
        teil der Vertreibungsgebiete Teil der Europäischen Union
        geworden. Staatliche Grenzen trennen uns nicht länger,
        sie verbinden. Dadurch ergeben sich großartige Mög-
        lichkeiten der Verständigung.
        Junge Deutsche fahren auf Bildungsreisen gen Osten,
        in die böhmischen Gebiete, nach Krakau, Danzig oder
        Tilsit. Hautnah lernen sie so die weitverzweigten Wur-
        zeln unserer Geschichte und Kultur kennen. Ganze
        Schulen kooperieren länderübergreifend, beispielsweise
        in Theaterprojekten. Nicht zuletzt kommen auch viele
        osteuropäische Studenten für einen Studienaufenthalt
        nach Deutschland. Über Stipendienprogramme und
        Sommerakademien bringen wir junge Menschen zusam-
        men. In vielen Fällen wird all dies aus Mitteln des Bun-
        desvertriebenengesetzes finanziert.
        Dadurch fördern wir auch den sich wandelnden Zeit-
        geist der jüngeren Generation in Osteuropa. Dort gibt es
        ein neues und frisches Interesse an der Geschichte und
        der engen Beziehung dieser Länder zu Deutschland.
        Viele junge Osteuropäer haben das Kulturerbe der einst
        dort lebenden Deutschen positiv angenommen, es ist ein
        Teil ihrer Lebenswelt geworden. Durch Dialog, gegen-
        seitige Neugier und Austausch mit den osteuropäischen
        Nachbarn entwickelt sich so ein neuer und versöhnender
        Umgang mit der gemeinsamen Geschichte.
        Über den Erinnerungs- und Versöhnungsaspekt hi-
        naus haben diese Aktivitäten im Rahmen des Bundesver-
        triebenengesetz weitere positive Effekte. Durch unsere
        Maßnahmen begeistern wir junge, qualifizierte Men-
        schen in Osteuropa für unsere Kultur und machen
        Deutschland attraktiv. Genau diese Menschen müssen
        wir erreichen, da wir durch demografischen Wandel und
        Fachkräftemangel zunehmend auf ausländische Hoch-
        qualifizierte angewiesen sind. Auch in der auswärtigen
        Kultur- und Bildungspolitik wollen wir uns aus diesem
        Grund noch stärker auf Osteuropa konzentrieren. Nach
        jahrelanger Vernachlässigung durch die Vorgängerregie-
        rungen investiert Schwarz-Gelb verstärkt an dieser
        Stelle.
        Selbstredend widmet sich aber nicht nur die neue Ge-
        neration dem deutschen Kulturerbe in Osteuropa. Sehr
        wichtig ist auch die verständigungspolitische Arbeit der
        Vertriebenen und ihrer Nachkommen. Wer könnte besser
        zum gegenseitigen Kennenlernen zwischen Deutschen
        und Polen, Tschechen oder Rumänen beitragen als die
        Vertriebenen? Der Bund der Vertriebenen leistet dafür
        einen entscheidenden Beitrag – ebenso wie zur Erinne-
        rung an Flucht und Vertreibung. Dafür gebühren ihm un-
        ser Dank und unsere Anerkennung. Von diesem Engage-
        ment profitieren nicht nur unser Zusammenleben im
        Alltag und der europäische Verständigungsprozess, son-
        dern davon lebt auch unsere Demokratie.
        Dem Bund der Vertriebenen geht es dabei nicht da-
        rum, zu verklären oder die deutsche Geschichte zu relati-
        vieren. Gerade die Partei Die Linke wirft dies immer
        wieder vor. Dabei sind sie selbst Weltmeister darin, Ge-
        schichte zu verdrehen. Die SED und ihre Nachfolgepar-
        tei verklärten nach der Wende die Geschichte des DDR-
        Unrechtsstaates. So etwas haben die Vertrieben nicht ge-
        tan.
        Nicht zuletzt ist und bleibt Vertreibung auch ein ak-
        tuelles Thema. Die Konflikte im ehemaligen Jugosla-
        wien Ende der 90er-Jahre oder in der sudanesischen Re-
        gion Darfur sind nur zwei Beispiele dafür. Deswegen ist
        es wichtig, Flucht und Vertreibung nicht nur zu erinnern,
        sondern auch offen zu thematisieren und urteilsfähig zu
        bleiben. Dazu gehört es auch, die Schrecken der Vertrei-
        bung und das Schicksal der Millionen Flüchtlinge ein-
        dringlich zu schildern, um sie der breiten Öffentlichkeit
        erfahrbar zu machen. Gerade die Aktivitäten der Stiftung
        Flucht, Vertreibung, Versöhnung leisten an dieser Stelle
        Wertvolles. Es ist ein Hauptanliegen der Stiftung, Ver-
        treibungen als politisches Instrument und Menschen-
        rechtsverletzung zu jeder Zeit und an jedem Ort zu äch-
        ten. Gerade die Deutschen tragen als Täter und Opfer
        von Vertreibungen besondere Verantwortung. Wir müs-
        21310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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        sen das Bewusstsein, dass Vertreibung unrecht ist, bei
        jungen Menschen aufrechterhalten. Deutschland ist da-
        für auf einem guten Weg.
        Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Im Ein-
        gangstext des Berichts der Bundesregierung über die
        Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit nach § 96
        des Bundesvertriebenengesetzes für 2009 und 2010 heißt
        es: „Jede Generation entwickelt ihre eigenen Sichtwei-
        sen auf die Geschichte und stellt deshalb jeweils neue
        Fragen an die Vergangenheit.“ Wohl wahr. Aber wird
        diesem Grundsatz auch die gegenwärtige Kulturarbeit
        Deutschlands im östlichen Europa gerecht? Mir scheint,
        das ist nicht der Fall – trotz vieler Beschwörungen des
        „Miteinanders verschiedener Kulturen“, der „verbinden-
        den Funktion“ eines gemeinsamen kulturellen Erbes und
        seinen Möglichkeiten, als „Brücke“ zwischen den Völ-
        kern zu dienen. Diesen schön klingenden Beschwörungen
        zum Trotz beschreibt der Bericht eine Kulturförderung
        immer noch im Geist der deutschen Vertriebenenorgani-
        sationen.
        So heißt es im Kapitel 2 „Struktur der Bundesförde-
        rung“: „Gemäß § 96 BVFG haben Bund und Länder das
        Kulturgut der historischen deutschen Ost- und Sied-
        lungsgebiete im Bewusstsein der Vertriebenen und
        Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des
        Auslandes zu erhalten.“ Welche Rangfolge wird hier
        nach wie vor festgeschrieben? Müsste es nicht ganz und
        gar umgekehrt heißen: erstens im Bewusstsein des ge-
        samten deutschen Volkes, zweitens des Auslandes und
        drittens der Vertriebenen und Flüchtlinge? Das gilt ge-
        rade dann, wenn man die europäische Dimension dieser
        Kulturförderung in den Mittelpunkt stellen will und die
        kulturelle Vielfalt.
        Mit Verlaub: Es geht um eine Aufgabe des Bundes
        und der Länder, also des gesamten deutschen Volkes,
        ausgerichtet auf das östliche Europa, also das Ausland.
        Diese beiden übergreifenden Kriterien müssen heutzu-
        tage Grundlage der Förderung der Kulturarbeit sein –
        und nicht an erster Stelle und damit vorrangig das „Be-
        wusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge“.
        Aber sowohl strukturell als auch praktisch geht es um
        Förderung der Vertriebenenverbände und ihre Sicht auf
        Geschichte und Kultur. Da heißt es im Bericht über die
        seit 2009 festangestellten Kulturreferentinnen und Kul-
        turreferenten, die in den Museen Ulm, Lüneburg, Gun-
        delsheim, Münster, Greifswald und Görlitz arbeiten:
        „Mit einem eigenen Förderetat unterstützen sie geeig-
        nete Projekte Dritter insbesondere aus dem Vertriebe-
        nenbereich.“ Und hier ist nicht von ein paar Tausend
        Euro die Rede: 2009 und 2010 stellte der Bund für die
        Arbeit der Kulturreferenten 847 000 bzw. 824 000 Euro
        zur Verfügung. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass die
        Kulturreferenten mit rund 447 000 Euro zusätzlich zu ei-
        genen Vorhaben insgesamt 196 externe Projekte förder-
        ten. Davon entfielen 144 Projektzuwendungen auf die
        Landsmannschaften und andere Organisationen der
        deutschen Heimatvertriebenen.
        So geht das praktisch mit den Vertriebenenprojekten
        immer weiter. Weswegen ja ein ganzes Kapitel des Be-
        richts überschrieben ist: „Erinnerung an Flucht und Ver-
        treibung wachhalten“. – Und da ist nach wie vor kein
        Wort über die millionenfache Vertreibung der Juden,
        Osteuropäer und Sinti und Roma, sondern es geht vor-
        rangig um die Deutschen.
        Wobei wir auf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
        söhnung“ hingewiesen werden als „zukunftsweisenden
        Beitrag“ dafür, dass Vertreibungen als Mittel der Politik
        nachhaltig geächtet werden“. Dafür wollen wir uns ganz
        und gar einsetzen – in der Tat! Allerdings muss, wer dies
        wirklich will, als erstes den Krieg ächten; denn er war
        und ist der Auslöser des Vertreibungselends, überall auf
        der Welt.
        Über die Arbeit der Stiftung erfahren wir wenig in
        diesem Bericht – außer dass sie sich auf einem guten
        Weg befindet. Dabei ist noch immer alles beim Alten:
        Arnold Tölg und Hartmut Saenger sind nach wie vor für
        den Bund der Vertriebenen als stellvertretende Mitglie-
        der im Stiftungsrat. Der Zentralrat der Juden lässt des-
        wegen bis heute seine Mitgliedschaft im Stiftungsrat ru-
        hen. Im Beirat ist immer noch kein Mitglied der Sinti
        und Roma vertreten. Von all dem und den öffentlichen
        Auseinandersetzungen hierüber findet sich kein Wort im
        Bericht.
        Wie wäre es endlich mit der Gründung und Finanzie-
        rung von multinationalen Stiftungen zur Förderung von
        Kultur und Wissenschaft in multiethnischen Regionen
        Europas? Wir haben dies schon 2007 in unserem Son-
        dervotum zum Enquete-Bericht „Kultur in Deutschland“
        gefordert. Mit 16 Millionen Euro Förderung nach § 96
        BVFG ließe sich bestimmt viel ermöglichen – kulturelle
        Förderung des gegenwärtigen Miteinanders in Verant-
        wortung vor der Geschichte. Vielleicht finden wir einen
        solchen Posten unter den Aktiva des nächsten Regie-
        rungsberichts.
        Grundsätzlich ist zu fragen, ob eine Kulturförderung
        nach dem § 96 des Bundesvertriebenengesetzes noch
        zeitgemäß ist. Zum Zeitpunkt des Entstehens des Bun-
        desvertriebenengesetzes im Jahr 1953 ging es um die In-
        tegration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebe-
        nen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.
        Heute aber geht es darum, das kulturelle Erbe der
        deutschsprachigen Flüchtlinge und Vertriebenen als Teil
        der europäischen kulturellen Vielfalt auch für spätere
        Generationen zu bewahren. Hier ist es an der Zeit für ei-
        nen Perspektivenwechsel. Es ist auch an der Zeit, die
        bisher gesondert geförderten Einrichtungen nach und
        nach in vorhandene Institutionen und damit in die „nor-
        male“ Kulturförderung zu integrieren.
        Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der Bericht der Bundesregierung ist am zentralen
        Punkt ein Dokument des Schönredens und Verdrängens.
        Er verdrängt eine der schärfsten kulturpolitischen Kon-
        troversen, die es in den letzten Jahren im Bundestag
        – und auch darüber hinaus – gegeben hat, eine Kontro-
        verse, die im Zeitraum 2009 und 2010, über den die
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21311
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        Bundesregierung berichtet, hohe Wellen schlug und die
        weiter für Unruhe sorgt und längst nicht abgeschlossen
        ist, nämlich die Kontroverse um die Stiftung „Flucht,
        Vertreibung, Versöhnung“. Zwar erwähnt der Bericht
        den Zweck der Stiftung, nämlich „im Geiste der Versöh-
        nung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und
        Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext
        des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen
        Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen
        wachzuhalten“, aber mit keinem Wort geht er darauf ein,
        wie diesem Zweck Hohn gesprochen worden ist.
        Die Gesetzesnovelle von 2010, die den Stiftungsrat
        aufblähte, wird damit gerechtfertigt, dass die Stiftung so
        der „Komplexität der Aufgabenstellung“ besser gerecht
        werden sollte. Aber jeder weiß doch, dass es um einen
        faulen Deal der Bundesregierung mit Spitzenfunktionä-
        ren und ganz persönlich mit der Präsidentin des Bundes
        der Vertriebenen, Frau Steinbach, ging. Für einen Ver-
        zicht von Frau Steinbach auf einen Stiftungsratssitz bot
        man dem Bund der Vertriebenen drei zusätzliche Sitze
        an. Das war der Kern des Deals, der mit der Gesetzes-
        novelle besiegelt wurde. Die Zeitungen im Berichtszeit-
        raum sind voll vom Streit um diesen Vorgang, den Kanz-
        lerin Merkel monatelang schwelen ließ und der die
        Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern be-
        lastete. Kein Wort darüber im Bericht der Bundesregie-
        rung, auch darüber nicht, dass mit der Gesetzesnovelle
        eine Art Blockwahlsystem für die Stiftungsratssitze ein-
        geführt wurde, das dem Bundestag keine wirkliche Aus-
        wahlmöglichkeit gibt.
        Wir haben dieses Auswahlverfahren scharf kritisiert.
        Und unsere Befürchtungen waren nur zu berechtigt.
        Denn mit Arnold Tölg und Hartmut Saenger gelangten
        Vertriebenenfunktionäre in den Stiftungsrat, die sich ge-
        gen die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter
        des NS-Regimes ausgesprochen bzw. Polen die Verant-
        wortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu-
        geschoben hatten. Der ebenfalls in den Stiftungsrat ge-
        wählte Vertriebenenfunktionär Stephan Grigat hatte eine
        Reise durch Ostpreußen als „Reise in ein besetztes
        Land“ bezeichnet. Das sind Äußerungen und Positionen,
        die dem Versöhnungszweck der Stiftung diametral ent-
        gegenlaufen. Dennoch sind die drei Vertreter weiter im
        Amt.
        Aufgrund der problematischen Vorgänge rund um die
        Stiftung verließen namhafte Wissenschaftler aus unseren
        östlichen Nachbarländern den wissenschaftlichen Beirat
        der Stiftung. Der Zentralrat der Juden lässt seine Mit-
        gliedschaft im Stiftungsrat seit September 2010 ruhen,
        und die Sinti und Roma sind dort nach wie vor nicht ver-
        treten. Auch darüber wird von der Bundesregierung
        nicht berichtet, genauso wenig wie über die Forderungen
        aus verschiedenen Fraktionen, die Bundesmittel für die
        Stiftung zu streichen und einen kompletten Neustart der
        Stiftung anzugehen, der dringend nötig ist, um den Stif-
        tungszweck der Versöhnung zu erfüllen.
        Ein Bericht, der es schafft, Vorgänge von einer sol-
        chen Tragweite schlicht auszusparen, ist mehr als man-
        gelhaft. Er zeugt davon, dass die Bundesregierung vor
        ihrer politischen Verantwortung davonläuft und sich ihr
        nicht stellt.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Für eine grundle-
        gende Reform der Pflegeversicherung – Nutzer-
        orientiert, solidarisch, zukunftsfest (Tagesord-
        nungspunkt 16)
        Willi Zylajew (CDU/CSU): Vor zwei Wochen, ge-
        nauer gesagt am 26. April, fand die erste Lesung des
        Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes statt. Die Debatte, ins-
        besondere die Redebeiträge des Ministers und der Mit-
        glieder der christlich-liberalen Koalition haben gezeigt,
        wohin die Reise geht.
