Protokoll:
17081

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 81

  • date_rangeDatum: 16. Dezember 2010

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:50 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/81 Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 8936 D Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 8913 C 8915 A 8917 C 8919 A 8920 C 8921 A 8921 C 8922 D 8924 A 8925 A 8937 B 8938 C 8939 C 8939 D 8940 B 8940 D 8941 D 8943 B 8943 D Deutscher B Stenografisc 81. Sit Berlin, Donnerstag, de I n h a Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 24, 5 b und 27 b . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen: Fort- schritte und Herausforderungen in Afgha- nistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 8907 A 8908 B 8908 B 8908 C 8908 C 8911 D Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 8926 B 8927 B 8928 B undestag her Bericht zung n 16. Dezember 2010 l t : Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute Arbeit in Europa stärken – Den gesetzlichen Min- destlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen (Drucksache 17/4038) . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 8929 C 8929 D 8931 D 8932 D 8933 D 8934 D Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 8947 A 8948 D 8949 C II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsra- tes der Kreditanstalt für Wiederaufbau ge- mäß § 7 Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzes über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (Drucksachen 17/4176, 17/4177) . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Richtlinien zur konzerninternen Ent- sendung und zur Saisonarbeit sozial ge- recht gestalten (Drucksache 17/4190) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinatio- nale Unternehmen stärken (Drucksache 17/4196) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992 Ge- schiedenen (Drucksache 17/4195) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 42: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung der Dienstleistungs- richtlinie im Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsicherheitsgesetz und zur Änderung des Verwaltungskos- tengesetzes (Drucksache 17/3983) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Für einen nach- haltigen Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems in Afghanistan (Drucksache 17/3866) . . . . . . . . . . . . . . . . 8951 C 8953 A 8954 A 8954 A 8955 A 8956 A 8957 A 8957 B 8956 C 8956 D c) Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin Müller (Köln), Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den frie- denspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen Dienstes jetzt umsetzen (Drucksache 17/4043) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Versorgungslücke nach Krankenhaus- aufenthalt und ambulanter medizini- scher Behandlung schließen (Drucksache 17/2924) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 43: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Post- und Telekommunikationssicher- stellungsrechts und zur Änderung tele- kommunikationsrechtlicher Vorschrif- ten (Drucksachen 17/3306, 17/4054) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann, Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Existenz- gründungen aus Forschung und Wis- senschaft fördern – Für einen starken deutschen Innovationsstandort (Drucksachen 17/3480, 17/4115) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mit- telmeer-Luftverkehrsabkommen vom 12. Dezember 2006 zwischen der Euro- päischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Kö- nigreich Marokko andererseits (Ver- tragsgesetz Europa-Mittelmeer-Luft- verkehrsabkommen – Euromed- LuftvAbkG-Marok) (Drucksachen 17/3121, 17/4181) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Dr. Eva Högl, Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra- 8956 D 8957 A 8957 B 8957 C 8957 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 III tes zur Verhütung und Bekämpfung von Menschenhandel und zum Opfer- schutz sowie zur Aufhebung des Rah- menbeschlusses 2002/629/JI des Rates (Ratsdok. 8157/10) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Arti- kel 23 Absatz 3 des Grundgeset- zes Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz stärken (Drucksachen 17/2344, 17/4247) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- ordnung: Änderung der Geschäftsord- nung des Deutschen Bundestages hier: Beratungsfrist bei Beschlussemp- fehlungen des Vermittlungsaus- schusses (§ 90 GO-BT) (Drucksache 17/4166) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zu- geleiteten Streitsachen vor dem Bundes- verfassungsgericht (Drucksache 17/ 4240) . . . . . . . . . . . . . . . g)–o) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188 und 189 zu Petitionen (Drucksachen 17/4020, 17/4021, 17/4022, 17/4023, 17/4024, 17/4025, 17/4026, 17/4027, 17/4028) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a)–j) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersicht 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198 und 199 zu Petitionen (Drucksachen 17/4215, 17/4216, 17/4217, 17/4218, 17/4219, 17/4220, 17/4221, 17/4222, 17/4223, 17/4224) . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der CDU/CSU und der FDP: Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún . . . . . . . . . Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8958 B 8958 C 8958 C 8958 D 8959 C 8960 C 8960 C 8961 C Gudrun Kopp, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- digungsausschusses zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 2009 (51. Bericht) (Drucksachen 17/900, 17/3738) . . . . . . . . . . . Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . Karin Evers-Meyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Große Anfrage der Abgeordneten Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Engagement- politik im Dialog mit der Bürgergesell- schaft (Drucksache 17/3712) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8962 D 8964 B 8965 A 8966 A 8968 C 8969 D 8970 D 8972 A 8973 A 8974 A 8974 D 8976 A 8976 B 8978 B 8980 A 8981 D 8983 B 8984 B 8985 C 8986 C 8986 D 8988 B 8989 C 8990 C 8991 D 8993 A 8993 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuer- hinterziehung (Schwarzgeldbekämpfungs- gesetz) (Drucksache 17/4182) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa (Drucksachen 17/1168, 17/3589) . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwen- ningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- setzes zur Änderung des Strafgesetz- 8994 D 8996 A 8996 C 8997 D 8998 A 8999 B 9001 C 9002 D 9003 D 9005 A 9006 A 9007 D 9008 A 9008 D 9009 C 9011 B 9012 D 9013 C 9013 D 9014 C 9015 C 9016 B buchs – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (Drucksache 17/4143) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches (… Strafrechtsänderungsgesetz – … StRÄndG) (Drucksache 17/2165) . . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für Fairness beim Be- rufseinstieg – Rechte der Praktikanten und Praktikantinnen stärken (Drucksache 17/3482) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Faire Be- dingungen in allen Praktika garantie- ren (Drucksache 17/4044) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen (Drucksache 17/4186) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9017 D 9018 A 9018 A 9019 A 9020 B 9022 B 9023 A 9024 B 9024 C 9024 C 9024 D 9026 A 9026 D 9027 C 9028 C 9029 B 9029 C 9030 D 9031 B 9032 D 9034 B 9034 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 V Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit: Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfrei- heit – 22. Tätigkeitsbericht – (Drucksachen 16/12600, 17/790 Nr. 5, 17/4179) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Zukunftsfähigkeit der Was- ser- und Schifffahrtsverwaltung sichern (Drucksache 17/4030) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatver- triebenen – Aussöhnung vollenden (Drucksache 17/4193) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . 9036 B 9036 B 9038 B 9039 D 9041 B 9042 B 9043 B 9043 C 9045 A 9046 A 9046 D 9048 C 9049 D 9051 C 9051 D 9052 D 9053 D 9055 B 9057 A 9057 D Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Assistenzpflege auf Einrichtungen der sta- tionären Vorsorge und Rehabilitation (Drucksache 17/3746) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Erika Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Freie und gleiche Wahlen in Belarus einfordern – Menschenrechtslage verbessern (Drucksache 17/4194) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: a) Antrag der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Winfried Hermann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Durchset- zung und Evaluation des Reiserechts verbessern (Drucksache 17/4041) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Reisende besser schüt- zen (Drucksachen 17/2428, 17/4019) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und der FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Einset- zung eines Nationalen Normenkontrollra- tes (Drucksachen 17/1954, 17/4241) . . . . . . . . . . 9059 C 9059 C 9060 B 9061 B 9062 B 9063 C 9064 C 9066 A 9066 B 9066 B 9066 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 Tagesordnungspunkt 20: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ener- giesteuer- und des Stromsteuergesetzes (Drucksachen 17/3055, 17/3307, 17/4234) – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/4235) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterent- wickeln (Drucksache 17/4187) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsab- kommen vom 29. April 2008 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Repu- blik Serbien andererseits (Drucksache 17/3963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Günter Gloser (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenfor- 9067 A 9067 B 9067 D 9068 A 9069 B 9070 B 9071 D 9072 C 9073 C 9074 C 9075 C 9075 C 9076 B 9077 B 9078 B 9079 A 9080 A schung – Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts ITER (Drucksache 17/3483) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu- satzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkri- minalität betreffend die Kriminalisie- rung mittels Computersystemen began- gener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art (Drucksachen 17/3123, 17/4123) . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rah- menbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrecht- lichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und zur Um- setzung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computer- systemen begangener Handlungen ras- sistischer und fremdenfeindlicher Art (Drucksachen 17/3124, 17/4123) . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- ten Karin Binder, Ralph Lenkert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ungefährliche und klimascho- 9081 A 9081 A 9082 C 9083 C 9084 C 9085 B 9086 A 9086 B 9086 C 9087 D 9089 B 9090 A 9091 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 VII nende Kältemittel in Kfz-Klimaanlagen verwenden (Drucksachen 17/3432, 17/4070) . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 23. Juni 2010 zur Änderung des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, das dem Vertrag über die Europäische Union, dem Vertrag über die Arbeitsweise der Eu- ropäischen Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemein- schaft beigefügt ist (Drucksachen 17/3357, 17/4244) . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich machen (Drucksache 17/3863) . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9092 A 9092 B 9093 D 9094 D 9095 C 9096 A 9096 D 9097 A 9098 A 9098 D 9099 B 9099 D 9100 C 9101 C 9101 C 9102 A 9103 C 9104 C 9105 C 9106 B Tagesordnungspunkt 30: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Eu- roparats vom 16. Mai 2005 zur Verhütung des Terrorismus (Drucksachen 17/3801, 17/4124) . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Antrag der Abgeordneten Katja Mast, Anette Kramme, Angelika Krüger-Leißner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Echte Perspektiven für Altbewerberinnen und Altbewerber schaffen – Ausbildungs- bonus bis 2013 verlängern (Drucksache 17/4191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Insolvenzgeld – Umlagekasse nicht im Bundeshaushalt vereinnahmen (Drucksache 17/4188) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9107 B 9107 C 9108 C 9109 B 9109 C 9110 C 9111 C 9111 C 9112 B 9113 B 9114 B 9115 B 9116 A 9116 C 9117 B 9117 B 9118 C 9119 A 9119 D 9120 B 9121 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu dem Vorschlag der Europäischen Kommis- sion für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedin- gungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung (KOM (2010) 378 endg.; Ratsdok. 12211/10) hier: Stellungnahme des Deutschen Bun- destages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Ab- satz 4 des Gesetzes über die Zusam- menarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Ange- legenheiten der Europäischen Union Vorschlag der Europäischen Kom- mission zur Konzernentsenderichtli- nie zurückweisen (Drucksache 17/4039) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen (Drucksache 17/3686) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: zum Vorschlag der Europäischen Kommis- sion für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedin- gungen für die Einreise und den Aufenthalt 9121 C 9121 A 9123 B 9124 B 9125 A 9126 A 9126 D 9127 A 9128 B 9128 B 9129 A 9130 A von Drittstaatsangehörigen zwecks Aus- übung einer saisonalen Beschäftigung (KOM (2010) 379 endg.; Ratsdok. 12208/10) hier: Stellungnahme des Deutschen Bun- destages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Ab- satz 4 des Gesetzes über die Zu- sammenarbeit von Bundesregie- rung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Vorschlag der Europäischen Kom- mission zur Saisonarbeiterrichtlinie zurückweisen (Drucksache 17/4045) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Überprüfung und Neuordnung der Forschungsfinanzierung – Transparente und verbindliche Verfahren sicherstellen – Wissenschaftsgerechte Strukturen weiter- entwickeln (Drucksache 17/3864) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: 60 Jahre Charta der deutschen Hei- matvertriebenen – Aussöhnung vollenden (Tagesordnungspunkt 15) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 9131 A 9131 A 9132 D 9133 D 9134 B 9136 A 9137 A 9137 A 9138 C 9139 C 9140 A 9141 C 9142 C 9143 A 9143 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 IX Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Freie und gleiche Wahlen in Belarus einfordern – Menschenrechtslage ver- bessern (Tagesordnungspunkt 17) Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts verbessern – Beschlussempfehlung und Bericht: Rei- sende besser schützen (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Einsetzung eines Natio- nalen Normenkontrollrates (Tagesordnungs- punkt 19) Kai Wegner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergeset- zes (Tagesordnungspunkt 20) Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 9144 D 9145 D 9146 D 9148 A 9148 C 9149 C 9156 D 9158 C 9159 D 9160 B 9161 B 9162 B Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9150 B 9151 B 9152 C 9154 B 9155 C Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9163 B 9164 B 9165 C 9166 C 9167 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8907 (A) (C) (D)(B) 81. Sit Berlin, Donnerstag, de Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9143 (A) (C) (D)(B) sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO schlossen hat, finde ich schon seltsam. Ich gehe auch da- von aus, dass Herr Neumann die Gelder nicht konzep- Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 16.12.2010 Brunkhorst, Angelika FDP 16.12.2010 Bülow, Marco SPD 16.12.2010 Burchardt, Ulla SPD 16.12.2010 Friedhoff, Paul K. FDP 16.12.2010 Haibach, Holger CDU/CSU 16.12.2010* Hempelmann, Rolf SPD 16.12.2010 Hintze, Peter CDU/CSU 16.12.2010 Lötzer, Ulla DIE LINKE 16.12.2010 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.12.2010 Nord, Thomas DIE LINKE 16.12.2010 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16.12.2010 Özoğuz, Aydan SPD 16.12.2010 Pols, Eckhard CDU/CSU 16.12.2010 Rix, Sönke SPD 16.12.2010 Schlecht, Michael DIE LINKE 16.12.2010 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 16.12.2010** Scholz, Olaf SPD 16.12.2010 Schreiner, Ottmar SPD 16.12.2010 Dr. Schwanholz, Martin SPD 16.12.2010 Süßmair, Alexander DIE LINKE 16.12.2010 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 16.12.2010 Ziegler, Dagmar SPD 16.12.2010 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden (Tagesordnungspunkt 15) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Ich verstehe nicht, warum Sie diesen Antrag jetzt vorlegen. Der 60. Jahrestag der „Charta der Heimatvertriebenen“ war im August. Mittlerweile ist Dezember. Sie hatten vier Monate Zeit, einen ordentlichen Antrag zu verfassen. Das hier ist ein unbedachter Schnellschuss – als hätte je- mand festgestellt: Das Jahr geht plötzlich zu Ende. Sie hätten den Antrag erst einmal in Ruhe in Ihren Fraktio- nen beraten sollen, bevor Sie ihn auf die Tagesordnung im Plenum setzen, wie es den normalen parlamentari- schen Gepflogenheiten entspricht. Ich verstehe auch nicht, warum Herr Neumann und Herr Westerwelle in ihren Fraktionen nicht eingeschrit- ten sind. Der Antrag wirkt, als hätten wir die letzten Jahre nicht über das Thema debattiert, als hätte es keinen Parlamentsbeschluss zur Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ gegeben, als wäre die Regierung untätig geblieben. Es ist eine bizarre Situation: Ich als Oppositionspoli- tiker muss Ihnen erklären, was Ihre Regierung bisher un- ternommen hat und welche Position Ihre Minister vertre- ten. Aber da es in Ihren Fraktionen bisher niemand ge- macht hat, übernehme ich das jetzt: Erstens: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh- nung“ muss nicht „vorangebracht“ werden, wie es in Ih- rem Antrag heißt. Sie besteht bereits und hat in diesem Jahr – endlich – konzeptionelle Eckpunkte für die Dau- erausstellung vorgelegt. Die Stiftung erhält jährlich 2,5 Millionen Euro. Im nächsten Jahr wird es einen Ar- chitektenwettbewerb zur baulichen Gestaltung des Deutschlandhauses geben. Das hat der BKM im Septem- ber dieses Jahres mitgeteilt. – Was die Stiftung wirklich „voranbringen“ würde, wäre der Rückzug von Arnold Tölg und Hartmut Saenger, also der beiden kritisierten stellvertretenden Stiftungsratsmitglieder des BdV. So ließe sich der Zentralrat der Juden vielleicht wieder für eine Mitarbeit gewinnen. Zweitens: Die Bundesregierung hat ein akademisches Förderprogramm zur „Erhaltung und Auswertung deut- scher Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ auf- gelegt und dafür im nächsten Jahr 800 000 Euro zur Ver- fugung gestellt. Bis 2014 sollen es 3,2 Millionen Euro sein. – Ich halte das für übertrieben, weil ich den postu- lierten Nachholbedarf in der Forschung nicht erkennen kann. – Aber dass die Koalition die eigene Regierung auffordert, mehr für die Forschung in diesem Bereich zu tun, nachdem sie gerade erst ein Förderprogramm be- 9144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) tionslos vergeben wird, wie es ihm die eigene Fraktion irgendwie unterstellt. Drittens: Sowohl Bundestagspräsident Norbert Lammert als auch Minister Thomas de Maizière haben sich gegen den Vorschlag gewandt, den 5. August zum bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung zu erheben. Für den Bundestagspräsidenten gibt es in- zwischen so viele routinemäßige Jahrestage, dass der „eigentliche Zweck“ solcher Gedenktage damit „eher versperrt als wirklich akzentuiert“ werde. Aus Sicht des Innenministers bietet der Volkstrauertag gute Möglich- keiten des Gedenkens. Ich stimme beidem ausdrücklich zu und fordere Sie auf, werte Kollegen der Regierungs- fraktion, es auch zu tun. Ich möchte nun ein paar Anmerkungen zum Antrag und zur Charta der Heimatvertriebenen machen. Frau Steinbach hat am 5. August bei der Festveran- staltung zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um ein Zeitzeugnis handelt, das im historischen Kontext er- läutert werden muss. Die Charta hat zur Integration von Millionen von Vertriebenen beigetragen – auch und ge- rade durch den Verzicht auf Rache und Vergeltung. Mehrfach haben aber Historiker darauf hingewiesen, dass man nur auf etwas verzichten kann, worauf man ei- nen Anspruch hat. Die Deutschen hatten aber nach dem von ihnen begonnenen Krieg keinen Anspruch, kein Recht auf Rache – darin sind wir uns hoffentlich einig. Der von Deutschland begonnene Weltkrieg mit all dem Elend, das er über Europa gebracht hat, ist der Ver- treibung der Deutschen vorausgegangen. – Dazu findet sich in der Charta kein einziges Wort. Kein Wort dazu, dass die Deutschen versucht haben, ein ganzes Volk aus- zurotten. Stattdessen heißt es: Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp- finden. Als hätte es den Holocaust nicht gegeben! Ralph Giordano, der Überlebende, bezeichnet die Charta als „ein überzeugendes Dokument innerer Bezie- hungslosigkeit zur Welt der Naziopfer, der unaufhebba- ren unkaschierbaren Ferne zu ihrer Gefühls- und Lei- densgeschichte“. Und Micha Brumlik sagt, dass in der Charta „Verleugnung und Verdrängung des Nationalso- zialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Aus- druck kommen“. Die Charta ist also gewiss und bestenfalls ein Zeit- zeugnis, das übrigens von vielen ehemaligen Nazis ver- fasst wurde. Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie diese Charta jetzt zu einem gewissermaßen kanonischen Text erheben wollen, der als Grundlage der Versöhnung die- nen soll. Von Versöhnung ist in der Charta überhaupt keine Rede. Und – schlimmer noch – ich finde es erschreckend, dass die Koalition auch 60 Jahre nach dem Verfassen der Charta der Heimatvertriebenen noch nicht viel weiter zu sein scheint. Ein einziger Satz findet sich im Antrag zur Verantwortung der Deutschen am Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen – ein Alibisatz. Die historische Ein- ordnung der Vertreibung der Deutschen fehlt völlig. Bereits im ersten Absatz des Antrages heißt es: Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren. Vielmehr müsste der Satz lauten: Die Deutschen neh- men Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibi- lität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv andere Völker vertrieben, unendliches Leid über sie gebracht haben, andere Völker vernichteten und in- folgedessen auch selbst von Vertreibungen betroffen wa- ren. Ich kann auch nicht nachvollziehen, warum Sie von der Stigmatisierung der Vertriebenen sprechen. Es hat zu Beginn der Bundesrepublik gewiss Diskriminierung von Vertriebenen gegeben. Sie wurden von der ansässigen Bevölkerung als Eindringlinge behandelt. Es war eben eine „kalte Heimat“, in die sie gekommen sind. In der DDR wurde ihr Schicksal völlig tabuisiert. Aber heute noch davon zu sprechen, es sei längst überfällig, „die Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung sowie deren Nachkommen zu beenden“, missachtet die große Integrationsleistung der alten Bundesrepublik und die Anstrengungen der Vertriebenen, die nicht genug ge- würdigt werden können. Ja, zur Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik gehört die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen. An dieser Leistung haben die Vertriebenen selbst den größten Anteil – dank ihres Fleißes, ihrer Inte- grationsbereitschaft, ihres politischen Engagements. Von Stigmatisierung sollte also vernünftigerweise keine Rede mehr sein. Das Problem heute ist eher die Selbststigmatisierung der Vertriebenenpolitiker. Sie hatten mit ihren radikalen Positionen und der Ablehnung der Ostpolitik selbst zu ihrem schlechten Image beigetragen. Und einige der heutigen Vertriebenenpolitiker pflegen mit ihren Äuße- rungen dieses Image – erinnert sei an die Diskussion im Sommer zum Thema Kriegsschuld. Der vorliegende An- trag leistet wieder einen Anteil dazu. Das schadet dem Anliegen, der Opfer von Flucht und Vertreibungen zu gedenken und die Integrationsleistung der Vertriebenen zu würdigen. Sie sollten den Antrag zurückziehen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Freie und gleiche Wahlen in Belarus einfordern – Menschen- rechtslage verbessern (Tagesordnungspunkt 17) Erika Steinbach (CDU/CSU): Am Sonntag wählen die Bürger Weißrusslands den Präsidenten ihres Landes. Nach den Berichten der Wahlbeobachter zu den letzten Wahlen in Weißrussland und anlässlich der Notrufe der NROs aus Weißrussland gibt es berechtigten Grund zur Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9145 (A) (C) (D)(B) Sorge. Es scheint, dass auch diese Wahlen wieder zu ei- ner Farce geraten. Demokratische Wahlen legitimieren Herrschaft auf Zeit. In den Blick genommen werden muss jedoch vor allem die ungeheure Kraft der Legitimation, die freie, geheime und unabhängige Wahlen entfalten. Sie sind es, die den Gewählten des Volkes die Kraft zum Handeln geben. Alexander Lukaschenko hat 1994 in freien Wahlen das Präsidentenamt erreicht. Er hat seinen Bürgern Si- cherheit in den Zeiten des Aufbruchs versprochen und begonnen, dieses Projekt in den notwendigen Reformen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion umzuset- zen. Das ist über 15 Jahre her. Leider blieb die Möglichkeit zu positivem Handeln weitgehend ungenutzt. In diesem Zeitraum veranlasste Lukaschenko zwei Verfassungsreferenden. Mit dem Re- ferendum von 2004 wurde dem amtierenden Präsidenten eine lebenslange Amtszeit ermöglicht. Dazu war eine Verfassungsänderung nötig, denn nach vormaliger Ver- fassung konnte der Präsident wie in den Vereinigten Staaten höchstens für zwei Amtszeiten als Staatsober- haupt tätig sein. 86,2 Prozent der Wähler stimmten dem Referendum der Verlängerung der Amtszeit den Anga- ben belarussischer Behörden zufolge zu. Bei den gleich- zeitig stattfindenden Parlamentswahlen wurde kein Kandidat der Opposition gewählt. Die OSCE-Wahlbe- obachtung sprach von umfangreichen Verletzungen de- mokratischer Standards. Ein starker Präsident, der in seinem Staate so etwas duldet oder sogar zu verantworten hat, entwürdigt sich. Bereits das Verfassungsreferendum von 1996, das dem Präsidenten umfangreiche Rechte zugewiesen hat und das Recht de facto außer Kraft setzte, damit der Prä- sident regieren kann, war ein verkehrter Schritt des Prä- sidenten. Überall, wo wir dies in anderen Staaten be- obachten mussten, hat es den Staatschefs nicht gutgetan, wenn sie zu solchen Mitteln greifen mussten, um sich an der Macht zu halten. Demokratie und Menschenrechte werden damit ausgehebelt. Heute gibt es massive Restriktionen gegen die Presse. Meinungs- und Pressefreiheit werden mit administrati- ven Repressionsmaßnahmen gefügig gehalten. Unab- hängige Medien verlieren schnell ihre Existenzgrund- lage. Ausländischen Journalisten wird immer wieder die Akkreditierung verweigert. Die Einbindung unabhängi- ger Journalisten in einen Koordinationsrat für die Mas- senmedien verbesserte die grundlegende Situation nicht. Auch in anderen Bereichen zeigt sich die weißrussi- sche Regierung hartleibig: Im März dieses Jahres wur- den wieder zwei Hinrichtungen vollstreckt, es kam auch in diesem Jahr wieder zu zwei neuen Verurteilungen. Die auf Druck der Europäischen Union eingerichtete Ar- beitsgruppe des belarussischen Parlaments zur Erarbei- tung eines Moratoriums für die Todesstrafe hat nichts oder nur sehr wenig vorzuweisen. Das ist bei den parla- mentarischen Machtverhältnissen schließlich auch kein Wunder. Die Situation für kritische Onlinejournalisten und In- ternetnutzer hat sich seit dem Sommer weiter ver- schlechtert. Ein Erlass schränkt die Internetfreiheit noch einmal erheblich ein. Der belarussische Staat sichert sich damit den Zugriff und die weitreichende Kontrolle über die ins Internet gestellten Inhalte. Wieder ein sicheres Zeichen für Meinungsbegrenzung. Mit der Unterdrückung unabhängiger Medien und ge- steuerter Propaganda des Regimes wird die öffentliche Meinung so gelenkt, dass die Bürger Weißrusslands vie- les nicht erfahren. Das sind Maßnahmen, die auf den simplen Machterhalt zielen. In diese Reihe passen nun auch die Wahlen: Neun Kandidaten treten gegen den amtierenden Präsidenten an. Die schwache Opposition war aber nicht in der Lage, einen Kandidaten mit wahrnehmbaren Chancen aufzu- stellen. Alles macht den Eindruck einer Inszenierung, bei der der Amtsinhaber sich eine Opposition hält. De- mokratie verkommt so zu einer Inszenierung nach den Spielregeln des Amtsinhabers. Damit diese Präsidentschaftswahlen auch wie am Schnürchen funktionieren, greift die Regierung selbst zu polizeilichen, administrativen Druckmitteln gegen die Opposition, die Zivilgesellschaft und unabhängige Me- dien. Menschenrechtsorganisationen und demokratische Gruppen werden behindert, ihre Arbeit in Teilen sogar verhindert. Art. 193.1 des belarussischen Strafgesetzbu- ches sieht Strafverfahren vor, wenn nichtregistrierte Or- ganisationen aktiv werden. Sogar Haftstrafen drohen: bis zu zwei Jahre Gefängnis. Fast unnötig zu erwähnen, dass genau diese Registrierung den Organisationen seit Be- ginn dieses Jahres zunehmend erschwert wird. Wenn junge Oppositionelle entführt werden, um sie einzu- schüchtern, müssen alle Alarmglocken läuten. All diese Rahmenbedingungen lassen nichts Gutes er- warten. Wir sehen mit großer Sorge den Wahlen in Belarus am Wochenende entgegen. Uta Zapf (SPD): Der Antrag der Regierungskoalition im Vorfeld der Wahlen ist eigentlich überflüssig. Natür- lich ist es wichtig, genau hinzusehen, was bei den Wah- len in Belarus geschieht, und inwieweit sich in den letz- ten Jahren eine Entwicklung in eine positive Richtung feststellen lässt oder nicht. Davon hängt auch die Mög- lichkeit ab, ob wir die Kooperation zwischen der Euro- päischen Union und Belarus zügig ausbauen können. Diese Wahlen sind der Lackmustest, ob es wirkliche Fortschritte in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaat- lichkeit in Belarus gibt. Ich hoffe das, bin aber äußerst skeptisch, wenn ich mir die Entwicklung in Belarus in der letzten Zeit ansehe. Wichtig ist daher, nach den Wah- len eine Beurteilung vorzunehmen. Wir werden uns bei der Abstimmung deshalb enthalten. Es gab seit dem Non-Paper der Europäischen Union vom November 2006, in dem Belarus eine Zusammenar- beit unter bestimmten Bedingungen angeboten wurde, sichtbare Ereignisse, die eine gewisse, vorsichtige Hoff- 9146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) nung aufkommen ließen. Es wurden fast alle politischen Gefangenen freigelassen; die Überarbeitung der Gesetze für Medien und der Wahlgesetze sollte angegangen wer- den. Die Europäische Union hat darauf mit dem Angebot der Östlichen Partnerschaft reagiert, in die auch Belarus eingeschlossen werden sollte. Dieses Tauwetter ermög- lichte auch, dass im Rahmen der Arbeit der Ad-hoc Wor- king Group on Belarus der OSZEH-Parlamentarierver- sammlung Seminare durchgeführt wurden, bei denen ein Dialog zwischen Vertretern der Administration, der Par- lamentarier, der belarussischen Zivilgesellschaft und der Opposition ermöglicht wurde. Man hat gesehen, dass es doch geht. Allerdings stagniert diese Entwicklung inzwischen, um nicht zu sagen, sie ist rückläufig. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Möglichkeit zu unabhängi- gem und pluralistischem politischem Engagement wird seitens der Regierung wieder vermehrt verhindert. Ich will nur einige Punkte aufzählen: Die Möglichkeit der Registrierung von Nichtregie- rungsorganisationen wird restriktiv gehandhabt. Politischen Parteien wird zum Teil die Registrierung verweigert. Es finden willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsu- chungen, Beschlagnahmungen von Arbeitsmitteln wie Computern statt, und es werden Prozesse mit dubiosen Anklagen initiiert, um Oppositionelle mundtot zu machen. Ein weiterer wichtiger und für uns zentraler Punkt ist die Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe. Der Europarat hat die Gastmitgliedschaft von Belarus deswegen ausgesetzt. Es ist notwendig, dass Belarus, wenn es Mitglied des Europarates werden will, die To- desstrafe abschafft. Ein unverzichtbares Signal wäre die Erklärung eines sofortigen Moratoriums, die Zusage, die Todesstrafe abzuschaffen und die sofortige Einleitung eines entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens. Auf die Bedeutung der Wahlen am kommenden Wo- chenende habe ich schon hingewiesen. Auch wenn es im Einzelnen einige Verbesserungen gegeben hat, so muss man nach einer ersten Bewertung der Vorbereitungen und des Wahlkampfes sagen, dass noch einiges im Argen liegt. Es gab bei der Vorbereitung der Wahlen und im Wahl- kampf gegenüber dem letzten Mal Verbesserungen. Al- lerdings kann man noch nicht von einem qualitativen Sprung sprechen. Besorgniserregend ist aus meiner Sicht, dass kaum Vertreter oppositioneller Parteien in den Wahlkommis- sionen vertreten sind. Die Wahlgesetzgebung wurde verbessert, aber das Problem des „early voting“ besteht noch immer. Wir alle wissen, dass in dieser Phase, die zeitgleich zur Endphase des Wahlkampfes läuft, in der Vergangenheit massive Wahlfälschungen stattfanden. Die ungleichen Möglich- keiten, die die Kandidaten bei den Wahlkampfmitteln im Wahlkampf haben, stellen eine Benachteiligung opposi- tioneller Kandidaten dar. Sowohl in der Frage der Finanzierung wie auch in der Präsenz in den Medien sind die Oppositionskandidaten im Nachteil. Zwar hat sich die Situation etwas verbes- sert. Es ist jedoch Fakt, dass der Präsident über ein höhe- res Budget verfügt und mehr und direkten Zugang zu den Medien hat. Das kann durch die jetzt spärlich ge- währten Auftritte für Oppositionskandidaten in Fernse- hen und Radio nicht ausgeglichen werden, zumal die Moderation im Fernsehen nach meinen Informationen nicht neutral sondern pro Lukaschenko ist. Die Wahlbeobachter hatten in der Vergangenheit keine Möglichkeiten, die Wahlergebnisse systematisch zu überprüfen. Ich selbst habe seit 2001 an allen Wahlbe- obachtungen teilgenommen und kann dies bezeugen. Manipulationen, sei es aufgrund der Unkontrollierbar- keit des Wahlvorganges, sei es aufgrund von Druck, der zum Beispiel in Betrieben von der Betriebsleitung auf die Wählerinnen und Wähler ausgeübt wird, sind üblich gewesen. Ich hoffe, dass die Wahlbeobachter alle Phasen des Wahlvorgangs beobachten können, damit die Auswer- tung der Wahlen auf einer realistischen Grundlage statt- finden kann. Das heißt, dass sie vollen Zugang zu den Wahlvorgängen selbst, zu den Auszählungen bekommen und den gesamten Ablauf beobachten können. Ich selbst kann aus meiner Erfahrung berichten, dass dies in der Vergangenheit nicht der Fall war. Es muss gesichert sein, dass die Wahlbeobachter und Vertreter der Presse alle relevanten Dokumente und Auf- zeichnungen erhalten, um auf einer soliden Basis die Wahl beurteilen zu können. Die Ergebnisse der Wahlen sollen auf jeder Ebene, von den Wahllokalen bis zur Gesamtauszählung, nach- vollziehbar und transparent sein und ohne Verzögerung veröffentlicht werden. Nur so ist eine seriöse Beurtei- lung der Wahl, ihres Verlaufs und ihres Ergebnisses möglich. Wir sollten dies anhand der Berichte der Wahl- beobachter und von ODIHR prüfen und dann diskutie- ren. Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg ziem- lich einig über die Frage, wie wir mit Belarus umgehen. Wir haben in der Vergangenheit die Hand zum Dialog ausgestreckt. Dies war und ist richtig. Aber in Belarus muss sich noch einiges grundsätzlich ändern, muss die Missachtung von Menschenrechten aufhören und Rechtsstaatlichkeit hergestellt werden, Medienfreiheit und politische Pluralität möglich sein. Dann können die Angebote der Europäischen Union auch umgesetzt wer- den. Marina Schuster (FDP): Wir sprechen heute über die anstehenden Wahlen und die Menschenrechtslage in Belarus. Es pfeift ein eisiger Wind durch Minsk und ganz Belarus – und das hängt nicht nur mit der winterli- chen Jahreszeit zusammen. Doch bevor ich auf die schwierige Menschenrechtssituation zu sprechen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9147 (A) (C) (D)(B) komme, möchte ich eine Nachricht aufgreifen, die wir ausdrücklich begrüßen. Belarus will seine Vorräte an hochangereichertem Uran bis zum Jahr 2012 beseitigen. Eine entsprechende Einigung erreichten der belarussische Außenminister Sergej Martynow und US-Außenministerin Hillary Clinton am 1. Dezember am Rande des OSZE-Gipfels in Kasachstan. Diese Selbstverpflichtung begrüßt die FDP- Bundestagsfraktion sehr, jedoch nicht ohne deren tat- sächliche Umsetzung mit gleichem Nachdruck einzufor- dern. Denn wie immer gilt: Den Worten müssen auch Ta- ten folgen. Aus Belarus hörten wir hoffnungsvolle Signale. Die Aufnahme des Landes in die Östliche Partnerschaft vor über einem Jahr, die zunehmende Öffnung der belarussi- schen Wirtschaft wie auch die Freilassung von politi- schen Häftlingen gaben zunächst Anlass zur Hoffnung auf eine Heranführung an die EU und die Stärkung de- mokratischer Standards. Doch spätestens nach den Kommunalwahlen im April 2010 setzte breite Ernüchterung ein. Wenngleich sich die Menschenrechtssituation für Angehörige der Opposition im Vergleich zu den Kommunalwahlen im Jahr 2010 und den letzten Präsidentenwahlen leicht ver- bessert hat, beklagen oppositionelle Gruppen, Men- schenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen nach wie vor staatliche Behinderungen ihrer Arbeit. Aufgrund fortbestehender schwerwiegender Defizite im Menschenrechts- und Rechtsstaatsbereich hat sich am faktischen Sonderstatus Belarus innerhalb der Östlichen Partnerschaft daher nicht viel geändert. Die Parlamenta- rische Versammlung des Europarats, der ich angehöre, hat im April 2010 beschlossen, Kontakte zu Parlament und Regierung von Belarus einzufrieren, weil spürbare Fortschritte bei den Menschenrechten ausblieben. Es müsste doch eigentlich das Ziel der belarussischen Re- gierung sein, möglichst bald wieder als volles Mitglied zurück in die Parlamentarische Versammlung zu kom- men. Deswegen fordere ich die belarussische Regierung auf, Menschenrechte zu achten und zu gewährleisten. Dass die Menschenrechte nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhalten, zeigt sich bereits daran, dass Belarus als einziges Land in Europa an der Todesstrafe festhält. Laut Amnesty International wurde die Todes- strafe seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 in circa 400 Fällen vollstreckt. Am 14. Mai 2010 wurden zwei Menschen wegen Mordes und Raubes zum Tode verurteilt. Am 14. September 2010 erfolgte ein weiteres Todesurteil. Dies verurteilen wir scharf. Es gibt allerdings Hinweise, dass das Parlament nach den kommenden Präsidentschaftswahlen ein Morato- rium für die Vollstreckung der Todesstrafe beschließen könnte. Diese Initiative, die auf Druck der EU zustande gekommen ist, weist in die richtige Richtung. Denn die Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche Be- strafung und muss weltweit abgeschafft werden. Aber auch bei anderen fundamentalen Grundfreihei- ten weist Belarus noch immer Defizite auf. Freie Mei- nungsäußerungen, Versammlungsfreiheit und freier Zugang zu Informationen, die allesamt nach der belarus- sischen Verfassung gewährt werden, existieren de facto nicht. Dabei sind sie Kernelemente einer funktionieren- den Demokratie. Mit Blick auf die Präsidentenwahl greift das Regime erneut auf das gesamte Repertoire polizeilicher, adminis- trativer und gerichtlicher Druckmittel gegen die Opposi- tion, die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien zu- rück. Es reicht von der Nichtzulassung unabhängiger Berichterstattungen, Durchsuchungen und Verboten von NGOs unter fingierten Vorwänden über willkürliche Ge- richtsverfahren gegen unbequeme Einzelpersonen oder Organisationen. Besonders gravierend waren Einschüch- terungsversuche durch Entführungen jüngerer oppositio- neller Aktivisten Ende 2009. Im Vorfeld der Kommunal- wahl 2010 ging die Polizei gegen harmlose, unan- gemeldete Straßenaktionen der Opposition wiederholt mit unverhältnismäßiger Härte vor. Es kommt immer wieder landesweit zu kurzzeitigen Inhaftierungen und Übergriffen der Polizei sowie der Sicherheitsorgane. Teilnehmer an nicht genehmigten Demonstrationen müs- sen mit Geld- und Arreststrafen rechnen. Einige regime- kritisch gesinnte junge Männer wurden in die Armee re- krutiert, um ihnen so ihr Betätigungsfeld zu nehmen. Ich möchte an dieser Stelle Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle danken. Er hat bei seinem Besuch in Belarus – als erster deutscher Außenminister seit 15 Jah- ren – Anfang November dieses Jahres gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen Sikorski demokrati- sche Wahlen bei Staatschef Lukaschenko eingefordert. Wie der Außenminister sagen auch wir, dass es nur einen Weg nach Europa gibt: Er führt über freie und faire Wah- len sowie die Einhaltung von Menschenrechten und in- ternationalen Rechtsstandards. Diese Wahlen werden zeigen, wie weit die belarussi- sche Bereitschaft zur Demokratie reicht. Erste Zeichen deuten darauf hin, dass diese Bereitschaft nur gering ausgeprägt ist. Es ist zu beobachten, dass die Opposition wie auch bei allen Wahlen der vergangenen Jahre keinen freien Zugang zu den Medien hat. Die Opposition hat kaum Möglichkeiten, Vertreter in die Wahlkommission zu entsenden. Deswegen ist es wichtig und erforderlich, dass unabhängige Wahlbeobachter den gesamten Wahl- prozess verfolgen können. Dass die EU im Rahmen der Östlichen Partnerschaft gemeinsame Werte einfordert, wobei Freiheit und De- mokratie unabdingbare Voraussetzungen sind, wird von belarussischer Seite gerne vergessen. Daher ist es nur konsequent, dass Außenminister Westerwelle bei seinem Gespräch mit Lukaschenko als auch wir mit unserem Antrag immer wieder daran erin- nern, dass wir einen Dialog mit messbaren Ergebnissen anstreben. Die Bundesregierung wird die Menschenrechtslage in Belarus genau beobachten und Missstände gegenüber der belarussischen Staatsführung ansprechen. Die klaren und zielgerichteten Forderungen unseres Antrags richten sich an die belarussische Regierung: 9148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) Wir fordern demokratische Standards für diese und zukünftige Wahlen, wir fordern die Abschaffung der To- desstrafe und die Gewährleistung von Menschen- und Freiheitsrechten, und wir fordern ein unabhängiges Jus- tizwesen, das sich ausschließlich an rechtsstaatlichen Grundsätzen orientiert und nicht wie bisher an politi- schen Weisungen. Das belarussische Volk sehnt sich nach demokrati- schen Freiheiten. Diesen Wunsch sollten wir unterstüt- zen und gemeinsam nach Kräften fördern, damit so bald wie möglich nur noch der Winter Schuld an dem eisigen Wind hat, der durchs Land pfeift. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Selbstverständ- lich sollte der Bundestag sich für die Verbesserung der Menschenrechtslage einsetzen – unabhängig davon, in welchem Land und welchem Teil der Welt wir es zu tun haben, auch im eigenen Land. Die Lage vieler Menschen in unserem Land könnte erheblich verbessert werden, wenn man die Allgemeine Charta der Menschenrechte als Maßstab heranzieht. Je vorbildlicher die Menschen- rechte im eigenen Land verwirklicht und gesichert wer- den, desto freier kann man über die Menschenrechtslage in anderen Ländern reden. Ohne Abstriche wünsche ich den Menschen in Belarus, dass die Präsidentschaftswah- len frei, geheim und gleich vonstatten gehen, dass die Todesstrafe aufgehoben wird, dass Presse- und Mei- nungsfreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit überall verwirk- licht werden. Wenn dies tatsächlich das Anliegen des Antrages wäre, hätte man ihm zustimmen können. Dem ist aber eben nicht so. Von oben herab wird über Belarus gerich- tet. Der Antrag sprüht vor Antikommunismus, wobei die Verfasserinnen und Verfasser es offensichtlich noch gar nicht mitbekommen haben, dass auch in Belarus kein Kommunismus mehr herrscht. Unsensibel wird ein gan- zes Land über einen ideologischen Leisten geschlagen. Diese Art von Ideologie ist antiaufklärerisch und verstellt den Blick auf mögliche Entwicklungen. Die Linke hat sich mit der Entwicklung in Belarus immer wieder und kritisch auseinandergesetzt, aber diese Art der Rechtha- berei ist uns fremd und die wollen wir auch nicht mitma- chen. Es hätte sich in der Tat gelohnt, den gesellschaftlichen Entwicklungen in Belarus wie auch in anderen Ländern, denen die von der EU ins Leben gerufene „östliche Part- nerschaft“ angeboten wurde, gründlich und differenziert nachzugehen. Ein intensiver Dialog, bi- und multilateral, setzt voraus, das Leben in den betroffenen Staaten ge- nauer zu kennen. Wenn die „östliche Partnerschaft“ sich wirklich zu den Grundsätzen des Völkerrechts und der Grundfreiheiten bekennt, dann gehört doch wohl auch dazu, dass diese Grundsätze und die Grundfreiheiten, die man meint, präzise beschrieben werden. Zu den Grund- sätzen des Völkerrechts gehört auch, dass die Souveräni- tät des jeweiligen Staates anerkannt und geachtet wird. Ich habe mir immer das Recht herausgenommen, mich mit der Entwicklung in anderen Ländern im eigenen Land kritisch auseinanderzusetzen. Eine solche Aus- einandersetzung, der Wunsch nach tatsächlichem Dialog wird aus dem Text des Antrages nicht sichtbar. Im Ge- genteil: Man will nicht beurteilen, sondern verurteilen. Werte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDP, kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross, re- den Sie mit anderen Ländern und Völkern nicht in die- sem Ton. Das steht Ihnen nicht zu. Sie schaden den Men- schenrechten, wenn Sie sie ideologisieren und nach eigenem Gutdünken in Anwendung bringen. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Wir beraten heute einen Antrag der Koalition, der freie und gleiche Wahlen in Belarus und die Verbesse- rung der Menschenrechtslage fordert. Diese Forderun- gen sind richtig, und meine Fraktion unterstützt deshalb den Koalitionsantrag. Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Wahl leider nicht demokratischen Standards genügen wird. Sicher gab es im Vorfeld der Wahl eine liberalere Atmosphäre, als dies bei vorhergehenden Wahlen der Fall war. So wurde eine Reihe von Oppositionskandida- ten nach weitestgehend ungehinderter Unterschriften- sammlung registriert. Auch wurde den Kandidaten ein unzensierter Auftritt im Fernsehen und Radio zugestan- den. Spontane Demonstrationen in Minsk wurden nicht wie üblich niedergeknüppelt. Und wie bei vorangegan- genen Wahlen wurde auch dieses Mal die OSZE zur Wahlbeobachtung eingeladen. Aber diese Liberalisierun- gen bedeuten keine Demokratisierung, weil sie nicht auf einklagbaren Rechten fußen und taktisch ausgewählt wurden. Für westliche Beobachter wird auf diese Weise der Schein demokratischer Wahlen erweckt, ohne die be- stehende Machtbasis infrage zu stellen. Wir alle wissen, dass der Grund hierfür der enorme Druck des einstigen Verbündeten Russland ist. Tatsächlich ist auch diese Wahl von schweren demo- kratischen Defiziten gekennzeichnet. So befinden sich Radio, Fernsehen und nahezu alle Zeitungen in Staats- hand und werden ausgiebig als Propagandainstrumente des Präsidenten eingesetzt. Die Website des Staatsfernse- hens erinnert an eine Kampagnenseite des Präsidenten. Das Portrait Lukaschenkos ist allgegenwärtig. In den Wahlkommissionen sind kaum Vertreter der Opposition vertreten. Die vorfristige Stimmenabgabe, die seit Montag läuft, bietet enorme Manipulationsmöglichkeiten, und die Wahlbeobachter der OSZE werden wohl wieder in einem gebotenen Abstand der stummen Stimmenauszählung beiwohnen, der eine Kontrolle unmöglich macht. Ich möchte hier auch darauf hinweisen, dass erneut Visa für Mitarbeiter von NGOs aus Deutschland, aber auch aus Norwegen verweigert wurden. Offensichtlich möchte man keine regimekritischen Gäste am Wahltag und bei den zu erwartenden Protesten am Wahlabend in Belarus haben. Auch das spricht Bände über den demo- kratischen Charakter dieser Wahlen. Ich hoffe sehr, dass die EU und Deutschland den un- demokratischen Charakter dieser Wahlen ganz klar und die absehbare Wiederwahl Lukaschenkos deutlich als unrechtmäßig benennen. Dies ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit gegenüber dem Regime in Minsk, dass nicht darauf rechnen können soll, dass wir sein Spiel ei- ner Scheindemokratisierung mitspielen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9149 (A) (C) (D)(B) Gleichwohl ist der eingeschlagene Weg des Dialogs mit dem Regime richtig. Aber dieser Dialog sollte in den nächsten Monaten genutzt werden, um dem Regime echte demokratische Reformen abzufordern. Denn ist wenig gewonnen, wenn eine kritische Zeitung gnädiger- weise zugelassen wird, aber jederzeit wieder geschlos- sen werden kann. Belarus braucht ein Mediengesetz, das eine unabhängige Presse ermöglicht. Belarus braucht eine unabhängige Justiz, die sich nicht für politische Prozesse instrumentalisieren lässt. Belarus braucht ein- klagbare demokratische Grundrechte wie Versamm- lungs- und Meinungsfreiheit und ein Moratorium für die Todesstrafe. Und Belarus braucht ein demokratisches Parlament statt Dekrete des Präsidenten und seine Huldi- gung durch die Allbelarussische Versammlung. Bei dem Dialog mit dem Regime dürfen wir nicht die Zivilgesellschaft in Belarus aus den Augen verlieren. Ich begrüße sehr, dass bei der Östlichen Partnerschaft, an der auch Belarus teilnimmt, die NGOs über das Zivilge- sellschaftsforum seit Beginn eingebunden sind. Und ich begrüße sehr, dass die Vertreter der EU bei ihren Besu- chen in Minsk immer auch Vertreter der Opposition und Zivilgesellschaft treffen. Ihr Rat sollte uns Richtschnur für unser Handeln gegenüber Belarus sein. Die Zivilgesellschaft in Belarus bedarf unserer stärke- ren Unterstützung. Wir brauchen einen intensiveren Aus- tausch mit den Ländern der EU. Entsprechende Pro- gramme für Schüler, Studenten, Auszubildende und NGOs wären hilfreich. Aber – und ich werde nicht müde, dies immer wieder zu betonen – das Wichtigste ist die längst überfällige Einführung von Visumserleichterun- gen für Belarus. Die derzeitigen Prozeduren und Gebüh- ren sind eine enorme Bürde für den Austausch. Wir haben aber ein großes Interesse, dass die jungen Menschen und künftigen Eliten demokratische Gesellschaften kennen- lernen und mit dem Wunsch nach Veränderung in ihr Land zurückkehren. Richtigerweise ist Reisefreiheit eine wichtige Säule der Östlichen Partnerschaft. Erste Ver- handlungen mit Belarus über Visumserleichterungen sind auf dem Weg. Ich hoffe sehr, dass diese bald zum Ab- schluss gebracht werden und nicht erneut als Verhand- lungsmasse mit dem Regime missbraucht werden. Für Sonntag hoffe ich, dass möglichst viele Menschen in Belarus den Mut finden, ihre Unzufriedenheit mit den undemokratischen Wahlen mit ihrer Stimmabgabe deut- lich zum Ausdruck zu bringen. Für den Wahlabend selbst hoffe ich, dass die zu erwartenden Proteste wie in den letzten Jahren friedlich verlaufen und vielleicht den Anfangspunkt eines echten demokratischen Wandels in Belarus markieren. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts verbessern – Beschlussempfehlung und Bericht: Rei- sende besser schützen (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Peter Wichtel (CDU/CSU): Die Bundesregierung begleitet die Bürgerinnen und Bürger nicht erst seit Be- ginn der gegenwärtigen Legislaturperiode mit einer verantwortungsbewussten und nachhaltigen Verbrau- cherpolitik. Das deutsche Recht gewährt insbesondere Reisenden ein Maß an Schutz, das in schwierigen Ver- handlungen für die Verkehrsträger erarbeitet wurde und über den europäischen Standard hinausreicht. Das hohe Niveau unseres Verbraucherschutzes und die verbrau- cherfreundlichen Strukturen wollen wir halten und nach Bedarf auch weiter punktuell ausbauen. Vor diesem Hintergrund ist es überaus verwunderlich, dass mit den heute vorliegenden Anträgen die Verbrau- cherpolitik kritisiert wird. Insbesondere der Ruf nach ei- ner Verbesserung der Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts im Hinblick auf die Fluggastrechteverord- nung (EG) Nr. 261/2004 kann nur als unsachgemäß cha- rakterisiert werden. Der Antrag verlangt nach einer Er- hebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs, obwohl ein Sachzusammenhang mit der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung nicht gegeben ist. Zunächst gilt es deutlich hervorzuheben, dass es keine gesetzliche Grundlage gibt, die aufgezeigten Kontrollpa- rameter zu erheben. Das Verkehrsstatistikgesetz statuiert in § 12 die Pflicht zur Erhebung der angebotenen Plätze und die Zahl der ein- oder aussteigenden sowie der durchreisenden Fluggäste. Einzig die für die Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, notwendigen Daten wer- den gesammelt und ausgewertet. Eine Registrierung der tatsächlich durchgeführten, verspäteten oder annullier- ten Flüge wird dagegen nicht im Verkehrsstatistikgesetz vorgeschrieben. Das Luftfahrt-Bundesamt erlangt nur aufgrund eingehender Anzeigen Kenntnis von Verspä- tungen, Annullierungen, Nichtbeförderungen oder He- rabstufungen im Sinne der Fluggastrechteverordnung (EG) Nr. 261/2004. Ein näherer Blick auf die Aufgaben des LBA macht zudem deutlich, warum die gegenwärtige Aufgaben- struktur als überaus plausibel und beständig zu betrach- ten ist. Die Bundesbehörde unter Dienst- und Fachauf- sicht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung trägt Sorge dafür, dass Luftfahrtunter- nehmen die Fluggastrechteverordnung einhalten. Sollten Verstöße gegen die Verordnung festgestellt werden, leitet das Luftfahrtbundesamt Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen die betroffenen Akteure ein. Das LBA fungiert als Aufsichtsbehörde über die Luftfahrtunternehmen und übt diese Tätigkeit im öffentlichen Interesse aus. Das LBA ist dagegen kein rechtsdurchsetzendes Or- gan für Fluggäste und ist auch nicht im zivilrechtlichen Interesse tätig. Die Geltendmachung und Durchsetzung zivilrechtlicher Ausgleichsansprüche gegenüber der Luftfahrtindustrie im Interesse der betroffenen Fluggäste ist keinesfalls Aufgabe der Behörde. Dieser Eindruck scheint bei der Lektüre des vorliegenden Antrages und der Forderung nach einer statistischen Datenerfassung allerdings zu entstehen. Es gilt daher erneut klar zu ver- deutlichen, dass ein Sachzusammenhang zwischen der Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhebung 9150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs nicht gege- ben ist. Die Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes ist nicht nur ein Beispiel für die verbraucherfreundliche Struktur der Bundesrepublik, sie verdeutlicht gleichzeitig die Effi- zienz und Nachhaltigkeit des Verbraucherschutzes. Lässt man die Anzeigen im Zusammenhang mit dem Vulkan- ausbruch auf Island außen vor, ist in den vergangenen Jahren ein rückläufiges Anzeigeaufkommen zu vermel- den. Das kann als Indikator dafür betrachtet werden, dass die Luftfahrtunternehmen nicht zuletzt durch die Aufsicht des LBA den Verpflichtungen der Fluggast- rechteverordnung in stärkerem Umfang nachkommen. Die bereits 2009 erfolgte Straffung der Arbeitsprozesse innerhalb der Behörde und der regelmäßige Kontakt mit den Luftverkehrsunternehmen, um die Kernpunkte der Verordnung und deren Umsetzung zu verdeutlichen, wird auch zukünftig zu einer verbesserten Einhaltung des Gesetzes und somit dem Verbraucherschutz beitra- gen. Mit der seit Dezember 2009 arbeitenden Schlich- tungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, SÖP, wird zudem das im Koalitionsvertrag verankerte Ziel ei- ner verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung realisiert. Zur Erleichterung der Durchsetzung der Fluggastrechte wird derzeit geprüft, wie auch eine Einbeziehung der Luftverkehrsträger in eine Schlichtung erreicht werden kann. Hierzu werden gegenwärtig überaus konstruktive Gespräche mit der Luftverkehrsindustrie geführt. Zusammenfassend betrachtet kommt die Bundesre- gierung ihrer Verantwortung für den Verbraucher auch und insbesondere im Bereich des Reisens nach. Nicht zuletzt die Fluggastrechteverordnung und die Arbeit des Luftfahrtbundesamtes als für die Durchsetzung der Ver- ordnung verantwortliche Behörde verdeutlichen das hohe Niveau unseres Verbraucherschutzes und unsere verbraucherfreundliche Strukturen. Eine Erhebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs und eine dem- entsprechende Überarbeitung des Verkehrsstatistikgeset- zes lehnen wir daher ab. Marlene Mortler (CDU/CSU): Das deutsche Reise- recht sichert ein hohes Verbraucherschutzniveau für un- sere Bürger. Deutsche Reisende genießen dabei einen Schutz, der über den geltenden europäischen Standard hinausgeht. Das soll auch so bleiben. Die meisten der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen „Reisende besser schützen“ enthaltenen For- derungen sind weder sachgerecht noch durchführbar, und sie werden den bisherigen hohen deutschen Stan- dards nicht gerecht. Ein Kernpunkt des Antrages ist die Forderung, auf eu- ropäischer Ebene die derzeit geltenden Regelungen für Pauschalreisen und die Passagierrechte bei den einzel- nen Verkehrsträgern zusammenzufassen und zu einem Rechtsakt weiterzuentwickeln. Eine solche Zusammen- führung würde aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Regelungen übersichtlicher und einfacher wären und damit ein höherer Verbraucherschutz erreicht würde. Da- gegen sprechen außerdem gewichtige organisatorische Gründe: Richtlinien und Verordnungen sind nun einmal unterschiedliche Rechtsakte. Während es bei EU-Richt- linien einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung in nationales Recht gibt, sind EU-Verordnungen in den Mitgliedstaaten unmittelbar wirksam und verbindlich. Außerdem sind die angesprochenen EU-Verordnun- gen in einem höchst unterschiedlichen Stadium. Die Rechte von Passagieren, die mit der Bahn oder per Flug- zeug reisen, sind bereits in geltenden Verordnungen ge- regelt. Die Verordnung für die Rechte von Passagieren im See- und Binnenschiffsverkehr ist zwar beschlossen, aber noch nicht in Kraft getreten. Und die Verordnung für die Rechte von Passagieren im Busverkehr ist noch nicht einmal beschlossen. Für die schon 2005 in Kraft getretene Fluggastrechte- Verordnung hat die Europäische Kommission bereits eine Überarbeitung angekündigt. Mit den anderen neuen Verordnungen müssen dagegen erst einmal Erfahrungen gesammelt werden, bevor eine Überarbeitung überhaupt in Betracht gezogen werden bzw. beurteilt werden kann, ob das Sinn macht. Schließlich sind diese Verordnungen mit großem Aufwand und in schwierigen Verhandlungen ausgearbeitet worden. Grundsätzlich müssen bei der Ausgestaltung der Fahr- gastrechte die Besonderheiten der jeweiligen Verkehrs- träger beachtet werden, vor allem für Verspätungsregeln. Hier gibt es einfach unterschiedliche Ausgangsbedin- gungen und andere naturbedingte Voraussetzungen. So ist etwa beim Schiff die Wahrscheinlichkeit, in einen Stau zu geraten, deutlich geringer als beim Bus. Insofern ist die im Antrag geforderte intermodale Anpassung nicht sachgerecht und könnte sogar zur Kürzung bisheri- ger Ansprüche führen. Auf europäischer Ebene untersucht derzeit auch be- reits die Europäische Kommission, ob die Pauschalreise- Richtlinie überarbeitet werden soll. Dies darf aber nicht dazu führen, dass Deutschland sein hohes Verbraucher- schutzniveau absenken müsste. Viele der von der Kom- mission angesprochenen Probleme bestehen im deu- tschen Recht im übrigen auf Grund unseres höheren Schutzniveaus eben nicht. Die Notwendigkeit für die geforderte Insolvenzabsi- cherung für Fluggesellschaften und alle anderen Ver- kehrsträger ist ebenfalls nicht zu erkennen. So sind der Bundesregierung keine Fälle bekannt, bei denen Rei- sende im Luftfahrtbereich, bei der Bahn oder im Busbe- reich durch eine Insolvenz nicht reisen konnten oder von finanziellen Schäden betroffen gewesen wären. Geradezu absurd ist auch die geforderte Hinweis- pflicht für Reiseveranstalter und Reisevermittler aller EU-Mitgliedstaaten für eine verbindliche Unterrichtung vor Vertragsabschluss über Pass- und Visumserforder- nisse. Demnach müssten Reiseveranstalter und Reise- büros die Bürger aller 27 EU-Mitgliedstaaten über die aktuellen jeweiligen Einreisebestimmungen von circa 200 Ländern weltweit informieren, also über etwa 5 400 verschiedene Einreisebestimmungen – und dies womöglich noch in der jeweiligen Landessprache des Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9151 (A) (C) (D)(B) EU-Bürgers. Dies ist nicht nur Bürokratie, dies ist schlichtweg nicht zu leisten. Etwas weltfremd erscheint uns auch, dass an allen Reiseverkehrsknotenpunkten in Zusammenarbeit mit Schlichtungsstellen und Verbraucherzentralen Informa- tions- und Vermittlungszentren eingerichtet werden sol- len. Soll jetzt in jedem Bahnhof und jedem Flughafen ein solches Informationsbüro geschaffen werden? Die Kosten wären unüberschaubar und unvertretbar, der Nut- zen dagegen gering. Die Unternehmen sind bereits heute verpflichtet, ihre Kunden über deren Rechte zu informie- ren. Wir haben im Koalitionsvertrag die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff festgelegt. Diese Einrichtung ist mit der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, SÖP, zum 1. Dezember 2009 erfolgt. Bisher sind dort über 3 300 Fälle zur Schlichtung eingegangen, die meisten aus dem Bahnbe- reich. Die Arbeit der SÖP zur Durchsetzung der Rechte von Reisenden ist eine weitere wichtige Stärkung des Verbraucherschutzes im Tourismusbereich. Die deutschen Fluggesellschaften sind jetzt nach eini- gem Zögern auch zu einer Teilnahme an Schlichtungs- verfahren bereit. Dies muss aber nicht unbedingt durch eine Mitgliedschaft in der SÖP erfolgen, sondern ist durchaus in einer separaten Schlichtungsstelle für den Luftverkehr möglich. Eine solche Einrichtung wird ge- genwärtig in Zusammenarbeit mit mehreren Bundes- ministerien geprüft. Wir müssen dabei beachten, dass es im Gegensatz zur Bahn im Luftverkehr einen intensiven Wettbewerb gibt. Deshalb muss sichergestellt sein, dass alle in Deutschland tätigen Fluggesellschaften einbezo- gen werden. Nur so vermeiden wir Wettbewerbsverzer- rungen, nur so erreichen wir einen wirklich höheren Ver- braucherschutz für alle Fluggäste. Für den angeblich umfassenden Handlungsbedarf, den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem vorlie- genden Antrag versucht aufzuzeigen, gibt es, wie gezeigt, keine tragfähige Grundlage. Wir lehnen ihn des- halb ab und stimmen der entsprechenden Beschlussemp- fehlung des Tourismusausschusses zu. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Man sollte eine Rede nicht mit dem Namen eines isländischen Vulkans begin- nen, wenn man sich nicht verhaspeln möchte. Ich tue es trotzdem, denn der Ausbruch des isländi- schen Vulkans Eyjafjallajökull mit seinen schwerwie- genden Folgen für den internationalen Flugverkehr hat einmal mehr gezeigt, dass unsere Regierung zu einem vernünftigen Krisenmanagement nicht in der Lage ist. Wir alle haben noch Tausende gestrandete und desori- entierte Reisende auf den Flughäfen vor Augen, die we- der wussten, wie sie nach Hause kommen sollten, noch wer für die ihnen entstandenen Kosten aufkommt. Diese extreme Situation hat offenbart: Erstens: Die Hilfs- und Informationsangebote an den Flughäfen sind generell unzureichend. Zweitens: Das nationale und europäische Reiserecht ist zu undurchsichtig und nicht verbraucherfreundlich genug. Die Initiative der Grünen, das Reiserecht verbes- sern zu wollen, ist deshalb richtig. Der Verbraucher- schutz für Reisende muss verstärkt werden. Ein erster Schritt wäre die konsequente Umsetzung der schon bestehenden Verbraucherrechte. Das ist für die Bunderegierung aber ganz offensichtlich kein Thema. Dabei bietet das europäische Reiserecht zum Beispiel mit der Fluggastrechteverordnung bereits gute Grundla- gen, die leider in Deutschland versickern. Durch massenhafte Verspätungen, Nichtbeförderun- gen und Flugannullierungen erwerben täglich Hunderte Flugreisende einen Anspruch auf Entschädigung nach der europäischen Fluggastrechteverordnung. Für die Durchsetzung dieser Verordnung ist in Deutschland das Luftfahrtbundesamt zuständig. Es muss die Einhaltung der Verordnung durch die Fluggesellschaften gewähr- leisten. Dennoch sind die Flugreisenden ganz offensichtlich über ihre Rechte nicht ausreichend informiert. Die Luft- fahrtunternehmen nehmen also ihre Informationspflicht, die sie laut der Verordnung haben, nicht wahr. Die von der Verordnung vorgeschriebenen Entschädi- gungen werden auch lange nicht in dem Maße gezahlt, wie es die vielen Verspätungen und Annullierungen ver- muten lassen müssten. Trotzdem leitet das Luftfahrbun- desamt nur eine kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsver- fahren ein. Dieses Missverhältnis zeigt: Unsere Regierung klemmt sich nicht dahinter. Es werden, das fordern die Grünen zu Recht ein, die ganzen Verspätungen, Annul- lierungen und Nichtbeförderungen noch nicht einmal in der Verkehrsstatistik erfasst. Die kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsverfahren ist eine der wenigen Informationen, die man dem mageren „Bericht der Bundesregierung zur Durchsetzung der Fluggastrechteverordnung“ entnehmen kann. Der ist so schwach, weil es eben kaum Aktivitäten zur Durchset- zung der Fluggastrechte gibt. Das Luftfahrtbundesamt ist ebenso für die Durchset- zung der Rechte mobilitätseingeschränkter Fluggäste zu- ständig. Die Grünen behandeln diesen Punkt in ihren Anträgen leider nicht. Meiner Fraktion und mir ist wichtig, dass Menschen mit Behinderung reisen können wie jeder andere auch. Sie haben seit der Unterzeichnung der UN-Behinderten- rechtskonvention das einklagbare Recht dazu. Und im Zuge des demografischen Wandels werden zukünftig nicht weniger Menschen betroffen sein, sondern mehr. Trotzdem ist mir leider nicht bekannt, dass das zu- ständige Luftfahrtbundesamt sich bisher für bessere Hil- festellungen für behinderte Fluggäste an Bord und auf dem Flughafen, für mehr Bordrollstühle und ein geeig- netes Innendesign der Flugzeuge eingesetzt hätte. 9152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Un- terstützen Sie uns an dieser Stelle, und machen Sie Ihren Regierungsmitgliedern Dampf! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Ihre Ansätze zur Weiterentwicklung des Reiserechts sind, vor allem was die nationale Ebene angeht, gut. Es gibt keinen Grund, weshalb die Fluggesellschaften nicht in die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per- sonenverkehr einbezogen werden. Richtig ist, die Kommunikation zwischen allen Ak- teuren zu stärken. Reiseindustrie, Behörden, Schlich- tungsstellen und Verbraucherverbände können natürlich gemeinsam besser auf die Probleme der Reisenden re- agieren. Kostenlose Info-Hotlines der Fluggesellschaften wä- ren sinnvoll. Auch einige ihrer Forderungen, die auf die europäi- sche Ebene abzielen, unterstütze ich: Eine Insolvenzab- sicherung von Reiseunternehmen, die Präzisierung des Begriffs der „außerordentlichen Umstände“ und die Er- höhung der Haftungshöchstgrenzen beim Reisegepäck wären begrüßenswert. Mit einigen Ihrer Forderungen das europäische Recht betreffend schießen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, allerdings über das Ziel hinaus: Die von Ihnen geforderte verschärfte Haftung für Rei- sebüros – vergleichbar mit der von Reiseveranstaltern bei Pauschalangeboten – ist insbesondere für kleine Rei- sebüros nicht leistbar, weder finanziell, noch in Form or- ganisatorischer Unterstützung. Sie müssten sich dann eng an die Veranstalter binden, damit diese das Haf- tungsrisiko tragen, und könnten nicht mehr wirklich un- abhängig beraten. Auch würden kleine Veranstalter dann nur noch sehr schwer Reisebüros finden, die ihre Leis- tungen vermitteln. Das kann nicht im Interesse der Rei- senden sein! Auch die von Ihnen geforderte Ausweitung des Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie geht zu weit. Es stimmt, dass diese europäische Richtlinie an das Buchungsverhalten und Angebot im Internet angepasst werden muss. Aber alle verlinkten Einzelleistungen im Internet, zum Beispiel für Flug, Ferienwohnung und Mietwagen – das sogenannte „Dynamic Packaging“ – wie ein Pau- schalangebot eines Veranstalters zu behandeln, das ist unrealistisch. Hier wäre es besser, unsere deutsche Rege- lung in die europäische Richtlinie aufzunehmen: Wer et- was wie eine Pauschalreise verkauft, wer beim Verbrau- cher den Eindruck erweckt, er kaufe eine Pauschalreise, der muss auch wie für eine Pauschalreise haften. Etwas zu einfach machen Sie es sich mit der Forde- rung nach der Zusammenlegung der reiserechtlichen Re- gelungen. Für die einzelnen Verkehrsträger Bahn, Flug- zeug, Schiff oder Bus wurde mühsam auf spezielle – und teilweise sehr unterschiedliche – Notwendigkeiten abge- zielt. Auch hier muss stärker, als Sie es tun, ins Detail geschaut werden, welchen rechtlichen Spielraum es für mögliche Angleichungen und Standards überhaupt gibt. Unnötige Bürokratie muss dabei vermieden werden. An allen Verkehrsknotenpunkten noch extra Reisezentren einzurichten, die die Kundinnen und Kunden informie- ren sollen, halte ich für unnötige Bürokratie. Es würden auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher teure Doppelstrukturen geschaffen. Die Informationspflicht liegt ja schon bei den Verkehrsträgern. Die müssen sich eben besser vernetzen, um effektiv informieren zu kön- nen. Die Abstimmung untereinander – nicht nur auf natio- naler, sondern auch auf europäischer Ebene – ist beson- ders in Notfällen wichtig und wäre die Grundlage für ein kluges Krisenmanagement in dem Chaos nach dem Vul- kanausbruch gewesen. In unserem Antrag „Die richtigen Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull ziehen“ haben wir beschrieben, wie die Voraussetzungen für ein nationales und europäisches Krisenmanagement im Luftverkehr geschaffen werden können. Wir werden uns, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, bei Ihrem Antrag „Reisende besser schützen“ aus den genannten Gründen enthalten und im nächsten Jahr zur Durchsetzung der Fluggastrechte einen eigenen ausgereiften Vorschlag vorlegen. Jens Ackermann (FDP): Die Tourismusbranche ist ein bedeutender Wirtschaftsbereich, von dem Menschen und Unternehmen profitieren. Dabei gilt – und das ist, so glaube ich, unstrittig –, dass die Reisenden in gesicher- ten Verhältnissen mit Planungssicherheit, soweit dies bei Reisen möglich ist, geschützt sind. Doch Reiseschutz muss dabei das Notwendige im Blick haben, muss maßvoll und ausgewogen sein. Aktio- nismus ohne Grundlagen, politische Forderungen ohne Bedarf und Anträge ohne den Abgleich mit der Realität möchte meine die christlich-liberale Koalition nicht. Wir können und werden nichts zustimmen, was die Verhält- nisse für die Menschen vor Ort nicht verbessert. Und das gilt selbstverständlich auch und gerade für den Touris- musbereich. In jenem Sektor, wo sich Menschen tagtäglich in Rei- sebüros oder im Internet Träume erfüllen, wo Familien in ferne Länder fliegen und Individualtouristen mit dem Rucksack durch die Lande ziehen^, ist es natürlich wich- tig, das die Ziele, das die Wünsche, die sich mit Reisen verbinden, geschützt sind – da, wo es möglich ist, wo es sinnvoll erscheint. Der uns vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen schießt dabei – wieder einmal – über das Ziel hinaus und verkehrt gute Absichten in zahnlose Bürokratietiger. Mehr Sicherheit für die Rei- senden kann so aber nicht erzielt werden. Doch der Reihe nach: Unser Reiserecht ist – wen wundert es – sektoral untergliedert und passt sich so den unterschiedlichen Ausgangssituationen des Reisens an. Denn Flug-, Bahn-, Bus- oder Schiffsgesellschaften sind auch schwer unter einheitliche Rechtsvorschriften sub- sumierbar. Kurzum: Unser Reiserecht betrifft die unter- schiedliche Situation der Verkehrsträger, die Nachfrage- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9153 (A) (C) (D)(B) struktur und die Produkte. Trotz aller Eigenheiten gewährt das deutsche Reiserecht den Reisenden schon heute einen Schutz, der über den europäischen Standard teilweise weit hinausreicht. Gerade die Regelungen für die Passagierrechte sind mit großem Aufwand und in langen und schwierigen Verhandlungen für die einzelnen Verkehrsträger erst verabschiedet worden. Ich glaube, dass eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Be- reiche das Reiserecht nur unnötig verkomplizieren würde. Ebenso lassen sich die geltenden Verordnungen über die Passagierrechte nicht einfach mit dem Pauschalreise- recht zusammenführen, da letzteres zum Vertragsrecht gehört, die Passagierrechtsverordnungen hingegen nicht. So finden wir im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auch die Forderung nach einer Ausweitung des Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und eine Anpassung des Begriffs der Pauschalreise. Ich kann Ihnen nur sagen, dass der Geltungsbereich der Pauschalreiserichtlinie auf den Pauschalreisevertrag beschränkt bleiben muss und nicht auf Einzelleistungen ausgeweitet werden darf. Denn das widerspricht doch je- der Logik. Warum sollte ein Verbraucher, der mehrere Einzelverträge über Reiseleistungen abschließt und sich damit selbst eine Reise individuell zusammenstellt, den gleichen Schutz erhalten wie ein Verbraucher, der eine durch einen Veranstalter zusammengestellte Reise kauft? Dass es überhaupt eine Pauschalreiserichtlinie gibt, liegt an der möglichen Differenzierung nach Paket und Ein- zelleistung. Als ausschlaggebendes Kriterium dafür, welche verlinkten Angebote von Reiseleistungen als Pauschalreise zu bewerten sind und welche nicht, kann meiner Meinung nach das subjektive Empfinden des Verbrauchers herangezogen werden, so wie es bereits im deutschen Recht der Fall ist. In dem Antrag, der uns vorliegt, wird eine klare Tren- nung zwischen Reisevermittler und -veranstalter gefor- dert. Einer Ausweitung der Reisebürohaftung steht die FDP-Bundestagsfraktion ausgesprochen kritisch gegen- über. Denn erklären Sie uns doch, welche Haftung von Bündnis 90/Die Grünen gemeint ist. Schließlich wird ge- genwärtig auf europäischer Ebene diskutiert, eine ge- meinsame Haftung von Veranstalter und Reisebüro im Vertrieb von Pauschalreisen einzuführen. Insofern legt die Formulierung im Antrag nahe, dass auf diese Debatte abgestellt wird. Dabei ist zu beachten, dass bei einer gemeinsamen Haftung für Pauschalreisen das Reisebüro allein für die Absicherung der Kundengelder gegen eine Insolvenz des Veranstalters mehr als seine gesamte Provision aufwen- den müsste. Der Einbezug des Reisebüros in die Haftung der Reiseveranstalter würde damit das deutsche Markt- modell von Grund auf erschüttern, da Reisebüros keine Wahl bliebe, als sich an einen einzelnen Veranstalter zu binden, um dem Risiko, in Haftung genommen zu wer- den, zu entgehen. Damit müsste das Reisebüro seine Rolle als unabhängiger Berater des Kunden aufgeben – letztlich zum Schaden des Verbrauchers selbst. Das wol- len wir nicht. Doch damit nicht genug. Es ist auch aus unserer Per- spektive heraus zu bezweifeln, dass kleine Reisebüros vor Ort in der Konkurrenz zum Internetvertrieb erfolg- reich bestehen könnten, wenn sie aufgrund einer ausge- weiteten Haftung – welcher Art auch immer – höhere Preise verlangen müssten. Wir wissen es doch selbst: Deutsche Kunden sind ausgesprochen preissensibel, und schon heute lassen sich viele Verbraucher zwar im Reisebüro beraten, bu- chen ihre Reise dann jedoch online, um Geld zu sparen. Insofern spricht die Realität gegen diese Annahme. Wahrscheinlicher ist, dass eine Verteuerung des stationä- ren Vertriebs den bestehenden Trend zur „Ausnutzung“ der Beratungskompetenz des Reisebüros weiter verstär- ken würde. Wir sind im Übrigen auch nicht der Auffassung, dass es eines Ausbaus der Haftung von Reiseunternehmen be- darf. Unserer Ansicht nach sind Reisebüros nicht in der Lage, Druck auf die Veranstalter und deren Angebot re- spektive Qualität auszuüben. Dies ist alleine der Tatsa- che geschuldet, dass Reisebüros Handelsvertreter des Veranstalters sind. Sie leben von dessen Provision. Wäh- rend es den Veranstalter nicht sonderlich schmerzt, auf ein einzelnes „rebellisches“ Reisebüro zu verzichten, kann der Verlust eines bestimmten Reiseveranstalters in seinem Angebot für das Reisebüro gravierende wirt- schaftliche Auswirkungen haben. Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen trägt daher nicht der bestehen- den Verteilung von Verhandlungsmacht zwischen Veran- staltern und Reisebüros Rechnung. Reisebüros brauchen Angebotsvielfalt, sie leben da- von. Denn der Vorteil und die Fähigkeit, die das Reise- büro im Moment noch hat, sind die, dem Verbraucher aus einer Vielzahl von Angeboten das individuell pas- sende zu empfehlen. Dies geht aber nur so lange, wie das Reisebüro nicht gezwungen wird, sich unter den Schirm eines einzelnen Veranstalters zu begeben. Dies wäre je- doch das Resultat einer ausgeweiteten Reisebürohaftung und widerspricht daher dem Ziel eines besseren Verbrau- cherschutzes Wir wollen weiterhin den Wettbewerb hier sichern – im Interesse der Kunden, der Reisenden und vor allem im Interesse der kleinen Reisebüros in unseren Wahlkreisen. Denn das sind auch Arbeitsplätze, und die wären dank der Ideen von Bündnis 90/Die Grünen mal wieder gefährdet. Wer hilft denn der älteren Dame eine günstige Fernreise zu ihren Enkeln zu buchen? – Das Reisebüro vor Ort. Kommen wir zu den vorvertraglichen Informations- pflichten. Auch hier lehnen wir einen Ausbau entschie- den ab. Wozu auch? Unserer Ansicht nach sind die Infor- mationspflichten des Veranstalters bereits umfassend wie ausreichend geregelt. In der Realität ist doch eher eine Überforderung des Verbrauchers zu beobachten. Darüber hinaus ist es ganz grundsätzlich nicht erlaubt, Falschaussagen in Katalogen zu treffen. Dem sei unbe- nommen, dass Reiseprospekte in einer ihnen eigenen Sprache abgefasst sind. Wer jedoch dazu Fragen hat oder genauere Informationen wünscht, hat jederzeit die Mög- lichkeit, sich im Reisebüro rückzuversichern und beraten zu lassen. Außerdem gibt es schon jetzt bei gravierender 9154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) Abweichung der Werbung für ein Hotel oder eine Leis- tung für den Gast die Möglichkeit der Minderung. Unabhängig davon sind wir Liberale der Überzeu- gung, dass sich dieses Thema insbesondere über die zu- nehmende Nutzung von Hotelbewertungsportalen zu- künftig von selbst beruhigt. Weiter fordern Bündnis 90/Die Grünen eine Novellie- rung der Reisegepäcksregelung. Auch das halte ich un- nötig, da dieser Betrag erst 2009 um 130 Euro angeho- ben wurde – von vorher 1 170 Euro. Außerdem ist dieser Betrag nicht national geregelt ist, sondern Gegenstand des internationalen Abkommens von Montreal der Inter- nationalen Zivilluftfahrt-Organisation ICAO ist. Eine Anhebung der Entschädigungsgrenze im deutschen oder europäischen Alleingang wäre somit auch in hohem Maße wettbewerbsverzerrend für deutsche bzw. europäi- sche Fluggesellschaften. Die Forderung nach einer Schlichtungsstelle im öf- fentlichen Personenverkehr, die verpflichtend für alle Reiseverkehrsunternehmen wird, ist ja nicht neu. Des- halb weise ich darauf hin, dass im Bundesjustizministe- rium bereits eine Projektgruppe ins Leben gerufen wor- den ist, der auch Vertreter der Fluggesellschaften angehören. Ziel dieser Gruppe ist es, gemäß der Koali- tionsvereinbarung eine Schlichtungsstelle für Passagiere von Fluglinien einzurichten. So könnte ich meine Rede noch unendlich lange wei- terführen, um den mehr als 20 Forderungen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Einzelnen entgegenzutreten, aber das würde meine Redezeit sprengen. Alles in allem sind nahezu alle Forderungen weder zielführend in der Verbesserung des Schutzes der Reisenden noch sind diese umsetzbar. Wollen wir denn wirklich den Bürokra- tiedschungel für den Verbraucher noch undurchsichtiger machen, als er bisher schon ist? Kornelia Möller (DIE LINKE): Die heutige Welt ist durch eine erhöhte Mobilität und von einer ständig wachsenden Zahl von Reisen geprägt. Das erhöhte Rei- seaufkommen führt aber auch unweigerlich zu einer Zu- nahme der Probleme rund um das Reisen, wie Ausfälle, Verspätungen, Überbuchungen und Annullierungen. Leidtragende sind immer die Reisenden! Deshalb ist es sehr begrüßenswert, dass heute, nachdem wir im Juni über unseren Antrag „Fluggastrechte stärken“ debattiert haben, das Thema „Schutz von Reisenden“ wieder auf der Tagesordnung steht. Generell kann den Anträgen der Grünen zugestimmt werden, auch wenn an manchen Stellen nachgebessert werden muss. So fehlt in dem recht ausführlichen und umfangreichen Antrag „Reisende besser schützen“ die Einbeziehung des mobilen Reiseverkäufers. Bei dieser Art der Reisebuchung, die weder einem stationären Ver- trieb wie im Reisebüro, noch dem Onlinevertrieb, ge- schweige denn einem Haustürgeschäft gleichzusetzen ist, wird die Reise beim Verbraucher zu Hause abge- schlossen. Hier besteht keine Versicherungspflicht gegen falsche Beratung oder Insolvenz. Es fehlt leider auch die Forderung, die Beschränkung der Versicherungssumme pro Versicherungsgesellschaft aufzuheben. Sie liegt derzeit bei 200 Millionen Euro pro Jahr, wohlgemerkt nicht pro Reiseveranstalter, sondern pro Versicherungsunternehmen. In Deutschland gibt es circa 1 000 Reiseveranstalter, wobei in jedem Reisebüro Reisen von mehr als 100 Veranstaltern angeboten wer- den. Den Reiseversicherungsmarkt teilen hauptsächlich fünf große Versicherungen unter sich auf. Diese mono- polartige Stellung muss dringend aufgehoben werden. Außerdem müssen die Verbraucherin und der Verbrau- cher die sofortige Auszahlung seiner gemeldeten An- sprüche geltend machen können – bisher haben sie nur am Jahresende hierauf einen Rechtsanspruch. Bedauerlich ist auch, dass der Antrag der Grünen vage bleibt hinsichtlich der auch von uns geforderten Einführung einer wirklich wirksamen und unabhängigen Schlichtungsstelle. So ist an keiner Stelle ausgeführt, welche Kompetenzen die Schlichtungsstelle erhalten soll. Und noch etwas haben die Grünen vergessen: In Deutschland gibt es kein Lizenzsystem für Reiseveran- stalter und Reisebüros. Derzeit gibt es in Deutschland circa 12 000 registrierte Reisebüros und circa 1 000 Rei- severanstalter. Jede beliebige Person kann als Reisever- anstalter oder Reisebüro fungieren, Anforderungen und Kontrollen gibt es nicht. Die Einführung einer europäi- schen Linzenz für Reiseveranstalter gesetzlich einzufüh- ren, die an eine Insolvenzabsicherung gekoppelt ist, wäre ein richtiger Schritt. Hier bin ich nun bei einem für uns ganz wesentlichen Punkt angekommen: einer wirklichen Absicherung der Reisenden gegen die Insolvenz von Fluggesellschaften. Besonders betroffen von einer uneinheitlichen Regelung sind jene Verbraucherinnen und Verbraucher, die eine In- dividualreise machen, da derzeit nur Pauschalreisende abgesichert sind. Diese Ungleichbehandlung ist nicht nachvollziehbar und muss dringend geändert werden. Alle Reisenden und Fluggäste müssen wirksam gegen eine Insolvenz abgesichert werden. Hier besteht dringen- der Handlungsbedarf! Um im Falle einer Insolvenz eine Absicherung finan- ziell auch wirklich gewährleisten zu können, befürwor- ten wir – so wie die Grünen auch – die Einführung eines Fonds, um im Notfall ungedeckte Ansprüche bedienen zu können. Um aber seine Rechte wahrnehmen zu können, muss man überhaupt erst einmal wissen, welche Rechte einem zustehen. Hier zeigt die Praxis immer wieder, dass Flug- gesellschaften gesetzlich verankerte Rechte, die Flug- gäste zum Beispiel bei Verspätungen oder Flugausfall haben, verschweigen und missachten. Eine Untersu- chung der „Stiftung Warentest“ ergab schon im Mai 2009, dass 86 Prozent der Passagiere von den Fluglinien keinerlei Informationen über ihre Rechtsansprüche er- hielten, wie sie in der EU-Verordnung 261/2004 defi- niert sind. Auch eine Umfrage, die am 15. November 2010 vom Bundesverband der Verbraucherzentralen ver- öffentlicht wurde, belegt die mangelhafte Umsetzung von Fluggastrechten durch die Airlines: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9155 (A) (C) (D)(B) Bestehende Ansprüche auf Betreuungsleistungen so- wie Ausgleichszahlungen wurden in den allermeisten Fällen von den Fluggesellschaften ignoriert. Nur jedem Vierten boten die Airlines Entschädigungen an, und auch das überwiegend erst auf Nachfrage. Auch ihrer Verpflichtung, die Fluggäste aktiv auf ihre Rechte hinzuweisen, kamen die Fluggesellschaften in über der Hälfte der Fälle nicht nach. Darauf folgende Beschwerden bearbeiteten sie sehr zögerlich, 22 Prozent der betroffenen Fluggäste erhielten gar keine Antwort. Nur in 3 Prozent der Fälle verlief die Rechtsdurchsetzung der Fluggäste reibungslos. Darüber hinaus nutzen Fluggesellschaften vermeintli- che Rechtsunklarheiten etwa bei Ansprüchen auf Scha- denersatz und Ausgleichzahlungen – Letztere fallen auch bei Naturkatastrophen wie dem isländischen Vul- kanausbruch an – einseitig zu ihren Gunsten. Ich frage Sie, meine Damen und Herrn Koalitionäre, sehen Sie denn nicht auch, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht und nicht alleine die Luftfahrtunternehmen in der Pflicht stehen, sondern auch der Gesetzgeber? Hilfreicher für die Durchsetzung der Fluggastrechte wäre sicherlich die Erfassung und Evaluierung von be- stimmten Daten, wie sie die Grünen in Ihrem Antrag auf Drucksache 17/4041 fordern. Gesichertes, öffentlich- rechtliches Datenmaterial ist laut Bundesregierung ja Voraussetzung für die Einleitung von Ordnungswidrig- keitsverfahren, somit ist die Forderung der Grünen ge- rechtfertigt und unterstützenswert. Allerdings müssten über das Verkehrsstatistikgesetz auch die Gründe für Verspätungen, Annullierungen, Nichtbeförderung oder Herabstufung im Sinne der EG- Verordnung Nr. 261/2004 aufgeführt werden. Diese Da- ten könnten dann von den betroffenen Fluggästen zur einfacheren Einforderung ihrer Rechte verwendet wer- den. Eine weitere Maßnahme im Sinne der Verbrauche- rinnen und Verbraucher wäre eine öffentliche Darlegung der Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Fluggesell- schaften, um über die Zuverlässigkeit der einzelnen Fluggesellschaften zu informieren und so eine höhere Transparenz zu erzielen. Zum Schluss möchte ich doch noch kurz auf einen an- dern aber dennoch wichtigen Aspekt eingehen. Es sollte unbestreitbar sein, dass denjenigen, die Unannehmlich- keiten bei ihrer Reise ausgesetzt waren, zu ihrem Recht und zu einer adäquaten Entschädigung verholfen wird. Genauso unbestreitbar sollte aber sein, dass Reisen für alle möglich ist. So kann es beispielsweise nicht sein, dass EU-Verordnungen zum barrierefreien Reisen – Ver- ordnung Nr. 1107/2006 –, die seit 2008 schon geltendes Recht in Deutschland sind, immer noch nicht vollständig umgesetzt sind. Ein Bespiel ist die kostenlose Mitnahme eines zweiten Rollstuhls, die aber immer noch Kosten verursacht. Zudem können Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer die Bordtoiletten nur mit Bordrollstühlen erreichen, die jedoch nur in wenigen Flugzeugen vorge- halten werden. Das ist ein nicht hinnehmbarer Miss- stand. Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Rechte der Fluggäste durch die Bundesregierung gestärkt und die Voraussetzungen zur Durchsetzung dieser Rechte auch geschaffen werden. Wir brauchen ein einheitliches, kla- res und freundliches Reiserecht für Verbraucherinnen und Verbraucher! Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wissen Sie wie viele verschiedene Rechtsakte den Ver- braucherschutz bei Verspätungen, Annullierungen, Nichtbeförderung etc. bei Reisen regeln? Nein? Kein Wunder! Denn es ist ein Dschungel. Und lassen sie mich eines sagen: Wir sind die Fachpolitiker, die das wissen sollten. Es sind mehr als ein halbes Dutzend verschie- dene Regelungen, die hier eigentlich Klarheit schaffen sollen und uns allen sofort einfallen sollten – schließlich sind wir ja alle mündige Verbraucher. Aber dazu kom- men noch viele weitere Regelungen, die ebenfalls das Reiserecht tangieren. Was ich Ihnen damit deutlich ma- chen möchte? Der Theorie nach ist das Verbraucher- schutzniveau damit sehr gut. Aber eben nur der Theorie nach – wie sich immer wieder herausstellt. Eine Feststellung gilt es gleich zu Beginn zu treffen: Die meisten Reisenden wissen wenig bis gar nichts von ihren Rechten. Und viele Unternehmen tun auch aktiv sehr wenig, um dies zu ändern. Im Gegenteil: Selbst von renommierten Unternehmen wird dies zuweilen ausge- nutzt. Woher diese Erkenntnis? Klingt sie doch zunächst furchtbar plakativ. Das bestätigt – mitunter – die Euro- päische Kommission, beispielsweise mit ihrem Euroba- rometer zu den Fluggastrechten. Tenor dieser Untersu- chung: Die Reisenden sind der Auffassung, dass die Informationen, die sie im Falle von Unannehmlichkeiten erhalten, unzureichend sind, und besonders unzufrieden sind sie mit der Entschädigung in derartigen Fällen. Damit kommen wir zum zentralen Problem. Denn das liegt in der Rechtsdurchsetzung. Sprich: Was ist, wenn Reisende ihren theoretischen Anspruch tatsächlich durchsetzen wollen? Da gilt es weite Wege zurückzule- gen. Das wollen wir ändern – deshalb dieser Antrag, den wir heute debattieren. Aus zahlreichen Bürgerzuschriften wissen wir, dass einige Unternehmen die Unwissenheit der Reisenden für sich ausnutzen und sie bei Widerspruch mit standardi- sierten Schreiben zu besänftigen – man könnte auch sa- gen: abzuwimmeln – versuchen. Die Schlichtungsstellen und Verbraucherverbände können sich vor Anfragen kaum retten. Trotzdem ist die Zahl derjenigen, die sich an diese Institutionen wenden, gemessen am Beschwer- depotenzial sehr gering. Wir wissen alle, wie in vielen Fällen dann der weitere Verfahrensgang ist. Nur Ver- braucher mit Rechtsschutz zeigen weiteren, gegebenen- falls auch juristischen Widerstand. Doch lassen Sie mich das hier einmal ausdrücklich festhalten: Nicht jeder Bun- desbürger hat eine Rechtsschutzversicherung. Die nach Verordnung legitimierten Durchsetzungs- stellen kümmern sich sehr wenig um die Rechte der Rei- senden. Ordnungswidrigkeitsverfahren – bei Flugreisen zwischen 3 000 und 4 000 pro Jahr – stehen in keinerlei Verhältnis zum Beschwerdepotenzial. Gemessen an an- 9156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) deren europäischen Staaten dürfte das täglich mehrere Hundert Fälle betragen. Einige deutsche Amtsgerichte beklagen hingegen schon heute Überlastungen. Die derzeitigen Bußgelder sind weder abschreckend noch wirksam. Das zeigt uns der Bereich der Fluggast- rechteverordnung. Dort liegen Bußgelder bei durch- schnittlich 3 000 Euro, Tendenz fallend. Und dann der Gipfel: Für die Evaluation benötigte Parameter liegen den deutschen Behörden nicht einmal vor. So weit die Beschreibung des Ist-Zustandes. Niemand kann sich mit dieser Situation abfinden. Ich bin der Auf- fassung, dass dies auch für die betroffenen Reise- und Verkehrsunternehmen kein Zustand ist, der besonders er- strebenswert ist. Kunden erwarten heute auch in diesem Bereich sehr viel. Eine konsequente Neuregelung wäre meines Erachtens auch ein Fortschritt für die Unterneh- men. Derzeit wird das Herzstück des Reiserechts mit der Pauschalreiserichtlinie und der Fluggastrechteverord- nung von der Europäischen Kommission überarbeitet. In den bisherigen Anhörungen und Beratungen auf Rats- ebene zeigte die Bundesregierung überhaupt kein Ge- sicht, äußerte sich zuweilen sogar gar nicht, wie Herr Ramsauer in der Sondersitzung Ende April 2010 bewie- sen hat, als die Fluggastrechte als prioritäres Thema auf- gerufen waren. Aufgrund der zögerlichen Haltung der Bundesregie- rung auf europäischer Ebene und bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts haben wir einen Antrag formu- liert, der das Ziel hat, einerseits das in Deutschland gute Verbraucherschutzniveau auf EU-Ebene zu übertragen und andererseits die Schwachstellen bei der Rechts- durchsetzung zu beheben. Wir wollen eine einheitliche Regelung zum Reiserecht, wie es Mitte September auch die Verbraucherschutzminister der Länder einstimmig beschlossen haben. Wir wollen, dass die Rechte von Flug-, Bahn-, Schiffs-, Pauschal- und wie auch immer sonst Reisenden in einem Rechtsakt gebündelt werden. In diesem Zusammenhang muss man wirklich betonen, dass diese Forderung nicht nur von uns, sondern auch von allen Bundesländern erhoben wird, gleichwohl von welchen Parteien sie regiert werden. Diese Vereinheitli- chung des Reiserechts bedeutet nicht nur Entbürokrati- sierung, sondern auch ein Mehr an Verbraucherschutz. Denn nur das, was der Verbraucher weiß und versteht, weiß er zu nutzen. Welche Elemente sollte diese neue europäische Rege- lung also im Interesse der Reisenden umfassen? Wir wollen eine Integration des Beförderungssektors in das Reiserecht. Wir müssen reden über die Ausweitung des Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und des Be- griffs der Pauschalreise. Da bedarf es einer Anpassung an das moderne Buchungsverhalten und -angebot über das Internet, das sogenannte Dynamic Packaging. Wir wollen eine klare Trennung zwischen Reisevermittler und -veranstalter und eine längst überfällige Präzisie- rung, wer wann was ist. Eine verschärfte Haftungspflicht sollte auch für Vermittler in der EU und nicht nur in Deutschland gelten. Ein Nebeneffekt könnte sein, dass es auf diese Weise leichter gelingt, adäquate, einheitliche Qualitätsstandards zusammen mit der Reiseindustrie durchzusetzen. Außerdem sollte eine intermodale An- passung der Schadenersatzansprüche – also entlang der Verkehrsträger – geprüft werden. Die meisten Probleme haben sich bislang aufgrund der unzureichenden Definition von außerordentlichen Umständen ergeben. Deshalb muss hier eine Klarstel- lung erfolgen. Die Bundesregierung wäre gut beraten, hier in den Debatten die genannten Punkte im Interesse der Verbraucher einzubringen. Soweit die europäische Dimension des Antrags. Es gibt aber selbstverständlich auch Dinge, die wir national regeln und verbessern können. Wichtigste und zugleich einfachste Maßnahme: Wir brauchen eine kon- sequentere Nutzung von Sanktionen bei Verstößen durch die Durchsetzungsstellen, beispielsweise das Luftfahrt- bundesamt. Da liegt viel im Argen. Die eingangs vorge- stellten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Zugleich muss Privatpersonen die Beschwerdehürde und somit der Anspruch im Hinblick auf Schadensersatz erleichtert werden. Bislang hilft, wie eingangs bereits dargestellt, häufig nur der Rechtsweg. In nahezu jedem Fall müssen zusätzliche Kosten – trotz entsprechender Verordnung – vorgestreckt werden. Das muss vermieden werden. Wichtigster Punkt für uns ist dabei die Einbin- dung der Fluggesellschaften in die Schlichtungsstelle öf- fentlicher Personenverkehr, SÖP, wie es Mitte Septem- ber im Übrigen auch die Verbraucherschutzminister der Länder – ebenfalls – einstimmig beschlossen haben. Auch das Eurobarometer der EU-Kommission sieht hier Handlungsbedarf. Eine gut zugängliche Behörde auf na- tionaler Ebene, die sich um die Probleme der Reisenden kümmert, könne die Lösung der Probleme sein, so die Schlussfolgerung der Untersuchung. Unser Ziel sind ein hohes Verbraucherschutzniveau und zufriedene Reisende. Darin sind wir uns alle einig. Zufriedene Kunden sind gut für die Reisewirtschaft und deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie unseren An- trag folgen könnten – im Interesse der Reisenden und der Wirtschaft. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Einsetzung ei- nes Nationalen Normenkontrollrates (Tagesord- nungspunkt 19) Kai Wegner (CDU/CSU): Ich will heute mit einem Beispiel beginnen, das uns allen schnell verdeutlichen wird, worüber wir bei diesem Tagesordnungspunkt re- den: Die Zehn Gebote Gottes haben 279 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat 300 Wör- ter, aber die EU-Verordnung zur Einfuhr von Karamell- bonbons hat 25 911 Wörter! Nun, es ist ja erfreulich, dass in Deutschland so viele Dinge genauestens und bis ins letzte Detail geregelt sind Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9157 (A) (C) (D)(B) – dafür werden wir ja auch gelegentlich bewundert –, aber diese, fast schon zwanghafte Regelungswut wird für uns mehr und mehr zu einer großen Last. Wenn man die Bürger befragt, was für sie Bürokratie bedeutet, dann bekommt man schon mal als Antwort zu hören: Von der Wiege bis zur Bahre Formulare, Formulare. Wir haben zwar inzwischen schon an der ein oder an- deren Stelle Ordnung in den Wust an Verordnungen, Regelungen und Gesetzen gebracht und mit über 300 Entlastungsmaßnahmen so manchen Papierstapel beiseite geräumt. Aber dennoch ist die Belastung, insbe- sondere für die Wirtschaft, unverhältnismäßig hoch. Und auch das Problem der Spürbarkeit der Entlastung bleibt weiterhin bestehen. Dies bestätigt uns auch eine aktuelle Umfrage unter den Unternehmern. Nur eine kleine Zahl – 3 Prozent – der befragten Unternehmen registrierten eine Verringe- rung administrativer Lasten, 36 Prozent merkten keine Veränderung, und 44 Prozent spürten sogar eine Zu- nahme von bürokratischen Aufgaben. Das ist zugegebener maßen ein eher unerfreuliches und enttäuschendes Ergebnis. Denn tatsächlich konnten insgesamt mehr als 6,7 Milliarden Euro an unnötiger Bü- rokratie eingespart werden. Damit wurden mehr als 22 Prozent an Bürokratiekosten im Vergleich zum Jahr 2006 abgebaut. Aber Bürokratieabbau ist kein Kurzstreckenlauf. Nein – Bürokratieabbau ist wie ein Marathonlauf! Die ersten Kilometer gehen relativ einfach, den größten Teil der Strecke schafft man unter den zu erwartenden An- strengungen. Aber irgendwann fängt es dann an wehzu- tun. Um das Ziel zu erreichen, muss man alle Kräfte und Reserven anzapfen. Umso schöner ist es, wenn man die Ziellinie erreicht hat und die Anstrengung spürbar nach- lässt. Man könnte sagen: Die Bundesregierung ist mit ih- rem Beschluss „Eckpunkte zum Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ Anfang des Jahres auf der Zielge- raden des Marathons Bürokratieabbau eingelaufen. Das Ziel, 25 Prozent der Bürokratiekosten bis Ende nächsten Jahres zu senken, liegt nicht mehr in allzu weiter Ferne. Wenn wir es erreichen wollen, heißt es jetzt: Alle vor- handenen Kräfte und Reserven aktivieren, damit die noch knapp fehlenden 3 Prozentpunkte abgebaut werden können. Ich bin zuversichtlich, dass wir diesen Marathonlauf schaffen werden. Denn mit der klaren Selbstverpflich- tung zum Nettoabbauziel und mit dem Ausbau der Kom- petenzen des Nationalen Normenkontrollrats machen wir einen großen Schritt hin zu mehr Entlastung für die Bürger, die Verwaltung und vor allem für die Wirtschaft. Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist es von essenzieller Bedeutung, den begonnenen Lauf weiter fortzusetzen. Denn nach wie vor ist der Mittelstand und sind die kleinen Unternehmen von staatlicher Regulie- rung besonders stark betroffen. Ausgehend von einer Gesamtbelastung der Wirtschaft von rund 50 Milliarden Euro müssen noch Abbaumaßnahmen von etwa 1,5 Milliarden Euro auf den Weg gebracht werden, um bis Ende nächsten Jahres das Ziel zu erreichen. Das er- fordert Kondition und, was fast noch wichtiger ist, politi- sche Willensstärke. Zudem haben sich die Rahmenbedingungen durch die Wirtschafts- und Finanzkrise verändert und erfordern in einigen Fällen mehr Regelungen. Die Verunsicherung ist groß und fördert die Versuchung, das Erreichte durch neue Bürokratiebelastungen wieder zu gefährden. Büro- kratie zu reduzieren und gleichzeitig wichtigen Bedürf- nissen anderer politischer Themenfelder gerecht zu wer- den, wurde immer mehr zum Balanceakt. Deshalb ist es eine große Errungenschaft der christlich-liberalen Bun- desregierung, dass zum ersten Mal „Bürokratieabbau“ und „bessere Rechtsetzung“ als eigenständige Politik- ziele, gleichrangig und vollwertig, neben anderen Poli- tikzielen stehen. Mit unserem Staatsminister für Büro- kratieabbau, Eckart von Klaeden, und seiner Ge- schäftsstelle haben wir in diesen Fragen unermüdliche und engagierte Streiter im Bundeskanzleramt. Dafür möchte ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen. Um auch weiterhin positive Ergebnisse sicherzustel- len, werden wir unsere Anstrengungen verstärken müs- sen. Denn die Akzeptanz von politischen Großprojekten dürfte entscheidend von ihrer möglichst alltagstaugli- chen Ausgestaltung abhängen. Zudem müssen wir tun- lichst darauf achten, dass wir die bereits erzielten Entlas- tungen von rund 7 Milliarden Euro pro Jahr nicht durch neue Belastungen an anderer Stelle wieder erhöhen. Der berühmte Jojo-Effekt wäre an dieser Stelle mindestens genauso ärgerlich. Damit das nicht passiert, wird uns der Nationale Nor- menkontrollrat genau beobachten. Und das wollen wir auch! Mit der Änderung des Normenkontrollratsgesetzes, das heute zur Abstimmung steht, bezieht die Koalition den Normenkontrollrat umfassender in die Rechtsetzung mit ein. Er wird erheblich gestärkt, und sein Mandat und die Kompetenzen werden ausgeweitet. Der unabhängige Normenkontrollrat bleibt die zentrale Institution des Bü- rokratieabbaus. Bisher prüft der Normenkontrollrat bei allen Gesetz- entwürfen der Bundesregierung die Darstellung des bü- rokratischen Aufwands, der durch die Befolgung soge- nannter Informationspflichten bei Bürgern, Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung entsteht – und regt gegebe- nenfalls die Erarbeitung kostengünstigerer Alternativen an. Künftig soll diese Begutachtung auf den gesamten Aufwand ausgedehnt werden, der für die Betroffenen bei der Erfüllung bundesrechtlicher Vorschriften anfällt. Das ist unter dem sogenannten Erfüllungsaufwand in § 2 zu verstehen. Dies bedeutet, dass in Zukunft alle Belastun- gen, die sich aus der Umsetzung eines Gesetzes ergeben, in den Blick genommen werden. Ein mutiger und be- wusster politischer Schritt zu einem ganzheitlichen An- satz, wie ich finde. Das entscheidend neue Element des Regierungspro- gramms ist die Betrachtung des gesamten Aufwands, der zur Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung notwen- dig ist. Diese Ausweitung des Programms auf den ge- 9158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) samten Erfüllungsaufwand bringt einen Perspektivwech- sel mit sich: Das Recht wird aus der Sicht aller Betroffenen untersucht und weiterentwickelt. Damit be- tritt die Bundesregierung – auch im internationalen Ver- gleich – methodisches Neuland. Wenn wir jetzt ein ähn- lich objektives Messverfahren für den Erfüllungs- aufwand für Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und die Verwaltung erarbeiten, wie es das Standard-Kosten- Modell leistet, dann sind wir an der Spitze der internatio- nalen Entwicklung. Ich begrüße es deshalb sehr, dass das Prüfungsrecht des Normenkontrollrats entsprechend erweitert wird. Die geplante Mandatserweiterung ist auch Ausdruck der hohen Wertschätzung für die Arbeit des Normenkont- rollrats. Und an dieser Stelle möchte ich mich deshalb ganz herzlich bei allen bedanken, die im Normenkon- trollrat mitarbeiten – sowohl bei denen, die den Normen- kontrollrat selbst bilden, als auch bei den Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern. Neben den Regelungsentwürfen der Bundesministe- rien soll der NKR künftig außerdem Gesetzesentwürfe des Bundesrates, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet werden, und Regelungsvorhaben aus der Mitte des Bun- destages, soweit die einbringende Fraktion bzw. die ein- bringenden Abgeordneten dies beantragen, prüfen kön- nen. An dieser Stelle hat die Anhörung zum Normenkontrollratsgesetz einige politische und verfas- sungsrechtliche Fragen aufgeworfen. Die in unserem Änderungsantrag vorgesehene Regelung stellt nun klar, dass jedes Verfassungsorgan seine Initiativen dem Nor- menkontrollrat eigenständig zuleiten kann. An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, dass ich mich sehr darüber freue, dass alle Fraktionen dieses Hauses den grundsätzlichen Kurs der Regierungskoali- tion in Sachen Bürokratieabbau unterstützen. Es mag an der ein oder anderen Stelle unterschiedliche Herange- hensweisen geben, wie die Abbauziele zu erreichen sind. Auch gibt es gewisse Wünsche und Begehrlichkeiten, die in diesem Zusammenhang gesehen werden. Aber im Großen und Ganzen sind wir uns alle einig, dass wir den eingeschlagenen Weg weiterhin zusammen gehen müs- sen. Allerdings haben wir noch eine schwierige Strecke vor uns. Denn auch wenn wir einen wichtigen Etappen- erfolg erzielt haben – und der Jahresbericht der Bundes- regierung zum Bürokratieabbau, der gestern vorgestellt wurde, zeigt uns dies –, darf jetzt der Siegeswille nicht nachlassen. Für das Jahr 2011 sind zahlreiche weitere Maßnah- men vorgesehen, die die Wirtschaft trotz notwendiger neuer Belastungen zusätzlich um 4,6 Milliarden Euro entlasten werden. Die Maßnahmen reichen von der zu- künftigen Möglichkeit der papierlosen Kommunikation mit den Finanzämtern über die Bereitstellung vorausge- füllter Steuererklärungen bis hin zur Vereinfachung des Unternehmensteuerrechts. Insbesondere die Verkürzung und Harmonisierung der Aufbewahrungsfristen im Steuer-, Handels- und Sozialrecht werden wir mit Nachdruck begleiten. Denn mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen verbinde ich die große Hoffnung, dass wir zu einer für die Unter- nehmen wirklich sichtbaren und spürbaren Entlastung kommen. Wenn die Betriebe nur noch halb so viel Platz für ihre Akten und Steuerunterlagen vorhalten müssen als jetzt, dann können sie die frei werdenden Räumlich- keiten sinnvoller nutzen, und es schmälert zugleich die Kosten für die Archivierung. Unser Ziel muss doch immer eines bleiben, nämlich: Umfang und Nebenwirkungen der Regelungen so gering wie möglich zu halten! Denn nur wenn die Menschen in unserem Land das Gefühl haben, dass es den tatsächlichen Willen gibt, Bü- rokratie auf ein Minimum zu reduzieren, dann wächst auch die Akzeptanz staatlichen Handelns, und zwar auf allen Ebenen. Andrea Wicklein (SPD): Der Nationale Normen- kontrollrat wurde vor vier Jahren durch die Große Koali- tion ins Leben gerufen und hat bereits viel erreicht. Bis- her konnte die Bürokratiebelastung der Wirtschaft um über 7 Milliarden Euro pro Jahr reduziert werden. Besonders wichtig ist auch die Arbeit des Normenkon- trollrates an Modellprojekten zum Abbau des Voll- zugsaufwandes. So wurde zum Beispiel das BAfög-An- tragsverfahren durchleuchtet. Der Normenkontrollrat wächst da auch in eine Beratungsfunktion für die unteren politischen Ebenen hinein. Für uns als Parlamentarier hat der Normenkontrollrat eine wichtige Funktion: Bürokratiekosten, die aus Infor- mationspflichten entstehen, werden transparent gemacht und damit wird uns eine wichtige Entscheidungsgrund- lage für die Beratung von Gesetzen an die Hand gege- ben. Schon bei der Formulierung von Gesetzen sorgt die Überprüfung durch den Normenkontrollrat dafür, dass unnötige Belastungen der Wirtschaft und der Bürgerin- nen und Bürger vermieden werden. Es geht darum, Ge- setze besser zu machen. Es geht um bessere Regeln, mehr Transparenz und eine bessere Rechtsetzung. Ich begrüße daher, dass bei dieser Reform ein weitgehender Konsens erzielt werden konnte. Doch Bürokratieabbau ist leider bei einigen zu einem Schlagwort für Staatsabbau geworden. Daraus resultie- ren auch die Befürchtungen, die vor allem Gewerkschaf- ten gegen das Programm zum Bürokratieabbau haben. Ich möchte deshalb für die SPD noch einmal ausdrück- lich betonen: Uns geht es beim Bürokratieabbau darum, Verwaltungsabläufe zu überprüfen und zu modernisie- ren, wenn möglich zu vereinfachen. Für uns bedeutet Bürokratieabbau aber nicht, bewährte soziale oder ge- sellschaftliche Standards zu reduzieren oder notwendige Aufgaben des Staates infrage zu stellen. Ob im Umwelt- schutz, beim Steuerrecht oder beim Arbeitsrecht: Eine effiziente Verwaltung ist notwendig, um die Interessen der Bürgerinnen und Bürger und der Gemeinschaft zu si- chern. Uns geht es um ein besseres Verhältnis der Bürge- rinnen und Bürger zu den staatlichen Stellen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9159 (A) (C) (D)(B) Gleichzeitig möchte ich denjenigen, die jede Bürokra- tie gleich als unbeherrschbares Monster darstellen, an dieser Stelle sagen: Staatliche Regeln sorgen für Bere- chenbarkeit, Rechtsschutz und Gleichbehandlung. Erst die Erhebung von Informationen durch den Staat sorgt für Steuereinnahmen oder sinnvolle Regulierung. Erst die nötigen Informationen sichern dem Hartz-IV- oder BAfög-Empfänger seine Leistungen. Trotzdem muss das Ausfüllen eines BAfög-Antrages nicht 335 Minuten dauern, wie der Normenkontrollrat herausgefunden hat. Der Bürokratieabbau sollte daher nicht ideologisiert werden – seine Instrumente auch nicht. Wir bestehen da- rauf, dass der Nationale Normenkontrollrat nicht als politisches Instrument missbraucht wird. Wir werden mit dem Abbau bürokratischer Lasten dann Erfolg haben, wenn Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger durch effizientere Prozesse und einen redu- zierten Aufwand für das Ausfüllen von Formularen die Entlastungen tatsächlich spüren. Das wird auch die Ak- zeptanz für unvermeidbare Bürokratie erhöhen. Wir se- hen es als SPD daher positiv, dass die Befugnisse des Normenkontrollrates ausgedehnt werden sollen, dass in Zukunft der gesamte Erfüllungsaufwand dargestellt wer- den muss. Das resultiert auch aus den gesammelten Er- fahrungen, die der Normenkontrollrat seit seiner Einset- zung im Jahr 2006 machen konnte. Bis jetzt hat sich der Normenkontrollrat auf die Büro- kratiekosten beschränkt, die aus bundesrechtlichen In- formationspflichten entstehen. Zukünftig soll der Rat er- mitteln, ob der gesamte Aufwand der Unternehmen und der Bürger zur Erfüllung einer gesetzlichen Norm ord- nungsgemäß durch den Einbringer eines Gesetzes darge- stellt wurde. Es soll auch möglich sein, Gesetzentwürfe auf Antrag des Bundesrates oder der Fraktionen des Bundestages zu überprüfen. Im federführenden Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hatten wir einen Änderungsantrag einge- bracht. Kritisch sahen und sehen wir zwei Punkte, die ich kurz erläutern möchte. Zum einen war es uns wichtig zu betonen, dass der Normenkontrollrat nicht politisch instrumentalisiert werden darf – weder von der Regie- rung noch von der Opposition. Bei der Anhörung wurde sogar die Frage der Verfassungswidrigkeit aufgeworfen. Wir haben daher vorgeschlagen, dass Gesetzentwürfe aus dem Parlament nur auf Wunsch der einbringenden Fraktion überprüft werden sollten. Ich freue mich, dass die Regierungsfraktionen unserem Vorschlag gefolgt sind und ihn übernommen haben. Zum anderen wollten wir klarstellen, dass über die politische Zielsetzung von Gesetzentwürfen allein das Parlament entscheidet, nicht der Normenkontrollrat. Wir wollten daher deutlicher formulieren, was unter „Erfül- lungsaufwand“ zu verstehen ist. Er sollte unserer Mei- nung nach nur den direkten zeitlichen und monetären Aufwand umfassen. Wir wollten ihn vom Vollzugsauf- wand der Behörden unterscheiden und die indirekten Auswirkungen von Gesetzen, wie zum Beispiel auf Wachstum, Beschäftigung oder Investitionsentscheidun- gen von der Prüfung durch den Normenkontrollrat aus- nehmen. Leider hat die Regierungskoalition diesen Än- derungsvorschlag abgelehnt. Eine Klarstellung an dieser Stelle ist dringend geboten. Nun muss der Normenkon- trollrat selbst in seiner täglichen Arbeit für Klärung sor- gen. Wir setzen natürlich darauf, dass der Nationale Nor- menkontrollrat so wie in der Vergangenheit Bescheiden- heit übt. Wir werden aber als Opposition sehr genau da- rauf achten, dass der Normenkontrollrat von einigen nicht als Einfallstor missbraucht wird, um soziale oder ökologische Standards oder Rechte von Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmern abzubauen. Die übergeordneten Ziele des Bürokratieabbaus sind – so glaube ich – kon- sensfähig. Dazu zählt, Gesetze besser zu machen, Regeln zu vereinfachen und den Vollzug von Gesetzen kostengünstiger hinzubekommen. Der Nationale Nor- menkontrollrat ist dafür auch das entscheidende Instru- ment. Mir ist kein besseres bekannt. Deutschland hat dabei eine Vorbildwirkung. Das Standardkostenmodell wird in vielen europäischen Staa- ten angewandt. Den gesamten Erfüllungsaufwand zu messen ist jedoch Neuland. Das hat auch die Anhörung im Deutschen Bundestag ergeben. Wir wissen, dass es sich dabei um einen laufenden Prozess handelt, der die weitere Begleitung durch den Bundestag, aber auch durch die Öffentlichkeit und Fachexperten bedarf. Sicher erleben wir heute nicht die letzte Reform des Nationalen Normenkontrollrates. Die SPD wird sich auch in Zu- kunft dafür einsetzen, dass der zu überprüfende Erfül- lungsaufwand von Gesetzen deutlicher formuliert wird. Vielleicht übernimmt die Regierungskoalition dann auch diesen Vorschlag der SPD. Denn es bleiben offene Fragen: Wie wird der Nor- menkontrollrat in Zukunft mit seinen neuen Befugnissen umgehen? Die Regierungskoalition hat ja auf einen kla- ren Rahmen jetzt weitgehend verzichtet. Werden wir in Zukunft darüber diskutieren, was der Normenkontrollrat überhaupt kontrolliert? Ich denke nicht, dass solche offe- nen Fragen der Arbeit des Normenkontrollrates gut tun. Sie werden sicher in näherer Zukunft bei weiteren Refor- men zu beantworten sein. Frank Schäffler (FDP): Ludwig Erhard hat einmal gesagt: „Was sind das für Reformen, die uns Wände voll neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsverordnun- gen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht. Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen bringen, wenn nicht sogar zwingen.“ Die Themen „Bürokratieabbau“ und „bessere Recht- setzung“ sind für die christlich-liberale Koalition zen- trale Themen. In unserem Koalitionsvertrag haben wir uns der Maxime verpflichtet: „Der freiheitliche Staat soll nicht bevormunden, sondern den Gestaltungsraum von Bürgern und Unternehmen respektieren.“ Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Meilenstein auf dem Weg zur konsequenten Fortsetzung des Büro- kratieabbaus und der besseren Rechtsetzung. Mit ihm werden wir den Nationalen Normenkontrollrat, NKR, stärken. Als unabhängige und kompetente Institution 9160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) wird er zukünftig nicht nur die Gesetzentwürfe der Bun- desregierung prüfen, sondern die Vorlagen aller Gesetz- gebungsorgane: Der NKR überprüft die Regelungsent- würfe der Bundesministerien vor deren Vorlage an das Bundeskabinett. Regelungsvorlagen des Bundesrates prüft er, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet werden. Gesetzesvorlagen des Bundestages prüft der NKR auf Antrag der einbringenden Fraktion oder der einbringen- den Abgeordneten. Damit wird die Qualität der Recht- setzung aller Gesetzgebungsorgane erhöht. Das Statisti- sche Bundesamt steht Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat bei Bedarf unterstützend zur Verfügung. Der durch Informationspflichten ausgelöste Aufwand, auf den sich der Bürokratieabbau bisher beschränkte, macht nur einen geringen Teil der Gesamtbelastung durch eine rechtliche Regelung aus. Deshalb haben wir den engen Begriff der Bürokratiekosten ausgedehnt: Mit dem Erfüllungsaufwand werden der gesamte messbare Zeitaufwand und die Kosten, die durch bundesrechtliche Vorschriften bei Bürgerinnen und Bürgern, bei Unter- nehmen sowie bei der öffentlichen Verwaltung entste- hen, dargestellt. Ein entscheidender Faktor für den bisherigen Erfolg der Tätigkeit des NKR war der „depolitisierte Ansatz“: Der Normenkontrollrat hat nur zu prüfen, ob die zu er- wartenden Bürokratiekosten nachvollziehbar und metho- dengerecht dargestellt werden. Nach wie vor wird die Kompetenz des NKR hierauf beschränkt bleiben. Ziele und Zwecke einer Regelung sind nicht Gegenstand einer Kontrolle durch den NKR, sondern unterliegen weiter- hin der politischen Entscheidung der Gesetzgebungs- organe. Wir wollen den NKR in seiner beratenden Rolle stärken, aber seine politische Neutralität und Unabhän- gigkeit erhalten! Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung wirken wie ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Wir halten deshalb an dem bestehenden Ziel fest, die Informations- pflichten der Wirtschaft bis 2011 im Vergleich zu 2006 um netto 25 Prozent zu reduzieren. Dass wir dieses Ziel erreichen werden, zeigen die gestern von der Bundes- regierung veröffentlichten Zahlen: So beträgt die Ge- samtabbaubilanz momentan 22,6 Prozent gegenüber der Belastung im Jahr 2006. Bis Ende 2010 wurden Verein- fachungsmaßnahmen mit einem Entlastungsvolumen von rund 6,7 Milliarden Euro pro Jahr umgesetzt. 2011 werden wir weitere Maßnahmen umsetzen, dazu hat die Bundesregierung bereits am 29. Juni 2010 den Umset- zungsplan zur Realisierung des 25-Prozent-Nettoabbau- ziels vorgelegt. Der Bürokratieabbau wird für die FDP aber nicht mit dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels Ende 2011 abgeschlossen sein – insbesondere auch mit Blick auf den Erfüllungsaufwand werden wir im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft bürokrati- sche Hemmnisse konsequent weiter abbauen und die Rechtsetzung verbessern. Michael Schlecht (DIE LINKE): Die Linke hat die Einsetzung des Normenkontrollrates von Anfang an ab- gelehnt, weil sein Auftrag in doppelter Weise falsch ist. Erstens prüft der Kontrollrat nur die Kosten des Voll- zugs, nicht aber den Nutzen von Gesetzen. Wenn aber die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalb der Betrach- tung bleibt, sind auch vernünftige Abwägungen von Kosten und Nutzen unmöglich. Zweitens konzentriert sich der Kontrollrat auf die Entlastung der Unternehmen und dabei insbesondere auf die Vermeidung von Infor- mationspflichten. Diese beiden Schwerpunkte sind zu ei- genständigen Politikzielen geworden. Statt auf bessere Regulierung zielt der NKR auf Deregulierung. Die nun beabsichtigte Erweiterung des NKR-Mandats ist angesichts der Krisenerfahrungen der vergangenen Jahre abzulehnen. Bessere, zielgenauere Regulierung sollte im Mittelpunkt stehen und nicht noch mehr einsei- tige Deregulierung. Einem falsch konstruierten und falsch mandatierten Gremium noch mehr Befugnisse zu geben, lehnen wir entschieden ab. Den Handlungsbe- reich des NKR auch auf die Gesetzesinitiativen der Frak- tionen, also auch der Opposition, ausdehnen zu wollen, haben wir von Anfang an abgelehnt. Das zumindest hat jetzt auch die Koalition eingesehen und darauf mit einem eigenen Änderungsantrag reagiert. Aber an der falschen Ausrichtung des NKR ändert sich nichts. Zu Recht stellte der Sachverständige des DGB während der Anhörung zum Gesetzentwurf die Frage, warum Bürokratie unbedingt billiger und nicht hauptsächlich besser werden sollte. Wer Gesetzesfolgen richtig abschätzen will, muss zunächst die Ziele und den Nutzen von Gesetzen im Blick haben. Erst danach lässt sich abwägen, ob es an der einen oder anderen Stelle ei- nen unverhältnismäßigen Erfüllungsaufwand gibt. Und das sollte nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Beschäftigte und Bürgerinnen und Bürger gelten. Besser ist es deshalb, in Gesetzgebungsverfahren oder bei der Verabschiedung von Vorschriften von vornherein die Praxistauglichkeit und nicht zuletzt auch die Ver- ständlichkeit als wesentliche Kriterien zu berücksichti- gen. Zu diesem Zweck sollten mehr als bisher die Inte- ressen von Beschäftigten und von Bürgerinnen und Bürgern in die Anhörungen und generell in die Mei- nungsbildung von Legislative und Exekutive einfließen. Eine bessere Staatlichkeit in diesem Sinne fördert der NKR bislang kaum, wie seine Jahresberichte zeigen. Sein eindeutiger Fokus ist die Entlastung von Unterneh- men. Im letzten Jahresbericht sind die dort genannten 365 Vereinfachungsmaßnahmen nahezu ausschließlich unternehmensbezogen. Interessant ist dabei, dass die großen Posten der Kostenersparnis mit Bürokratieabbau gar nichts zu tun haben. Sie ergeben sich daraus, dass Papier durch elektronische Mitteilungen ersetzt wird. Summiert man diese technologisch bedingten Entlas- tungsbeiträge, kommt man auf über 90 Prozent der Ge- samtersparnis. Mit anderen Worten: Der von der Bun- desregierung behauptete Bürokratieabbau ist im Kern eine technische Neuerung. Soweit Bürgerrechte jeweils gewahrt bleiben, ist diese Innovation zu begrüßen. Zu- gleich zeigen die Größenverhältnisse, dass der Bürokra- tieabbau im engeren Sinne offensichtlich nur sehr be- grenzte Wirkungen hat. Zum Teil werden aber auch Informationspflichten in Gänze gestrichen. In diesem Zusammenhang mahnt der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9161 (A) (C) (D)(B) Beirat des Statistischen Bundesamtes zu Recht, „beim Abbau von Statistikpflichten neben den Bürokratiekos- ten und Entlastungspotenzialen auch die damit einher- gehenden Informationsverluste systematisch zu berück- sichtigen. Die Streichung von Merkmalen oder ganzen Erhebungen kann zu einem Verlust an Informationen führen, der sich auch nachteilig auf die Qualität von Ge- setzen auswirken kann. Informationsverluste müssen in den statistikrelevanten Gesetzentwürfen deutlicher als bisher aufgezeigt werden. Dadurch können Kosten und Nutzen von amtlichen Statistiken besser abgewogen werden.“ Bisweilen hat man den Eindruck, dass – neben Steu- erreformen – der Bürokratieabbau das letzte wirtschafts- politische Aufgebot der Regierung ist. Dabei ist häufig noch nicht einmal nachvollziehbar, wie die Bundesregie- rung und der Normenkontrollrat ihre Entscheidungen ab- wägen. Wir halten es für falsch, den Normenkontrollrat, ein eher intransparentes und einseitig auf Kostensenkung orientiertes Gremium, zu stärken. Das geht dann so weit, dass die FDP zur Finanzierung ihrer Steuergeschenke an Besserverdiener geringere Sicherheitsstandards im Au- tobahnbau fordert. Das nützt Bauunternehmen, aber wird für die Gesellschaft teuer. Einstürzende U-Bahn-Schächte in Köln lassen grüßen. Bürokratieabbau muss mit Verstand erfolgen und mehr Demokratie wagen. Wir brauchen keine Gesetze und Verwaltungsvorschriften, die nicht sachgerecht sind, die einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern oder die in Gänze widersinnig sind. Wir brauchen keinen Ob- rigkeitsstaat, der die Bürgerinnen und Bürger gängelt und bevormundet. Einen Bürokratieabbau in diesem Sinne begrüßen wir. Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir begrüßen den Gesetzentwurf grundsätzlich. Unsere soziale Marktwirtschaft braucht einen geeigneten Rah- men aus guten Regeln, Standards und Normen, der von den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert wird. In vielen Fällen sind Regelungen und Regulierungen, wie auch Informationspflichten, wichtig und notwendig. In vielen Fällen sind sie aber auch unnötig kompliziert und aufwendig. Solche überbürokratischen Regeln und Ver- fahren werden – seitens der Unternehmen wie auch sei- tens der Bürgerinnen und Bürger – zunehmend kritisiert und sorgen für Unverständnis. Unnötige Bürokratie ab- zubauen entfaltet deshalb eine hohe Wirkung, gibt posi- tive konjunkturelle Impulse und stärkt den Wirtschafts- standort Deutschland. Dies gelingt aber nur dann, wenn dieses Weniger an Bürokratie für Unternehmen, Bürge- rinnen und Bürger und für die Verwaltung auch tatsäch- lich spürbar ist. Es ist deshalb sinnvoll, dass der Nor- menkontrollrat zukünftig den gesamten bürokratischen Erfüllungsaufwand prüfen soll, der durch Bundesgesetze ausgelöst wird und nicht nur die Informationspflichten. Denn um unnötige Bürokratie zu vermeiden, brauchen wir ein realistischeres Bild der tatsächlichen Belastun- gen. Wir erweitern mit dem Gesetz das Mandat des Normenkontrollrates. Zukünftig sollen auf Antrag der einreichenden Fraktion bzw. des einreichenden Abge- ordneten auch Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Bun- destages geprüft werden. Das führt zu mehr Klarheit und ist unbestritten ein Fortschritt. Allerdings ging der ur- sprüngliche Gesetzentwurf weiter. Geplant war, dass zum Beispiel auch Koalitionsentwürfe auf Antrag einer Fraktion dem Normenkontrollrat zur Prüfung zugeleitet werden können. Damit wäre ein Schlupfloch für beson- ders bürokratielastige Gesetzentwürfe der Regierungs- fraktionen geschlossen worden. Die Koalitionsfrak- tionen und auch die SPD-Fraktion hatten hier nun Bedenken, sodass jetzt die Prüfung nur auf Antrag der einbringenden Fraktion möglich sein wird. Wir finden das etwas bedauerlich. Allerdings sehen auch wir hier noch Klärungsbedarf zu den verfassungsrechtlichen Ein- wänden. Meine Fraktion wird sich deshalb bei der Ab- stimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Der Aufwand, die bürokratische Belastungen zu er- fassen, darf nicht bei den Fraktionen abgeladen werden. Das Initiativrecht der Fraktionen darf nicht beschädigt werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Aus- weitung des Mandats des Normenkontrollrates. Dieser Forderung von uns kommt die Koalition zumindest zum Teil nach, weil das Statistische Bundesamt nun auch uns Abgeordnete bei der Bürokratiekostenermittlung unter- stützen kann. Es wird sich im Verfahren zeigen, ob dies so praktikabel gelöst ist. Gegebenenfalls müssen wir aber hier nachsteuern. Ein weiterer Punkt auf unserer Reformagenda bleibt die größere Unabhängigkeit des Normenkontrollrates von der Regierung. Wir schlagen hier vor, die Auswahl der Mitglieder des Normenkon- trollrates nicht mehr ausschließlich in die Hand der Bun- desregierung zu legen, sondern über die Besetzung des Rates auch im Bundestag abzustimmen. Last but not least kommen komplizierte und aufwendige Regelungen mitunter auch erst im parlamentarischen Verfahren über Änderungsanträge in die Gesetzentwürfe hinein. Der Normenkontrollrat sollte deshalb auch vor Abschluss ei- nes Gesetzgebungsverfahrens eine abschließende Stel- lungnahme abgeben. Dies wäre notwendig, damit die Expertise in der parlamentarischen Beratung noch ange- messen berücksichtigt werden kann. Bürokratische Belastungen für Bürgerinnen und Bür- ger und Unternehmen entstehen nicht nur durch die Ge- setzgebung, sondern vor allem durch den Vollzug der Gesetze. Eine Verringerung überzogener Bürokratielas- ten kann deshalb nicht allein auf Bundesebene gelingen, sondern braucht eine gemeinsame Anstrengung aller staatlichen Ebenen. Die Bundesregierung sollte hier ak- tiv werden und eine gemeinsame Initiative mit Ländern und Kommunen anstoßen. Auch müssen zu starke büro- kratische Belastungen aus bereits vorhandenen Gesetzen viel mehr in den Blick genommen werden. Diese Mam- mutaufgabe kann der Normenkontrollrat allein nicht leisten. Hier ist die Regierung gefordert, ein umfassen- des Bürokratieabbauprogramm zu entwerfen, das unnö- tige bürokratische Belastungen aus allen geltenden ge- setzlichen Regelungen zusammenstellt, und bis zur Mitte dieser Wahlperiode eine umfassende Gesetzesini- tiative zum Abbau dieser Bürokratielasten vorzubereiten 9162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) und im Deutschen Bundestag zur Abstimmung zu stel- len. Unnötige bürokratische Belastungen zu vermeiden und abzubauen, muss auch viel stärker in das alltägliche Regierungsdenken und -handeln integriert werden. Die Ministerien sollten für jedes Jahr verbindliche Bürokra- tieabbauziele für ihr Haus formulieren und bei den jähr- lichen Haushaltsberatungen über deren Einhaltung be- richten. Die Bundesregierung hat in ihrem Jahresbericht 2009 zum Stand des Bürokratieabbaus erstmals klargestellt, dass sie eine „Netto-Entlastung der Wirtschaft um 25 Prozent bis Ende 2011“ anstrebt. Trotzdem hat sie auf eine transparente Gegenüberstellung der belastenden und entlastenden Maßnahmen verzichtet. Diese wäre aber zwingend notwendig, um die Erfüllung des Netto- ziels nachprüfbar zu machen. Auch der Normenkontroll- rat hatte diese unklare Darstellung bereits kritisiert. Es ist deshalb notwendig, dass die Bundesregierung zu- künftig bei ihrer Berichterstattung zum Stand des Büro- kratieabbaus auch über belastende Maßnahmen transpa- rent und nachvollziehbar berichtet. Anlage 6 Zu Protokolll gegebenen Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Strom- steuergesetzes (Tagesordnungspunkt 20) Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir beschließen heute in zweiter und dritter Beratung den Gesetzentwurf zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge- setzes, in dem es um verschiedene Themenbereiche geht. Schwerpunkt dieses Änderungsgesetzes ist der Aus- gleich steuerlicher Unterschiede, die in der Vergangen- heit immer wieder für Ärger sorgten. Auch sollen hier- mit im Rahmen des Vollzuges dieser Gesetze bisher aufgetretene Umsetzungsschwierigkeiten eliminiert wer- den. Es geht aber auch darum, klarzustellen, dass steuerli- che Unterschiede wie bei Fern- und Nahwärme nivelliert werden, wie auch, dass die von der Großen Koalition be- schlossene Abschaffung der Steuerbefreiung von Kohle zum Verheizen in Privathaushalten nun tatsächlich – ins- besondere aus Umweltgesichtspunkten – zementiert wird. Ein Hauptpunkt dieses Gesetzentwurfes, der gerne von der Opposition angegriffen wird, weil er natürlich auch der mit der größten haushalterischen Auswirkung ist, ist die Verstetigung der Agrardieselvergünstigung. Trotz der hier zu beschließenden Reduzierung ist dieser im Ver- gleich zu anderen Ländern der EU – ja, ich sage weltweit – immer noch der höchste Steuersatz für den Einsatz von Treibstoff in der Landwirtschaft. Diese Sonderbelastung ausschließlich der deutschen Landwirtschaft konterka- riert das Ziel der gleichen Wettbewerbschancen innerhalb der Europäischen Union. Die Minderung des Steuersatzes auf 25,5 Cent, die von der Großen Koalition am 9. Fe- bruar 2009 beschlossen wurde, ist nach meiner Auffas- sung immer noch zu wenig, vor allem, wenn ich an unsere unmittelbaren Nachbarn Frankreich und Österreich denke. Aber ich werbe bei diesem Punkt auch bei meinen Bauern um Verständnis für die derzeitige Haushaltslage unseres Staates. Auch muss man der deutschen Land- wirtschaft insgesamt sagen, dass in den Bereichen der Agrarförderung bis hin zum Berufsgenossenschaftsbei- trag heute vieles an finanzieller Erleichterung durchge- setzt ist, was vor Jahren noch unvorstellbar war. Deshalb sage ich der Opposition in aller Deutlichkeit: Auch Sie reden immer von gleichen Wettbewerbsbedin- gungen, beschimpfen uns aber für diesen Schritt, der EU-weit gesehen für die deutsche Landwirtschaft drin- gend nötig ist. Dieser Steuersatz ist immer noch nur die Hälfte des Ziels, das wir eigentlich erreichen wollten. Ich bleibe dabei: Mittelfristig müssen wir die europäi- schen Energiesteuern dringend angleichen, um in einem Wirtschaftsraum gleiche Voraussetzungen für die ge- samte Industrie und Landwirtschaft zu schaffen. Die anderen vom Finanzausschusses empfohlenen Änderungen im Gesetzentwurf möchte ich hier kurz skizzieren: Das Inkrafttreten des Gesetzes zur Vermei- dung einer echten Rückwirkung wird, auch aus verfas- sungsrechtlichen Gründen, auf den 1. April 2011 verlegt. Gleichzeitig werden Maßnahmen mit begünstigender Wirkung für Bürger und Unternehmen schon zum 1. Januar 2011 in Kraft treten. Für feste Sekundär- und Ersatzbrennstoffe, die nicht entsprechend ihrem Energiegehalt einer Besteuerung un- terworfen sind und verheizt werden, wird ein niedriger Auffangsteuersatz eingeführt, der sich an der Höhe des Steuersatzes für Kohle und Petrolkoks orientiert. Die im Ursprungsentwurf vorgesehene Streichung der Steuerbefreiung für Klär- und Deponiegase, die durch eine Definitionsänderung bei gasförmigen Biokraft- und Bioheizstoffen sozusagen durch die Hintertür erfolgt ist, konnten wir zurücknehmen. Durch die unter EU-Vorbe- halt stehende dezidierte Aufnahme der Klär- und Depo- niegase in den Befreiungstatbestand schaffen wir steuer- rechtliche Gleichheit aller gasförmigen Energieträger bei umweltschonender Verwendung. Dieses Thema wurde ja auch deutlich im Fachgespräch des Finanzausschusses am 10. November 2010 von den Sachverständigen vor- getragen, genau wie das Thema Steuerbefreiung von In- dustriegasen, dem auch Sie seitens der Opposition in den Einzelanträgen zugestimmt haben. Bei Industriegasen haben wir uns auf eine eng be- grenzte Definition geeinigt; die zukünftige Stromsteuer- befreiung bei der Herstellung von Industriegasen ist, wie vorhin schon angesprochen, eigentlich nur eine Korrek- tur des Energiesteuergesetzes, das am 1. August 2006 in Kraft getreten ist. Ich weise aber hier in aller Deutlich- keit darauf hin, dass dieser Sachverhalt noch unter dem Vorbehalt einer Prüfung durch die EU steht, unterstelle aber, dass Brüssel dies genehmigen wird. Wovon reden wir hier? In vielen thermischen Prozes- sen werden hochwertige Gase wie Edelgase und Reinst- gase eingesetzt, die mit hohem Stromeinsatz durch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9163 (A) (C) (D)(B) Elektrolyse oder in kryogenen Luftzerlegungsanlagen hergestellt werden. Die Gasgewinnung erfolgt in der Re- gel nahe am Verbrauch der Industriegase; sie können je- doch auch standortfern produziert werden, müssen dann aber mit Straßen- und Schienentankwagen in Druckgas- behältern transportiert werden. Um – bei einem Abwan- dern der Herstellung ins benachbarte Ausland – einen hohen logistischen Aufwand zu vermeiden, galt es den Standortnachteile im deutschen steuerlichen Einzugsbe- reich auszumerzen. Bei der Fernwärme, bei der wir als Koalition nicht den Anträgen der Opposition folgen, gibt es aus unserer Sicht große Probleme bei der Unterscheidung von Fern- und Nahwärme, die auch im Fachgespräch nicht ausge- räumt werden konnten. Wenn dies für die betroffenen 4 Millionen Haushalte, wie von Ihnen vorgetragen, zu einer Belastung von 1 Euro/Monat führen könnte, ist das, übers Jahr gerechnet, der Gegenwert von zwei Schachteln Zigaretten. Aber wie erkläre ich einem Heizöl- oder Gasbezieher, dass er die steuerliche Belas- tung tragen muss? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit den ökologischen Vorteilen der Fernwärme: Alte KWK- Anlagen sind auch nicht nur rein! Wenn wir von Gleich- heit vor dem Grundgesetz reden, müssen wir Gleiches auch gleich behandeln! Dass die Verlängerung der Subvention von Heizkohle in Privathaushalten nun endlich „abgefrühstückt“ ist, sollte, an die SPD gerichtet, mit Hinweis auf ihre eige- nen Beschlüsse hier nicht vertieft werden. Mit der Gesetzesvorlage durch die Bundesregierung, den Beschlüssen, die wir im Rahmen des Haushaltsbe- gleitgesetzes für den Bereich der Energiesteuerentlas- tung für Unternehmen schon getroffen haben und den Änderungen an diesem Gesetz im Zuge der Beratungen im Finanzausschuss haben wir eine ausgewogene Be- und Entlastung der Unternehmen in Industrie und Land- wirtschaft, der Verbraucher und des Bundeshaushaltes erreicht. Peter Aumer (CDU/CSU): Die Weltklimakonferenz in Cancún war ein Erfolg. Erstmalig ist das 2-Grad-Ziel von der Weltgemeinschaft offiziell anerkannt worden. Die Weltklimakonferenz hat sich zudem nach schwieri- gen Verhandlungen und in letzter Minute auf ein umfas- sendes Maßnahmenpaket verständigt, das einen wesent- lichen Schritt darstellt, um dieses Ziel zu erreichen. Die dabei getroffenen Entscheidungen sind ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Klimaabkommen. Das Paket von Cancún umfasst Minderungsmaßnahmen von Industrie- und Entwicklungsländern, die Errichtung eines globalen Klimafonds, Verabredungen zur Anpassung an die Fol- gen des Klimawandels, zum Waldschutz, zur Technolo- giekooperation und zum Kapazitätsaufbau in Entwick- lungsländern. Es wurde ein Verfahren zur Überprüfung vereinbart, welche zusätzlichen Maßnahmen zur Einhal- tung des 2-Grad-Ziels erforderlich sind. Anhand der klimapolitischen Ziele der Bundesregie- rung wollen wir die Energie- und Stromsteuer verbes- sern sowie die bestehen Vorschriften an das sich ständig ändernde Marktumfeld für Energieerzeugnisse anpassen. Im Einzelnen enthält das Gesetz folgende wesentliche Maßnahmen: Erstens. Die Steuerbegünstigung für die Herstellung von Energieerzeugnissen wird in sich schlüssiger ausge- staltet, indem wesentliche Herstellungsprozesse mit ein- bezogen werden und die Steuerbegünstigung den ver- stärkten Einsatz umweltfreundlicheren Erdgases zulässt. Zweitens. Auf die Entstehung eines Marktes für Se- kundär- und Ersatzbrennstoffe wird reagiert, indem ein am Energiegehalt orientierter Steuertarif eingeführt wird. Die Regelung verhält sich steuerlich neutral und vereinfacht für Unternehmen und Verwaltung das Be- steuerungsverfahren. Drittens. Mit einer Ausweitung der Möglichkeiten zur Steuerentlastung auf leicht- und mittelschwere Öle wird Bedürfnissen von Unternehmen Rechnung getragen, die aus technischen Gründen für bestimmte Verfahren nur Leichtöl verheizen können. Bisher konnten diese Öle und die ihnen von der Beschaffenheit her ähnlichen En- ergieerzeugnisse nur zu den Steuersätzen für Kraftstoffe verheizt werden. Viertens. Die Betriebe der Forst- und Landwirtschaft werden unterstützt, indem der mit dem Haushaltsbegleit- gesetz 2005 eingeführte Selbstbehalt von 350 Euro und die Obergrenze von 10 000 Liter je Betrieb gestrichen werden. Damit wird der forst- und landwirtschaftliche Sektor vor dem Hintergrund der weiterhin ungleichen Besteuerung von Agrardiesel im EU-Vergleich verstärkt entlastet. Dies ist vor allem für die CSU eine wichtige Reform. Durch die allgemeine Verunsicherung der Verbrau- cher und den Druck bei den Erzeugerpreisen sind die deutschen und bayerischen Landwirte unmittelbar von der derzeitigen Wirtschaftskrise betroffen. Deshalb ist es immens wichtig, der Land- und Forstwirtschaft jetzt ein unterstützendes Signal zu geben. Der Abbau von Wett- bewerbsverzerrungen im europäischen Binnenmarkt steht dabei an erster Stelle. Spitzenreiter bei der Besteue- rung des wichtigsten Energieträgers der Land- und Forstwirtschaft, beim Agrardiesel, ist Deutschland. Hier findet eine massive Benachteiligung im europäischen Wettbewerb statt. Ein 25 Hektar großer Betrieb wird ge- genüber gleich großen Betrieben im europäischen Aus- land um bis zu 1 100 Euro pro Jahr benachteiligt. Durch den jetzigen Wegfall des Selbstbehaltes und der Obergrenze werden die Betriebe in einem schwieri- gen wirtschaftlichen Umfeld spürbar entlastet. Dass diese Erleichterung für unsere Bauern heute in abschlie- ßender Lesung behandelt wird, ist ausschließlich auf die unnachgiebige Haltung der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag zurückzuführen. Keine andere Partei vertritt die Interessen der Land- und Forstwirte so konsequent und standhaft. Auch bei energieintensiven Unternehmen fällt zu- künftig die zusätzliche Belastung weniger stark aus. So wären zum Beispiel die Kosten für die Strom- und Ener- giesteuer eines großen Walzwerkes mit über 2 100 Mit- arbeitern nach dem Kabinettsbeschluss von 878 000 auf 2 720 000 Euro angestiegen. Durch die von uns gefor- 9164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) derten Änderungen reduziert sich die Belastung um 1 342 000 Euro pro Jahr. Sie liegt gegenüber dem Kabi- nettsentwurf nun bei 1 378 000 Euro pro Jahr. Gerade für die Wettbewerbsfähigkeit unserer mittelständischen Wirtschaft sind diese Maßnahmen wichtig. Die ermäßigten Steuersätze sind keine Steuerge- schenke oder Steuersubventionen. Sie waren mit der Einführung der ökologischen Steuerreform im Jahr 1999 eingeführt worden, um die Chancengleichheit deutscher Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht zu beeinträchtigen. An diesem Sachverhalt hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Die Energiepreise werden mehr und mehr zu einem Standortnachteil für Deutschland. Nach Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums lie- gen allein die Industriestrompreise in Deutschland inklu- sive Steuern um 30 bis 35 Prozent höher als in Frank- reich, Spanien oder Schweden. Die ständig steigenden Energiekosten bilden bei den Unternehmen einen immer größeren Kostenblock. Es ist die Herausforderung unserer Zeit, der sich die CSU stellt, die Dynamik Deutschlands zu erhalten, den Fortschritt zu fördern und den Wohlstand des Landes zu sichern. Mit den Änderungen des Energie- und Strom- steuergesetzes entlasten wir unsere Unternehmen und bringen Deutschland weiter voran. Gleichzeitig setzen wir aber auch auf Nachhaltigkeit und leisten einen Bei- trag zum Klimaschutz. Gerade das ist das Ziel der christlich-liberalen Koalition. Nachhaltigkeit und wirt- schaftliche Vernunft sind konkreter Handlungsauftrag, der sich aus unserer sozialen Marktwirtschaft ergibt. Zum Schluss meiner Rede wünsche ich uns allen ge- segnete Weihnachten, besinnliche Tage sowie alles er- denklich Gute für das neue Jahr 2011. Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Der Gesetzentwurf zur Änderung der Energie- und Stromsteuer, den wir heute beraten, reiht sich in dreierlei Hinsicht nahtlos in die Liste der Gesetze ein, die Sie in den letzten Wochen hier im Parlament beschlossen haben. Dabei gilt: Es gibt kein geordnetes systematisches Vorgehen, Lobbygruppen wer- den begünstigt und die Verbraucherinnen und Verbraucher werden belastet. Wie bei der Tabaksteuer – gerade mal zwei Wochen ist das her – sind auch die von ihnen geplanten Änderun- gen bei der Energie- und Strombesteuerung rein haus- haltspolitischer Natur. Es gilt, möglichst viel Geld einzu- treiben, um die Haushaltslöcher zu stopfen, die Ihr verfehltes und sozial unausgewogenes Sparpaket und die Anfang dieses Jahres verteilten Steuergeschenke an Ho- tels und Erben verursacht haben. Das ist die unbequeme und nicht zu leugnende Wahrheit. Der zu erwartende Wi- derstand der Industrie ließ nicht lange auf sich warten – und das sogar zu Recht. Ich erinnere in diesem Zusam- menhang noch einmal an das Haushaltsbegleitgesetz 2011: Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten uns schon bei den Beratungen hier im Bundestag dafür ausgespro- chen, auf die von Ihnen geplanten massiven Steuermehr- belastungen der energieintensiven Unternehmen zu ver- zichten, da diese insbesondere mittelständische Betriebe treffen. Die Auswirkungen auf das produzierende Ge- werbe in Deutschland sind zudem überhaupt nicht ab- sehbar. Was wir brauchen, ist eine längerfristige Pla- nungssicherheit für die betroffenen Unternehmen, ins- besondere für die Energiebesteuerung der Industrie nach 2012, wenn die beihilferechtliche Befristung der Euro- päischen Kommission endet. Sie als Bundesregierung sind aufgefordert, zügig eine Analyse der realen Wettbewerbswirkungen der heutigen Steuervergünstigungen und ein darauf fußendes schlüs- siges Energiekonzept vorzulegen. Zurzeit kann ich kein Konzept erkennen. Auch wenn Sie sich jetzt für ein ge- mäßigteres Modell beim Abbau der Steuervergünstigun- gen für energieintensive Betriebe entschieden haben, entbinden Sie diese einzelnen unsystematischen Maß- nahmen nicht aus der Verantwortung, eine fundierte und berechenbare Politik zu machen. Bislang existiert an- stelle eines durchdachten Energiekonzeptes nur ein va- ger Prüfauftrag für die Ausgestaltung von Gegenleistun- gen für Ökosteuervergünstigungen der deutschen Wirt- schaft ab 2013. Das ist schlichtweg zu dürftig. Ganz konkret hingegen ist die Begünstigung be- stimmter Lobbygruppen. Beim Agrardiesel werden Selbstbehalt und Mengenbegrenzung gestrichen. Sie ma- chen sich zum Erfüllungsgehilfen der Landwirtschafts- lobbyisten. Immerhin führt diese Maßnahme, die der Deutsche Bauernverband seit Jahren und fast schon ge- betsmühlenartig wiederholt immer wieder fordert, zu zu- sätzlichen Steuermindereinnahmen des Bundes in Höhe von rund 260 Millionen Euro pro Jahr. Durch diese Steu- erausfälle kann es zu Kürzungen bei Förderprogrammen wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küs- tenschutz kommen. Darunter leiden dann Leistungsfä- higkeit und Umweltverträglichkeit der Landwirtschaft. Da die Obergrenze von 10 000 Litern in der Regel erst von Betrieben mit mehr als 70 Hektar überschritten wird, profitieren vor allem Großbetriebe überdurch- schnittlich vom Wegfall der Obergrenze. Während ein 100-Hektar-Betrieb in den Genuss von Steuerermäßi- gung in Höhe von knapp 1 000 Euro kommt, sind es bei einem 1 000-Hektar-Betrieb 30 000 Euro. Wie Sie mit einer solchen Politik zudem Ihr selbstge- setztes Ziel – eine Harmonisierung der Besteuerung des Agrardiesels auf europäischer Ebene – erreichen wollen und können, ist und bleibt mir vollkommen schleierhaft. Eher ist diese Art von Steuerpolitik geeignet, unsere Nachbarn in Europa dazu zu bewegen, ihre Subventio- nen bei der Landwirtschaft beizubehalten und schlimms- tenfalls sogar zu erhöhen. Doch was wir in Europa am wenigsten brauchen, ist ein Subventions- oder Steuer- senkungswettbewerb. Die Zeche für die Agrarsubventionen zahlen – wie eingangs erwähnt – schon wieder die Verbraucherinnen und Verbraucher. Bei der Tabaksteuer waren es die Rau- cher, jetzt trifft es diejenigen, die mit Fernwärme heizen. Mit Streichung der energiesteuerlichen Begünstigung für die Fernwärmeversorgung werden circa 4 Millionen Haushalte mehr Heizkosten bezahlen müssen; allein in Berlin werden ungefähr 600 000 Haushalte tiefer in die Tasche greifen müssen. Selbst der Bundesrat – ein- schließlich der von Ihnen geführten Regierungen – hat Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9165 (A) (C) (D)(B) sich dafür ausgesprochen, die Steuervergünstigung für die Fernwärme zu erhalten – aber offenbar ohne Erfolg. Die Menschen werden sich auch von Ihren geplanten Steuervereinfachungen keinen Sand in die Augen streuen lassen. Die von Ihnen diskutierte Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrages bringt ihnen nicht allzu viel. Vielmehr als eine Tasse Kaffee im Monat wird die Anhebung von 920 auf 1 000 Euro pro Jahr für die meis- ten Steuerzahler nicht bringen. Die Option, nur noch alle zwei Jahre eine Lohnsteuererklärung abzugeben – so sie dieses überhaupt dürfen –, wäre für die meisten Lohn- steuerpflichtigen sogar von Nachteil: 18 Millionen von 20 Millionen Steuerzahlern, die eine Erklärung abgeben müssen, bekommen vom Finanzamt zu viel gezahlte Steuern erstattet. Machen sie ihre Erklärung nur alle zwei Jahre, gewähren sie dem Finanzminister einen zins- losen Kredit und verlieren selbst Zinseinnahmen. Un- term Strich bleibt es also dabei: Die Verbraucher schauen in die Röhre, das können Sie nicht kaschieren. Neben den schon erwähnten Belastungen für viele private Haushalte ist die Streichung der Steuervergünsti- gung klimapolitisch kontraproduktiv und verfehlt. Wir alle wissen: Die Fernwärme leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung der Klima- und Umweltziele Deutschlands. Insbesondere in Verbindung mit Kraft- Wärme-Kopplung sowie bei der Nutzung von Abwärme bietet sie eine hocheffiziente Verwendung regenerativer und fossiler Energieträger. Das gilt auch für die Nutzung erneuerbarer Energien in Ballungsräumen, die ein relativ begrenztes Dachpotenzial und eingeschränkte Möglich- keiten für die Nutzung von Wärmepumpen auf der Basis von Erd- oder Umweltwärme aufweisen. Darüber hinaus reduzieren moderne, hocheffiziente Fernwärmeanlagen im Vergleich zu Einzelheizungen die Bildung von Fein- staub und luftgetragenen Schadstoffen und tragen somit zu einer Verbesserung der Luftqualität in städtischen Verdichtungsräumen bei. Wir alle wissen: Eine steuerliche Entlastung der Fern- wärme im Energiesteuergesetz ist wichtig und notwen- dig, um das von der Bundesregierung gesetzte Ziel, den KWK-Anteil an der gesamten Stromerzeugung bis 2020 auf 25 Prozent zu erhöhen, nicht zu gefährden. Neben den angesprochenen KWK-Anlagen sind Heizwerke ein bedeutsamer und unverzichtbarer Bestandteil in den meisten Fernwärmenetzen. Sie gewährleisten nicht nur die umweltfreundliche, weil effiziente Abdeckung von Bedarfsspitzen, sondern auch den ökologisch und öko- nomisch sinnvollen Ausbau von Wärmenetzen. Wir alle wissen: Die an die Fernwärmenetze ange- schlossenen Heizsysteme unterliegen in der Regel dem Emissionshandel und treten in Konkurrenz mit anderen Heizlösungen, die nicht am Emissionshandel teilneh- men. Es gibt also keine vergleichbaren Ausgangsbedin- gungen auf dem Wärmemarkt. Eine Fortführung der steuerlichen Begünstigung der Fernwärme hätte dem Abbau bestehender Wettbewerbsnachteile der Fernwär- meversorgung gedient. Ihre Politik ist daher wettbe- werbsschädlich. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir als SPD-Fraktion aus den genannten Gründen ausdrücklich ab. Dr. Birgit Reinemund (FDP): Ich wundere mich über die Haltung der Grünen: Sie nutzen die heutigen eher technischen Änderungen des Energiesteuergesetzes, um die Koalition schon heute für etwas zu kritisieren, was erstens bereits beschlossen ist und was zweitens Sie in eigener Regierungsverantwortung gesetzlich so gere- gelt haben. Es war schließlich Rot-Grün, die bei Einfüh- rung der Ökosteuer – volkswirtschaftlich richtig – er- kannt hatten, dass die Belastung für energieintensive produzierende Unternehmen zu groß geworden wäre, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Rot- Grün hatte damals aus innerer Überzeugung – so hoffe ich doch – diese Industriebereiche größtenteils von der Besteuerung ausgenommen, um Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und Verlust von Arbeitsplätzen zu verhin- dern. Gleichzeitig wurde ein Vertrag mit der Wirtschaft geschlossen, im Gegenzug bis 2012 die Energieeffizienz zu steigern. Das haben die Unternehmen eingehalten. Wir haben vor kurzem im Rahmen des Haushaltsbe- gleitgesetzes eine moderate Erhöhung beschlossen; das Bundesfinanzministerium wollte ursprünglich weit hö- here Mehreinnahmen aus rein haushälterischen Grün- den. Heute beschweren sich die Grünen in ihrem Antrag, dass die Belastungen für die Industrie nicht hoch genug seien, und werfen dieser Regierung vor, vor der Industrie einzuknicken. Nein, das war kein Einknicken vor der In- dustrie; das war volkswirtschaftliche Vernunft, die Sie 1999 auch noch hatten, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Das heute ist schon ein Stück weit Heu- chelei. Denn es ist doch eine einfache Wahrheit: Steuer- aufkommen zur Haushaltskonsolidierung kann die Wirt- schaft nur beisteuern, wenn die Betriebe überlebensfähig bleiben und wenn Gewinne versteuert werden können, aber nicht wenn Produktionen verlagert und Arbeits- plätze abgebaut werden. Der alte Kampf Ökologie gegen Ökonomie ist überholt; es geht nur gemeinsam. Die enormen Fortschritte in der Effizienzsteigerung sind der beste Beweis, auch wenn das die Grünen durch ihre ideologisch gefärbte Brille heute nicht mehr wahrhaben wollen. Die Koalitionsfraktionen dagegen nehmen mit diesem Gesetzentwurf sowohl einzelne umwelt- und klimapoli- tisch relevante Themen auf – zum Beispiel bei der Nut- zung von Erdgas für die Stromerzeugung, bei Klär- und Deponiegasen oder der Hafenproblematik. Gleichzeitig werden Wettbewerbsnachteile in abgegrenzten Berei- chen ausgeglichen – zum Beispiel bei der Herstellung von Industriegasen, der energieintensivsten Branche überhaupt, oder bei der Landwirtschaft. Bisherige Zwei- felsfälle im Gesetzestext werden jetzt klar definiert. Lassen Sie sich mich einige Beispiele erläutern. Zu- nächst zum Beispiel Agrardiesel. Die Forst- und Land- wirtschaft ist kein funktionierender freier Markt, son- dern innerhalb der EU stark reglementiert und sub- ventioniert. Aus zwei Gründen tritt die FDP seit Jahren für die Steuerermäßigung von Agrardiesel ein, und die Koalitionsparteien haben dies auch so im Koalitionsver- trag festgeschrieben. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens zu wettbewerblichen Gründen: Deutschland hat europa- weit nach wie vor die mit Abstand höchsten Steuersätze auf Agrardiesel. Bei uns sind es 27 Cent/l, in Frankreich 9166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) dagegen nur 0,6 Cent/l. Seit 1998 haben sich die Steuern auf den Kraftstoff für die Landwirtschaft in Deutschland fast vervierfacht, während sie in Nachbarländern wie Österreich und Frankreich sogar gesunken sind. Die deutschen Landwirte haben deshalb einen Wettbewerbs- nachteil von bis zu 50 Euro pro Hektar Land. Diese Wettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums ist zu beseitigen. Unser mittelfristiges Ziel ist die einheitliche Besteuerung von Agrardiesel in Europa – so wie es selbst die Grünen fordern. Zweitens zu den steuersystematischen Gründen: Die Mineralöl- steuer dient vorrangig für den Erhalt und Ausbau des Straßennetzes. Die Traktoren fahren überwiegend auf ei- genem Land der Landwirte, nicht auf den Straßen. Nun zum Beispiel Ersatz- und Sekundärbrennstoff und der Abfallverbrennung. Nach EU-Recht müssen alle Kohlenwasserstoffverbindungen, wenn sie der Strom- erzeugung dienen, besteuert werden. Bei hochkalori- schen sortenreinen Abfallprodukten – wie Öl – ist dies nach Brennwert bereits heute üblich. Bei gemischten Abfällen muss eine Definition gefunden werden, um eine hoch bürokratische Brennwertermittlung zu vermei- den. In der Anhörung war der Hauptkritikpunkt die Höhe des Brennwerts auf dem Niveau von Öl. Als realis- tisch angesehen wurde die Festlegung auf den Brennwert von Kohle; das heißt 0,33 Euro statt 1,73 Euro. Da die betroffenen Betriebe in der Regel die Steuerbegünsti- gung über den Spitzenausgleich nutzen, ist diese Ände- rung kostenneutral. Zum Beispiel Klär- und Deponiegas. Diese Gase sind nach heutiger Gesetzeslage steuerbefreit. Diese Befrei- ung sollte nach Gesetzesentwurf des BMF gestrichen werden, angeblich aus EU-rechtlichen Gründen. Wir wollen die Befreiung beibehalten, um vor allem kommu- nale Stadtwerke nicht zusätzlich zu belasten und um keine Anreize zu schaffen, die Gase abzulassen statt zu verbrennen, was nicht zulässig ist und ökologisch fatal wäre. Methan ist sehr energiereich, aber auch extrem kli- maschädlich und zwar 21-mal klimaschädlicher als CO2. Die Verbrennung von Klär- und Deponiegas ist also auch aus ökologischer Sicht sinnvoll. Beide sind von der De- finition für gasförmige Biokraft- und Bioheizstoffe aus förderpolitischen Gesichtspunkten nicht erfasst. Daher ist diese Konkretisierung hilfreich. Zum Beispiel Industriegase. Die Zerlegung von Luft zur Herstellung technischer Gase wie Sauerstoff oder Stickstoff oder von Edelgasen ist der stromintensivste Produktionsprozesse überhaupt. 50 bis 70 Prozent der Kosten des Produkts sind Stromkosten. Laut EU-Richtli- nie können Prozesse mit mehr als 50 Prozent Stromkos- tenanteil steuerbefreit werden. Dies trifft für die Luftzer- legung zu. Weitere Prozesse, die diese Bedingung erfüllen, sind bisher nicht bekannt. Befreit wird aus- schließlich der Produktionsprozess selbst, nicht das Ge- samtunternehmen. Die Industriegase waren bereits 2006 im Gesetzentwurf enthalten und wurden damals aus poli- tischen Rangeleien herausgenommen. Betroffen sind nicht nur die bekannten großen Hersteller mit guten Bi- lanzen, sondern viele Industriebereiche der chemischen Industrie wie zum Beispiel BASF usw. Wir wollen mit dem Änderungsantrag der Koalitionsparteien diese Branche – und explizit nur diese – wieder aufnehmen, um Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und Arbeitsplätze in Deutschland zu halten. Unter Berücksichtigung der klimapolitischen Ziele der Bundesregierung schaffen wir mit diesem Gesetz weitere Rechts- und Planungssicherheit für die betroffe- nen Branchen – und bessere Chancen im internationalen Wettbewerb. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Um eine sichere und bezahlbare, vor allem unabhängige Energieversorgung für diese und die folgenden Generationen sicherzustel- len, ist es nötig, heute die Weichen dementsprechend zu stellen. Sie aber stellen die Weichen falsch. Sie verlängern gegen alle Proteste die Laufzeiten der Atomkraftwerke. Damit schaffen Sie weiteren radio- aktiven Abfall. Zudem bescheren Sie den Atomkon- zernen massive Gewinne. Vor allem behindern Sie somit den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das wissen Sie. Auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Energie- und Stromsteuergesetzes führt in die falsche Fahrtrich- tung. Denn Sie verabschieden heute weitere Steuerver- günstigungen und Steuerbefreiungen für den Einsatz fos- siler Energieträger. Die Kosten werden dann wieder die Bürgerinnen und Bürger tragen müssen. Ich will kurz auf die wichtigsten Punkte eingehen. Positiv hervorzuheben ist die steuerliche Begünsti- gung von Schiffen, die ihren Strom von Land beziehen und somit weniger Schadstoffe in die Luft pusten. Aber das war es dann fast schon. Kurz zu drei Punkten: Erstens: Fernwärme. Die Fernwärmeversorgung, ins- besondere durch Kraft-Wärme-Kopplung, ist eine be- sonders effiziente Nutzung von Brennstoffen; sie macht insbesondere in städtischen Gebieten Sinn. Diese An- sicht teilten Sie, zumindest kurzzeitig. Denn im Entwurf des Haushaltbegleitgesetzes 2011 war eine Steuerent- lastung für den Bereich der Fernwärmeversorgung verankert. Auch der Bundesrat forderte mit Beschluss vom 26. November 2010 eine steuerliche Entlastung. Umso unverständlicher ist, dass dieser Passus in der ab- schließenden Bereinigungssitzung des Haushaltsaus- schusses gestrichen wurde, und jetzt wollen Sie das in Gesetzesform gießen. Die Fernwärme ist ein wichtiges Element, um die Klima- und umweltpolitischen Ziele zu erreichen. Wir empfehlen Ihnen, wie auch die Sach- verständigen aus der Anhörung zum Energie- und Stromsteuergesetz, die ursprüngliche Absicht umzuset- zen und Fernwärme steuerlich zu begünstigen. Wir un- terstützen daher den Änderungsantrag von SPD und Grünen. Zweitens: Zu den Ökosteuerausnahmen. Seit Einführung der Ökosteuer sind gerade jene Firmen weit- gehend von Zahlungen befreit, die viel Strom verbrau- chen. Die Bundesregierung wollte diesen Missstand mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 endlich teilweise be- seitigen. Aber daraus wurde nichts, wie wir wissen. Die Ökosteuerprivilegierung soll beibehalten werden; zah- len dafür dürfen Raucherinnen und Raucher durch Erhöhung der Tabaksteuer. Das heißt, Sie hoffen, dass Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9167 (A) (C) (D)(B) Raucherinnen und Raucher weiterhin ihre Gesundheit gefährden, sodass Ihre energieintensiven Unternehmen weiter von der Ökosteuerbelastung verschont werden und Sie trotzdem zu Ihren geplanten Mehreinnahmen kommen. Ich komme zum dritten Punkt, zum Agrardiesel: Ich erinnere noch einmal daran, dass im Rahmen der Konjunkturpakete beim Agrardiesel für land- und forstwirtschaftliche Betriebe eine steuerliche Entlastung erfolgte, indem die Deckelung auf 10 000 Liter und der Selbstbehalt von 350 Euro entfiel. Diese Maßnahme sollte befristet sein. Doch jetzt wollen Sie diese unbefristet verstetigen. Wie aber die Anhörung zeigte, profitieren in erster Linie flächenstarke Ackerbaubetriebe. Diese werden jedoch bereits durch Direktzahlungen der Euro- päischen Union in Höhe von 5,5 Milliarden Euro jährlich begünstigt. Außerdem wird der Anreiz genommen, vom Mineralöl wegzukommen. Dadurch schwächen Sie ge- rade die mittelständische Wirtschaft vor Ort, die sich auf Pflanzenöltreibstoffe spezialisiert hat. Ich fasse also zusammen: Mit diesem Gesetzentwurf schaffen Sie weitere Steuervergünstigungen für den Ein- satz fossiler Energieträger und fahren umweltpolitisch weiter in die falsche Richtung. Wir werden ihn daher ablehnen. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erst kün- digt Schwarz-Gelb an, dass die energieintensiven Unter- nehmen einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leis- ten sollen und schreibt das ins Haushaltsbegleitgesetz 2011. Dann knickt Kanzlerin Merkel vor der Industrie ein, schrumpft den Subventionsabbau um 600 Millionen Euro und bittet stattdessen die Raucher zur Kasse. Sie spielt ein doppeltes Spiel. Und jetzt will Schwarz-Gelb sogar neue klimaschädliche Subventionen für Industrie und Landwirtschaft in das Energiesteuergesetz schrei- ben. Die geplanten Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden sind damit auf nicht einmal 550 Millionen Euro für den Bund zusammengeschmolzen. Erst hü, dann hott, und am Ende weiß niemand mehr, wo die Regierung in der Energiebesteuerung eigentlich steht oder mal hinwollte. Auf so eine billige Verwirrungstaktik fallen wir nicht he- rein. Die Wahrheit ist: Sie haben das grüne Mäntelchen, in das Sie Ihre ohnehin rein haushalterisch motivierten Maßnahmen gehüllt haben, nun wie einen kratzenden Pulli abgeworfen und entblößen wieder den wahren Cha- rakter Ihres Tuns. Nämlich die Ausrichtung des Regie- rungshandelns an den Interessen der Starken, in diesem Fall der Industrielobbies. Das passt ins Gesamtbild der pseudo-ökologischen Energiepolitik der Bundesregierung. Zuvor gab es eine ähnliche Nummer bei der Brennelementesteuer. Sie ha- ben den angekündigten Gesetzentwurf zur Einführung der Brennelementesteuer im September kurzfristig von der Tagesordnung genommen. Warum? Um zunächst in Hinterzimmern mit der Energiewirtschaft darüber zu verhandeln, welche Weihnachtsgeschenke die Damen und Herren von der Atomlobby denn gern hätten. Die Atomwirtschaft konnte nicht nur eine deutliche Absen- kung des Steuersatzes erreichen, sondern auch eine zeit- liche Befristung der Steuer bis zum Jahr 2016. Mit dem letztlich verabschiedeten Gesetz werden selbst in diesem Zeitraum die vom Bund geplanten Einnahmen von jähr- lich 2,3 Milliarden Euro niemals zu erreichen sein. Legt man den ursprünglichen Rechenansatz des Bundes- finanzministeriums zugrunde, ergibt sich ein „Brutto“- Aufkommen von nur 1,5 Milliarden Euro. Wenn man be- rücksichtigt, dass es infolge der Brennelementesteuer weitere steuerliche Mindereinnahmen geben wird, bei- spielsweise bei der Körperschaftsteuer; bleiben letztlich netto nur rund 1 Milliarde Euro für den Staatshaushalt übrig. Ohne Not wird die soziale und die ökologische Ver- schuldung in die Höhe getrieben. Schwarz-Gelb schont die Atomwirtschaft, die energieintensive Industrie und die industrielle Landwirtschaft bei den Energiesteuern zulasten von Geringverdienenden und ALG-II-Empfän- gern und -Empfängerinnen, die ihren Beitrag zur Haus- haltssanierung uneingeschränkt erbringen müssen. Diese klientelistische Politik ist sozial ungerecht und lediglich an kurzfristigen Interessen ausgerichtet. Dabei gelingt nicht mal die angekündigte Sanierung des Staats- haushaltes. Die Kollateralschäden dieses Tuns sind dafür umso größer. Weder das Haushaltsbegleitgesetz 2011 noch der heute zu beratende Gesetzentwurf lassen ein klares Konzept für eine klimaschutzorientierte Energie- besteuerung erkennen. Die Bundesregierung kann keine Auskunft darüber geben, welchen Belastungen Unter- nehmen durch die Energiebesteuerung unterliegen und wie sich diese auf deren Wettbewerbsfähigkeit auswir- ken. Kein Wunder, dass die Wirtschaft es so leicht hatte, die schwarz-gelben Vorschläge aufzuweichen, wenn die politische Diskussion mit Behauptungen statt mit Fakten geführt wird. Wir leisten uns im Bereich Energie zahlreiche milliar- denschwere Vergünstigungen und Subventionen, die nicht nur überflüssig sind, sondern die notwendige Um- stellung der Wirtschaft verzögern und das Klima schädi- gen. Fast 4,5 Milliarden Euro bei den Strom- und Ener- giesteuern werden jährlich allein den energieintensiven Unternehmen selbst nach dem vollmundig angekündig- ten Subventionsabbau geschenkt. Mineralölhersteller sind sogar komplett von der Energiesteuer für ihren eige- nen Energieverbrauch befreit. Kohleverstromung wird mit insgesamt rund 2 Milliarden Euro gefördert. Auch andere klimaschädliche Energieträger wie Öl und Uran erhalten über direkte oder indirekte Wege seit Jahrzehn- ten Milliarden aus öffentlichen Fördertöpfen. Es ist an der Zeit, diese Politik der Energiesubventio- nierung grundsätzlich zu überdenken und zu reformie- ren. Was wir jetzt brauchen, ist eine Reform der Energie- steuer, die sich vorrangig am Klimaschutz orientiert. Dabei müssen berechtigte wirtschaftliche Interessen der Unternehmen nicht übergangen werden. Klimapolitik ist nicht wirtschaftsfeindlich. Im Gegenteil. In einer Welt, in der Energie ein knappes Gut ist, das absehbar teuer wird, können nur diejenigen Unternehmen im Wettbe- werb bestehen, die jetzt in Energiemanagementsysteme investieren, ihre Produktionsprozesse jetzt verändern und alle Möglichkeiten zur Einsparung von Energien 9168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 (A) (C) (D)(B) nutzen. Die Energiebesteuerung kann dazu beitragen, die notwendige Umstellung der Wirtschaft zu beschleuni- gen. Mit dem heute vorgelegten Gesetz wird diese Chance vertan. Wir hätten erwartet, dass im Bereich der Energiebe- steuerung wenigstens mal ein Anfang gemacht würde, um vorhandenen Reformpotenziale anzupacken. Wie das geht, haben wir in unserem Entschließungsantrag darge- stellt. Sie hätten sich auf eine Härtefallregelung für Un- ternehmen verständigen können, die nachweislich im in- ternationalen Wettbewerb stehen und unzumutbare entsprechende Änderungsantrag in letzter Minute im Haushaltsausschuss eingebracht worden war. Doch ei- nen Vorschlag des Finanzministeriums, der eine Schlechterstellung der Fernwärme verhindert hätte, lehnt die Koalition jetzt mit Scheinargumenten ab. Wir haben gemeinsam mit der SPD einen Änderungsantrag gestellt, der genau diesen Punkt aufgreift. Aber auch hier verwei- gert die Koalition die Zustimmung. Damit nehmen Sie bewusst in Kauf, dass diejenigen, die mit dieser klima- freundlichen Energie heizen, demnächst mehr zahlen müssen. Nachteile durch höhere Energiesteuern erfahren. Sie hät- ten mögliche Steuererleichterungen an die Bedingung knüpfen können, dass die Unternehmen Energiemanage- mentsysteme einführen. Stattdessen setzen Sie weiter auf pauschale Vergünsti- gungen für alle Unternehmen des produzierenden Ge- werbes und machen keine Vorschläge, wie sichergestellt werden kann, dass diese ihre Potenziale zur Steigerung der Energieeffizienz nutzen. Wir fordern, klimaschädliche Subventionen zielge- richtet abzubauen und Steuervergünstigungen nur dort zu gewähren, wo wirtschaftliche Verwerfungen verhin- dert werden müssen oder umweltverträglichere Energie- nutzung gefördert werden soll. Ihr Gesetzentwurf tut ge- rade das Umgekehrte, und das in einer ganzen Reihe von Punkten. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläu- tern. Erstens: Die Obergrenze für die Subventionierung des Agrardiesels wird mit diesem Gesetzentwurf abge- schafft. Damit werden in erster Linie flächenstarke land- wirtschaftliche Großbetriebe gefördert. Das schwächt die Anreize, verstärkt Pflanzentreibstoffe einzusetzen und Energie einzusparen. Zusätzlich müssen im Gegen- zug im Agrarhaushalt Einsparungen bei Förderprogram- men wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz vorgenommen werden. Förderung von Großbetrieben statt zielgerichteter Maßnahmen zur Ver- besserung der Agrarstruktur und des Umweltschutzes: Das ist kein Klimaschutz, das ist Klimaschädigung. Mit einer Zustimmung zu unserem Änderungsantrag hätten Sie das vermeiden können. Zweitens: Im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes wollte Schwarz-Gelb das soge- nannte Scheincontracting unterbinden – eine durchaus sinnvolle Maßnahme. Als Kollateralschaden wurde aber in Kauf genommen, dass die ökologisch sinnvolle Fern- wärme steuerlich schlechtergestellt wird. Wir dachten zuerst, dass dies aus Unkenntnis geschehen ist, da der Davon sind besonders die Menschen in Ostdeutsch- land betroffen, wo fast jeder dritte Haushalt mit Fern- wärme versorgt wird. Allein in Berlin sind es über 600 000 Haushalte. Deren Vertrauensschutz spielt offen- bar keine Rolle. Schwarz-Gelb gibt dem Begriff „soziale Kälte“ damit eine besonders geschmackvolle neue Fa- cette. Gleichzeitig wird aber auch dem Ausbau der ener- gieeffizienten und klimafreundlichen Kraft-Wärme- Kopplung massiv geschadet. Wenn im gleichen Atemzug Subventionen für fossile Brennstoffe und energieintensive Prozesse – zum Bei- spiel für einen der rentabelsten Zweige der chemischen Industrie, der Herstellung von Industriegasen – ausbaut werden, wird deutlichen: Trotz grünem Deckmäntelchen spielt der Umwelt- und Klimaschutz bei den schwarz- gelben Plänen keine wesentliche Rolle. Im Gegenteil. Ihr praktisches Handeln konterkariert die ambitionierten Klimaziele Deutschlands. Diese Schizophrenie kostet Milliarden – heute im Bundeshaushalt und morgen bei der Bekämpfung der negativen Folgen des Klimawan- dels. Die Idee einer ökologischen Finanzreform wird mit der pseudo-ökologischen Politik der Bundesregierung gründlich diskreditiert. Wer sich als Nächstes an das schwierige Unterfangen macht, dem Prinzip „tax bads, not goods“ zum Durchbruch zu verhelfen, hat es nach der Verabschiedung dieses missratenen Gesetzes nicht gerade leichter. Der Gesellschaft, aber auch der Wirt- schaft selbst erweisen Sie von Schwarz-Gelb damit ei- nen Bärendienst. Man kann sich darüber streiten, ob nun ökologische Blindheit oder Klientelismus die schwarz-gelbe Finanz- und Haushaltspolitik bestimmt. Eins ist klar: der Preis, den wir als Gesellschaft für die unsozialen und ökolo- gisch schädlichen Entscheidungen der Regierung Merkel zu zahlen haben, steigt. 81. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708100000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.