        Wir werden das Spektrum an Leistungen für die pfle-
        gebedürftigen Menschen und deren Angehörige in unse-
        rem Land deutlich ausweiten, insbesondere demenziell
        erkrankte Frauen und Männer werden eine deutliche
        Besserstellung ihrer Situation erfahren. Wir werden da-
        für sorgen, dass Menschen so lange wie möglich in ih-
        rem häuslichen Umfeld bleiben können. Wir stärken die
        pflegenden Angehörigen, zum Beispiel durch eine bes-
        sere rentenrechtliche Absicherung der Pflegeleistung.
        Des Weiteren verbessern wir die ärztliche Versorgung
        von pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrich-
        tungen. Kurzum, das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist
        eine zuverlässige Weiterentwicklung der Blüm’schen
        Pflegeversicherung und gibt die richtigen Antworten auf
        die Herausforderungen der demografischen Entwick-
        lung.
        Um die Leistungen nachhaltig zu finanzieren, erhö-
        hen wir den Beitragssatz um 0,1 Prozent. Damit bleiben
        die Sozialabgaben unter 40 Prozent. Das ist derzeitig
        verkraftbar, schont den Geldbeutel der Arbeitnehmerin-
        nen und Arbeitnehmer und sichert Arbeitsplätze. Aber
        vor allem sorgen wir für eine verlässliche Finanzierung
        der Leistungen.
        Nun zum Antrag der Grünen. Er stellt eine grundle-
        gende Reform der Pflegeversicherung in Aussicht, die
        nutzerorientiert, solidarisch und zukunftsfest sein soll.
        Die inhaltliche Richtung ist einerseits begrüßenswert,
        andererseits ist es doch etwas verwunderlich, woher auf
        einmal der Tatendrang kommt. Es wäre besser gewesen,
        in der Zeit von 1998 bis 2005, also als die Grünen in der
        Regierungsverantwortung waren, die Energien in die Er-
        arbeitung von konkreten Gesetzen zu lenken. Aber was
        ist damals passiert? Nichts, kein Gesetz, keine Initiativen
        zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Jetzt
        liegt zwar ein Antrag mit einer bedenkenswerten Leis-
        tungserweiterung vor. Doch bei genauer Befassung er-
        weisen sich viele Forderungen des Antrages als un-
        konkret, überholt und gehen an den tatsächlichen
        Gegebenheiten vorbei.
        So wird beispielsweise die Weiterentwicklung des
        Pflegebedürftigkeitsbegriffes gefordert. Es ist bekannt,
        dass wir ebenfalls eine Weiterentwicklung wollen. Der
        21312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
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        frühere Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeits-
        begriffes hat bereits wichtige Vorarbeiten geleistet. Fakt
        ist aber auch, dass eine Umsetzung der Vorschläge der-
        zeit nicht möglich ist, da noch zahlreiche Fachfragen
        detailliert zu klären sind. Fragen Sie den Kollegen
        Wolfgang Zöller, wie intensiv zurzeit im Fachgremium
        beraten wird – detailgetreu, lösungsorientiert, aber auch
        kontrovers aus Sicht der verschiedenen Experten.
        Es darf nicht unser Anspruch sein, Dinge einfach um-
        zusetzen. Unser Anspruch muss sein, sie richtig umzu-
        setzen. Daher ist es ein Gebot der Vernunft, die offenen
        Fragen in aller Sachlichkeit und Ruhe zu klären, damit
        ein neuer Pflegebegriff auch in der Praxis Bestand haben
        kann.
        Und auch wenn es bis zur Umsetzung noch einige
        Zeit dauern wird, lassen wir die Menschen in der Zwi-
        schenzeit nicht alleine. Bis ein konkreter Zeitplan fest-
        steht, sieht das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz höhere
        Leistungen für Menschen mit demenziellen Erkrankun-
        gen ab Januar 2013 vor. Denn es ist klar, dass diese Men-
        schen, die unbestreitbar einen höheren Betreuungsauf-
        wand haben, unsere besondere Unterstützung brauchen.
        Insbesondere in der Pflegestufe 0, aber auch in den Pfle-
        gestufen I und II wird es zusätzliche Leistungen geben.
        Für die Demenzkranken, aber auch für deren Angehö-
        rige, bedeutet dies eine spürbare Verbesserung. Sie kön-
        nen so eine bessere Betreuung sicherstellen und sich
        ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, auch mal ein
        paar Stunden Zeit nur für sich nehmen. Die Betreuung
        von Demenzkranken ist eine Herausforderung, die phy-
        sisch und psychisch an den Kräften zerrt. Jeder, der
        schon einmal in solch einer Situation war, weiß, wie
        wertvoll auch nur kleine Auszeiten sind.
        Der Antrag der Grünen fordert weiterhin bessere
        Wohn- und Versorgungsangebote im Sinne des Grund-
        satzes „ambulant vor stationär“ als auch zielgerichtete
        Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Angehöriger.
        Auch in diesen Bereichen sieht das Pflege-Neuausrich-
        tungs-Gesetz zahlreiche Verbesserungen vor. Mit der
        Stärkung neuer Wohnformen greifen wir ein Anliegen
        von vielen älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf,
        die möglichst lange selbstbestimmt in den eigenen vier
        Wänden wohnen bleiben wollen. Wir untermauern die-
        sen Wunsch mit drei konkreten Ansätzen. Erstens stär-
        ken wir den gezielten Einsatz von Einzelpflegekräften,
        die für die Organisation und Sicherstellung der Pflege
        sorgen. Zweitens wollen wir einen Zuschlag gewähren
        für die Organisation von Wohngruppen. Und drittens
        werden wir ein zeitlich befristetes Initiativprogramm
        auflegen, mit dem zum Beispiel erforderliche altersge-
        rechte oder barrierearme Umbaumaßnahmen gefördert
        werden können.
        Pflegende Angehörige sind besonderen Belastungen
        ausgesetzt. Deshalb sind Rehabilitation und Vorsorge be-
        sonders wichtig. Im Rahmen der bestehenden Regeln
        unterstreichen wir den Anspruch pflegender Angehöri-
        ger auf Vorsorge und Rehamaßnahmen. Hervorzuheben
        ist, dass wir es pflegenden Angehörigen künftig ermögli-
        chen, Rehamaßnahmen in solchen Einrichtungen in An-
        spruch zu nehmen, die zugleich auch die Pflege und Be-
        treuung des zu Pflegenden gewährleisten. Denn genau
        die Abwesenheit und das Unwissen, wie es dem Pflege-
        bedürftigen geht während man sich in einer mehrwöchi-
        gen Behandlung weg von zu Hause befindet, sind oft-
        mals Gründe, die pflegende Angehörige davon abhalten,
        eine Rehamaßnahme in Anspruch zu nehmen. Mit der
        hälftigen Weiterzahlung des Pflegegeldes bei Leistungen
        der Verhinderungs- oder Kurzzeitpflege schaffen wir
        Anreize, dass sich pflegende Angehörige auch einmal
        Urlaub nehmen, ohne finanzielle Einbußen zu haben.
        Eine weitere große Errungenschaft im Pflege-Neu-
        ausrichtungs-Gesetz ist die bessere rentenrechtliche Be-
        rücksichtigung bei der Pflege mehrerer Pflegebedürfti-
        ger. Sie wissen, Rentenversicherungsbeiträge werden
        derzeit nur dann entrichtet, wenn der jeweilige Pfle-
        gende mindestens 14 Stunden in der Woche pflegerische
        Tätigkeit leistet. Sind es auch nur 30 Minuten weniger,
        erhält man bislang keine Verbesserung seiner Alterssi-
        cherung. Nunmehr ist es möglich, den zeitlichen Auf-
        wand, den man für die Pflege benötigt, zusammenzu-
        rechnen und somit bei der Rente berücksichtigen zu
        lassen.
        Diese Maßnahmen sind große Zeichen der Wertschät-
        zung für die Arbeit der pflegenden Angehörigen. Wir
        sorgen für echte Verbesserungen, die bei den Menschen
        ankommen und die sie im Alltag spüren.
        Eine Frage hat sich mir beim Lesen des Antrags der
        Grünen immer wieder gestellt: Warum auf einmal dieser
        große Tatendrang? Es hat den Anschein, als seien die
        Grünen nur in der Opposition fähig, sich ernsthaft mit
        dem Thema Pflege zu befassen. Ich muss mich leider
        wiederholen: Während der Regierungszeit von Rot-Grün
        ist in diesem Bereich nichts, aber auch gar nichts pas-
        siert. Die CDU hingegen ist ein verlässlicher Partner für
        die pflegebedürftigen Frauen und Männer in unserem
        Land. Wir haben unter Norbert Blüm die Pflegeversiche-
        rung eingeführt, wir haben sie mit dem Pflege-Weiter-
        entwicklungsgesetz 2008 entscheidend vorangetrieben.
        Ich denke hier insbesondere an die Einführung von Be-
        treuungskräften für demenziell Erkrankte in stationären
        Pflegeeinrichtungen und die Erhöhung der Betreuungs-
        zuschläge für Demenzkranke in ambulanter Betreuung.
        Und auch in dieser Legislaturperiode sorgen wir für eine
        verlässliche Weiterentwicklung der Strukturen.
        Die Grünen hingegen produzieren wohlklingende
        Worthülsen, aber sobald sie in der Verantwortung sind,
        platzen diese wie Seifenblasen. Ein weiterer Beleg für
        diese Strategie ist übrigens auch das Handeln der Grünen
        in den Bundesländern. Da, wo Grüne in den Landesre-
        gierungen sind, ist das Thema Pflege für sie kein Thema
        von besonderer Bedeutung. An den Taten kann man je-
        denfalls nichts Bemerkenswertes erkennen.
        Noch ein paar Anmerkungen zum Thema Bürgerver-
        sicherung. Trotz des verlässlichen Engagements der Kol-
        legin Scharfenberg, die sich seit Jahren mit ihrem Sach-
        verstand in die Beratungen einbringt und auch aus der
        Opposition heraus wichtige Denkanstöße liefert, ist in
        Sachen Bürgerversicherung leider kein Umdenken zu
        bemerken. Fakt ist: Die Finanzierung der Pflegeversi-
        cherung auf ein Bürgerversicherungsmodell umzustel-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21313
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        len, führt nicht zu einer Entlastung. Kurzfristig träumen
        die Grünen von mehr Beitragszahlern und mehr Geld.
        Demgegenüber stehen aber auch mehr Leistungsempfän-
        ger. Langfristig wäre also bei einer Bürgerversicherung
        nichts gewonnen.
        Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Antrag
        der Grünen keine nachhaltige Grundlage für eine nähere
        Befassung bietet. Die christlich-liberale Koalition hinge-
        gen hat mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ein
        vielfältiges Maßnahmenpaket erarbeitet, mit dem die
        Herausforderungen, die sich uns in den nächsten Jahren
        und Jahrzehnten stellen werden, angegangen werden
        können. Darauf können sich die Menschen, aber auch
        die Leistungserbringer und die Mitarbeiterinnen und
        Mitarbeiter bei ihrer guten und wichtigen Arbeit verlas-
        sen.
        Wir sorgen dafür, dass die pflegebedürftigen Men-
        schen ein Leben in Würde führen können, dass den be-
        sonderen Bedürfnissen an Demenz erkrankter Menschen
        besser entsprochen wird und dass pflegende Angehörige
        und Familien besser unterstützt werden.
        Hilde Mattheis (SPD): Im vorliegenden Antrag der
        Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Für eine grundlegende
        Reform der Pflegeversicherung – Nutzerorientiert, solida-
        risch, zukunftsfest“ werden richtige Aspekte angespro-
        chen, jedoch detaillierte Ausführungen nicht geleistet.
        Vieles bleibt offen, und viele Punkte für ein Gesamtkon-
        zept fehlen. In vielen Punkten stimmen wir – die SPD –
        mit Ihnen überein. Alle acht von Ihnen eingebrachten
        Punkte sind richtig. Was fehlt – und das betone ich noch
        einmal – ist eine inhaltliche Ausformulierung der einzel-
        nen Forderungen. Ein Antrag mit acht knappen Punkten
        auf nur zwei Seiten kann kein ganzheitliches Konzept
        zur Reform der Pflegeversicherung sein.
        Uns eint als Opposition die Kritik am sogenannten
        Pflege-Neuausrichtungsgesetz der Regierung. Wir sind
        uns einig, dass der vorliegende Gesetzentwurf der Re-
        gierung die drängenden Probleme in der Pflege nicht
        löst. Wir alle wollen die Umsetzung des neuen Pflegebe-
        dürftigkeitsbegriffs. Da stehen wir mit der gesamten
        Fachwelt auf einer Seite. Der aktuelle, zu stark soma-
        tisch ausgerichtete Pflegebedürftigkeitsbegriff wird ins-
        besondere den Bedürfnissen von Menschen mit einge-
        schränkter Alltagskompetenz nicht ausreichend gerecht.
        Mit der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und
        dem damit verbundenen neuen Begutachtungsverfahren
        wollen wir weg von der „Minutenpflege“ und hin zu
        Teilhabe und Selbstbestimmung. Die Berichte des Bei-
        rats liegen seit mehreren Jahren vor. Einer politischen
        Umsetzung stünde nichts im Wege.
        Im hier vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die
        Grünen wird in Punkt 3 die Problematik der Schnittstel-
        len zwischen SGB XI, SGB IX und SGB XII aufgegrif-
        fen. Auch ich sehe diese Problematik. Es ist allerdings
        nicht detailliert ausgeführt, wie sie gelöst werden soll.
        Darüber müssen wir sprechen und zusammen mit den
        Ländern eine Lösung suchen. Auch die Stärkung der
        Pflegeberatung, die in Punkt vier aufgeführt ist, kann ich
        nur unterstützen. Auch dieser Punkt ist jedoch im Antrag
        nicht ausreichend ausgeführt.
        Wir haben damals im Pflege-Weiterentwicklungs-
        gesetz die Pflegestützpunkte verankert und damit eine
        wohnortnahe Beratung und Versorgung Hilfsbedürftiger
        „aus einer Hand“ gewährleistet. Diese Angebotsstruktu-
        ren sind für die Entlastung, Betreuung und Versorgung
        von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen extrem
        wichtig und müssen ausgebaut werden. Notwendig ist
        eine niedrigschwellige Beratung, die auch aufsuchend
        ist.
        Wir brauchen eine Pflege-Infrastruktur, die einen
        möglichst langen Verbleib in der eigenen Häuslichkeit
        ermöglicht. Eine Pflege der Zukunft bedeutet Pflege im
        Quartier und in der Kommune. Die Begleitung und Un-
        terstützung der pflegebedürftigen Menschen und deren
        Angehörigen braucht eine umfassende, sozialräumliche
        und integrierte Sozialplanung, die nur auf örtlicher
        Ebene erfüllt werden kann. In den Kommunen müssen
        die Alltagsinfrastruktur, die Unterstützungsinfrastruktur
        vor und bei Pflegebedürftigkeit und die Infrastruktur zur
        Stärkung der Selbsthilfepotenziale ausgebaut werden.
        Was darüber hinaus im Antrag der Fraktion Bündnis 90/
        Die Grünen fehlt, ist ein Finanzierungskonzept. Der Ver-
        weis auf eine Bürgerversicherung ist hier nicht ausrei-
        chend.
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
        nis 90/Die Grünen, in den Grundsätzen sind wir uns ei-
        nig. Als SPD gehen wir in unserem Positionspapier, das
        auch noch als Antrag von uns eingebracht wird, detail-
        lierter auf die Anforderungen einer umfassenden Pflege-
        reform ein. Wir bieten ein Gesamtkonzept: Wir wollen
        die Situation Pflegebedürftiger durch die Einführung des
        neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs verbessern, wir wol-
        len Pflegepersonen durch eine bessere Vereinbarkeit von
        Pflege und Beruf entlasten, wir wollen eine Aufwertung
        des Pflegeberufs unter anderem durch die Reform der
        Ausbildung, wir wollen eine Stärkung der Rehabilitation
        und Prävention, und wir wollen die Kommunen beim
        Aufbau der Pflegeinfrastruktur unterstützen. Dies alles
        wollen wir mit einer solidarischen Bürgerversicherung
        finanzieren. Uns allen muss klar sein: Gute Pflege muss
        uns etwas wert sein.