Vorweg einige Mitteilungen: Interfraktionell ist ver-
einbart worden, die verbundene Tagesordnung um die
in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erwei-
tern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Konsequenzen der Bundesregierung aus der
aktuellen PISA-Studie für die Bildungspolitik
von Bund und Ländern

(siehe 80. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 42

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Richtlinien zur konzerninternen Entsendung
und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten

Rede
– Drucksache 17/4190 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechtsschutz bei den OE
zen für multinationale Unternehm

– Drucksache 17/4196 –
zung

n 16. Dezember 2010

.00 Uhr

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbesserung der Versorgung der im Beitritts-
gebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen

– Drucksache 17/4195 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 43

a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 190 zu Petitionen

text
– Drucksache 17/4215 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 191 zu Petitionen

– Drucksache 17/4216 –

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 192 zu Petitionen

– Drucksache 17/4217 –

ng der Beschlussempfehlung des Petitions-
usses (2. Ausschuss)


elübersicht 193 zu Petitionen

CD-Leitsät-
en stärken

d) Beratu
aussch

Samm
– Drucksache 17/4218 –

8908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 194 zu Petitionen

– Drucksache 17/4219 –

f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 195 zu Petitionen
– Drucksache 17/4220 –

g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 196 zu Petitionen
– Drucksache 17/4221 –

h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 197 zu Petitionen

– Drucksache 17/4222 –

i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 198 zu Petitionen
– Drucksache 17/4223 –

j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 199 zu Petitionen
– Drucksache 17/4224 –

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:

Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:

Kein Atomendlager bei Lubmin
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-

weit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesord-
nungspunkt 24 wird abgesetzt. Die nachfolgenden
Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken
entsprechend vor. Darüber hinaus entfallen die Tages-
ordnungspunkte 5 b und 27 b.

Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste
aufmerksam:

Der am 24. November 2010 überwiesene nachfol-
gende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Aus-
schuss (3. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen
werden:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Atommüllexport nach Russland

– Drucksache 17/3854 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen

Fortschritte und Herausforderungen in Afgha-
nistan

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun der Bundesminister des Auswärtigen, Guido
Westerwelle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Bei ihrem Amtsantritt
vor etwas mehr als einem Jahr hat die Bundesregierung
den Einsatz in Afghanistan einer schonungslosen Ana-
lyse unterzogen. Über acht Jahre dauerte der internatio-
nale Einsatz da schon. Die großen Anstrengungen schie-
nen ins Leere zu laufen, und ein Ende des Einsatzes war
nicht in Sicht.

Mit einem umfassenden Afghanistan-Konzept hat
die Bundesregierung unser Engagement auf eine neue
Grundlage gestellt. Wir haben die Lage realistisch be-
schrieben. Wir haben uns realistische Ziele gesetzt. Wir
haben diese Ziele, unsere Strategie und die dafür not-
wendigen Mittel mit den Afghanen und mit unseren in-
ternationalen Partnern konsequent aufeinander abge-
stimmt.

Wir haben mit der Unterstützung dieses Hauses zu-
sätzliche Soldaten und Polizisten entsandt, um schneller
und besser afghanische Sicherheitskräfte auszubilden.
Wir haben zusätzliche Mittel für den zivilen Aufbau mo-
bilisiert. Wir haben die politische Lösung vorangetrieben
und das Reintegrations- und Aussöhnungsprogramm auf
den Weg gebracht. Wir haben unsere eigenen Erwartun-
gen nüchterner und auch realistischer formuliert. Good
Governance bleibt ein richtiger Maßstab. Aber wenn wir
realistisch sind, dann ist „Good Enough Governance“
– eine ausreichend gute Regierungsführung – das, was
wir auf absehbare Zeit in Afghanistan erreichen können.

Wir haben uns verabschiedet vom Bild des Entwick-
lungshelfers in Uniform. Dieses Bild mag manchem im
Deutschen Bundestag in der Vergangenheit die Zustim-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8909

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

mung zum Einsatz der Bundeswehr leichter gemacht ha-
ben; es hat gleichwohl nie gestimmt. Die Lage ist eine
andere. Unsere Soldatinnen und Soldaten kämpfen in
Afghanistan. Dieser Einsatz kostet Menschenleben. Wir
verteidigen in Afghanistan unsere eigene Sicherheit.
Deshalb ist dieser Einsatz richtig. Richtig ist auch, dass
er nicht endlos dauern darf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir trauern um unsere 44 toten deutschen Soldaten
dieses Einsatzes. Wir fühlen mit ihren Angehörigen. Wir
trauern um die vielen Opfer, gleich welcher Nationalität.
Wir trauern um die Opfer in Uniform und um die vielen
getöteten Zivilisten, die dieser Konflikt und das Ringen
um Frieden bis heute gefordert haben.

Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zu einem
Mann sagen, der die Arbeit in Afghanistan maßgeblich
mitgestaltet hat. Wir trauern um Richard Holbrooke.
Mit seinem plötzlichen Tod verlieren wir einen guten
und engen Freund Deutschlands.

In London haben wir im Januar den Weg zu mehr af-
ghanischer Führungsverantwortung geebnet. Die afgha-
nische Regierung legte erstmals ganz konkret dar, wie
sie ihre Ziele erreichen will: bei der Regierungsführung,
bei Aufbau und Entwicklung, bei der Sicherheit, bei Re-
integration und Versöhnung. Im Gegenzug haben wir
uns verpflichtet, unsere Anstrengungen zu verstärken.

Im Juli in Kabul, der ersten Afghanistan-Konferenz in
Afghanistan, setzte die afghanische Regierung ihre poli-
tischen Zusagen in konkrete Reformprojekte um. Mit
Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hat sie
die notwendigen Strukturen und Institutionen geschaf-
fen, um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen.

Vor vier Wochen in Lissabon haben wir den nächsten
Schritt getan und formell mit der afghanischen Regie-
rung und allen NATO-Partnern den Beginn des Überga-
beprozesses beschlossen. Wir werden die Übergabe der
Sicherheitsverantwortung in den Provinzen im ersten
Halbjahr 2011 beginnen. Diese Übergabe in den ersten
Provinzen ist nicht gleichbedeutend mit einem soforti-
gen Truppenabzug, aber sie wird den schrittweisen Ab-
bau der internationalen militärischen Präsenz in Afgha-
nistan einläuten, auch den schrittweisen Abzug der
Bundeswehr. Die Abzugsperspektive nimmt dank der
erreichten Fortschritte jetzt konkret Gestalt an.

In meiner Regierungserklärung am 10. Februar habe
ich gesagt:

Ende des Jahres 2011 wollen wir so weit sein, unser
eigenes Bundeswehrkontingent reduzieren zu kön-
nen.

Heute bin ich zuversichtlich genug, um zu sagen: Ende
2011 werden wir unser Bundeswehrkontingent in Afgha-
nistan erstmals reduzieren können. Wir werden jeden
Spielraum nutzen, um damit so früh zu beginnen, wie es
die Lage erlaubt, und es vor allem unsere verbliebenen
Truppen nicht gefährdet. 2014 wollen wir die Sicher-
heitsverantwortung in vollem Umfang an die Afghanen
übergeben. Dann sollen keine deutschen Kampftruppen
mehr am Hindukusch im Einsatz sein.
Der Fahrplan steht. Der Weg zu einer selbsttragenden
Sicherheit in Afghanistan ist markiert. Wir haben uns
vorgenommen, nüchtern einen Schritt nach dem anderen
zu tun und das Erreichte immer wieder zu prüfen. Des-
halb legt die Bundesregierung dem Deutschen Bundes-
tag zum ersten Mal einen umfassenden Fortschrittsbe-
richt zu Afghanistan vor. Der Bericht, der Ihnen allen
seit Montag zur Verfügung steht, beschreibt das deutsche
und internationale Engagement. Er bietet eine ehrliche
und realistische Darstellung der Lage. Sicherheit, Regie-
rungsführung und Entwicklung sind darin gleicherma-
ßen gewichtet. Ich danke den Bundesministern der Ver-
teidigung und des Innern sowie dem Bundesminister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit für die ausgezeichnete
Kooperation in Afghanistan und auch bei der Erstellung
dieses ungeschminkten Berichts. Er macht deutlich, was
Deutschlands Frauen und Männer der Bundeswehr und
der Polizei, die vielen zivilen Helferinnen und Helfer
und auch unsere Diplomatinnen und Diplomaten in Af-
ghanistan geleistet haben. Er skizziert auch, was noch al-
les geleistet werden muss, damit wir die Verantwortung,
die wir jetzt dort schultern, an die afghanische Regie-
rung übergeben können.

Wir wollen nichts schönreden. Meldungen über
Rückschläge gibt es noch immer viel zu viele. Es gibt
Korruption, und es hat bei den Wahlen Unregelmäßig-
keiten gegeben. Aber es ist ein ermutigendes Zeichen,
dass die Afghanen selbst den Fällen von Wahlbetrug un-
nachgiebig nachgegangen sind.

Vieles in Afghanistan ist im Vergleich zum Vorjahr
besser geworden. Auch durch unsere Aufbauarbeit im
Gesundheitssektor haben inzwischen 80 Prozent der Be-
völkerung Zugang zu medizinischer Grundversorgung.
Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist signifikant ge-
sunken. Mehr als ein Drittel der Mädchen in Afghanistan
gehen heute regelmäßig zur Schule. Allein im Jahre
2010 haben wir über 20 Schulen gebaut.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben in diesem Jahr mehrere Stabilisierungs-
fonds zum Ausbau der Infrastruktur im Norden aufge-
legt. Gerade in den strukturschwachen Grenzgebieten zu
Tadschikistan und Pakistan zeigen sie Wirkungen bei der
Bevölkerung. Neu gebaute Straßen und Brücken fördern
die langsam in Gang kommende wirtschaftliche Ent-
wicklung.

Die Ausbildung von Soldaten und Polizisten macht
schneller Fortschritte als erwartet. Die in London verein-
barte Zahl von rund 300 000 Sicherheitskräften bei Ar-
mee und Polizei wird deutlich früher erreicht als geplant.
Deutschland trägt seinen Teil dazu bei: Rund 200 Poli-
zistinnen und Polizisten tun in Afghanistan ihren Dienst
bei der Ausbildung der afghanischen Polizei. Deutsch-
land hat 2010 insgesamt 77 Millionen Euro für die Poli-
zeiausbildung bereitgestellt.

Es ist wahr: Die Zahl der Sicherheitszwischenfälle hat
noch einmal deutlich zugenommen. Eine der Ursachen
hierfür ist die Verstärkung der internationalen Schutz-
truppe. Nach einem Jahr mit schweren Kämpfen und
zahlreichen Opfern geht es aber auch im Sicherheitsbe-

8910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

reich voran. Das ist nicht nur den ISAF-Truppen, son-
dern auch den gewachsenen Fähigkeiten der afghani-
schen Sicherheitskräfte zu verdanken. Es zeigt sich, dass
die verstärkte Ausbildung durch die internationale Ge-
meinschaft, auch durch die Bundeswehr, Früchte trägt:
Die afghanische Armee und die afghanische Polizei sind
erkennbar professioneller geworden.

2010 haben wir den Fahrplan hin zur vollen Souverä-
nität Afghanistans entwickelt. Wir haben unseren Mittel-
einsatz verstärkt und so eine Trendwende geschafft. Im
nächsten Jahr wird es darauf ankommen, die Strategie
der vernetzten Sicherheit mit ihren militärischen, zivilen
und politischen Elementen so konsequent umzusetzen,
dass wir in allen Bereichen substanzielle Fortschritte er-
reichen. Die Selbstverpflichtung der afghanischen Re-
gierung ist Grundlage und Bedingung für solche Fort-
schritte. Es ist an der afghanischen Regierung, die
notwendigen Strukturen zu schaffen und schließlich die
Verantwortung für das Leben der Afghanen selbst in die
Hand zu nehmen. Sie hat durchaus nicht nur mit Worten,
sondern auch mit Taten unterstrichen, dass sie diese Ver-
pflichtung ernst nimmt.

Der Konflikt in Afghanistan kann nicht militärisch,
sondern nur durch eine politische Lösung beendet wer-
den. Dazu gehört auch, dass mit Vertretern der Aufstän-
dischen gesprochen werden muss. Wir haben gemeinsam
mit den Afghanen drei rote Linien für die Gespräche
definiert – vieles ist verhandelbar, diese Bedingungen
nicht –:

Erstens: der Rahmen der afghanischen Verfassung
und die darin garantierten Menschenrechte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zweitens: das Abschwören von Gewalt.

Drittens: das Kappen der Verbindungen zum interna-
tionalen Terrorismus.

Mit dem Mandat der großen Friedensdschirga vom
Juni dieses Jahres wurde das Friedens- und Reintegra-
tionsprogramm der afghanischen Regierung ins Leben
gerufen. Der Hohe Friedensrat soll als Scharnier für die
notwendigen Gespräche mit den Aufständischen dienen.
Wir wissen, dass Gespräche über mögliche Mechanis-
men der Zusammenarbeit stattfinden. Es liegt in der Na-
tur der Sache, dass dieser Prozess der Versöhnung Zeit
brauchen wird und allzu große Öffentlichkeit ihm eher
schadet als nutzt.

Gleichzeitig geht es um Reintegration, um ausstiegs-
willigen regierungsfeindlichen Kämpfern einen Weg zu-
rück in die afghanische Gesellschaft zu ebnen. Für dieje-
nigen, die die Waffen niederlegen wollen, muss die
Chance geschaffen werden, ein normales Leben zu füh-
ren. Deutschland hat sich 2010 mit 10 Millionen Euro
am Reintegrationsprogramm beteiligt; weitere 40 Millio-
nen Euro sind bis 2014 fest eingeplant. Das ist besonders
wichtig; denn Reintegration und Versöhnung hängen
voneinander ab und sind wesentliche Bestandteile des
Übergabeprozesses.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Anfang des nächsten Jahres wird die NATO gemein-
sam mit den afghanischen Partnern eine Provinz nach
der anderen nach vereinbarten Sicherheitskriterien auf
Übergabereife prüfen und die Verantwortung in die
Hände der afghanischen Sicherheitskräfte legen. Wir
können fest davon ausgehen, dass auch Gebiete im deut-
schen Verantwortungsbereich in Nordafghanistan zu den
ersten Regionen gehören werden, in denen Sicherheits-
verantwortung an die Afghanen übergeben wird. Bis
2014 soll dieser Prozess im ganzen Land abgeschlossen
sein. So wollen wir es. So will es auch die Regierung
Karzai. So ist es gemeinsam verabredet in der internatio-
nalen Gemeinschaft.

Klar ist aber auch, dass Transition nicht heißt, dass
wir unseren Einsatz von heute auf morgen beenden und
uns einfach aus Afghanistan zurückziehen können.


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: So ist es!)


Mit fortschreitender Verantwortungsübergabe werden
wir unsere Prioritäten immer wieder anpassen. Der
Übergabeprozess muss sorgfältig, nachhaltig und vor al-
lem unumkehrbar sein. Wenn einen Tag nach dem Ab-
zug internationaler Truppen die Taliban wieder einzie-
hen könnten, wäre niemandem geholfen, den Afghanen
nicht und auch nicht unserer eigenen Sicherheit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eines ist klar: Wir wollen und werden Afghanistan
langfristig weiter in seiner Entwicklung unterstützen.
Die NATO-Partner haben sich in Lissabon zu einer lang-
fristigen Zusammenarbeit verpflichtet. Ohne glaubhaftes
Engagement der internationalen Gemeinschaft auch über
2014 hinaus wird die Strategie der Übergabe der Verant-
wortung in Verantwortung nicht funktionieren.

In den nächsten zwei Jahren werden wir als nichtstän-
diges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Natio-
nen besondere Verantwortung für Frieden und Sicherheit
tragen. Die Mandatierung des internationalen Engage-
ments in Afghanistan wird für unsere Arbeit in New
York eine wichtige Rolle spielen. Unser Ziel ist dabei,
die Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Mission in
Afghanistan langfristig zu stärken. Dafür werden wir
nicht nur auf unsere traditionellen Partner, sondern auch
auf andere Akteure und besonders auf die entscheiden-
den regionalen Mächte setzen. Das war Teil meiner Ge-
spräche in Indien, und ich werde das im Januar in Pakis-
tan fortsetzen.

Präsident Karzai hat beim NATO-Gipfel in Lissabon
angeregt, dass Deutschland Ende 2011, zehn Jahre nach
der Petersberg-Konferenz, erneut in Bonn eine interna-
tionale Konferenz zu Afghanistan ausrichtet. Wir wer-
ten diese Bitte als Beweis dafür, dass Deutschland in Af-
ghanistan als vertrauenswürdiger und ehrlicher Partner
gilt. Die Bundesregierung wird dieser Bitte mit Blick auf
unser elementares Interesse an einer guten Entwicklung
in Afghanistan und der Region insgesamt nachkommen.

Noch ist es zu früh, über Einzelheiten der Tagesord-
nung zu reden, aber diese Konferenz wird uns ein Jahr
nach Lissabon Gelegenheit geben, den Stand der Über-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8911

Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

gabe der Sicherheitsverantwortung zu bewerten und die
nächsten Schritte bis Ende 2014 vorzuzeichnen. Wir
werden auch über das langfristige Engagement der inter-
nationalen Gemeinschaft nach 2014 diskutieren. Unser
Ziel ist außerdem, dass von einer solchen Bonner Konfe-
renz Impulse ausgehen, die den politischen Prozess in
Afghanistan fördern.

Nach Jahren, in denen die Anstrengungen der Staa-
tengemeinschaft in Afghanistan vielfach unkoordiniert
nebeneinander herliefen, ziehen jetzt erkennbar alle an
einem Strang. Wir wollen alles Notwendige tun, damit
dieses von Jahrzehnten des Konflikts gezeichnete und
zerrüttete Land in einer explosiven Region unserer Welt
nicht wieder Rückzugsraum für Terroristen werden
kann.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir arbeiten daran, Frieden, Sicherheit und bescheidenen
Wohlstand in ein Land zu bringen, das in seiner jüngsten
Geschichte nur Krieg, Unsicherheit und bittere Armut er-
lebt hat. Deutschland hat sich als verantwortungsvolles
Mitglied der Weltgemeinschaft und der transatlantischen
Allianz dieser Aufgabe von Beginn an gestellt. Wir wer-
den daher dieses Hohe Haus im Januar 2011 erneut um
eine Verlängerung des Mandats für den Einsatz der Bun-
deswehr im Rahmen der internationalen ISAF-Truppen
ersuchen.


(Zuruf von der LINKEN: Wir werden Nein sagen!)


Ich möchte mich an die mutigen Frauen und Männer
der Bundeswehr wenden, von denen uns viele jetzt zuse-
hen: Wir danken Ihnen für Ihre Arbeit. Wir sind stolz auf
das, was Sie leisten. Für viele von Ihnen sind die Belas-
tungen des Einsatzes leider auch nach der Rückkehr in
die Heimat noch nicht zu Ende, weil so vieles von dem,
was gesehen wurde, verarbeitet werden muss. Ich
glaube, dieses Haus darf zum Ausdruck bringen, dass
wir auf die Frauen und Männer, die dort vor Ort ihren
Dienst tun, stolz sind.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Jahr haben mehr als 60 Abgeordnete und
auch der Präsident dieses Hohen Hauses Afghanistan be-
sucht.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Kerner!)


Bundestag und Bundesregierung stehen hinter diesem
Einsatz. In diesem Jahr haben fünf Bundesminister Af-
ghanistan besucht,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und eine Gattin!)


allein der Bundesverteidigungsminister war siebenmal
dort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Michael Groschek [SPD]: Mit Harem!)


Ich hatte eigentlich nicht vor, etwas dazu zu sagen,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt alles eine Talkshow!)


weil ich diesen Fortschrittsbericht hier heute sehr nüch-
tern einbringen wollte. Ich will Ihnen nur eines sagen: Es
ist Ihr gutes Recht, die Mitglieder der Bundesregierung
jeden Tag zu kritisieren,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir auch! Das haben Sie nicht zu beurteilen, Herr Westerwelle!)


aber Ihre Schmähkritik an Frau zu Guttenberg war ein-
fach unanständig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Michael Groschek [SPD]: Lächerlich! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt müssen Sie auch noch den Guttenberg verteidigen! Man bekommt fast Mitleid mit dem Kollegen Westerwelle!)


Die große Präsenz und die Besuchsdichte zeigen, dass
es Interesse und Anteilnahme gibt. Das gibt unseren
Frauen und Männern in Afghanistan auch Rücken-
deckung. Das ist – auch ich stelle bei meinen Reisen im-
mer wieder fest, dass unsere Frauen und Männer in der
Bundeswehr und vor Ort dies brauchen und wollen –
sichtbar.

Wenn wir heute ehrlich Bilanz ziehen, ergibt sich ein
gemischtes Bild: Licht und noch immer viel zu viel
Schatten. Dennoch gibt es jetzt Grund zur Zuversicht,
dass wir unsere Ziele erreichen können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alle Jahre wieder hören wir das!)


Dann werden wir nicht nur uns selbst, Europa und die
Welt sicherer gemacht, sondern auch Millionen Afgha-
ninnen und Afghanen die Chance auf ein etwas besseres
Leben eröffnet haben. Unsere Verantwortung für unser
Land, aber eben auch für Afghanistan gebietet uns, dass
wir diesen Auftrag wahrnehmen.

Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708100100

Das Wort hat nun Gernot Erler für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1708100200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

jetzt vorgelegte „Fortschrittsbericht Afghanistan zur Un-
terrichtung des Deutschen Bundestages“ ist in Wirklich-
keit nicht in allen Teilen ein Bericht über Fortschritte.
Das ist gut so. Er zeichnet auf 108 Seiten und in 27 Ka-
piteln ein realistisches und detailliertes Lagebild da-
rüber, wie es in Afghanistan in den zentralen Bereichen
Sicherheit, Staatswesen und Regierungsführung sowie
Wiederaufbau und Entwicklung steht. Er spricht Fehler
der Vergangenheit an, er benennt Defizite und kritisiert
auch die afghanische Seite, wo dies angebracht ist.

8912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)

Mit der Vorlage dieses Berichts, in den offensichtlich
viel Arbeit investiert wurde – dies erkennen wir an –, hat
die Bundesregierung auch auf Forderungen der SPD rea-
giert. Wir brauchen definitiv bessere Grundlagen für die
schwierigen Entscheidungen in Sachen Afghanistan, die
wir immer wieder treffen müssen. Da die nächste Ent-
scheidung über eine Mandatsverlängerung bereits im Ja-
nuar des kommenden Jahres ansteht, ist dieser Bericht
auch zur rechten Zeit vorgelegt worden.

Der Bericht nutzt verschiedene Informationsquellen,
stellenweise auch von außen kommende wissenschaftli-
che Expertisen. Dadurch wird er aber natürlich nicht zu
einer unabhängigen Evaluierung des deutschen Afgha-
nistan-Einsatzes, wie sie SPD und Grüne eingefordert
haben.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Bis heute verstehe ich nicht, warum die Koalitionsfrak-
tionen und die Bundesregierung uns hier so brüsk vor
den Kopf gestoßen haben, nachdem eine Verständigung
über einen solchen Auftrag schon zum Greifen nahe
schien.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Genau hier liegt die Quelle einiger Leerstellen und
Defizite des Berichts, die nicht zu übersehen sind. Die
Entwicklung wird generell kritisch beleuchtet. Aber eine
selbstkritische Überprüfung der deutschen Aktivitäten in
Afghanistan unter Hinzuziehung der Erfahrungen von
vor Ort tätigen NGOs und wissenschaftlicher Experten
findet eben nicht statt, und das ist bedauerlich.


(Beifall bei der SPD)


Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Vorgestern hat die
SPD ihre zweite große Afghanistan-Konferenz in Ber-
lin durchgeführt, mit mehr als 400 Teilnehmern, unter
Heranziehung ganz verschiedener Experten. Wir haben
dabei übrigens kein einziges verwertbares Bild produ-
ziert und auf keinen Effekt abgehoben, sondern eine sehr
ernsthafte und lehrreiche Debatte geführt.


(Beifall bei der SPD)


Auf dieser Konferenz wurde das Problem angespro-
chen, dass durch die zusätzlichen 5 000 US-Soldaten
und die ganzen zusätzlichen amerikanischen Programme
in der Region des Nordkommandos, wo Deutschland
eine besondere Verantwortung trägt, eine Art Überange-
bot entsteht. Es gibt mehr Geld und mehr Programme,
als die afghanische Gesellschaft vor Ort überhaupt auf-
nehmen und umsetzen kann. Die Folge ist, so wird uns
berichtet, dass sich dadurch die Gefahr der Korruption
erhöht. Das leuchtet ein, und darauf muss man reagieren.

Vorher aber muss man solche kritischen Betrachtun-
gen natürlich erst einmal an sich heranlassen, um dann
das eigene Verhalten korrigieren zu können. Das ist der
Grund, meine Damen und Herren, warum wir bei aller
Würdigung des vorgelegten Fortschrittsberichts an unse-
rer Forderung nach einer unabhängigen Evaluierung des
gesamten deutschen Afghanistan-Einsatzes unter syste-
matischer Heranziehung von wissenschaftlichen Exper-
tisen und der vor Ort gewonnenen Erfahrungen von
Nichtregierungsorganisationen festhalten.


(Beifall bei der SPD)


Was die Gesamtanalyse der Entwicklung in Afgha-
nistan im zu Ende gehenden Jahr angeht, so decken sich
die Feststellungen des Fortschrittsberichts in vielen
Punkten mit unseren Eindrücken. In der Tat: Es gibt
Licht und Schatten nebeneinander. Am düstersten sieht
es immer noch bei der Sicherheitslage aus. Nicht zufrie-
den sein können wir mit der unverzichtbaren Verbesse-
rung der Regierungsführung, mit den Fortschritten beim
Kampf gegen die Korruption und beim Kampf gegen
den Drogenanbau – alles auch wichtige sicherheitspoliti-
sche Bereiche.

Nicht ohne Erfolgsaussicht scheinen die innerafgha-
nischen Aussöhnungs- und Reintegrationsprogramme zu
sein, die allmählich anlaufen. Messbaren Fortschritt gibt
es beim zivilen Aufbau, wo wir unsere Anstrengungen
verstärkt haben. Deutlich mehr müsste im Bereich der
regionalen Stabilisierung passieren. Dabei geht es um
die Frage, welche Rolle eigentlich Länder wie Pakistan,
China, Russland, Iran, die Türkei und die zentralasiati-
schen Staaten für eine bessere Zukunft Afghanistans
spielen können. Hier würden wir uns in der Tat noch
mehr Engagement des Außenministers in der Tradition
seines Vorgängers erhoffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wie hören, soll der amerikanische Bericht zur
Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie zu einer
ähnlichen gemischten Bilanz kommen; er wird heute
vorgelegt. Botschafter Richard Holbrooke hat bis zu sei-
nem plötzlichen Tod, den wir als schmerzlichen und
schwer auszugleichenden Verlust empfinden, unermüd-
lich an dieser Strategie und an dem Bericht gearbeitet.
Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen Amerika-
nern, die um diesen großartigen Diplomaten trauern.

Von besonderer Bedeutung ist, dass es bei der Ausbil-
dung der afghanischen Sicherheitskräfte offenbar vo-
rangeht. Die für Ende Oktober dieses Jahres formulier-
ten Zwischenziele wurden sogar übertroffen, bei der
Ausbildung afghanischer Soldaten um 8 000, bei der
Ausbildung von Polizisten sogar um 12 000 Mann.

Das ist deswegen so wichtig, weil die gesamte inter-
nationale Afghanistan-Strategie darauf abzielt, diese
Ausbildungsprozesse zu beschleunigen, um Schritt für
Schritt die Sicherheitsverantwortung in afghanische
Hände übergeben zu können.

Die SPD hat Anfang dieses Jahres für den Abschluss
dieses Prozesses den Zeitkorridor 2013 bis 2015 ge-
nannt. Wir sind froh, dass jetzt mit dem Zieldatum 2014
ein international anerkannter Konsens erzielt worden ist.
Wir glauben, dass es auch realistisch ist, das zu errei-
chen, wenn wir tatsächlich auf dem Pfad dieser neuen
Strategie bleiben und wenn wir rechtzeitig mit den Trup-
penreduzierungen beginnen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8913

Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)

Leider mussten wir aber feststellen, Herr Außen-
minister, dass Sie selber es waren, der hier Unsicherhei-
ten und sogar ein Durcheinander geschaffen hat. Sie sind
soeben auf Ihre Erklärung vor dem Deutschen Bundes-
tag vom 10. Februar zurückgekommen. Da hatten Sie
gesagt, dass Ende 2011 mit der Reduzierung begonnen
werden soll. Aber wir haben natürlich auch gelesen, was
Sie am 6. Dezember in einer Presserklärung gesagt ha-
ben – ich darf das zitieren –:

Wir werden mit aller Konsequenz darauf hinarbei-
ten, dass 2011 regional mit der Übergabe der Si-
cherheitsverantwortung begonnen werden kann.
Unser Ziel ist, damit die Voraussetzungen zu schaf-
fen, dass 2012 das deutsche Bundeswehrkontingent
in Afghanistan erstmalig reduziert werden kann.

In dem jetzt vorgelegten Zwischenbericht gibt es ei-
nen Satz auf Seite 9, der auf Seite 34 wiederholt wird.
Da heißt es – das ist die dritte Variante –:

Im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwor-
tung beabsichtigt die Bundesregierung, einzelne
nicht mehr benötigte Fähigkeiten, soweit die Lage
dies erlaubt, ab Ende 2011/2012 zu reduzieren.

Sie müssen verstehen, dass man da Klarheit braucht.
Man kann in dieser Frage nicht wie ein Schilfrohr
schwanken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen Sicherheit und Vertrauen zu diesem Fahr-
plan.

Ich hoffe, dass wir uns jetzt auf das, was Sie hier ge-
sagt haben und was wir nur begrüßen können, verlassen
können und dass das auch Ausdruck in dem Text des
Mandates findet. Das ist außerordentlich wichtig für
uns.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie können sich dabei durchaus auf den Fortschrittsbe-
richt berufen. Ich hatte ja schon gesagt, dass der genau
festhält, dass in dem zentralen Bereich der Ausbildung
tatsächlich Fortschritte erzielt worden sind.

Meine Damen und Herren, das ist kein kleinliches
Gezerre über Monate, Wochen oder Tage, wie man es
manchmal in der Öffentlichkeit hört. Bei dieser Frage
geht es um ziemlich viel, nämlich darum, ob wir selber
dem vertrauen, was wir uns mit der neuen Strategie in
Afghanistan vorgenommen haben, ob wir bereit sind,
auch den notwendigen Druck auf die afghanische Seite
aufrechtzuerhalten, ihrerseits alles für die Umsetzung
der politischen Fahrpläne zu tun, und ob wir in zeitlicher
Tuchfühlung mit der amerikanischen Planung bleiben.
Hier gibt es nach wie vor die Ankündigung von Präsi-
dent Obama, im Juli nächsten Jahres mit der Reduzie-
rung zu beginnen. Dabei wird es mit Sicherheit bleiben.

Wir sprechen heute nicht bereits über die Mandatsver-
längerung. Wir sprechen über Fortschritte und ausblei-
bende Fortschritte. Aber wir fordern Sie heute hier schon
auf, Herr Außenminister und die ganze Bundesregie-
rung: Machen Sie nicht noch einmal den Fehler wie mit
dem Evaluierungsauftrag. Vermeiden Sie unnötige Pro-
vokationen und Irritationen. Es gibt offene Fragen. Wir
sind heute durch das, was Sie gesagt haben, weiterge-
kommen. Ich habe den Eindruck, dass es bei gutem Wil-
len auf beiden Seiten möglich ist, die Gegensätze zu
überbrücken. Sprechen Sie mit uns. Sprechen Sie mit
uns, bevor Sie den Mandatstext festlegen. Wir sind dazu
bereit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708100300

Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1708100400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Dass wir heute über einen Fortschrittsbericht unseres
Engagements in Afghanistan sprechen können, ist ein
großer Fortschritt. Es haben sich alle in diesem Hause
daran beteiligt, dass wir einen solchen Bericht bekom-
men. Es war aber im Wesentlichen doch diese Koalition,
die gesagt hat: Wir wollen von der Bundesregierung re-
gelmäßig eine Information darüber, was in Afghanistan
erreicht wird und wo noch offene Fragen sind. Ich danke
Ihnen, Herr Bundesaußenminister, für diesen sehr diffe-
renzierten Bericht, den Sie abgegeben haben. Er zeigt,
wo Fortschritte sind. Er schildert aber ebenfalls die Auf-
gaben; er sagt auch, wo es noch nicht so weit ist, dass
wir beruhigt sein können. In dem Bericht steht auch, wo
noch etwas getan werden muss. Das weitere Mandat ist
natürlich mit diesen Aufgaben verbunden. Herzlichen
Dank für diese offene Darstellung.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
es muss immer wieder an den Ausgangspunkt zurück-
gegangen werden, wenn wir in der Öffentlichkeit über
Afghanistan sprechen. Wenn es um Afghanistan geht,
kann nicht einfach immer nur von „im Augenblick“ oder
„in diesem Status“ gesprochen werden. Ausgangspunkt
war – das haben auch Sie alle von SPD und Grünen klar
so formuliert – der Kampf gegen internationalen Terro-
rismus und gegen Islamismus.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Wir haben in einer großen Allianz durch das UNO-Man-
dat in wenigen Wochen dafür sorgen können, dass das
System in Afghanistan die Menschen dort nicht mehr
terrorisieren und die ganze Welt nicht mehr in Atem hal-
ten konnte.

Um an den Ausgangspunkt zu erinnern: Es ist not-
wendig, zu wissen, was mit diesem Mandat erreicht wer-
den muss, wie es der Außenminister gesagt hat. Es muss
erreicht werden, dass eine solche Gefahr von Afghanis-
tan nicht mehr ausgehen kann. Das ist das Ziel. Wir wol-
len ein Afghanistan, das den Menschen in diesem Land
dient und nicht Aufmarschbasis für Terroristen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


8914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

Deswegen werden in diesem Bericht ja auch ganz klar
die Punkte formuliert, auf die es entscheidend ankommt.
Wir unterstützen die Regierung Karzai darin, dass wir
das Herstellen von Sicherheit und die Kontrolle dieser Si-
cherheit in Afghanistan ab 2014 den dortigen heimischen
Kräften übertragen können. Dafür wurden das Mandat
und die Aufgaben in Afghanistan noch einmal neu defi-
niert. Wir alle haben gewusst, dass diese Neuorientierung
auch mit neuen Risiken verbunden sein wird.

Wir sind den Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr natürlich dankbar dafür, dass sie diesen Auftrag
trotz der Gefahren, die damit verbunden sind, erfüllen.
Wir sind aber auch allen anderen, die durch die UNO
und die NATO an diesem Auftrag beteiligt sind, dankbar.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es in unserer
Geschichte schon einmal eine solche konzentrierte Zu-
sammenarbeit zur Lösung eines Problems gab. Man
muss sagen: Das ist eine großartige Aktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich war in diesem Jahr mit einigen Kollegen in Af-
ghanistan und habe dort mit Soldaten gesprochen. Wir
haben natürlich auch darüber gesprochen, wie die Per-
spektive sein wird, wenn wir ab 2011, 2012, wie es der
Außenminister formuliert hat, damit beginnen, Verant-
wortung auf Afghanistan und die afghanischen Sicher-
heitseinrichtungen zu übertragen und Fähigkeiten abzu-
ziehen, die wir dort nicht mehr brauchen. Ich war
beeindruckt nicht nur von Offizieren und Generälen,
sondern auch von ganz normalen Soldatinnen und Solda-
ten, die uns im Gespräch gesagt haben: Es darf nicht
sein, dass unser Einsatz sinnlos war. Sinnlos wäre er ge-
wesen – so haben sie formuliert –, wenn Afghanistan
wieder in den Zustand käme, aus dem wir Afghanistan
eigentlich befreien wollten. Das war eine beeindru-
ckende Aussage unserer Soldatinnen und Soldaten. Da-
ran müssen wir unseren Einsatz messen. Wir wollen,
dass die Situation in Afghanistan wesentlich sicherer ist,
als sie war, bevor wir mit unserem Auftrag begonnen ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich ist völlig klar, dass die Angehörigen der
Bundeswehr mit besonderem Interesse darauf schauen,
wie in Deutschland über den Einsatz diskutiert wird. Es
beschwert den einen oder anderen, wenn er spürt, dass
nicht der gesamte Deutsche Bundestag hinter den Einsät-
zen und den Aufgaben der Bundeswehr steht.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ehrlichkeit! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das hättet ihr gerne!)


Deswegen sind wir außerordentlich dankbar, dass so
viele Kolleginnen und Kollegen und dass auch die Bun-
desregierung so regelmäßig in Afghanistan präsent sind.
Das zeigt das Interesse und den Rückhalt für den Auftrag
und für unsere Soldatinnen und Soldaten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mancher, der sich auch in diesen Tagen zu Besuchen in
Afghanistan geäußert hat, hätte allen Grund, selbst ein-
mal dorthin zu fahren und zu fliegen und mit den Solda-
tinnen und Soldaten darüber zu sprechen.

Kritik an der Regierung und an Regierungsmitglie-
dern gehört zur parlamentarischen Demokratie.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Aber …!)


Aber sich in einer ordinären Art und Weise zu äußern,
wie es der SPD-Parteivorsitzende gemacht hat, ist
wirklich nicht zu akzeptieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Pfui! – Burkhard Lischka [SPD]: Ablenkungsmanöver!)


Wenn man sich so äußert, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, dann muss man damit rechnen, dass das zurück-
kommt, wie es heute geschehen ist. Ich kann mir vorstel-
len, dass es den allermeisten in Ihrer Fraktion
außerordentlich peinlich ist, wenn jene Dame, die
Sigmar Gabriel genannt hat, ihn heute in der BILD-Zei-
tung mit „Lieber Sigi Knuddelbär“ anschreibt. Wie weit
muss man in der SPD sinken, um so etwas zu produzie-
ren?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit haben Sie jeden Anspruch verloren, sich in dieser
Frage noch seriös zu äußern, es sei denn, Sie distanzier-
ten sich davon.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Swen Schulz [Spandau [SPD])


– Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen – das hat Herr
Gabriel produziert –: Was müssen Soldaten darüber den-
ken, wie sich diese Frau zum Zweck ihrer Reise äußert?
Ich will es hier nicht sagen. Das, was da aus Ihren Rei-
hen gemacht worden ist, ist unter jedem Niveau.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Burkhard Lischka [SPD]: Billige Selbstinszenierung!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstver-
ständlich werden wir Verantwortung übergeben. Wir
werden unsere Arbeit in Afghanistan fortsetzen, so wie
es der Außenminister beschrieben hat. Aber wir wissen
natürlich auch, dass wir in Afghanistan noch über viele,
viele Jahre hinweg präsent sein müssen, nicht mit Streit-
kräften, sondern mit Entwicklungshilfe und Entwick-
lungszusammenarbeit.