        Ich freue mich auf den gemeinsamen Austausch mit
        Ihnen und bin sicher, dass wir gemeinsam ein gutes Kon-
        zept hinbekommen.
        Mechthild Rawert (SPD): Pflege ist und bleibt das
        große gesellschaftliche Thema, an dem sich entscheidet,
        wie solidarisch wir miteinander leben, wie würdevolles
        Altern ohne Angst davor, pflegebedürftig zu werden, für
        alle Bevölkerungsgruppen und nicht nur für die Besser-
        verdienen möglich ist. Wir brauchen dazu auch eine
        nachhaltige, eine solidarische Finanzierung, wir brau-
        chen die solidarische Bürgerversicherung.
        Pflege geht uns alle an. Das von Bundesgesundheits-
        minister Daniel Bahr am 26. April 2012 eingebrachte
        Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz reicht bei weitem nicht
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        aus. Es richtet nichts neu aus, sondern ist ein Spiel auf
        Zeit.
        Sie können es vielleicht nicht mehr hören; richtig
        bleibt das Argument trotzdem: Für die Einbringung ei-
        nes Gesetzes zur Mehrwertsteuererleichterung für Hote-
        liers hat die CDU/CSU/FDP-Regierung im Jahr 2009
        ganze 12 Tage gebraucht. Für die Vorlage eines Gesetzes
        für die Pflege hat Schwarz-Gelb dagegen mit Heulen
        und Zähneklappern, mit gegenseitigen Beschimpfungen
        sage und schreibe fast drei Jahre gebraucht.
        Wir alle wissen es: Ein neuer Pflegebedürftigkeitsbe-
        griff ist nötig. Dieser scheitert daran, dass sich CDU/
        CSU und FDP nicht auf eine adäquate Finanzierung eini-
        gen können, sondern mutlos vor sich hin dilettieren, und
        das, obwohl die sehr guten Vorarbeiten des Pflegebeirats
        schon zum Anfang ihrer Regierungszeit 2009 vorlagen.
        Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich zum Thema
        Pflegereform schon klar positioniert und begrüßt deshalb
        prinzipiell die Intention des hier heute in erster Lesung
        eingeführten Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
        nen.
        In der in der nächsten Sitzungswoche stattfindenden
        Anhörung zum Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz der Bun-
        desregierung wird sich zeigen, dass die Lösung der Pro-
        bleme in der Pflege mit den Vorstellungen der Bundesre-
        gierung nicht gelingen kann. Um eine würdevolle Pflege
        in selbstgewählter, in häuslicher Umgebung in Zukunft
        gewährleisten zu können, sind vielmehr grundlegende
        Weichenstellungen nötig. Einige davon hat meine Kolle-
        gin Hilde Mattheis in ihrer Rede bereits benannt.
        Ich möchte noch zwei Punkte hinzufügen.
        Erstens. Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege stär-
        ken: Wir müssen endlich der sogenannten Sandwich-Ge-
        neration wirksam unter die Arme greifen. Wir wollen
        den Frauen und Männern, die voll im Beruf stehen, für
        die Ausbildung der Kinder sorgen und gleichzeitig die
        Pflege ihrer Eltern managen, wirksame und den Alltag
        auch lebbar machende Rechte geben. Wir wissen, dass
        sich viele dieser Mittvierziger, Mittfünfziger wegen un-
        zureichenden Regelungen zur Vereinbarkeit von familiä-
        rer Situation und Beruf häufig alleingelassen fühlen. Im-
        mer mehr fühlen sich von den Belastungen ausgezehrt.
        Die SPD möchte hier ansetzen: Wir wollen Angehöri-
        gen Hilfen bei plötzlich eintretender Pflegebedürftigkeit
        an die Hand geben. Dazu sollen Angehörige analog zum
        Kinderkrankengeld bei plötzlich eintretender Pflegebe-
        dürftigkeit einen Rechtsanspruch auf Lohnersatzleistung
        erhalten. Mit diesem Rechtsanspruch auf Lohnersatzleis-
        tung unterstützt, sollen sie die bis zu zehn Tage beste-
        hende Freistellungsmöglichkeit nach dem Pflegezeitge-
        setz für privates Pflegemanagement beanspruchen
        können.
        Das Familienpflegezeitgesetz der Regierung Merkel
        verbessert die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf nicht
        nachhaltig. Es gibt keinen gesetzlichen Anspruch auf
        eine Familienpflegezeit, keinen Kündigungsschutz, noch
        wird der Anspruch auf alle Betriebe unabhängig von ei-
        ner bestimmten Arbeitnehmerzahl ausgeweitet.
        Wir wollen das Pflegezeitgesetz, das den Anspruch
        auf eine sechsmonatige Freistellung beinhaltet, weiter-
        entwickeln. Dazu wollen wir das Modell eines flexibel
        handhabbaren Zeitbudgets für Angehörige von pflegebe-
        dürftigen Menschen einführen. Unser Ziel ist dabei, dass
        mehr Frauen und Männer sich die Verantwortung für
        Sorgearbeit gleichberechtigt aufteilen.
        Zweitens. Maßnahmen gegen den Personalmangel in
        der Pflege: Neben besseren Arbeitsbedingungen und ne-
        ben einer besseren Vergütung gehört für mich in erster
        Linie auch die Reform der Ausbildungen in der Pflege
        zu den wichtigsten Maßnahmen. Nur mit einer verbes-
        serten bundeseinheitlichen Ausbildung werden wir mehr
        junge Menschen in dieses Berufsfeld bekommen und
        langfristig dort auch halten. Pflege ist ein zukunftsorien-
        tiertes Berufsfeld, die Ausbildungsstrukturen sind daher
        zu modernisieren.
        Wir wollen als SPD-Bundestagsfraktion daher: Im In-
        teresse der jungen Menschen und der überall hohen An-
        forderungen im Berufsfeld Pflege soll nur noch ein Be-
        rufsabschluss am Ende der gemeinsamen Ausbildung
        stehen. Wir wollen eine generalistische Ausbildung von
        Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege mit einer da-
        ran anschließenden weiterführenden Spezialisierung.
        Die Ausbildung in der Alten-, Kranken- und Kinder-
        krankenpflege muss künftig gebührenfrei sein. Das von
        Auszubildenden selbst zu tragende Schulgeld muss ab-
        geschafft werden.
        Nicht ausbildende Einrichtungen sind künftig an der
        Finanzierung der Ausbildung und Ausbildungsvergü-
        tung über einen Fonds zu beteiligen. Einen Wettbe-
        werbsvorteil von nicht ausbildenden Unternehmen ge-
        genüber Ausbildungsbetrieben darf es auch angesichts
        der notwendigen Fachkräftesicherung im gesamten Be-
        reich nicht geben.
        Da Umschulungsmaßnahmen in der Pflege immer
        wichtiger werden, ist zur Förderung des dritten Ausbil-
        dungsjahres für die berufliche Weiterbildung in der Al-
        ten- und Krankenpflege mit den Bundesländern eine
        nachhaltige Grundlage für die Finanzierung zu erarbei-
        ten. Die Förderung durch die Bundesagentur soll nach
        unserem Willen bis 2013 verlängert werden.
        Die Bildungslandschaft Pflege muss grundlegend re-
        formiert werden. Wir wollen horizontale und vertikale
        Durchlässigkeit, wollen „Kein Abschluss ohne An-
        schluss“. Berufserfahrenen Pflegehilfskräften mit Eig-
        nung zur Pflegefachkraft müssen Bildungswege zur
        Weiterqualifizierung eröffnet werden, auch sie sollen
        Aufstiegsmöglichkeiten garantiert bekommen.
        Die Richtlinie zur Heilkundeübertragung muss von
        den gesetzlichen Krankenkassen und Leistungserbrin-
        gern schnell in die Praxis umgesetzt werden. Pflegefach-
        kräfte müssen Weiterbildungsmöglichkeiten zur Aus-
        übung der in der Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten
        erhalten.
        Und wir wollen weiterhin: Es muss in der Pflegebran-
        che leistungsgerechter bezahlt werden. Die Lohnunter-
        schiede in Ost und West müssen beendet werden. Die
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        Tarifpartner sind aufgefordert, hier einen flächendecken-
        den Tarifvertrag für eine bessere Bezahlung umzusetzen.
        Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Ich halte
        diese Bundesregierung für sehr schwach bei der Moder-
        nisierung der Pflege, und dabei brennt es uns allen unter
        den Nägeln.
        Mir macht aber Mut, dass es die vielen guten Bei-
        spiele aus der Pflege gibt, die zeigen, dass unser Pflege-
        nachwuchs willens ist, die Anforderungen der Pflege in
        der Zukunft zu meistern.
        Ansporn sind mir die vielen Menschen in der Pflege
        selbst, die sich mit viel Kompetenz und Engagement für
        die Pflegebedürftigen – und wir alle können von einem
        Moment zum anderen dazugehören – einsetzen.
        Ich danke deshalb allen Engagierten in der Pflege, in
        der Pflegeausbildung für ihr tagtägliches Engagement,
        für ihre Vorbildfunktion. Unsere Gesellschaft des länge-
        ren Lebens braucht Sie alle als „Mutmacher“ und „An-
        packer“.
        Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Der vorlie-
        gende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigt
        eine Reihe von Notwendigkeiten auf, die die christlich-
        liberale Koalition mit dem Pflege-Neuausrichtungs-
        Gesetz bereits angegangen hat. Es ist sehr erfreulich,
        dass es offenbar einen Konsens darüber gibt, dass die
        Pflegebedürftigkeit insbesondere im Hinblick auf De-
        menzerkrankungen neu definiert werden muss. Bei der
        Fragestellung sind wir uns also im Grunde einig, doch
        bei den Antworten kommen wir nicht auf einen Nenner.
        Während Sie immer nur fordern und sich in überbor-
        dender Lyrik ergehen, handeln wir – und das ganz konkret.
        Schon im Vorgriff auf eine Neudefinition des Pflegebe-
        dürftigkeitsbegriffs wird es konkrete Leistungsverbesse-
        rungen für Demenzkranke geben. Uns ist bewusst, dass
        Demenzkranke bislang zu wenig Leistungen erhalten,
        die sie aber dringend benötigen. Daher wird es schon ab
        dem 1. Januar 2013 mehr Geld gaben, und das schon ab
        Pflegestufe 0. Erstmals erhält man in der Pflegestufe 0
        50 Prozent der Leistungen der Pflegestufe 1. In Zahlen:
        225 Euro für Sachleistungen oder 120 Euro Betreuungs-
        geld. Auch in der Pflegestufe 1 gibt es mehr Leistungen
        als die bestehenden Angebote von 100 bzw. 200 Euro:
        554 Euro für Sachleistungen oder 305 Euro für Betreu-
        ungsleistungen. In Pflegestufe 2 gibt es dann auch noch
        mal ein Drittel der Pflegestufe 3: 1 250 Euro für Sach-
        leistungen oder 525 Euro Betreuungsgeld.
        Das sind ganz konkrete Mehrleistungen, die die Men-
        schen besserstellen. Das ist immer mehr wert als umfas-
        sende Ankündigungen!
        Hinzu kommt, dass wir das Leistungsrecht flexibili-
        sieren. Das ist dringend notwendig, weil wir von der
        Minutenpflege wegkommen wollen. Zukünftig wird es
        möglich sein, statt starrer Leistungskomplexe auch Zeit-
        kontingente zur Versorgung und Betreuung eines Pflege-
        bedürftigen abzurufen. Damit werden wir nicht nur den
        tatsächlichen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen selbst
        gerecht, sondern entlasten auch die pflegenden Angehö-
        rigen. Denn sie sind es, die in den meisten Fällen den
        eigenen Alltag und den der Pflegebedürftigen organisie-
        ren und bewältigen müssen.
        Wir setzen auf Wahlfreiheit und Flexibilisierung und
        stärken damit ganz konkret den ambulanten Sektor, auch
        deshalb, weil der Großteil der Menschen in der eigenen
        Häuslichkeit und von vertrauten Menschen gepflegt wer-
        den möchte. Zusätzlich stärken wir alternative Wohnfor-
        men wie zum Beispiel Pflege-WG, in denen auf ganz in-
        dividuelle Wünsche eingegangen werden kann.
        Das Wichtigste an unserer Reform ist, dass wir ganz
        konkret handeln und dass alle Maßnahmen auch seriös
        finanziert sind. Im Gegensatz zum Schaufensterantrag
        der Grünen steht unser Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
        auf einem soliden Fundament.
        Wenn man nur einzelne Punkte Ihres Antrags heraus-
        greift, zum Beispiel den rechtsverbindlichen Anspruch
        auf eine dreimonatige Pflegezeit bei vollem Lohnaus-
        gleich und natürlich voll aus Steuermitteln finanziert,
        dann hört sich das schön an, ist aber in der Realität
        schlicht nicht umsetzbar. Denn: Die einzige Antwort auf
        die Frage der Finanzierbarkeit Ihres ausufernden
        Wunschkonzerts ist die eierlegende Wollmilchsau der
        Bürgerversicherung.
        Die Bürgerversicherung scheint Ihre Universalant-
        wort auf alle Herausforderungen in den sozialen Siche-
        rungssystemen zu sein. Selbst wenn wir dieses unsinnige
        Konstrukt einführen würden, könnten wir diese Mehr-
        einnahmen auch nur einmal ausgeben. Sie indes geben
        jeden Euro mehrfach aus. Das ist unseriös und unverant-
        wortlich. Sie gaukeln den Menschen vor: Wir nehmen
        ein bisschen Geld von den Reichen und entwickeln uns
        damit immer mehr in Richtung Pflegevollkaskoversiche-
        rung.
        Sie stellen in den Raum, eine Überführung der priva-
        ten Pflegversicherung in eine Bürgerversicherung ginge
        problemlos und von heute auf morgen. Damit offenbaren
        Sie ein zweifelhaftes Verständnis von Eigentumsrechten.
        Ich empfehle Ihnen daher einen Blick ins Grundgesetz in
        den Art. 14. Solange wir dieses Grundgesetz haben, wer-
        den auch die Grünen nicht so mir nichts dir nichts die
        Leute enteignen können.
        Eingedenk dieser Tatsachen steht Ihr gesamter
        Wunschkatalog auf tönernen Füßen und lässt sich daher
        nicht seriös umsetzen.
        Die christlich-liberale Koalition bringt die Neuaus-
        richtung der Pflege auf den Weg. Wir arbeiten intensiv
        an der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs,
        werden diesen sorgsam und verlässlich umsetzen und
        keine Schnellschüsse machen.
        Unser Konzept ist kohärent, bedarfsorientiert und rea-
        listisch, und es hilft den Pflegebedürftigen und ihren An-
        gehörigen konkret weiter. Wir verzichten auf leere Ver-
        sprechungen und Worthülsen. Zugleich sorgen wir für
        eine Finanzierung, die weder die Beitragszahler noch die
        Lohnnebenkosten zu sehr belastet.
        21316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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        Das ist seriöse und lösungsorientierte Politik und
        nicht ein Wunschkonzert, wie Sie es mit Ihrem Antrag
        vortragen.
        Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Der Antrag
        der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen greift
        – wie auch der bereits im Verfahren befindliche Antrag
        der Fraktion Die Linke im Bundestag „Pflege tatsächlich
        neu ausrichten – Ein Leben in Würde ermöglichen“,
        Bundestagsdrucksache 17/9393 – ein entscheidendes
        Problem auf: Eine grundlegende und umfassende Re-
        form der Pflegeversicherung ist längst überfällig. Die
        Pflegeversicherung ist zu einem wichtigen Bestandteil
        des Systems sozialer Sicherung geworden. Doch das
        Fundament der Pflegeversicherung trägt seit langem
        nicht mehr. Wackelig war das Konstrukt Pflegeversiche-
        rung von Anfang an, denn bereits mit Einführung der
        Pflegeversicherung 1995 wurde bewusst eine Fehlkon-
        struktion in Kauf genommen. Von Anfang an bestimm-
        ten Kostengründe das Leistungsspektrum. Deshalb soll-
        ten lediglich körperliche Gebrechen bei der Feststellung
        der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt werden. Die
        Folge: Insbesondere Menschen mit erheblicher einge-
        schränkter Alltagskompetenz werden noch heute in der
        Pflegeversicherung strukturell benachteiligt. Das sind
        beispielsweise Menschen, die an Demenz erkrankt sind.
        Die schwarz-gelbe Bundesregierung vermag es mit
        ihrem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz nicht, genau die-
        ses Problem anzugehen. Im Gegenteil: Die Bundesregie-
        rung scheitert an der Aufgabe, eine grundlegende Re-
        form der Pflegeversicherung auf den Weg zu bringen.
        Die Bezeichnung Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist
        vermessen. Eine Neuausrichtung der Pflege wird es mit
        diesem Gesetz nicht geben. Zwar sind vereinzelt zusätz-
        liche Leistungen unter anderem für Menschen, die auf-
        grund einer demenziellen Erkrankung auf Hilfe und Be-
        treuung angewiesen sind, vorgesehen. Doch es bleibt
        Stückwerk. Gerade weil nur vereinzelte und minimale
        Verbesserungen geplant sind und sich nichts strukturell
        an der Ausrichtung der Pflegeversicherung ändert, fällt
        das Urteil zu diesem pflegepolitischen Fehlgriff von al-
        len Seiten verheerend aus.
        Es ist breiter Konsens, dass wir ein neues Verständnis
        von Pflege in der Pflegeversicherung verankern müssen.
        Dafür liegt bereits seit gut drei Jahren der neue Pflegebe-
        griff vor. Der hierzu seinerzeit vorgelegte Vorschlag des
        Beirats der Bundesregierung zur Überprüfung des Pfle-
        gebedürftigkeitsbegriffs ist geeignet, endlich die entwür-
        digende „Minutenpflege“ zu beenden und Selbstbestim-
        mung und Teilhabe zum Leitbild der Pflegeversicherung
        zu machen. Der Beirat hat bereits 2009 ein neues Begut-
        achtungsinstrument vorgelegt, und das bisherige starre
        Pflegestufenmodell könnte längst durch neue und zielge-
        nauere Bedarfsgrade abgelöst werden. Doch die Bundes-
        regierung scheut eine politische Entscheidung zur Um-
        setzung des neuen Pflegebegriffs. Vielmehr versteckt sie
        sich hinter einem neu berufenen Beirat.
        Schlimmer noch: Die Bundesregierung ist überhaupt
        nicht bereit, sich auf einen finanziellen Rahmen für ei-
        nen neuen Pflegebegriff festzulegen. Da muss die Frage
        erlaubt sein, wie ernst es der Bundesregierung mit der
        Umsetzung des neuen Pflegebegriffs eigentlich ist. Wir
        wissen, dass sogar einige Mitglieder des neu berufenen
        Beirats Bauchschmerzen haben und nicht ernsthaft an
        eine Umsetzung noch in dieser Legislatur glauben.
        Die Linke ist überzeugt: Ohne eine Festlegung auf ei-
        nen Finanzrahmen kann eine sachgerechte Umsetzung
        des neuen Pflegebegriffs niemals gelingen. Und ich
        warne eindringlich davor, den neuen Pflegebegriff dazu
        zu missbrauchen, die Leistung der Pflegeversicherung
        mit einem „Pflegebegriff light“ zwar in ein neues Ge-
        wand zu hüllen, aber im Verborgenen Leistungskürzun-
        gen zu forcieren bzw. aus Kostengründen in Kauf zu
        nehmen. Womit zwangsläufig ein weiterer ernstzuneh-
        mender Konstruktionsfehler der Pflegeversicherung nur
        allzu offensichtlich wird: Die Pflegeversicherung ist in
        ihrer Konstruktion als Teilkaskoversicherung chronisch
        unterfinanziert. Die Linke hat zur Überwindung der Teil-
        kostendeckung konkrete Vorschläge vorgelegt, während
        die Bundesregierung einerseits eine Beitragserhöhung
        ins Gesetz schreibt und andererseits mit der Aussicht auf
        eine freiwillige Pflegezusatzversicherung – einer Art
        Pflege-Riester – die bewährte Umlagefinanzierung der
        Pflegeversicherung in Richtung Kapitaldeckung abwi-
        ckeln will. Beides ist – so wie vorgesehen – ungerecht.
        Beitragserhöhungen sind falsch, solange sie auf der
        Grundlage einer unsolidarischen Finanzierung beruhen.
        Denn einerseits ist die Trennung zwischen privater und
        sozialer Pflegeversicherung ungerecht, und andererseits
        ist nicht mehr begründbar, dass andere Einkommensar-
        ten, wie beispielsweise Kapital-, Miet- und Pachterträge,
        bei den Pflegeversicherungsbeiträgen keine Berücksich-
        tigung finden.
        Die freiwillige kapitalgedeckte Pflegezusatzversiche-
        rung ist ein Irrweg. Das ist offensichtlich angesichts der
        dunklen Wolken der Finanzkrise, die noch immer be-
        drohlich am Himmel stehen. Das Geld der Menschen ist
        in einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversiche-
        rung besser aufgehoben, als bei der Finanzindustrie, die
        es als Zubrot für ihr unsicheres Geschäft gebrauchen
        will.
        Die Linke hat dazu eine klare Meinung: Pflege taugt
        nicht zur Geschäftemacherei, unter welchem Aspekt
        auch immer. Deshalb ist es mir auch unverständlich, wa-
        rum Bündnis 90/Die Grünen ernsthaft daran festhalten,
        unter den Bedingungen ihrer Bürgerversicherung private
        Versicherungsunternehmen einbinden zu wollen. Das
        wird nicht funktionieren, wenn man ernsthaft an einer
        solidarischen Finanzierung der Pflegeversicherung inte-
        ressiert ist.
        Wissenschaftlich belegt ist, dass mit der solidarischen
        Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Linken der
        Beitragssatz in der Pflegeversicherung trotz Leistungs-
        verbesserungen dauerhaft unter 2 Prozent gehalten wer-
        den könnte. Damit könnte die finanzielle Grundlage für
        eine tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversicherung
        geschaffen werden. Gelingen wird das aber nur, wenn als
        Sofortmaßnahme der Realwertverlust der Pflegeversi-
        cherung vollständig ausgeglichen wird und die Sachleis-
        tungsbeträge um weitere 25 Prozent erhöht werden. An-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21317
        (A) (C)
        (D)(B)
        sonsten fliegen uns die Probleme in der Pflege sehr bald
        um die Ohren; das prophezeie nicht nur ich.
        Perspektivisch – und das sage ich, weil Gesundheits-
        minister Bahr immer wieder das Gegenteil behauptet –
        müssen sich die Leistungen am individuellen Bedarf der
        Menschen orientieren. Das Teilkaskosystem der Pflege-
        versicherung muss zur Disposition gestellt werden. An-
        sonsten werden die vielschichtigen Probleme in der
        Pflege langfristig nicht behoben, sei es nun die miserable
        Bezahlung des Pflegepersonals, die persönliche und fi-
        nanzielle Überforderung der Angehörigen und Ehren-
        amtlichen und die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs
        hin zum tatsächlichen Bedarf der Menschen.
        Gute Pflege ist ein Menschenrecht. Es liegt in unserer
        Verantwortung, dafür endlich den Stein des Anstoßes ins
        Rollen zu bringen.
        Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf zur Pfle-
        geneuausrichtung zeigt die Bundesregierung ihr Unver-
        ständnis für die Belange der Pflege. Zudem unterbleibt
        – anders als der Name vermuten lässt – eine grundstän-
        dige Neuorientierung. Das Pflege-Neuausrichtungs-Ge-
        setz verkommt zur Verbrauchertäuschung.
        Ein klarer Fall für die Rubrik Mogelpackungen der
        Zeitschrift der Stiftung Warentest. Dort werden Produkte
        angeprangert, deren Verpackung oder deren Aufdruck
        viel mehr Inhalt verspricht als tatsächlich drin ist.
        Wir fordern Sie deshalb auf, dass Sie in der Pflegere-
        form eine tatsächliche Neuorientierung vornehmen. Re-
        formieren Sie doch mal richtig! Nichts weniger als das
        ist notwendig.
        Das Korrigieren einzelner Sachverhalte kann man
        noch nicht als Reformprozess bezeichnen. Reformen ste-
        hen für eine größere, geplante und nachhaltige Umge-
        staltung bestehender Systeme.
        Was wir brauchen, ist eine Pflegeoffensive, die die
        strukturellen wie finanziellen Herausforderungen richtig
        anpackt. Das macht unser Antrag ganz deutlich. Sie da-
        gegen planen ein paar Verbesserungen, ohne dafür Sorge
        zu tragen, wie das in Zukunft finanziert werden soll –
        und das von einem FDP-geführten Ministerium. Da fällt
        man doch vom Glauben ab!
        Dass wir den Pflegebegriff einführen müssen, ist je-
        dem verständlich. Das benötigt Zeit – auch das ist rich-
        tig. Aber wir müssen uns doch zuerst klar darüber wer-
        den, was wir bereit sind zu bezahlen, damit an Demenz
        erkrankte Menschen endlich einen gesetzlich veranker-
        ten Rechtsanspruch auf Leistungen erhalten. Wir Grüne
        bekennen uns zu einem neuen Pflegebegriff und haben
        auch einen Finanzierungsvorschlag vorgelegt. Unsere
        grüne Pflege-Bürgerversicherung macht es möglich, die
        Pflege auch in Zukunft solidarisch zu finanzieren und
        die notwendige Leistungsausweitung durch einen Pfle-
        gebegriff vorzunehmen.
        Gleichzeitig müssen der Reformprozess der Pflege
        und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe har-
        monisiert werden. Sonst haben wir hier einen Verschie-
        bebahnhof. Ältere Menschen mit einer Behinderung
        werden von Einrichtungen der Eingliederungshilfe in
        Pflegeheime verfrachtet, und älteren Menschen mit Pfle-
        gebedarf wird die gesellschaftliche Teilhabe verweigert.
        Hier besteht Handlungsbedarf.
        Die Kommunen sind bei der Gestaltung der pflegeri-
        schen Zukunft wichtige Verbündete. Nur mit ihnen kann
        eine menschenwürdige Pflege und Lebensqualität bis
        zum Schluss ermöglicht werden. Doch dazu müssen wir
        die Akteure vor Ort wieder ernst nehmen und sie dazu
        befähigen, in Altenhilfe-, Sozial- und Stadtplanung zu
        investieren. Das geht weit über die häufig befristete Pro-
        jektförderung von örtlichen Initiativen hinaus. Seien wir
        doch mal ehrlich: Das sind doch alles nur Strohfeuer.
        Nach der meist zweijährigen Förderphase kann man
        doch keinen nachhaltigen Erfolg erwarten oder gar, dass
        sich gebildete Strukturen von allein tragen.
        Ein weiterer wichtiger Baustein in einer umfassenden
        Pflegereform betrifft die Unterstützung pflegender An-
        gehöriger – im Alltag, im Beruf, im Haushalt, aber auch
        bei der Organisation von Pflege, wenn sie weit weg
        wohnen und sich gar nicht um den Pflegebedürftigen
        kümmern können – und ebenso der professionell Pfle-
        genden. Hier können wir nicht genug investieren, um
        neue Ideen und Entlastungsangebote zu entwickeln.
        Wir nehmen die Pflegepolitik ernst, denken über den
        Tellerrand hinaus und weiter und setzen mit unserem
        Antrag ein starkes Signal.
        Die Pflege ist das Thema der Zukunft. Diese Tatsache
        wird von der Bundesregierung absolut verkannt, von uns
        Grünen nicht!
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag: Schutz der biologi-
        schen Vielfalt? Die Taxonomie in der Biologie
        stärken (Tagesordnungspunkt 17)
        Josef Göppel (CDU/CSU): Nur auf der Grundlage
        einer detaillierten Kenntnis der Vielfalt des Lebens lässt
        sich ebendiese Vielfalt wirksam schützen. Ich unter-
        stütze daher das Bemühen um eine verbesserte Ausstat-
        tung naturkundlicher Museen. Die Präsentation echter
        Lebewesen und Lebensvorgänge ist gerade in Zeiten der
        virtuellen Computerwelten wichtig. Nur durch greifbare
        Anschauung haben Kinder und Jugendliche die Gelegen-
        heit, ihr Auge an der Realität zu schulen. Die Taxonomie
        spielt in der Betrachtung der Fülle des Lebens eine wich-
        tige Rolle. Sie eröffnet uns die Möglichkeit, den Einzel-
        fall in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen und
        systematische Aussagen zu treffen. Die Taxonomie ist
        das Teilgebiet der Biologie, das die verwandtschaftli-
        chen Beziehungen von Lebewesen in einem hierarchi-
        schen System erfasst. Von daher ist der Gedanke, die
        biologische Vielfalt durch eine verbesserte Taxonomie
        zu stärken, richtig.
        21318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
        (D)(B)
        Der Antrag der SPD beinhaltet folgende Forderun-
        gen: Erstens: Einigung mit den Bundesländern auf ein
        Konzept für eine bessere Ausstattung der naturkund-
        lichen Museen und Sammlungen; zweitens: Förderung
        des wissenschaftlichen Nachwuchses im Bereich Taxo-
        nomie; drittens: Etablierung eines Bundesforschungs-
        programms für biologische Taxonomie; viertens: bessere
        Darstellungsmöglichkeiten für naturkundliche Museen
        und Sammlungen; fünftens: Ausbau der Taxonomie im
        8. EU-Forschungsrahmenprogramm; sechstens: Einsatz
        bei den internationalen Verhandlungen über die biologi-
        sche Vielfalt für eine Regelung des Zugangs zu geneti-
        schen Ressourcen und der gerechten Gewinnbeteiligung.
        Zum Zeitpunkt des Antrags fand gerade die 10. Ver-
        tragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt der CBD
        in Nagoya statt. Dort einigte man sich auf ein Protokoll
        zur Regelung des Zugangs zu genetischen Ressourcen
        und der gerechten Gewinnbeteiligung bei der Nutzung
        dieser Ressourcen. Damit besteht nun ein international
        rechtsverbindliches Instrument zur Verhinderung von
        Biopiraterie, das allen Beteiligten einen verlässlichen
        Rahmen bei der Nutzung genetischer Ressourcen gibt.
        Für Fälle, die nicht eindeutig im Rahmen des neuen In-
        struments geklärt werden können, wurde die Einrichtung
        eines multilateralen Fonds im Protokoll verankert. Im
        Bereich Taxonomie hat die Konferenz von Nagoya einen
        Beschluss zur globalen Taxonomieinitiative gefasst, der
        die Vertragsparteien zu einem stärkeren Kapazitätenauf-
        bau in der Taxonomie auffordert.
        Durch die Verhandlungsergebnisse in Nagoya ist die
        Forderung Nummer sechs des SPD-Antrags erfüllt. Der
        in Nagoya verabschiedete Beschluss zur globalen Taxo-
        nomieinitiative trägt den Anliegen des Antrags zur Stär-
        kung der Taxonomie umfassend Rechnung. In der Natio-
        nalen Strategie zur biologischen Vielfalt (Beschluss der
        Bundesregierung vom November 2007) sind die Themen
        „Taxonomie, Bedeutung naturkundlicher Museen und
        Sammlungen“ und „ABS“, Access and Benefit Sharing,
        aufgegriffen worden.
        Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
        der SPD, war als Anschub für die Nagoya-Konferenz ge-
        rechtfertigt. Heute sind seine Ziele großteils erfüllt.
        Ich halte es jetzt für viel wichtiger, das Nagoya-Ab-
        kommen durch den Deutschen Bundestag zu ratifizieren,
        und zwar vor der nächsten internationalen Konferenz in
        Hyderabad.