Herr Bundesaußenminister, wir wissen auch, dass die
Erfüllung der eigentlichen politischen Aufgabe dann erst
beginnt; denn Afghanistan kann natürlich nur im Umfeld
mit Pakistan, mit Indien, mit all den Anrainerstaaten ge-
sehen werden, wo zwar gute Erklärungen zu den Absich-
ten formuliert werden, wir aber bei weitem noch nicht so
weit sind, Afghanistan in ein stabiles Netz der Sicherheit
in seiner Region einbinden zu können. Es bleiben also
eine Menge Aufgaben, und ich bin dankbar dafür, dass
die Bundesregierung dies so differenziert formuliert hat.

Natürlich wissen wir ebenso, dass wir auch der Regie-
rung Karzai, um es einmal sehr freundlich zu formulie-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8915

Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

ren, beistehen müssen, damit sie die von ihr gesetzten
Ziele auch tatsächlich erreicht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Korrupt!)


Ich sage also der Bundeswehr und der Bundesregie-
rung einen herzlichen Dank für das, was in Afghanistan
geschieht. Wir begleiten diese Arbeit, weil wir ein Inte-
resse daran haben, dass in Afghanistan eine Situation
entsteht, in der die Menschen nach Jahrzehnten von
Krieg endlich befriedet leben können, Mädchen wie
selbstverständlich in die Schule gehen können, in der
Kinder eine Perspektive haben – und nicht mehr der Ter-
rorismus und der Islamismus. Das ist unsere Aufgabe,
und sie werden wir zum Erfolg führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708100500

Das Wort hat nun Jan van Aken für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708100600


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal, Herr Westerwelle, muss ich sagen, dass es tat-
sächlich ein Fortschritt ist, dass es diesen Bericht über-
haupt gibt. Seit neun Jahren führt die Bundesrepublik
Krieg in Afghanistan. Neun Jahre lang hat es niemand
für nötig gehalten, einmal zu schauen, was dieser Krieg
eigentlich in Afghanistan anrichtet.

Das richtet sich auch an die Grünen und an die SPD.
Sie haben vor neun Jahren gemeinsam diesen Krieg be-
schlossen. Herr Steinmeier, Sie waren acht Jahre lang
Minister einer Bundesregierung, die in Afghanistan
Krieg führt. Sie haben es nie geschafft, so einen Bericht
vorzulegen. Jetzt plustern Sie sich auf und fordern eine
unabhängige Evaluation. Das ist zwar richtig, aber weil
Sie das in der Regierung versemmelt haben, können Sie
sich jetzt nicht so aufplustern. Das glaubt Ihnen kein
Mensch mehr.


(Beifall bei der LINKEN – Burkhard Lischka [SPD]: Legen Sie mal eine andere Platte auf!)


Herr Westerwelle, ich war beim Lesen der ersten Sei-
ten des Berichtes positiv überrascht, weil Sie darin ein
ehrliches, ein ganz katastrophales Bild der Situation in
Afghanistan zeichnen. Sie schreiben, dass die Sicher-
heitslage immer schlechter wird. Gerade haben Sie ge-
sagt, dass es eine Trendwende gibt. Aber Ihre Zahlen
und Ihr eigener Bericht bieten ein anderes Bild. Sie sa-
gen: Die Sicherheitslage ist so schlecht wie nie zuvor.
Sie schreiben in dem Bericht: Es gibt in diesem Jahr
mehr Tote als je zuvor, bei den NATO-Soldaten, bei den
Bundeswehrsoldaten und natürlich auch, und zwar viel
mehr, bei den Afghaninnen und Afghanen. Die Willkür,
die Korruption, die Armut sind unvorstellbar groß.

Sie schreiben sogar – als ich das las, habe ich gedacht,
bei Ihnen gibt es auch einen Maulwurf der Linken; denn
wir sagen das schon seit Jahren –: Weil wir mehr Solda-
ten hingeschickt haben, gibt es mehr Tote in diesem
Land. – Das ist doch das beste Argument dafür, die Bun-
deswehrsoldaten jetzt und sofort aus Afghanistan abzu-
ziehen, wenn sie nur die Sicherheitslage verschlechtern.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie ein derart ehrliches katastrophales Bild der
Lage zeichnen, frage ich mich, warum Sie das Ganze
„Fortschrittsbericht“ nennen. Es gibt keinen Fortschritt.
Der ganze Bericht ist ein Dokument des Scheiterns. Auf
108 Seiten dokumentieren Sie, wie der Krieg in Afgha-
nistan in neun Jahren auf der ganzen Linie gescheitert
ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie reden hier heute von Abzug, Sie reden hier heute
von Aufbau, und Sie reden hier heute von Terrorismus,
Herr Kauder. Ich muss Ihnen sagen: Ihr Abzug ist kein
Abzug, Ihr Aufbau ist kein Aufbau, und Ihre Terrorbe-
kämpfung hat nichts mit Terrorbekämpfung zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir zum ersten Punkt, dem Abzug. Heute
Nachmittag wird der amerikanische Präsident, Barack
Obama, erklären, dass es beim vorgesehenen Zeitplan
bleibt: Im Juli nächsten Jahres beginnt der Abzug der
amerikanischen Truppen. Was kann Barack Obama, was
Sie nicht können, Herr Westerwelle? Warum können Sie
nicht im nächsten Juli mit dem Abzug beginnen? Von
mir aus schon heute, aber warum können Sie nicht we-
nigstens im nächsten Juli damit beginnen? Was kann er
besser?

Dann komme ich zu dem Punkt, dass Ihr Abzug über-
haupt kein Abzug ist. Sie haben gerade gesagt: Es wird
nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr geben.
Das ist eine Vernebelungstaktik.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Denn das heißt, dass offensichtlich andere Bundeswehr-
soldaten noch im Land bleiben werden. Sie wollen gar
nicht ganz aus Afghanistan herausgehen.

In dem Bericht schreiben Sie – das ist nur noch pein-
lich –, dass die afghanische Regierung Sie bitten wird,
im Jahre 2014 noch Bundeswehrsoldaten im Land zu
lassen. Wenn Sie das schon heute wissen, dann gibt es
offensichtlich Gespräche, vielleicht sogar schon Abspra-
chen, dann müssen Sie das auf den Tisch legen. Sie müs-
sen deutlich sagen, welche Einheiten der Bundeswehr
auch nach 2014 bleiben sollen. Wenn Sie jetzt vom Ab-
zug 2014 reden, ist das gelogen. Das sollte kein einziger
Mensch da draußen glauben.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir zur Terrorbekämpfung. Herr Kauder
hat es gerade gesagt – es steht auch im Bericht –: Der
Anfangsgrund und der fortdauernde Grund für den Ein-
satz in Afghanistan ist die Terrorbekämpfung. Ein paar
Seiten weiter ist im Kleingedruckten zu lesen: Al-Qaida
ist gar nicht mehr in Afghanistan.

Bei Hillary Clinton lese ich – ich bin mir sicher, dass
Sie dieselben Informationen haben –: Die Hauptquelle

8916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)

für die Finanzierung von al-Qaida und die ganzen sunni-
tischen Terroristen kommt aus Saudi-Arabien. Aber mit
Saudi-Arabien und seinen Menschenrechtsverletzungen
kuscheln Sie. Stattdessen schicken Sie die Bundeswehr
nach Afghanistan, obwohl dort gar keine Al-Qaida-
Kämpfer sind. Wenn es Ihnen um Terrorbekämpfung
geht, dann müssen Sie das anders machen. Mit Militär
und Krieg in Afghanistan geht das nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt zum Aufbau. Der Aufbau, wie Sie ihn betreiben,
ist gar kein Aufbau. Ich war Anfang des Jahres in Afgha-
nistan. Wir waren im Bundeswehrlager Kunduz und ha-
ben gesehen, wie dort der Aufbau funktioniert. Das La-
ger heißt sogar noch „Wiederaufbaulager Kunduz“.
Dazu muss man wissen, dass dort über 1 400 Bundes-
wehrsoldaten stationiert sind, von denen ganze 12 Wie-
deraufbauhelfer sind. Die Soldaten selbst sagen, dass sie
seit zwei Jahren keinen einzigen Brunnen mehr gebaut
und keine einzige Schule mehr eröffnet haben. Unter den
Bedingungen des Krieges findet dort kein Aufbau statt.

Wir waren auch in Kabul und haben dort mit echten
Entwicklungshelfern geredet. Ich habe eine Geschichte
gehört, die mich bis heute beeindruckt. Ein Deutscher – er
war ein staatlicher Entwicklungshelfer, also kein wildge-
wordener Nichtregierungsmensch – hat mir von einer
Anfrage der holländischen Armee erzählt, die – anders
als die Bundeswehr – mittlerweile abgezogen ist, in der
Provinz Uruzgan ein Projekt durchzuführen. Uruzgan
ist Taliban-Land, schwer umkämpft. Dort wird viel ge-
schossen. Alle Kollegen haben ihm gesagt: Mach das
bloß nicht, da wirst du sofort vom Acker geschossen.

Dann hat er etwas Schlaues gemacht. Er hat sich an
eine afghanische Institution gewandt, die Wissenschaft-
ler in allen Provinzen, Distrikten und ethnischen Grup-
pen hat. Sie hat ihm eine Analyse erstellt, wer eigentlich
das Sagen in Uruzgan hat – die traditionellen Strukturen,
die neuen Strukturen –, wer dort auf wen schießt und wa-
rum. Mit dieser Analyse in der Hand ist er nach Uruzgan
gegangen, hat mit den richtigen Leuten geredet und mit
ihnen gemeinsam ein Projekt entwickelt, in dessen Rah-
men er nicht nur den Brunnen gebohrt hat, sondern land-
wirtschaftliche Projekte dazu gemacht hat und sogar eine
weiterverarbeitende Industrie aufgebaut hat, damit die
jungen Menschen dort nicht nur die Wahl haben, zu den
Taliban zu gehen, sondern auch in die Fabrik gehen kön-
nen. Am Ende sagte er lapidar, er sei nicht vom Acker
geschossen worden. Die einzige Bedingung, damit es ge-
klappt hat, war: kein Militär. Die Holländer haben sich
daran gehalten und sind nicht in die Nähe des Projektes
gegangen. Diese Geschichten hören Sie überall in Af-
ghanistan. Sie können vernünftig aufbauen – ohne Mili-
tär.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie schon nicht auf mich hören – das kann ich
ja noch verstehen – und wenn Sie auch nicht auf Ihre ei-
genen Entwicklungshelfer hören – das könnte ich auch
noch verstehen –, dann hören Sie doch vielleicht auf den
ehemaligen Bundeswehrarzt, Herrn Erös, der seit Jahren
Schulen, auch Mädchenschulen, mitten im Taliban-Ge-
biet baut. Er sagt genau das Gleiche: erstens mit den
richtigen Leuten reden, zweitens ohne Soldaten. Dann
klappt es. Das ist für mich das zweite sehr gute Argu-
mente dafür, sofort die Bundeswehr abzuziehen und dort
dann endlich einen richtigen Aufbau, einen zivilen Auf-
bau, anzuschieben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich muss sagen, dass es auf diesen 108 Seiten tatsäch-
lich eine Erfolgsgeschichte gibt. Sie haben mit zwei gro-
ßen Kästen herausgestellt, wie Sie den Distrikt Chahar
Darreh bei Kunduz von den Taliban befreit haben, wie
der Aufbau dort jetzt wieder beginnt. Beim zweiten Le-
sen habe ich gesehen, dass diese Erfolgsgeschichte zwei,
drei Wochen alt ist; das haben Sie in diesem November
gemacht. Vorgestern habe ich dann aber in der Zeitung
gelesen, dass diese Erfolgsgeschichte schon wieder Ma-
kulatur ist, bevor Ihr Bericht überhaupt in Druck gegan-
gen ist. Am Freitag gab es in Chahar Darreh einen
schweren Anschlag von Taliban mit vielen Toten und
Verletzten. Ihre Erfolgsgeschichten halten zwei, drei
Wochen, weil Sie unter Bedingungen des Krieges keinen
Frieden in Afghanistan herstellen können. Das funktio-
niert so nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie eine Lösung, vor allen Dingen eine lang-
fristige Lösung, in Afghanistan wollen, dann ist am Ende
der einzige Weg, dass Sie dort die wirklich demokrati-
schen Kräfte unterstützen. Sie wissen genauso gut wie
alle hier im Hause, dass in der Regierung Karzai Kriegs-
verbrecher, Folterer und Vergewaltiger aus den 90er-Jah-
ren sitzen. Auch viele Abgeordnete im Parlament sind
Kriegsverbrecher der 90er-Jahre. Solange sie dort und
vor allen Dingen auch in der Regierung Karzai sitzen,
wird es keinen Frieden geben. Der einzige Weg ist die
Unterstützung der wirklich demokratischen Kräfte, die
es ja auch gibt, zum Beispiel den Präsidentschaftskandi-
daten Baschardost und viele andere, die wir getroffen
haben. Wir werden sie im Januar zu einer Konferenz
nach Berlin einladen, auf der wir das demokratische Af-
ghanistan vorstellen wollen. Diese Kräfte gilt es zu stär-
ken, und zwar nicht in den nächsten 10 Monaten, son-
dern in den nächsten 10, 20 Jahren, damit irgendwann
der Fortschritt in Afghanistan wirklich stattfindet.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte noch ein letztes Wort zu dem Bericht sa-
gen. Anfang des Jahres haben Sie sich endlich durchge-
rungen, den Krieg in Afghanistan einen Krieg zu nen-
nen. In diesem Bericht wird der Begriff „Krieg“ kein
einziges Mal verwendet; da reden Sie nur von Engage-
ment usw. Ich kann ja noch verstehen, dass Sie nicht
gerne von den Realitäten, also vom Krieg, in Afghanis-
tan reden. Aber dann steht hier an drei Stellen für das
heutige Afghanistan, für das Afghanistan des Jahres
2010, tatsächlich der Begriff „Nachkriegsgesellschaft“.
Wie verquast muss man im Kopf eigentlich sein, dass
man in einer Situation, in der in jedem Jahr Tausende
von Toten zu beklagen sind, von Nachkriegsgesellschaft
spricht? Das geht so nicht. Herr Westerwelle, Sie haben

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8917

Jan van Aken


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da noch ordentlich Aufbauarbeit zu leisten, vor allem in
Ihrem Ministerium, in Afghanistan aber natürlich auch.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese ganze Vernebelungstaktik, dass Sie vom Abzug
reden, ihn aber gar nicht meinen, dass Sie nicht von
Krieg reden, obwohl er dort tobt, führt natürlich dazu,
dass immer mehr Deutsche den Krieg ablehnen. Die
letzte Zahl von gestern: 71 Prozent der Menschen wollen
den Krieg in Afghanistan nicht. Diese Zahlen steigen
immer weiter. Vor einem Jahr, als Sie die Bomben auf
Kunduz abgeworfen haben, ist die Ablehnung gestiegen,
im April, als es viele in Afghanistan gestorbene Bundes-
wehrsoldaten zu beklagen gab, ist sie gestiegen, und sie
steigt immer weiter. Solange Sie den Menschen nicht die
Wahrheit sagen – dies versuchen Sie mit Ihrer Vernebe-
lungstaktik immer wieder –, so lange wird die Ableh-
nung steigen. Ich sage Ihnen: Sie halten es nicht mehr
lange durch.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Gestern hat die
Bundesregierung den Rüstungsexportbericht 2009 vor-
gelegt. Die Zahlen sind wie immer katastrophal.
Deutschland ist noch immer der drittgrößte Waffenex-
porteur der Welt. Nach Ihren Zahlen wurden Waffen im
Wert von über 5 Milliarden Euro exportiert. Und das
sind Ihre Zahlen! Die Waffenexporte in Entwicklungs-
länder haben sich verdoppelt. Wissen Sie, wer der zweit-
größte Abnehmer deutscher Waffen ist? Das sind die
Vereinigten Arabischen Emirate, die laut Hillary Clinton
– das alles können Sie bei WikiLeaks nachlesen – einer
der größten Finanziers von al-Qaida sind. Ich finde,
wenn Sie wirklich an einer friedlichen Lösung von Kon-
flikten in der Welt interessiert sind, dann müssen Sie
grundsätzlich die Waffenexporte einstellen.

Am schlimmsten finde ich: Sie haben Saudi-Arabien
sogar genehmigt, eine eigene Fabrik für Maschinenge-
wehre der Marke Heckler & Koch zu bauen. Wissen Sie,
was das bedeutet? Diese Fabrik wird 50 Jahre, wenn
nicht sogar länger, Maschinengewehre der modernsten
Bauart produzieren. Diese Maschinengewehre werden
mindestens 50 Jahre in Kriegen auf dieser Welt einge-
setzt werden. Das heißt, das, was Sie jetzt entschieden
haben, wird noch in 100 Jahren überall auf der Welt zu
Toten führen. Mir fehlen die Worte. Ich finde das einfach
nur furchtbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Eigentlich finde ich das sogar unchristlich. Herr Kauder,
Sie müssen sich dabei doch auch an das Christliche in
Ihrem Parteinamen erinnern. Ich kann verstehen, dass
Sie nicht alle Rüstungsexporte einstellen. Aber wenigs-
tens den bei den Maschinenpistolen, Maschinengeweh-
ren und Sturmgewehren, die weltweit zu so vielen Toten
führen, müssen wir einstellen. Wir sollten an diesem
Punkt zusammenkommen und endlich den Export sol-
cher Waffen verbieten.

Ich bedanke mich bei Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708100700

Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1708100800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man nach Herrn van Aken spricht, ist man ver-
sucht, seine ganze schöne Redezeit darauf zu verwen-
den, diesen Unsinn zu widerlegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


Ich möchte dieser Versuchung widerstehen und sage des-
halb zusammenfassend nur: Herr van Aken, Sie haben
ein weiteres Mal bewiesen, dass Ihre Partei außenpoli-
tisch nicht handlungsfähig und nicht ernst zu nehmen ist,
Punkt, aus, Ende.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: 4 Prozent!)


Wenn wir über den vorliegenden Fortschrittsbericht
reden, müssen wir auch analysieren, woher wir kommen,
wie die Lage 2001 war.

Ohne jeden Zweifel sind zu Beginn unseres Einsatzes
durchaus Fehler gemacht worden, unter denen wir heute
noch leiden.

Fehler eins. Die Strategie des Light Footprints, des
zarten Fußabdrucks, zu glauben, dass mit einigen Tau-
send Soldaten in Kabul so fabelhafte Dinge zu erreichen
sind, dass diese auf das ganze Land ausstrahlen, hat nicht
funktioniert.

Das zweite Problem ist, dass wir in der NATO bedau-
erlicherweise bis zur Londoner Konferenz in diesem
Jahr, bei der die Bundesregierung eine ganz wesentliche
Rolle gespielt hat, keine gemeinsame Strategie und
keine gemeinsame Zielvorstellung für das weitere Vor-
gehen hatten. Es stellt einen Fortschritt dar, dass wir nun
eine entsprechende Strategie haben.

Drittens. Das Nation Building, der Aufbau eines
Rechtsstaates, der so ähnlich funktioniert, wie wir das in
den westlichen Ländern gewohnt sind, war ein zu ambi-
tioniertes Ziel. Auch hier mussten wir dazulernen.

Viertens. Natürlich leiden wir noch heute darunter,
Herr Außenminister, dass von Anfang an in Afghanistan
eine sehr zentralisierte Organisation aufgebaut und nicht
berücksichtigt wurde, wie divers, wie unterschiedlich
das Land eigentlich ist. Afghanistan besteht aus 34 Pro-
vinzen und 368 Distrikten. Wir müssen tiefer schauen.
Unter der zentralen Organisation, die 2001 eingeführt
wurde, leiden wir noch heute. Das kommt auch in Ihrem
Bericht sehr deutlich zum Ausdruck.

Wir sind seitdem einen langen Weg gegangen. Ich
darf sagen, dass in den letzten zwölf Monaten sehr viel
passiert ist. Sehr viele Fortschritte wurden erzielt. Das
fing mit der bereits erwähnten Londoner Konferenz an.
Ohne jeden Zweifel hat die Bundesregierung einen we-

8918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

sentlichen Anteil daran, dass wir in London wie nie zu-
vor in der NATO zusammengekommen sind. Daraufhin
hat es die Kabuler Konferenz gegeben, die ausformuliert
hat, was Afghanistan tun soll. Das ist zwar noch ungenü-
gend, wie wir alle wissen, aber der Weg ist definiert.
Dann folgte die Konferenz in Lissabon, auf der die
NATO deutlich gesagt hat, wohin wir gehen und wie das
Commitment aussieht. In Lissabon ist sehr deutlich ge-
worden – das ist ganz wichtig –, dass es sich in Afgha-
nistan nicht nur um ein Engagement der NATO handelt.
Nicht 28 Staaten sind dort engagiert. Nein, in Afghanis-
tan sind 48 Staaten aktiv. Die Kontaktgruppe, die von
dem deutschen Diplomaten Steiner geleitet wird, um-
fasst auch viele muslimische Staaten. Wir müssen hier
im Bundestag und auch in der Öffentlichkeit deutlich da-
rauf hinweisen, dass das Engagement in Afghanistan
weit über den Westen im engeren Sinne und die NATO
hinausgeht. Es handelt sich um ein Engagement der in-
ternationalen Gemeinschaft gegen Menschen, die uns al-
len etwas Böses wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Bei diesem Fortschrittsbericht fällt zunächst einmal
die sehr prägnante, gute Sprache auf, Herr Außenminis-
ter. Sie erlauben mir, Sie zu bitten, das Kompliment an
die Verfasser dieser Schrift weiterzugeben; denn diese
Sprache ist beispielgebend. Ich wünschte mir, Regie-
rungsdokumente hätten häufiger diese klare, deutliche,
verständliche, sympathische Sprache. Dieser Bericht ist
ein Fortschritt gegenüber anderen Dokumenten. Er ist
klar gegliedert.

Auf das Thema Sicherheit wird meine Kollegin Elke
Hoff gleich noch näher eingehen. Ich möchte einen
Punkt besonders herausstellen, der mir sehr am Herzen
liegt, das ist der Einfluss der Region auf die Stabilität
Afghanistans, der unter Punkt 9 des Berichts behandelt
wird. Hier geht es um einen ganz kritischen Punkt. Ich
bin in diesem Sommer in den Iran und nach Indien ge-
fahren, um zu verstehen, inwieweit die Region mehr ein-
bezogen werden kann. Hier sind wir einfach noch nicht
gut genug.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Johannes Pflug [SPD]: Das liegt am Außenminister!)


– Das liegt am Außenminister. Liebe Leute, lassen Sie
uns hier doch ehrlich sein. Das ist eine Aufgabe, die Sie
nun wirklich nicht bewältigt haben und an der wir jetzt
gemeinsam weiter arbeiten müssen.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Herr Steinmeier hat es doch gemacht!)


In Bezug auf den Iran müssen wir deutlich machen,
dass es neben dem Nukleardossier noch andere wichtige
Themen gibt, die in unserem Interesse sind. Deshalb
müssen wir den Iran einbeziehen, und ich bin dankbar,
dass Herr Steiner auch in den Iran gefahren ist, um das
zu versuchen.

Bei meinem Besuch in Indien musste ich feststellen,
dass die Inder sich beiseitegesetzt fühlen. Die Inder
haben mir gesagt: Im Jahre 2001 in Bonn waren wir
noch dabei, im Jahre 2010 in London nicht mehr. Wa-
rum eigentlich nicht? Wenn ihr genau hinguckt, müsstet
ihr eigentlich alle um unsere intensiven Beziehungen zu
Afghanistan und unsere Kenntnis über Afghanistan wis-
sen. – Hier müssen wir einfach besser werden.

Aber natürlich ist klar: Der Kernpunkt und Knack-
punkt ist Pakistan. Auch hier müssen wir konstatieren
– das gehört zu einer offenen Aussprache –, dass wir
nicht da sind, wo wir hin müssen. Wir alle von links bis
rechts sagen immer gerne den wohlfeilen Satz: Wir kön-
nen das Problem Afghanistan nicht lösen, wenn wir die
Region nicht einbeziehen. – Hier haben wir noch eine
große Aufgabe vor uns. Wir müssen Pakistan insbeson-
dere dazu bewegen, auch gegen die afghanischen Tali-
ban in seinem Lande vorzugehen und sich nicht auf ein
Vorgehen gegen pakistanische Aufständische zu be-
schränken. Dabei müssen wir Pakistan unterstützen und
Überzeugungsarbeit leisten. Natürlich ist klar, dass auch
Pakistan an einem stabilen Afghanistan interessiert sein
muss; denn wenn Afghanistan explodiert, explodiert die
ganze Region. Dieses Argument müssen wir sehr deut-
lich weitergeben.

Auch beim Thema Regierungsgewalt in den Provin-
zen, das auf Seite 45 des Berichtes erwähnt ist, haben
wir großen Nachholbedarf. Hier ist das Bild ebenfalls
unterschiedlich. Es gibt eine ganze Reihe von Provinzen
und Distrikten, in denen sehr wohl verantwortungsvolle
Distriktführer und Regionsführer im Amt sind, die sehr
wohl in der richtigen Weise arbeiten. Aber natürlich
müssen wir hier flächendeckend noch sehr viel besser
werden.

Wir haben heute nicht über das Mandat zu diskutie-
ren. Die heutige Diskussion, die wir alle wollten, ist aber
eine Voraussetzung für die Entscheidung über die Ver-
längerung des Mandats im Januar. Ich möchte deshalb
auch gar nicht auf das Mandat eingehen, sondern nur sa-
gen: Lassen Sie uns im Sinne des hier vorgelegten Fort-
schrittsberichtes und des in Lissabon verabschiedeten
Planes für Afghanistan gemeinsam weitere Schritte defi-
nieren – gemeinsam, lieber Herr Erler. Ich bin dazu be-
reit, und ich habe Ihre Rede so verstanden, dass auch Sie
dazu bereit sind. Lassen Sie uns gemeinsam an eventuel-
len Konfliktstellen arbeiten.

Dazu möchte ich aber wirklich sagen, lieber Herr
Erler: Wir sollten uns nicht zu sehr an Zwischenzeitplä-
nen aufhalten. Die Perspektive 2014 ist das Entschei-
dende. Zwischenschritte müssen definiert werden, aber
ob die Zwischenschritte nun im Februar oder im März
eines Jahres kommen, ist meines Erachtens weniger
wichtig als die Sicherheit, dass wir auf dem richtigen
Wege sind. Die Sicherheit haben wir nicht, aber wir ha-
ben ein klares Bild, und wir haben gemeinsam mit unse-
ren Partnern klare Ziele. Wir wollen gemeinsam daran
arbeiten, ein besseres Ergebnis zu erzielen, als wir es im
Augenblick haben.

Schönen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8919


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Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708100900

Das Wort hat nun Frithjof Schmidt für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708101000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Außenminister, Sie haben seit März den
gemeinsamen Antrag von Grünen und Sozialdemokraten
zu einer unabhängigen Evaluierung des Einsatzes in Af-
ghanistan mit Ihrer Mehrheit im Haus blockiert und
schließlich abgelehnt. Damit haben Sie die Tür zu einer
gemeinsamen Bewertung zugeschlagen. Das ist nicht im
Interesse der Sache. Das ist und bleibt ein großer politi-
scher Fehler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt haben Sie uns zum ersten Mal einen Fortschritts-
bericht zum Einsatz vorgelegt. Damit bewerten Sie sich
sozusagen selber, und das ist leider auch deutlich zu
merken.

Erst einmal sei zugestanden: Die Beschreibungen
der Lage sind in vielen Punkten realistisch. Der Bericht
skizziert zutreffend die Verschlechterung der Sicher-
heitslage, die wirklich gravierend ist, die Probleme beim
Staatsaufbau, die Korruption und andere Entwicklungs-
hemmnisse in Afghanistan. Da ist Ihr Bericht sehr detail-
liert, informativ, und das stellt eine Verbesserung im Ver-
gleich zu vielen früheren Unterrichtungen dar. Das
erkennen wir auch ausdrücklich an.

Aber bei Ihren politischen Bewertungen fragt man
sich schon, woher Sie die nach den Beschreibungen ei-
gentlich nehmen. Sie müssen einräumen, dass der Ab-
wärtstrend 2010 nicht gestoppt wurde. Bei Ihnen heißt
das dann aber beschönigend: Die Voraussetzungen sind
geschaffen worden, um den Abwärtstrend zu stoppen.


(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aus dieser Vermutung leiten Sie dann die Prognose ab,
dass es aber Mitte 2011 zur Trendwende kommen wird.
Warum? Weil ja der politische Versöhnungsprozess im
nächsten Jahr besser laufen wird. – Das nenne ich: Pfei-
fen im dunklen Walde. Mit seriöser Tatsachenbewertung
hat das wenig zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was völlig fehlt, ist jede politische Selbstkritik bezo-
gen auf die Schwächen der neuen ISAF-Strategie. Vor
wenigen Tagen haben Experten der amerikanischen
Denkfabrik Carnegie Endowment und der International
Crisis Group den Afghanistan-Einsatz im letzten Jahr
bewertet; das ist der gleiche Zeitraum. Das Ergebnis fällt
jeweils deutlich schlechter aus als das, was Sie uns hier
vorgelegt haben. Meine Damen und Herren von der Ko-
alition, das sollte Ihnen wirklich zu denken geben. Es
läuft gegenwärtig nicht gut in Afghanistan.

Die letzten zwölf Monate waren die blutigsten seit
Beginn des Einsatzes. Die ISAF-Truppen haben gemein-
sam mit der afghanischen Armee großflächig eine offen-
sive Aufstandsbekämpfung begonnen. Für den Süden
wurde eine entscheidende militärische Schwächung der
Aufständischen angekündigt. Sie ist offenkundig nicht
gelungen. Die Carnegie-Studie spricht von einem Patt
im Süden. Die International Crisis Group sieht „wenig
Anzeichen dafür, dass die Militäroperationen den Auf-
stand geschwächt hätten“. Das Internationale Rote
Kreuz hat diese Woche erklärt, die Lage sei so schlecht
wie seit 30 Jahren nicht mehr. Deswegen sage ich: Mit
Durchhalteappellen werden Sie diesen Herausforderun-
gen nicht gerecht. Auch Talkshowinszenierungen im
Kampfgebiet, Herr zu Guttenberg, helfen da nicht wei-
ter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gleichzeitig sind wenig Fortschritte bei den halboffi-
ziellen Verhandlungen mit den Aufständischen zu erken-
nen. Es ist festzustellen: Die Strategie, die Taliban an
den Verhandlungstisch zu bomben, geht nicht auf.

Auch im Norden des Landes, für den wir als Deut-
sche zentral verantwortlich sind, hat sich die Sicherheits-
lage verschlechtert. Nach einem Bericht des Wall Street
Journal sind die Taliban in der Region so aktiv wie nie
zuvor. Was noch schlimmer ist: Die Einstellung gegen-
über Deutschland hat sich in der afghanischen Bevölke-
rung im Norden im letzten Jahr dramatisch verschlech-
tert. Das zeigt die große Umfrage der ARD und anderer
Medien sehr deutlich. Das ist wirklich Anlass zur Sorge;
denn ohne das Vertrauen der Bevölkerung – das war ein-
mal das große politische Kapital der deutschen Präsenz –
werden wir gar nichts erreichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber es zeigt sich leider: Mit der offensiven Strategie
der Aufstandsbekämpfung wird die Unterstützung vieler
Afghaninnen und Afghanen offensichtlich weiter ver-
spielt.

Woher Sie angesichts dieser Fakten Ihre optimisti-
sche Einschätzung nehmen, 2011 stünde die Trend-
wende bevor, ist mir schleierhaft. Die Fakten Ihres eige-
nen Berichts geben das nicht her. Auch die Einschätzung
unabhängiger Expertinnen und Experten gibt das nicht
her. Herr Westerwelle, nehmen Sie das bitte endlich zur
Kenntnis!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Fraktion hat dem neuen Mandat im Februar
mit großer Mehrheit – auch aus genau solchen Befürch-
tungen heraus – nicht zugestimmt. Sie, Herr Außenminis-
ter, haben damals behauptet, mit dem Mandat vollzöge
sich – ich zitiere aus Ihrer Erklärung – „eine Schwer-
punktverlagerung von dem gegenwärtig eher offensiven
Vorgehen der QRF zu einer grundsätzlich defensiven
Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz“.

Meine Damen und Herren von der Koalition, das
müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen
und mit den Beschreibungen in dem Bericht vergleichen.
Das haben wir Ihnen damals schon nicht geglaubt. Sie
haben das „Partnering“ neu in das Mandat eingeführt,

8920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



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ohne es klar zu definieren. Wir hatten die Befürchtung,
dass das eine schleichende qualitative Veränderung des
Mandats bedeutet: die Abkehr von ISAF als Stabilisie-
rungseinsatz hin zu einer Strategie der offensiven Auf-
standsbekämpfung in der Fläche. Das – mit Verlaub – ist
das Gegenteil von einer defensiven Ausrichtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss leider feststellen: Diese Befürchtung hat
sich bewahrheitet. Damit haben Sie den deutschen Ein-
satz in Afghanistan auf einen falschen Weg gebracht. Es
gibt keine ausreichende Klarheit über den militärischen
Auftrag und die politischen Ziele. Das gilt auch für die
weitere Perspektive des Einsatzes: die viel zitierte
„Übergabe in Verantwortung“ und die konkrete Planung
des Abzuges der internationalen Truppen. Eine präzise
Planung wäre hier das Gebot der Stunde.

Andere Länder gehen diesen Weg. Unser westlicher
Nachbar, die Niederlande, hat seine Armee bereits weit-
gehend nach Hause geholt. Polen, unser östlicher Nach-
bar, hat erklärt, seine Truppen in den kommenden zwei
Jahren abzuziehen. Italien, der viertgrößte Truppenstel-
ler, will von 2011 bis 2014 den Abzug vollziehen. Und
Schweden, mit dem wir gemeinsam im Norden Afgha-
nistans engagiert sind, hat parteiübergreifend beschlos-
sen, zwischen 2012 und 2014 stufenweise abzuziehen.

Und was ist jetzt mit der deutschen Bundeswehr? Das
allgemeine Beschwören einer Abzugsperspektive ist
noch kein Plan. Wie andere europäische Regierungen
muss auch die Bundesregierung einen vollständigen und
ehrlichen Abzugsplan vorlegen – mit klaren Zielen und
konkreten Zwischenschritten. Jetzt vor der anstehenden
Mandatsverlängerung im Bundestag wäre der Zeitpunkt
dafür. Ich sage – auch vor dem Hintergrund Ihrer eige-
nen Bewertungen –: Länger als bis 2014 sollten die Ver-
bände der Bundeswehr nicht in Afghanistan bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drei Jahre sind ein verantwortbarer Zeitraum für einen
koordinierten Abzug.

Wenn von der Bundesregierung erwogen wird, der af-
ghanischen Regierung über diesen Zeitpunkt hinaus eine
begrenzte Anzahl von Militärausbildern anzubieten,
dann sollten Sie das offen sagen und klare Konditionen
nennen, aber das nicht einfach so in den Raum stellen.
Weichen Sie an diesem Punkt nicht weiter aus! Betrei-
ben Sie keinen Etikettenschwindel – das sage ich noch
dazu – mit den Worten von der defensiven Ausrichtung
bei Ausbildung durch Partnering – am Ende nach dem
Motto: Wir ziehen die Kampftruppen ab, aber die glei-
chen Soldaten bleiben als Ausbildungseinheiten da. Sa-
gen Sie konkret, was Sie in den nächsten drei Jahren ma-
chen wollen! Sagen Sie konkret, was Sache ist! Das
erwarten wir spätestens dann von Ihnen, wenn Sie uns in
einem Monat das neue Mandat vorlegen.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708101100

Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/

CSU-Fraktion.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708101200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein-
mal möchte ich unsere Grüße an all diejenigen nach Af-
ghanistan senden, die diese Debatte verfolgen. Ich hatte
Anfang der Woche zusammen mit dem Kollegen Willsch
die Gelegenheit, den Minister auf seiner wichtigen Reise
zu begleiten. Wir haben bei der Gelegenheit mit sehr,
sehr vielen Soldaten sprechen können.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! Auch bei Kerner?)


Die Ernsthaftigkeit, mit der unsere Debatten verfolgt
werden, sollte auch den Stil dieser Debatte hier prägen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin der Meinung, auch nach diesem Besuch und
nach vielen Gesprächen mit Soldaten vor Ort, dass sie
allen Respekt dafür verdient haben, dass sie mit Mut und
Tapferkeit in unserem Auftrag bzw. aufgrund unserer
Mandatierung ihren Dienst für unser Land und für die
Sicherheit unseres Landes leisten. Deshalb, liebe Solda-
tinnen und Soldaten, herzlichen Dank für Ihren Mut, Ih-
ren großen Einsatz und für die großen Opfer, die Sie ge-
rade in dieser besonderen Zeit des Jahres, nämlich der
Advents- und Weihnachtszeit, bringen! Herzlichen
Dank!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe Soldaten getroffen, die sich gerade jetzt vor
Weihnachten große Sorgen darüber machen, was ihre
Angehörigen fühlen, was die Freundin bzw. der Freund
denkt, was ihr Lebenspartner oder ihre Lebenspartnerin
fühlt und was ihre Eltern beschwert. Ich habe Soldaten
getroffen, die versuchen, das ein Stück weit zu überbrü-
cken. Ich begrüße deshalb jede Initiative, insbesondere
auch Initiativen von Soldaten selbst, die sich dafür enga-
gieren, diesen Rückhalt in der Bevölkerung, den wir die
ganze Zeit beschwören, weiter zu verstärken. Exempla-
risch nenne ich Radio Andernach und empfehle allen
Kolleginnen und Kollegen, sich einmal intensiv mit der
Website zu beschäftigen. Sie werden dann sehen, welche
Brücken von Afghanistan bis zu uns hier möglich sind.
Über persönliche Begegnungen hinaus kann hier dauer-
haft der Kontakt gehalten werden.

Den Kontakt zur Truppe zu halten, ist auch Aufgabe
des Parlaments; das ist auch Aufgabe der Regierung.
Das haben Minister zu Guttenberg und Minister
Westerwelle auf vielfältige Weise immer wieder getan.
Auch unsere hier getroffenen politischen Entscheidun-
gen werden dadurch legitimiert, dass man in ständigem
Kontakt mit den Soldatinnen und Soldaten ist. Das be-
grüße ich außerordentlich.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708101300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollege Ströbele?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8921


(A) (C)



(D)(B)


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708101400

Das hat schon Ritualcharakter. Ich nehme die Frage

trotzdem an.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708101500

Dann gibt es auch noch vom Kollegen Arnold den

Wunsch nach einer Zwischenfrage.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708101600

Können wir gerne machen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708101700

Bitte schön, Herr Ströbele.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke schön, Herr Präsident und Herr Kollege. –
Herr Kollege, haben Sie den Soldaten bei Ihrem Besuch
in Afghanistan auch gesagt, dass über 70 Prozent der
deutschen Bevölkerung den Einsatz in Afghanistan nicht
richtig finden und den Abzug der deutschen Soldaten aus
Afghanistan befürworten? Haben Sie den deutschen Sol-
daten in Afghanistan auch gesagt, dass ihr derzeitiger
Außenminister die deutsche Öffentlichkeit getäuscht hat,
indem er durch Trickserei den Eindruck zu erwecken
versucht hat, dass im Jahr 2011 mit dem Abzug der deut-
schen Soldaten aus Afghanistan begonnen werde, wäh-
rend im Bericht der Bundesregierung, den Sie hier ver-
teidigen, steht, dass nicht schon für das Jahr 2011,
sondern erst für das Jahr 2012 eine Perspektive für den
Beginn des Abzugs der Soldaten aus Afghanistan entwi-
ckelt werden soll? Haben Sie den deutschen Soldaten in
Afghanistan auch gesagt, dass sie als deutsche Soldaten
jetzt bereits längere Zeit in Afghanistan im Kriegseinsatz
sind, als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen
gedauert haben, und dass sie nach den Plänen dieser
Bundesregierung perspektivisch gesehen noch mindes-
tens vier bis fünf Jahre dort bleiben müssen?


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Haben Sie schon einmal mit einem Soldaten gesprochen?)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708101800

Herr Ströbele, zunächst einmal eine Bemerkung zu

Ihrer erneuten Zwischenfrage an mich. Es hat ja wirklich
schon bald ritualhaften Charakter, dass Sie sich zu Wort
melden, wenn ich am Rednerpult stehe. Ich nehme Ihre
Zwischenfragen trotzdem jederzeit gerne an, um Ihnen
Ihren Wunsch, hier im Parlament reden zu können, zu
erfüllen. Ich bitte aber Ihre Fraktionsführung inständig:
Bitte setzen Sie Herrn Ströbele einfach einmal auf die
Rednerliste, damit er seine Statements hier nicht immer
in Zwischenfragen verpacken muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Ströbele, ich brauche den Soldaten nicht zu sa-
gen, wie lange der Einsatz dauert, denn sie selbst wissen
es am besten. Ich brauche den Soldaten auch nicht zu sa-
gen, in welch schwieriger Situation wir uns in Deutsch-
land befinden und wie sehr der Rückhalt in der Bevölke-
rung für dieses Mandat bröckelt.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 70 Prozent!)


Selbst wenn ein großer Teil der Bevölkerung in unserem
Land gegen diesen Einsatz ist, rufe ich den Soldaten
trotzdem zu, dass das nicht bedeutet, dass die Menschen
in unserem Land gegen unsere Soldaten sind. Das ist
nicht so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man kann gegen die Politik der Regierung in diesem
Land sein. Es sollte aber nicht der Eindruck erweckt
werden, dass sich diese Gegnerschaft auch auf die Bun-
deswehr bezieht. Ich fahre auch nicht nach Afghanistan,
um die Soldaten zu belehren oder ihnen gar so etwas na-
hezulegen, wie Sie es in Ihrer Frage gerade gemacht ha-
ben. Insofern ist, wie ich denke, Ihre Frage beantwortet,
und Sie haben die Möglichkeit gehabt, hier Stellung zu
beziehen.

Der Kollege Arnold hatte noch eine Frage, Herr Präsi-
dent. Ihm möchte ich auch die Möglichkeit dazu geben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708101900

Bitte schön, Kollege Arnold.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1708102000

Herr Kollege Mißfelder, wir haben gerade zum ersten

Mal gehört, dass zwei Kollegen aus der CDU/CSU den
Minister auf dieser Reise begleitet haben. Meine Frage
ist: Ist Ihnen bekannt, ob der Minister auch Abgeordnete
von anderen Fraktionen eingeladen hat, wie es gerade
bei den Weihnachtsreisen der Minister nach meiner
Beobachtung in den vergangenen zwölf Jahren der
Brauch war? Oder sind Sie inzwischen der Auffassung,
dass Parlamentsarmee bedeutet, dass es sich um eine
Familienarmee bzw. eine CDU-Armee handelt?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Das ist unterirdisch!)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708102100

Herr Arnold, dazu ist mir nichts bekannt, und ich

kann deshalb nichts dazu sagen. Ich weiß nur, dass Sie
an Reisen teilgenommen haben, zu denen ich nicht ein-
geladen war. Das hat aus meiner Sicht zum Teil damit zu
tun, dass es durchaus Einladungen an verschiedene
Kreise geben kann. Mal ist der Teilnehmerkreis auf den
Auswärtigen Ausschuss, mal auf den Verteidigungsaus-
schuss und mal auf den Entwicklungshilfeausschuss be-
schränkt. Es gibt auch Fälle, in denen Persönlichkeiten
aus der Verwaltung wie beispielsweise Staatssekretäre
dabei sind. Nach meinem Wissensstand kann ich Ihre
Frage nur so beantworten, wie ich es gerade getan habe.

Ich möchte jetzt noch auf andere Punkte näher einge-
hen. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Man-
dat nicht allein um ein Mandat der christlich-liberalen
Koalition. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diesen
Einsatz verantwortungsvoll fortzuführen. Ich möchte
deshalb auch auf das eingehen, was Herr Erler gesagt

8922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

hat. Ich bin froh, dass Sie hier Ihre Anliegen vorgetragen
haben, und nehme das, was Sie gesagt haben, ernst. Ich
möchte dazu beitragen, dass in den kommenden Wochen
die Gelegenheit genutzt wird, eine breite Unterstützung
im Hause für dieses Mandat zu bekommen.

Auch das, was Herr Ströbele vorhin zum Thema Ab-
zugsperspektive gesagt hat, ist nicht ganz falsch. Aber
diese Verantwortung tragen wir gemeinsam. Natürlich
war es ein Fehler, diesen Einsatz in uneingeschränkter
Solidarität zu beginnen, ohne festzulegen, wie und nach
welchen Kriterien man sich aus dieser schwierigen Mis-
sion wieder verabschieden will. Gerade das abgelaufene
Jahr zeigt, wie schwierig es ist, entsprechende Kriterien
zu entwickeln. Ich mache das nicht nur an Schröders Äu-
ßerung von der uneingeschränkten Solidarität fest. Ich
mache das insgesamt an unserem Verhalten fest. Wir tra-
gen für dieses Mandat gemeinsam die Verantwortung.

Der Fortschrittsbericht zeigt eindeutig: Wir bewegen
uns in einem Spannungsbogen. Einerseits müssen wir
die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und auch die
der Entwicklungshelfer und all derjenigen, die sich für
den Zivilaufbau in Afghanistan engagieren, sehen. An-
dererseits müssen wir – das ist ein schwieriges Unterfan-
gen – die Übergabe in Verantwortung nach unseren
selbstgesetzten Maßstäben, die ich für richtig halte, um-
setzen. Unsere selbstgesetzten Maßstäbe sind an Huma-
nität, an Menschenrechten und insbesondere an den
Rechten der Frauen in Afghanistan ausgerichtet. Der
Minister hat es vorhin sehr deutlich gesagt: Was wir an
Erfolgen im Hinblick auf die Verbesserung der Situation
der Frauen in Afghanistan erreicht haben, wollen wir
nicht leichtfertig aufgeben.

Wir bewegen uns in diesem Spannungsbogen zwi-
schen Sicherheitsinteressen in Bezug auf den zukünfti-
gen zivilen Aufbau und den roten Linien, bei denen wir
uns im Übrigen mit vielen Kolleginnen und Kollegen
aus der Fraktion der Grünen sehr einig sind. Herr
Schmidt, ich nehme deshalb das, was Sie gesagt haben,
gerne auf. Wir müssen uns mit der Frage auseinanderset-
zen, wie wir es schaffen können, mehr Verantwortung in
afghanische Hände zu legen. Das bedeutet, dass wir die
Armeeausbildung und die Polizeiausbildung voran-
treiben müssen.

Der Fortschrittsbericht zeigt in ganz großer Klarheit:
Da gibt es sehr viele Fragezeichen. Wenn wir an die
staatlichen Institutionen in Afghanistan denken – ich
meine nicht den einzelnen Soldaten, sondern die dorti-
gen Verantwortungsträger –, dann müssen wir sehen,
dass wir es mit sehr schwierigen Figuren zu tun haben.
Wir können es uns aber nicht aussuchen, mit wem wir es
dort zu tun haben. Natürlich trifft man den einen oder
anderen, von dem man meinen könnte, dass er vielleicht
ein besserer Präsident Afghanistans sei. Ein Vertreter der
Linken hat es vorhin gesagt. Es stellen sich aber fol-
gende Fragen: Haben diese Personen die Durchschlags-
kraft, ein Land zu führen? Gibt es in Afghanistan über-
haupt die Perspektive einer starken Zentralregierung?
Wie wird Afghanistan in 10 bis 15 Jahren aussehen, und
mit welchen Leuten hat man es dann in welcher Region
zu tun? Deshalb muss man ganz genau hinschauen, wie
sich die Abzugsperspektive gestalten soll.

Deshalb tun wir uns auch so schwer, einfach mir
nichts, dir nichts ein Datum zu nennen, meinetwegen an
Landtagswahlen oder an anderen politischen Überlegun-
gen ausgerichtet. Wir machen es uns nicht leicht. Wir re-
den Klartext mit dem Fortschrittsbericht. Wir überneh-
men die Verantwortung, selbst wenn ein großer Teil in
unserer Bevölkerung zunehmend Probleme bei der Man-
datierung sieht. Wir stehen auch zu dieser Verantwor-
tung, weil wir der Meinung sind, dass man Afghanistan
nicht kopflos verlassen darf, sondern nach unseren Kri-
terien, die ich gerade klar genannt habe, einen Weg aus
dieser Mission heraus finden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Selbst Kritiker des Einsatzes, zum Beispiel wie der
Autor Ahmed Rashid, geben uns doch deutliche Hin-
weise, wie man mit dem Wiederaufbau in Afghanistan
umgehen soll. Unser zentraler Punkt ist ja nicht das mili-
tärische Engagement. Unser zentraler Punkt – das war
der Strategiewechsel, den Minister Westerwelle dan-
kenswerterweise mit eingeleitet hat – ist der Wiederauf-
bau in Afghanistan. Ahmed Rashid sagt, wenn dieser
Wiederaufbau scheitern sollte – Voraussetzung für den
Wiederaufbau ist nun einmal Sicherheit –, dann haben
die Extremisten in Afghanistan gesiegt. Das wollen wir
nicht zulassen. Deshalb wollen wir eine Übergabe in
Verantwortung. Der Fortschrittsbericht gibt uns darüber
Klarheit und gibt die Richtlinien vor, wie wir sie in Zu-
kunft gestalten können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708102200

Das Wort hat nun Johannes Pflug für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Pflug (SPD):
Rede ID: ID1708102300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der von Herrn Minister Westerwelle heute vor-
gestellte Fortschrittsbericht zu Afghanistan ist durchaus
kritisch und wenig schönfärberisch. Wir erwarten aller-
dings immer noch, dass die Bundesregierung den Vor-
schlag von SPD und Grünen einer unabhängigen Eva-
luation des internationalen Engagements in Afghanistan
ebenfalls aufgreift und bei zukünftigen Berichten ent-
sprechend umsetzt.

Herr Minister, neben Erfolgen und Misserfolgen fin-
det man im Bericht der Bundesregierung eine Menge
Hoffnung, die weder aufgrund der Ergebnisse des Fort-
schrittsberichts noch aufgrund der Aussagen unabhängi-
ger Experten angebracht ist. Ob zum Beispiel eine Ver-
besserung der Sicherheitslage wirklich aufgrund der
neuen Counterinsurgency-Strategie gegeben ist, wird
sich erst im Frühjahr, nämlich dann, wenn viele Auf-
ständische wieder zu den Waffen greifen und aus ihren
pakistanischen Rückzugsräumen nach Afghanistan zu-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8923

Johannes Pflug


(A) (C)



(D)(B)

rückkehren, zeigen. Die anhaltende massive Verschlech-
terung der Sicherheitslage in diesem Jahr gibt zumindest
wenig Anlass zu Optimismus.

Fakt ist außerdem, dass der Bericht selbst einräumt,
dass keine der bisherigen Verstärkungen der Militärprä-
senz eine Verbesserung der Sicherheitslage bewirkt hat.
Und Fakt ist auch, dass der Bericht selbst einräumt, dass
letztlich gegenwärtig nur knapp die Hälfte der afghani-
schen Armeeverbände überhaupt in der Lage ist, ISAF-
Operationen zu unterstützen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz genau!)


Bei der afghanischen Polizei, deren Ausbildung ein
Schwerpunkt des deutschen Engagements sein soll, stellt
sich die Situation dabei noch weit schlechter dar. Es wird
vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich, woher die
Bundesregierung ihren Optimismus für eine positive
Entwicklung im Jahr 2011 nimmt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es wird erst recht nicht ersichtlich, auf welche Fehler,
Versäumnisse und Ursachen in der Vergangenheit die
schlechte gegenwärtige Sicherheitslage zurückzuführen
ist und ob und wie diese in Zukunft vermieden werden
können.

Besonders bedauerlich ist daher, dass mit dem Fort-
schrittsbericht eine Chance auf kritische Prüfung der bis-
herigen Politik und Maßnahmen verschenkt wurde. So
ist es auch nicht verwunderlich, dass die Bundesregie-
rung, geschlagen mit ihrem Tunnelblick unter dem
Motto „Alles wird gut in Afghanistan“, wesentliche
strukturelle Schwierigkeiten des Engagements in Af-
ghanistan bis heute nicht zur Kenntnis nimmt.

Diese strukturellen Mängel reichen zurück bis in das
Jahr 2001, als sich die Vereinigten Staaten unter maß-
geblicher Federführung ihres damaligen Verteidigungs-
ministers Donald Rumsfeld dazu entschlossen, die Tali-
ban und al-Qaida im Wesentlichen aus der Luft zu
bekämpfen und die Kämpfe am Boden den ehemaligen
Mudschaheddin und Kriegsherren der sogenannten
Nordallianz zu überlassen. Erst als bekannt wurde, dass
diese Kriegsherren gegen Bezahlung Führer der Taliban
und al-Qaida schützten und in Tora Bora zur Flucht ver-
halfen, während ihre Männer Gräueltaten an der pasch-
tunischen Bevölkerung verübten, entschlossen sich die
USA, selbst stärker aktiv zu werden. Allerdings wurde
schnell deutlich, dass die amerikanische Regierung kei-
nerlei tragfähiges Konzept für den Staatsaufbau in Af-
ghanistan besaß und diesen dazu auch noch über den
Krieg im Irak in der Folgezeit zu lange erheblich ver-
nachlässigte. Dies hatte zur Folge, dass jede der anderen
beteiligten Nationen ihre eigene Afghanistan-Politik ver-
folgte und dass bis zur Afghanistan-Konferenz in Lon-
don Anfang des Jahres wenig unternommen wurde, um
die verschiedenen Engagements zu koordinieren.

Nun hat nicht die Bundesregierung allein diese frühe-
ren Verfehlungen zu verantworten. Allerdings krankt der
Einsatz in Afghanistan noch immer an der mangelhaften
Koordination des internationalen Engagements, insbe-
sondere mit der Führungsmacht USA.

Herr Minister, konnte die jetzige Bundesregierung
beispielsweise in Erfahrung bringen, wann, wo und mit
welchen Gruppenkontingenten die USA ihren angekün-
digten Abzug beginnen wollen und welche Aufgabe sie
dabei unserer Bundeswehr zugedacht haben? Hat die
Bundesregierung zur Kenntnis genommen, dass sich der
US-Truppenabzug im Zweifelsfall an amerikanischen
Wahlterminen und weniger an der Situation in Afghanis-
tan orientiert? Muss man davon ausgehen, dass sich die
amerikanischen Truppen im deutschen Verantwortungs-
bereich des Regionalkommandos Nord auf Frühjahrsof-
fensiven vorbereiten? Wenn dem so ist, wie gedenkt sich
die Bundesregierung bei solchen Offensiven im nächsten
Jahr zu verhalten, insbesondere wenn die USA deutsche
Unterstützung anfordern?

Auf all diese Fragen ist die Bundesregierung bisher
eine Antwort schuldig geblieben. Es waren in der Ver-
gangenheit keine Initiativen erkennbar, die maßgeblich
zur Verbesserung der Situation beigetragen hätten. Herr
Minister Westerwelle, da Dauer, Umfang und Art des
amerikanischen Engagements zweifellos von direkter
Bedeutung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanis-
tan sind, gilt nach wie vor: Tragen Sie endlich zur Klä-
rung der genannten offenen Fragen bei!

Nicht nur die mangelnde Koordination mit unseren
Verbündeten in Afghanistan selbst bereitet uns Sorgen:
Aktuelle Geheimdienstberichte der Vereinigten Staaten
dokumentieren zum wiederholten Mal die besondere Be-
deutung, die Pakistan bei der Stabilisierung – oder sollte
ich besser Destabilisierung sagen? – Afghanistans zu-
kommt. Solange die afghanischen Aufständischen das
afghanisch-pakistanische Grenzland als Rückzugsraum
nutzen können, solange Pakistan Afghanistan als Spiel-
ball und strategisches Hinterland in seinem Verhältnis zu
Indien sieht und die pakistanische Regierung an einem
stabilen Afghanistan lediglich unter einer propakistani-
schen Regierung interessiert ist, wird die Stabilisierung
Afghanistans erheblich erschwert.

Auch der Iran, China, Indien und Russland besitzen
erhebliches Potenzial, das es für den Wiederaufbaupro-
zess in Afghanistan nutzbar zu machen gilt. Wir fordern
die Bundesregierung daher auf, die Wahl Deutschlands
in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht als
bloßes Prestigeprojekt zu sehen, sondern als Grundlage,
Initiativen für regionale Lösungsansätze für Afghanistan
anzustoßen.


(Beifall bei der SPD)


Die Bundesregierung verweist in ihrem Fortschritts-
bericht auf die Binsenweisheit, militärisch sei der Kon-
flikt in Afghanistan nicht zu gewinnen. Die SPD-Frak-
tion war sich dessen stets bewusst; sie hatte dies auch nie
vor. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf,
die außenpolitische Initiative zu übernehmen, die Ko-
ordination mit unseren Verbündeten zu verbessern und
auf eine regionale Lösung des Afghanistan-Konfliktes
hinzuwirken.


(Beifall bei der SPD)


8924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Johannes Pflug


(A) (C)



(D)(B)

Außerdem erwarten wir, dass der vorgestellte Fort-
schrittsbericht in Zukunft durch kritische Quartalseva-
luationen ergänzt wird.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708102400

Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1708102500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit
dem von der Bundesregierung vorgelegten „Fortschritts-
bericht Afghanistan“ wurde zum ersten Mal nicht nur
uns Kolleginnen und Kollegen, sondern auch den Bürge-
rinnen und Bürgern eine Grundlage gegeben, um den
Afghanistan-Einsatz nachzuvollziehen. Das ist in den
letzten Jahren häufig viel zu kurz gekommen. Unsere
Bürgerinnen und Bürger haben jetzt zum ersten Mal die
Möglichkeit, die Maßnahmen, die die Bundesregierung
ergreift, nachzuvollziehen und vor allen Dingen die wei-
teren Schritte zu begleiten; denn bei all der berechtigten
Kritik in der Vergangenheit: Jetzt müssen wir den Blick
nach vorne richten. Ich glaube, dass es der Bundesregie-
rung hier sehr gut gelungen ist, diesen Blick nach vorne
zu ermöglichen, sodass wir nachvollziehen können, wel-
che die wesentlichen Schritte beim weiteren Engage-
ment in Afghanistan sein werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Herr Minister, ich möchte
dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Af-
ghanistan vor dem Hintergrund der Kürze der Zeit, die
ihm zur Verfügung stand, für seinen Einsatz danken.
Herr Steiner hat sich innerhalb kürzester Zeit hervorra-
gend in diese komplexe Materie eingearbeitet. Es ist
ihm, der Bundesregierung und uns allen gelungen, die
bedeutsame Rolle unseres Landes in der internationalen
Gemeinschaft darzustellen. Herr Minister, Sie haben
eine Konferenz in Bonn in Aussicht gestellt. Das zeigt,
dass Deutschland, verkörpert durch die deutsche Diplo-
matie und insbesondere durch die Bundeswehr, gerade in
dieser Frage hohes Ansehen in der Welt genießt. An die-
ser Stelle ein herzliches Dankeschön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herr Schmidt, Sie haben eben den Begriff des Part-
nerings kritisch beleuchtet. Ich glaube, dass es keine Al-
ternative dazu gibt, die afghanischen Sicherheitskräfte
ernsthaft in die Lage zu versetzen, dass sie in einem der
schwierigsten Konflikte mit einer Aufstandsbekämpfung
strategisch umgehen können. Vor allen Dingen muss die
Identität der afghanischen Nationalarmee hergestellt
werden. Bei Auseinandersetzungen vor Ort und kleinen
Scharmützeln zu bestehen ist das eine; eine wirklich
funktionsfähige Armee und Polizei aufzubauen, die auf
den afghanischen Staat eingeschworen ist, ist aber etwas
anderes. Ich glaube, dass die internationale Gemein-
schaft in diesem Zusammenhang eine ganz entschei-
dende Rolle spielt, und zwar nicht nur bei der Ausbil-
dung der Streitkräfte, wozu wir uns meines Erachtens
langfristig verpflichten müssen. Wir müssen die afghani-
schen Sicherheitskräfte vielmehr in die Lage versetzen,
in Afghanistan in Zukunft das Gewaltmonopol auszu-
üben. Es kann nicht sein, dass einzelne Warlords, dass
einzelne, selbsternannte Chefs in den Regionen das Ge-
waltmonopol, das eigentlich der Staat haben sollte, an
sich reißen. Deswegen sollten wir die afghanische Re-
gierung, aber auch die afghanischen Streitkräfte bei die-
ser wichtigen Aufgabe unterstützen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört natürlich auch, lieber Kollege Schmidt,
dass die afghanische Armee in die Lage versetzt wird, zu
kämpfen. Dazu gehört, dass sie dafür ausgebildet ist.
Dazu gehört aber auch, dass sie entsprechend finanziert
ist. Die internationale Gemeinschaft hat Verantwortung
übernommen und Unsummen von Geld zur Verfügung
gestellt. Ich möchte auch die Bundeswehr mit allem
Nachdruck bei dieser Aufgabe unterstützen. Unsere Sol-
datinnen und Soldaten verdienen für das, was sie im
Rahmen des Partnerings, das schon jetzt stattfindet, auch
im Bereich unserer OMLTs, allen Dank und alle Aner-
kennung. Sie sind diejenigen, die das Vertrauen der af-
ghanischen Sicherheitskräfte gewinnen müssen. Unsere
Soldatinnen und Soldaten sind in diesem Zusammen-
hang auch Botschafter unseres Landes. Wenn es keine
Nähe zwischen der deutschen Bundeswehr und den af-
ghanischen Streitkräften gibt, entsteht auch kein Ver-
trauen. Dabei haben wir mit Recht auch Erwartungen an
die Afghanen. Ich habe uneingeschränktes Vertrauen,
dass wir auf dem richtigen Weg sind und die richtige
Strategie umsetzen.

Wir müssen uns ein Weiteres vor Augen halten: Eine
Counterinsurgency, eine Aufstandsbekämpfung, ist eine
der schwierigsten militärisch-zivilen Missionen, die man
sich überhaupt denken kann. Ohne die Unterstützung
und die Geduld der Parlamente – ich weiß, dass es
schwer ist, immer wieder erklären zu müssen, warum es
keinen riesengroßen Fortschritt gibt – ist sie nicht mög-
lich. Wir haben uns verpflichtet, und die NATO hat sich
einstimmig auf dieses Ziel festgelegt. Deshalb ist es mei-
nes Erachtens unsere Aufgabe, unsere Streitkräfte, un-
sere Diplomaten und unsere zivilen Aufbauhelfer mit der
höchstmöglichen Rückendeckung für diese schwierige
Aufgabe zu versehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Minister, ich kann Sie nur unterstützen und er-
muntern, auf diesem Weg weiterzugehen. Ich hoffe, dass
die Konferenz in Bonn ein Schritt auf dem Weg zu ei-
nem langfristigen, kontinuierlichen und politischen Ver-
söhnungsprozess ist. Wir können nicht den dritten
Schritt vor dem ersten machen. Ich glaube, dass Sie hier-
mit das richtige Signal setzen und einen Schritt in die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8925

Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)

richtige Richtung gehen. Ich hoffe, dass es gelingen
wird, alle Akteure an den Tisch zu bringen. Es ist ein be-
sonderes Verdienst Ihres Hauses, dass es gelungen ist,
auch den Iran in die Afghanistan-Kontaktgruppe ein-
zubinden. Es gibt eine Menge gemeinsamer Interessen.
Ohne die Nachbarn Afghanistans – das haben viele Kol-
legen heute zu Recht deutlich gemacht – können wir als
Bundesrepublik Deutschland diese Aufgabe in dieser
Region mit Sicherheit nicht stemmen. Lassen Sie uns in
der internationalen Gemeinschaft nach dem Motto ver-
fahren: Wir sind zusammen hineingegangen, wir sollten
auch zusammen hinausgehen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber schnell!)


Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708102600

Das Wort hat nun Karl Lamers für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1708102700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Das Jahr 2010 kann durchaus als Wendepunkt im
Afghanistan-Einsatz betrachtet werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird immer schlimmer!)


Durch den vollzogenen Strategiewechsel, durch neue
militärische und zivile Anstrengungen und durch die
verstärkte Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ist
es uns gelungen, die Sicherheitslage in Afghanistan zu
verbessern.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Genau das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, unser
Ziel zu erreichen: eine Übergabe in Verantwortung.
Diese Übergabe kann stattfinden, wenn die Afghanen in
der Lage sind, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Der
Zeitpunkt dafür muss sich an konkreten Fortschritten vor
Ort, an klaren Fakten und Kriterien bemessen und nicht
an einem Datum, das zum Beispiel Herr Gabriel ein Jahr
vorher wahllos festlegt. So geht es nicht. Herr Erler, Herr
Steinmeier, Sie wissen das. Wer ankündigt, zu einem ex-
akt festgelegten Zeitpunkt aus Afghanistan zu gehen,
gleich in welchem Zustand sich das Land befindet,


(Michael Groschek [SPD]: Fragen Sie einmal Obama! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ist das jetzt Kritik an den USA? Antiamerikanismus ist das! Unglaublich!)


ermutigt doch die Taliban geradezu zum Durchhalten,
der gibt ihnen die Möglichkeit, sich zurückzulehnen, uns
in Sicherheit zu wiegen und abzuwarten, bis sie das
Land wieder unter ihre Kontrolle bringen.
Herr Gabriel führt das Wort „Verantwortung“ ver-
dächtig oft im Mund. Allein das Wort im Mund zu füh-
ren, reicht aber nicht. Man muss der Verantwortung auch
gerecht werden, der Verantwortung gegenüber dem af-
ghanischen Volk, das nicht wieder unter die Terrorherr-
schaft der Taliban geraten will, der Verantwortung ge-
genüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes,
die nicht wollen, dass Terror aus Afghanistan erneut in
unsere Länder gebracht wird, und insbesondere der Ver-
antwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Solda-
ten, die täglich ihr Leben für unsere Sicherheit riskieren.
An dieser Stelle sage ich unseren Soldatinnen und Solda-
ten Dank für ihren Einsatz. Sie alle machen sich um un-
ser Land und um unser aller Sicherheit verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich weiß, dass Politik kein Wunschkonzert ist, aber
ich habe – insbesondere mit Blick auf Herrn Gabriel –
eine Bitte: Versuchen Sie wenigstens einmal, Fähigkeit
zur Verantwortung über ausgeprägten Hang zum Popu-
lismus zu stellen. Das wäre ein Fortschritt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Groschek [SPD]: Sagen Sie das einmal Ihrem Verteidigungsminister!)


Ich danke Ihnen, Herr Minister Westerwelle, und insbe-
sondere unserem Verteidigungsminister zu Guttenberg
für ihr überzeugendes Engagement für unsere Soldaten
auch und gerade im Einsatzgebiet. Unsere Soldaten
brauchen Rückhalt und Unterstützung. Auf peinliche,
unsägliche Kommentare können sie gut verzichten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Einsatz der Bundeswehr war und ist im dringen-
den Interesse der Sicherheit unseres Landes.


(Zuruf von der SPD: Ohne Kerner geht es nicht!)


– Durch Geschrei wird das, was Sie machen, nicht bes-
ser. – Vergessen wir nicht den 11. September 2001 und
dass die Brutstätten dieses Terrors in Afghanistan waren.
Vergessen wir nicht die nachfolgenden verheerenden
Anschläge überall in der Welt. Ein Abzug zum falschen
Zeitpunkt würde alles, was wir bisher erreicht haben, zu-
nichtemachen. Deutschland hat international Verantwor-
tung übernommen. Wir haben vor, ein verlässlicher Part-
ner im Bündnis zu bleiben. Wir stehen zu unserer
Verantwortung.

Die NATO hat auf dem Gipfel in Lissabon im No-
vember dieses Jahres eine neue Strategie für Afghanistan
beschlossen. Diese gilt auch für uns, für Deutschland.
Unsere Verbündeten zählen auf uns, so wie wir auf sie
zählen. Bis Ende 2014 soll die schrittweise Übergabe der
Sicherheitsverantwortung an afghanische Sicherheits-
kräfte erfolgen. Unser Ziel ist – der Außenminister hat
dies in seiner Rede genannt –, 2011 auch im deutschen
Verantwortungsbereich im Norden den Übergabeprozess
einzuleiten, wenn die Sicherheitslage es zulässt, und ab
dem genannten Zeitpunkt nicht mehr benötigte Fähigkei-
ten zu reduzieren. Das bedeutet keinen vollständigen
Rückzug aus Afghanistan. Wir werden in Afghanistan

8926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

auch nach dem Abzug der Kampftruppen eine langfris-
tige Aufgabe haben. Wir werden die Menschen in Af-
ghanistan nicht im Stich lassen. Es liegt letztlich an uns,
die Lage so zu verändern, dass ein verantwortlicher
Rückzug in überschaubarer Zeit möglich wird.

Mit dem Fortschrittsbericht wird erstmals aufgezeigt,
wo wir in Afghanistan stehen. Der Bericht zeigt deutlich
die gemachten Fortschritte, aber auch die Defizite. Viel
ist zwischenzeitlich erreicht worden – diese Fortschritte
dürfen wir nicht gefährden –: Aufbau staatlicher Institu-
tionen, Ausbau der Infrastruktur, des Schulwesens, Fort-
schritte auf dem Gesundheitssektor.

Aber es bleibt noch viel zu tun: Bekämpfung des Dro-
genanbaus, gute Regierungsführung, Bekämpfung der
Korruption


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie letztes Jahr auch schon gesagt!)


und insbesondere – das ist für mich wichtig – die Gewin-
nung der heute in Afghanistan lebenden Jugend für ein
besseres Afghanistan.

Wir müssen die Afghanistan-Mission zum Erfolg füh-
ren, im Rahmen von ISAF, im Verbund der NATO. Ich
meine, wir sind auf dem richtigen Weg. In all dem ist
aber auch und gerade Präsident Karzai gefordert, seinen
Beitrag dazu zu leisten, dass diese Mission erfolgreich
durchgeführt wird. Meine Damen und Herren, von Af-
ghanistan darf nie wieder Terror ausgehen. Nach dieser
Zielsetzung werden wir auch künftig handeln.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708102800

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1708102900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem

haben Sie recht, Herr Außenminister: Der Aufbau eines
funktionsfähigen und stabilen afghanischen Staates er-
fordert einen umfassenden Ansatz, mit der Förderung
der Sicherheit, aber auch der guten Regierungsführung
und Entwicklung. Nur, Herr Außenminister, Sie ziehen
daraus teilweise den falschen Schluss. Wenn Sie und Ihr
Parteifreund und Kabinettskollege Dirk Niebel derzeit
beispielsweise darangehen, in Afghanistan nur noch sol-
che deutschen Hilfsorganisationen zu unterstützen, die
im Norden des Landes tätig sind und bereit sind, dort mit
dem Militär zu kooperieren, dann sage ich Ihnen: Das ist
ein falscher Schluss, den Sie ziehen.


(Beifall bei der SPD)


Ein solcher Schluss behindert den Aufbau in Afgha-
nistan und befördert ihn nicht. Wer so vorgeht wie Sie,
der verengt ziviles Engagement, der begrenzt es, und der
beschädigt es. Sie als Außenminister waren es doch, der
vor einigen Wochen höchstpersönlich den Geldhahn für
ein Rechtsberatungsprojekt für afghanische Frauen zu-
gedreht hat, das die Kölner Organisation Medica Mon-
diale in Herat, im Westen Afghanistans, seit vielen Jah-
ren sehr erfolgreich betreibt.