        Deutschland trug in Nagoya maßgeblich zum Ver-
        handlungserfolg bei. Nun müssen wir als Parlamentarier
        durch eine rasche Ratifizierung zeigen, dass wir hinter
        den vereinbarten Zielen stehen.
        Ewa Klamt (CDU/CSU): Die biologische Vielfalt ist
        die wertvollste Ressource unseres Planeten. Ihr Erhalt ist
        nicht nur ethisch-moralischer Anspruch unserer Politik,
        sondern wahrlich eine Existenzfrage. Trotzdem schreitet
        der Biodiversitätsverlust in alarmierendem Tempo vo-
        ran. Das Ziel der internationalen Gemeinschaft, das Ar-
        tensterben bis zum Jahr 2012 signifikant zu reduzieren,
        ist weit verfehlt worden. Hier müssen wir dringend
        nachsteuern! Die laufende UN-Dekade zur biologischen
        Vielfalt, die die Vereinten Nationen bis 2020 ausgerufen
        haben, trägt entscheidend dazu bei, dass die Biodiversi-
        tät zunehmend in den Fokus von Politik und Gesellschaft
        rückt.
        Die Antragsteller haben selbst in der Debatte im Aus-
        schuss dargestellt, dass das Hauptanliegen ihres Antrags
        darin besteht, den Schutz der biologischen Vielfalt zu si-
        chern. In diesem Anliegen sind wir uns grundsätzlich ei-
        nig. Die Stärkung der Taxonomie kann dabei wichtige
        Impulse setzen. Die Beschreibung neuer Arten und de-
        ren Einordnung in ein natürliches System aufgrund ihrer
        verwandtschaftlichen Beziehungen sind unverzichtbarer
        Bestandteil der Biodiversitätsforschung. Es können nur
        Arten beforscht werden, die man auch kennt. Und hier
        gibt es noch viel zu tun. Schätzungen zufolge ist erst ein
        Zehntel aller Arten überhaupt bekannt.
        Allerdings halten wir, die CDU/CSU-Fraktion, für
        den Erhalt der Biodiversität einen breiteren, mehrere
        Fachdisziplinen umfassenden strategisch angelegten
        Förderansatz für zielführender. Und es ist ja keineswegs
        so, als würde im Bereich der Taxonomie nichts getan:
        Die Taxonomie wird national wie international mit etwa
        15 Millionen Euro bzw. 20 Millionen Euro gefördert.
        Damit wird dieser Bereich bereits stärker gefördert als
        andere Teildisziplinen der Biodiversitätsforschung.
        Neben den bereits in den zurückliegenden Debatten
        aufgezeigten Initiativen wie das mit dem 2 Milliarden
        Euro geförderten Forschungsrahmenprogramm „For-
        schung für nachhaltige Entwicklung“ haben Bundesfor-
        schungsministerium und Bundesumweltministerium im
        Dezember letzten Jahres gemeinsam eine neue Förder-
        bekanntmachung zur Umsetzung der Nationalen Strate-
        gie zur biologischen Vielfalt veröffentlicht. Für entspre-
        chende Projekte stehen in den nächsten sechs Jahren
        30 Millionen Euro bereit. Selbstverständlich können
        auch Anträge zur Taxonomie eingereicht werden.
        Das „German Barcode of Life“-Projekt – kurz:
        GBOL –, das vom Bundesforschungsministerium mit
        5 Millionen Euro gefördert wird, hat die Inventarisie-
        rung und genetische Charakterisierung der Tiere, Pflan-
        zen und Pilze Deutschlands zum Ziel. Die Projektpartner
        stellen ihre professionelle taxonomische Expertise und
        ihre bereits existierende Infrastruktur zur Verfügung, um
        umfassend und flächendeckend die Tier- und Pflanzen-
        arten Deutschlands zu sammeln, zu katalogisieren, wis-
        senschaftlich zu beschreiben, zu sequenzieren und in die
        kostenlose globale Referenz-Barcode-Datenbank „BOLD“
        einzuspeisen. Auf diese Daten können die Forscher zu-
        greifen, um taxonomische Fragen zu lösen.
        Wenn nach Angaben von Taxonomen das eigentliche
        Problem darin besteht, dass Universitäten und Naturkun-
        demuseen mehr Stellen schaffen müssten, um den Taxo-
        nomen eine berufliche Perspektive zu bieten, ist dies
        eine nachvollziehbare Forderung. Verantwortlich für die
        Personalentwicklung sind in erster Linie aber die Hoch-
        schulen und die außeruniversitären Forschungseinrich-
        tungen. Die Sicherstellung der hierfür notwendigen
        Grundfinanzierung ist Aufgabe der Länder.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21319
        (A) (C)
        (D)(B)
        Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
        insgesamt ist uns ein zentrales Anliegen. Dass die ak-
        tuelle Lage unbefriedigend ist, haben wir gerade in der
        gestrigen Debatte im Ausschuss festgestellt. Hier besteht
        Konsens. Daher hat die Koalition auch den Antrag „Ex-
        zellente Bedingungen für den wissenschaftlichen Nach-
        wuchs fortentwickeln“ eingebracht. Untätig ist der Bund
        trotz föderaler Hemmnisse jedoch keineswegs. Mit dem
        „Pakt für Forschung und Innovation“ steigen die Zu-
        schüsse für die gemeinsam mit den Bundesländern ge-
        förderten Forschungseinrichtungen in den Jahren 2011
        bis 2015 jährlich um 5 Prozent. Von der Erhöhung dieser
        Zuschüsse profitieren indirekt auch die DFG-Pro-
        gramme zur Förderung des wissenschaftlichen Nach-
        wuchses. Ferner wurden die Promotionsstipendien der
        zwölf durch das Ministerium für Bildung und Forschung
        unterstützten Begabtenförderungswerke ausgebaut. In
        der dritten Runde der Exzellenzinitiative wurde das För-
        dervolumen um 30 Prozent auf rund 2,7 Milliarden Euro
        mit einer Laufzeit bis 2017 gesteigert. „Hochschulpakt
        2020“ und Qualitätspakt für Lehre fördern gleichfalls in-
        direkt die Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses
        durch neue Einstellungsmöglichkeiten. Mit ihren Pro-
        grammen haben Bund und Länder dafür gesorgt, dass
        auch die „kleinen Fächer“ profitieren und eine faire
        Chance erhalten.
        Beim Schutz der biologischen Vielfalt sind wir uns
        alle einig. Zulasten anderer anwendungsorientierter und
        problemorientierter Biodiversitätsforschung hierfür ein
        „Sonderprogramm“ für den Taxonomie-Nachwuchs auf-
        zulegen, halten wir jedoch nach wie vor nicht für den
        richtigen Weg.
        René Röspel (SPD): Das Thema der Taxonomie in
        der Biologie steht heute zu später Stunde auf der Tages-
        ordnung. Das ist schade, denn, wie ich noch ausführen
        werde, handelt es sich hierbei um ein Thema, das mehr
        Aufmerksamkeit, auch in der Politik, verdient hätte.
        Bei der Taxonomie handelt es sich um die Wissen-
        schaft der systematischen Bestimmung und Einteilung
        von Tieren und Pflanzen in Kategorien wie Familie, Gat-
        tung und Art. Nachgewiesen sind auf unserer Erde circa
        1,5 bis 1,75 Millionen Pflanzen- und Tierarten. Schät-
        zungen gehen aber davon aus, dass es weltweit mindes-
        tens zwischen 13 und 20 Millionen Arten gibt. Viele Ar-
        ten sind bisher noch nicht entdeckt und wissenschaftlich
        eingeordnet worden. Die Benennung neuentdeckter
        Tiere und Pflanzen fällt ebenfalls in die Arbeit von Ta-
        xonomen. Man geht heute davon aus, dass täglich zwi-
        schen 2 und 130 Arten aussterben. Da jede Art seine
        Rolle innerhalb des Ökosystems hat, geht dabei nicht nur
        die Art in ihrer Einzigartigkeit unwiderruflich verloren,
        sondern es kann im Zweifel Auswirkungen auf das ge-
        samte System haben. Die Taxonomie liefert somit wich-
        tige Informationen und Daten zum Schutz der biologi-
        schen Vielfalt. Taxonomen werden aber auch bei der
        ökologischen Beurteilung von Biotopen im Rahmen von
        Umweltverträglichkeitsprüfungen oder beim Monitoring
        von geschützten Gebieten angefragt. Auch zur Bestim-
        mung invasiver Arten, die Millionenschäden verursa-
        chen können, wird auf die Taxonomie zurückgegriffen.
        Die Taxonomie bildet somit eine Grundlage für viele
        Wissenschaftsgebiete. Immer wichtiger werden die Fä-
        higkeiten und Kenntnisse von Taxonomen aber auch au-
        ßerhalb der Biologie. So greifen immer mehr Branchen
        der Wirtschaft auf das Wissen der Taxonomie zurück.
        Bereits heute existieren mehr und mehr Produkte auf Ba-
        sis pflanzlicher oder tierischer Bestandteile. Allein in der
        chemischen Industrie betrug der Anteil nachwachsender
        Rohstoffe 2008 bereits 13 Prozent. Die Umstellung von
        einer erdölbasierenden hin zu einer Produktion auf Basis
        nachwachsender Rohstoffe wird diesen Trend weiter
        verstärken.
        Wenn man sich die Liste der Anwendungsmöglich-
        keiten der Taxonomie anschaut, könnte man meinen,
        dieser Wissenschaftszweig müsste von Politik und Wirt-
        schaft doch eigentlich in jedem möglichen Maße unter-
        stützt werden. Aber nein, genau das Gegenteil ist in
        Deutschland der Fall. Die Taxonomie blutet hier lang-
        sam aus. So gibt es keinen einzigen Lehrstuhl für Taxo-
        nomie mehr. In der Wissenschaft fehlen somit Stellen für
        angehende Taxonomen. Ohne Berufs- und Ausbildungs-
        chancen bricht auch der wissenschaftliche Nachwuchs
        weg, und das in einer Situation, wo es bereits heute für
        bestimmte Tier- oder Pflanzenarten weltweit nur noch
        eine Expertin oder einen Experten gibt. Wenn der oder
        diese stirbt, dann geht mit dieser Person unwiderruflich
        das gesamte nicht niedergeschriebene Wissen und vor al-
        lem viel Erfahrung über diese Art verloren. Können und
        wollen wir uns das in unserer „Wissensgesellschaft“
        wirklich leisten? Ich denke, nein! Insbesondere, wenn
        man bedenkt, welche Herausforderungen im Bereich der
        Biodiversität, des Klimawandels, aber auch der Energie
        und Medizin noch vor uns liegen.
        Ende 2010 hat sich eine Arbeitsgruppe von Nach-
        wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die
        „Jungen Systematiker“, mit einem offenen Brief an Poli-
        tik, Wissenschaft und Gesellschaft gewandt. Dabei for-
        dern sie, unter anderem das Ausbildungs- und For-
        schungsfach Taxonomie gezielt wiederzubeleben,
        langfristige Perspektiven für Taxonomen zum Beispiel
        durch unbefristete Stellen im universitären Mittelbau zu
        schaffen, ein spezielles Forschungsprogramm zur Förde-
        rung der Taxonomie einzurichten und für eine bessere
        finanzielle Unterstützung der naturhistorischen Museen
        und Botanischen Gärten zu sorgen. Als SPD-Bundes-
        tagsfraktion teilen wir diese Forderungen voll und ganz.
        Sie finden sich auch in unserem Antrag wieder.
        Wenn man sich die Reden zur ersten Lesung unseres
        Antrages vom November 2010 zu Gemüte führt, hat man
        den Eindruck, dass selbst die Kolleginnen und Kollegen
        der CDU/CSU und FDP unseren Analysen und Forde-
        rungen zustimmen können. So stellt Frau Klamt von der
        CDU/CSU zum Beispiel den positiven Beitrag der Taxo-
        nomie für die Biodiversität heraus. Und Frau Brunkhorst
        von der FDP verweist auf den Nachwuchsmangel im Be-
        reich der Taxonomie in Deutschland. Umso unverständ-
        licher ist mir, warum die Fraktionen von CDU/CSU und
        FDP im Ausschuss gegen unseren Antrag votiert haben.
        Und bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Argu-
        ment, dass die Taxonomie nur ein Wissenschaftsbereich
        von vielen sei, der sich mit dem Artenschwund und der
        21320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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        Biodiversität auseinandersetzt. Denn erstens benötigen
        wir, wie oben beschrieben, die Taxonomie eben nicht nur
        zum Schutz der Biodiversität, und zweitens stellt die Ta-
        xonomie ja gerade die Grundlage für die Biodiversitäts-
        forschung dar. Oder wie wollen Sie ein Gebiet schützen,
        wenn niemand bestimmen kann, welche Arten dort über-
        haupt leben? Entschuldigen Sie, liebe Kolleginnen und
        Kollegen der Koalitionsfraktionen, aber Ihr Argument ist
        so absurd, wie wenn Sie einem Bauarbeiter sagen, ein
        Fundament sei für den Hausbau unwichtig!
        Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
        CDU/CSU und der FDP, ich könnte ja noch nachvollzie-
        hen, dass es Ihnen einfach schwerfällt, einem guten An-
        trag einer Oppositionsfraktion zuzustimmen. Aber wenn
        dem so wäre, warum haben Sie dann nicht einfach einen
        eigenen Antrag verfasst? Genug Zeit hatten Sie dafür
        seit Oktober 2010, dem Zeitpunkt der Einbringung unse-
        res Antrages, nun wirklich. Mit der Presseberichterstat-
        tung, unter anderem auch zur ersten Lesung unseres An-
        trages, müsste doch selbst Ihnen aufgefallen sein, dass
        die Situation der Taxonomie auch über die Grenzen der
        Biologie als Problem wahrgenommen wird. Außerdem
        haben Sie hoffentlich doch auch Gespräche mit betroffe-
        nen Taxonomen geführt. Wieso verschließen Sie sich de-
        ren Argumenten? Nichts zu tun ist in so einem Fall doch
        keine Option.
        Insofern: Springen Sie zum Schutz der Biodiversität
        und der Verbesserung der Arbeits- und Ausbildungssitua-
        tion von Taxonomen in Deutschland über Ihren Schat-
        ten, und stimmen Sie unserem Antrag zu.
        Dr. Peter Röhlinger (FDP): Biodiversität ist ein
        sehr wichtiges Thema; da stimmen wir den Kolleginnen
        und Kollegen von der SPD durchaus zu. Eine Stärkung
        nicht nur, aber auch zum Beispiel der Taxonomie, trägt
        mit Sicherheit zum Schutz der biologischen Vielfalt bei.
        Die SPD sieht hier Defizite. Deshalb möchte ich einmal
        aufzeigen, was wir auf diesem Gebiet bereits auf den
        Weg gebracht haben.
        Die naturwissenschaftlichen Museen mit Forschungs-
        aufgaben sind in die Leibniz-Gemeinschaft aufgenom-
        men worden und werden somit je zur Hälfte vom Bund
        und von den Ländern finanziert. Mit dem Pakt für For-
        schung und Innovation haben wir diesen Forschungs-
        museen in Frankfurt am Main – Forschungsinstitut und
        Naturmuseum Senckenberg –, Bonn – Zoologisches For-
        schungsmuseum Alexander Koenig –, Berlin – Museum
        für Naturkunde –, Görlitz – Staatliches Museum für Na-
        turkunde – und Dresden – Staatliche Naturhistorische
        Sammlungen – Planungssicherheit bis 2015 gegeben.
        Bis 2015 können sie mit einem Mittelaufwuchs von etwa
        5 Prozent pro Jahr rechnen. Das ist beachtlich in einer Zeit,
        in der die Haushaltskonsolidierung oberstes Ziel ist.
        Das UN-Übereinkommen über die biologische Viel-
        falt setzen wir in der nationalen Biodiversitätsstrategie
        um. Wir unterstützen im Rahmen dieser Strategie For-
        schungsvorhaben zum Schutz der biologischen Vielfalt
        mit etwa 15 Millionen Euro pro Jahr. Etwa 330 Ziele
        wurden definiert und rund 430 Maßnahmen konzipiert,
        die im Rahmen der UN-Dekade „Biologische Vielfalt“
        bis 2020 dazu beitragen werden, dem Artenverlust ent-
        gegenzuwirken.
        Eine solche nationale Strategie geht über die Förde-
        rung einer einzelnen Disziplin, also zum Beispiel der Ta-
        xonomie in der Biologie, weit hinaus. Sie ist sowohl hin-
        sichtlich der Fachdisziplinen als auch hinsichtlich der
        Akteure sehr viel breiter angelegt. Nicht nur Wissen-
        schaftler sind angesprochen, sondern die ganze Gesell-
        schaft. Die Länder und Kommunen sind ebenso einbezo-
        gen wie Waldbesitzer, Landnutzer und Naturschutz-
        verbände. Viele machen mit. So haben zum Beispiel
        60 Kommunen aus ganz Deutschland am 1. Februar
        2012 in Frankfurt am Main das Bündnis „Kommunen für
        biologische Vielfalt“ gegründet.
        Ende April 2012 haben die UN beschlossen, das UN-
        Sekretariat des internationalen Wissenschaftlerrats für
        Biodiversität – IPBES – in Bonn anzusiedeln. Mit dieser
        Entscheidung wird das deutsche Engagement für den Er-
        halt der biologischen Vielfalt auch international aner-
        kannt.
        Ebenfalls Ende April hat die DFG die Einrichtung ei-
        nes neuen Forschungszentrums zur Biodiversität in
        Leipzig beschlossen. Ab 2012 werden hier interdiszipli-
        när und auf international sichtbarem Niveau verschie-
        denste Forschungsaktivitäten zur Biodiversität gebündelt
        und in den kommenden vier Jahren mit rund 33 Millio-
        nen Euro gefördert. Der Standort ist Leipzig; die Univer-
        sitäten Leipzig, Jena und Halle-Wittenberg haben sich
        gemeinsam erfolgreich um dieses Forschungszentrum
        beworben. Darüber freue ich mich natürlich ganz beson-
        ders.
        Wir unternehmen also einiges zum Schutz der biologi-
        schen Vielfalt. Den vorliegenden Antrag der SPD können
        wir nicht unterstützen, denn die Taxonomie in der Biolo-
        gie ist nur eine Facette des großen Themenspektrums
        Biodiversität.
        Angelika Brunkhorst (FDP): Rund 10 Millionen
        Tiere und Pflanzen, die auf unserer Erde leben, sind un-
        erforscht. Gleichzeitig kämpfen wir weltweit mit einem
        ungebremsten Artensterben. Somit gehen uns tagtäglich
        Tiere und Pflanzen verloren, die möglicherweise segens-
        reiche Eigenschaften besitzen, sei es als Vorbild für tech-
        nische Entwicklungen oder als Heilmittel in der Medi-
        zin. Das ist eine Entwicklung, der wir entgegentreten
        müssen. So weit stimmen wir Liberale mit dem Antrag
        der SPD überein.
        Anfang der Woche skizzierte Professor Johannes Vogel,
        der neue Generaldirektor des Museums für Naturkunde
        in Berlin, seine Vision von der Taxonomie der Zukunft.
        Er fordert eine „gläserne Biodiversitätsfabrik“ und den
        Artencheck anhand des genetischen „Barcoding“. Beim
        Barcording geben kleinste Gewebeteile Aufschluss über
        Verwandtschaftsverhältnisse und helfen bei der Artab-
        grenzung. So werden Tiere und Pflanzen nicht mehr nur
        nach ihrer Struktur und Form kategorisiert, sondern auch
        mithilfe ihrer DNA. Automatisiert bringt dies eine im-
        mense Zeitersparnis. In den kommenden 50 Jahren
        könnte so die gesamte biologische Vielfalt erfasst und
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21321
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        dokumentiert werden – ein ambitioniertes Ziel, zu dem
        neue Wege beschritten und Kooperationen geschlossen
        werden müssen. Vor allem gilt es, Wissen transparent zu
        machen und weltweit zu vernetzen. Die Finanzierung
        des teuren Projekts soll die Wirtschaft übernehmen, die
        letztlich von den Ergebnissen profitieren wird. Arten-
        vielfalt soll finanziell messbar werden. Nur so lässt sich
        das Artensterben aufhalten. Dies ist ein zukunftsweisen-
        der Vorschlag der Wissenschaft. Hieran zeigt sich, dass
        auch ohne Druck der Politik die Wissenschaft innovative
        Lösungsvorschläge präsentieren kann, ganz ohne Forde-
        rungskatalog der SPD.
        Auch bei der Förderung sind wir dem Antrag der SPD
        voraus. Die Bundesregierung hat in Abstimmung mit
        den Ländern die naturwissenschaftlichen Museen mit
        Forschungsaufgaben gestärkt, indem sie in die Leibniz-
        Gemeinschaft eingegliedert wurden. Die Museen erhal-
        ten somit eine 50/50 Bund-Länder-Förderung. Das
        betrifft das Forschungsinstitut und Naturmuseum
        Senckenberg in Frankfurt am Main, das Zoologische
        Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn, das
        Museum für Naturkunde in Berlin, das Staatliche Mu-
        seum für Naturkunde Görlitz und die Staatlichen Natur-
        historischen Sammlungen Dresden. Mit dem Pakt für
        Forschung und Innovation wird diesen Forschungs-
        museen bis 2015 ein jährlicher Mittelaufwuchs von rund
        5 Prozent zugesichert.
        Im Rahmen der Nationalen Biodiversitätsstrategie
        werden die notwendigen Forschungsarbeiten zum
        Schutz der biologischen Vielfalt unterstützt. 2011 wurde
        das neue Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“ offi-
        ziell gestartet. Das Förderprogramm soll die Umsetzung
        der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt unter-
        stützen. 15 Millionen Euro werden dafür ab sofort jähr-
        lich im Bundeshaushalt bereitgestellt. Seit 2012 bündeln
        das Bundesforschungsministerium und das Bundesum-
        weltministerium in einer gemeinsamen Förderinitiative
        ihre Kräfte bei der Umsetzung der Nationalen Strategie
        zur biologischen Vielfalt.
        Der vorliegende SPD-Antrag beschreibt die Notwen-
        digkeit einer umfassenden Bewahrung der Biologischen
        Vielfalt und fordert eine Stärkung der Taxonomie. Hier-
        bei sind wir mit Ihnen einer Meinung. Jedoch fordern
        wir nicht nur, wir handeln bereits. Ihr Antrag hinkt der
        Entwicklung hinterher. Deshalb lehnen wir den SPD-
        Antrag ab.
        Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): In den vergangenen
        Tagen erschien eine Studie der finnischen Akademie der
        Wissenschaften, die auch hierzulande für Furore sorgte.
        Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforsch-
        ten den Zusammenhang zwischen der Umgebung, in der
        Kinder aufwachsen, und ihrer Neigung zu Allergien als
        Jugendliche. Das Ergebnis: Je vielfältiger die natürliche
        Flora und Fauna war, mit der die Kinder in Berührung
        kamen, umso niedriger die Anfälligkeit für Allergien.
        Dieses Beispiel ist nur eines von vielen. Die Biodiversi-
        tät, die kaum ermessliche Vielfalt unserer biologischen
        Umwelt, ist kein Accessoire romantischer Naturverklä-
        rung oder alleiniger Gegenstand verschrobener Schmet-
        terlingssammler.
        Der Reichtum an Arten und Gattungen dient uns allen
        als existenzielle Lebensgrundlage – in Fragen der Ernäh-
        rung, des Bodens, der Gesundheit. Wenn diese Vielfalt
        abnimmt, weil etwa 100 Arten täglich aussterben, dann
        kann dies Folgen nachsichziehen, deren Komplexität wir
        nicht beherrschen. Die Bedeutung der Biodiversität lässt
        sich daher durchaus mit der des globalen Klimas verglei-
        chen.
        Kürzlich wurde die Internationale Plattform für Bio-
        diversität und Ökosystemdienstleistungen (IPBES) ge-
        gründet, die in etwa dem Weltklimarat vergleichbar ist.
        Man entschied sich für Bonn als Sitz dieser Plattform.
        Von hier aus soll zukünftig das Wissen über Artenvielfalt
        gebündelt und zu fundierten Beratungen für die Politik
        entwickelt werden. Dass diese wichtige Einrichtung in
        unserem Land gegründet wird, sollte uns allen als Ver-
        pflichtung gelten, mehr für die Erforschung des Arten-
        sterbens und den Kampf dagegen zu tun. Alle bisherigen
        Vereinbarungen der Staatengemeinschaft, den Verlust
        von Arten zu stoppen, sind bisher gescheitert. Bereits
        2010 sollte das Ziel erreicht sein, 2010 ist es um weitere
        zehn Jahre aufgeschoben worden.
        Die Plattform wird allerdings keine eigene For-
        schungseinrichtung. Sie ist darauf angewiesen, dass die
        Staaten der Welt, insbesondere die forschungsstarken
        Industriestaaten, dieses Forschungsfeld entsprechend
        ausbauen. Es ist richtig, dass die Bundesregierung Mittel
        für die Unterstützung von Entwicklungsländern in der
        IPBES zugesagt hat. Zusätzlich muss jedoch auch die
        Forschungslandschaft im eigenen Land aus- und nicht
        abgebaut werden.
        Ich freue mich daher sehr, dass das neue DFG-For-
        schungszentrum zur Biodiversität in meiner Heimatuni-
        versität Halle und in Leipzig sowie Jena entsteht. Mit
        33 Millionen Euro für vier Jahre können wir wirkliche
        Wissenssprünge auf hohem Niveau erreichen. Die Ein-
        richtung dieses Zentrums sehe ich als hoffnungsvolles
        Zeichen gegen den schleichenden Bedeutungsverlust der
        Biodiversität in der Forschungsförderung. Gebraucht
        werden neben einer kontinuierlichen Nachwuchsförde-
        rung auch endlich wieder feste Lehrstühle, die ein sol-
        ches Forschungsfeld auf lange Frist verankern. Auch für
        das neue Rahmenprogramm der EU „Horizont 2020“
        müssen seitens der Bundesregierung klare Initiativen für
        eine Stärkung der Taxonomie und der Biodiversitätsfor-
        schung ergriffen werden.
        Die Erhaltung der Artenvielfalt ist nichts, womit sich
        kurzfristig Märkte schaffen und Produkte der Green
        Technologies verkaufen lassen. Diese Aufgabe verlangt
        von uns eher eine Entschleunigung und eine konzen-
        trierte Folgenabschätzung unseres eigenen politischen
        und ökonomischen Handelns. Wenn wir den Reichtum
        der Natur für uns nutzen wollen, etwa in der Bionik,
        dann müssen wir ihn auch erhalten.
        Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN): Es heißt immer wieder, dass Wissen Macht
        21322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
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        sei; auf jeden Fall sollte man Entscheidungen nicht ohne
        das nötige Wissen fällen. Im Bereich des Biodiversitäts-
        schutzes sind wir – das müssen wir uns leider eingeste-
        hen – ziemlich ahnungslos und damit auch machtlos.
        Weil es das zu ändern gilt, begrüßen und unterstützen
        wir den Antrag zum Schutz der biologischen Vielfalt
        (Drucksache 17/3484) ausdrücklich.
        Leider müssen wir aber auch feststellen, dass die De-
        batten um den Antrag zum Teil ziemlich am Thema vor-
        beigegangen sind. Der Antrag stellt richtigerweise fest,
        dass wir ein enormes Problem im Forschungsbereich der
        Taxonomie haben.
        Da ist es für mich aber schon verwunderlich, dass die
        Biodiversitätsforschung und speziell die Taxonomie in
        einem Atemzug mit der Nationalen Forschungsstrategie
        zur BioÖkonomie behandelt wurde. Denn in dieser For-
        schungsstrategie ist die Taxonomie mit keiner Silbe er-
        wähnt, und inhaltlich zielt die Nationale Forschungsstra-
        tegie zur BioÖkonomie auch in eine andere Richtung.
        Die Forschungsstrategie formuliert die „verantwor-
        tungsvolle Gentechnik“ als eines ihrer Ziele und wider-
        spricht somit dem eigentlichen Ziel des Antrags unserer
        Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Ziel des
        Antrags ist es, die biologische Vielfalt zu schützen, dazu
        diese Vielfalt kennenzulernen, ihre Funktionen zu be-
        greifen und besser bestimmen zu können. Dazu muss die
        Taxonomie gestärkt werden, denn ohne Wissen das Wis-
        sen über die Arten kommen wir beim Schutz der Arten-
        vielfalt nicht weiter.
        Es gibt heute leider zu wenig Nachwuchswissen-
        schaftlerinnen und -wissenschaftler, die in diesem Ge-
        biet ausgebildet werden. Somit fehlen uns zunehmend
        jene Expertinnen und Experten, die über die biologische
        Vielfalt konkret Auskunft geben können, sie erfassen
        und dokumentieren könnten.
        Die Biodiversitätsforschung hat in den letzten 20 Jah-
        ren trotz stagnierender finanzieller Unterstützung Fort-
        schritte bei Erkenntnisgewinn und interdisziplinärer Ver-
        netzung gemacht, weist aber immer noch eklatante
        Defizite auf. Millionen von Arten sind noch immer un-
        entdeckt. Viele von ihnen rottet der Mensch aus, bevor er
        sie überhaupt kennengelernt hat. Große Ökosysteme wie
        die Tiefsee, der Boden oder das Grundwasser sind noch
        weitgehend unerforscht. Das Verständnis der funktiona-
        len Zusammenhänge innerhalb von Ökosystemen und
        die Wirkung menschlicher Aktivitäten darauf ist für
        viele Systeme noch lückenhaft.
        Die Taxonomie schafft eine der Grundlagen für Maß-
        nahmen, die auf biologische und ökologische Systeme
        und ihren Schutz abzielen. Eines scheint klar: Um arbei-
        ten und forschen zu können, benötigen die Wissenschaft
        und die Forschung im Bereich der Biodiversität mehr ge-
        sellschaftliche Unterstützung und Anerkennung. Leider
        gehört aber gerade die Taxonomie zu den vernachlässig-
        ten Wissensgebieten, die als vermeintlich nachrangig an-
        gesehen werden, zumindest in den Augen der CDU/CSU
        und der FDP.
        Nationale wie internationale Anforderungen im Be-
        reich der Biodiversitätspolitik haben die Biodiversitäts-
        forschung wieder etwas gestärkt. So begrüßen wir es,
        dass das UN-Sekretariat des internationalen Wissen-
        schaftlergremiums für Biodiversität, IPBES, in Bonn an-
        gesiedelt werden soll. Damit erwarten wir aber auch von
        der Bundesregierung, dass die Biodiversitätsforschung
        und insbesondere die Taxonomie in Deutschland ihre ge-
        bührende Wertschätzung in Wissenschaft und Forschung
        erhält und dies auch durch eine bessere Förderung zum
        Ausdruck gebracht wird.
        Der Verlust von Arten, Lebensräumen und geneti-
        scher Vielfalt bedeutet ein kaum kalkulierbares Risiko
        für die Integrität unserer Umwelt, unserer Landnut-
        zungssysteme, der natürlichen Rohstoffquellen, der Was-
        serversorgung großer Regionen etc., erst recht, wenn wir
        zugeben müssen, dass wir von den Zusammenhängen
        und den Akteuren in diesen Ökosystemen nur ein extrem
        lückenhaftes Wissen haben.
        In den Hochschulen muss die wissenschaftliche Aus-
        bildung von Biologen, Taxonomen, Biogeografen und
        Umweltbildungsfachleuten wieder einen größeren Stel-
        lenwert erhalten. Gesamtstaatliche Förderinstrumente
        können Anreize schaffen, mit denen eine gewisse über-
        regionale Steuerung möglich ist. Eine nationale Schwer-
        punktbildung der vorhandenen Fachkompetenzen und
        Sammlungsressourcen muss begonnen werden. Damit
        muss ermöglicht werden, auf aktuelle Entwicklungen
        forschungspolitisch schnell zu reagieren. Ebenso müssen
        entsprechende Forschungsprojekte besser europäisch
        vernetzt und international angebunden werden.