(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Hört! Hört!)


Nur weil Herat nicht im Verantwortungsbereich der Bun-
deswehr liegt, haben Sie den Geldhahn für dieses Projekt
zugedreht. So gefährden Sie die gute und erfolgreiche
Arbeit einer deutschen Hilfsorganisation in Afghanistan.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Außenminister, wenn diese Hilfsorganisation
nicht einen neuen Geldgeber in Form einer amerikani-
schen Stiftung gefunden hätte, dann wäre dieses Projekt
jetzt am Ende. Mit einer solchen Art von Politik, Herr
Außenminister, unterstützt man Afghanistan und die dort
lebenden Menschen nicht, sondern man beschädigt die
Menschen und die Helfer, die sich in Afghanistan tagtäg-
lich um eine bessere Zukunft bemühen. Das ist die bit-
tere Kehrseite Ihrer Afghanistan-Politik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn der Aufbau in Afghanistan gelingen soll, dann
sind wir gerade auf die zum Teil jahrzehntelangen Erfah-
rungen der Hilfsorganisationen mit den lokalen Gege-
benheiten und ihre Kontakte angewiesen. Deren Kennt-
nisse und vor allen Dingen das Vertrauen, das den
Helfern entgegengebracht wird, ist ein immenser Schatz,
den wir beim Aufbau Afghanistans benötigen. Diesen
Schatz schieben Sie aber offensichtlich arglos beiseite.

Wenn diese Hilfsorganisationen in den letzten Mona-
ten wiederholt in der Öffentlichkeit geäußert haben, sie
würden von dieser Bundesregierung erpresst, dann zeigt
das nur, welchen Scherbenhaufen Sie und Herr Niebel
hier inzwischen angerichtet haben, einen Scherbenhau-
fen, für den Sie die politische Verantwortung tragen.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, nach der Lektüre dieses
Berichts lautet mein Hauptfazit: Wir müssen vor allen
Dingen den Prozess der innerafghanischen Versöhnung,
insbesondere unter Einbeziehung der afghanischen
Nachbarstaaten, unterstützen und befördern. In der De-
batte ist wiederholt gesagt worden: Dabei kommt Pakis-
tan eine Schlüsselrolle zu.

Ich weiß nur nicht, Herr Außenminister, ob das bei Ih-
nen schon so richtig angekommen ist. Ich hätte mir je-
denfalls ein stärkeres Engagement von Ihrer Seite und
deutlich mehr Aktivitäten dieser Bundesregierung zur
Unterstützung dieses Friedensprozesses unter Einbezie-
hung der afghanischen Nachbarn gewünscht. Die deut-
sche Außenpolitik hätte eigentlich gerade in dieser Re-
gion Gewicht, Herr Minister. Nur, dieses Gewicht muss
man auch nutzen. Den Beweis sind Sie bislang schuldig
geblieben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8927

Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)

Der Fortschrittsbericht zeigt auch: Militärisch ist die-
ser Konflikt in Afghanistan nicht zu lösen. Im Gegenteil,
die Akzeptanz der ausländischen Truppen sinkt. Das An-
sehen des Westens – so der Bericht – befindet sich auf
einem Allzeittief. Daraus kann doch nur folgen, dass wir
in absehbarer Zeit den militärischen Teil unseres Enga-
gements beenden müssen. Wir Sozialdemokraten haben
deshalb, wie Sie wissen, zu Beginn des Jahres einen sehr
verantwortungsbewussten Abzugsplan mit einem Be-
ginn des Abzugs in 2011 und einer Beendigung des mili-
tärischen Engagements zwischen 2013 und 2015 vorge-
legt. Zu diesem Versprechen stehen wir. Aber an diesem
Versprechen werden wir auch alle künftigen Handlungen
dieser Bundesregierung messen.


(Beifall bei der SPD)


Ich bin schon etwas verwundert. Anfang des Jahres
hatte die Bundesregierung selbst einen Abzugsbeginn im
Jahre 2011 in Aussicht gestellt sind. Dann haben Sie,
Herr Westerwelle, vor einigen Wochen in der Presse ver-
sucht, sich aus diesen Zusagen irgendwie wieder heraus-
zumogeln. Sie haben als Abzugsbeginn das Jahr 2012
ins Gespräch gebracht. Dann haben Sie sich in dieser
Debatte an das Pult gestellt und das Jahr 2011 genannt.
Die Kollegen Mißfelder und Lamers hingegen haben
versucht, das wieder zu relativieren. Also, was gilt denn
nun? Wir brauchen eine klare Aussage.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage Ihnen: Stehen Sie zu Ihren Aussagen gegen-
über den Afghanen, gegenüber den Angehörigen der
Bundeswehr, aber auch gegenüber der deutschen Öffent-
lichkeit. Ein Hinausschieben des Abzugsbeginns kommt
nicht infrage; denn ein solches Verschieben würde doch
nur den unbedingt notwendigen Druck auf die afghani-
sche Regierung lockern, schrittweise die Sicherheitsver-
antwortung zu übernehmen. Ein solches Verschieben
würde mögliche Ressentiments in der afghanischen Be-
völkerung, deren Vorhandensein dieser Bericht auch
zeigt, gegenüber einer ausländischen Truppenpräsenz
möglicherweise verstärken. Das würde einen verantwor-
tungsbewussten Abzug insgesamt infrage stellen. Des-
halb: Stehen Sie zu Ihren Zusagen. Beginnen Sie mit ei-
nem Abzug im Jahre 2011. Die Unterstützung der
deutschen Sozialdemokratie hierfür werden Sie jeden-
falls haben.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708103000

Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1708103100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol-

leginnen und Kollegen! Der Bericht, den uns die mit dem
Thema Afghanistan befassten Ressorts vorgelegt haben,
beschönigt nichts, sondern er legt in einer sachlichen Art
und Weise die Lage der Dinge dar. Eines kommt dabei
ganz klar zum Ausdruck: Frieden in Afghanistan kann
nicht allein mit militärischen Mitteln erreicht werden.
Nein, es sind vor allem politische Maßnahmen, bei denen
wir das afghanische Volk unterstützen müssen. Das wis-
sen wir nicht erst seit heute. Wir haben bereits in diesem
Jahr mit der geänderten Strategie des vernetzten Ansat-
zes auch entsprechende Maßnahmen ergriffen.

Wir haben durchaus Erfolge zu verzeichnen. Der Auf-
bau der afghanischen Sicherheitskräfte kommt nach Jah-
ren der Stagnation und fehlender Gesamtkonzeption jetzt
zügig voran. Die von uns gesetzten Meilensteine wurden
vorzeitig erreicht. Auch die von uns angestrebten Fähig-
keiten wurden in Teilbereichen aufgebaut.

Es hat sich gezeigt, dass der deutsche Ansatz bei der
Polizeiausbildung, sich nicht nur auf Teilbereiche zu
beschränken, sondern Ausbildungs-, Ausrüstungs- und
Infrastrukturprojekte umzusetzen, zielführend ist. Dies
wurde uns nicht zuletzt auch von afghanischer Seite be-
stätigt.

Besondere Herausforderungen für den Aufbau einer
professionellen und nach rechtsstaatlichen Prinzipien
agierenden Polizei sind die Implementierung von Poli-
zeistrukturen, die Verringerung der Analphabetenrate
und die Bekämpfung von Korruption. Nur so kann die
Bevölkerung mehr Vertrauen in die Polizei fassen.

Neben der weiteren Ausbildung von afghanischen Si-
cherheitskräften müssen wir auch in den Bereichen Re-
gierungsführung und Infrastruktur, Bildung und Gesund-
heit die notwendigen Voraussetzungen für eine Übergabe
in Verantwortung schaffen.

Ein Baustein, der mir beim Aufbau der demokrati-
schen und zivilgesellschaftlichen Strukturen besonders
am Herzen liegt, ist die Durchführung der Wahlen. Be-
reits zweimal hat das afghanische Volk ein Parlament
und den Staatspräsidenten gewählt. Die Wahlen waren
leider alles andere als frei und demokratisch, sondern
von Wahlbetrug und Manipulation geprägt, wie das auch
aus dem Bericht hervorgeht. Dennoch ist das meines Er-
achtens trotz aller Kritik ein erster Ansatz hin zu einer
demokratisch legitimierten Gesellschaft.

Ich bin fest überzeugt, dass sich derjenige, der sich
nach einer Wahl nicht in der Volksvertretung repräsen-
tiert fühlt, zurückzieht oder neu orientieren wird. Das ist
ein Nährboden für radikale Kräfte; das wissen wir. Sie
dürfen nicht noch mehr Einfluss gewinnen und die Ent-
wicklung hin zu Frieden und Freiheit nicht zunichte-
machen.

Bei den vielen Meilensteinen, die in Afghanistan er-
reicht werden müssen, ist die nächste Präsidentschafts-
wahl aus meiner Sicht einer, dem wir Beachtung schenken
müssen, auch wenn die nächste Präsidentschaftswahl erst
im Jahre 2014 ist. Gerade diese wird aber besonders
spannend sein; denn nach geltender Rechtslage darf der
derzeitige Präsident Karzai dann nicht wiedergewählt
werden. Die Zeit bis dahin müssen wir nutzen, um das
Vertrauen der Bevölkerung in diese demokratische Form
der Volksrepräsentation zu gewinnen. Schon im Vorfeld
müssen wir entschieden auf eine bessere Vorbereitung

8928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

hinwirken und einen demokratischen Ablauf gewährleis-
ten.

Sehr geehrte Damen und Herren, durch den vorlie-
genden Bericht wird uns einmal mehr aufgezeigt, dass
die Bevölkerung in Afghanistan wenig Vertrauen in die
eigene Regierung hat. Hierbei sind vor allem die Ent-
schlossenheit und Bereitschaft seitens der afghanischen
Regierung gefragt. Die Korruption auch in den eigenen
Reihen muss noch stärker als bisher bekämpft und einge-
dämmt werden. Hier erwarte ich einen größtmöglichen
Einsatz und Verbesserungen seitens der afghanischen
Regierung.

Es liegt in unserem ureigenen deutschen Interesse,
dass von Afghanistan keinerlei Gefahr mehr für uns und
die internationale Gemeinschaft ausgeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das ist unser Ziel; das wollen wir mit unserem Einsatz
am Hindukusch erreichen.

Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan ist steinig
und gefährlich. Eines ist jedoch klar: Der jetzige Weg
des vernetzten Ansatzes ist der einzig gangbare. Durch
einen zu schnellen und unüberlegten Abzug würden wir
das bisher Erreichte wieder zunichtemachen. Das ist
nicht in unserem und erst recht nicht im Interesse der af-
ghanischen Bürger.

Der Einsatz, den unsere Soldaten und die zivilen
Kräfte tagtäglich erbringen, hat unsere vollste Wert-
schätzung verdient. Ich möchte unseren Einsatzkräften
auf diesem Wege danken und ihnen und ihren Familien
von dieser Stelle aus ein frohes Weihnachtsfest und Got-
tes Segen wünschen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708103200

Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1708103300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, durch
die Debatte in den letzten eineinhalb Stunden wurde
deutlich, wie sachlich wir uns über dieses Thema aus-
einandersetzen können – trotz einiger Schärfen. Ich
glaube, ein Grund dieser Sachlichkeit liegt auch darin,
dass wir diesen Fortschrittsbericht haben, Herr Außen-
minister. Wir haben nun klare – ich möchte fast „Bench-
marks“ sagen, aber der Begriff ist schon belegt – Richt-
punkte, an denen wir unser Handeln messen können, und
es stehen dort Aussagen, durch die uns sehr klar gemacht
wird – das erkennen wir, wenn wir sie genau betrachten –,
wo die Schwierigkeiten liegen.

Zuallererst möchte ich sagen, dass wesentliche Fähig-
keiten der afghanischen Regierung noch gar nicht gege-
ben sind. Durch eine ganz wesentliche Aussage auf den
Seiten 41 und 45 des Berichts wird klar: Das afghanische
Regierungshandeln ist in weiten Teilen verbesserungs-
bedürftig. Deshalb haben wir die wesentlichen zivilen
und militärischen Ziele unseres Einsatzes bei weitem
noch nicht erreicht. Ich danke für diese Klarheit.

Auf der anderen Seite möchte ich auch sagen – der
Kollege Philipp Mißfelder hat das vorhin angesprochen –:
Die Öffentlichkeit braucht viel mehr Informationen. Wir
Abgeordnete sind parteiübergreifend gefordert, den Af-
ghanistan-Einsatz zu erklären und uns der Kritik und den
Fragen zu stellen. Durch den Fortschrittsbericht wird uns
geholfen, dies richtig zu machen. Ich glaube, es ist ganz
entscheidend, dass wir mit dem Fortschrittsbericht zu
der Bevölkerung gehen und ihr klarmachen, wo die
Knackpunkte sind.

Es klang vorhin so ganz leicht an: Am kommenden
Wochenende werden von unserem Bundesverteidigungs-
minister parteiübergreifend Abgeordnete nach Afghanis-
tan eingeladen, und zwar all diejenigen, aus deren Wahl-
kreisen Soldaten in Afghanistan sind. Kompliment und
Dank an den Bundesverteidigungsminister!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vielleicht ist auch – erlauben Sie mir diese nette Spitze –
Herr Gabriel dabei.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Was ist denn eine „nette Spitze“?)


Ich möchte kurz über die außenpolitischen Implika-
tionen und anschließend über die Übergabe in Verant-
wortung sprechen. Über die internationale Kontakt-
gruppe sind 43 Staaten an der Beantwortung der Frage
beteiligt, wie wir die Verantwortung in Afghanistan
übergeben. Unter diesen Staaten sind auch 13 muslimi-
sche Staaten. Es ist ein Zeichen für die Qualität deut-
scher Außenpolitik, dass wir dabei eine ganz wesentli-
che Rolle spielen. Botschafter Steiner leitet die
internationale Kontaktgruppe. Von dieser Stelle aus
Kompliment und Dank an Herrn Botschafter Steiner für
die wesentliche Leistung, die er hier erzielt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Hierbei geht es auch darum, dass islamische Staaten ein-
gebunden sind. In dem Bericht kommt die regionale Ein-
bindung – das liegt in der Natur der Sache – noch etwas
zu kurz. Das wird sich mit der Fortschreibung des Be-
richts ändern.

Wir brauchen glasklar eine Perspektive für den Um-
gang mit den Taliban in Pakistan. Wir müssen auch der
pakistanischen Regierung deutlich machen, was wir von
ihr erwarten. Das Abschmelzen, die Rückführung unse-
res militärischen Engagements kann nicht damit einher-
gehen, dass die Taliban ihre Einsätze verstärken. Wir
können einen Abzugstermin also nicht einfach festlegen.
Das sage ich an Ihre Adresse, Herr Dr. Erler.

Entscheidend ist – ich glaube, darin sind wir uns alle
sehr einig –, dass wir in diesem Parlament im Sommer
und im Herbst dieses Jahres eine ganze Menge geleistet

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8929

Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

haben. Meines Erachtens ist auch der Brückenschlag mit
Blick auf die Evaluierung gelungen. Wir hatten eine An-
hörung. Wir haben dem Vorschlag nicht zugestimmt,
dass wir die Evaluierung wissenschaftlichen Experten
überlassen.


(Burkhard Lischka [SPD]: Warum eigentlich?)


Wir wollen als Abgeordnete die Verantwortung überneh-
men und sie nicht der Wissenschaft übertragen. Für uns
ist es entscheidend, dass wir als Abgeordnete in der Ver-
antwortung bleiben, statt uns darauf zu berufen, die Wis-
senschaft habe dieses und jenes gesagt. Dennoch ist die
Wissenschaft beteiligt. Darin sind wir uns wieder einig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Auch die heutige Aussprache zeigt: Die Tendenz weist
in die richtige Richtung.

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der die
Übergabe in Verantwortung und unser Engagement dort
betrifft. Sie fordern die Rückführung von Fähigkeiten;
wir sprechen es auch im Bericht an. Aber seien wir ehr-
lich: Wir haben doch schon längst damit begonnen. Das
Kommando Spezialkräfte nimmt schon längst nicht
mehr an der Operation Enduring Freedom teil. Außer-
dem haben wir die Anzahl der Tornados zurückgeführt.
Wir bauen also schon Fähigkeiten ab. Das ist doch schon
ein erstes Zeichen dafür, dass wir unseren Einsatz um-
stellen. Wir haben die Zahl der Ausbilder von ursprüng-
lich 200 auf 1 500 erhöht. So sieht unsere Perspektive
aus. Wir gehen in die richtige Richtung.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Betrug!)


– Lassen Sie sich Redezeit geben; dann können Sie das
deutlicher machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Running Gag!)


Das Engagement unserer Soldaten ist ohne ziviles
Engagement nicht denkbar. Die Rückführung militäri-
schen Engagements ist nur möglich, indem wir verstärkt
in den zivilen Einsatz gehen. Ich teile nicht die Ansicht,
die eben ein Kollege der SPD vortrug, dass wir die zivile
Hilfe usw. immer weiter zurückführen. Allein im Be-
reich der vernetzten Sicherheit hat das Entwicklungshil-
feministerium die Mittel um 10 Millionen Euro aufge-
stockt. In weiteren Bereichen sind wir mit fast einer
halben Milliarde Euro dabei. Seit dem Jahr 2001 hat
Deutschland in den Bereich der zivilen Entwicklungs-
hilfe 2 Milliarden Euro investiert. Das ist ein starkes Si-
gnal in Richtung Afghanistan.

Lassen Sie uns von hier aus ein verlässliches Zeichen
der Hilfe geben. Lassen Sie uns den Afghanen sagen:
Wir lassen euch nicht im Stich; wir bleiben dort, solange
ihr uns braucht und solange wir in der internationalen
Unterstützung zu eurem Erfolg beitragen können.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708103400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4225. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –
Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür gestimmt
hat die Fraktion Die Linke. Dagegen gestimmt haben die
Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktionen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gute Arbeit in Europa stärken – Den gesetzli-
chen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai
2011 einführen

– Drucksache 17/4038 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eineinhalb
Stunden zu debattieren. – Ich sehe, damit sind Sie ein-
verstanden. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke
das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708103500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wenn wir die Presseberichte richtig verfolgen,
dann müssen wir uns langsam über die Lohnentwicklung
in Deutschland Sorgen machen. In der Süddeutschen Zei-
tung war am 9. Dezember zu lesen – ich zitiere –:

In Deutschland steigen die Löhne seit Jahren we-
sentlich langsamer als im Rest Europas.

Weiter heißt es, dass wir bei der Lohnentwicklung inzwi-
schen Schlusslicht in Europa sind.

Meine Damen und Herren – das richte ich vor allem
an diese Regierung –, Sie hängen mit Ihrer Lohnpolitik
und Ihrer Arbeitsmarktpolitik den Arbeitnehmern in
Deutschland die rote Laterne um. Wenn wir die Lohnent-
wicklung in Deutschland mit der Lohnentwicklung in
anderen Ländern vergleichen, dann müssen wir langsam
darüber nachdenken, wie wir weiter mit diesen Fakten
umgehen.

Bei Spiegel Online war gestern zu lesen, wie sich die
Reallöhne in Europa entwickeln: In Norwegen sind sie
in den Jahren 2000 bis 2009 um 25,1 Prozent gestiegen.
Finnland: plus 22 Prozent. Schweiz: plus 9,3 Prozent.

8930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

Frankreich: plus 8,6 Prozent. Niederlande: plus 4,8 Pro-
zent. Selbst in Österreich waren es plus 2,7 Prozent. In
Deutschland aber sind es minus 4,5 Prozent. Vor kurzem
hat die Kanzlerin hier gesagt: Wir haben über unsere
Verhältnisse gelebt. – Angesichts der Lohnentwicklung
in der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen: Für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gilt das offen-
sichtlich nicht. Sie müssen permanent unter ihren Ver-
hältnissen leben.


(Beifall bei der LINKEN)


Während Sie alle jetzt den Aufschwung bejubeln, für
den angeblich die Kanzlerin verantwortlich ist, stellen
wir fest, dass im dritten Quartal 2010 die Arbeitskosten
im Verhältnis zum Vorquartal um 0,5 Prozent abgenom-
men haben. Die Löhne in der Bundesrepublik Deutsch-
land befinden sich weiter auf einer Rutschbahn nach un-
ten.


(Pascal Kober [FDP]: Auch die Arbeitslosigkeit nimmt ab!)


Diese Politik und diese Fakten haben Sie zu verantwor-
ten. Sie haben eine Politik der Lohndrückerei betrieben
und gleichzeitig über die wirtschaftliche Situation in der
Bundesrepublik gejubelt.

Ich habe eben den Zwischenruf gehört. Sie sind zur-
zeit an der Regierung. Wenn selbst im Deutschen Bun-
destag Dumpinglöhne üblich sind, wie in der Presse zu
lesen war, und das Sicherheitspersonal, das in diesem
Hause für unsere Sicherheit zuständig ist, offensichtlich
mit einem Stundenlohn von 6,25 Euro abgespeist wird,
dann sollten Sie besser die Verhältnisse ändern, statt da-
zwischenzurufen.

Wie hat das funktioniert? Wie ist es Ihnen gelungen,
die Löhne zu drücken? Zum einen haben die Hartz-Ge-
setze dazu geführt, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit in
unserem Land so groß ist, dass die Menschen bereit sind,
niedrige Löhne zu akzeptieren, ohne sich zu wehren. Sie
haben es zum anderen durch die Deregulierung der Leih-
arbeit erreicht, die dazu führt, dass bei gleicher Arbeit
deutlich unterschiedliche Löhne gezahlt werden. Sie ha-
ben es auch durch Deregulierung bei den befristeten Be-
schäftigungsverhältnissen erreicht. Inzwischen haben
40 Prozent der unter 25-Jährigen nur noch befristete
Jobs, für die in der Regel andere Löhne gezahlt werden
als für unbefristete Jobs. Auch diese Beschäftigten sind
vorsichtig, was höhere Löhne angeht, um ihren Job nicht
zu gefährden.

Wenn Sie in einer Situation der sinkenden Löhne zu
einer Politik übergehen, die einen gesetzlichen Mindest-
lohn und damit eine Begrenzung der Lohnentwicklung
nach unten verhindert, dann ist das das Unverantwort-
lichste, was eine Regierung in solch einer Situation tun
kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Löhne in die-
sem Land geben, weil ich den Eindruck habe, dass Sie
nicht mehr bereit sind, die Realität zur Kenntnis zu neh-
men: im Hotel- und Gaststättenbereich in Mecklenburg-
Vorpommern ein Stundenlohn von 5,39 Euro, in Nord-
rhein-Westfalen 6,63 Euro, bei den Floristen in Sachsen-
Anhalt ein Stundenlohn von 4,35 Euro. Wir könnten
auch noch die Friseure heranziehen: In Berlin sind es
beim ungelernten Beschäftigten inzwischen 3,65 Euro,
beim gelernten Beschäftigten 4,65 Euro in der Stunde.
Bei den Fleischern in Thüringen sind es 5,49 Euro. Wis-
sen Sie was, meine Damen und Herren? Für diese Löhne
würden Sie hier in diesem Hause morgens nicht einmal
das Augenlid heben. Das ist die Realität!


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das sind von den Gewerkschaften vereinbarte Löhne!)


– Ja, da haben Sie recht; das sind teilweise vereinbarte
Löhne. Wenn Sie als Regierung feststellen, dass Ge-
werkschaften in vielen Bereichen offensichtlich nicht
mehr in der Lage sind, in freien Verhandlungen Löhne
durchzusetzen, die dazu führen, dass man davon leben
kann, dann sollten Sie nicht auf die Gewerkschaften
schimpfen, sondern selber die Initiative ergreifen, dass
solche Löhne unterbunden werden. Das wäre eine rich-
tige Antwort, nicht aber dieses Lamentieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei solchen Löhnen verliert Arbeit ihren Sinn. Von
Arbeit muss man leben können, und zwar von seiner ei-
genen Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Von seiner Arbeit leben zu können, ist auch eine Frage
der Würde. Wenn Sie den Menschen durch solch nied-
rige Löhne zumuten, ihre Existenz trotz Vollzeitarbeit
dadurch sichern zu müssen, dass sie zu einem Amt ge-
hen, dann ist das entwürdigend. Sie nehmen ihnen die
Würde.


(Beifall bei der LINKEN)


Um die Existenz der Menschen zu sichern, stocken
Sie die Löhne auf. Fakt ist, dass allein im Jahr 2009 für
Aufstocker 11 Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt
ausgegeben wurden.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist soziale Verantwortung!)


Seit 2005 wurden 50 Milliarden Euro ausgegeben, um
diese Niedrigstlöhne zu subventionieren und die Men-
schen, die trotz Arbeit so wenig verdienen, am Verhun-
gern zu hindern. Das könnten wir uns sparen, wenn wir
durch einen Mindestlohn dazu beitrügen, dass Arbeit so
bezahlt wird, dass man von ihr leben kann und nicht zum
Sozialamt rennen muss.


(Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Aber zur Bundesagentur! Das ist ja das Problem!)


Sie akzeptieren, dass in diesem Lande Löhne zulasten
Dritter abgeschlossen worden. Es geht zulasten Dritter,
wenn wir zulassen, dass zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern – wobei der Arbeitnehmer immer in der
schlechteren Situation ist – ein Lohn vereinbart wird,
von dem man nicht leben kann, was aber gleichzeitig be-
deutet, dass der Lohn automatisch vom Steuerzahler auf-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8931

Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

gestockt werden muss. Dies ist sittenwidrig; Löhne zu-
lasten Dritter sind aus unserer Sicht sittenwidrig. Ändern
Sie dies! Das wäre besser, als solche Zwischenrufe zu
machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Mindestlohn muss gewährleisten, dass eine al-
leinstehende Person durch eine Vollzeitbeschäftigung
ein Einkommen erzielt, das über dem Existenzminimum
liegt. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Ein
Mindestlohn muss auch die Voraussetzung dafür bieten,
dass jemand, der diesen Lohn sein ganzes Leben lang er-
halten hat, zumindest eine Rente bekommt, von der er
selber leben kann, ohne dass er auch die Rente aufsto-
cken muss. Das muss ein Mindestlohn erreichen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn insbesondere die FDP in diesem Land mit dem
Spruch „Leistung muss sich lohnen“ durch die Gegend
saust, dann mag dies ja richtig sein.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dann soll sie mal bei sich selber anfangen!)


Aber wenn es richtig ist, dass sich Leistung lohnen
muss, warum eigentlich nur für Ihre Klientel? Sie von
der FDP haben nichts dagegen, dass es eine Architekten-
verordnung gibt, in der letztendlich die Gebühren der
Architekten vereinbart wurden. Sie haben nichts dage-
gen gehabt, dass es bis vor kurzem die BRAGO, die
Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung, gab, in der fest-
gelegt wurde, was ein Rechtsanwalt bekommt, wenn er
eine bestimmte Leistung erbringt. Was für Ihre Klientel
gilt, meine Damen und Herren von der FDP, müsste auch
für die gelten, die weniger verdienen. Dann wären Sie in
diesem Hause ein wenig glaubwürdiger.


(Beifall bei der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was sagt die bayerische Linke dazu?)


Dann wollen wir einmal über den Lohnabstand re-
den. Auch ich bin dafür, dass jemand, der sein Geld mit
seiner Arbeit verdient, mehr hat als derjenige, der mögli-
cherweise alimentiert werden muss. Einverstanden! Das,
was Sie machen, ist allerdings etwas ganz anderes. Sie
drücken – verfassungswidrig – das Existenzminimum so
weit nach unten, dass auch die Löhne nach unten ge-
drückt werden können. Das ist Ihre Methode, den Lohn-
abstand herzustellen.

Wir sagen: Das muss anders gehen. Wir brauchen ei-
nen vernünftig abgesicherten Sockel für die Menschen,
die aus irgendwelchen Gründen nicht arbeiten können.
Wir brauchen ein vernünftig festgelegtes Existenz-
minimum, das gemäß der Auslegung des Bundesver-
fassungsgerichts den betroffenen Menschen die sozio-
kulturelle Teilhabe ermöglicht. Aber Sie versuchen
permanent, den Sockel nach unten zu drücken, um so die
Löhne weiter sinken zu lassen. Das ist Ihre Methode.
Dagegen wehren wir uns.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie sich bei der
Mindestlohnpolitik inzwischen vollkommen außerhalb
Europas stellen. So liegt der Mindestlohn beispielsweise
in Luxemburg bei 9,73 Euro, in Frankreich bei
8,86 Euro – er soll auf 9 Euro erhöht werden – und in
den Niederlanden bei 8,64 Euro. In allen europäischen
Ländern haben selbst die Liberalen – im Gegensatz zur
FDP in Deutschland – begriffen, dass es in einem Land
nicht nur den Großkopferten, sondern auch den norma-
len Bürgern einigermaßen gut gehen soll. Weil Sie das
nicht begriffen haben, liegen Ihre Umfragewerte zurzeit
bei 5 Prozent, und das zu Recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Da in Kürze die Freizügigkeit in der Europäischen
Union vollständig hergestellt ist und dann nach Angaben
der Regierung eine Vielzahl von Bürgern berechtigter-
weise versuchen wird, ihren Lohn in der Bundesrepublik
Deutschland zu verdienen, fordern wir Sie auf, einen flä-
chendeckenden Mindestlohn einzuführen; sonst wirken
diese Bürger als Lohndrücker, und wir öffnen der Aus-
beutung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in der Bundesrepublik Tür und Tor. Damit muss
Schluss sein. Führen Sie deshalb einen flächendecken-
den gesetzlichen Mindestlohn ein! Folgen Sie unserem
Antrag!

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708103600

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul

für die Fraktion der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708103700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir sind es in den Sitzungswochen gewohnt,
dass die linke Seite des Hauses mit uns entweder über
die Rente mit 67 oder über den Mindestlohn diskutieren
möchte. Andere Themen fallen Ihnen offensichtlich nicht
ein. Ich rege an, sich in Zukunft etwas mehr zu bemü-
hen. Eine Opposition muss auch Qualitätsarbeit leisten.
Lassen Sie sich neue Themen einfallen. Diskutieren Sie
mit uns über andere sozialpolitische Themen als jede
Woche über denselben Aufguss alter Themen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Ernst, wenn Ihre Fraktion einen Antrag mit dem
Titel „Gute Arbeit in Europa stärken – Den gesetzlichen
Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen“
in den Deutschen Bundestag einbringt, dann sollten Sie
nicht eine Rede halten, in der Sie auf die europäische
Diskussion überhaupt nicht eingehen. Sie haben Ihre
letzte Rede sozusagen auf Wiedervorlage gelegt. Sie hät-
ten schon auf die europäischen Gesichtspunkte eingehen
sollen. Das haben Sie verabsäumt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Stattdessen haben Sie von Dumpinglöhnen im Deut-
schen Bundestag gesprochen. Dazu fällt mir Ihre Ge-
haltsstruktur ein, Herr Ernst. Sie können als Vorsitzender

8932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

der Linksfraktion nicht gerade über Dumpinglöhne kla-
gen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ist das billig, Herr Kollege!)


Verlangen Sie bitte nicht von uns, lieber Herr Ernst, Ihre
persönliche Gehaltspolitik in der Linkspartei zum Allge-
meingut im Deutschen Bundestag zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei Ihnen hat die Formel „Leistung muss sich lohnen“
eine ganz besondere Note.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Fragen Sie doch mal Ihren Fraktionsvorsitzenden, was er bekommt!)


Das müssen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern schon
selber erklären. Wir jedenfalls machen so etwas nicht
mit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie die Lohnentwicklung in der Bundesrepu-
blik Deutschland nun komplett der Regierung oder den
Regierungsfraktionen anlasten, dann muss ich Ihnen,
obwohl Sie Gewerkschafter sind, offensichtlich noch ein
bisschen Nachhilfe geben und Ihnen erklären, wie
Lohnfindung in Deutschland stattfindet. Die Lohnfin-
dung unterliegt dem Wechselspiel zwischen Gewerk-
schaften und Arbeitgeberverbänden; ihr zugrunde liegt
die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie. Bei der
Lohnfindung wird über die Lohnhöhe und die Lohnent-
wicklung entschieden. Die Tarifautonomie in der Bun-
desrepublik Deutschland war und ist ein Erfolgsmodell,
und wir werden auf keinen Fall dazu beitragen, dass
dieses Erfolgsmodell, das eine hohe Beschäftigung ga-
rantiert hat, aufs Spiel gesetzt wird, sondern wir unter-
stützen die Tarifautonomie. Wir unterstützen die Ge-
werkschaften und die Arbeitgeberverbände. Sie sind für
die Lohnentwicklung in Deutschland verantwortlich und
haben eine gute Arbeit geleistet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bevor Sie hier schwarzmalen, schauen Sie sich ein-
mal an, was selbst das Neue Deutschland mittlerweile
berichtet, Herr Ernst. Sie können hier doch nicht im
Ernst so tun, als nähme Deutschland bei der Arbeits-
losigkeit einen Spitzenplatz ein. Ganz im Gegenteil, die
Arbeitslosigkeit ist unter die 3-Millionen-Marke gesun-
ken.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auch mit Tricksereien! Sie ist bei über 4 Millionen!)


Wir haben in Deutschland einen neuen Höchststand an
Beschäftigung. An dieser Stelle hätten Sie einmal die
Ursache dafür herausstreichen können. Seitdem Angela
Merkel Bundeskanzlerin ist, haben wir eine derart posi-
tive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Dass wir das erreicht
haben, ist in der Tat das Verdienst der Merkel-Regierun-
gen seit 2005.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Das erkennen mittlerweile auch andere an. Lesen Sie
doch einmal die internationale Presse: Germany’s next
superstar – economy; Deutschland, ein neues Power-
house. Die deutschen Medien reden vom „Europameis-
ter in Jobfragen“. Deutschland ist bei Wachstum und
Beschäftigung Lokomotive in ganz Europa. Wenn Sie
einmal den Blick über die nationalen Grenzen hinaus in
Nachbarländer werfen würden – das kann ich Ihnen nur
anraten; von Linken, die einst eine Internationale ge-
gründet haben und eine internationale Geschichte haben,
sollte man eigentlich ein bisschen mehr Internationalis-
mus erwarten können –, dann würden Sie feststellen: Die
erfolgreichste Beschäftigungspolitik mit einem sozialen
Ausgleich wird in Deutschland gemacht. Darauf sind wir
stolz. Man muss noch ein wenig nachbessern. Aber man
darf auf keinen Fall das Kind mit dem Bade ausschütten.
Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass.

Schauen Sie sich den Anstieg der Arbeitslosigkeit in
den europäischen Nachbarländern in der Krise einmal
an.


(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In Spanien ist sie um 60 Prozent gestiegen, in Frankreich
um 23 Prozent, in England um 35 Prozent, in Deutsch-
land um nur 3 Prozent. Wir sind die Ersten, bei denen die
Beschäftigung wieder anzieht, die Ersten also, die mehr
Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist immer auch die Frage, vor welchen Zahlen man
die Augen verschließt. Ich verstehe durchaus, dass Sie
gerade in diesen Tagen Luxemburg hier erwähnen. Man
greift sich ja immer die Zahlen heraus, Herr Ernst, die ei-
nem gerade passen. Aber warum reden Sie, wenn Sie uns
schon auf Mindestlöhne in vielen europäischen Staaten
hinweisen wollen, nicht von den 89 Cent Mindestlohn in
Bulgarien? Soll das allen Ernstes der Maßstab für uns
sein? Warum reden Sie nicht von den Zahlen in Polen
oder im Vereinigten Königreich? Gäbe es bei uns einen
gesetzlichen Mindestlohn wie in anderen europäischen
Staaten, würden die Verdienste in Deutschland in der Tat
noch sinken. Das kann doch niemand im Ernst wollen.
Wir lehnen Ihr Vorhaben also ab.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708103800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heil?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708103900

Ja, selbstverständlich.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708104000

Bitte sehr.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708104100

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben von Mindest-

löhnen in Europa gesprochen und Niveaus verglichen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8933

Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Ist Ihnen bekannt – falls ja, stützt das Ihre Argumenta-
tion? –, wie hoch der Mindestlohn in Luxemburg ist?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708104200

Ja.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708104300

Wie hoch denn?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708104400

Das hat der Kollege Ernst vorhin selber erwähnt.

9,49 Euro, nach meinen Informationen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herzlichen Dank!)


Dabei muss man freundlicherweise beachten, Herr
Kollege Heil: Die Bedeutung der Volkswirtschaft und
der Beschäftigtenzahl in Luxemburg ist in Relation zu
den von mir erwähnten Ländern, die einen geringeren
Tariflohn und einen geringeren gesetzlichen Mindest-
lohn haben, kleiner.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Und in Frankreich? Was ist mit Frankreich? – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schauen Sie doch mal nach Frankreich, Herr Wadephul!)


Dazu will ich Ihnen noch eines sagen: Lohn und Ge-
halt müssen im Zusammenhang mit der Produktivität
stehen. Das haben Gewerkschaften in Deutschland aner-
kannt. Deswegen haben sie sich in der Krise mit Lohn-
forderungen zurückgehalten. Das ist auch der Grund da-
für, dass der Mindestlohn in anderen Ländern niedriger
ist. Es hat also überhaupt keinen Sinn, einen Mindest-
lohn einzuführen, der der Produktivität in den einzelnen
Ländern nicht entspricht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswegen wollen wir 10 Euro und nicht 20 Euro, Herr Kollege!)


Das muss ausbalanciert sein. Man muss branchenspezi-
fisch vorgehen. In der Branche, in der eine höhere Pro-
duktivität gegeben ist, in der von allen, die dort tätig
sind, ein höheres Ergebnis erwirtschaftet wird, kann man
höhere Gehälter zahlen. Dafür sind auch wir. Das sollen
die Tarifvertragsparteien miteinander entscheiden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In allem Ernst, Herr Ernst, schreiben Sie in Ihrem An-
trag unter der Nr. 11 – darauf sind Sie bedauerlicher-
weise nicht eingegangen; es wäre aber lobenswert gewe-
sen, wenn Sie es getan hätten; ich darf den ersten Satz
zitieren –:

Zur Weiterentwicklung der europäischen Integra-
tion bedarf es auch einer europäischen Mindest-
lohnpolitik.

Wenn Sie das im Ernst wollen, dann müssen Sie – das
wäre die Folgerung – in allen europäischen Staaten einen
Mindestlohn einführen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ein Trugschluss!)


Dafür werden Sie in Europa aber keine Mehrheiten fin-
den, weil in vielen Staaten gesehen wird, dass man die
Produktivität, die Deutschland hat, nicht erreicht. Das ist
die Kehrseite der Forderung, die Sie hier aufstellen. Das
ist im Grunde eine ganz uneuropäische Kehrseite Ihres
Antrags.

Viele Staaten, auch europäische Nachbarstaaten, ha-
ben nur deshalb eine Chance, ihre Produkte auf dem
deutschen Markt abzusetzen, weil die Arbeitskosten
und damit die Gestehungskosten bei ihnen geringer sind
als bei uns. Sie haben die Chance also nicht etwa des-
halb, weil die Qualität oder Produktivität höher wäre. In
dem Moment, wo Sie überall einen entsprechenden Min-
destlohn einführen, verunmöglichen Sie es Ländern wie
Polen, Bulgarien oder Rumänien, ihre Produkte in
Deutschland abzusetzen. Ihr Ansatz ist folglich gar kein
europäischer Ansatz, sondern bedeutet im Grunde eine
Renationalisierung. Das ist ein zutiefst nationaler An-
satz, ein Ansatz der Abschottung des deutschen Marktes
gegenüber unseren europäischen Nachbarstaaten.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist so peinlich!)


Wir lehnen Ihren Antrag auch aus ganz grundsätzlichen
Gründen ab. Was Sie vorhaben, ist nicht europäisch ge-
dacht. Deswegen unterstützen wir das auch nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708104500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708104600

Ja, selbstverständlich.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708104700

Herr Kollege Wadephul, recht herzlichen Dank, dass

Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade un-
terstellt, unsere Politik sei uneuropäisch.

Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass seit der Einführung des Euro sich die Konkurrenz-
verhältnisse in Europa vor allem deshalb unterschiedlich
entwickelt haben, weil wir uns – im Gegensatz zu allen
anderen – durch Lohndumpingpolitik Vorteile im Wett-
bewerb verschafft haben,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Da ist schon die Frage falsch, Herr Ernst!)


die dazu geführt haben, dass wir zwar Exportweltmeis-
ter, aber nicht Importweltmeister geworden sind, dass es
also geradezu die Lohnpolitik der Bundesrepublik
Deutschland ist, die insofern uneuropäisch ist, als sie alle
anderen Länder so weit unter Druck setzt, dass sie sich
entweder verschulden müssen oder dieselbe Lohn-

8934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

dumpingpolitik betreiben müssen, wie wir in der Bun-
desrepublik Deutschland sie betrieben haben?

Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass man sich in anderen europäischen Ländern ein-
schließlich Frankreichs, aber auch in Ländern außerhalb
Europas und selbst in Amerika unter Obama über diese
Politik inzwischen in einer Weise äußert, die uns eigent-
lich dazu veranlassen müsste, sie zu beenden?


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708104800

Herr Ernst, ich teile Ihre Auffassung in beiden Punk-

ten ausdrücklich nicht.

Richtig ist, dass Deutschland nach wie vor Export-
weltmeister ist, was viele Arbeitsplätze in Deutschland
sichert. Darauf sind wir stolz. Es gibt gar keinen Anlass,
das in irgendeiner Weise infrage zu stellen. Ursache da-
für ist unsere hohe Arbeitsproduktivität. Sie ist darin
begründet, dass wir in Deutschland nach wie vor den
technischen Fortschritt vorantreiben und ihn auch in den
Arbeitsprozess integrieren.

Unser Vorteil auf anderen Märkten ist nicht, dass un-
sere Arbeitskosten am niedrigsten sind. Unser Vorteil ist,
dass wir nach wie vor gute Forscher und gute Techniker
und eine Industrie haben, die ihre Ergebnisse schnell in
ihre Arbeitsprozesse implementiert. Diesen Weg sollte
Deutschland fortsetzen. Eine Dumpingpolitik im Lohn-
bereich gibt es hier nicht,


(Widerspruch bei der LINKEN)


und wir sollten ihr auch keinen Vorschub leisten.

Wir sind deshalb gut, weil in unseren Betrieben tüch-
tige Leute arbeiten, die gute bzw. bessere Arbeitsergeb-
nisse erzielen, als es in anderen Ländern der Fall ist. In-
sofern sollten wir Benchmark für andere sein, meine
sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Um Gottes willen!)


Um konkret etwas zu der Situation der Branchen zu
sagen, auf die der Antrag eigentlich abzielt – der Kollege
Ernst ist darauf nur wenig eingegangen –: Es geht dabei
um die Frage der Zeitarbeit und die Frage, was am
1. Mai 2011 passiert. Die Unionsfraktion hat dazu ein
Hearing veranstaltet und mit Experten darüber disku-
tiert.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zielte auf Freizügigkeit ab!)


Im Interesse der europäischen Verständigung, insbe-
sondere auch der nachbarschaftlichen Beziehungen zur
Republik Polen, die für Deutschland von großer Bedeu-
tung sind, würde ich empfehlen, dass wir mit einer ge-
wissen Vorsicht argumentieren und uns die Situation
ganz genau anschauen. Niemand aus dem Sachverstän-
digenbereich der Wirtschaft und der Gewerkschaften
– weder in Deutschland noch in Polen – erwartet eine
riesige Zuwanderungswelle. Das erwartet niemand. Des-
halb gibt es auch überhaupt keinen Anlass, auf dem
deutschen Arbeitsmarkt oder in der innerdeutschen Dis-
kussion Panik zu erzeugen. Natürlich besteht die Gefahr,
dass insbesondere in der Zeitarbeitsbranche Mittel und
Wege genutzt werden, um die Arbeitskosten in Deutsch-
land weiter zu senken. Deswegen sage ich für meine
Fraktion ganz klar, dass wir uns für diesen Bereich bald-
möglichst eine Mindestlohnregelung wünschen. Wir be-
finden uns in guten Diskussionen mit unserem Koali-
tionspartner, um dies zu erreichen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das der FDP!)


Dabei müssen wir in Rechnung stellen, dass die Zeit-
arbeit an der Stelle nicht verunmöglicht werden darf. Sie
hat eine wichtige Brückenfunktion. Sie ermöglicht es, in
Übergangssituationen zu überbrücken. Aktuell erleben
wir, dass in diesem Bereich viele Menschen Anstellun-
gen finden. Diese Möglichkeit darf man nicht zerstören.
Aber auf der anderen Seite sage ich auch: Natürlich darf
die Zeitarbeit nicht dazu missbraucht werden, dauerhaft
Löhne und Gehälter in den Branchen zu senken. Deswe-
gen halten wir eine gesetzliche Regelung in dieser Bran-
che für angemessen und notwendig. Wir setzen uns ge-
meinsam mit Bundesarbeitsministerin Ursula von der
Leyen für eine derartige Lösung ein.


(Beifall des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU] – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Leiharbeit! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann tun Sie doch mal was! Sagen Sie das der FDP! Herr Straubinger, mehr Applaus! Sie sind der Einzige, der klatscht!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
bleibt es dabei: Lohnfindung muss die Aufgabe von Ta-
rifvertragsparteien sein. Hier sind die Gewerkschaften
gefordert. Ich finde es eigentlich schade, dass ein ehema-
liger Gewerkschafter wie Sie, Herr Ernst, hier im
Grunde den Eindruck erweckt, als seien die deutschen
Gewerkschaften nicht in der Lage, auf die Situation zu
reagieren. Gerade in der Zeit des Aufschwungs, in der
Zeit der verstärkten Nachfrage nach Arbeitskräften, in
der Zeit einer demografischen Entwicklung, in der Jün-
gere auf dem Arbeitsmarkt fehlen, merken viele Ge-
werkschaften, dass ihre Bedeutung und ihre Durchset-
zungsmacht auf dem Arbeitsmarkt wieder größer
werden. In der Unionsfraktion finden die Gewerkschaf-
ten einen verlässlichen Partner. Bedauerlicherweise ha-
ben Sie sich an dieser Stelle verabschiedet.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708104900

Das Wort hat nun der Kollege Hubertus Heil für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708105000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Es ist eigentlich schade, dass man darauf Rede-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8935

Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

zeit verwenden muss, aber diese oberflächliche Form
von ökonomischer Debatte meiner beiden Vorredner
miteinander verdient schon eine gewisse Kommentie-
rung.

Herr Wadephuhl, Sie tun gerade so, als hätten wir im
Binnenmarkt mit Dienstleistungen und Löhnen kein
Problem. Auf der anderen Seite wird so getan, als sei die
Lohnentwicklung bei den Chemiefacharbeitern, bei de-
nen es, Kollege Ernst, wirklich nicht um Mindestlöhne
geht, problematisch.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Natürlich nicht!)


Das ist nicht wahr. Ich sage Ihnen deshalb aus ökonomi-
scher Sicht: Es geht nicht darum – jedenfalls nicht für
uns Sozialdemokraten –, Export und Wettbewerbsfähig-
keit der Binnennachfrage gegenüberzustellen. Denn je-
der weiß: Wir brauchen beides, und wir sind in der Tat
aufgrund der besten Produkte, Verfahren und Dienstleis-
tungen wettbewerbsfähig, nicht aufgrund der niedrigsten
Löhne. Auf der anderen Seite haben wir – das betrifft
vor allem Dienstleistungen im Binnenmarkt; da brau-
chen wir Mindestlöhne – in diesem Problemfeld zu nied-
rige Löhne.


(Beifall bei der SPD)


Diese Differenzierung muss sein. An dieser Stelle bringt
die Holzhammerpolitik von Rechts und ganz Links den
Arbeitnehmern, die es betrifft, nichts.

Deshalb will ich zur Sache reden, Kollege Ernst: Es
geht um die Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai.


(Zuruf von der LINKEN)


Wir haben den Antrag ja, wie Sie wissen, Frau Kollegin,
die Sie dazwischengerufen haben, etwas früher als Sie
gestellt, nämlich im Mai dieses Jahres. Ich finde es in
Ordnung, dass wir einer Meinung sind,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Für 10 Euro Mindestlohn!)


dass wir mit Blick auf den 1. Mai 2011 noch mehr Druck
ausüben müssen, damit Lohnuntergrenzen in diesem
Land eingeführt werden.

Wir haben vor zwei, drei Jahren auf europäischer
Ebene eine heftige und intensive Debatte über die
Dienstleistungsrichtlinie geführt. Damals gab es einige
in Europa – das waren eher die politischen Freunde der
FDP –, die das sogenannte Herkunftslandprinzip
durchsetzen wollten. Sie wollten die Freizügigkeit in
Europa, also die Niederlassungsfreiheit und die Dienst-
leistungsfreiheit, so ausgestalten, dass Menschen aus an-
deren Staaten, wenn sie hier in Deutschland Dienstleis-
tungen anbieten bzw. ihre Arbeit ausüben, quasi im
Rucksack das Verbraucherrecht und das Sozialrecht der
Slowakei, von Polen oder anderen Ländern mitnehmen
können. Dieses sogenannte Herkunftslandprinzip haben
wir dank massiven Widerstands auch von sozialdemo-
kratischer Seite weitestgehend im Europäischen Parla-
ment verhindern können.

Tatsache ist, es gibt Dienstleistungsfreiheit in Europa.
Wer aber hier Dienstleistungen erbringt, muss sich an die
deutschen Gesetze halten, egal ob deutscher oder auslän-
discher Herkunft. Wir haben also auf europäischer
Ebene durchaus wirksame Maßnahmen gegen Dumping
von Sozialstandards und gegen Dumping von Umwelt-
und Verbraucherstandards geschaffen. Aber – das wurde
uns bei der europäischen Debatte damals auch ins
Stammbuch geschrieben – zur Verhinderung von Lohn-
dumping braucht es nationale Lohnuntergrenzen, sprich
Mindestlöhne, auch in Deutschland. Das ist das, was Sie
nicht begriffen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was das Herkunftslandprinzip bedeutet hätte, möchte
ich an einem Beispiel deutlich machen: Jemand fährt mit
dem Auto von Deutschland nach England – das geht
heutzutage; denn da gibt es einen Tunnel – und sagt sich,
sobald er in England aus dem Tunnel herauskommt: Gu-
ten Tag, ich halte mich jetzt nicht an die Straßenver-
kehrsordnung von Großbritannien, sondern an meine ei-
gene, die ich aus Berlin mitgebracht habe. – Das ist
keine gute Idee, wenn man an die Sonderregelungen in
der Straßenverkehrsordnung Großbritanniens denkt. Das
heißt für unsere Frage: Wer für fairen Wettbewerb zwi-
schen den Unternehmen und für freien Markt in einem
geeinten Europa ist, der muss dafür sorgen, dass überall
die gleichen Wettbewerbsbedingungen gelten und kein
Dumping zulasten von Verbrauchern, in diesem Fall von
Arbeitnehmern, stattfinden kann.


(Beifall bei der SPD)


Nun möchte ich Ihnen etwas zum Thema Produktivi-
tät sagen: Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass ein
Lohnniveau von 3 oder 4 oder 5 Euro die Produktivität
in den Bereichen, über die wir reden, abbildet? Das frage
ich Sie, weil Sie ja behauptet haben, ein Mindestlohn
würde dem Gebot, dass Arbeitslöhne der Produktivität
entsprechen müssen, widersprechen. Andersherum wird
ein Schuh daraus: Die Tarifautonomie in Deutschland
hat sich bewährt.


(Zuruf von der LINKEN)


Die alte Lohnformel „Produktivitätsfortschritt plus Infla-
tionsausgleich“ hat lange gegolten. Tatsache ist aber
auch, in vielen Branchen funktioniert die Tarifautonomie
nicht mehr so richtig, weder auf Arbeitgeber- noch auf
Arbeitnehmerseite. Das ist der Grund, warum wir heute
Lohnuntergrenzen brauchen, die wir früher in Deutsch-
land nicht brauchten. Das ist auch der Grund – die CDU
bewegt sich da ja mittlerweile mehr als die FDP –, wa-
rum wir Mindestlöhne Stück für Stück in Branchen um-
setzen. Ich sage hier noch einmal: Wir Sozialdemokraten
sind für den Vorrang tarifvertraglicher Lösungen, wo im-
mer es geht. Sie brauchen aber auch eine Antwort für die
Branchen, in denen das nicht geht.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das widerspricht aber dem gesetzlichen Mindestlohn!)


– Nein, das widerspricht sich überhaupt nicht.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch!)


8936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Da, wo sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Lohn-
untergrenzen verständigen, können wir diese über das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz allgemeinverbindlich er-
klären. Aber, Herr Straubinger, was machen Sie denn in
Branchen, in denen die Tarifautonomie nicht mehr funk-
tioniert? – Weil es das immer häufiger gibt, sagen wir,
dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland
als verbindliche Lohnuntergrenze benötigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will
Ihnen ins Stammbuch schreiben: Es macht ordnungs-
politisch Sinn, Mindestlöhne einzuführen, weil es nicht
die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft ist, mit immer
mehr Steuergeld Stück für Stück ein System staatlicher
Lohnbewirtschaftung aufzubauen. Es ist nicht der Sinn
sozialer Marktwirtschaft, dass die Steuerzahler immer
stärker – in diesem Jahr sind es 11 Milliarden Euro – Ar-
mutslöhne subventionieren müssen. Das ist nicht der
Sinn sozialer Marktwirtschaft.

Es macht auch finanzpolitisch Sinn – Stichwort: Auf-
stockerei –, dass wir dafür sorgen, dass nicht immer
mehr Menschen, die hart arbeiten, sich ergänzendes Ar-
beitslosengeld II abholen müssen, um überhaupt über die
Runden zu kommen.

Jetzt wird Herr Kolb gleich sagen: Aber Herr Heil, die
11 Milliarden Euro werden ja nicht ausschließlich für
Vollzeitbeschäftigte ausgegeben. – Ich kenne diese
Phrase. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Erstens. Auch
Vollzeitbeschäftigte werden auf diese Weise subventio-
niert. Das werden Sie nicht leugnen.


(Pascal Kober [FDP]: 4 000!)


Zweitens. Selbst wenn nicht alle, die auf diese Weise
subventioniert werden, Vollzeitbeschäftigte sind, stellt
sich doch nach wie vor die Frage, warum Sie Teilzeitbe-
schäftigten zumuten wollen, Löhne in Höhe von 3 oder
4 Euro zu akzeptieren


(Pascal Kober [FDP]: Das ist nicht wahr, Herr Heil!)


und ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt abholen
zu müssen. Das macht keinen Sinn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Mindestlohn macht sowohl ordnungspolitisch
und finanzpolitisch als auch wirtschaftspolitisch durch-
aus Sinn. Sosehr ich dagegen bin, unsere Exporterfolge
kleinzureden und zu glauben, wir müssten schlechtere
Produkte herstellen, damit andere Länder in Europa bes-
sere Chancen haben, so sehr bin ich der Meinung, dass
wir eine stärkere Binnennachfrage in Deutschland brau-
chen. Da spielt – nicht nur, aber auch – die Frage von
verbindlichen Lohnuntergrenzen eine Rolle; denn eine
solche Untergrenze würde das gesamte Tarifgefüge sta-
bilisieren und dazu führen, dass Menschen mehr Geld in
der Tasche haben. Das sind gerade Menschen mit einem
geringen Verdienst, die ihr Geld nicht in internationale
Finanzblasen stecken, sondern in den Konsum. Das ist
der Grund, warum ich sage, dass ein Mindestlohn auch
wirtschaftspolitisch Sinn macht.

Last, but not least: Auch im Hinblick auf die Einnah-
mebasis unserer sozialen Sicherungssysteme in Deutsch-
land macht es Sinn, dass wir zu stabileren Lohnunter-
grenzen kommen.

Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn
Sie uns schon nicht glauben – das kann Ihnen keiner vor-
werfen; es ist im politischen Geschäft so üblich, dass die
Regierung alles schlecht findet, was die Opposition gut
findet –, dann sollten Sie wenigstens das zur Kenntnis
nehmen, was der Deutsche Juristentag, der unverdächtig
ist, eine Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie oder
der Gewerkschaften zu sein, Ihnen ins Stammbuch ge-
schrieben hat. Wenn Sie das nicht glauben, dann schauen
Sie sich einmal in Europa um. Über 20 Länder in Europa
kennen gesetzliche Lohnuntergrenzen.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


Ihre ideologische Borniertheit ist das Einzige, was im
Moment Mindestlöhnen in Deutschland entgegensteht.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir in diesem Bereich bis
zum 1. Mai finanzpolitisch, wirtschaftspolitisch und so-
zialpolitisch nicht vorankommen, dann werden wir nicht
nur diejenigen Menschen demotivieren, deren Leistung
sich tatsächlich lohnen soll, sondern dann werden wir
die Gesellschaft weiter spalten. Sie, meine Damen und
Herren von der schwarz-gelben Koalition, sind die Spal-
ter in diesem Land. Sie vertiefen die Spaltung zwischen
Geringverdienern und Arbeitslosen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708105100

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708105200

Nur noch dieser Gedanke. – Wenn Herr Westerwelle,

der derzeitige Parteivorsitzende der FDP, wiederum das
Spiel betreibt, Geringverdiener gegen Arbeitslose auszu-
spielen, dann kann ich nur sagen: Das ist weder christ-
lich noch liberal, sondern es ist zynisch. Das merken die
Leute. Deshalb werden Sie die Quittung bekommen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708105300

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1708105400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit den Anträgen der Linken, Herr Kollege Ernst, ist es
ein bisschen wie mit einem schlecht gemachten Ad-
ventskalender: Egal welches Türchen Sie aufmachen, es
ist immer das Gleiche dahinter.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8937

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


So ist es auch heute bei Ihrem Antrag. Sie haben ge-
kreißt, und am Ende kommt die Forderung nach einem
gesetzlichen Mindestlohn heraus. Ich glaube – in diesem
Punkt unterscheiden wir uns sehr deutlich von Ihnen –,
dass Sie da das falsche Pferd satteln.

Wir reden heute über einen gesetzlichen Mindest-
lohn und am Freitag über einen Branchenmindestlohn
für die Zeitarbeit. Ich will mich deswegen heute auf die
Frage des gesetzlichen Mindestlohns konzentrieren. Die-
ses Gesetz würde bundesweit gelten. Wenn Sie ernsthaft
glauben, mit einem bundesweit geltenden gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von 10 Euro positive Beschäfti-
gungseffekte erzielen zu können, dann sind Sie falsch
gewickelt. Es gibt glaubwürdige Untersuchungen, die
belegen, dass das gerade zulasten der neuen Länder ge-
hen würde.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Es wäre vergleichbar mit einem Morgenthau-Plan für die
neuen Länder, wenn man ihnen nicht mehr gestatten
würde, ihre komparativen Vorteile auszunutzen, wenn
Sie also alle über einen Kamm scheren würden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Niedriglöhne in Ostdeutschland sind eine Wachstumsbremse, Herr Kollege!)


Herr Kollege Ernst, wir haben doch keine Probleme dort,
wo es eine gute Infrastruktur gibt, wo es Flughäfen und
Anschluss an das Schienennetz und an Autobahnen gibt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum wandern die Leute aus Ostdeutschland ab?)


Ich nenne das Rhein-Main-Gebiet, das Rhein-Neckar-
Gebiet und das Gebiet um Hamburg herum. Die Pro-
bleme traten in den ländlichen Regionen auf, wo bisher
niedrigere Löhne gezahlt werden, weil höhere Löhne
einfach nicht zu erwirtschaften sind. Denn am Ende
müssen die Kosten für einen Arbeitsplatz wieder herein-
geholt werden. Ich glaube, es wäre für die neuen Länder
fatal, wenn Sie sich mit Ihrem Programm durchsetzen
könnten.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708105500

Herr Kollege Kolb, ich darf Sie einmal unterbrechen.

Die Kollegin Golze möchte gerne eine Zwischenfrage
stellen.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1708105600

Ja, bitte.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708105700

Bitte.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum hauen die alle ab aus Ostdeutschland? Unter anderem wegen der niedrigen Löhne!)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708105800

Vielen Dank, Herr Kolb, dass Sie die Zwischenfrage

erlauben. – Ich komme aus einem der östlichen Bundes-
länder, genauer gesagt aus dem Bundesland Branden-
burg. Auch nach einem Jahr Rot-Rot können Sie es uns
nicht anlasten, dass dort eine Arbeitslosigkeit von 20 bis
25 Prozent herrscht, je nach Region. Ich komme aus ei-
ner Region mit sogar deutlich mehr als 25 Prozent Ar-
beitslosigkeit.

Nun möchte ich von Ihnen wissen: Was hat es denn
dem Osten genutzt, dass dort seit 20 Jahren mit so gerin-
gen Löhnen für diese Region sogar noch Werbung
gemacht wurde, wenn dort gleichzeitig eine so große
Langzeiterwerbslosigkeit herrscht? Was ist denn der
Standortvorteil von Niedrigst- und Billiglöhnen für den
Osten?


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1708105900

Wir mögen die gleiche Medaille anschauen, aber se-

hen zwei verschiedene Seiten. Ich glaube, dass wir in
den 20 Jahren seit der deutschen Einheit eine wirklich
erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet haben. Ich glaube
auch, dass es in vielen Bereichen gelungen ist, moderne
Arbeitsplätze zu entwickeln, die sich übrigens auch, was
die Löhne, die gezahlt werden, anbelangt, mit Regionen
im Westen vergleichen lassen, vielleicht nicht mit den
Spitzenregionen, aber mit anderen durchaus.

Natürlich gibt es nach wie vor Bereiche, in denen wir
Probleme haben. Aber denen werden Sie nicht dadurch
helfen, dass Sie die Löhne, die sich heute etwa bei der
Hälfte Ihrer Mindestlohnforderung bewegen, sozusagen
über Nacht verdoppeln


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht doch nicht über Nacht, Herr Kolb!)


und dann auf ein Wunder hoffen, dass die Unternehmen,
die bisher Schwierigkeiten hatten – schauen Sie sich
doch einmal die Bilanzen der Unternehmen in den neuen
Ländern an –, in der Lage wären, diese Löhne dann auch
tatsächlich zu zahlen. Sie werden erleben, Frau Kollegin
Golze, dass massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen.
Es liegen Gutachten vor, die besagen, dass 1,5 bis 2 Mil-
lionen Arbeitsplätze in den neuen Ländern bedroht sind
oder mit Sicherheit verloren gehen, wenn sich Ihre
Lohnforderung durchsetzen würde.

Deswegen heißt es: Wir müssen mit dem Aufbau der
Beschäftigung voranschreiten und industrielle Struktu-
ren entwickeln. Aber wir dürfen nicht den Fehler ma-
chen, den Leuten dort, wo es noch Probleme gibt, den
Boden unter den Füßen wegzuziehen und den Arbeits-
verhältnissen die Grundlage zu nehmen, indem man über
Nacht die Lohnkosten verdoppelt.


(Zuruf der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Ich will zu einem zweiten Punkt kommen; der Kol-
lege Heil hat ihn schon angesprochen. Ich finde es be-
merkenswert, Herr Kollege Heil, dass Sie gesagt haben,
es habe nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun, wenn
Löhne aufgestockt würden. Es sind 50 Milliarden Euro
Steuergelder genannt worden, die angeblich umsonst
verausgabt würden.

8938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Ich will nur darauf hinweisen, dass dieses Konzept Ihr
Konzept gewesen ist. Sie waren Generalsekretär der
SPD, als man sich entschieden hat, genau dieses zu tun.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, noch nicht!)


– Nein, es ist damals die Forderung der SPD gewesen.
Ich habe Bundeskanzler Schröder noch im Ohr, der ge-
sagt hat – Herr Heil, hören Sie gut zu –: Wir haben
5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, und deswegen
braucht Deutschland einen Niedriglohnsektor. – Das war
Politik der SPD, als Sie Generalsekretär dieser Partei
waren.


(Beifall bei der FDP – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Ja, ja, ja! – Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)


Heute muss man natürlich feststellen, dass Sie in machen
Dingen erfolgreich waren, in dieser Hinsicht vielleicht
sogar zu erfolgreich. Aber am Ende bleibt stehen – das
war ja auch Ihre Grundüberlegung, und das hat etwas
mit sozialer Marktwirtschaft zu tun –, dass diejenigen,
die aufstocken, zu einem guten Teil etwas erwirtschaften
und dass der Staat dann ergänzend das hinzugibt, was er-
forderlich ist, um den Gesamtbedarf abdecken zu kön-
nen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie viel wollen Sie denn davon noch haben? Wo soll das enden? 10 Milliarden? 20 Milliarden?)


So läuft es.

Jetzt können wir uns die Gruppe der Aufstocker noch
einmal differenzierter anschauen. Sie wissen so gut wie
ich, dass 75 Prozent der Aufstocker weniger als 800 Euro
verdienen. Das ist in der Regel nicht Ergebnis der Tatsa-
che, dass sie zu niedrige Stundenlöhne haben, sondern
dass sie von der Stundenzahl her zu wenig arbeiten, um
ein bedarfsdeckendes Gesamteinkommen zu erzielen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo liegen denn die Stundenlöhne bei Verkäuferinnen heutzutage? Wissen Sie das?)


Bei denjenigen, die über 800 Euro liegen, handelt es sich
zu einem ganz erheblichen Teil um Verheiratete mit Kin-
dern, denen Sie auch mit einem Stundenlohn von
10 Euro – Sie liegen ja noch ein bisschen niedriger,
wenn ich es richtig verfolge –, wie ihn sich die Kollegen
von der Linken vorstellen, nicht helfen würden, weil ein
Familienvater – verheiratet, die Ehefrau arbeitet nicht
mit, zwei Kinder – einen Stundenlohn von 12 bis
13 Euro bräuchte, um am Ende transferbezugsfrei zu
werden. In diese Größenordnung kann man nicht gehen.

Deswegen empfinde ich Ihre Rechnung als Milch-
mädchenrechnung. Wenn das Ergebnis wäre, dass vor al-
len Dingen in den neuen Ländern Arbeitsplätze verloren
gingen, würden wir wahrscheinlich am Ende, gesamtfis-
kalisch gesehen – auch was die Auswirkung auf die So-
zialversicherung anbelangt –, schlechter dastehen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Inkonsequent!)

Ich finde, wir wenden hier eine sehr konsequente Sicht-
weise an. Ich warne davor, das rückgängig zu machen.
Ich beobachte, wie Sie sich in der SPD mit der
Agenda 2010 und der Hartz-Gesetzgebung quälen, die
Sie damals auf den Weg gebracht haben, wie Sie sie
Stück für Stück rückabwickeln wollen. Sie sollten das
aber nicht mit Hinweisen auf die soziale Marktwirtschaft
verbrämen, die nicht kompatibel sind. Sie haben Ihre
Maßnahmen damals sozialpolitisch und marktwirtschaft-
lich begründet.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708106000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heil?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1708106100

Ich freue mich auf eine Zwischenfrage des Kollegen

Heil.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708106200

Herr Kollege Kolb, Sie haben mich persönlich ange-

sprochen. Ich will die ganze Geschichte so nicht stehen
lassen. Ich will Ihnen eines sagen: Ich stehe unabhängig
davon, wann ich Generalsekretär war – Sie sollten das
einmal nachrechnen, aber das ist nicht der Gegenstand
der Diskussion –, zu dem, was wir damals gemacht ha-
ben – ich sage das nach wie vor –, nämlich dafür zu sor-
gen, dass Arbeit in Deutschland zumutbar sein muss.
Das war der Kern der Reformen; so ist es. Wenn es so
ist, dass jede Arbeit zumutbar ist, muss dafür gesorgt
werden – früher haben wir das mit der Tarifautonomie
geschafft, heute nicht mehr –, dass Menschen, die hart
arbeiten, von der Arbeit leben können.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das hat sich in den letzten sechs Jahren nicht geändert!)


Das ist der Punkt. Das ist kein Gegensatz; es geht hier
– anders als Sie behaupten – nicht darum, dass wir etwas
„rückabwickeln wollen“.

Die Arbeitsmarktreformen auf der einen Seite und
Mindestlöhne auf der anderen Seite gehören zusammen;
das sind zwei Seiten derselben Medaille.


(Zuruf von der CDU/CSU: Warum habt ihr das dann nicht gemacht?)


Ich will Ihnen dazu ganz deutlich sagen: Es gab eine
Zeit, in der Gewerkschaften und Sozialdemokraten mit-
einander der festen Überzeugung waren, dass man faire
Löhne mit der Tarifautonomie in Deutschland hinbe-
kommt. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es
Bereiche gibt, in denen weder Arbeitgeberverbände
noch Gewerkschaften so mobilisierungsfähig sind, dass
anständige Tariflöhne möglich sind.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Bereiche, Branchen! Das ist es! Nicht alle!)


Herr Kolb, ich frage Sie: Glauben Sie, dass es fair und
anständig ist, dass wir Menschen im Friseurgewerbe in
Thüringen mit 3,18 Euro pro Stunde abspeisen? Glauben
Sie, dass diese Menschen arbeitslos würden, wenn ihr

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8939

Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Stundenlohn ein bisschen erhöht würde? Ich kann das
nicht glauben.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1708106300

Herr Kollege Heil, ich glaube nicht ernsthaft, dass

das, was Sie vorgetragen haben, Ihrer Erinnerung ent-
spricht. Ich glaube nicht, dass die SPD, die auf festen
Füßen stand und Erfahrungen mit den Betrieben hatte,
damals einfach übersehen hat, dass es bei der Zumutbar-
keit von Arbeit dazugehört, entsprechende Regelungen
zu Lohnuntergrenzen zu treffen. Nein, es war umgekehrt
– ich habe die Debatten hier im Haus verfolgt –: Sie ha-
ben es bewusst so gemacht. Die Argumentation war: Je-
der Beitrag – auch ein kleiner Beitrag –, den ein Arbeits-
loser selbst leistet, ist hilfreich; er reduziert die von der
Gesellschaft insgesamt zu erbringenden Transferkosten.
Sie wollten das genau so.

Sie haben die Löhne von 3,18 Euro pro Stunde ange-
sprochen. Ich muss darauf hinweisen, dass sich die Si-
tuation damals schon genau so darstellte, wie sie heute
ist; es gab schon damals diese Löhne. Sie stellen sich
heute hierhin und sagen: Das haben wir ganz anders ge-
meint.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, nein, das habe ich nicht gesagt!)


Dazu muss ich sagen: Die Rahmenbedingungen wa-
ren schon damals – 2004/2005, als Sie die Gesetze auf
den Weg gebracht haben – genau so, wie sie sich heute
präsentieren. Nur haben Sie Ihre Argumentation geän-
dert – Sie haben sich um 180 Grad gedreht –: Vorwärts,
Genossen, es geht zurück! Sie wollen nichts mehr mit
der Agenda 2010 zu tun haben; Sie wickeln sie ab. Das
ist die Wahrheit; das muss man hier so deutlich sagen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Kolb, wir haben 2010! Dezember 2010! Es geht um 2020!)


Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen.

Wir diskutieren jetzt schon wieder so intensiv. Die
Kollegen von der Linken freuen sich, weil sie nämlich
hoffen, dass sie mit ihren Maximalforderungen am Ende
ein bisschen ein Geschäft machen können, wenn die
SPD im Fokus steht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch mal über die Menschen und nicht über die Parteitaktik!)


Man kann Ihnen die Diskussion trotzdem nicht ersparen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708106400

Herr Kollege Kolb, ich muss Sie noch einmal unter-

brechen. Der Kollege Kurth auf der rechten Seite von Ih-
nen möchte eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1708106500

Ich finde, das gehört zur Debattenkultur dazu. Bitte.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich rate zur Sonderfraktionssitzung der FDP! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Frage ist: Wie lange ist Westerwelle noch im Amt?)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1708106600

Wir reden hier über das wichtige Thema Mindestlohn.