        Ein weiteres spezielles Problem im Bereich der Bio-
        diversitätsforschung stellen die Sammlungen dar, und zu
        Recht verlangt der Antrag nach einem besseren Konzept
        für die Erhaltung dieser Sammlungen. Der Verlust von
        Sammlungen ist gleichzusetzen mit dem Verlust von
        Wissen, da jeweils große Teile der Sammlungen unwie-
        derbringlich sind. Es kommt darauf an, das vorhandene
        Wissen zu bewahren und zu erweitern.
        Deutschland hat sich international zur Erhaltung seiner
        naturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Sammlun-
        gen verpflichtet. Doch diesen Verpflichtungen wird die
        Politik von Schwarz-Gelb nicht gerecht. Sammlungen
        sind unverzichtbare Institutionen im Gefüge der globa-
        len Forschungsinfrastruktur; sie tragen darüber hinaus
        zur Ausbildung von Spezialisten bei und vermitteln na-
        turwissenschaftliches Wissen an die Öffentlichkeit, Inte-
        ressenverbände, Schülerinnen, Schüler und Studierende
        und sind somit wichtige Partner für den Naturschutz, die
        Raum- und Landschaftsplanung sowie für staatliche Be-
        hörden. Doch die personelle Besetzung der Forschungs-
        museen gestaltet sich zunehmend dramatisch; für viele
        Arbeitsgebiete und Organismengruppen gibt es bereits
        keine Spezialisten mehr. Daher bedarf es der Auflage ei-
        nes Förderprogramms und eines umfassenden Konzepts
        für wissenschaftliche Sammlungen analog zur Förder-
        ung von Sammlungen im Bereich der Kultur, zum Bei-
        spiel für die Rettung und dauerhafte Erhaltung akut
        bedrohter Sammlungen oder zur Modernisierung der
        Sammlungsinfrastruktur einschließlich der Digitalisie-
        rung und Stärkung der arbeitsteiligen Zusammenarbeit
        zwischen den Sammlungen. Hier muss die Bundesregie-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21323
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        (D)(B)
        rung deutlich aktiver werden und endlich die Zeichen
        der Zeit erkennen und ihre Verpflichtungen wahrneh-
        men. Indem sie eine zusätzliche Förderung der Taxono-
        mie als „nicht zielführend“ ablehnt, ignoriert sie die Be-
        deutung der Taxonomie und der taxonomischen
        Sammlungen für den Naturschutz, aber auch für die
        Wohlstandsentwicklung unserer Gesellschaft. Sie han-
        delt damit grob fahrlässig!
        Mit jeder aussterbenden Tier- und Pflanzenart gehen
        raffinierte technische Lösungen und andere Werte für
        den Menschen für immer verloren. Es war Konrad
        Adenauer, der sagte: „Es gibt auf Dauer keinen wirt-
        schaftlichen Fortschritt, ohne dass die Wissenschaft auch
        gepflegt wird.“ Das ist richtig, aber man muss dazu auch
        noch Frederic Vester zitieren, der davon sprach, dass es
        „Sinn mache, von der Natur zu lernen, einer Firma, die
        in 4 Milliarden Jahren nicht Pleite gemacht hat“. In die-
        sem Sinne müssen wir die wachsende Bedeutung der
        Biodiversitätsforschung nicht nur für den Erhalt der Ar-
        tenvielfalt, sondern auch für Ernährung, Land- und
        Forstwirtschaft, Klimaschutz, Medizin, Pharmazie, Bio-
        nik bis hin zur Vorbereitung internationaler Schutzab-
        kommen stärker anerkennen und besser fördern. Daher
        unterstützen meine Fraktion und ich diesen Antrag und
        stimmen ihm zu.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Einvernehmensher-
        stellung von Bundestag und Bundesregierung
        zur geplanten Einberufung einer Regierungs-
        konferenz und zum geplanten Beschluss der Re-
        gierungskonferenz über die Zustimmung zum
        Protokoll zu den Anliegen der irischen Bevölke-
        rung bezüglich des Vertrags von Lissabon
        hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
        ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
        i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenar-
        beit von Bundesregierung und Deutschem Bun-
        destag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        (Zusatztagesordnungspunkt 5)
        Michael Stübgen (CDU/CSU): Der Europäische Rat
        hat im Juni 2009 im Wege eines rechtsverbindlichen Be-
        schlusses der Staats- und Regierungschefs ein zusätzli-
        ches Protokoll für den Vertrag von Lissabon vereinbart,
        das sogenannte Irische Protokoll. Dieses Protokoll war
        ein wichtiges Element zur Vorbereitung des Referen-
        dums in Irland zum Vertrag von Lissabon im Jahr 2009.
        In dem Protokoll wird festgestellt, dass die Bestimmun-
        gen des Vertrags in den Bereichen Recht auf Leben, Fa-
        milie und Bildung, Steuerpolitik sowie der Gemeinsa-
        men Sicherheits- und Verteidigungspolitik, GSVP, im
        Einklang mit der irischen Verfassung stehen. Durch die
        Hinzufügung dieses Protokolls wird der Vertrag von Lis-
        sabon in seiner Substanz nicht geändert.
        Der Beschluss aus dem Jahre 2009 muss von allen
        Mitgliedstaaten nach ihren innerstaatlich vorgeschriebe-
        nen Verfahren ratifiziert werden. Vereinbart wurde, das
        Protokoll im zeitlichen Zusammenhang mit dem nächs-
        ten Beitrittsvertrag zu ratifizieren. Jetzt soll bereits eine
        Regierungskonferenz für den 16. Mai 2012 zur Ände-
        rung der Verträge einberufen werden. Der Beschluss der
        Regierungskonferenz über die Zustimmung zum Iri-
        schen Protokoll ist einstimmig zu fassen; das Protokoll
        bedarf der anschließenden Ratifizierung durch die Mit-
        gliedstaaten. Die dänische Ratspräsidentschaft hat den
        sehr engen Zeitplan damit begründet, dass die Regie-
        rungskonferenz zum Irischen Protokoll möglichst noch
        vor dem irischen Referendum zum Fiskalvertrag am 31.
        Mai 2012 abgeschlossen werden solle.
        Der Deutsche Bundestag hat gemäß den einschlägi-
        gen gesetzlichen Regelungen das Recht zur Stellung-
        nahme, von dem er heute Gebrauch macht. Vor der
        abschließenden Entscheidung im Rat soll die Bundesre-
        gierung gemäß § 10 Absatz 3 i.V.m. Absatz 2 EUZBBG
        Einvernehmen mit dem Bundestag herstellen. Ich will
        nochmals deutlich machen, dass wir der Auffassung
        sind, dass die Einvernehmensherstellung des Bundesta-
        ges eine konstitutive Voraussetzung für eine Zustim-
        mung der Bundesregierung ist. In anderen Worten be-
        deutet dies, dass der Vertreter der Bundesregierung im
        Rat nicht zustimmen darf, solange das Parlament nicht
        sein Einvernehmen erklärt hat. Deshalb ist jede Bundes-
        regierung gut beraten, rechtzeitig auf die Beteiligungs-
        rechte des Bundestages hinzuweisen und gegebenenfalls
        einen Parlamentsvorbehalt einzulegen.
        Mit Blick auf den engen Zeitplan musste der Antrag
        nun binnen weniger Tage erarbeitet, am Dienstag in den
        Koalitionsfraktionen abgestimmt werden und steht heute
        im Plenum zur Abstimmung.
        Ich will mit aller Deutlichkeit sagen, dass dieser Zeit-
        plan für eine angemessene Behandlung im Parlament ei-
        gentlich nicht ausreichend ist. Gerade in den Fragen, in
        denen es um die Änderung der europäischen Verträge
        geht – und tatsächlich handelt es sich beim Irischen Pro-
        tokoll um eine vereinfachte Vertragsänderung – muss der
        Deutsche Bundestag hinreichend Zeit zur Beratung ha-
        ben. Wegen des jetzt vorliegenden Zeitplans konnte zum
        Beispiel keine Beratung im für diese Fragen federfüh-
        renden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
        schen Union erfolgen.
        Es ist wirklich nur der Tatsache geschuldet, dass das
        Irische Protokoll bereits im Jahr 2009 anlässlich der Ra-
        tifizierung des Vertrags von Lissabon Gegenstand einer
        breiteren Diskussion war und deshalb in der Sache völlig
        unproblematisch ist, die uns hier interfraktionell zu einer
        raschen Verständigung kommen lässt. An dieser Stelle
        will ich mich ausdrücklich bei den Oppositionsfraktio-
        nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bedanken. Die
        schnelle Abstimmung untereinander und das Aufsetzen
        des Antrags als Vier-Fraktionen-Antrag zeigen, dass es
        im Deutschen Bundestag – jedenfalls unter allen demo-
        kratischen Fraktionen, die sich zu Europa bekennen – ei-
        nen Konsens jenseits des täglichen Parteienstreits gibt.
        Bedauerlich ist nur, dass die Fraktion Die Linke schon
        21324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
        (A) (C)
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        wieder nicht bereit war, sich zur Europäischen Union
        und Integration zu bekennen.
        Der Beschluss der Staats- und Regierungschefs aus
        dem Jahre 2009, der am Ende den Weg für die Zustim-
        mung Irlands zum Vertrag von Lissabon in einem zwei-
        ten Referendum geebnet hat, fand damals und findet
        heute die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion im
        Deutschen Bundestag. Das gilt auch für die heute erfor-
        derliche Einvernehmenserklärung des Deutschen Bun-
        destages. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem Antrag
        und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
        Alois Karl (CDU/CSU): Wenn wir uns heute mit der
        Einvernehmensherstellung des Deutschen Bundestages
        zu einem Antrag der Bundesregierung befassen, so ist
        dies fast eine Selbstverständlichkeit.
        Wir bewegen uns in einer Materie der europäischen
        Einigung, die es dem Deutschen Bundestag nach dem
        Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
        und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Euro-
        päischen Union zuweist, dass sich der Deutsche Bundes-
        tag mit dieser Materie beschäftigt, obwohl es sich ei-
        gentlich um ein „Geschäft der laufenden Verwaltung“
        handelt, eine Angelegenheit also, die die deutsche Bun-
        desregierung selbst erledigen könnte.
        Worum geht es? Die irische Regierung hat bereits im
        Jahre 2009 im Wege eines Anhangs zum Vertrag von
        Lissabon festgestellt, dass die Bestimmungen des Lissa-
        bon-Vertrages in verschiedenen Bereichen nicht mit der
        irischen Verfassung kollidieren. Inhalt dieses Irischen
        Protokolls war es insbesondere, dass es Anliegen der iri-
        schen Regierung war, festzuhalten, dass in Bereichen
        des Rechts auf Leben, der Familie und der Bildung, aber
        auch der Steuerpolitik wie auch der gemeinsamen Si-
        cherheits- und Verteidigungspolitik irisches Recht durch
        den Lissaboner-Vertrag nicht tangiert wird.
        Diesen Beschluss haben seinerzeit die Staats- und Re-
        gierungschefs gefasst. Es war wichtig, um dem damali-
        gen Referendum Irlands zum Vertrag von Lissabon zu
        einem Erfolg zu verhelfen.
        Erinnern wir uns zurück: Irland hatte in einem ersten
        Referendum im Jahre 2008 die Vertiefung der Europäi-
        schen Gemeinschaft abgelehnt, und zwar durch ein ne-
        gatives Votum der Bevölkerung, durch den negativen
        Ausgang eines Volksentscheides. Einen weiteren negati-
        ven Ausgang eines Referendums konnte man sich nicht
        leisten!
        Das Referendum von 2009 wurde durch die Hinzufü-
        gung dieses Irischen Protokolls gewiss gestützt; es ging
        positiv aus und der Vertrag von Lissabon wurde in Irland
        angenommen. Das Irische Protokoll selbst hat den Ver-
        trag von Lissabon natürlich in seiner Substanz in gar kei-
        ner Weise berührt.
        Jetzt geht es darum, dass die EU-Ratspräsidentschaft
        zu einer Regierungskonferenz einlädt. Dabei soll die Re-
        gierungskonferenz über die Zustimmung zum Irischen
        Protokoll, also zu den genannten Anliegen der irischen
        Bevölkerung, einen einstimmigen Beschluss fassen.
        Auch dieser jetzige Zeitplan ist nicht ohne Absicht. Die
        jetzt beabsichtigte Beschlussfassung liegt kurz vor dem
        31. Mai 2012, an dem in Irland wiederum ein Referen-
        dum abgehalten werden soll, diesmal zum Fiskalvertrag.
        Wir als Koalitionsfraktion unterstützen ausdrücklich
        den Fiskalvertrag. Es ist für uns selbstverständlich, dass
        wir das unsere dazu tun, um diesem Fiskalvertrag so-
        wohl in Deutschland als auch in den anderen europäi-
        schen Ländern zum Durchbruch zu verhelfen.
        Aus diesem Grunde stimmen wir zu, dass wir als
        Deutscher Bundestag unser Einvernehmen dafür ertei-
        len, dass die Bundesregierung im Europäischen Rat ei-
        nem Beschluss zustimmt, der entsprechend dem Irischen
        Protokoll dem Anliegen der irischen Bevölkerung Rech-
        nung trägt. Wir sind dabei einverstanden, dass es des-
        sentwegen keinen Konvent einzuberufen braucht. Wir
        geben selbstverständlich unser Einvernehmen dafür,
        dass der Vertreter der Bundesregierung in der entspre-
        chenden Regierungskonferenz am 16. Mai 2012 sich an
        einem dementsprechenden Beschluss beteiligt. Wir se-
        hen es für richtig an, dass dann die Bundesregierung den
        Deutschen Bundestag wieder informiert.
        Abschließend sei festgehalten, dass es schade ist, dass
        die Oppositionsparteien, die ursprünglich den Antrag
        mitgetragen haben, jetzt hiervon Abstand genommen ha-
        ben. Auch sie sollten ein Interesse daran haben, dass der
        Fiskalvertrag möglichst schnell verabschiedet wird, so-
        wohl im Deutschen Bundestag – und auch im Bundesrat –
        als auch in den anderen europäischen Ländern. Es ist
        schade, dass die Oppositionsparteien nicht die Größe ha-
        ben, dem jetzigen Antrag zuzustimmen.
        Nichtsdestotrotz wird dieser Antrag der Regierung
        hier eine Mehrheit finden, und das zu Recht.
        Michael Roth (Heringen) (SPD): §10 des Gesetzes
        über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
        Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäi-
        schen Union, EUZBB, sieht für Vorschläge und Initiati-
        ven zur Aufnahme von Verhandlungen zu Änderungen
        der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union
        neben den geltenden Unterrichtungspflichten und dem
        Recht zur Stellungnahme gemäß § 9 EUZBBG vor, dass
        vor der abschließenden Entscheidung im Rat die Bun-
        desregierung Einvernehmen mit dem Deutschen Bun-
        destag herstellen soll.Dieses Einvernehmen wollen wir
        heute im Deutschen Bundestag mit dem Antrag der
        Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
        Die Grünen herstellen.
        Der Europäische Rat hat im Juni 2009 ein zusätzli-
        ches Protokoll zum Anliegen der irischen Bevölkerung
        wegen des Vertrags von Lissabon rechtsverbindlich ver-
        einbart. Im sogenannten Irischen Protokoll wird festge-
        halten, dass der Lissabon-Vertrag bezüglich „Recht auf Le-
        ben, Familie und Bildung“, „Steuerwesen“ und „Sicherheit
        und Verteidigung“ im Einklang mit der irischen Verfas-
        sung steht. Der Vertrag von Lissabon berührt insbeson-
        dere nicht Irlands traditionelle Politik der militärischen
        Neutralität. Es bleibt Sache der Mitgliedstaaten, mit na-
        tionalen Rechtsvorschriften an einer ständigen Zusam-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012 21325
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        menarbeit teilzunehmen oder sich an der Europäischen
        Verteidigungsagentur zu beteiligen.
        Ursprünglich war geplant, das Protokoll beim Beitritt
        Kroatiens mit zu verabschieden. Die irische Regierung
        hat jedoch gegenüber der dänischen Ratspräsidentschaft
        den Wunsch geäußert, noch vor dem für den 31. Mai ge-
        planten Referendum zum Fiskalvertrag die Ratifizierung
        des Protokolls abzuschließen.
        Daraus resultiert der sehr enge Zeitplan, mit dem wir
        alle konfrontiert worden sind. Ärgerlich ist allerdings die
        sehr späte Zuleitung der Bundesregierung. Erst mit
        Schreiben vom 4. Mai, eingegangen am 7. Mai, hat
        Staatsminister Link den Bundestagspräsidenten um die
        Einvernehmensherstellung gebeten.
        Der Europäische Rat hatte bereits am 23. Oktober
        2011 die Anhörung des Europäischen Parlaments und
        der Kommission veranlasst und vorgeschlagen, auf die
        Einberufung eines Konvents zu verzichten. Das Europäi-
        sche Parlament hat am 18. April eine positive Stellung-
        nahme abgegeben, die Kommission am 7. Mai. Schon
        am 16. Mai soll eine Regierungskonferenz abgehalten
        werden.
        Die SPD-Fraktion begrüßt, dass die bereits vereinbar-
        ten Klarstellungen zum Lissabon-Vertrag nun auch ver-
        bindlich für die irische Bevölkerung festgehalten wer-
        den. Daher werden wir dem neuen Zeitplan, dem
        Verzicht auf einen Konvent und der Einvernehmensher-
        stellung mit der Bundesregierung nach § 10 EUZBBG
        zustimmen.
        Joachim Spatz (FDP): Die Staats- und Regierungs-
        chefs haben auf dem Europäischen Rat im Juni 2009
        durch einen rechtsverbindlichen Beschluss ein zusätzli-
        ches Protokoll für den Vertrag von Lissabon vereinbart,
        das sogenannte Protokoll zu den Anliegen der irischen
        Bevölkerung bezüglich des Vertrages von Lissabon. Da-
        rin ist festgehalten, dass die Bestimmungen des Vertra-
        ges sowohl in den Bereichen Recht auf Leben, Familie
        und Bildung, Steuerpolitik als auch in der Gemeinsamen
        Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Einklang mit
        der irischen Verfassung stehen. Durch die Hinzufügung
        des irischen Protokolls wird der Vertrag von Lissabon
        substanziell nicht geändert.
        Ursprünglich wurde vereinbart, dass das irische Pro-
        tokoll im zeitlichen Zusammenhang mit dem nächsten
        Beitrittsvertrag ratifiziert wird. Aus dem nun sehr engen
        Zeitplan, mit einer geplanten Regierungskonferenz zur
        Änderung der Verträge bereits am 16. Mai 2012, ergibt
        sich, dass das irische Protokoll noch vor dem anstehen-
        den Referendum in Irland zum Fiskalvertrag am 31. Mai
        beschlossen werden soll und somit im Anschluss den
        Mitgliedstaaten zur Ratifikation zugeleitet werden kann.
        Die für die Zustimmung des deutschen Vertreters bei
        der Regierungskonferenz notwendige Einvernehmens-
        herstellung zwischen Deutschem Bundestag und Bun-
        desregierung konnte trotz der kurzen Frist erreicht wer-
        den. Dabei hat sich wieder einmal bestätigt, dass der
        Deutsche Bundestag auch unter engen zeitlichen Vorga-
        ben dazu in der Lage ist, seine Beteiligungsrechte in An-
        gelegenheiten der Europäischen Union umfänglich
        wahrzunehmen.
        Sowohl der Deutsche Bundestag als auch die Bundes-
        regierung unterstützen das Ziel, dem irischen Volk die
        bereits politisch auf Ebene der Staats- und Regierungs-
        chefs vereinbarten Klarstellungen zum Vertrag von Lis-
        sabon zu geben. Am 31. Mai 2012 findet in Irland das
        Referendum zum Fiskalvertrag statt. Die FDP-Bundes-
        tagsfraktion sieht im Fiskalvertrag einen entscheidenden
        Pfeiler zur Stabilisierung unserer Gemeinschaftswäh-
        rung und einen großen Schritt zu mehr Haushaltsdiszi-
        plin in Europa. Irland befindet sich seit geraumer Zeit
        auf einem erfolgreichen Konsolidierungskurs. Der Fis-
        kalvertrag stellt unserer Ansicht nach eine gelungene
        vertragliche Begleitung der irischen Reformanstrengun-
        gen dar. Wir sind der Überzeugung, dass die im Irischen
        Protokoll gegenüber der irischen Bevölkerung formu-
        lierten Klarstellungen eine positive Wirkung auf andere
        politische Vorhaben auf europäischer Ebene haben, wie
        eben der erfolgreichen Ratifizierung des Vertrags über
        Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirt-
        schafts- und Währungsunion.
        Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Das Irische Proto-
        koll, welches den vorliegenden Antrag erst nötig macht,
        wurde aufgelegt, nachdem die Iren in einem ersten Refe-
        rendum den Vertrag von Lissabon abgelehnt hatten. Um
        ihnen die Zustimmung in einem zweiten Referendum zu
        „erleichtern“, wurden in besagtem Protokoll diverse
        politische Erklärungen fixiert, welche unter anderem be-
        sagen, dass das Recht auf Leben in Irland durch die EU-
        Grundrechtecharta nicht berührt wird, weshalb das in Ir-
        land geltende Abtreibungsverbot aufrechterhalten wer-
        den kann. Außerdem soll mit ihm sichergestellt werden,
        dass die irische Dumping-Steuerpolitik durch die EU-
        Verträge nicht beeinträchtigt wird. Beides sind unserer
        Auffassung nach höchst kritikwürdige Punkte; positiv
        sehen wir lediglich die politische Klarstellung, dass die
        irische Neutralität durch die Gemeinsame Außen- und
        Sicherheitspolitik und die Europäische Sicherheits- und
        Verteidigungspolitik nicht ausgehebelt wird. Doch es
        soll uns jetzt hier gar nicht weiter um die inhaltliche Kri-
        tik des Protokolls gehen, sondern das Verfahren zu sei-
        ner Inkorporation in den Vertrag von Lissabon und der
        Zweck dieses Vorgehens stehen im Vordergrund unserer
        Kritik.
        Die mit dem vorliegenden Antrag von vier Fraktionen
        gewünschte Herstellung des Einvernehmens zwischen
        Deutschem Bundestag und Bundesregierung nach § 10
        EUZBBG lehnen wir ab. Dieser fordert nämlich, dem
        Beschluss des Europäischen Rates, eine Änderung der
        EU-Verträge ohne die Einberufung eines Konvents her-
        beizuführen, zuzustimmen und stattdessen ein Mandat
        für das erwünschte Format einer Regierungskonferenz zu
        erteilen. Damit aber – und das ist Ihnen allen hier klar –
        wird versucht, mindestens die Iren vorzuführen. Nach-
        dem deren Zustimmung zum Vertrag von Lissabon mit
        dem Protokoll erkauft wurde, soll es nun offenbar wie-
        der in diesem Sinne zur Anwendung kommen, denn
        seine Inkorporation war eigentlich im Zusammenhang
        mit dem nächsten Beitrittsvertrag mit Kroatien geplant.
        21326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2012
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        Doch Rat und Kommission scheinen die Entscheidung
        des irischen Volkes zum Fiskalvertrag zu fürchten. Mit
        Blick auf die Wahlergebnisse vom Sonntag, wo sowohl
        in Frankreich als auch in Griechenland die Spardiktate
        der Troika und der sie tragenden jeweiligen nationalen
        Regierungen eindeutig abgewählt wurden, mutet ein
        Leugnen dieses Zusammenhangs geradezu lächerlich an.
        Die EU, der Raum von „Recht, Demokratie und Frei-
        heit“, hat deshalb kein Problem damit, in bester vorauf-
        klärerischer Manier mit der Zustimmung zum Irischen
        Protokoll Entgegenkommen zu signalisieren, nur um die
        Iren mit dem Fiskalvertrag über ein weitaus höheres
        Stöckchen springen zu lassen!
        All denen in diesem Hohen Haus, die sich nun auf den
        Standpunkt stellen, dass ihnen irische Befindlichkeiten
        keine schlaflosen Nächte bereiten, sollte aber ungleich
        mehr zu denken geben, dass mit dem hier gewählten
        Verfahren die parlamentarische Entscheidungsfindung
        ausgehebelt und damit demokratische Mitwirkung mas-
        siv eingeschränkt wird.
        Der Bundestag wurde am Montag früh darüber infor-
        miert, dass eine Regierungskonferenz in der folgenden
        Woche (16. Mai) einberufen werden soll. Im Schweins-
        galopp soll der Europäische Rat die dafür im Vorfeld
        erforderlichen Beschlüsse im schriftlichen Umlaufver-
        fahren fassen. Damit werden eine ausreichende parla-
        mentarische Befassung, die für die demokratische Legi-
        timation jeder Vertragsänderung – und sei sie noch so
        marginal, und auch wenn Sie jetzt darauf verweisen,
        dass das Protokoll selbst hervorhebt, dass sein Inhalt die
        Regelungen des Lissabon-Vertrags nicht tangiert – un-
        verzichtbar ist, sowie die öffentliche Debatte verhindert.
        Und bitte bedenken Sie: Mit dem vorliegenden An-
        trag erklären Sie von den anderen vier Fraktionen Ihre
        Zustimmung zu diesem skandalösen Verfahren und tra-
        gen damit zur Schaffung eines Präzedenzfalls bei.
        Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Mit dem vorliegenden Antrag nimmt der Deutsche Bun-
        destag seine Beteiligungsrechte in Angelegenheiten der
        Europäischen Union war. Der Deutsche Bundestag stellt
        mit der Bundesregierung sein Einvernehmen her zur ge-
        planten Einberufung einer Regierungskonferenz und
        zum geplanten Beschluss der Regierungskonferenz über
        die Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen der iri-
        schen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissa-
        bon. Was zunächst sehr technisch klingt, hat folgenden
        Hintergrund: Bereits im Juni 2009 hat der Europäische
        Rat ein zusätzliches sogenanntes Irisches Protokoll für
        den Vertrag von Lissabon vereinbart. In diesem Proto-
        koll wird festgeschrieben, dass die Bestimmungen des
        Vertrags von Lissabon in den Bereichen Recht auf Le-
        ben, Familie und Bildung, Steuerwesen sowie Sicherheit
        und Verteidigung im Einklang mit der irischen Verfas-
        sung stehen. Die Vereinbarung des Europäischen Rates
        war ein wichtiges, wenn nicht sogar entscheidendes Ele-
        ment zur Vorbereitung des irischen Referendums über
        den Vertrag von Lissabon im Jahr 2009.
        Nachdem sowohl das Europäische Parlament als auch
        die Europäische Kommission zugestimmt haben, für den
        Beschluss des vorliegenden Irischen Protokolls eine Re-
        gierungskonferenz einzuberufen, soll nun auf der wahr-
        scheinlich am 16. Mai 2012 stattfindenden Regierungs-
        konferenz lediglich das beschlossen werden, was bereits
        vor drei Jahren, im Juni 2009, auf europäischer Ebene
        einstimmig vereinbart wurde. Auch wenn die Bundes-
        regierung mit der Einvernehmensherstellung früher auf
        den Bundestag hätte zukommen müssen, liegt es uns
        fern, einen auf europäischer Ebene unter Beteiligung al-
        ler EU-Institutionen einhellig vereinbarten Fahrplan zu
        torpedieren. Deswegen gibt auch meine Fraktion der
        Bundesregierung grünes Licht für das weitere geplante
        Vorgehen. Unser Ja zur Einvernehmensherstellung hat
        aber nichts, rein gar nichts mit unserer Bewertung des
        Fiskalvertrags zu tun.
        An dieser Stelle deshalb nur noch eine kleine, aber
        dennoch wichtige Randnotiz. Zugegeben, die zweifache
        – und ich betone: zweifache – Einvernehmensherstel-
        lung von Bundestag und Bundesregierung zur geplanten
        Einberufung einer Regierungskonferenz und zum ge-
        planten Beschluss der Regierungskonferenz über die Zu-
        stimmung zum Irischen Protokoll hört sich nach einer
        rein formalen Ausführung der Parlamentsrechte gemäß
        § 10 des EU-Beteiligungsgesetzes, EUZBBG, an. Aber
        es ist ein wenig mehr als das. Die zweifache Einverneh-
        mensherstellung korrigiert eine Fehlinterpretation des
        EUZBBG seitens der Koalitionsfraktionen. Noch bei der
        Einvernehmensherstellung über die Änderung des
        Art. 136 Abs. 3 AEUV hinsichtlich eines Stabilitätsme-
        chanismus für die Euro-Staaten war meine Fraktion als
        Einzige der Auffassung, dass der Bundestag nicht nur
        zum Verhandlungsergebnis, sondern ebenso zum Ver-
        handlungsmandat sein Einvernehmen erteilen muss. Ich
        freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den
        Koalitionsreihen, dass Sie auf den grünen Kurs ein-
        geschwenkt sind und – zumindest was diesen Punkt be-
        trifft – für starke Parlamentsrechte des Deutschen Bun-
        destages im Geiste des Lissabon-Urteils eintreten. Wenn
        Sie nun an unserer Seite auch noch Mitkämpfer für ange-
        messene Parlamentsrechte beim Fiskalvertrag werden
        würden, könnte die in der Vergangenheit leider häufig
        vollzogene Missachtung des Parlaments seitens der Bun-
        desregierung ein wenig geheilt werden. Ich bin gespannt,
        ob Sie als Parlamentarier mutig genug sein werden, um
        sich selbst starke Parlamentsrechte zu geben, oder ob Sie
        hierzu tatsächlich auf ein Urteil aus Karlsruhe warten
        müssen.
        178. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3Regierungserklärung zum G 8- und zum NATO-Gipfel
        TOP 4Kooperation bei Bildung und Wissenschaft
        TOP 36, ZP 2 Überweisungen im vereinfachten Verfahren,
        TOP 37, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 4 Aktuelle Stunde zu „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“
        TOP 5EU-Operation Atalanta
        TOP 6 Individuelle Gesundheitsleistungen
        TOP 7 KFOR-Einsatz
        TOP 8Besteuerung von Kapitalerträgen und Managerbezüge
        TOP 10Förderung von unkonventionellem Erdgas
        TOP 33Enquete „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
        TOP 9 Umsetzung des Bologna-Prozesses
        TOP 12Entwicklungspolitik der Europäischen Union
        TOP 11 Tierschonende Bekämpfung der Schweinepest
        TOP 14 Kooperation von Hochschulen undUnternehmen
        TOP 13 Forschung für zivile Sicherheit
        TOP 16 Reform der Pflegeversicherung
        TOP 15 Deutsches Kulturerbe im östlichen Europa
        ZP 5 Irisches Protokoll zum Vertrag von Lissabon
        TOP 17 Schutz der biologischen Vielfalt
        TOP 18 Europäische Förderung der Atomenergie
        TOP 19 Schutz sozialer Errungenschaften in der EU
        TOP 20 Antibiotikamissbrauch in der Tierhaltung
        TOP 21 Umsetzung der UN-Resolution 1325
        TOP 22 Müllverbrennung und Abfallmitverbrennung
        TOP 23 Versandhandel rezeptfreier Arzneimittel
        TOP 24 UN-Sozialpakt
        TOP 25 Eishockey-Weltmeisterschaft in Belarus 2014
        TOP 26 Extremismusklausel in Programmen gegenRechtsextremismus
        TOP 27 Teilhabe am Sport für Menschen mitBehinderung
        TOP 28 Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zurIntersexualität
        TOP 29 Visa für Menschen aus Russland und Osteuropa
        TOP 30 Ilse Stöbe
        Anlagen