Darüber wird oft sehr ideologiebehaftet gesprochen.
Stimmen Sie mir zu – es wurde über solche Zahlen ge-
sprochen –, dass es weder in Brandenburg noch in
Mecklenburg-Vorpommern einen einzigen Landkreis
mit einer Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent gibt?
Stimmen Sie mir auch zu, dass man solche Kennzahlen,
gerade wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn
in Deutschland spricht, kennen müsste, erst recht, wenn
man aus diesen Regionen kommt?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1708106700

Herr Kurth, ich kann Ihnen zustimmen, was die statis-

tische Bewertung anbelangt. Natürlich würde man sich
wünschen – auch beim zweiten Punkt stimme ich zu –,
dass die Kollegin der Linken ihre Argumentation besser
vorbereitet hätte.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Vollbeschäftigung in Mecklenburg-Vorpommern!)


Ich komme zum Schluss, Herr Kollege Heil. Es gibt
– das haben Sie ja gesagt – in 20 anderen europäischen
Ländern Mindestlöhne. Man muss aber auch ihre Höhe
sehen. In Bulgarien liegt er bei 71 Cent. In Luxemburg
liegt er bei den hier schon zitierten 9,61 Euro. Der
Durchschnittslohn, nach Arbeitnehmern gewichtet,
liegt in Europa – darüber hat uns das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales informiert – bei 5,20 Euro. Mit
einem Mindestlohn in Höhe von 10 Euro – das ist das,
was Sie, Herr Kollege Ernst, vorschlagen – wären wir al-
len anderen Mitgliedstaaten weit voraus. Wie es mit der
europäischen Solidarität vereinbar sein soll, dass
Deutschland einen Mindestlohn einführt, der über dem
eines Landes liegt, in dem die Lebenshaltungskosten
deutlich höher sind als in Deutschland, also in
Luxemburg, erschließt sich mir nicht.

Ich komme auf das Anfangsbild zurück. Wir machen
das Türchen des Adventskalenders wieder zu. Es hat
sich heute nicht gelohnt, einen Blick hineinzuwerfen.
Aber ich fürchte, Sie werden uns auch künftig mit Ihren
Vorschlägen nicht verschonen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708106800

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin

Golze.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708106900

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Herr Kolb und wer-

ter Herr Kollege – ich weiß den Namen des Kollegen,
der nach der Statistik gefragt hat, nicht mehr –,

8940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Diana Golze


(A) (C)



(B)


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Kurth!)


ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn es nur 24 oder
23 Prozent Arbeitslose sind.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Unter 20!)


Das finde ich immer noch furchtbar. Die Situation ist
trotzdem dramatisch.

Zweitens. Ich habe während meines Studiums pflicht-
gemäß drei Semester lang einen Kurs absolviert, in dem
es um die Erstellung von Statistiken, um Berechnungs-
methoden ging.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: In der Statistik kennen Sie sich gut aus!)


Der erste Satz, den ich von meinem Professor gehört
habe, war: Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst
gefälscht hast.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ja! Genau!)


Sie wissen selbst, nach welchen Methoden Sie die Ar-
beitslosenstatistiken zusammenstellen.


(Holger Krestel [FDP]: Da haben Sie recht! Von Fälschungen verstehen Sie was! Sie haben sogar die Wahlen gefälscht!)


Sie wissen selbst, dass Sie jeden, der in irgendeiner
Maßnahme steckt oder eine Mehraufwandsentschädi-
gung erhält, herausrechnen. Sie wissen, dass Sie die
Menschen herausrechnen, deren Ehepartner einen Lohn
beziehen, der knapp über dem Bedarfssatz liegt. Sie wis-
sen, dass diese Menschen in keiner Statistik auftauchen.

Ich kann es nicht nachvollziehen, dass Sie sich mit
statistischen Angaben herausreden und sagen, dass es
keine Landkreise gibt, in denen die Arbeitslosigkeit bei
über 25 Prozent liegt. Ich finde, jeder Erwerbslose, der
qualifiziert ist und arbeiten möchte, ist einer zu viel, und
davon gibt es viele im Osten. Sie verhindern mit einer
absolut verbohrten Ideologie – das sage ich Ihnen jetzt
einmal so –, dass diese Leute in Lohn und Brot kommen.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das sagt gerade die Richtige!)


Ich kann diese Diskussion nicht mehr nachvollzie-
hen. Ich wünsche mir von einer christlich-liberalen
Bundesregierung, dass sie auch an die Menschen denkt,
die in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum haben – Ent-
sprechendes haben Sie in der letzten Sitzungswoche be-
schlossen –, weil sie ihn sich nicht leisten können. Da-
runter sind auch Menschen aus dem Osten, die
40 Stunden in der Woche arbeiten gehen, dabei aber so
schlecht verdienen, dass sie ergänzende Hartz-IV-Leis-
tungen beziehen müssen. Daran sind Sie schuld.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708107000

Herr Kollege Kurth, bitte.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1708107100

Frau Kollegin, zunächst einmal stelle ich fest, dass

wir zusammen einmal einen Kaffee, einen Matetee oder
Ähnliches trinken sollten. Ich kenne Ihren Namen näm-
lich auch nicht. Das können wir an dieser Stelle viel-
leicht beiseite schieben.

Sie haben Herrn Kolb direkt nach einer Zahl gefragt.
Sie sagten, in Ihrem Landkreis liege die Arbeitslosig-
keit bei 25 Prozent.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Region! Wer zuhören kann, ist klar im Vorteil!)


In keinem Landkreis in Meck-Pomm liegt die Arbeitslo-
sigkeit über 18 Prozent. Also kann sie auch in der ge-
samten Region nicht über 18 Prozent liegen. Das kann
man sich nicht schönrechnen.

Sie haben nach einer Zahl gefragt, diese Zahl hinter-
her aber selbst aus dem Gefecht genommen, indem Sie
gesagt haben, dass diese Zahl gefälscht sei. Ich frage Sie:
Warum nutzen Sie eine Zahl, die aus Ihrer Sicht ge-
fälscht ist?

Ich sage Ihnen noch eines: Aus meiner Sicht ist es
sehr schade, dass wir in Meck-Pomm und Brandenburg
eine hohe Arbeitslosigkeit haben. Ich glaube aber auch,
dass das etwas mit politischen Entscheidungen zu tun
hat; denn Thüringen – da komme ich her – zieht in Sa-
chen Arbeitslosigkeit zurzeit im positiven Sinne an
Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün mit Unterstützung
der Linken regiert, vorbei.


(Beifall bei der FDP)


Wir werden in den nächsten Monaten Nordrhein-Westfa-
len eingeholt haben. Das liegt an politischen Entschei-
dungen.

Danke.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In Thüringen gibt es keine FDP in der Landesregierung, sondern einen sozialdemokratischen Arbeitsminister! Herzlichen Dank! Eigentor!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708107200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708107300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kolb, bei Ihren Reden frage ich mich immer, ob Sie Ihre
Propaganda eigentlich selbst noch glauben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


In der Bevölkerung glaubt jedenfalls niemand mehr
diese Propaganda.

Ich habe in der letzten Woche in der Berliner Zeitung
gelesen, dass allein im letzten Jahr 3 000 Arbeitsplätze
in der fleischverarbeitenden Industrie aus Dänemark
in das Billiglohnland Deutschland verlagert worden
sind. In Frankreich passiert gerade das Gleiche. Die fran-
zösische fleischverarbeitende Industrie hat eine Vereini-
gung gegen Sozialdumping gegründet und die Euro-

(D)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8941

Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

päische Union aufgefordert, Deutschland zu einem
Mindestlohn zu drängen.

Kommen wir zu der Situation in Deutschland. Neh-
men wir als Beispiel das Land Niedersachsen; da kenne
ich mich gut aus. Dort arbeiten sehr viele Beschäftigte in
der fleischverarbeitenden Industrie für weniger als
5 Euro die Stunde.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sauerei!)


Das geschieht – jetzt richte ich mich an Sie, Herr
Wadephul – mit dem Segen der niedersächsischen Lan-
desregierung. Die niedersächsische Landwirtschaftsmi-
nisterin, Frau Grotelüschen, hat in einer Plenardebatte
gesagt, Löhne für 5 Euro die Stunde seien durchaus ak-
zeptabel.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist unchristlich!)


Für Frau Grotelüschen gilt, glaube ich, der Satz von Karl
Marx, nach dem das gesellschaftliche Sein das Bewusst-
sein bestimmt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch das Sein ihres Mannes!)


Frau Grotelüschen hängt selber sehr tief drin in diesen
Geschäften mit den Billiglöhnen. Ihr Mann ist mit
14 Prozent an einem Unternehmen beteiligt, das von die-
sen Schmutzlöhnen profitiert. Sie selber hat in den letz-
ten Jahren als Prokuristin in der fleischverarbeitenden
Industrie Verträge abgeschlossen, die Löhne von
3,50 Euro pro Stunde vorsahen. Herr Wadephul, solange
in Ihrer Partei Menschen, die diese Machenschaften be-
treiben, ein Ministerinnenamt bekleiden können,


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Vorsicht!)


so lange wird Ihnen niemand glauben, dass Sie gegen
Lohndumping sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie leisten selber einen Beitrag dazu, dass Deutsch-
land zum Niedriglohnsektor für ganz Europa wird.
Schon jetzt werden Millionen Schweine zwischen Däne-
mark und Deutschland hin- und hertransportiert. Was
glauben Sie, was nach dem 1. Mai 2011 passiert, wenn
die Arbeitnehmerfreizügigkeit umgesetzt wird?


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Zwischen Dänemark und Deutschland gar nichts!)


Das Problem wird um ein Vielfaches vergrößert, wenn
wir nicht das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit
am gleichen Ort“ in ganz Europa, das heißt auch in
Deutschland, durchsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Also auch 10 Euro in Moldawien, oder wie?)

Diese Bundesregierung hat sich in dieser Frage ideo-
logisch eingemauert. Die schlimmsten Ideologen sitzen
in der FDP.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh!)


Können Sie sich noch an den Satz von Guido
Westerwelle erinnern: „Mindestlohn ist DDR pur ohne
Mauer“? Was die DDR betrifft, kennen Sie sich ja offen-
sichtlich aus, wenn man Herrn Kubicki Glauben schen-
ken darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die DDR ist implodiert, und die FDP steht vor genau
diesem Prozess.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kubicki!)


Bei Ihnen ist es genau so wie in den letzten Tagen der
DDR.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau! Diese Realitätsverweigerung!)


Da war es auch die Führung, da waren es Herr Honecker
und Herr Mielke, die am meisten überrascht waren, als
der Zusammenbruch kam. So ist es auch bei Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Vorsicht mit den Vergleichen!)


Diese Bundesregierung arbeitet gerade mit Hoch-
druck daran, Deutschlands Ruf in Europa zu ruinieren.
Aber das scheint Ihnen nicht zu reichen. Sie arbeiten mit
Hochdruck auch daran, Europas Ruf in Deutschland zu
ruinieren. Denn das wird passieren, wenn Sie nicht end-
lich Ihren Widerstand gegen die Mindestlöhne aufgeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708107400

Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Kol-

lege Blumenthal würde gerne eine Zwischenfrage stel-
len.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708107500

Ja, bitte.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh! Wie schön! Fast 3 Prozent!)



Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1708107600

Kollegin Pothmer, Sie haben gerade erneut das Zitat

wiederholt, die FDP befinde sich zurzeit im gleichen Zu-
stand, in dem sich auch die DDR befunden habe.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Wolfgang Kubicki!)


8942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010


(A) (C)



(D)(B)


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708107700

Ich habe Herrn Kubicki zitiert.


Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1708107800

Ja. – Ich möchte nachfragen: Möchten Sie hier vor

uns und in der Öffentlichkeit wiederholen, dass sich der
Zustand der FDP mit dem Zustand der sogenannten
Deutschen Demokratischen Republik vergleichen lässt?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sagt Wolfgang Kubicki!)


Möchten Sie diese Behauptung öffentlich bestätigen?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708107900

Ich habe Herrn Kubicki zitiert.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Ist das Ihre eigene Meinung?)


Ich glaube, Zitate sind im Bundestag erlaubt.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Das heißt, es ist nicht Ihre Meinung? Ist das richtig? – Gegenruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Können Sie das ausschließen, Herr Kollege?)


– Ich habe nur ein Zitat von Herrn Kubicki vorgetragen.
Es wäre gut, wenn Sie auf die Leute aus Ihren Landes-
verbänden, die sich zum Zustand Ihrer Partei äußern, hö-
ren würden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Sebastian Blumenthal [FDP]: Das überlassen Sie uns! Das machen wir auch! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war ein klassisches Eigentor, Herr Kollege!)


Meine Damen und Herren, Deutschland hat inzwi-
schen den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa.
6,6 Millionen Beschäftigte arbeiten in Deutschland un-
terhalb der Niedriglohnschwelle.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Wegen der früheren rot-grünen Politik!)


Fast 2 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für
Löhne unterhalb von 5 Euro die Stunde. Dies ist ein
deutsches Alleinstellungsmerkmal, das der Tatsache zu
verdanken ist, dass wir zu den wenigen Ländern in Eu-
ropa gehören, in denen es keinen Mindestlohn gibt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Die anderen hatten keinen Gerhard Schröder! Das ist der Unterschied!)


Dieses Problem wird sich durch die Arbeitnehmer-
freizügigkeit verschärfen. Sie gefährden mit Ihrer Politik
den sozialen Frieden in diesem Land, weil Sie die Ge-
ringverdiener in Deutschland und die Bezieher von
Dumpinglöhnen in unseren Nachbarländern gegeneinan-
der ausspielen. Das ist eine ganz miese Nummer, die wir
von Ihnen allerdings schon kennen.
Es geht um die Frage: Führt die Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit zu Problemen? Die Bundesagentur für Arbeit
geht jedenfalls davon aus, dass besonders sehr viele an-
gelernte bzw. ungelernte Beschäftigte nach Deutschland
kommen werden. Das IAB weist darauf hin, dass es
Schmuddelfirmen, die Hungerlöhne zahlen, geben wird.
Alle Experten raten dazu, einen gesetzlichen Mindest-
lohn einzuführen, um dieses Problem zu bekämpfen.
Auch die Arbeitgeber sind doch längst dafür, Mindest-
löhne einzuführen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr! Die sind gegen gesetzliche Mindestlöhne, Frau Kollegin Pothmer! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Die Arbeitgeber sind doch nicht für gesetzliche Mindestlöhne! Was reden Sie denn da?)


Auch sie sind gegen diesen ruinösen Wettbewerb, gegen
Lohndumping.

Fairer Wettbewerb und faire Löhne sind nicht nur für
die Beschäftigten, sondern auch für die Arbeitgeber und
vor allen Dingen für die Steuerzahler ein Thema. Schon
jetzt könnten wir jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro mehr in
Bildung investieren, wenn wir nur einen Mindestlohn
von 7,50 Euro pro Stunde hätten.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708108000

Frau Kollegin, ich muss Sie noch einmal unterbre-

chen. Der Herr Kollege Kolb würde gerne noch eine
Zwischenfrage stellen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708108100

Nein, Herr Kollege Kolb, Sie hatten nun wirklich hin-

reichend Redezeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Sie noch nicht, Frau Kollegin!)


Üben Sie sich ein bisschen in Bescheidenheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will deutlich sagen: Wir brauchen einen gesetzli-
chen Mindestlohn. Mit der Salamitaktik kommen wir
einfach nicht weiter. Herr Wadephul hat gesagt: Beim
Mindestlohn in der Zeitarbeit wird sich etwas tun. – Das
löst aber nicht das Problem. Wird dadurch etwa das Pro-
blem im Wach- und Sicherheitsgewerbe gelöst? Das Pro-
blem, das in der fleischverarbeitenden Industrie besteht,
habe ich schon angesprochen. Wo, bitte schön, löst der
Mindestlohn in der Zeitarbeit die Probleme in diesen Be-
reichen?

Jetzt wende ich mich an die CDU/CSU, an diejeni-
gen, die das C in ihrem Namen führen.


(Pascal Kober [FDP]: Ach! Nicht schon wieder diese alte Leier!)


Aus meiner Sicht steht das C für Helfen, Teilen und Ge-
rechtigkeit.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht bei christlichen Gewerkschaften!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8943

Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Aber Sie machen mit Ihrer Politik genau das Gegenteil.
Sie machen keine Politik für diejenigen, die Hilfe brau-
chen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch! Wir schaffen mehr Arbeitsplätze in unserem Land!)


Sie machen eine Politik für diejenigen, die ein großes
Portemonnaie haben. Das ist nicht nur unsozial. Das ist
auch unchristlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Pascal Kober [FDP]: So ein Quatsch! Diese Regierung sorgt für mehr Arbeitsplätze in diesem Land! Sie brauchen doch die Arbeitslosen! Die sind schließlich für Ihre Selbstrechtfertigung notwendig! Wir kämpfen für die Menschen!)


Jetzt will ich Ihnen sagen, worin der Unterschied zwi-
schen der CDU/CSU und den Grünen besteht:


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Oh! Jetzt bin ich aber gespannt! – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Worin denn?)


Sie kämpfen im Wesentlichen für christliche Symbole,
zum Beispiel in Schulen oder Amtsstuben. Wir kämpfen
für christliche Werte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Pascal Kober [FDP]: Interessant! Was wohl die Menschen mit Behinderung in Deutschland von dieser Aussage halten!)


Von Ihrer Art der Frömmigkeit können sich die Leute
nichts, aber auch gar nichts kaufen. Eines kann ich Ih-
nen, gerade kurz vor Weihnachten, sagen: Maria und
Josef, selbst das Christkind und die zwölf Apostel wären
für einen gesetzlichen Mindestlohn.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Na, na, na! Jetzt ist aber langsam Schluss! Das ist doch peinlich!)


Fröhliche Weihnachten!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Amen! Halleluja!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708108200

Nun hat das Wort der Kollege Max Straubinger für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1708108300

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Pothmer, dass die Grünen für christliche
Werte kämpfen, merken wir in Bayern anhand diverser
Anträge, etwa denen, dass die Kreuze aus den Klassen-
zimmern verschwinden sollen, dass islamische Feiertage
in Bayern eingeführt werden sollen. Das ist offensicht-
lich das Verständnis der Grünen, die angeblich für christ-
liche Werte kämpfen, verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie sagen, dass Toleranz gegenüber dem Islam unchristlich wäre?)


– Das hat nichts mit Toleranz zu tun, sondern das hat mit
Respekt vor Religionen zu tun, lieber Herr Kollege
Beck.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auch vor dem Islam!)


Wir behandeln zum wiederholten Male einen Antrag
der Linken-Fraktion für gesetzliche Mindestlöhne hier
im Parlament. Diesmal wird es mit europäischen Ge-
sichtspunkten begründet. Aber wie der Kollege Kolb
und der Kollege Wadephul bereits ausgeführt haben, ist
der Kollege Ernst letztendlich nicht sehr auf diese euro-
päischen Gesichtspunkte eingegangen. Wahrscheinlich
wäre ihm bei einem europäischen Mindestlohn auch
schwindlig und flau in der Magengrube geworden, wenn
er das deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
hätte verklickern müssen; denn wir können uns ausma-
len, dass wir angesichts der 20 Lohnuntergrenzen, die es
in Europa gibt, bei einem Mindestlohn von ungefähr bei
3 Euro wären, werter Kollege Ernst.

Deshalb ist es richtig und sinnvoll, auf die verschiede-
nen Tariflandschaften und auch auf die entsprechenden
Rahmenbedingungen in den einzelnen Regionen Bezug
zu nehmen. Das gilt für die Länder in Europa ebenso wie
für die Bundesländer und die einzelnen Regionen in
Deutschland. Deshalb ist ein gesetzlicher Mindestlohn,
wie Sie ihn fordern, nur Gift und keine Bereicherung für
Arbeitsplätze in unserem Land.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708108400

Herr Kollege Straubinger, der Kollege Ernst würde

gerne eine Zwischenfrage stellen.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1708108500

Dem kann ich es nicht abschlagen.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der hat doch eben schon geredet! Der hat schon alles gesagt! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Könnt ihr das nicht in Bayern miteinander bereden?)


– In Bayern muss der Kollege Ernst seinen Parteitag be-
sänftigen; da hat er keine Zeit.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708108600

Ja, aber ihr müsst schauen, dass ihr irgendwann wie-

der über 40 Prozent kommt. – Herr Straubinger, wollen
wir doch wieder über das Thema reden! Ich möchte Ih-
nen einfach die Frage stellen, ob Sie denn in unserem
Antrag irgendwo gelesen haben, dass wir einen durch-
schnittlichen Mindestlohn in Europa fordern, wie Sie es
gerade darzustellen versucht haben.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1708108700

Ja, natürlich.

8944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010


(A) (C)



(D)(B)


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708108800

Ich bin noch nicht ganz fertig. – Sind Sie denn nicht

bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Mindestlohn in
Europa, den wir schon in fast allen europäischen Län-
dern haben, natürlich die jeweilige wirtschaftliche Leis-
tungskraft des Landes berücksichtigt – er wird zum Bei-
spiel in Frankreich gerade auf 9 Euro erhöht –, weil die
wirtschaftliche Leistungskraft in den einzelnen Regio-
nen Europas unterschiedlich ist? Sind Sie ferner bereit
zu akzeptieren, dass wir uns, wenn wir einen gesetzli-
chen Mindestlohn einführen, wie es viele andere Länder
bereits getan haben, natürlich nicht mit den Leistungs-
schwächsten vergleichen dürfen, sondern dass wir uns
mit denen vergleichen müssen, die eine ähnliche wirt-
schaftliche Leistungsfähigkeit haben? Ist es dann in der
Folge nicht sinnvoll, dass wir uns, da wir das wirtschaft-
lich leistungsfähigste Land, das konkurrenzfähigste
Land Europas sind, wie man an unseren Handelsbilanzü-
berschüssen sehen kann, eher an dem durchschnittlichen
Lohn, den die leistungsstärksten Länder haben, orientie-
ren?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es ist aber logisch, was er sagt!)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1708108900

Es ist logisch. Aber es spricht gegen seinen eigenen

Antrag.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708109000

Die letzte Frage, die ich anschließen möchte, ist fol-

gende: Ist es, Herr Straubinger, im Sinne des Gesetzes
über Wachstum und Stabilität in der Wirtschaft von 1967
– ausgeglichene Handelsbilanzen, ausgeglichene Leis-
tungsbilanzen, außenhandelswirtschaftliches Gleichge-
wicht –


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Karl Schiller und Franz Josef Strauß!)


nicht richtig, wenn man feststellt, dass es zu Ungleichge-
wichten in Europa kommen kann, weil sich ein Land
durch Lohndumping Vorteile gegenüber anderen ver-
schafft, und ist es dann nicht sinnvoll, dass das Land mit
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit par excellence
zumindest das Lohndumping nach unten durch einen ge-
setzlichen Mindestlohn verhindert?


(Beifall bei der LINKEN)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1708109100

Herr Kollege Ernst, Sie haben hier vortrefflich gegen

Ihren eigenen Antrag argumentiert.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?)


– Ja, natürlich. – Sie fordern in Ihrem Antrag einen ge-
setzlichen Mindestlohn in ganz Deutschland, unabhän-
gig von den Voraussetzungen der verschiedenen Regio-
nen. Diese sind unterschiedlich: Sie sind im Osten
anders als im Westen, im Norden und im Süden.


(Zurufe von der LINKEN)


– Ja, natürlich.
Dementsprechend gibt es richtigerweise sehr viele
verschiedene Tarifverträge, weil durch diese Tarifver-
träge die regionalen Besonderheiten und vor allen Din-
gen auch die Wettbewerbsfähigkeit in den jeweiligen
Räumen berücksichtigt werden können. Das ist auch
richtig so.


(Zuruf von der LINKEN: Ein Mindestlohn ist kein Tariflohn!)


Wenn das in der Vergangenheit nicht so gewesen wäre,
dann wäre Niederbayern nie zum Aufsteigerland Num-
mer eins geworden. Nur durch die Ansiedlung neuer Be-
triebe und neuer Industrien ist es gelungen, dass das Pen-
deln aus Niederbayern heraus ein Ende hat und in
Dingolfing,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum boomt dann der Osten nicht?)


wo ich herkomme, schöne und gute Arbeitsplätze ent-
standen sind, zum Beispiel bei dem Automobilbauer
BMW.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht mit niedrigen Löhnen!)


Herr Kollege Heil und Herr Kollege Ernst, alle Men-
schen dort profitieren davon, weil die Löhne durch das
erhöhte Arbeitsplatzangebot insgesamt gestiegen sind.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie sind also für einen bayerischen Mindestlohn?)


Ein solch starkes Unternehmen ist letztendlich ein
Trendsetter, der hinsichtlich der Entlohnung in den ver-
schiedensten anderen Bereichen in unserem Land einen
Trend setzt.

Es ist deshalb sehr deutlich: Ihre eigene Argumenta-
tion ist gegen einen gesetzlichen Mindestlohn gerichtet,
weil ein zu niedriger gesetzlicher Mindestlohn – Sie er-
kennen das ja indirekt an – keine Wirkung hat und ein zu
hoher Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet.

Herr Kollege Ernst, Sie legen immer dar, wir hätten
Wettbewerbsvorteile, weil die Löhne so niedrig sind. Die
Arbeitskosten sind gesunken; das ist richtig. Zu den Ar-
beitskosten gehören aber nicht nur die Löhne. Die Ar-
beitskosten können bei der Automobilindustrie durch
Zulieferungen von Teilen aus anderen Ländern der Welt
gesenkt werden. Natürlich bedeutet das dann Wettbe-
werbsvorteile. Es geht also nicht nur um die Arbeitskos-
ten, sondern auch darum, wie wir Wettbewerb insgesamt
gestalten.

Die deutschen Unternehmen sind sehr erfolgreich,
Herr Kollege Ernst. Das sollten wir durch Ihr Wirt-
schaftsprogramm nicht unterbinden. Ich habe mich ge-
traut, mir die Homepage des Kollegen Ernst anzu-
schauen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hey! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Hast du das überlebt?)


Dort steht die schöne Forderung, die EU solle Deutsch-
lands Exporte begrenzen. Herr Kollege Ernst, was heißt
das denn?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8945

Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Überschüsse!)


Wenn wir die Exporte begrenzen, dann werden Arbeits-
plätze bei uns zunichtegemacht. Das ist doch völlig klar.
Wir produzieren dann weniger und haben damit weniger
Arbeitsplätze.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Höhere Löhne und höhere Importe!)


– Herr Kollege Ernst, diese Traumgebilde seien Ihnen
unbenommen, aber das wird es so eben nicht geben. Wir
müssen mit unseren Produkten in einer Wettbewerbsge-
sellschaft bestehen – in Europa und in der ganzen Welt.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Herr Ernst ist ein Traumtänzer!)


Dabei sind wir sehr erfolgreich. Diesen Erfolg der Un-
ternehmen sollte man im Sinne der betroffenen Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer nicht schmälern.

Deshalb ist die Politik der Bundesregierung unter
Angela Merkel und der sie tragenden Parteien CDU,
CSU und FDP richtig. Herr Kollege Ernst, wir kämpfen
gemeinsam für mehr Arbeitsplätze in unserem Land und
für mehr Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, weil da-
mit natürlich auch die soziale Sicherheit der Menschen
und Einkommensmöglichkeiten verbunden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe es ja bereits ausgeführt: Ein zu niedriger
Mindestlohn hat keine Wirkungen, und ein zu hoher
Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Diesen Quatsch glauben Sie doch selber nicht!)


– Das ist kein Quatsch, Herr Kollege Heil.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In Großbritannien gab es dieselbe Debatte vor zehn Jahren! Alles Unsinn!)


– Herr Kollege Heil, Frankreich hat den höchsten Min-
destlohn – der Kollege Ernst und auch Sie haben das ge-
rühmt –, und er wird noch angehoben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Luxemburg!)


Die Realität sollte man dabei aber auch betrachten. Was
hat das bewirkt?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Armes Luxemburg!)


Armut wurde bewirkt – insbesondere bei den Jugendli-
chen, die auf den Arbeitsmarkt drängen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Armut in Luxemburg?)


In Frankreich haben wir über 25 Prozent Jugendarbeits-
losigkeit zu verzeichnen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat doch nichts mit dem Mindestlohn zu tun!)


– Natürlich wegen des Mindestlohnes.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warum denn?)


– Der Mindestlohn stellt eine Einstiegsbarriere dar, weil
die Jugendlichen noch nicht so gut ausgebildet sind,
nicht die entsprechende fachliche Erfahrung nachweisen
können und es deshalb für die Betriebe nicht möglich ist,
den so hohen gesetzlichen Mindestlohn für sie zu schul-
tern.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie wollen dauerhaft Billigheimer!)


Das sind dann die praktischen Auswirkungen. Wäre Ih-
nen denn eine höhere Jugendarbeitslosigkeit lieber?


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Jugendlichen kann man doch ausnehmen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die sind doch in Frankreich ausgenommen! Die sind doch gar nicht betroffen! Sie haben doch gar keine Ahnung!)


– Das ist ja nicht wahr.

Die Auswirkungen gesetzlicher Mindestlöhne beste-
hen nicht nur in erhöhter Arbeitslosigkeit. Sie verursa-
chen darüber hinaus in vielen anderen Bereichen große
Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Aber ich bin über-
zeugt, dass es vor allen Dingen aufgrund der Konkurrenz
über die Landesgrenzen hinweg Arbeitsplatzverluste
geben wird, so in den Grenzgebieten zu Tschechien und
Polen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind dagegen und suchen noch irgendwelche Argumente!)


– Das ist nicht wahr.

Schön ist auch noch, dass der Kollege Ernst es als un-
würdig betrachtet, soziale Leistungen in Anspruch zu
nehmen und dafür einen Antrag zu stellen. Es ist aber
gerade der Ausdruck eines Sozialstaats, dass jemand,
wenn er mit seinem erwirtschafteten Einkommen nicht
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, Unter-
stützung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erfährt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht diejenigen, die voll arbeiten! Das ist leistungsfeindlich!)


– Ja, Herr Kollege Heil, auch der Kollege Kolb hat be-
reits dargestellt, dass die meisten Aufstocker nur teilzeit-
beschäftigt sind.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber die brauchen mehr als 3 Euro pro Stunde!)


Im Juli 2010 gab es 1,3 Millionen abhängig beschäf-
tigte Erwerbstätige, die zusätzlich ALG II benötigten,
zudem mehr als 100 000 Selbstständige. Aber fast 1 Mil-
lion aus diesem Personenkreis arbeitet nur Teilzeit.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, und? Die wollen trotzdem mehr als 3 Euro pro Stunde!)


Mit Teilzeitarbeit kann ich eben kein Vollzeiteinkommen
erreichen. Somit ist das keine Frage der Höhe eines
Stundenlohns, sondern es geht darum, wie viel Zeit je-
mand aufgrund seiner familiären Situation der Arbeit

8946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

widmen kann, weil er Kinder zu betreuen hat, weil er
möglicherweise auch einen behinderten Angehörigen zu
pflegen hat und, und, und.

Für solche persönlichen Situationen haben wir – da-
rauf sollten wir doch stolz sein – ein dichtes soziales
Netz, an dem wir alle gearbeitet haben. Das möchte ich
nicht als unwürdig betrachten, wie es der Kollege Ernst
getan hat, als er sagte, es sei unwürdig, soziale Leistun-
gen beantragen zu müssen.

Aber entlarvend im Hinblick auf den Antrag der Lin-
ken ist durchaus, dass auf der einen Seite behauptet wird,
es sei unwürdig und für den Einzelnen mühsam, Aufsto-
ckungen zu beantragen, aber dort gleichzeitig steht:
Wenn ein Unternehmer den gesetzlichen Mindestlohn
nicht bezahlen kann, dann soll er unterstützende Leistun-
gen des Steuerzahlers erhalten.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist widersprüchlich!)


Dann subventionieren wir die Arbeitgeber direkt. Lieber
Kollege Ernst, im Gegensatz zu Ihnen bin ich dafür, dass
wir dieses Geld den betroffenen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und den betroffenen Personen auszahlen,
bevor wir es Unternehmen geben, um damit einen ge-
setzlichen Mindestlohn für manche Unternehmen in un-
serem Land überhaupt bezahlbar zu machen. Ich frage
mich: Wo ist da der Unterschied?


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dass man das abtrennen muss, Herr Straubinger! Dass man das ketteln muss, das ist der Unterschied!)


Sie verurteilen auf der einen Seite die Aufstockung.
Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag, dass dann die
Unternehmen eine staatliche Unterstützung erhalten sol-
len, um diesen gesetzlichen Mindestlohn bezahlen zu
können. Lieber Kollege Ernst, wenn dies ein Fortschritt
sein soll, dann frage ich mich wirklich, wie es in unserer
Gesellschaft zukünftig weitergehen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Antrag wird auch dargestellt: Der gesetzliche Min-
destlohn hilft in allen Bereichen. Er sichert ein ausrei-
chendes Einkommen und in der Regel damit auch die
Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger. Man könnte ge-
nauso gut argumentieren, dass dadurch eine Lohn-Preis-
Spirale in Gang gesetzt wird und die Kaufkraft somit
nicht steigt, Herr Kollege Ernst. Dies sollte man unter
wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten vielleicht auch
einmal betrachten. Vor allen Dingen aber steht in den di-
versen Anträgen immer wieder, dass der Mindestlohn
unseren Sozialstaat rettet und die Rente sichert.

Herr Kollege Ernst, ich meine, dass die Menschen in
ihrem Leben wesentlich mehr verdienen können als ei-
nen imaginären gesetzlichen Mindestlohn.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja! Wir auch!)


Der gesetzliche Mindestlohn, den Sie fordern, zeigt sehr
deutlich, wie realitätsfern Sie in dieser Frage diskutieren.
Dass jemand 45 Jahre lang durch den gesetzlichen Min-
destlohn alimentiert wird, ist für mich eine Horrorvor-
stellung.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist keine Alimentation!)


Es mag vielleicht den Linken angemessen sein und in ihr
Programm passen. Denn Sie sind letztlich dafür, dass der
Staat alles vorgeben soll. Sie sind eigentlich Gewerk-
schaftsführer, geben aber lapidar die Tarifautonomie da-
mit auf.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Quatsch!)


– Natürlich. In Ihrem Antrag fordern Sie nicht nur einen
gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch weitere Bran-
chenmindestlöhne.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das sehen doch die Gewerkschaften selber genauso! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sind Sie für die Abschaffung des Bundesurlaubsgesetzes?)


Das bedeutet die Einschränkung bzw. die Aufgabe der
Tarifautonomie. Dabei sollten Sie als Gewerkschafts-
führer für die Stärkung der Tarifautonomie eintreten,
statt zu ihrem Abbau beizutragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihr Vorschlag ist auch keine Lösung, um zu einer siche-
ren und guten Rente zu kommen. Entscheidend ist viel-
mehr, dass es in unserem Land vernünftige Arbeitsplätze
gibt, die auch gut bezahlt werden.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Eben! Eben!)


Lieber Kollege Ernst, die derzeitige wirtschaftliche
Entwicklung trägt mit dazu bei, dass die gute Bezahlung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer möglich
wird. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was Sie in
einem früheren Antrag und auch in der Diskussion vor-
gebracht haben, nämlich dass Arbeitgeber bereit sind,
zu zocken, dass sie sich übernommen haben und da-
durch Arbeitsplätze gefährdet werden. Das haben Sie
damals insbesondere im Zusammenhang mit der Fusion
von Schaeffler und Continental verbreitet. Bei diesen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steht jetzt eine
Sonderzahlung an.

Es zeigt den Charakter der sozialen Marktwirtschaft,
dass sich auch die Unternehmen dieser Frage stellen. In
vielen Bereichen, auch in der Automobilbranche, wird
von Neueinstellungen der Unternehmen berichtet,


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Befristet!)


und zwar bei guter Bezahlung.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Befristet oder Leiharbeit!)


– Mir ist eine befristete Beschäftigung lieber als gar
keine Beschäftigung, Herr Kollege Ernst.


(Zuruf von der LINKEN: Das fragen Sie mal die Befristeten!)


Ihnen mag das möglicherweise egal sein. Wir kämpfen
für dauerhafte Arbeitsplätze.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8947

Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

Darauf, dass dies umgesetzt wird, können wir stolz sein.
Wir bedanken uns auch bei den betreffenden Unterneh-
men.

Wenn aber alle für einen gesetzlichen Mindestlohn
kämpfen, dann richte ich auch eine Empfehlung an die
SPD, die wie alle Parteien im Wahlkampf ist, derzeit vor
allem in Hamburg: Dass die Wahlkampfhelfer, die
37,5 Stunden in der Woche im Einsatz sind, mit
300 Euro im Monat entlohnt werden, ist meiner Mei-
nung nach durchaus verbesserungsbedürftig.


(Pascal Kober [FDP]: An ihren Taten sollt ihr sie messen!)


Wenn man schon so heftig für einen gesetzlichen Min-
destlohn kämpft, dann sollte man vielleicht auch über
diesen Punkt nachdenken.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708109200

Nun hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1708109300

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau

Präsidentin! Herr Straubinger, ich glaube, auch meine
Ausführungen regen dazu an, über einige Punkte nach-
zudenken.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn zu Hamburg? Sagen Sie mal etwas zu Hamburg!)


Wir erleben zurzeit eine ziemlich trübe Jahreszeit.
Trotz Vorfreude auf Weihnachten sind graue Tage
nichts Besonderes. Sie können von uns glücklicher-
weise auch nicht beeinflusst werden. Was mir aber in
dieser Zeit große Sorge bereitet und was wir beeinflus-
sen können – das gilt besonders für die zuständige
Ministerin –,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die ist nicht mal da!)


ist die Tatsache, dass sich die Stimmung besonders bei
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem
Land immer mehr verfinstert.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das nehmen die doch nicht wahr!)


Sie sind frustriert und haben konkrete Erwartungen an
die Arbeitsministerin, dass sich etwas zu ihren Gunsten
verändert und dass ihnen mehr Gerechtigkeit beim Lohn
für gute Arbeit widerfährt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Enttäuscht hat vor kurzem die Sozialministerin von
der Leyen schon viele Menschen in diesem Land mit ih-
rer Neuregelung zu den Regelsätzen in der Grundsiche-
rung und mit ihrem spärlichen Bildungspaket für bedürf-
tige Kinder. Hinzu kommt nun ihre Untätigkeit als
Arbeitsministerin bei der Frage eines gerechten Lohns
für geleistete Arbeit.

Arbeiten und dann noch Geld vom Staat zu brauchen,
diese Situation gibt es in Deutschland immer häufiger.
Die Zahl derer, die trotz Jobs auf staatliche Unterstüt-
zung angewiesen sind, ist gestiegen. Wir alle kennen die
Zahl: 1 325 000 Bürger müssen ALG II bekommen, ob-
wohl sie ganz oder teilweise berufstätig sind. Diese Tat-
sachen können auch Sie nicht vom Tisch wischen, und
diese Tatsachen verlangen politisches Handeln.


(Beifall bei der SPD)


Wenn Sie – jetzt spreche ich die Regierungskoalition mit
ihrer Ministerin an – ernsthaft für das nächste Jahr die
Lösung arbeitsmarktpolitischer Probleme angehen wol-
len, dann sollte die Einführung eines gesetzlichen Min-
destlohns ganz oben auf Ihrer Tagesordnung stehen;
denn darum kommen Sie nicht herum. Die Menschen im
Lande erwarten für ihre geleistete Arbeit eine gerechte
Mindestvergütung.

Die heutige Debatte zu diesem Thema ist nicht neu
und nicht der erste Aufschlag. Ich erinnere daran, dass
wir im März 2010 einen Antrag eingebracht haben. Si-
cherlich sind wir uns in einigen Fragen sehr nahe, aber
wir haben unterschiedliche Meinungen zu der Festle-
gung der Höhe der gesetzlichen Lohnuntergrenze.
Wir, Herr Straubinger, wollen Fairness auf dem Arbeits-
markt. In Abwägung aller Chancen und Risiken – Sie
haben nur von den Risiken gesprochen – sind wir für
realistische 8,50 Euro pro Stunde. Da sind wir uns mit
den Gewerkschaften einig, und aus allen Kreisen der Be-
völkerung kommt diese Forderung.


(Pascal Kober [FDP]: Hört! Hört! Keine 10 Euro! 8,50 sind es jetzt! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist ja Dumping, Herr Kollege Ernst!)


Ganz zuletzt hat Ihnen das Bundesverfassungsge-
richtsurteil bescheinigt, dass das Lohnabstandsgebot
hinfällig ist. Mit diesem Urteil ist bestätigt, dass das
Existenzminimum nicht unter den untersten Löhnen lie-
gen muss, sondern die untersten Löhne über dem Exis-
tenzminimum liegen müssen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Das ist nachzulesen, und das heißt im Klartext: Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, die vollzeitnah er-
werbstätig sind, müssen ein Nettoarbeitsentgelt erzielen,
mit dem sie verlässlich oberhalb der Schwelle von
Hartz IV liegen. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindest-
lohn ist also die Konsequenz auch aus diesem Urteil zur
Neubemessung der Regelsätze. Das ist der Auftrag an
Sie und an Ihre Ministerin.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben wir gemacht!)


– Das sehen viele Menschen in diesem Land ganz an-
ders.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Es glauben auch viele Menschen an Ufos!)


8948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube, dass Sie da in einer Sackgasse sind und sich
vor dem Bundesverfassungsgericht darüber noch einmal
streiten müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim gesetzlichen
Mindestlohn geht es um zwei Dinge. Es geht erstens um
die gesellschaftliche Anerkennung von Arbeit und die
Würde des Menschen, der sich in diese Gesellschaft ein-
bringt; er muss für das, was er an Arbeit leistet, auch ge-
recht entlohnt werden. Zweitens geht es aber auch um
die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass Unternehmen
ihre Niedriglohnbeschäftigung nicht durch die öffentli-
che Hand finanzieren lassen. Beides hat viel mit Gerech-
tigkeit zu tun, die wir in dieser Gesellschaft so dringend
brauchen.

Zahlreiche unserer Nachbarländer sind uns da schon
einen deutlichen Schritt voraus. Viele Menschen fragen
immer wieder, warum es nicht möglich ist, dass wir in
Deutschland einen Mindestlohn haben, den es bereits in
20 der 27 Länder der Europäischen Union gibt. In den
Ländern, die mit uns am ehesten vergleichbar sind – wie
Belgien, Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden –,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die haben alle eine höhere Arbeitslosigkeit!)


gibt es weltweit die höchsten Mindestlöhne in einer
Spanne von 8,15 Euro bis 13,80 Euro. Keine dieser
Volkswirtschaften ist daran zugrunde gegangen, und die
Arbeitslosigkeit ist dort nicht höher als bei uns. Ganz im
Gegenteil, sie ist niedriger, und die Beschäftigungsquote
ist höher. Das ist nachzulesen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Griechen sind daran nicht zugrunde gegangen?)


– Ich habe vergleichbare Länder erwähnt; Herr
Straubinger, hören Sie zu.

Die Legenden, die Sie immer wieder pflegen – das
haben Sie auch heute getan –, wonach Mindestlöhne
Arbeitsplätze vernichten,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Gesetzliche Mindestlöhne!)


haben sich bisher in unseren Nachbarländern und ange-
sichts der Mindestlohnvereinbarungen einzelner Bran-
chen bei uns nicht bestätigt. Trotz all dieser Entwicklun-
gen weigern Sie sich beharrlich, diese Realitäten zur
Kenntnis zu nehmen und daraus die richtigen Schlüsse
für unser Land zu ziehen, die nur heißen können: Ge-
setzlicher Mindestlohn nun auch in Deutschland!


(Beifall bei der SPD)


Frau von der Leyen hat uns in den letzten Wochen
und Monaten sehr oft gesagt, wie wichtig ihr die Kinder
in diesem Land sind. Wenn sie es ernst meint, dann muss
sie auch an die Kinder denken, deren Eltern ein so gerin-
ges Einkommen haben, dass es für das Existenzmini-
mum nicht ausreicht. Diese Kinder müssen erleben, dass
die Eltern auf ergänzende Hilfe angewiesen sind. Beson-
ders Alleinerziehende und Paare mit geringem Einkom-
men müssen oft das Jobcenter aufsuchen. Ein gesetzli-
cher Mindestlohn würde die Aufstockung vermeiden.
Das käme schließlich 1,2 Millionen bedürftigen Kindern
zugute. Das wäre eine echte Unterstützung für bedürf-
tige Kinder.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich muss leider zum Schluss meiner Rede kommen.


(Zurufe von der FDP)


– Das ist in der Tat bedauerlich. – Ich möchte einen Satz
aufgreifen, den Ihre Ministerin am 18. Juni in diesem
Hause gesagt hat. Es handelt sich um einen sehr schönen
Ausspruch von Victor Hugo. Er hat gesagt: „Nichts ist
mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“. Ich
greife diesen Satz ganz bewusst auf und sage Ihnen: Die
Idee des gesetzlichen Mindestlohns ist nicht neu. Spätes-
tens jetzt ist aber die Zeit gekommen, zu handeln. Wir
laden Sie ein, auch in dieser trüben Jahreszeit das rich-
tige Signal zu geben, das viele Menschen in diesem
Land erwarten und das die Wünsche der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer erfüllt. Mit einem gesetzlichen
Mindestlohn würden auch die Differenzen in der Bezah-
lung von Männern und Frauen sowie die Lohnunter-
schiede zwischen Ost und West verringert oder beseitigt
werden. Das wäre doch eine wirklich gute Aussicht für
das neue Jahr.

Danke.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708109400

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Pascal

Kober.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1708109500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Ernst, bekanntlich ist Reden Silber und
Schweigen Gold. Entsprechend war es bemerkenswert,
wie Sie elf Minuten lang über einen Mindestlohn in
Höhe von 10 Euro gesprochen, aber über den konkreten
Inhalt des von Ihrer Fraktion eingebrachten Antrags be-
harrlich geschwiegen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das verwundert überhaupt nicht; denn das Konzept, das
Sie vorlegen, ist schlicht nicht konsistent. Sie fordern ei-
nen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro brutto pro Stunde,
und dann sollen die jeweiligen Anpassungen durch einen
paritätisch besetzten sogenannten nationalen Mindest-
lohnrat verbindlich vorgeschlagen werden. Da stellt sich
mir und vielleicht auch jedem anderen unvoreingenom-
menen Betrachter und aufmerksamen Leser die Frage,
warum dieser nationale Mindestlohnrat nicht schon die
Eingangshöhe festlegt oder warum er nicht darüber
nachdenkt, ob es überhaupt einen Mindestlohn geben
soll. Ich kann Ihnen sagen, warum Sie einem solchen Rat
nicht vertrauen: Sie vermuten, dass ein solcher sicherlich
mit Experten besetzter nationaler Mindestlohnrat in sei-
ner Expertise nicht zu dem Ergebnis kommen würde,
dass der Mindestlohn bei 10 Euro liegen soll.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8949

Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


(Katja Mast [SPD]: Fangen Sie doch einfach mal an!)


Diese Vermutung wird durch die Tatsache gestützt, dass
die Gewerkschaften keinen Mindestlohn in Höhe von
10 Euro fordern. Diese wissen, dass ein hoher Mindest-
lohn Arbeitsplätze gefährden würde, und stimmen daher
Ihrer Forderung nach 10 Euro nicht zu.

Sie haben viel über das europäische Ausland gere-
det. Sie verschweigen aber die jeweiligen Hintergründe
in den einzelnen europäischen Ländern. In vielen Län-
dern Europas ist der Mindestlohn vom Durchschnitts-
lohn bzw. vom normalen Lohn so weit entfernt, dass nur
ein sehr geringer Anteil der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer überhaupt vom Mindestlohn erfasst wird. In
Großbritannien galt der Mindestlohn 2008 für nur
1,9 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, in Irland für
3,3 Prozent und in Spanien für weniger als 1 Prozent.
Die Mindestlöhne, die dort gelten, sind ganz weit von
den 10 Euro entfernt, die Sie fordern.

Beim Blick aufs Ausland verschweigen Sie natürlich
auch, dass es dort, wo es Mindestlöhne gibt, zugleich
immer auch eine Fülle an Ausnahmetatbeständen gibt,
um negative Arbeitsmarkteffekte – sprich: Arbeitslosig-
keit – zu mildern oder zu verhindern. Wenn Sie bei-
spielsweise in Frankreich einen Arbeitslosen einstellen,
bekommen Sie Abschläge bei den Sozialversicherungs-
beiträgen. Ähnliche Ausnahmetatbestände gibt es na-
hezu überall, wo es in Europa Mindestlöhne gibt. Das
sollten Sie dann auch sagen. Wir sagen: Ein Mindestlohn
muss in sich konsistent sein. Einen Mindestlohn einzu-
führen und gleichzeitig eine Vielzahl von Ausnahmetat-
beständen zu schaffen, macht keinen Sinn; dann lieber
kein Mindestlohn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viele Kolleginnen und Kollegen haben schon darauf
hingewiesen, dass Sie von Deutschland ein völlig fal-
sches Bild zeichnen. Ich möchte es allen in Erinnerung
rufen: In Deutschland gibt es nur 4 000 Personen, die
Vollzeit arbeiten und zusätzlich sogenannte aufsto-
ckende Leistungen erhalten. Die Regel ist das nicht.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Die Zahlen sind doch Quatsch!)


In Deutschland werden ordentliche Löhne gezahlt, und
die Menschen können von ihnen leben, wenn sie einen
Vollzeitjob haben.

Noch ein Wort an die Kollegin Pothmer. Frau
Pothmer, Sie sollten vielleicht die Weihnachtszeit nut-
zen, um nicht nur das Weihnachtsevangelium zu hören,
sondern auch einmal über die Geschichte hinaus zu lesen
und zu erfahren, wie es weitergeht. Die von Ihnen ange-
sprochenen Apostel


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwölf!)


– zwölf – haben allesamt ihr angestammtes Arbeitsver-
hältnis verlassen und sind Jesus nachgefolgt, ohne Kün-
digungsschutz, ohne Mindestlohn, ohne Arbeitszeitrege-
lung.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die hätten eine Sperrzeit gekriegt!)


Wenn Sie das als Maßstab für eine christliche Arbeits-
marktpolitik nehmen wollen, dann sage ich in der Tat:
Das ist nicht die Vorstellung dieser christlich-liberalen
Koalition.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wo haben Sie denn die 4 000 her? Das sind falsche Zahlen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708109600

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1708109700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

Für und Wider eines gesetzlichen Mindestlohns haben
wir – wieder einmal – sehr engagiert, sehr emotional und
sehr ernst, teilweise auch mit großer Theatralik, abge-
wägt. Ich gehe deshalb davon aus, dass ich zu den Diffe-
renzen in diesem Hause nichts weiter sagen muss. Ich
möchte das Thema von einer anderen Seite her angehen,
nämlich von den vermuteten Gemeinsamkeiten her, und
die Frage stellen, ob wir jenseits des gesetzlichen Min-
destlohns auch andere ordnungspolitische Möglichkeiten
finden können.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorschläge!)


Vielleicht ist das dann – Herr Kolb hat es angesprochen –
das Überraschungsei im Adventskalender, das Sie bei
dem Kollegen Ernst so schmerzlich vermisst haben.

Meine Damen und Herren, in den vergangenen Tagen
haben wir die Unterrichtung der Bundesregierung über
das 18. Hauptgutachten der Monopolkommission zur
Kenntnis genommen. Mich haben bei der Lektüre zwei
Sachverhalte verwundert: erstens, dass die Monopol-
kommission eine starke Einschränkung der Allgemein-
verbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen befür-
wortet, und zum Zweiten, dass sie die Möglichkeit
abschaffen will, Mindestarbeitsentgelte nach dem Min-
destarbeitsbedingungengesetz festzulegen, so als ob an
dieser Stelle tatsächlich Monopole entstünden.

Ich habe dann etwas genauer nach den Begründungen
gesucht und zwei gefunden, die mich geärgert haben:
Zum einen befürchtet die Monopolkommission negative
Auswirkungen auf den nachgelagerten Produktmarkt,
zum anderen scheint sie Wettbewerb als Ziel der Ord-
nungspolitik zu sehen. Ich hingegen bin der festen Über-
zeugung: Wettbewerb ist nicht das Ziel des Marktes,
sondern ein Mittel. Als Christlich-Sozialer stehe ich auf

8950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

dem Standpunkt: Der Mensch steht im Mittelpunkt des
Marktes. Er ist Urheber, Mittelpunkt und Ziel der Wirt-
schaftsordnung. Deshalb ist das Ziel des Marktes nicht
der Wettbewerb, sondern Ziele sind das Gemeinwohl
und der darin eingebundene Mensch.

Ein zweiter Irrtum der Monopolkommission scheint
mir in der Annahme der Funktionsweise von Markt
und Staat zu liegen. Der Arbeitsmarkt ist kein perfekter
Markt. In einem perfekten Arbeitsmarkt gibt es keine
Einkommensunterschiede. Wenn alle Menschen in etwa
gleich qualifiziert wären, würde es ein Überangebot an
Arbeitskräften für die prestigehaltigen Arbeiten geben.
Ihre Entlohnung würde sinken. Gleichzeitig würde für
die weniger angesehenen Arbeiten der Lohn steigen
müssen, weil sich sonst keiner findet, der diese Arbeiten
verrichtet.

Nun ist klar: Einen solchen Markt gibt es nicht. Die
Menschen kommen mit den unterschiedlichsten Voraus-
setzungen und auch mit unterschiedlicher Verhandlungs-
stärke auf den Arbeitsmarkt. Auf dem Arbeitsmarkt be-
steht Ungleichheit, schon wegen der unterschiedlichen
Machtpositionen von Anbietern und Nachfragern. Un-
gleichheit besteht aber auch, wenn wir nur diejenigen
betrachten, die ihre Arbeitskraft anbieten. Hier muss der
Staat dann eingreifen, wenn diese Ungleichheiten zu Ar-
beitsverhältnissen führen, die jeglicher Idee des Gemein-
wohls zuwiderlaufen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Staat ist Garant dieses Gemeinwohls. Er ist mit dem
schönen Wort von Sismondi Repräsentant des dauern-
den, aber stillen Interesses aller gegen das nur zeitwei-
lige, aber leidenschaftliche Interesse der Einzelnen.

Ich denke, so weit stimmen wir im Hohen Hause
überein: Die Lohnfindung allein dem Markt zu überlas-
sen, wäre falsch und weder mit unseren Vorstellungen
von Grundwerten noch mit unseren Vorstellungen von
Gemeinwohl vereinbar.

Das war im Übrigen auch die Auffassung von Adam
Smith. In seinem Buch über den Reichtum der Nationen
schreibt er – hier zitiere ich –: Der Mensch muss stets
von seiner Arbeit leben, und sein Lohn muss wenigstens
hinreichend sein, um ihm Unterhalt zu verschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


In den meisten Fällen muss er sogar noch etwas höher
sein, sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, eine Fami-
lie zu gründen. – Wir sehen: Smith war weniger reiner
Marktwirtschaftler als Moralphilosoph.

Die katholische Soziallehre hat diesen Hinweis auf-
gegriffen und spricht vom gerechten Lohn, einem Lohn,
der es einem Arbeitnehmer gestattet, sich und seine Fa-
milie zu ernähren.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 3,18 Euro sind es jedenfalls nicht!)

Hier steht die katholische Soziallehre bei aller Betonung
der Freiheit und der Eigenverantwortung des Menschen
in der Tradition der Moralphilosophie und der Natur-
rechtslehre.

Wir in der Union stehen in der Tradition dieser So-
ziallehre, meinen aber zur Frage der Mindestlöhne: Die
Lohnfindung ist wegen des Prinzips der Subsidiarität
zunächst Aufgabe der Tarifpartner.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Über viele Jahre, Herr Kollege Ernst, waren es gerade
die Gewerkschaften, die mit Hinweis auf die Tarifauto-
nomie staatliche Interventionen in die Lohnfindung zu
Recht abgelehnt haben.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es!)


Wenn sich aber Tarifpartner nicht mehr finden, ihre
Bindungswirkung verlieren oder nicht die Tarifmächtig-
keit aufweisen können, dann läuft die Subsidiarität ins
Leere und der Staat muss eingreifen. Wir haben dies ge-
tan mit der Grundidee, dass so viel wie möglich die
Tarifpartner besorgen und dass wir dann je nach Not-
wendigkeit auf Antrag einzelne Tarifverträge für allge-
meinverbindlich erklären. In der Großen Koalition ist
vereinbart worden, dort, wo sich keine Tarifpartner fin-
den, die Lohnfindung über das Mindestarbeitsbedingun-
gengesetz zu regeln – ein etwas kompliziertes, aber
durchaus gangbares Verfahren.

Einen allgemeinen und flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohn haben wir im Wesentlichen aus drei
Gründen abgelehnt:


(Anton Schaaf [SPD]: „Wir“ ist in dem Fall die CDU!)


Erstens besteht die Befürchtung, damit könnten Ar-
beitsplätze verloren gehen.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Und wie viele werden geschaffen?)


Hierzu gibt es Untersuchungen, die ich vor einiger Zeit
im Deutschen Bundestag zitiert habe. Die spannende
Frage aber lautet – das ist auch durchaus selbstkritisch –:
Wie viele Arbeitsplätze gehen verloren, wenn wir keinen
Mindestlohn haben?


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Ich finde es richtig, über diese Bilanz zumindest einmal
zu diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das zweite Argument ist, dass die Lohnfindung die
Tarifpartner doch unter sich ausmachen sollten. Hier
gilt es kritisch anzumerken: Wir haben nicht mehr die
große Bindungskraft der Gewerkschaften und Arbeitge-
berverbände,


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8951

Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

die in anderen Ländern ohne Mindestlohn selbstver-
ständlich ist.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut, der Mann!)


Wo die Tarifautonomie aufgerissen ist, müssen andere
Wege gegangen werden.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Gegenruf des Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Aber nicht flächendeckend! Das ist der Unterschied!)


Das dritte Argument ist, der Mindestlohn sei nicht fle-
xibel genug, weder für Branchen noch für Regionen. Der
Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen. Das halte
ich für ein schwerwiegendes Argument. Die Lebenshal-
tungskosten unterscheiden sich in den Regionen deut-
lich. Mit welcher Begründung können wir dann durch ei-
nen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn mit Blick
auf die Lebenshaltungskosten einige besser-, andere
schlechterstellen?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie für eine Low Pay Commission?)


Wie kann ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn die
Bedürfnisse unterschiedlicher Branchen befriedigen?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es geht nicht um die Branchen! Es geht um die Menschen! Es geht um die Beschäftigten!)


Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass man viele
dieser Einwände durch die Idee eines subsidiären Min-
destlohns oder – anders formuliert – eines gesetzlichen
Mindestlohns mit einer tariflichen Öffnungsklausel ent-
kräften kann.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Nach oben!)


Die Tarifpartner könnten den Mindestlohn für Regionen,
Branchen oder für eine gewisse Zeit außer Kraft setzen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Immerhin ein Stück Fortschritt ist bei Ihnen feststellbar!)


Sie müssten sich aber gegenüber dem gesetzlichen Min-
destlohn rechtfertigen, der den Charakter einer auch nor-
mativ zu verstehenden Setzung trägt. Begründungs-
pflichtig wäre dann die Unterschreitung des subsidiären
Mindestlohns, nicht der Mindestlohn selbst.

Ein solcher subsidiärer Mindestlohn bietet nach mei-
nem Dafürhalten Anreiz, die Lohnfindung durch die Ta-
rifpartner dort vorzunehmen, wo es gute Gründe gibt,
den Mindestlohn nicht anzuwenden.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Das Instrument wäre hinreichend flexibel, um regiona-
len oder branchenspezifischen Bedürfnissen Rechnung
zu tragen. Es wäre eleganter als das Mindestarbeitsbe-
dingungengesetz und wesentlich unbürokratischer als
die Verfahren zur Erklärung einer Allgemeinverbindlich-
keit. Das würde uns viele Diskussionen im Zusammen-
hang mit dem 1. Mai 2011 ersparen.
Das wäre nach meinem Empfinden ein ambitioniertes
Projekt der christlich-liberalen Koalition, die gelingende
Synthese der liberalen Tradition eines Adam Smith und
der Tradition der Soziallehre in einem Themenfeld, in
dem wir bald überzeugende Lösungen brauchen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708109800

Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1708109900

Sehr geehrter Herr Zimmer, vielen Dank für Ihren

wissenschaftlichen Beitrag. Aber nun möchten wir uns
den Menschen in diesem Land widmen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn wir über Europa und Arbeitnehmerfreizügig-

keit reden, die ab dem 1. Mai 2011 für acht weitere EU-
Staaten gilt, dann spüre ich bei den meisten Menschen
vor allem Verunsicherung, ja auch oft Angst.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)

Sie fürchten, dass Arbeitnehmer aus osteuropäischen
Staaten nach Deutschland kommen, um hier zu Nied-
riglöhnen und unter schlechten Bedingungen zu arbei-
ten. Besonders transnationale Leiharbeitsfirmen wollen
die Arbeitnehmerfreizügigkeit ausnutzen.

Herr Dr. Wadephul, es ist kein Geheimnis, dass deut-
sche Leiharbeitsfirmen bereits Verträge vorbereiten, um
vermeintlich teure deutsche Leiharbeiter durch billigere
polnische oder tschechische Leiharbeiter zu ersetzen.
Der polnische Arbeitgeberpräsident spricht von Löhnen
zwischen 2 und 5 Euro für polnische Leiharbeiter. Das
sind Ersparnisse für die Unternehmen von bis zu 5 Euro
pro Stunde und Mitarbeiter. Damit halten menschenun-
würdige Entlohnung und unfaire Arbeitsbedingungen
Einzug auch in unseren Arbeitsmarkt. Wir wollen keine
Angst vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren; aber
dieser Gefahr, die ab dem 1. Mai droht, muss die Bun-
desregierung schleunigst begegnen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, was
Sie zu dieser Thematik in den letzten Wochen gesagt ha-
ben, war sehr konfus. Die Union ist auf einmal für einen
Mindestlohn in der Leiharbeit.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Waren wir schon immer!)


Auch das Schauspiel von Ursula von der Leyen be-
kommt einen neuen Akt: Sie macht sich plötzlich Sorgen
um deutsche Leiharbeitnehmer. – Nun gut, aber leider
sind Sie zu spät: In der Großen Koalition hätten wir mit
Leichtigkeit einen solchen Mindestlohn umgesetzt.


(Beifall bei der SPD)


8952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt kriegen Sie das mit der Dagegen-Partei FDP nicht
mehr hin.


(Pascal Kober [FDP]: Das verwechseln Sie! Das sind die Grünen!)


– Das gilt für Sie.


(Beifall bei der SPD)


Selbst die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit-
geberverbände fordert einen Mindestlohn in der Leihar-
beit. Trotzdem verweigern sich die Liberalen. Kollegin-
nen und Kollegen von der FDP, welche Klientel
vertreten Sie eigentlich noch, wenn Sie nicht einmal
mehr die Arbeitgeberforderungen unterstützen?


(Beifall bei der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Fast 3 Prozent!)


Herr Kolb, ich schätze Sie als einen vernünftigen Kol-
legen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Danke!)


Sie haben die Problematik bereits erkannt, wie wir alle
wissen. Reden Sie doch noch einmal mit Ihrem Vorsit-
zenden, Herrn Westerwelle, und bringen Sie endlich
Ordnung in Ihre Arbeitsmarktpolitik, am besten durch
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit ist eine positive Errungenschaft, die wir in Eu-
ropa geschaffen haben. Wir haben vier Dimensionen in
Europa: den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen,
die gemeinsame Währung und die soziale Dimension.
Die ersten drei Dimensionen haben wir erfolgreich um-
gesetzt. Nun gilt es, den sozialen Frieden in Europa zu
sichern. Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den
Euro oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet
auch, dass wir Wohlstand und soziale Sicherheit für
alle Menschen garantieren.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Dazu gehören auch faire Arbeitsbedingungen. Deshalb
müssen wir Lohn- und Sozialdumping mit allen uns zur
Verfügung stehenden Mitteln verhindern und den gesetz-
lichen Mindestlohn einführen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Mit Lohn- und Sozialdumping schwächen wir zum
einen unsere anständigen Unternehmer, die bei dem
ständigen Unterbieten nicht mithalten können und wol-
len. Zum anderen schwächen wir mit Niedriglöhnen un-
sere Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmer hier in Deutsch-
land verlieren entweder ihren Job, weil es billigere
Arbeitskräfte aus anderen Ländern gibt, oder sie müssen
zu Hungerlöhnen arbeiten – diese Gefahr besteht –, um
mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu können.
Das sind Verwerfungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit,
die auftreten, wenn wir nicht politisch handeln, und zwar
vor dem 1. Mai 2011.


(Beifall bei der SPD)


Unser Grundprinzip muss lauten: Gleiche Lohn- und Ar-
beitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Das ist keine Gleichmacherei, sondern Grundlage für
Anstand, Fairness und Gerechtigkeit auf dem Arbeits-
markt.


(Beifall bei der SPD)


Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die Forde-
rung nach Einführung eines Mindestlohns und der Auf-
nahme aller Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz
teile ich. Aber ich teile nicht Ihre Analyse, dass allein
mit Einführung eines Mindestlohns alles getan wäre, um
uns auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzubereiten.
Ihre Forderungen greifen etwas zu kurz. Wir brauchen
zum Beispiel auch eine grundlegende Regelung zur Be-
ratung von entsandten Arbeitnehmern.

Herr Staatssekretär Fuchtel, hören Sie zu. Sie können
der Arbeitsministerin überbringen, welche Erfahrungen
ein Facharbeiter bei diesem Thema gemacht hat. Wir
müssen nämlich auch regeln, wie entsandte Arbeitneh-
mer in unser System der Mitbestimmung integriert wer-
den. Wir müssen dafür sorgen, dass auftraggebende Un-
ternehmer haften, wenn Subunternehmer aus dem
Ausland Lohn- und Sozialdumping betreiben. Wir brau-
chen eine wirksame Kontrolle; denn die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit ist derzeit personell nicht dazu in der
Lage. – Dies sind einige der Forderungen, neben der
Einführung eines Mindestlohns, die die SPD-Fraktion
nach der Weihnachtspause in einem eigenen Antrag ein-
bringen wird.


(Beifall bei der SPD)


Die Einführung eines Mindestlohns allein reicht nicht
aus, um den Menschen in Deutschland Schutz zu gewäh-
ren.

Erlauben Sie mir zum Schluss eine tiefer gehende Be-
merkung in eigener Sache: Als jemand, der als Gastar-
beiter nach Deutschland kam, vom Ausländer zum
Migranten und heute zu einem Deutschen mit Migra-
tionshintergrund wurde – eigentlich wollte ich immer
nur ein Mensch sein –, ist mir wichtig, dass wir einen
Fehler aus der Zeit der Gastarbeiter nicht wiederholen:
Bei der Debatte um Zuwanderung und Arbeitnehmer-
freizügigkeit müssen wir uns immer vor Augen halten,
dass Menschen zu uns kommen und nicht nur Arbeits-
kräfte. Das ist eben auch ein wichtiger Aspekt für eine
gelungene Integrationspolitik.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708110000

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8953

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1708110100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Sie, meine Damen und Herren von den Lin-
ken und von den Grünen, höhlen mit Ihren Forderungen
nach Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Min-
destlohns die Tarifautonomie aus.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Gewerkschaften fordern ihn doch!)


Im Vorgriff auf die ab Mai 2011 für die neuen EU-Mit-
gliedstaaten geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren
Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern Ängste gegenüber
einem freien Europa.

Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert die Tarif-
autonomie. Dort ist das Recht festgeschrieben, dass Ar-
beitnehmer und Arbeitgeber Koalitionen bilden können,
um Vereinbarungen über Arbeits- und Wirtschaftsbezie-
hungen zu treffen. Gewerkschaften schließen mit Arbeit-
geberverbänden Tarifverträge über das Arbeitsentgelt ab.
Warum überlassen Sie von den Linken und Grünen es
also nicht den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbän-
den, einen Mindestlohn zu vereinbaren? Die Tarifauto-
nomie gibt es schon jetzt her, Mindestlöhne einzuführen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihre Argumentation an dieser Stelle ist bekannt. Sie
sagen, dass in ganz vielen Branchen keine Tarifbindung
herrscht. Das ist unzutreffend; denn der Anteil der Be-
schäftigten, auf die Tarifverträge Anwendung finden, lag
laut des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
im Jahr 2009 bei 81 Prozent.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: 60 Prozent!)


Außerdem stelle ich mir die Frage: Wenn der Mindest-
lohn so notwendig ist, warum schaffen es die Gewerk-
schaften dann nicht, mehr Arbeitnehmer für sich zu ge-
winnen und ihre Forderung bei Tarifverhandlungen auch
durchzusetzen?


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh!)


Es ist doch offensichtlich so, dass Sie es den Gewerk-
schaften nicht zutrauen; denn sonst würden Sie nicht den
Gesetzgeber auffordern, hier aktiv zu werden.

Damit eines klar ist: Die Tarifautonomie ist für mich
ein hohes Gut.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und dann die Gewerkschaften beschimpfen! Das passt ja super zusammen!)


Sie gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der so-
zialen Marktwirtschaft.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deswegen hat Guido Westerwelle die Gewerkschaften wohl als eine Plage bezeichnet!)


Weil das genauso bleiben soll, sage ich: Nicht der Staat
und auch nicht das Parlament haben die Aufgabe, Lohn-
höhen festzusetzen, sondern die Tarifpartner.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben Standpunkte ausgetauscht. Ich sage Ihnen:
Ein staatlicher Mindestlohn dient nicht der sozialen Ab-
sicherung. Über 98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten
verfügen laut BDA über ein existenzsicherndes Einkom-
men.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Laut BDA!)


Arbeitnehmern, die ein solches zum Beispiel wegen feh-
lender Qualifikation nicht erzielen können, gewährleistet
das Arbeitslosengeld II ein Mindesteinkommen. Das ist
der richtige Weg. Der Effekt der Agenda 2010 war doch
gewünscht, Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizier-
ten den Einstieg in den Arbeitsmarkt über einfache Tä-
tigkeiten zu erleichtern.

Zu Beginn habe ich bereits gesagt, dass Ihre Anträge
Ängste bei den Menschen gegenüber einem offenen Eu-
ropa schüren.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ganz im Gegenteil!)


Was passiert denn im Mai 2011? Grenzen auf dem Ar-
beitsmarkt fallen. Das ist für mich als Liberale etwas
sehr Positives. Genau das heißt Freiheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie hingegen verstehen Arbeitnehmerfreizügigkeit als
Bedrohung, vor der wir uns schützen müssen. Offene
Grenzen sehen Sie als Bedrohung. Damit leisten Sie ei-
nen gefährlichen Beitrag zur Europaskepsis. Das halte
ich gerade an einem solchen Tag wie heute, wo in Brüs-
sel über die Stabilität unserer Währung beraten wird, für
besonders fahrlässig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie verunsichern die Menschen!)


Wenn es Ihnen, Herr Heil, wirklich um die Menschen
und um ihre soziale Absicherung geht, müssen die An-
träge zurückgezogen werden, und stattdessen müsste
morgen im Bundesrat dafür gesorgt werden, dass die
Neuregelung bei Hartz IV mitgetragen wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso? Die FDP im Saarland ist ja auch nicht dabei!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708110200

Ich schließe die Aussprache.

8954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4038 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrates
der Kreditanstalt für Wiederaufbau gemäß § 7
Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzes über die
Kreditanstalt für Wiederaufbau

– Drucksachen 17/4176, 17/4177 –

Hierzu liegen ein Wahlvorschlag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke sowie ein Wahl-
vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Bevor wir zur Abstimmung über die Wahlvorschläge
kommen, erteile ich zunächst dem Abgeordneten Volker
Beck das Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708110300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stim-

men jetzt in einer offenen Wahl über die Besetzung des
Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau ab.
Es ist unerlässlich, dass alle Fraktionen des Deutschen
Bundestages im Verwaltungsrat der KfW vertreten sind,
um über die Geschäftsstrategie der staatseigenen Bank
zu entscheiden und sie zu kontrollieren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo steht denn das?)


Es ist undemokratisch und widerrechtlich, dass die
schwarz-gelbe Koalition die Bundestagsfraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen aus dem Kontrollorgan der Kreditan-
stalt für Wiederaufbau heraushalten will. Die KfW ist in
erster Linie eine Bank für die Förderung des Mittelstan-
des. Unsere Kandidatin Christine Scheel ist die Mittel-
standsbeauftragte der Fraktion. Sie hat schon viele Jahre
diesem Gremium angehört und hat hier eine wichtige
Arbeit geleistet, die von allen geschätzt wird.

Die KfW finanziert Kommunalkredite und ermöglicht
Export- und Projektfinanzierungen in großem Umfang.
Sie hat im letzten Jahr mit der Kreditgewährung an Grie-
chenland im Auftrag des Bundes eine wichtige Funktion
zur Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes
mit einem stabilen Euro übernommen. Es ist unerläss-
lich, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages an
der Kontrolle einer solch zentralen Stelle beteiligt sind
und keiner ausgeschlossen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Grund wird vermutlich gleich zu erklären versu-
chen, dass sich aus dem Beschluss des Deutschen Bun-
destages vom 28. Oktober 2009 zu dem Antrag mit dem
Titel „Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung
der Stellenanteile der Fraktionen“ ergebe, dass uns kein
Platz zustünde. Nach dem gängigen Stellenverteilungs-
verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers steht den Grünen
ein Platz zu. Sie berufen sich dabei auf folgenden Satz:
Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wieder-
gabe der parlamentarischen Mehrheit, … errechnet
sich die Verteilung nach d’Hondt.

Danach stünde uns kein Platz zu. Dies ist aber angesichts
der Regelungen zum Verwaltungsrat im Gesetz über die
Kreditanstalt für Wiederaufbau an der Sache vorbei. Die
gesetzliche Konzeption sieht vor, dass die Vertreter des
Deutschen Bundestages und ihre Zusammensetzungen
wegen sieben Vertretern der Bundesregierung in diesem
Gremium auf die Mehrheitsbildung keinerlei Einfluss
haben. Die Regierungsmehrheit ist ohnehin gesichert.

Das gesetzliche System dieses Verwaltungsrats, das sich
nicht an den Legislaturperioden des Deutschen Bundes-
tages, sondern an der Amtszeit der Verwaltungsratsmit-
glieder orientiert, zeigt schon, dass es auf eine Abbildung
der Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages
nicht ankommt, sondern auf eine Repräsentanz aller
Fraktion bei der Kontrolle dieses Gremiums.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Bundesverfassungsgericht hat in einem ähnlichen
Fall, nämlich bei der Zusammensetzung der Bundestags-
bank im Vermittlungsausschuss – damals gegen unsere
Koalition – entschieden:

Funktion und Aufgaben des Vermittlungsausschus-
ses fordern keine zwingende Ausrichtung der Be-
setzung des Ausschusses am Mehrheitsprinzip in
einem Umfang, dass der Grundsatz der Spiegelbild-
lichkeit

– nämlich der Beteiligung aller Fraktionen –

im Zweifel zu weichen hätte.

Das Bundesverfassungsgericht hat zum Grundsatz der
Spiegelbildlichkeit ausgeführt:

Er muss im Konfliktfall der mit dem Prinzip stabi-
ler parlamentarischer Mehrheitsbildungen in Ein-
klang gebracht werden. Kollidieren der Grundsatz
der Spiegelbildlichkeit und der Grundsatz, dass bei
Sachentscheidungen die die Regierung tragende
parlamentarische Mehrheit sich auch in verkleiner-
ten Abbildungen des Bundestages muss durchset-
zen können, so sind beide Grundsätze zu einem
schonenden Ausgleich zu bringen.

Ein schonender Ausgleich liegt aber dort nicht vor,
wo eine Bundestagsfraktion von den Kontrollmöglich-
keiten – hier der Staatsbank – ausgeschlossen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kauder, sogar für den Vermittlungsausschuss
– damals haben Sie ja geklagt – sagt das Bundesverfas-
sungsgericht:

Dabei schließt die normative Ausgestaltung des
Vermittlungsausschusses nicht aus, dass die politi-
sche Opposition auf Bundesebene in dem Aus-
schuss in bestimmten Fällen über eine Mehrheit
verfügt;

– was hier gar nicht der Fall wäre. Das zeigt aber, dass
Sie hier willkürlich und widerrechtlich in die Kontroll-
rechte meiner Fraktion eingreifen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8955

Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Herr Grund, es gibt keinen guten rechtlichen und ver-
fassungsrechtlichen Grund für die Beschneidung unserer
parlamentarischen Kontrollrechte. Beteiligung ist auch
keine Belohnung für parlamentarisches Wohlverhalten
gegenüber der Koalition. Deshalb stimmen Sie unserem
Wahlvorschlag zu. Diese Bitte richte ich auch an die bei-
den anderen demokratischen Fraktionen. Bitte unterstüt-
zen Sie uns in dem Anliegen, dass alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages gemeinsam die Staatsbank kon-
trollieren können müssen. Das dient der parlamentari-
schen Demokratie und ist gut für unser Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708110400

Jetzt hat der Kollege Manfred Grund das Wort zu ei-

ner Erklärung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1708110500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut

für unser Land, wenn wir uns an die Grundsätze halten,
die wir uns selber gegeben haben. Herr Kollege Beck,
Ihre Argumentation führt in die Irre und geht an dem
Grundsatz vorbei, den Sie in Ihrer Eigenschaft als Parla-
mentarischer Geschäftsführer der Grünen bis vor weni-
gen Jahren selber vertreten haben: Mehrheit ist Mehr-
heit.

Worum geht es in der Sache?

Erstens. Wir haben heute drei der insgesamt sieben
Mitglieder des Verwaltungsrats der Kreditanstalt für
Wiederaufbau, die der Deutsche Bundestag nach dem
Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu be-
stellen hat, neu zu bestellen.

Zweitens. Der Deutsche Bundestag hat am Anfang
dieser Legislaturperiode in Übereinstimmung und Ab-
sprache mit allen Fraktionen eine Regelung getroffen,
wie in Zukunft – in dieser Legislaturperiode – Positionen
in Ausschüssen und anderen Gremien zu besetzen sind,
damit sich die durch Wählerentscheidung – Herr Kollege
Beck, wir bestrafen und belohnen nicht; der Wähler be-
straft und belohnt – herbeigeführte parlamentarische
Mehrheit in allen Gremien widerspiegelt und abbildet.

Die Drucksache 17/4 trägt die Unterschrift aller Frak-
tionen, natürlich auch Ihrer Fraktion. Darin heißt es:

Die Zahl der auf die Fraktionen entfallenden Sitze
im Ältestenrat und in den Ausschüssen des Deut-
schen Bundestages sowie die Verteilung der Vor-
sitze in den Ausschüssen werden nach dem Verfah-

(Sainte-Laguë/ Schepers)

vereinbart wird.

Das Gleiche

– das ist entscheidend –

gilt für die Besetzung von anderen Gremien, soweit
gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.
Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wieder-
gabe der parlamentarischen Mehrheit …, errechnet
sich die Verteilung nach d’Hondt.

Genau diese Verteilung ist hier anzuwenden. Es gibt
einen gemeinsamen Vorschlag aller anderen Fraktionen
in diesem Haus, auch von einer Fraktion, die heute nicht
auf dem Wahlvorschlag steht. Ausgerechnet die Fraktion
der Grünen bricht hier aus einer parlamentarischen Tra-
dition aus, die bisher für alle bindend gewesen ist.

Ich will auf zwei oder drei Argumente eingehen, die
der Kollege Beck hier vorgetragen hat. Das eine Argu-
ment stützt sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsge-
richtes. Demnach seien die Grünen aus verfassungs-
rechtlichen Gründen – Grundsatz der Spiegelbildlichkeit –
zu beteiligen. Herr Kollege Beck, dieses Urteil bezieht
sich ausdrücklich auf den Vermittlungsausschuss, also
auf ein Gremium, das sich aus Vertretern von Bundesrat
und Bundestag zusammensetzt. Die Bestimmung der
Zahl der Sitze, die im Verwaltungsrat der KfW zu beset-
zen sind, liegt überhaupt nicht in unserer Hand. Wir sind
hier nur ein entsendendes Organ unter vielen anderen.

Es gibt viele andere Gremien, die unter anderem von
Mitgliedern des Bundestages besetzt werden, wo aber
nur ein oder zwei Mitglieder des Bundestages vertreten
sein können. Hier gibt es überhaupt keinen Streit da-
rüber, ob man alle Fraktionen beteiligen sollte, weil das
überhaupt nicht möglich ist.

Sie haben ein zweites Argument vorgetragen: Die Re-
gierung, die auch im Verwaltungsrat vertreten ist, könne
die Mehrheit der Regierungskoalitionen darstellen. Herr
Kollege Beck, wir haben aus guten Gründen seit der
Französischen Revolution eine Gewaltenteilung:


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht im Verwaltungsrat!)


hier das Parlament, der Gesetzgeber, da die Regierung,
dort im Gericht die Justiz. Glauben Sie, dass wir das uns
zustehende Mandat an die Regierung abgeben? Das wer-
den wir nicht tun. Wenn Sie auf die Gewaltenteilung ver-
zichten wollen, schlage ich vor: Sprechen Sie doch zum
Beispiel Frank Bsirske von der Gewerkschaft Verdi an.
Er ist Mitglied der Grünen und sitzt im Verwaltungsrat;
er kann nach Ihrer Vorstellung von Gewaltenteilung in
Zukunft Ihre Interessen dort wahrnehmen. Wir werden
unser Mandat nicht abgeben.

Herr Kollege Beck, Ihr drittes Argument: Beim KfW-
Verwaltungsrat handele es sich nicht um ein Gremium,
auf das die Vereinbarung, die wir zu Beginn der Legisla-
turperiode gemeinsam getroffen haben, zutreffe. Es gibt
insgesamt 42 Gremien – die Liste wurde von der Bun-
destagsverwaltung zusammengestellt und war bisher
zwischen allen Fraktionen unstrittig –, wonach dieses
Berechnungsverfahren – mit diesem Ergebnis – beim
KfW-Verwaltungsrat anzuwenden ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Gremium im Sinne dieses Beschlusses!)


Jetzt, wo es einmal nicht Ihrer Interessenlage entspricht,
stellen Sie dieses Verfahren infrage. Herr Kollege Beck,
Sie führen Ihre Fraktion mit Ihrer Argumentation auf ei-

8956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Manfred Grund


(A) (C)



(D)(B)

nen sehr abschüssigen Pfad. Sie führen Ihre Fraktion er-
kennbar ins parlamentarische Abseits und die Gewalten-
teilung und die parlamentarische Demokratie ins Elend.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Ich fordere die Fraktion der Grünen, die hier so stark
vertreten ist, auf: Schließen Sie sich dem Antrag der an-
deren Fraktionen an. Bleiben Sie beim bewährten Ver-
fahren. Lassen Sie sich von Volker Beck nicht in die Irre
führen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Petra Ernstberger [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708110600

Nach diesen beiden Erklärungen kommen wir nun zur

Abstimmung, und zwar zunächst über den Wahlvor-
schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/4176. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvor-
schlag ist mit der Mehrheit des Hauses abgelehnt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wie früher! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Gott sei Dank wie früher!)


Wir stimmen nun über den Wahlvorschlag der Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Druck-
sache 17/4177 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenom-
men.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf. Es handelt sich um
Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne De-
batte.

Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist, zum Zusatzpunkt 2 a:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Richtlinien zur konzerninternen Entsendung
und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten

– Drucksache 17/4190 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4190 mit dem Titel
„Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur
Saisonarbeit sozial gerecht gestalten“ an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim In-
nenausschuss. Die Fraktion der SPD wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD – Federführung beim Ausschuss für
Arbeit und Soziales – abstimmen. Wer stimmt für diesen
Vorschlag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP – Federführung
beim Innenausschuss – abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.

Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen.

Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie Zusatz-
punkte 2 b und 2 c:

42 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im
Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsi-
cherheitsgesetz und zur Änderung des Verwal-
tungskostengesetzes

– Drucksache 17/3983 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungs-
und Hochschulsystems in Afghanistan

– Drucksache 17/3866 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Kerstin Müller (Köln), Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Den friedenspolitischen und krisenpräventi-
ven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Dienstes jetzt umsetzen

– Drucksache 17/4043 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8957

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Fritz Kuhn, Dr. Harald Terpe, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt
und ambulanter medizinischer Behandlung
schließen

– Drucksache 17/2924 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales

ZP 2 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsät-
zen für multinationale Unternehmen stärken

– Drucksache 17/4196 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbesserung der Versorgung der im Beitritts-
gebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen

– Drucksache 17/4195 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a bis 43 o sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 j auf. Es handelt sich um
Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 43 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Post- und Telekommunika-
tionssicherstellungsrechts und zur Änderung te-
lekommunikationsrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/3306 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/4054 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/3306 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Frak-
tion und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.

Tagesordnungspunkt 43 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann,
Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne-
ten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Existenzgründungen aus Forschung und Wis-
senschaft fördern – Für einen starken deut-
schen Innovationsstandort

– Drucksachen 17/3480, 17/4115 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4115, den Antrag der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3480
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.

Tagesordnungspunkt 43 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsab-
kommen vom 12. Dezember 2006 zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten einerseits und dem Königreich

(Vertragsgesetz Europa 8958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen – EuromedLuftvAbkG-Marok)


(A) (C)


(D)(B)


– Drucksache 17/3121 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/4181 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Gottschalck

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4181, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/3121 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Tagesordnungspunkt 43 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl,
Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates zur Verhü-
tung und Bekämpfung von Menschenhandel
und zum Opferschutz sowie zur Aufhebung
des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates

(Ratsdok. 8157/10)


hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes

Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz
stärken

– Drucksachen 17/2344, 17/4247 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Jerzy Montag

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4247, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/2344 für erledigt zu erklä-
ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung (1. Ausschuss)


Änderung der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages

hier: Beratungsfrist bei Beschlussempfehlun-

(§ 90 GO-BT)


– Drucksache 17/4166 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 43 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht

– Drucksache 17/4240 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkte 43 g bis 43 o sowie Zusatz-
punkte 3 a bis 3 j. Wir kommen zu den Beschlussemp-
fehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 43 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 181 zu Petitionen

– Drucksache 17/4020 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 181 ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 43 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 182 zu Petitionen

– Drucksache 17/4021 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Auch Sammelübersicht 182 ist einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 43 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 183 zu Petitionen

– Drucksache 17/4022 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 183 ist angenommen mit den

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8959

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthal-
tung von Bündnis 90/Die Grünen.

Tagesordnungspunkt 43 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 184 zu Petitionen

– Drucksache 17/4023 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 184 ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 43 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 185 zu Petitionen

– Drucksache 17/4024 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Die
Sammelübersicht 185 ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 43 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 186 zu Petitionen

– Drucksache 17/4025 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 186 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-
men der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.

Tagesordnungspunkt 43 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 187 zu Petitionen

– Drucksache 17/4026 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Ge-
genstimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.

Tagesordnungspunkt 43 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 188 zu Petitionen

– Drucksache 17/4027 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen
und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 189 zu Petitionen
– Drucksache 17/4028 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 189 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.

Zusatzpunkt 3 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 190 zu Petitionen
– Drucksache 17/4215 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 190 ist einstimmig angenommen.

Zusatzpunkt 3 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 191 zu Petitionen
– Drucksache 17/4216 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 191 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 3 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 192 zu Petitionen
– Drucksache 17/4217 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 192 ist einstimmig angenom-
men.

Zusatzpunkt 3 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 193 zu Petitionen
– Drucksache 17/4218 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke und Enthaltung des Bünd-
nisses 90/Die Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 3 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 194 zu Petitionen
– Drucksache 17/4219 –

8960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 194 ist einstimmig angenom-
men.

Zusatzpunkt 3 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 195 zu Petitionen

– Drucksache 17/4220 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Die Linke angenommen. Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen hat dagegen gestimmt.

Zusatzpunkt 3 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 196 zu Petitionen

– Drucksache 17/4221 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 196 ist bei Gegenstimmen der SPD-
Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-
genommen.

Zusatzpunkt 3 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 197 zu Petitionen

– Drucksache 17/4222 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-
men der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.

Zusatzpunkt 3 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 198 zu Petitionen

– Drucksache 17/4223 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? –
Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.

Zusatzpunkt 3 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 199 zu Petitionen

– Drucksache 17/4224 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Sammelüber-
sicht 199 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-
men.

Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP:

Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Thomas Gebhart von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort. – Ist er nicht da? Ich darf ein-
mal die Geschäftsführung der CDU/CSU-Fraktion fra-
gen, wo der Redner ist.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Nächster Redner! – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sprachlos und kopflos! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Kopflos beim Klimaschutz!)


Herr Kollege Gebhart, Sie sind als erster Redner auf-
gerufen. Deswegen wäre es gut, wenn Sie sich die Zeit
nehmen könnten, zum Rednerpult zu kommen.


(Heiterkeit)


Bitte schön, Sie haben das Wort.


Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1708110700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herzlichen Dank für die Einladung und die Auffor-
derung, hier zu sprechen.


(Heiterkeit)


Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Ergeb-
nisse von Cancún. Die Ergebnisse übertreffen die Erwar-
tungen. Am Ende wurde ein ganzes Paket von wichtigen
Punkten beschlossen. Entscheidend ist: Alle sind an
Bord. Entscheidend ist auch: Der Prozess hin zu welt-
weiten verbindlichen Vereinbarungen über die Mengen-
begrenzung bei den Treibhausgasemissionen kann wei-
tergehen.

Wer sich gefragt hat – ich gestehe, auch ich habe mich
das zwischenzeitlich kritisch gefragt –, was solche Kon-
ferenzen eigentlich bringen, und dann am Ende diese
Schlussnacht von Cancún erlebt hat, in der sich so etwas
wie ein Gemeinschaftsgefühl und eine unglaublich posi-
tive Stimmung herausgebildet haben, die zu diesem Er-
gebnis beigetragen haben, der hat die Frage so beantwor-
ten können: Diese Konferenzen haben ihren Wert.

Ein maßgeblicher Erfolgsfaktor – ich denke, da sind
wir uns alle einig – war die mexikanische Konferenzlei-
tung. Sie war ausgezeichnet. Aber auch die deutsche
Bundesregierung hat einen unglaublich positiven Beitrag
geleistet. Die Rolle der Bundesregierung vom Anfang
bis zum Ende der Verhandlungen war hilfreich und au-
ßerordentlich gut. Das Ansehen Deutschlands in der in-
ternationalen Klimaschutzpolitik – dies ist in allen Ge-
sprächen mit Delegationen anderer Länder deutlich
geworden – ist außerordentlich hoch. Deswegen ist es an
dieser Stelle auch einmal angebracht, der Bundesregie-
rung, insbesondere dem Bundesumweltminister, und den

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8961

Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)

Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich zu dan-
ken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auch
sehen, dass das, was in Cancún beschlossen worden ist,
noch nicht ausreicht, um am Ende die Probleme lösen zu
können. Also stellt sich die Frage: Was ist zu tun? Ich
will nur drei Punkte nennen.

Erster Punkt. Der Prozess über die Vereinten Natio-
nen muss selbstverständlich fortgeführt werden.

Zweiter Punkt. Es ist völlig klar: Auch wenn Europa,
wenn Deutschland alleine die Probleme nicht wird lösen
können, so ist es dennoch ein Teil unserer Verantwor-
tung, dass wir unseren Beitrag zur Lösung dieser Pro-
bleme leisten. Deshalb ist es richtig, dass sich die Bun-
desregierung und dieses Parlament beim Energiekonzept
entschlossen haben, bis 2020 zu einer Reduktion der
Treibhausgasemissionen um 40 Prozent zu kommen.
Nun ist es an der Europäischen Union, mit einer Reduk-
tion um 30 Prozent nachzuziehen. Das ist möglich. Das
ist geboten. Es ist auch – das füge ich ausdrücklich
hinzu – in unserem ureigenen ökonomischen Interesse,
dass unsere europäischen Wettbewerber möglichst ähnli-
che Verpflichtungen eingehen, wie wir es in Deutschland
tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der dritte Punkt. Es muss uns gelingen, die Klima-
schutz- und die Umweltschutzziele in echten Einklang
mit Wohlstand und Wachstum zu bringen. Der Schlüssel
dazu liegt in technologischen Innovationen.

Deutschland ist heute in vielen Bereichen der Techno-
logie führend. Wir müssen diesen Weg konsequent wei-
tergehen. Das ist eine große Herausforderung für die
nächsten Jahre. Zugleich ist es aber auch eine große
wirtschaftliche Chance. Wir werden auf diese Art und
Weise auch die Arbeitsplätze von morgen schaffen und
sichern können.

Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Technolo-
giekooperation in den Ergebnissen von Cancún einen so
großen Stellenwert einnimmt. Das ist etwas Bemerkens-
wertes und durchaus Neues.

Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich einen
Punkt herausgreifen. Es ist gut, dass durch die Be-
schlüsse von Cancún dem Thema „Anpassung an die
Folgen des Klimawandels“ ein genauso hoher Stellen-
wert beigemessen wird wie dem Klimaschutz an sich.
Wir haben viele Gespräche mit Delegationen geführt,
insbesondere auch von Entwicklungsländern. Es ist da-
bei sehr deutlich geworden, wie diese Länder teilweise
schon heute enorm unter bestimmten Folgen des Klima-
wandels leiden.

Ich will nur dieses eine Beispiel nennen: Tief beein-
druckend waren für mich die Schilderungen einer jungen
Frau aus dem Tschad. Sie hat uns sehr eindringlich deut-
lich gemacht, dass im Tschad in diesem Sommer Re-
kordtemperaturen von sage und schreibe 50 Grad Cel-
sius erreicht wurden. Sie hat auf eine besonders
eindrucksvolle Weise geschildert, was dies für das all-
tägliche Leben der Menschen dort bedeutet. Für den, der
dies verinnerlicht und ernst nimmt, ist klar: Das Thema
„Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ ist min-
destens genauso wichtig wie der Klimaschutz an sich.

Deswegen werden wir beide Wege – sowohl Maßnah-
men zum Schutz des Klimas als auch Maßnahmen und
Hilfen im Hinblick auf die Anpassung an die Folgen des
Klimawandels – angehen, und zwar in aller Konsequenz.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708110800

Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1708110900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich will ausdrücklich sagen, dass wir eine große Über-
einstimmung in diesem Hause darin haben, die Ergeb-
nisse von Cancún zu begrüßen. Ich will auch ausdrück-
lich sagen, dass wir uns fraktionsübergreifend – ich
glaube, so kann man das sagen – und sehr solidarisch da-
für eingesetzt haben, dass diese Ergebnisse zustande ge-
kommen sind.

Ich habe zwei beeindruckende Erfahrungen aus Can-
cún mitgebracht.

Die erste beeindruckende Erfahrung ist die, die auch
Herr Dr. Gebhart schon geschildert hat. Es ist nämlich
deutlich geworden, dass jenseits der Zahlen, die wir uns
anschauen – dort steht dann, wie groß die Temperaturer-
höhung schon gewesen ist und wie der Anstieg des CO2-
Gehalts aussieht –, der Klimawandel konkret stattfindet
und für ganz viele Menschen auf der Welt Realität ist.
Wir haben dort mit vielen Delegationen geredet, und
man könnte dem Beispiel aus dem Tschad ganz viele
Beispiele aus Zentralamerika, von vielen Inselstaaten
und aus Bangladesch hinzufügen.

Die zweite Erfahrung ist, dass sich viele Staaten auf
der Welt völlig unabhängig davon, was in diesem UN-
Prozess passiert, auf den Weg gemacht haben, sich die-
ser Herausforderung zu stellen. Viele Staaten entwickeln
völlig unabhängig vom UN-Prozess eine unheimlich dy-
namische Technologiepolitik.

Meine Sorge ist, dass die Europäische Union und
letztlich auch Deutschland in diesem Prozess zurückblei-
ben. Wir sind sicherlich noch vorne – gar keine Frage –,
aber die Dynamik ist so groß, dass wir in dem Moment,
in dem Länder wie Brasilien, Südkorea, China und an-
dere neben uns sind, sie möglicherweise nur kurz sehen,
während sie ganz schnell an uns vorbeiziehen, weil wir
unsere Politiken nicht entsprechend weiterentwickeln.
Das ist jedenfalls meine Sorge.

Ich glaube, das wichtigste Ergebnis von Cancún war,
dass diejenigen, die hier national und in Europa als
Bremser und gar als Klimaskeptiker auftreten, jetzt in

8962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Frank Schwabe


(A)



(D)(B)

ihre Schranken verwiesen werden. Auch deswegen war
Cancún unglaublich wichtig.

Ich würde nicht so weit gehen, wie das der Umwelt-
minister getan hat, und von einem sehr großen Erfolg re-
den. Das hat der Umweltminister ja gesagt. Ich würde
sagen, es war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu ei-
nem sehr großen Erfolg. Dieser Fortschritt muss dann
dementsprechend in Durban kommen.

Es wird nicht verwundern, dass wir völlig unter-
schiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Rolle der
Europäischen Union und auch der Rolle Deutschlands
haben. Es ist ganz zweifellos so, dass wir hohe Anerken-
nung im internationalen Klimaprozess genießen, gar
keine Frage. Allerdings glaube ich, dass dies eine Aner-
kennung ist, die auf der Politik der vergangenen 20 Jahre
basiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage ausdrücklich 20 Jahre, weil daran auch Um-
weltminister der CDU beteiligt waren. Mein Eindruck ist
allerdings, dass wir mittlerweile ins Mittelfeld zurück-
fallen. Die deutsche Delegation und die Verhandler wa-
ren natürlich hervorragend; man kann ihnen nur danken.
Die Rolle allerdings, die Deutschland insgesamt und
auch der Umweltminister gespielt haben, ist aus meiner
Sicht schlichtweg nur noch mittelmäßig.

Das hat aber auch Gründe. Ich will das gar nicht dem
Herrn Minister persönlich zuschreiben. Einer der
Gründe ist, dass man auf einer solchen Konferenz natür-
lich nur das verhandeln kann, was man zu Hause hier im
Hohen Hause beschlossen bekommt und dorthin mitneh-
men kann. Da gibt es einen großen Rucksack; der Herr
Minister hat mit Blick auf Durban und auch das, was
dorthin mitgenommen werden muss, das Bild des Ruck-
sacks gewählt.

Meiner Meinung nach gibt es zwei Dinge, die schwer
im Rucksack von Herrn Röttgen liegen. Das eine sind
die Ziele, ist die Frage des Anhebens des europäischen
Ziels auf 30 Prozent, worüber es in der Koalition Unei-
nigkeit gibt. Das andere ist die Frage, ob die Mittel, die
wir für den Finanztransfer zur Verfügung stellen, neu
und zusätzlich vorgesehen worden sind. Ich kann Ihnen
dazu nur sagen: Auf der linken Seite des Hauses haben
Sie die Zustimmung für diese Politik. Ob Sie die Zustim-
mung auch auf der anderen Seite des Hauses haben, wird
sich in den nächsten Wochen erweisen müssen.

In der Europäischen Union müssen wir jetzt in Rich-
tung 30-Prozent-Ziel gehen, jenseits dessen, was BDI
und VCI schon wieder in Pressemitteilungen verkünden.
Ich glaube, dass sie schon vor der Konferenz vorbereitet
worden sind, dass man auf ein Scheitern gehofft und
dann gleich verkündet hat, in der Europäischen Union
dürfe es die 30 Prozent auf gar keinen Fall geben.

Meines Erachtens gibt es drei Gründe, jetzt diese
30-Prozent-Reduzierung anzustreben. Erstens haben wir
in Cancún mit dem Beschluss festgestellt, dass die Ki-
oto-Staaten sich zu einer Reduktion in einem Spielraum
von 25 bis 40 Prozent verpflichten. Ich glaube, dass wir
deswegen unsere Ziele anheben müssen. Wir sind mitt-
lerweile bei minus 17,3 Prozent in der Europäischen
Union angelangt. Vielleicht sind wir in zwei, drei Jahren
bei den minus 20 Prozent, die wir uns bisher als Ziel ge-
setzt haben. Dann würde jeglicher ökonomischer Anreiz
entfallen, in eine Klimaschutzpolitik zu investieren. In
der Tat: Wie wollen Sie eigentlich die Klimaschutzziele
in Deutschland von minus 40 Prozent, die wir unterstüt-
zen, erreichen, wenn der Teil der CO2-Reduzierung, die
auf dem Emissionshandel basiert, nicht möglich ist, weil
der Emissionshandel auf dem 20-Prozent-Ziel basiert?

Ihren Rucksack erleichtern müssen Sie zweitens auch
im Hinblick auf die Frage nach den neuen und zusätzli-
chen Mitteln. Vielleicht kann Frau Staatssekretärin dazu
gleich noch Erhellendes sagen. Zum Glück ist es so ge-
wesen, dass dies die Verhandlungen in Cancún am Ende
nicht zu sehr belastet hat. In Durban wird das ganz an-
ders sein; dort wird nach drei Jahren abgerechnet, 2010
bis 2012, inwieweit die Mittel neu und zusätzlich sind,
die Sie damals in Kopenhagen versprochen haben.

Ich will mit Frau Espinosa, der Außenministerin von
Mexiko, schließen, die als Präsidentin der COP allum-
fassend gelobt wurde:

Es ist Zeit, gemeinsame Anstrengungen zu unter-
nehmen, bevor es zu spät ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708111000

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä-

rin Gudrun Kopp.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gu
Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1708111100


Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen!
Cancún war zum Glück nicht Kopenhagen. Ich möchte
Ihnen vorweg einmal ein paar andere Eindrücke schil-
dern, nämlich vom Hergang der Gesamtkonferenz, weil
ich das für nicht unwichtig halte, wenn ich nach Durban
im kommenden Jahr sehe und dabei feststelle, was nötig
ist.

Meiner Einschätzung nach war Cancún ein Meister-
stück an Verhandlungsdiplomatie; denn man muss ein-
fach sehen: Es galt zunächst einmal, verloren gegangenes
Vertrauen wieder aufzubauen, und es galt, viele Skeptiker
einzufangen. Ich empfand es als positiv, dass im Vorfeld
dieser Konferenz die Messlatte der Einigung nicht zu
hoch gelegt wurde, also kein großer Medienhype, keine
Riesenerwartungen, sondern einfach nur – das habe ich
schon bei meiner Ankunft und bei den verschiedenen Ge-
sprächen mit den unterschiedlichen Ländergruppen oder
auch mit den NGOs gespürt – eine Atmosphäre der kon-

(C)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8963

Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp


(A) (C)



(D)(B)

struktiven Zusammenarbeit herrschte. Viele Länder woll-
ten zu einem soliden Ergebnis kommen, zu einem Ergeb-
nis, das geeignet ist, die Brücke zur nächsten Konferenz
in Durban 2011 zu bauen, die sehr wichtig ist.

Ich fand es beispielsweise sehr wichtig, dass nicht
schon am Anfang fertige Papiere zur Choreografie der
Verhandlungen vorgelegt wurden, die die verhandelnden
Delegationen dann nur noch abnicken sollten, wie es bei
den zahlreichen internationalen Konferenzen in der Ver-
gangenheit häufig der Fall war. Das fand ich sehr klug,
bis hin zu der Tatsache, dass die Reihenfolge der Redner
bei der Eröffnung und auch anschließend mit sehr gro-
ßem Einfühlungsvermögen und internationalem Ge-
schick gewählt wurde.

Diese Art der Verhandlungsführung war sehr gut und
ist, hoffe ich, beispielhaft für die nächste große Runde,
die vor uns liegt. Das lag auch an der mexikanischen
Außenministerin Espinosa, die ihre Arbeit hervorragend
gemacht hat. Aber auch die UN haben dabei ebenso wie
die Europäische Union und wir als Bundesregierung eine
sehr gute Rolle gespielt. Ich danke Minister Röttgen
noch einmal herzlich für die sehr gute und vertrauens-
volle Zusammenarbeit. Ich habe nichts anderes erwartet.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Europa hat bei diesen Verhandlungen mit einer
Stimme gesprochen. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
Das war bei den bisherigen internationalen Konferenzen
längst nicht immer so.

Ich habe mich gefreut, dass heute zu Beginn der Dis-
kussion Klimaschutz und Entwicklungszusammenarbeit
endlich zusammen diskutiert werden. Denn ich finde, die
Entwicklungszusammenarbeit wurde in diesem Zusam-
menhang in der Tat in der Vergangenheit unterbelichtet.
Minderung von Treibhausgasen, Anpassung an den Kli-
mawandel und Waldschutz waren die drei Hauptthemen.
Ich finde es gut, dass wir damit ein gehöriges Stück wei-
tergekommen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir sind als Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung mit vier zentralen
Anliegen in die Verhandlungen gegangen. Dazu gehören
erstens die Sicherstellung der Kohärenz von Klima-
schutzfinanzierung und Entwicklungsfinanzierung und
zweitens die Verabschiedung eines Rahmenwerkes für
die Anpassung an den Klimawandel, das auch die Ent-
wicklungsländer und deren Eigenverantwortung stärken
sollte. Die Vereinbarung eines Mechanismus für den
Waldschutz in Entwicklungsländern ist ein weiterer sehr
wichtiger Punkt. Damit kann man hocheffizienten Kli-
maschutz erreichen. Außerdem streben wir die Stärkung
des Kohlenstoffmarktes in Entwicklungsländern durch
Ausweitung auf Industriesektoren und die kosteneffi-
ziente Standardisierung von Verfahren an. Ich denke, all
dies war sehr zufriedenstellend.

Wir als BMZ sind sehr zufrieden mit den substanziel-
len Fortschritten, die erzielt wurden. Wie ich schon ge-
sagt habe, ist es gelungen, eine Vereinbarung auf den
Weg zu bringen, die die Beiträge der Schwellenländer
zur Minderung der Treibhausgase ebenso wie die Eini-
gung auf eine maximale Klimaerwärmung um 2 Grad
einbezieht. Auch dies ist ein wichtiger Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Im Pflichtenheft für die nächste Verhandlung stehen der
Schutz tropischer Wälder, die Aufforstung und die Bio-
diversität. All das ist wichtig.

Ich will aber auch etwas zur Finanzierung sagen. Sehr
geehrte Herren und Damen, die Bundesregierung wird
ihre Zusage einhalten, zusätzliche Finanzmittel für die
Klimaschutzfinanzierung bereitzustellen. Mit dem
jüngst beschlossenen Bundeshaushalt 2011 ist ein weite-
rer Baustein gesichert. Deutschland wird in den Jahren
2010 bis 2012 rund 4 Milliarden Euro für Klimaschutz-
vorhaben in Entwicklungsländern bereitstellen, davon
1,26 Milliarden Euro im Rahmen der in Kopenhagen an-
gekündigten zusätzlichen Fast-Start-Finanzierung. Über
80 Prozent dieser Summe werden vom BMZ bereitge-
stellt. Damit ist das Entwicklungsministerium der wich-
tigste deutsche Finanzier klimapolitischer Maßnahmen.
Auch das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich habe mich gefreut, beispielsweise bei Gesprächen
mit den NGOs, auch zu hören, dass sie unsere Definition
von „neu und zusätzlich“ – es gibt keine internationale
Definition dafür – sehr gut gefunden und gelobt haben.


(Frank Schwabe [SPD]: Das ist doch grober Unfug!)


– Sie waren bei den Gesprächen nicht dabei; bleiben Sie
ganz ruhig.


(Frank Schwabe [SPD]: Sie waren ja auch nicht lange da!)


Die Transparenz ist wirklich sehr gut. Wir haben auf
dieser Konferenz unsere Daten veröffentlicht und genau
dargestellt, wie sich die Finanzierung zusammensetzt.
Dies wurde ausdrücklich begrüßt. Im Übrigen sind wir
als Deutsche die Einzigen, die eine solche Transparenz
bei der Mittelbereitstellung aufweisen.


(Frank Schwabe [SPD]: Schon wieder Unfug! Denken Sie an die niederländische Seite!)


Auch das, finde ich, muss erwähnt werden und ist sehr
positiv.


(Beifall bei der FDP)


Des Weiteren wurde der Green Climate Fund, also der
Grüne Fonds, der bereits in Kopenhagen beschlossen
wurde, in ein neues Instrument überführt. Er wurde for-
mell eingerichtet, und es wurde ein vorläufiger Verwal-
tungsrat eingesetzt, der den Fonds aufbauen und gestal-
ten soll. Auch dies ist ein wichtiger Punkt auf dem Weg
zu einer wirklich kohärenten Arbeit.

8964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp


(A) (C)



(D)(B)

Zum Schluss, sehr geehrte Herren und Damen, liebe
Kollegen und Kolleginnen, freut es mich, darauf auf-
merksam machen zu können, dass just in diesem Mo-
ment die Unterzeichnung des Fusionsvertrags der GIZ,
der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit,
läuft. Das bedeutet, dass wir mit einer so effizient gestal-
teten Durchführungsorganisation, wie es die neue GIZ
sein wird, und zusammen mit der KfW, was die Finan-
zierung der Projekte angeht, unsere Projekte effizient am
Markt platzieren werden. Auch dies findet – jedenfalls
habe ich es so erfahren – große internationale Anerken-
nung. Damit sind wir auch bei der Durchführung von
Projekten mit Blick auf die Entwicklungsländer und die
Schwellenländer, die von uns eine solche effiziente Zu-
arbeit erwarten, auf einem guten Weg.

Ich kann nur hoffen, dass dieser Fortschritt, diese
große Leistung, die wir erbracht haben, wirklich genü-
gend gewürdigt wird. Ich danke allen hier im Hause, die
daran sehr gut mitgearbeitet haben, dass diese Fusion zu-
stande kommen konnte. Das war keine Selbstverständ-
lichkeit – das wissen Sie –, sondern ein großer Kraftakt.
Ich bin stolz darauf, freue mich darüber, dass dies gelun-
gen ist, und hoffe, dass wir mit gutem Gepäck zur nächs-
ten Klimakonferenz nach Durban gehen und dort die Er-
gebnisse erzielen können, die wir uns noch wünschen;
denn es bleibt noch viel zu tun. Wir wollen diese Arbeit
gemeinsam angehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708111200

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708111300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Einschätzung zu Cancún scheint selbst bei den meisten
Umweltverbänden durchaus positiv zu sein, sieht man
einmal vom BUND ab. Aber ich halte diesen Jubel nicht
für angebracht; denn an den Verhandlungsergebnissen
kann es ja wohl nicht liegen. Ich habe mich gefragt, wa-
rum sie das so einschätzen, und ich vermute, dass es eher
eine Art Stockholm-Syndrom ist. Sie erinnern sich: Gei-
seln solidarisieren sich in scheinbar aussichtsloser Lage
gelegentlich mit den Geiselnehmern. Als Geiselnehmer
bezeichne ich diejenigen, die mittlerweile seit Jahrzehn-
ten blockieren.

Hier geht es nicht um die Regierung von Bolivien,
sondern um die USA, Japan und verschiedene Ölstaaten,


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


also um Staaten mit enormer Wirtschaftskraft und ho-
hem CO2-Ausstoß. Es geht um Länder und Interessen-
gruppen, die der Weltgemeinschaft zynisch ihre Regeln
aufzwingen. Sie heißen: Umweltschutz nur so weit, wie
es Konzerne und Establishment zulassen. An diesen
Staaten orientieren sich dann gerne Schwellenländer, die
nicht einsehen, warum gerade sie auf Wachstum verzich-
ten sollen. Der Pro-Kopf-Ausstoß zum Beispiel von
China und Indien ist wesentlich niedriger. Das müssen
wir immer wieder betonen. Die EU will erst dann in Vor-
leistung gehen, wenn andere Industriestaaten mitziehen.
Die Bundesregierung unterstützt noch immer diese pas-
sive Haltung. Frau Kanzlerin Merkel blockiert hier. Die
Opposition muss Herrn Röttgen mächtig unterstützen,
damit das noch etwas wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für uns ist der wichtigste Schluss aus Cancún: Die
EU muss sich sofort und bedingungslos verpflichten, bis
2020 den CO2-Ausstoß um 30 Prozent, ausgehend vom
Jahr 1990, zu reduzieren. 20 Prozent sind ein Witz.
Wenn wir die Beschlüsse von Cancún ernst nehmen,
dann müssen wir einsehen, dass eine höhere Reduktion
dringend notwendig ist. Was heißt das? Die Industrie-
staaten sollen – darüber ist in Cancún diskutiert worden –
bis 2020 ihren Ausstoß um 25 bis 40 Prozent mindern.
Das steht so nicht drin, wie fälschlich immer behauptet
wird, sondern es ist nur als Kenntnisnahme der entspre-
chenden Stelle im UN-Klimabericht formuliert. Aber ich
denke, das sollte uns reichen.

In Wirklichkeit liegt der Jubel über Cancún nur an
den heruntergeschraubten Erwartungen. Das Ergebnis ist
leider sehr mager. Das 2-Grad-Ziel wird nach Kopenha-
gen und G 8 nun schon zum dritten Mal gefeiert. Welch
ein Fortschritt nach 15 Jahren Forschung über Klima-
wandel und seine Folgen! Ich halte es auch für eine tolle
Leistung, dass konkrete Minderungsziele wieder vertagt
wurden. Es gibt keine konkreten Minderungsziele. Im
Dokument lässt sich kein einziges verbindliches Ziel fin-
den, nicht einmal für Gruppen von Ländern, auch kein
Langfristziel bis 2050. Schauen Sie sich die freiwilligen
Zusagen an! Wenn ich diese addiere, dann komme ich
auf eine Klimaerwärmung um 3,5 Grad; es kann auch
mehr sein. Herzlichen Glückwunsch!

Im Übrigen hat Bolivien recht: Bei einer Erwärmung
um 2 Grad wird der Meeresspiegel langfristig um 2 bis
3 Meter steigen. Die Abgeordneten von Bangladesch ha-
ben uns klargemacht, dass 18 Prozent der Landesfläche
versinken werden, wenn der Meeresspiegel um nur
1 Meter steigt. Das betrifft 30 Millionen Menschen. Das
sind keine Peanuts. Was passiert dann mit den Umwelt-
flüchtlingen?

In Cancún blieb wieder vollkommen offen, welche
Industriestaaten die Klimaschutzmaßnahmen und An-
passungsmaßnahmen im globalen Süden in welcher
Höhe bezahlen sollen. Frau Kopp, was Sie gesagt haben,
ist nicht richtig. Fragen Sie einmal Oxfam und andere
Initiativen! Wir reden wieder über ungedeckte Schecks.

Es gab auch keine Einigung zur Finanzierung des glo-
balen Waldschutzes. Dafür wurde die unsägliche CO2-
Verpressung als vermeintliches Klimaschutzinstrument
etabliert. Im Dokument steht, es werde sichergestellt,
dass zwischen dem Auslaufen des Kioto-Protokolls 2012
und einem neuen Abkommen keine Lücke entsteht.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8965

Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)

Auch das ist nur Prosa. Auf die Ratifizierung hat die UN
überhaupt keinen Einfluss. Beim Kioto-Abkommen hat
sie sieben Jahre gedauert.

Zum Schluss. Es mag sicherlich kleine Fortschritte in
Cancún gegeben haben. Der größere Erfolg ist für uns,
dass der UN-Prozess nicht gänzlich gescheitert ist. An-
gesichts dessen, was klimapolitisch notwendig wäre,
muss ich aber sagen, dass wir nach 18 Jahren Klimadi-
plomatie leider wieder am Anfang stehen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708111400

Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott von Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Dr. Hermann E. Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708111500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind

in Cancún gerade noch einmal davongekommen. Dass es
überhaupt ein Ergebnis gegeben hat, grenzt an ein Wun-
der. Ich möchte mich zunächst dem Lob einiger Kolle-
ginnen und Kollegen für die gute Betreuung, die wir
durch das BMU erfahren haben, anschließen. Die Be-
treuung war hervorragend. Ebenso loben möchte ich die
Verhandlerinnen und Verhandler aus dem BMU und an-
deren Ministerien, die trotz großem Schlafdefizit enorm
viel geleistet haben.

Die in Cancún erzielten Ergebnisse sind allerdings
nur das absolute Minimum. Sie besagen nichts weiter,
als dass der multilaterale Prozess im Rahmen der UN
fortgesetzt wird. Das ist auch gut so. Erträglich ist dieses
Ergebnis allerdings nur vor dem Hintergrund des totalen
Scheiterns.

Das Ergebnis von Cancún als Durchbruch zu bezeich-
nen, so wie es der zuständige Minister Röttgen getan hat,
ist allerdings etwas sehr kühn; denn außer einem Auftrag
zum Weitermachen ist ja nichts entschieden. Es fehlt al-
les, was ein gutes Verhandlungsmandat ausmacht. Es
fehlt zum Beispiel an einem Endtermin für die Verhand-
lungen. Soll denn nächstes Jahr in Durban ein Durch-
bruch gelingen und ein Abkommen abgeschlossen wer-
den oder erst im Jahr 2012 in Katar oder, hoffentlich, in
Südkorea? Es fehlt auch jeglicher Hinweis auf die recht-
liche Form. Was soll denn eigentlich verhandelt werden?
Ein rechtlich verbindlicher Vertrag, so wie es sinnvoll
erscheint, oder doch nur ein einfacher Beschluss ohne
Durchschlagskraft? Den Rest der Defizite spare ich mir.

Herr Minister, es tut mir leid, aber das Ergebnis von
Cancún ist nicht nur kein Durchbruch. Es besteht auch
keine Veranlassung dafür, dass Sie sich diesen winzig
kleinen Erfolg an die stolzgeschwellte Brust heften. Im
Gegenteil, dass die Ergebnisse von Cancún so schwach
sind, dafür sind auch Deutschland und die EU verant-
wortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Symptomatisch dafür war Ihre Rede vor dem Plenum
in Cancún. Das war eine typische klimapolitische Sonn-
tagsrede: schön, aber ohne Substanz. Es war wie immer.
Sie blinken „grün“ mit ökologischer Modernisierung
und biegen dann ab ins schwarz-gelbe Nirwana. Wo war
denn das Bekenntnis zum 30-Prozent-Ziel für die Euro-
päische Union? Nach der Konferenz haben Sie sich wie-
der dazu bekannt. Warum nicht dort, wo es wirklich Sinn
macht, um die Verhandlungen zu beeinflussen? Wer hat
Ihnen das herausgestrichen?

Ich glaube Ihnen und Ihrem Hause ja, dass Sie etwas
bewegen wollen, aber Sie müssen sich auch darum be-
mühen, sich innerhalb Ihres Kabinetts ab und zu durch-
zusetzen. Im letzten Jahr ist erschreckend wenig gesche-
hen in der Klimapolitik. Sie haben sich vermutlich vor
allem auf die Wahl für den Vorsitz Ihres Landesverban-
des konzentriert. Das haben Sie erreicht. Jetzt ist es wie-
der an der Zeit, sich auf Ihren eigentlichen Job als Um-
weltminister zu konzentrieren;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)


denn ein erfolgreicher Minister muss sich wenigstens ab
und zu mit seiner Position auch in der Bundesregierung
wiederfinden. Darum ist es jetzt Zeit, sich um Ihren Kol-
legen Brüderle zu kümmern, der Ihnen permanent in die
Suppe spuckt, hier in Berlin und auch in Brüssel. Sie
müssen sich von diesem Klotz am Bein befreien, sonst
wird Ihre Klimapolitik nicht fliegen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wolfgang Kubicki, der Fraktionsvorsitzende der FDP
in Schleswig-Holstein, hat den Zustand der FDP mit der
Spätphase der DDR verglichen. Abgesehen davon, dass
geschichtliche Vergleiche in der FDP eine etwas un-
glückliche Tradition haben, sind die Parallelen in der
Klimapolitik offensichtlich. Da ist zum Beispiel der ab-
solute Realitätsverlust, der große Teile der FDP bei der
Klimapolitik auszeichnet, wo der drohende Klimawan-
del überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Und
da ist zweitens das verkrampfte Festhalten an alten
Strukturen. Der Wirtschaftsminister verteidigt verbissen
die alten fossil-atomaren Energiesysteme und bekämpft
die Wende hin zu einer solaren Gesellschaft auf Basis
der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz. Das
erinnert doch sehr an die Spätphase der DDR, meine Da-
men und Herren.

Herr Kollege Kauch, es reicht nicht, ab und zu die
Opposition im Bundestag das Fürchten zu lehren. Das
können Sie sehr gut, das werden Sie gleich wieder unter
Beweis stellen. Aber Herr Minister Brüderle ist Ihr
Minister, und es ist an der Zeit, dass Sie ihn einmal zur
Ordnung rufen, wenn Ihnen etwas am Erfolg des Klima-
schutzes liegt und – so darf ich hinzufügen – wenn Ihnen
etwas daran liegt, nicht in der Spätphase der FDP mit in
den Strudel gerissen zu werden.

Die Ergebnisse von Cancún sind kein Freibrief für
Nichtstun, sondern ein Auftrag zum entschlossenen
Handeln. Es muss Vorreiter geben, die den Worten auch
Taten folgen lassen. Wir brauchen deshalb eine Klima-
politik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Jetzt

(B)


8966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Hermann Ott


(A) (C)



(D)(B)

müssen die Partner für eine Klimaallianz geworben wer-
den – ohne die USA. Die können es aufgrund ihrer in-
nerpolitischen Lage und ihrer verfassungsrechtlichen
Vorschriften nicht leisten. Ich muss es noch einmal sehr
deutlich sagen: Wer ein Kioto-Folgeabkommen mit den
USA anstrebt, der will in Wirklichkeit überhaupt kein
Abkommen, oder er will es erst am Sankt-Nimmerleins-
Tag. Aber vorher ist Wahltag.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708111600

Das Wort hat jetzt der Bundesumweltminister

Dr. Norbert Röttgen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Wer in der Nacht die Erleichterung,
die Freude und – ich glaube nicht, dass es übertrieben
ist, es so zu sagen – das Glück in den Gesichtern von
Teilnehmern aus China, Indonesien, Indien, den USA,
Frankreich, Großbritannien, Deutschland gesehen hat
– manche Teilnehmer haben es schon geschildert –, der
hat ein Gefühl dafür bekommen, was erreicht worden ist.
Wenn es gelingt, eine Katastrophe zu vermeiden, ist viel
erreicht. Darum würde ich Sie bitten, darüber einfach
noch einmal nachzudenken.

Wer das erlebt hat, wer das mitempfunden hat und
wer die Dimension der Menschheitsherausforderung
Klimawandel verinnerlicht hat, muss, glaube ich, zu dem
Schluss kommen: Ihre kleinkarierte, provinzielle Mäke-
lei ist einfach deplatziert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt noch eine typische Sonntagsrede!)


– Hören Sie doch einmal zu! Es gibt vielleicht ein paar
Themen und Herausforderungen, die wirkliche Mensch-
heitsfragen sind,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Eben! Die müssen aber geklärt werden!)


die zu bedeutend sind, als dass man sie immer nur unter
der sozialdemokratisch-provinziellen Brille betrachten
dürfte. Vielleicht gibt es einmal eine größere Dimension,
der man gerecht werden will.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Vielleicht sollten Sie da auch mal aktiver werden! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen Sie mal die grüne Brille auf!)


– Zu Ihnen komme ich gleich noch etwas genauer.
Es gibt überhaupt nichts schönzureden. Es ist ein
Gradmesser für die Glaubwürdigkeit, dass wir hier, die
Politik, Kriterien des Erfolgs vorher benennen und sie
nachher anwenden. Das habe ich zum Beispiel zu
Kopenhagen im letzten Jahr auch gemacht. Ich habe vor-
her die Erfolgsbedingungen benannt, habe darum in Ko-
penhagen und auch hier im Bundestag erklärt: Das ist
weitgehend gescheitert. – Es gibt keinen Grund, das zu
beschönigen. Es war am Ende sogar noch etwas mehr,
als ich gesagt habe; denn der sogenannte Copenhagen
Accord hat sich als lebensfähig erwiesen. Wir haben
jetzt darauf aufgebaut.

Ich habe vor Cancún gesagt: Es wird keinen Durch-
bruch geben. Den zu erwarten, ist nicht realistisch. Was
wir erreichen können, ist ein ausgewogenes Paket von
einzelnen Entscheidungen, für die sich alle bewegen
müssen. Das ist dann ein fairer Kompromiss. Das ist
machbar. Das ist aber überhaupt nicht gesichert.

Wer tagelang und auch nächtelang dort gesessen hat
und dann miterlebt hat, dass förmlich in letzter Minute
die mexikanische Präsidentschaft einen Vorschlag von
einer Qualität und Reichweite vorgelegt hat, mit dem die
Versammlung nicht mehr gerechnet hat, der weiß zu
schätzen, was erreicht worden ist. Dafür, dass es erreicht
worden ist, bin ich dankbar, weil es gemeinsam erreicht
worden ist.

Herr Ott, man braucht sich nicht mit Feststellungen zu
beschäftigen, die keiner getroffen hat. Ich habe immer
gesagt: Es ist kein Durchbruch zu erwarten. Ich habe nie
behauptet, dass es ein Durchbruch war. Wenn Sie mir
jetzt unterstellen, ich hätte es doch gesagt, drückt das ein
bisschen Ihre intellektuelle Not aus, sich mit dem Ergeb-
nis zu beschäftigen. Warum haben Sie die? Weil Sie aus
parteipolitischen Gründen nicht bereit sind, sich mit der
Qualität dieses Ergebnisses, aber auch mit der Problema-
tik, die ihm innewohnt, seriös zu beschäftigen. Legen
Sie doch diese Haltung ab!


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt seien Sie mal so nachdenklich wie in Cancún! Das ist eine rein defensive Strategie!)


Das wird Ihnen nicht gerecht und dem Thema schon gar
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was haben wir erreicht? Wir haben erreicht, dass die
Staatengemeinschaft ihre Handlungsfähigkeit bewiesen
hat. Das ist deshalb eine gewichtige Feststellung, weil
das Scheitern an dieser Stelle möglich war. Wenn nicht
nur Bolivien dagegen gewesen wäre, sondern auch ein
anderer Staat, dann wäre schon sehr fraglich gewesen,
ob es zu diesem Ergebnis hätte kommen können. Das
zeigt, wie dünn das Eis ist. Mit deutschen Belehrungen,
dass am deutschen Wesen die Welt zu genesen habe,
kommen wir leider international nicht weiter.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber früher war die Rolle Deutschlands viel besser! Sie haben die Rolle Deutschlands runtergeregelt! Früher war Deutschland ein aktiver Part, heute nicht mehr!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8967

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

Davon können wir uns wechselseitig überzeugen. Die
Welt ist etwas komplizierter, als dass Sie immer gleich
wissen könnten, wie es für alle auf der Welt zu machen
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dass die Staatengemeinschaft die Handlungsfähigkeit
– fast würde ich es so sagen – wiederhergestellt hat, er-
halten hat, ist von enormer Bedeutung, weil ein Zeichen
unserer Zeit ist, dass sich globale Herausforderungen er-
geben, dass es aber noch keine globale Handlungsmacht,
keine globale Handlungsstruktur gibt. Die muss sich erst
entwickeln – mit aller Mühsal, bei allen Interessenge-
gensätzen, die vorhanden sind. Dass es gelungen ist, die
Interessen wirtschaftlicher Art, politischer Art, machtpo-
litischer Art, zusammenzubringen, ist ein wesentlicher
Teil des Erfolgs.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man macht das seit 15 Jahren!)


Aber es ist auch ein inhaltlicher Erfolg. Zum ersten
Mal ist das 2-Grad-Ziel von der Staatengemeinschaft
förmlich anerkannt worden.

Darüber müssen sich doch alle freuen, die am Klima-
schutz interessiert sind. Wie kann man das ignorieren?
Wir haben das erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die entsprechenden Instrumente sind mit erarbeitet
worden, ob es der internationale Waldschutz ist, ob es
die Technologiekooperation ist, ob es die Langfristfinan-
zierung ist oder ob es die Transparenzregeln sind. Das ist
gut. Darauf können wir weiter aufbauen.

All das ist selbstverständlich mit europäischer Beteili-
gung geschehen. Ich habe es auch hier schon mehrfach
ausgeführt: Die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union allein haben nicht die Fähigkeit und nicht
die Macht, diesen Prozess zu steuern. Wir müssen unsere
Möglichkeiten und unseren Willen einbringen, damit
Europa mit einer klaren Stimme spricht und entschieden
gegen den Klimawandel antritt. Das ist die Aufgabe
deutscher Politik. Europa ist auch die Interessenvertre-
tung unseres deutschen Nationalstaates. Und so verhal-
ten wir uns. Europäische Interessenvertretung dient auch
unseren Interessen, und so haben wir das eingebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, es ist ein Erfolg, dass es seit 1997, seit
Kioto, zum ersten Mal wieder eine dermaßen umfas-
sende völkerrechtliche Entscheidung gibt. Das ist seit lan-
gen, langen Jahren nun wieder der Fall. Vor uns liegt auch
weiterhin ein schwieriger Prozess, aber nicht, weil etwa
eine unwillige deutsche Bundesregierung die 40 Pro-
zent CO2-Reduzierung einseitig und unkonditioniert be-
schlossen hätte. Es ist doch nicht das Problem, dass die
deutsche Regierung nicht vorangeht.


(Frank Schwabe [SPD]: Bloß nicht umsetzt!)


Die Frage ist doch: Schaffen wir es, daraus einen welt-
weiten Akkord, ein weltweites Niveau abzuleiten?
Wir sind die Vorreiter, und wir wollen die Vorreiter in
diesem Prozess sein. Das ist doch überhaupt keine Frage.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verlieren doch die Vorreiterrolle! Sie geben die Vorreiterrolle auf!)


Wir haben eine Vorreiterrolle, weil wir ein Energiekon-
zept zu einer Treibhausgasreduzierung von 80 bis
95 Prozent vorgelegt haben.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das 30-Prozent-Ziel?)


Der Primärenergieverbrauch soll um 50 Prozent – das
haben wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen –
reduziert werden. Das konnten wir darlegen. Deutsch-
land ist in Europa als Treiber akzeptiert, und Europa ist
weltweit als Treiber akzeptiert. Das ist ohne jede Frage
unsere Politik, die wir betreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch schon lange vorbei! Das ist seit zwei Jahren vorbei! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 30 Prozent! Nehmen Sie dazu mal Stellung!)


Aber es ist trotzdem nicht so einfach. Wir als deut-
sche Bundesregierung wollen ein international einheitli-
ches, rechtlich verbindliches Abkommen für alle Staa-
ten. Das ist unsere Position, aber das ist noch nicht der
Stand der Verhandlungen.

Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen können, dann
sind wir auch für eine zweite Verpflichtungsperiode des
Kioto-Protokolls bereit. Das ist schon ein „Weniger“,
weil es bedeutet, dass man die zwei rechtlichen Stränge
beibehält. Aber wir stellen auch inhaltliche Anforderun-
gen an die zweite Verpflichtungsperiode. Sie muss auch
wirksam sein. Die heiße Luft, die im aktuellen Kioto-
Protokoll noch enthalten ist, muss beseitigt werden. Da-
rüber müssen wir mit den Ländern reden, die sie als ih-
ren rechtlichen Besitzstand verteidigen wollen, etwa
Russland.

Aber das Kioto-Protokoll selber und unsere Bereit-
schaft, weiterzumachen, lösen das Problem nicht. Das
Kioto-Protokoll deckt 27 Prozent – nicht 100 Prozent –
der globalen CO2-Emissionen ab. Das heißt, wir brau-
chen die Beiträge der großen Emissionsländer – China
und USA –, damit sich hier etwas bewegt.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden Sie nicht kriegen, Herr Röttgen! Das wissen Sie genau!)


Das alles führt uns zu der entscheidenden Frage des
Selbstverständnisses. Was ist das Selbstverständnis von
Klimaschutzpolitik? Das ist in der Tat die entscheidende
Frage. Ich möchte diese Frage – wie immer – eindeutig
beantworten: Erstens. Es ist eine moralische Verpflich-
tung, die Lebensgrundlagen dieses Planeten für unsere
Kinder und Enkelkinder und die nächsten Generationen
zu erhalten. Das ist eine Verpflichtung, die wir heute zu
erfüllen haben; dieser Aufgabe wollen wir gerecht wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


8968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Bundesminister Dr. Norbert Röttgen


(A) (C)



(D)(B)

Zweitens. Es ist eine große Chance, Lebensqualität zu
sichern. Es ist eine große Wachstumschance auf der Ba-
sis einer anderen Vorstellung von Wachstum, nämlich
der qualitativen Vorstellung von Wachstum, durch neue
Technologien Marktanteile, Wettbewerbsfähigkeit, Ar-
beitsplätze zu erhalten. Es ist unsere europäische und
deutsche Chance.

Darum stimme ich zum Beispiel mit dem Bundes-
außenminister völlig überein, der öffentlich gesagt hat:
Europa und Deutschland sollen und werden ihre Vorrei-
terrollen behalten. Das ist unsere Position, weil wir He-
rausforderer sein wollen. Wir wollen vorangehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also Westerwelle gegen Brüderle?)


Dazu gehört, das 40-Prozent-Ziel, das wir vorgegeben
haben, auf die EU auszuweiten. Deshalb trete ich seit
langem in der EU ausdrücklich dafür ein, eine europäi-
sche Position zum 30-Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist
meine Position in Europa und hier in Deutschland.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie setzen sich nicht durch!)


Es liegt in unserem Interesse, dass die anderen euro-
päischen Länder Anschluss halten. Aber auch dabei ist
nicht die Frage, ob Deutschland dazu bereit ist, sondern
die Frage ist, ob die anderen Länder in Europa dazu be-
reit sind.


(Frank Schwabe [SPD]: Nein, das ist nicht die Frage! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen sich erst einmal dafür einsetzen!)


Man braucht die anderen als Partner, um auf diesem Ge-
biet etwas zu erreichen. Das ist das Problem. Wir sind
bereit, voranzugehen, weil wir darin eine Verpflichtung
und eine Chance sehen. Es stellt erstens außenpolitisch
eine Chance für uns dar, weil Klimaschutz eines der
wichtigsten außenpolitischen Aktionsfelder Deutsch-
lands ist. Es stellt zweitens wirtschaftlich eine Chance
für uns dar, weil wir nur durch entsprechende Anreize
und Ambitionen unsere Technologieführerschaft behal-
ten, die ja Basis für unseren Wohlstand und unser
Wachstum ist. Es ist drittens notwendig, um den nötigen
Klimaschutzbeitrag zu leisten. Das werden wir tun. Da-
für setzen wir uns ein.

Die Kunst besteht allerdings nicht darin – das haben
die mexikanische Präsidentschaft und ihre Außenminis-
terin gezeigt –, die Welt zu belehren, dass man weiß, wie
es geht, und alle anderen das zu akzeptieren haben, son-
dern die Kunst besteht darin, offen und gesprächsbereit
zu sein und die anderen partnerschaftlich von unseren
Vorstellungen zu überzeugen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie müssen auch etwas erreichen!)


Diese Demut müssen wir als Deutsche und Europäer
schon aufbringen. Auf dieser Basis werden wir unsere
Vorreiterrolle zum Wohl des Klimaschutzes und zum
Wohle unseres Landes aktiv ausfüllen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aktiv aufgeben!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708111700

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1708111800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bundesumweltminister, was ist los? So empfindlich
haben Sie selten reagiert. Anscheinend sind die Argu-
mente, die hier von der Opposition gekommen sind,
doch nicht so falsch.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Quatsch! Mein Gott!)


Ich glaube, es geht hier nicht um Belehrung der Welt
durch Deutschland, sondern es geht hier um das Wahr-
nehmen einer Vorbildfunktion, um aktive Schritte in der
Klimapolitik.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das erwarten wir!)


Hier versagen Sie augenblicklich, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es bringt nichts, in großen Hochglanzbroschüren
2050er-Szenarien zu malen. Hier geht es vielmehr um
Förderung von Erneuerbaren statt Wiedereinstieg in die
Atomtechnologie. Sie sind somit auf dem völlig falschen
Weg. Auf der einen Seite so zu handeln, zugleich aber
schöne Worte zu machen, das bringt nichts. Das merkt
auch die internationale Staatengemeinschaft.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)


Wenn Sie, Herr Bundesumweltminister, uns vorwer-
fen, unseriös zu handeln, dann frage ich mich, ob es
nicht erst recht unseriös war, als die Parlamentarische
Staatssekretärin eben gesagt hat, die Bundesregierung
sei in Cancún dafür gelobt worden, dass sie ihre Verspre-
chungen bezüglich zugesagter Mittel in Sachen Entwick-
lungshilfe wahrgemacht habe. Nennen Sie uns, Frau
Kopp, bitte die NGO, nennen Sie bitte uns die Organisa-
tion, die so etwas gesagt hat. Alle Verlautbarungen gin-
gen in die Richtung, dass die Bundesregierung massiv
dafür kritisiert wurde, dass sich von den zugesagten Mit-
teln bislang erst 10 Prozent in den Haushalten wiederfin-
den.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8969

Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

Das ist eben die Diskrepanz zwischen Taten und Wor-
ten, Herr Bundesumweltminister. Es geht hier nicht um
Belehrung, sondern um aktives Vorgehen. Das misst sich
nicht an Worten. Vielmehr muss Deutschland der inter-
nationalen Staatengemeinschaft klarmachen, dass es die-
sen Weg wagt. Ich nehme Ihnen Ihre Ziele und Ihre
Absichten ab, vor allem auch Ihre christliche Verbun-
denheit, und sehe die Größe der Aufgabe, die Sie vor
sich haben. Ich glaube, dass auch Sie momentan
Schmerzen verspüren angesichts der Konstellation, in
der Sie sich bewegen. Als Daheimgebliebener kann ich
Ihnen sagen, was hier in den Tagen, in denen Sie in Can-
cún verhandelt haben, los gewesen ist. Wir haben das an
mehreren Stellen problematisiert.

So hat die umweltpolitische Sprecherin der CDU/
CSU-Fraktion, Frau Dött, wieder einmal nachgelegt. Sie
hat in einem Interview mit der Zeit gesagt, es sei ver-
dächtig, wenn sich alle immer nur auf den IPCC berufen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt?)


Ihr Berater sei wohl bleich geworden – so schreibt es je-
denfalls der Reporter der Zeit – und hat dann gesagt, das
wissenschaftliche Gremium IPCC sei schon Maßstab des
Handelns. Wie hat darauf die umweltpolitische Spreche-
rin reagiert? Sie hat mit dem Kopf geschüttelt.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ach ja? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Den Kopf geschüttelt!)


Das sind Dinge, die man problematisieren muss. Es kann
doch nicht sein, dass die umweltpolitische Sprecherin
der größten Koalitionsfraktion das Regelwerk, auf dem
alles aufbaut, an dem Hunderte von Wissenschaftlern in
zwischenstaatlichen Organisationen arbeiten, infrage
stellt.

Das ist die Widersprüchlichkeit, die außen ankommt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kauch – Sie reden nach mir –: Ihr Kollege
Martin Lindner – nicht der Generalsekretär – sprach von
dogmatischen Schreihälsen, die so tun würden, als ob die
Eisbären wieder in Norddeutschland Einzug hielten,
wenn wir die CO2-Ausstöße senken würden. Ich weiß
nicht, wozu die 14 Prozent, die Sie bei der Bundestags-
wahl bekommen haben, geführt haben. Da sind anschei-
nend Leute ins Parlament gespült worden, die die ele-
mentare Menschheitsaufgabe nicht begreifen und hier
Sprüche von sich geben, die völlig unangemessen sind,
zumal wenn Sie in Cancún deutsche Interessen vertreten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP)


Das entscheidende Argument lautet – Herr Döring, da
können Sie auch noch lernen, Ihre Sprüche sind nicht
viel besser –, dass es wie in der UNO darum geht, dass
man Allianzen schmiedet, die über Legislaturperioden
hinausreichen. Deshalb sage ich Ihnen: Wir werden Ih-
nen die Hände reichen. Deswegen werden wir Ihnen im
nächsten Jahr konkret anbieten: Lassen Sie uns einen
Entschließungsantrag auf den Weg bringen, in dem sich
der Deutsche Bundestag dafür ausspricht, dass die Euro-
päische Union unkonditioniert ein 30-Prozent-Minde-
rungsziel aufgreift.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hatten wir schon! Haben die abgelehnt!)


Lassen Sie uns ein Klimagesetz verabschieden, in das
wir nicht Minderungsziele für 2020 oder 2030 hinein-
schreiben, sondern in dem wir festlegen, kontinuierlich
alle zwei oder drei Jahre zu überprüfen, wie weit wir
sind. Lassen Sie uns miteinander in die Haushalte hi-
neinschreiben, wie wir den Schwellen- und Entwick-
lungsländern in den kommenden Jahren helfen wollen.

Das sind konkrete Schritte und keine Hochglanzan-
kündigungen für 2050. Dann haben wir, so glaube ich,
Chancen, auch in Durban wieder eine Vorreiterrolle ein-
zunehmen. Das wünsche ich jedenfalls uns und der
Menschheit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708111900

Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1708112000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht

um die Zukunft des Planeten. Es geht um die Zukunft
der kommenden Generationen. Dieser Opposition fällt
jedoch in dieser Debatte nichts anderes ein, als innen-
politische Beschimpfungen zu bringen. Das wird dem
Anspruch nicht gerecht, den wir an die Klimapolitik zu
stellen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Billig!)


Richtig billig war zum Beispiel der Kollege Ott mit
sachfremden Attacken, die nichts mit der Klimapolitik
zu tun haben. Wie die Geier warten Sie offensichtlich
darauf, dass die FDP in sich zusammenfallen wird. Das
hat Ihnen die Fraktionsführung wahrscheinlich aufge-
schrieben.


(Frank Schwabe [SPD]: Das machen Sie von selbst! Da müssen wir gar nichts tun!)


dass man das jetzt in jeder Debatte sagen muss.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir arbeiten nicht so! Das machen Sie vielleicht!)


Ich kann Ihnen nur sagen: Sie werden niemals die Er-
ben der FDP werden; nicht nur deswegen, weil es keinen
Erbfall gibt, sondern auch, weil Sie höchstens die Erb-

8970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

schleicher wären. Denn Sie sind doch nichts anderes als
eine grünlackierte Linkspartei mit bürgerlicher Maske.

Die Kraft der Freiheit hat 150 Jahre Tradition. Die
Kraft der Freiheit wird diese Krise ebenso überstehen,
wie sie jede Krise zuvor überstanden hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Frank Schwabe [SPD]: Ihr werdet bloß nicht mehr dabei sein!)


– Sie können hier ja noch nervöser werden.


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


Ich fand es zum Beispiel total peinlich, was Herr
Gabriel gemacht hat. Herr Gabriel hat am letzten Don-
nerstag während der Weltklimakonferenz ein Interview
gegeben, in dem er erklärte: Dabei wird nichts rauskom-
men. Im Übrigen ist die EU schuld, und deswegen so-
wieso die Bundesregierung. – Das hat es noch nie gege-
ben, dass ein Parteivorsitzender einer deutschen, im
Parlament vertretenen Partei der Bundesregierung derart
in den Rücken fällt, und das, während die Bundesregie-
rung in Cancún um ein Ergebnis für den Klimaschutz
ringt. Das ist stillos, gerade für den Amtsvorgänger von
Herrn Röttgen. Das ist peinlich,


(Frank Schwabe [SPD]: Lesen Sie bitte Ihre Reden nach, Herr Kauch!)


und es zeigt: Der Opposition geht es nicht um das Klima.
Ihnen geht es nur darum, Ihr innenpolitisches Süppchen
zu kochen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie gerade! Gehen Sie einmal darauf ein!)


Das ist so etwas von schäbig. Es nützt nichts, aber es
schadet den deutschen Interessen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland wird Vorreiter im Klimaschutz sein. Der
Bundesaußenminister hat das für die Bundesregierung
sehr deutlich gemacht. Die beschlossenen CO2-Minde-
rungsziele – 40 Prozent bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis
2050, national und einseitig – sind ein Signal der Glaub-
würdigkeit Deutschlands insbesondere gegenüber den
Schwellen- und Entwicklungsländern. Die anderen euro-
päischen Staaten sind gefordert, ein vergleichbares Si-
gnal zu geben. Deshalb muss die EU ihr Ziel der Verrin-
gerung der CO2-Emissionen um 20 Prozent vor der UN-
Klimakonferenz 2011 anheben. Dies erfordert auch, die
Einigung von Cancún anzuerkennen, dass die Industrie-
staaten eine Minderung der CO2-Emissionen um 25 bis
40 Prozent erreichen sollen.


(Beifall der Abg. Christian Hirte [CDU/CSU] und Abg. Frank Schwabe [SPD])


Bliebe es beim 20-Prozent-Ziel der EU und beim
40-Prozent-Ziel Deutschlands, so müssten in Deutsch-
land vorrangig die Sektoren, die nicht vom Emissions-
handel erfasst werden, die Emissionseinsparungen er-
bringen; dadurch hätten vor allem die Verbraucher die
Kosten zu zahlen, weil der Emissionshandel europäisch
organisiert ist. Wir sagen: Wir brauchen eine Balance der
Anstrengungen von Wirtschaft und privaten Haushalten.
Dabei müssen Produktionsverlagerungen in energiein-
tensiven Branchen vermieden werden. Wir müssen hier
die Balance finden. Deswegen werden wir uns dafür ein-
setzen, dass sich die Europäische Union hier bewegt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Frank Schwabe [SPD] – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das Ihrem Parteigenossen Herrn Brüderle!)


Wir müssen nicht nur über die großen Linien streiten:
Werden die Emissionsminderungsziele der Industrielän-
der erhöht? Welche Beiträge werden vonseiten der
Schwellen- und Entwicklungsländer geleistet? Wir müs-
sen auch einige Detailverhandlungen zu Aspekten füh-
ren, die zunächst einmal sehr technisch wirken, aber
große Auswirkungen darauf haben werden, wie effektiv
der Klimaschutz sein wird. Das betrifft insbesondere die
Reform des sogenannten Clean-Development-Mechanis-
mus, also die Frage, inwiefern deutsche Unternehmen,
die ihre Auslandsprojekte umweltverträglich ausgestal-
ten, ihren dort erzielten Beitrag zur Senkung der CO2-
Emissionen auf die entsprechenden Verpflichtungen im
Inland anrechnen können. Die FDP – das sage ich sehr
deutlich – will diesen Mechanismus; sie will, dass er
stärker genutzt wird, dass er gerade in den Ländern, für
die er eigentlich gedacht ist – beispielsweise in den afri-
kanischen Staaten –, tatsächlich handhabbar und unbüro-
kratischer wird.

Auf der anderen Seite verlangen wir, dass es nicht
zum Ökodumping kommt. Deshalb sage ich an dieser
Stelle sehr klar: Wir müssen bei der Frage der Unabhän-
gigkeit derjenigen, die diese Projekte überprüfen, nach-
verhandeln. Wir müssen mehr Rechtsstaatlichkeit in die
Verfahren bringen, sodass sich Unternehmen gegen Ent-
scheidungen der Verwaltung wehren können. Ich sage
auch ganz eindeutig: Das Dumping mit Industriegasen
wie HFC-23 muss ein Ende finden, wenn nicht im UN-
Prozess, dann auf europäischer Ebene.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708112100

Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1708112200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Kauch, Sigmar Gabriel hat als Umweltminister für
eine Politik gestanden, erneuerbaren Energien in
Deutschland und weltweit zum Durchbruch zu verhel-
fen. Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so aufblasen,
wenn Sie hier als Vertreter der FDP sprechen, einer Par-
tei, die im Augenblick nicht nur in Deutschland ins
Steinzeitalter der Atomkraft zurückkehrt, sondern die
Atomkraft auch in Entwicklungs- und Schwellenländern
mit Hermesbürgschaften befördern will. Ich wäre froh,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8971

Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)

wenn die Bundesregierung und Sie als Vertreter einer
maßgeblichen Koalitionsfraktion zur vernünftigen Um-
weltpolitik Sigmar Gabriels zurückkehren und nicht mit
Anschuldigungen um sich werfen würden, die der Sache
wirklich nicht dienen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Auswirkungen des Klimawandels auf Entwick-
lungsländer sind dramatisch. Drei Viertel der ärmsten
Menschen leben im ländlichen Raum und sind dringend
darauf angewiesen, dass sie für die Bewässerung ihrer
Felder genug Regenwasser oder Schmelzwasser von den
Gletschern zur Verfügung haben. Bereits jetzt nehmen in
Afrika die Dürren zu; Ernteerträge sinken, Menschen
verhungern. Hinzu kommt die Abschmelzung von Glet-
schern in Hochgebirgen wie dem Himalaya oder den An-
den. Das kann in Ländern wie Indien dazu führen, dass
dort die Reisversorgung in Zukunft ernsthaft gefährdet
wird. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass in
Cancún die Schaffung eines Fonds für Anpassungsmaß-
nahmen in Entwicklungsländern in Höhe von 100 Mil-
liarden US-Dollar beschlossen wurde.

Die ärmsten Menschen dieser Welt haben – ich weiß
das, weil ich schon seit 2002 in diesem Haus Entwick-
lungspolitik betreibe – auf internationalen Konferenzen
aber schon ganz oft Versprechen erhalten. Im Jahr 2000,
auf der Millenniumskonferenz, haben sie gehört, dass bis
zum Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkom-
mens der Industriestaaten für die Armutsbekämpfung
zur Verfügung gestellt werden sollen; im Jahr 2010 soll-
ten es 0,51 Prozent sein. Auch die Bundesregierung hatte
sich dazu verpflichtet.

Frau Staatssekretärin Kopp, was ist passiert? Ihr
Haus, Entwicklungsminister Niebel hat das Versprechen
gebrochen. Wir haben 2010 die Marke gerissen. Wir sind
nicht bei 0,51 Prozent angekommen, und Sie legen eine
Finanzplanung bis 2014 vor, nach der die Mittel für die
Entwicklungszusammenarbeit gekürzt werden. Deswe-
gen können wir Ihnen nicht glauben, wenn Sie sagen,
dass Sie das, was Sie jetzt in Cancún versprochen haben,
halten werden. Sie haben leider immer wieder bewiesen,
dass Sie internationale Versprechen brechen. Das müs-
sen wir hier anprangern; denn den ärmsten Menschen in
den Entwicklungsländern muss es gut gehen, und mit
warmen Worten allein können wir das warme Wetter
nicht bekämpfen. Es müssen endlich Taten folgen.


(Beifall bei der SPD)


Am Dienstag war der ehemalige UN-Generalsekretär
Kofi Annan im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung zu Gast. Er hat ausdrücklich
gesagt – ich zitiere –: Ich möchte keine neuen Verspre-
chen von Deutschland zur Bekämpfung der Armut und
des Klimawandels, sondern ich möchte die Einhaltung
der bisher gegebenen Versprechen. – Frau Staatssekretä-
rin Kopp, Sie sagen, dass zusätzliche Mittel für den Kli-
maschutz aufgebracht werden sollen, 80 Prozent davon
beim BMZ. Da muss man sich schon fragen, wo Sie das
Geld hernehmen möchten und wie Sie das mit den Ent-
wicklungsgeldern verrechnen wollen. Wenn Sie alle Mit-
tel, wie es jetzt der Fall ist, auf die Mittel für die Ent-
wicklungszusammenarbeit anrechnen – im Fachchine-
sisch heißt das ODA-Quote –, dann bedeutet das, dass
am Ende zwei Drittel der 0,7 Prozent, falls wir dieses
Ziel überhaupt jemals erreichen, aus Ausgaben für Um-
welt- und Klimaschutz bestehen und wir für die klassi-
sche Armutsbekämpfung nichts mehr übrig haben.


(Michael Kauch [FDP]: Wer war denn elf Jahre Entwicklungsminister? Welcher Partei gehörte er an?)


– In den Jahren, in denen wir an der Regierung waren,
Herr Kollege Kauch, haben wir die Mittel für die Ent-
wicklungszusammenarbeit – Stichwort: ODA-Quote –
von 0,26 Prozent auf faktisch 0,4 Prozent gesteigert. Wir
hätten die Mittel weiter erhöht, aber das ist mit Ihnen
nicht möglich gewesen.

Die sogenannten innovativen Finanzierungsinstru-
mente, die jetzt auch international in der Diskussion
sind, zum Beispiel die Flugticketabgabe, haben Sie zwar
eingeführt, aber Sie nutzen sie zur Stopfung von Haus-
haltslöchern und eben nicht zur Stärkung des Bereichs
Umwelt und Entwicklung.


(Michael Kauch [FDP]: Für kommende Generationen! Die Schuldenberge, die Sie aufgetürmt haben!)


Zu dem Instrument, bei dem die meisten Mittel zu holen
sind – es geht um die Einführung der Finanztransaktion-
steuer –, sagt ausgerechnet Ihr Entwicklungsminister
Niebel bei uns im Ausschuss: Was interessiert mich, was
die Kanzlerin sagt; auch wenn die Kanzlerin das mittler-
weile will, bin ich dagegen. – Da frage ich: Wie will man
glaubhaft machen, dass man das Versprechen, das in
Cancún gegeben wurde, einhält, obwohl man die Mittel,
die in Kopenhagen zugesagt wurden, nicht zur Verfü-
gung gestellt hat, obwohl man Mittel in Höhe von 0,51
bzw. 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die
Entwicklungszusammenarbeit nicht in den Haushalt ein-
gestellt hat? Dazu sage ich nur: Es scheint so zu sein,
dass wieder viel versprochen wird, am Ende aber leider
wieder die ärmsten Menschen dieser Erde in die Röhre
schauen werden. Sie gehen leer aus. Sie werden sich der
Fluten, der Witterungsstürme und der Dürren nicht er-
wehren können. Deswegen werden wir weiter dafür
kämpfen, dass den Versprechen auch Taten folgen. Lei-
der ist diese Regierung auf einem ganz schlechten Weg.
Wir werden alles dafür tun, dass das anders wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708112300

Das Wort hat der Kollege Andreas Jung von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


8972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010


(A) (C)



(D)(B)


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1708112400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will auf drei Fragen eingehen, die in dieser Debatte the-
matisiert wurden.

Die erste Frage lautet: War dieser Gipfel in Cancún
ein Erfolg? Zunächst einmal ist unstrittig, dass das, wo-
für wir als Bundesrepublik Deutschland stehen, dass das,
was wir in der EU gemeinsam wollen, nämlich ein inter-
national verbindliches Abkommen als Antwort auf einen
schneller voranschreitenden Klimawandel, auf diesem
Gipfel nicht erreicht werden konnte. Das wussten wir
alle schon während der Debatte hier vor dem Gipfel. An-
dererseits ist es aber so, dass das, was möglich war, dass
das, was auf dem Gipfel greifbar war, am Ende auch tat-
sächlich erreicht wurde. Das Wichtigste hat die Kanzle-
rin gestern in ihrer Regierungserklärung unterstrichen.

Es ist erstmals gelungen, das 2-Grad-Celsius-Ziel, also
die Begrenzung der globalen Erwärmung auf höchstens
2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, in ein
offizielles Dokument der Vereinten Nationen zu schrei-
ben. Sie haben es selber gesagt: Dieses Ziel konnte
15 Jahre lang nicht erreicht werden. Jetzt, im 16. Jahr, ist
es gelungen. Damit ist nach Ihrer eigenen Beschreibung
ein Fortschritt erzielt worden, über den wir uns, bevor
wir fragen, wie es gelingt, dies mit konkreten internatio-
nalen Maßnahmen zu unterlegen, zunächst einmal ge-
meinsam freuen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Darüber hinaus ist es gelungen – dies war in Kopen-
hagen angedacht worden –, einen Klimafonds einzu-
richten und die Verabredung zu treffen, dass ab 2020
100 Milliarden US-Dollar im Jahr in diesen Fonds flie-
ßen. Es gibt konkrete Verabredungen zur Anpassung, zur
Technologiekooperation und zum Waldschutz. Dies sind
ganz konkrete Ergebnisse und wichtige Schritte auf dem
Weg zu einem völkerrechtlich verbindlichen Abkom-
men; dies ist unser Ziel. Ich finde, das ist ein gutes Er-
gebnis.

Die Botschaft von Cancún heißt: Der internationale
Klimaschutzprozess geht weiter. Die Weltgemeinschaft
zerstreitet sich nicht und man verfolgt nicht nur egoisti-
sche nationalstaatliche Interessen, sondern – dies wird
unterstrichen – wir sind bereit, die Herausforderung des
Klimawandels gemeinsam anzugehen. Wir wollen ge-
meinsam zu einem Ziel kommen. Das ist das, was bei
diesem Gipfel erreicht werden konnte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Die zweite Frage ist: Wie konnte dieses Ergebnis, wie
konnte dieser Erfolg erreicht werden? Es ist immer so:
Ein Erfolg hat viele Väter. In diesem Fall sind es im
Zweifel alle Staaten, die zu frühmorgendlicher Stunde,
gegen 4 Uhr, in Cancún diesem Paket zugestimmt haben.
Wir wissen: Es gibt auch eine Mutter. Das ist die mexi-
kanische Außenministerin, die mit Herz, mit Hartnäckig-
keit und einem Hammerschlag zum Abschluss die Welt-
gemeinschaft in diplomatisch vorbildlicher Manier
zusammengeführt hat.
Ich finde, es ist unstreitig, dass einer der Väter dieses
Erfolges der deutsche Umweltminister, Dr. Norbert
Röttgen – an der Spitze der deutschen Delegation –, ist.


(Frank Schwabe [SPD]: Eijajei!)


Er hat für die Bundesregierung in seiner Plenumsrede in
Cancún herausgehoben, dass wir Klimaschutz vor allem
auch als wirtschaftliche Chance sehen und daraus Kon-
sequenzen gezogen haben. Wir haben in unserem Ener-
giekonzept verbindlich verankert – dies sind Taten, nicht
Worte –, bis 2020 und nicht erst langfristig bis 2050 den
Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland um 40 Pro-
zent zu reduzieren, und zwar egal was andere machen.
Damit wollen wir unsere Vorreiterrolle unterstreichen
und zeigen: Wir gehen voran und warten nicht auf die
anderen, die zögern oder möglicherweise noch bremsen.

Das zeigt – das wurde uns in vielen Gesprächen in
Cancún mit Delegationen aus aller Welt bestätigt –:
Deutschland wird nach wie vor als Vorreiter wahrge-
nommen. Deutschland ist Vorreiter in diesem internatio-
nalen Klimaprozess. Ich glaube, wenn jemand dies an-
ders wahrnimmt und von Mittelfeld spricht, wie es
Sigmar Gabriel getan hat, dann ist das nur so zu erklä-
ren, dass man so weit im Abseits steht, dass man nicht
mehr richtig mitbekommt, was vorne passiert.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Genau! – Frank Schwabe [SPD]: Abseits ist aber immer vorne, oder?)


Hier gilt es anzuknüpfen. Deshalb ist die dritte Frage:
Was passiert jetzt nach Cancún? Ich glaube, wir haben
mit diesen Schritten von Cancún die Grundlage für eine
neue Dynamik und eine Aufwärtsspirale in diesem inter-
nationalen Prozess geschaffen. Darauf müssen wir auf-
bauen. Deshalb bin ich der Meinung, dass jetzt der Zeit-
punkt gekommen ist, an dem sich die Bundesregierung
in der Europäischen Union klar dafür einsetzen sollte,
das Reduktionsziel von 20 auf 30 Prozent zu erhöhen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit leisten wir unseren Beitrag – nicht nur als
Deutschland, sondern auch als Europäische Union –, um
Vorreiter in diesem Prozess zu sein. Im Übrigen ist das
auch im deutschen Interesse. Wenn wir bei unserem un-
bedingten 40-Prozent-Ziel bleiben, die Europäische
Union aber bei dem bedingten 30-Prozent-Ziel bleibt,
wäre das Ergebnis, dass „scharfe“ Klimaziele in der
Bundesrepublik „weichen“ Vereinbarungen in der Euro-
päischen Union gegenüberstehen. Wir wollen, dass für
Deutschland und für die Europäische Union anspruchs-
volle, verbindliche und ehrgeizige Klimaziele vereinbart
werden und wir mit diesem Rückenwind gemeinsam
nach Durban fahren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN]: Überzeugen Sie einmal Ihre Kollegen!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8973


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708112500

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Marina

Schuster von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1708112600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Eines sollte jedem, spätestens seit Kopenha-
gen, klar geworden sein: Internationale Klimapolitik ist
längst nicht mehr nur Umweltpolitik. Seit der Konferenz
von Rio 1992 ist dieses Politikfeld vom Rande in den
Mittelpunkt der internationalen Diplomatie gerückt.
Auch das Auswärtige Amt hat daran seinen Anteil, ge-
rade wenn es um die Vorbereitung von Verhandlungspo-
sitionen geht, aber auch im Hinblick auf die Energieau-
ßenpolitik.

Verträge wie das Kioto-Protokoll haben weitrei-
chende Veränderungen zur Folge, für Gesellschaften und
für Ökonomien. Dabei geht es schon lange nicht mehr
nur um die Verminderung von Treibhausgasen. Vielmehr
ist damit auch ein umfassender globaler Interessenaus-
gleich verbunden. Diese Frage muss mit der Handels-
und Sicherheitspolitik verknüpft werden. Es ist wichtig,
dass wir dabei ressortübergreifend arbeiten.


(Beifall bei der FDP)


Das Ergebnis von Cancún ist nicht nur aus deutscher
und europäischer Sicht erfreulich, sondern es ist auch für
die Länder Afrikas eine gute Nachricht. Manche Kolle-
gen haben schon die Erfahrungen, die sie auf Reisen
nach Afrika gemacht haben, geschildert. Wir wissen
zum Beispiel, dass das südliche Afrika mit der weltweit
zweitgrößten Erwärmung konfrontiert sein wird. Man
kann die Folgen schon heute beobachten. Ich selbst habe
die Veränderungen der Biodiversität bei einer Reise nach
Südafrika, in die Kapregion, festgestellt. Insofern ist es
wirklich wichtig, dass wir in Cancún zu diesem Ergebnis
gekommen sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Klimawandel wird weitere Auswirkungen haben,
nicht nur auf die Regenzeiten. Es wird eine Zunahme
von Dürren geben, und es wird zu Ernteausfällen kom-
men. Das Problem der Wüstenbildung haben wir schon
in mehreren parlamentarischen Initiativen, auch in der
letzten Wahlperiode, deutlich gemacht. Hinzu kommen
Fehler in der Landwirtschaft, Monokulturen, Überwei-
dung und Abholzung. Das alles sind Probleme, die dazu
führen, dass Agrarflächen zu Wüsten werden.

Weitere Probleme sind die Wasserknappheit und der
fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser; wir haben
uns im Menschenrechtsausschuss schon über diese The-
men unterhalten. Nach wie vor sterben viel zu viele Kin-
der an den Folgen von unsauberem Trinkwasser. Hier
geht es um die existenziellen Fragen der Ernährungs-
sicherheit. Deswegen war es richtig und wichtig, im Ko-
alitionsvertrag zu verankern, dass die ländliche Entwick-
lung und der Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz die
Schlüsselsektoren unserer Entwicklungszusammenarbeit
sind.
Herr Kollege Raabe, ich füge hinzu: Das ist auch ein
Beitrag zur Armutsbekämpfung. Ich verstehe nicht, wa-
rum Sie sich in jeder Ihrer Plenarreden über Quoten auf-
regen.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Weil Sie die Quoten nicht einhalten!)


Als wir den Haushalt des BMZ von Ihnen übernommen
haben, betrug die ODA-Quote 0,36 Prozent, also weni-
ger als 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Den-
noch machen Sie hier jedes Mal auf dicke Hose und be-
haupten, wir würden unsere Versprechen nicht einhalten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Frank Schwabe [SPD]: Sie versprechen die Gelder doppelt!)


Unsere Politik ist konkret und transparent. Mit Er-
laubnis des Präsidenten zeige ich Ihnen ein Dokument
– ich kann es Ihnen nachher gerne überreichen –, in dem
zusammengestellt ist, wo sich die einzelnen Maßnahmen
wiederfinden.


(Frank Schwabe [SPD]: Sie haben es doppelt versprochen!)


Das sollte auch die Opposition anerkennen;


(Frank Schwabe [SPD]: Sie haben es doppelt versprochen!)


sie sollte sich freuen, dass dieses Ergebnis erzielt wor-
den ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doppelt versprochen ist dreimal gebrochen!)


Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, der
auch bei unseren Reisen nach Afrika immer wieder the-
matisiert wird. Die Abgeordneten, die wir dort treffen,
fordern uns immer wieder auf: Schickt uns eure Unter-
nehmer, die im Bereich erneuerbarer Energien tätig sind! –
In Afrika gibt es ein unglaublich großes Potenzial für er-
neuerbare Energien. Auf diesem Gebiet können wir
wirklich einen großen Beitrag leisten, auch zur dezentra-
len Stromversorgung. Im Bereich der Windenergie sind
ebenfalls Potenziale zu heben. Deswegen ist es wichtig,
dass wir ressortübergreifend arbeiten.

Es geht hierbei auch um einen Wissenstransfer, um ei-
nen Know-how-Transfer. Wir müssen bei der Ausbil-
dung von Ingenieuren, Facharbeitern und Technikern ak-
tiv sein. Wir müssen den Menschen das notwendige
Know-how zur Verfügung stellen, damit erneuerbare
Energien auch in Afrika zunehmend zum Einsatz kom-
men. Der Bedarf an Energie wird weltweit steigen, ge-
rade in Afrika. Erfreulicherweise verzeichnen viele Län-
der Afrikas ein Wirtschaftswachstum. Es ist wichtig,
dass wir diesen Ländern im Rahmen des Technologie-
transfers zur Seite stehen. Das BMZ führt zu diesem
Zweck sehr gute Projekte durch, die wir nur unterstützen
können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


8974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)

Von Cancún geht ein wichtiges Signal aus: Die Phase
der Stagnation und der gegenseitigen Schuldzuweisun-
gen muss jetzt vorbei sein. Wir müssen den neuen
Schwung nutzen, um weltweit verbindliche Vereinba-
rungen zu treffen. Wir müssen auf diesem Weg voran-
schreiten. Deutschland und die EU sind dabei Vorreiter.
Besonders wichtig ist, dass wir auch den Entwicklungs-
und den Schwellenländern partnerschaftlich begegnen.
An dieser Stelle setze ich auf unser ressortübergreifen-
des Konzept. Diesen Weg werden wir weiterhin unter-
stützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708112700

Das Wort hat der Kollege Josef Göppel von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1708112800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Schwung von Cancún hat bereits zu einem weiteren er-
freulichen Ergebnis geführt: Gestern hat das Europäi-
sche Parlament mit großer Mehrheit beschlossen, dass
das CO2-Einsparungsziel von 20 Prozent bis 2020 ver-
bindlich werden soll – das war es bisher nicht –, und die
Kommission aufgefordert, einen Richtlinienentwurf
dazu vorzulegen. Das zeigt, dass es jetzt in allen Ländern
wieder das Bewusstsein gibt, dass wir mehr zum Schutz
der Erde tun müssen, und wir können auch mehr tun.

Folgende Beobachtung habe ich bei meiner Teil-
nahme an der Konferenz von Cancún gemacht: Es gibt
eine Reihe konkreter Projekte zwischen Entwicklungs-
ländern und Industrieländern, aus denen ein Bewusstsein
dafür erwachsen ist, dass wir den Klimawandel bewälti-
gen und mehr Klimaschutz realisieren können. Aus den
konkreten Projekten entsteht dann auch die Bereitschaft,
in den Verhandlungen weitere Schritte zu gehen und zu-
zusagen.

Das hat sich insbesondere beim Waldschutz gezeigt,
auf den ich schwerpunktmäßig eingehen möchte. Der so-
genannte REDD-Mechanismus – das Programm zur Un-
terstützung von Entwicklungsländern bei der Walderhal-
tung – wurde in Abs. 70 der Vereinbarung von Cancún
festgeschrieben. Es heißt dort, dass Maßnahmen zum
Waldschutz gefördert und unterstützt werden. Zusam-
men mit dem Kollegen Andreas Jung habe ich mir einen
Tag lang auf Yucatán einen Wald der Maya angesehen
und bin dabei auf Folgendes besonders hingewiesen
worden: In diesen Wäldern leben Menschen, wenn auch
nur wenige. Es geht darum, die Waldschutzmaßnahmen
so anzulegen, dass die Menschen in den ländlichen Räu-
men bleiben und mit modernen Methoden eine nachhal-
tige Wirtschaft weiterführen.


(Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP])


Es geht darum, dass auch junge Leute in den ländli-
chen Gebieten der Entwicklungsländer für sich und ihre
Familien eine Zukunft sehen. Die Maya nutzen ihre
Wälder beispielsweise, indem sie immer wieder einen
einzelnen Baum heraussuchen und daraus wertvolle Mö-
belstücke machen. Mithilfe der mexikanischen Regie-
rung ist es der Dorfgemeinschaft, die ich besucht habe,
möglich geworden, eine neue Seilwinde anzuschaffen,
sodass die Bäume nicht mehr stückweise auf den Schul-
tern aus dem Wald herausgetragen werden müssen, son-
dern mit der Seilwinde herausgezogen werden können.

Das alles erinnert mich sehr an die ländliche Entwick-
lung in der Europäischen Union. Was machen wir in den
Programmen zur ländlichen Entwicklung in der EU? Wir
fördern kleinteilige Investitionen, soziale Einrichtungen
in den Dorfgemeinschaften und Einrichtungen zur Wert-
schöpfung im ländlichen Raum. Ganz ähnlich wurde bei
den Maya in Yucatán zum Beispiel eine Schreinerei ge-
fördert, in der die Produkte des eigenen Waldes weiter-
verarbeitet werden. Den jungen Leuten wird damit eine
Perspektive gegeben.

Man muss die Dinge nicht neu erfinden. Ich habe ge-
spürt, dass wir mit den Maßnahmen zur ländlichen Ent-
wicklung in der Europäischen Union einen Instrumen-
tenkasten haben, der beim Waldschutz sehr brauchbar
ist. Die Prämisse muss dabei immer sein, dass die Men-
schen, die in den ländlichen Räumen leben, ihre traditio-
nelle Wirtschaft mit modernen Mitteln weiterführen
können und auf diese Weise die nachhaltige Entwick-
lung ermöglichen, die wir uns auch aus ökologischen
Gründen wünschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Waldschutz ist dafür ein sehr schönes Beispiel.

Ich möchte mich abschließend der Aussage meiner
Kollegen Andreas Jung und Thomas Gebhart anschlie-
ßen, die hier bereits deutlich gemacht haben: Wir wol-
len, dass sich die Europäische Union jetzt auf 30 Prozent
festlegt,


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


weil nur mit dieser Festlegung ein Fortschritt in Durban
erreicht werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind dabei, Herr Göppel!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708112900

Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der

Kollege Christian Hirte von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1708113000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Über den Erfolg von Cancún ist im Vorfeld und
auch während der Konferenz – wir haben das heute in
der Debatte schon gehört – vielfach spekuliert worden.
Ich glaube, bei allen Differenzen im Einzelnen sind wir
uns insgesamt doch insoweit einig, dass das Ergebnis

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8975

Christian Hirte


(A) (C)



(D)(B)

sehr viel besser als das ist, was ursprünglich erwartet
wurde.

Wenn man sich anschaut, wer für dieses Ergebnis und
auch für den Erfolg verantwortlich ist, dann stellt man
fest – das ist auch schon klar gesagt worden –: Zum ei-
nen tragen dafür natürlich die Mexikaner und insbeson-
dere deren Außenministerin Espinosa die Verantwor-
tung, zum anderen gilt dies aber natürlich auch für die
deutsche Delegation – ich habe mich gefreut, dass der
Kollege Miersch das so deutlich gesagt hat –, die in ih-
ren jeweiligen Panels und Verhandlungsrunden mit dazu
beigetragen hat.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat er doch gar nicht gesagt!)


– Es war nicht der Kollege Miersch, sondern der Kollege
Schwabe. Entschuldigung!

Einigen Rednern scheint dieses Lob nicht ganz gefal-
len zu haben. Den Grünen passt es offensichtlich nicht
ganz in ihr politisches Kalkül,


(Beifall des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU] sowie des Abg. Michael Kauch [FDP])


wenn die deutsche Delegation unter Führung eines
CDU-Bundesumweltministers nach Hause kommt und
ein positives Ergebnis verkünden kann.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu hat er wenig beigetragen! Das ist der Punkt! – Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er war doch gar nicht daran beteiligt!)


– Die Grünen freuen sich immer, wenn sie bei positiven
Ergebnissen am Ende noch einen Wermutstropfen fin-
den. Das entspricht auch der allgemeinen Stimmungs-
lage und dem Stimmungsbild, das die Grünen in der
politischen Debatte permanent vermitteln.


(Dr. Michael Kauch [FDP]: Die sind neidisch!)


Ich will jetzt gar nicht ins Einzelne gehen und sagen, an
welchen Stellen, bei welchen Dingen und auch bei wel-
chen Personen Sie immer dagegen sind.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie auch nicht! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch gegen unsere Sachen! Sie sind die NeinSager!)


– Nein. Ich will jetzt nicht auf Stuttgart 21 und auf Ener-
giewege in Deutschland eingehen, sondern auf unser
Thema zurückkommen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gegen den Klimawandel! – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind nur schlechte Redner!)


– Sie sagen, Sie seien für den Ausbau erneuerbarer Ener-
gien, aber Sie sind gegen den Ausbau der Energiewege
in Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre CDU-Bürgermeister sind doch dagegen! – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sankt-Florians-Politik ist Ihr Ding!)


Diese permanente Oppositionspolitik nimmt Ihnen am
Ende keiner ab. Die Wähler werden das merken – nicht
nur in Berlin, sondern mit Sicherheit auch in Baden-
Württemberg.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Meine Damen und Herren, der Erfolg von Cancún,
aber auch die daraus folgenden weiteren Handlungsnot-
wendigkeiten sind schon hinreichend dargestellt worden.
Die grundsätzliche Frage, die man aus Cancún mit nach
Hause nehmen kann, muss aber sein: Ist ein bindender
Klimavertrag unter dem Dach der UN das, was man an-
streben muss, oder geht es vielmehr darum, mit wenigen
Staaten Verträge zu schließen, energiepolitisch vielleicht
sogar nationale Alleinwege zu gehen oder sich in regio-
nalen Gemeinschaften zusammenzuschließen? Ich bin
der Meinung, dass es sich beim Klimaschutz um ein glo-
bales Problem handelt, das natürlich auch einer globalen
Lösung bedarf.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht so langsam!)


Das eine anzustreben, nämlich die globale Lösung, heißt
aber nicht notwendigerweise, dass man das andere sein
lässt, nämlich auch zu Hause, auf nationaler Ebene, das
Mögliche anzustreben.

Deutschland – darauf ist schon hingewiesen worden –
nimmt seine Rolle als Vorreiter nicht nur in Europa, son-
dern auch weltweit wahr. Daher möchte ich den Bun-
desumweltminister und seine Forderung, das 30-Prozent-
Ziel in Europa zu erreichen, ausdrücklich unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD] – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen alle, aber sie bringen nichts!)


Wir sind in Deutschland aufgefordert, selbst und auch
unkonditioniert mit gutem Beispiel voranzugehen. Das
tun wir auch, etwa mit unserem Energiekonzept, mit
dem wir die Rahmenbedingungen für die Transforma-
tion in ein Zeitalter der erneuerbaren Energien festgelegt
haben.

Wir werden Treibhausgasersparnisse von etwa
40 Prozent bis 2020 und 80 bis 95 Prozent bis 2050 er-
reichen. Ab dem kommenden Jahr werden wir mit dem
Sonderfonds, der im Zusammenhang mit dem Energie-
konzept eingerichtet wird, auch einen Beitrag zur Förde-
rung umweltschonender, zuverlässiger und bezahlbarer
Energie leisten. Damit leisten wir natürlich auch einen
Beitrag für den weltweiten Klimaschutz.

Aber wir sind natürlich nicht nur in Deutschland auf-
gerufen, sondern auch in Europa; das habe ich gerade
ausgeführt. Ebenso geht es darum, zu erreichen, dass es

8976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christian Hirte


(A) (C)



(D)(B)

weltweit weitere Verbesserungen gibt, insbesondere in
Abstimmung mit den stark wachsenden Schwellenlän-
dern. Der Bundesumweltminister hat schon darauf hin-
gewiesen, dass es in diesem Bereich durchaus auch
große Chancen für uns in Deutschland gibt. Wir in
Deutschland haben die Technologien und die Ressour-
cen und können die deutschen Klimatechnologien in die
Schwellenländer exportieren. Davon können der welt-
weite Klimaschutz, aber auch unsere deutsche Wirt-
schaft und am Ende natürlich auch unsere Arbeitnehmer
profitieren. Daher sind Technologiekooperation und
Technologieexport unabdingbar. Kollege Gebhart hat
dies vorhin schon einmal kurz erwähnt.

Die Weltgemeinschaft und Deutschland haben es in
der Hand. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dazu
unseren Beitrag leisten werden, aktuell in unserer natio-
nalen Politik, aber auch bei der nächsten Runde in Dur-
ban. Wir werden zu unserer Verantwortung stehen, und
Deutschland wird weiterhin seinen Beitrag leisten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708113100

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

auftragten

Jahresbericht 2009 (51. Bericht)


– Drucksachen 17/900, 17/3738 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt)

Lars Klingbeil
Christoph Schnurr
Paul Schäfer (Köln)

Omid Nouripour

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen
Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache
nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen,
damit die anderen ungestört mitarbeiten können.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehr-
beauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Das ist sozusagen meine Jungfern-
rede hier, jedenfalls in der Funktion als Wehrbeauftrag-
ter. Es handelt sich um den Bericht des Jahres 2009, den
mein Vorgänger Reinhold Robbe erarbeitet hat. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, ihm für seine Arbeit, für
diesen Bericht und auch für das herzlich zu danken, was
er in den Jahren davor getan hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meines Erachtens hat er ein Fundament gelegt, auf dem
ich aufbauen kann.

Natürlich möchte ich die Gelegenheit auch nutzen,
den Mitarbeitern bei mir im Amt zu danken. Das ist ein
tolles Team; sie haben eine hervorragende Arbeit geleis-
tet. Sie haben viel zu tun, und ich freue mich, dass sie
das auch weiterhin tun werden.


(Beifall des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])


Mein Dank gilt auch den Mitgliedern des Verteidi-
gungsausschusses, die die Hinweise aus diesem Bericht
und auch den vorherigen Berichten des Wehrbeauftrag-
ten stets aufgenommen und verarbeitet haben. Sie wer-
den verstehen, dass ich auch einen herzlichen Gruß an
die Soldatinnen und Soldaten richte, die mit ihren oft-
mals aufopferungsvollen Einsätzen schwer gefordert
sind. Auch sie sollen heute in den Dank eingeschlossen
sein, genauso wie die Mitarbeiter im Ministerium und in
den Stäben,


(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/ CSU])


die die manchmal, wie man hört, nervigen und nerven-
den Anmerkungen des Wehrbeauftragten aufzunehmen
hatten.

Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor histo-
rischen Umbrüchen in der Verteidigungspolitik: Ausset-
zung der Wehrpflicht, drastische Verkleinerung der
Streitkräfte, struktureller Umbau der Streitkräfte.

Vor diesem Hintergrund muss man sich als Außenste-
hender fragen, ob der Jahresbericht 2009 noch relevant
ist. Augenscheinlich ja, glaube ich; das kann man so sa-
gen. Denn viele der Probleme, die in diesem Bericht auf-
geführt sind und die wir heute erörtern, sind schon im
Vorjahresbericht – manche sogar über mehrere Jahresbe-
richte hinweg – angesprochen worden.

Das zeigt: In vielen Bereichen ist ein langer Atem er-
forderlich. Es zeigt aber auch, dass es innerhalb der bü-
rokratischen Strukturen im Ministerium, aber auch im
militärischen Apparat manchmal an einer konstruktiven
Fehlerkultur und an der Bereitschaft fehlt, Probleme
konstruktiv aufzugreifen und zu bearbeiten, statt sich da-
rauf zu beschränken, vergangenes Handeln oder auch
Unterlassen zu rechtfertigen. Diesen Punkt hat auch die
Strukturkommission erkannt und angesprochen.

Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Bereich voran-
kommen werden. Der Vorsitzende der Kommission,
Dr. Weise, hat dazu einmal gesagt, die Verantwortung
diffundiere. Das wird auch in dem Bericht manchmal

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8977

Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)

deutlich, wenn man nach den Ursachen fragt. Das wird
sicherlich durch die neuen Strukturen, die gerade vorbe-
reitet werden, besser. Das ist auch dringend nötig.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Die Sicherheitslage in Afghanistan beispielsweise hat
sich in einigen Bereichen, insbesondere rund um Kun-
duz, seit einigen Jahren kontinuierlich verschlechtert.
Das gilt auch für den Berichtszeitraum und ging, wie ge-
sagt, im laufenden Jahr so weiter. Dennoch haben wir
feststellen müssen, dass sich Ausrüstung und Ausbil-
dung noch immer nicht in einem vernünftigen Zustand
befinden. Sie werden der Situation nicht gerecht. Es fehlt
insbesondere nach wie vor an einer ausreichenden Zahl
geeigneter geschützter Fahrzeuge. Geschützte Fahrzeuge
gibt es; das ist richtig. Es fehlt aber an geeigneten ge-
schützten Fahrzeugen für spezielle Zwecke.

Es fehlt oftmals nach wie vor an der persönlichen
Ausstattung. Noch immer klagen viele Soldatinnen und
Soldaten darüber, dass sie aus eigenen Mitteln erhebli-
che Aufwendungen leisten, bevor sie in den Einsatz ge-
hen, um ihren Wünschen entsprechend ausgerüstet zu
sein.

Für all dies gibt es Erklärungen: Lieferschwierigkei-
ten der Industrie, langwierige Tauglichkeitsprüfungen
und technische Probleme bei der Zertifizierung. Aber bei
genauer Betrachtung sind diese Gründe – das kann man,
glaube ich, sagen – nicht immer stichhaltig. Was bei-
spielsweise das Route Clearance Package – also die
Möglichkeit, aus geschützten Fahrzeugen heraus
Sprengsätze zu erkennen und zu beseitigen – angeht,
wird immer wieder auf die langen Lieferfristen hinge-
wiesen, wenn es darum geht, am Markt erhältliche Sys-
teme zu erwerben. Das stimmt zwar – davon habe ich
mich überzeugt –, aber wenn die Bestellung etwas früher
erfolgt wäre, wären die Lieferfristen inzwischen abge-
laufen und die Fahrzeuge schon da. Das heißt, man hätte
die Dringlichkeit früher erkennen müssen. Auch für feh-
lende Fahrzeuge gilt: Die Industrie kann nur dann recht-
zeitig liefern, wenn sie rechtzeitig bestellt werden. Sie
werden nur auf Bestellung produziert. Es sind keine Pro-
dukte, die im Supermarkt um die Ecke erworben werden
können.

Es gibt aber auch Gutes zu berichten. Der Minister hat
in einigen Bereichen entscheidende Verbesserungen ent-
weder eingeleitet oder vorbereitet. Ich möchte hierbei
insbesondere rühmlich hervorheben, dass er die Arbeits-
gruppe ESB – ESB steht für „Einsatzbedingter Sofortbe-
darf“ – eingesetzt hat, die sich um die genannten Defi-
zite kümmert. Sie kümmert sich insbesondere darum,
wie weit man im Rahmen des einsatzbedingten Sofortbe-
darfs schnellstmöglich Abhilfe schaffen kann.

Die Fortschritte sind unübersehbar, im Übrigen auch
bei der Bewaffnung. Zum Beispiel sind jetzt Panzerhau-
bitzen in Afghanistan, um den Soldaten dort etwas mehr
Rückhalt zu geben. Wir haben wesentlich mehr Schüt-
zenpanzer im Einsatz. Wir haben die TOW-Rakete im
Einsatz und inzwischen auch Hubschrauber in ausrei-
chender Zahl; leider sind es nicht unsere eigenen, son-
dern amerikanische. Ich glaube, dieser Verbund gleicht
das früher vorhandene Defizit gut aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen allerdings nach wie vor die Situation im
Sanitätsdienst beklagen. Wir müssen leider bis heute
feststellen – auch das ergibt sich aus der Stellungnahme,
die Ihnen vorliegt –: Das Fehlen von Ärzten und medizi-
nischem Personal und die hohe Dienst- und Einsatzbe-
lastung bestehen fort. In der truppenärztlichen Versor-
gung haben wir zum Teil Tagesantrittsstärken von
40 Prozent. In einigen Bereichen bin ich darauf gesto-
ßen, dass nur 20 Prozent ihren Dienst angetreten haben,
und in einem Fall stand sogar überhaupt kein Truppen-
arzt zur Verfügung, übrigens auch kein ziviler Arzt, der
dort als Vertragsarzt gearbeitet hätte. Dies hat mit dem
generellen Personalmangel zu tun, und das gilt natürlich
auch für die hohe PTBS-Belastung des Sanitätsdienstes,
über die schon vielfach gesprochen wurde. Auf diese
Belastung ist der Sanitätsdienst ebenfalls nicht ausge-
richtet.

Auch hier muss man anerkennend sagen, dass das
Ministerium gegenzusteuern versucht. Es gibt für das
medizinische Personal Leistungszulagen, und es gibt für
die Ärzte Facharztzusagen und auch eine Höherbewer-
tung einzelner Facharztdienstposten. Trotzdem ist noch
kein Durchbruch zu erkennen. Man weiß natürlich nicht,
ob hier eine Überkompensation bei anderen, belastenden
Faktoren erfolgt oder ob es sich in der Öffentlichkeit und
in den betreffenden Kreisen noch nicht herumgespro-
chen hat, welche Möglichkeiten es hier inzwischen gibt.
Wir müssen daher die Attraktivität gerade in diesem Be-
reich weiter steigern.

Aber gerade wenn wir das Thema PTBS ansprechen,
das im Zentrum dieses Berichts steht, dann muss man sa-
gen, dass es auch in der Regelversorgung und im zivilen
Bereich an Fachkräften fehlt. Man kann diese Kräfte
nicht einfach irgendwo abwerben. Vielmehr muss man
gezielt dafür sorgen, dass neues Personal dafür ausgebil-
det und herangezogen wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach wie vor fehlt es an hinreichenden Maßnahmen,
die Vereinbarkeit von Familie und Dienst zu verbessern.
Ich habe zwar gehört, was in Dresden gesagt wurde, dass
nämlich in diesem Bereich einiges passieren soll; aber es
fehlt nach wie vor an einer ausreichenden Anzahl an
Pendlerwohnungen für die vielen Soldaten – es sind bis
zu 70 Prozent der Truppe –, die regelmäßig zwischen ih-
rem Wohnort und dem Dienstort hin- und herfahren
müssen. Nach wie vor fehlt es an Kinderbetreuungsein-
richtungen und an Maßnahmen zur Bekämpfung der
häufigen Versetzungsnotwendigkeit und der häufigen
Abwesenheit durch Lehrgänge. Dies wird natürlich wei-
terhin ein Schwerpunkt der Arbeit des Wehrbeauftragten
sein.

Ein weiterer Schwerpunkt bleibt das hier bereits ge-
nannte Problem der Kommunikation mit der Heimat,
und zwar nicht nur aus den Einsatzgebieten, sondern
auch von den Schiffen. Auch dort habe ich den Ein-

8978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus


(A) (C)



(D)(B)

druck, dass die Dringlichkeit dieses Problems nicht in al-
len Bereichen der militärischen und politischen Organi-
sation erkannt ist. Hier muss etwas getan werden. Die
Ausschreibung, die gerade durchgeführt worden ist und
über die demnächst entschieden werden wird, wird die-
ses Problem nicht so lösen, wie ich es mir wünsche. Bei
der Kommunikation aus den Einsatzgebieten und von
den Schiffen nach Hause geht es nicht einfach ganz all-
gemein um Fürsorge, sondern darum, dass die Soldatin-
nen und Soldaten die Möglichkeit erhalten, ihre Grund-
rechte wahrzunehmen, sich aus allen zugänglichen
Quellen frei zu informieren und – jetzt geht es um Art. 6
des Grundgesetzes – mit ihren Familien Kontakt zu hal-
ten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dies geht nur mit verbesserten Angeboten. Um das zu
ändern, wird noch viel zu tun sein. Das habe ich dem
Ministerium schon angekündigt.

Zum Ende meiner Rede nutze ich die Gelegenheit, die
Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und ihre Angehöri-
gen zu Hause zu grüßen und ihnen, aber auch den Mit-
gliedern dieses Hohen Hauses frohe Weihnachten und
ein gutes neues Jahr zu wünschen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708113200

Die Kollegin Anita Schäfer hat für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1708113300

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr

geehrter Herr Wehrbeauftragter, gerade gestern hat das
Bundeskabinett der Reform der Bundeswehr zuge-
stimmt. Damit werden Sie, Herr Wehrbeauftragter, in Ih-
rer Amtszeit die Truppe während des größten Umbruchs
seit ihrer Gründung begleiten. Die geplante Aussetzung
der Wehrpflicht zum 1. Juli nächsten Jahres ist eine ein-
schneidende Veränderung. Sicherlich werden Sie sich in
den nächsten Jahren nicht zuletzt mit den Auswirkungen
zu befassen haben, die die Reform auf einzelne Soldatin-
nen und Soldaten haben wird. Wir hoffen natürlich, dass
alles möglichst reibungslos verläuft. Dabei werden wir
den Minister und seine Mitarbeiter nach allen Kräften
unterstützen. Aber bei Umstellungen dieses Ausmaßes
werden sich Probleme im Einzelfall nicht vermeiden las-
sen. Dabei will ich eines hier in aller Deutlichkeit sagen:
Durch die Umstellung auf eine Freiwilligenarmee wird
das Amt des Wehrbeauftragten keinesfalls überflüssig.

Wie der Jahresbericht 2009 wieder aufführt, kommt
bereits jetzt die größte Zahl der Eingaben aus dem Be-
reich der Soldaten auf Zeit und aus der Dienstgrad-
gruppe der Unteroffiziere mit Portepee. In der Wehr-
pflichtdiskussion der vergangenen Jahre scheint mir
manchmal in den Hintergrund geraten zu sein, dass es
sich dabei ebenso um Staatsbürger in Uniform handelt
wie bei den Grundwehrdienstleistenden. Sie haben ja
nicht geringere Rechte, weil sie sich freiwillig zu diesem
oft gefährlichen Dienst für unser aller Sicherheit gemel-
det haben. Dass die Bundeswehr untrennbar Teil unserer
freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft ist, wird sich
auch durch den Übergang zu einer Freiwilligenarmee
nicht ändern. Das Konzept der Inneren Führung ist und
bleibt ein Markenzeichen der Bundeswehr.

Gerade der Bereich der politischen Bildung wird in
Zukunft eher noch wichtiger. Stärker denn je gilt es zu
vermitteln, dass die Streitkräfte kein Fremdkörper und
die Soldaten Bürger dieser Gesellschaft sind, besonders
wenn ihre Zahl sinkt und der Dienst auf Freiwilligkeit
beruht. Übrigens gilt es, das nicht nur innerhalb der
Truppe, sondern in der ganzen Gesellschaft zu vermit-
teln. Da haben wir alle noch eine Menge nachzuholen. In
jedem Fall bleibt der Wehrbeauftragte gerade für uns
Abgeordnete im Verteidigungsausschuss ein wesentli-
ches Kontrollorgan im Hinblick auf den Zustand der
Truppe; er bleibt sozusagen unser aller Frühwarnsystem.
Dafür wünsche ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter
Königshaus, und Ihren Mitarbeitern im Namen der
Unionsfraktion weiter viel Erfolg. Wir freuen uns auf
eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrem Hause.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Lieber Herr Königshaus, der heute debattierte Jahres-
bericht 2009 ist zwar noch unter der Ägide Ihres Amts-
vorgängers entstanden, Sie haben aber bereits im Juni ei-
nen Zwischenbericht über die Entwicklung im ersten
Halbjahr 2010 und erst kürzlich einen weiteren Bericht
auf Grundlage Ihres Truppenbesuchs in Afghanistan so-
wie beim Fallschirmjägerbataillon 263 aus meinem
Wahlkreis vorgelegt, das im Januar mit Masse in den
Einsatz geht. Am Freitag vor drei Wochen habe ich am
Verabschiedungsappell des Bataillons in Zweibrücken
teilgenommen. Ich möchte den Soldaten an dieser Stelle
nochmals viel Glück und eine vollzählige, gesunde
Heimkehr wünschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, sie mit allem Notwendigen versorgt vorzufin-
den, wenn ich sie im nächsten Halbjahr in Kunduz besu-
che.

Im Einzelnen möchte ich vier Punkte herausgreifen.

Erster Punkt. Am wichtigsten sind mir die Klagen
über mangelnde Ausstattung mit Waffen und Munition.
Hierzu hat das BMVg inzwischen klargestellt, dass dies
beispielsweise beim Ausbildungs- und Schutzbataillon
in Kunduz lediglich in der Phase des planmäßigen Auf-
wuchses der Fall war. Mittlerweile verfügt jeder Soldat
über eine fest zugeordnete Handwaffe. Die Munitions-
vorräte entsprechen den operativen Vorgaben. Auch der

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8979

Anita Schäfer (Saalstadt)



(A) (C)



(D)(B)

beklagte Mangel an Munition für die Granatmaschinen-
waffen ist umgehend behoben worden.

Zweite Punkt: Problematisch sein könnte einmal
mehr die Situation bei den geschützten Fahrzeugen so-
wohl für den Einsatz als auch für die einsatzvorberei-
tende Ausbildung. Es ist bekannt, dass wir uns hier in ei-
nem kontinuierlichen Verbesserungsprozess befinden.
Das Bundesministerium der Verteidigung hat kürzlich
nochmals festgestellt, dass derzeit rund 1 000 Fahrzeuge
im Einsatz sind und 160 für die einsatzvorbereitende
Ausbildung zur Verfügung stehen.

Für die kommenden beiden Jahre ist der Zulauf von
600 weiteren, vor allem von moderneren Typen geplant.
Gerade gestern haben wir im Verteidigungs- und im Haus-
haltsausschuss der Beschaffung weiterer 195 Eagle IV zu-
gestimmt, sodass ich davon ausgehe, dass diese Fahr-
zeuge im nächsten Jahr zeitgerecht nicht nur der Truppe
in Afghanistan zulaufen können, sondern dass auch die
vorbereitende Ausbildung zunehmend auf dem gleichen
Modell wie im Einsatz stattfinden kann.

Dritter Punkt – er ist nicht wirklich lebenswichtig,
aber ärgerlich angesichts der Dauer, seit der wir diese
Klagen schon hören –: die durchgängigen Beschwerden
in allen Feldlagern über die mangelhaften Angebote zur
Kommunikation mit der Heimat, besonders im Vergleich
zu den Möglichkeiten, die Soldaten der Verbündeten
teilweise zur Verfügung stehen. Das gilt nicht nur für
Afghanistan. Hierzu hat das Bundesministerium der Ver-
teidigung mitgeteilt, dass für Mitte dieses Monats, also
jetzt gerade, die Entscheidung über den Zuschlag für ei-
nen neuen Vertrag zur Betreuungskommunikation vorge-
sehen ist. Offenbar hat nur einer von vier Wettbewerbern
mit seinem Angebot alle Anforderungen erfüllt. Ich gehe
in jedem Fall davon aus, dass es rasche Verbesserungen
für die Truppe im Einsatz geben wird.

Vierter Punkt: die knappen Personalressourcen für
wichtige Aufgabenbereiche durch die Mandatsober-
grenze, insbesondere bei Infanterie und Aufklärung.
Diese Frage geht uns als Parlament direkt an; denn wir
entscheiden mit der Zustimmung zum Mandat, ob genug
Personal für eine sichere Auftragserfüllung eingesetzt
werden kann.

Die Koalition hat immer klipp und klar gesagt, dass
die Geschwindigkeit der geplanten Truppenreduzierung
über die nächsten Jahre vom Erfolg der Stabilisierungs-
maßnahmen abhängt. Der Außenminister hat das heute
Morgen in der Debatte zum Afghanistan-Fortschrittsbe-
richt sehr gut zusammengefasst: Die Übergabe der Si-
cherheitsverantwortung an die Afghanen muss sorgfäl-
tig, nachhaltig und unumkehrbar geschehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Thema eignet sich nicht für parteitaktische Spiel-
chen; denn die würden auf dem Rücken unserer Soldaten
ausgetragen. Gegenstand solcher Spielchen sollte auch
nicht ein gemeinsamer Besuch des Verteidigungsminis-
ters mit seiner Frau in Afghanistan sein.

Die letzten Jahresberichte des Wehrbeauftragten,
auch der hier besprochene, haben immer wieder deutlich
gemacht, wie der Mangel an Interesse und Anerkennung
in der Gesellschaft die Soldaten belastet. Wir haben im-
mer wieder beklagt, dass die Medien nur dann groß be-
richten, wenn es Tote und Verwundete gegeben hat. Nun
schafft das Ehepaar zu Guttenberg einmal außerhalb
solch trauriger Vorfälle Aufmerksamkeit für den Einsatz –
und trotzdem ist es vielen nicht recht. Wenn Fernsehzu-
schauer durch diesen Besuch motiviert werden, sich
heute Abend die in Masar-i-Scharif aufgezeichnete Sen-
dung mit Herrn Kerner anzusehen, und wenn sie dabei
einen ehrlichen Einblick in das Leben und die Sorgen
unserer Soldaten dort bekommen, wofür sie sich sonst
nicht interessiert hätten, dann kann ich nur sagen: Herz-
lichen Dank für diese Aktion, Herr Minister! Das war es
wert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Das war der Werbeblock! – Iris Gleicke [SPD]: Wenn ich so was vorlesen müsste, würde ich mich schämen!)


Lassen Sie mich kurz auf ein Thema zurückkommen,
das ich bereits bei der ersten Behandlung des Jahresbe-
richts 2009 angesprochen habe, nämlich auf die Lage im
zentralen Sanitätsdienst und hier besonders auf die Mög-
lichkeit zur Behandlung von posttraumatischen Belas-
tungsstörungen. Mittlerweile ist das lange geforderte
Traumazentrum am hiesigen Bundeswehrkrankenhaus
Berlin eingerichtet und der Beauftragte als Anlaufstation
für alle Probleme in diesem Bereich eingesetzt. Dieser
wichtige Schritt wird die Dinge künftig sehr vereinfa-
chen, weil es jetzt eine zentrale Adresse für alle Bemü-
hungen auf diesem Gebiet gibt. Nicht nur, aber auch we-
gen dieser Problematik muss dem Sanitätsdienst
weiterhin höchste Aufmerksamkeit gelten. Das Attrakti-
vitätsprogramm zur Verbesserung der Personallage ist
bereits eingeleitet.

Herr Wehrbeauftragter, jetzt habe ich noch einen letz-
ten Gedanken: Sie wissen, dass Reservisten zukünftig
eine größere Rolle in der Bundeswehr spielen sollen.
Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in Ihren
nächsten Berichten ein besonderes Augenmerk auf die-
sen Bereich legen würden.

Ich möchte auch diesmal mit einem Dank an die Sol-
daten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr schlie-
ßen. Wir denken besonders an die Männer und Frauen
im Einsatz, die Weihnachten und Neujahr fernab ihrer
Familien in gefährlicher Umgebung verbringen müssen.
Wir denken zugleich an die Familien, die auch an den
Festtagen in Sorge um ihre Angehörigen sein werden.
Wir denken an die Familien der in diesem Jahr Gefalle-
nen ebenso wie an die Soldaten, die schwere Verwun-
dungen davongetragen haben und sich zum Teil mit
neuen Lebensumständen zurechtfinden müssen. Ich darf
Sie bitten, alle diese mutigen Menschen in Ihre Gedan-
ken und vielleicht auch in Ihre Gebete einzuschließen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Und die zivilen Opfer? – Gegenruf der Abg. Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Die waren dabei!)


8980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010


(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708113400

Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Karin Evers-Meyer (SPD):
Rede ID: ID1708113500

Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr

verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass die
Bundeswehr in diesen Tagen so viel Aufmerksamkeit
bekommt wie schon lange nicht mehr. Die Soldatinnen
und Soldaten in den Einsatzgebieten verdienen unsere
Aufmerksamkeit,


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


und sie wollen diese Aufmerksamkeit für ihre wichtige
und gefährliche Arbeit auch. Ob das nun in der Art und
Weise passieren muss, in der der Verteidigungsminister
dafür sorgt, oder ob es auch anders geht, das sind Ge-
schmacksfragen, die eine untergeordnete Rolle spielen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: So wie der Minister das macht, ist das gut!)


Worum es wirklich geht: Wir müssen das, was wir mit
Worten ankündigen, auch tatsächlich machen. Wenn hier
nur öffentlichkeitswirksam Themen besetzt werden sol-
len, dann bleibt es bei heißer Luft,


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Greifen Sie nicht gleich den Gabriel an! – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Schimpfen Sie doch nicht mit Ihrem Parteivorsitzenden!)


dann richten die handelnden Personen mehr Schaden an,
als sie nützen.

Seien Sie sich darüber im Klaren, Herr Minister zu
Guttenberg, dass Sie mit Ihren Worten und Bildern Er-
wartungen wecken, die wir auch erfüllen müssen. Da
habe ich als Fachpolitikerin aber meine Bedenken. Ich
habe seit einiger Zeit den Eindruck: Es wird viel ange-
kündigt, und es passiert sehr wenig. Ich will in diesem
Zusammenhang nicht auf die angekündigte Bundes-
wehrreform eingehen, sondern mich an das halten, wo-
rum es im Bericht des neuen Wehrbeauftragten, Herrn
Königshaus, geht.

Ich greife nur einmal das Beispiel der Posttraumati-
schen Belastungsstörungen, PTBS, heraus. Dieses
Thema war ein Schwerpunkt im Jahresbericht 2008 des
Wehrbeauftragten, der damals noch Reinhold Robbe
hieß. Also bereits vor einem Jahr hat Herr Robbe auf die
sprunghaft gestiegenen Zahlen der an PTBS erkrankten
Soldaten hingewiesen, und er hat öffentlich Druck ge-
macht. Dazu braucht es auch die Medien. Das ist legitim.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den erschütternden
Fernsehbericht, in dem der Wehrbeauftragte einen Sol-
daten mit PTBS zum Sozialamt begleitet, weil dieser
nach einem Auslandseinsatz arbeitsunfähig geworden
ist. Franz Josef Wagner hat gestern in seiner Bild-Zei-
tungs-Kolumne geschrieben – den Kommentar finde ich
passend –:
Es gibt einen Punkt, wo man entweder kotzt oder
weint.

Dass dieser Soldat quasi um Unterstützung betteln
musste, war für mich so ein Punkt.

Der damalige Wehrbeauftragte hat beim Thema PTBS
seinen Job gemacht, tut das übrigens auch heute noch,
etwa mit dem von ihm ins Leben gerufenen runden Tisch
„Solidarität mit Soldaten“, dem inzwischen rund
40 Organisationen und Selbsthilfegruppen angehören
und der auch bereits wirklich konkrete Erfolge vorwei-
sen kann.

Aufseiten der jetzigen Bundesregierung jedoch ist seit
dieser Zeit fast nichts Erwähnenswertes mehr passiert –
außer vielen schönen Worten und einem Entschließungs-
antrag mit einer Reihe wohlklingender Ankündigungen.
Wenn man sich aber so weit aus dem Fenster lehnt und
in Afghanistan eine Fernsehsendung vor Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz macht, dann reichen schöne
Worte nicht, dann muss man zu Hause etwas tun.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Jetzt schauen Sie sich das erst einmal an!)


Das erwarten wir jetzt von Ihnen, Herr Minister zu
Guttenberg. Sie haben mit Ihrem Politikstil große Erwar-
tungen geweckt, die Sie jetzt auch erfüllen müssen. An-
sonsten werden Sie ein charmanter Ankündigungsminis-
ter bleiben und letztlich Ihr und auch unser aller
Vertrauen bei den Soldatinnen und Soldaten verspielen.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das hat Herr Gabriel jetzt gemacht!)


Lassen Sie uns beim Thema PTBS einfach gemein-
sam konkret werden. Wir brauchen ein selbstständig ar-
beitendes Traumainstitut, das über ausreichende, qualifi-
zierte Stellen verfügt, um auf den Feldern Prävention,
Therapie und Forschung etwas zu tun. Wir brauchen
Screening-Verfahren zur Früherkennung. Wir brauchen
Therapieeinrichtungen. Wir brauchen professionelle In-
formationsangebote. Solche Angebote werden derzeit
immer noch ehrenamtlich organisiert, etwa auf der Inter-
netseite von Frank Eggen und Dr. Peter Zimmermann.
Wir brauchen konkrete Gesetzentwürfe für eine deutli-
che Verbesserung der Versorgungs- und Weiterverwen-
dungsgesetze. Wir müssen auch wieder über Einsatzzei-
ten und Einsatzbedingungen sprechen, insbesondere
darüber, dass einer wissenschaftlichen Studie zufolge
nach 127 Einsatztagen die Gefahr einer PTBS-Erkran-
kung signifikant ansteigt.

Wir müssen Prävention, Nachsorge und Fürsorge sehr
ernst nehmen. Deutschland muss an dieser Stelle profes-
sioneller werden und sich besser aufstellen. Ein Jahr ist
schon ins Land gegangen, ohne dass sich auch nur für
eine Soldatin oder einen Soldaten spürbar etwas verbes-
sert hat. Der Fall des Soldaten, der zum Sozialamt geht,
ist nach wie vor Realität. Deswegen müssen wir dieses
Thema endlich einmal gemeinsam anpacken.

In diesem Punkt – das will ich hier deutlich sagen –
würde ich mir auch etwas mehr öffentliches Engagement
des amtierenden Wehrbeauftragten wünschen. Sie sind
in große Fußstapfen getreten, Herr Königshaus. Sie müs-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8981

Karin Evers-Meyer


(A) (C)



(D)(B)

sen bei diesem Thema jetzt Akzente setzen. Ihr Amts-
vorgänger Robbe hat gezeigt, wie das geht: Vertrauen
bei den Soldaten, große öffentliche Reputation und na-
türlich auch Durchsetzungsvermögen. Das braucht das
Thema, und das sind Sie und wir den Soldatinnen und
Soldaten schuldig. Wir können etwas daraus machen.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt ein zweites Thema, das ich heute noch anspre-
chen möchte – ich bin dem amtierenden Wehrbeauftrag-
ten, Herrn Königshaus, wirklich sehr dankbar dafür, dass
er hierbei den Finger in die Wunde legt –: Es geht noch
einmal um die Kommunikationswege zwischen Einsatz-
gebiet und Heimat und damit für mich letztendlich auch
um die Wertschätzung der Soldatinnen und Soldaten und
die Attraktivität der Bundeswehr insgesamt.

Für uns hier im Bundestag ist die Kommunikation mit
Freunden und Verwandten zu Hause eine Selbstverständ-
lichkeit. Wir skypen, wir kommunizieren über SMS,
E-Mails und Mobiltelefone. All diese Möglichkeiten ste-
hen uns zur Verfügung. Wir sind ständig und überall er-
reichbar. Das ist gerade für uns sehr wichtig.

Wenn man aber als Soldatin oder Soldat in Afghanis-
tan stationiert ist oder auf einer Fregatte am Horn von
Afrika seinen Dienst versieht, dann sind die Kommuni-
kationswege zur Familie natürlich beschränkter. Ein Ma-
rinesoldat hat mir erzählt, dass auf seinem Schiff höchs-
tens einmal am Abend, wenn die Dienstrechner für eine
Stunde abgeschaltet werden, ein Internetzugang zur Ver-
fügung steht. Gleichzeitig erfahre ich dann, dass belgi-
sche, kanadische und amerikanische Kameraden jeden
Abend per Skype mit ihren Partnern und Kindern spre-
chen können. Das ist beschämend. Das geht einfach
nicht. Auch in Deutschland leben wir im 21. Jahrhun-
dert, und ich habe wirklich keine Lust mehr, Soldatinnen
und Soldaten vor Ort Begründungen aus dem Verteidi-
gungsministerium vorzulesen, in denen fein säuberlich
aufgelistet steht, warum die Soldaten in den Feldlagern
oder auf den Schiffen keinen brauchbaren Internetan-
schluss und keine vernünftige Telekommunikationsan-
lage bekommen können.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wer hat denn den Vertrag gemacht? Wer ist denn dafür verantwortlich? Den haben Sie 2001 gemacht!)


Im Schreiben vom Ministerium steht natürlich nicht,
dass die entsprechenden Verträge des Verteidigungs-
ministeriums mit den Kommunikationsanbietern letzt-
lich wenig vorausschauend ausgeschrieben wurden. Na-
türlich sind die Datenmengen heute viel größer als vor
zehn Jahren; aber man kann entsprechende Verträge ab-
schließen.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Wer war denn da an der Regierung? Struck!)


Es ist heutzutage möglich, dass man bei steigender Inan-
spruchnahme mehr Kapazitäten bekommt. Wie ich höre,
sind die neuen Ausschreibungen nicht wesentlich besser
und genauso dürftig wie die alten.
Lassen Sie uns doch diese Blackbox, um die wir nun
schon seit Jahren herumschleichen, endlich gemeinsam
aufbrechen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Minister zu Guttenberg, ich bitte Sie ganz herzlich:
Geben Sie Ihrem Haus den Auftrag, dieses Problem ein-
mal zu prüfen, um uns zu sagen – das will ich einfach
nur wissen –, wie es gehen könnte und was das kosten
würde. Dann können wir hier entscheiden, ob uns unsere
Soldatinnen und Soldaten das wert sind. Ich finde, es
sind die kleinen Dinge, die Vertrauen schaffen und die
Wertschätzung zeigen.

Wenn das mit dem Internet vonseiten des Ministe-
riums wirtschaftlich nicht vernünftig umsetzbar sein
sollte, dann werden wir die Telekom oder welche Firma
auch immer darum bitten, vor Ort geeignete Funkmas-
ten, vielleicht zum Selbstkostenpreis, zu installieren. So
haben die Belgier das im Übrigen gemacht. Das muss
doch auch hier bei uns möglich sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundes-
wehr ein attraktiver Arbeitgeber bleiben will – und das
muss sie angesichts unserer Vorhaben unbedingt blei-
ben –, dann dürfen wir uns gegenüber unseren Soldatin-
nen und Soldaten nicht in dieser Weise als Krämerseelen
aufführen. Kommunikation mit der Familie ist wichtig.


(Beifall bei der SPD)


Sie macht es Soldatinnen und Soldaten überhaupt erst
möglich, über lange Einsatzzeiten hinweg die Beziehung
zu ihren Partnern aufrechtzuerhalten. Wir sollten uns bei
diesen Dingen die kleinen Karos verkneifen und zu mehr
Größe gelangen. Das ist meine dringende Bitte und mein
Plädoyer.

Ich danke heute dem Wehrbeauftragten des Deut-
schen Bundestages, Herrn Königshaus, und seinen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Arbeit und den
vorliegenden Bericht. Lassen Sie uns weiterhin gemein-
sam dafür eintreten, dass unsere Soldatinnen und Solda-
ten in ihrem Alltag die Wertschätzung bekommen, die
sie verdienen. Mit Ihrem Bericht haben Sie einen wichti-
gen Beitrag dazu geleistet.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708113600

Der Kollege Christoph Schnurr hat jetzt das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1708113700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist schon inte-
ressant gewesen, Frau Kollegin Evers-Meyer, was Sie
gesagt haben. Ich glaube, dass man das eine oder andere
schon noch einmal ansprechen muss.

8982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)

Zunächst einmal ist zu sagen: Die Arbeit des ehemali-
gen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe war sicherlich
beachtlich, und jeder seiner Berichte und jede seiner
Stellungnahmen hat in diesem Hohen Hause Zuspruch
und Anerkennung gefunden. Wir behandeln heute den
letzten Bericht, den Herr Robbe vorgelegt hat, und auch
die Antworten des Ministeriums auf diesen Bericht.

Sie, Frau Evers-Meyer, haben dann gesagt, dass große
Fußstapfen vorhanden gewesen sind und dass der neue
Wehrbeauftragte diese nach Möglichkeit ausfüllen soll,
was aber wohl schwierig sein mag. Ich sage Ihnen ganz
offen: Es geht nicht darum, Fußstapfen auszufüllen, son-
dern darum, neue Akzente zu setzen. Deswegen finde
ich es besonders gut und lobenswert, dass der neue
Wehrbeauftragte seine Erkenntnisse, die er bei Truppen-
besuchen und bei seinen Reisen in die Einsatzländer ge-
winnt, nicht zuerst in Zeitungen vermittelt. Er hat viel-
mehr seine beiden Zwischenberichte, die er im letzten
halben Jahr bereits geschrieben hat, erst dem Ausschuss
zur Diskussion vorgelegt und hat damit zugleich auch
dem Ministerium die Möglichkeit gegeben, mit entspre-
chenden Antworten auf diese Zwischenberichte zu re-
agieren. Es ist der richtige Weg, das auf diese Weise im
Parlament kundzutun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nun zum Bereich PTBS: Wir Abgeordnete und insbe-
sondere wir Verteidigungspolitiker wünschen uns natür-
lich oft, dass Dinge schneller, zügiger und vielleicht
auch effizienter ablaufen. Wenn wir uns aber einmal
klarmachen, welchen Stellenwert das Thema PTBS vor
fünf Jahren hatte – es sage mir keiner, dass es zu diesem
Zeitpunkt keine PTBS-Betroffenen gegeben habe –,
kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass wir heute
auf einem richtigen und guten Weg sind. Ich glaube, das
darf man an dieser Stelle auch einmal sagen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es handelt sich – das habe
ich bereits gesagt – nicht nur um den 51. Jahresbericht
eines Wehrbeauftragten, sondern auch um den Ab-
schlussbericht von Reinhold Robbe. Dieser Bericht stellt
verschiedene Mängel, Probleme und Schwierigkeiten im
Jahr 2009 innerhalb der Bundeswehr heraus. Darin wer-
den alle Teilstreitkräfte, Organisationsbereiche, Dienst-
gradgruppen, die Relationen von Frauen und Männern,
von Einsatzgebieten und Heimatländern, von Reservis-
ten und Aktiven genannt. Viele Probleme sind herausge-
stellt worden. Das einzig Richtige, das man dagegen tun
kann, ist letztendlich, gegenzusteuern, die Probleme ab-
zustellen und niemals die Augen und Ohren zu ver-
schließen. Der ehemalige Wehrbeauftragte hat nicht die
Ohren verschlossen, sondern er hat immer zugehört.
Hellmut Königshaus, der neue Wehrbeauftragte, tut dies
genauso. Er hört sich die Sorgen, die Nöte, die Anregun-
gen, zum Teil die Bitten und manchmal an der einen
oder anderen Stelle auch die bittere Wahrheit von unse-
ren Soldaten an und transportiert sie in den Deutschen
Bundestag. Ich bedanke mich bei dem ehemaligen Wehr-
beauftragten und auch beim heutigen Wehrbeauftragten
recht herzlich für ihre Arbeit.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die rund 5 500 Eingaben im Jahr 2009 sind in ihren
Anliegen äußerst unterschiedlich. Einige Eingaben spre-
chen Probleme und Vorfälle an, die menschlicher Natur
sind. Dennoch können sie ärgerlich für die Betroffenen
sein. Wenn beispielsweise ein Geschäftszimmersoldat
Akten verlegt und deshalb eine Beförderung nicht sofort
durchgeführt werden kann und dann Monate auf sich
warten lässt, dann ist das für den Betroffenen zwar ärger-
lich, aber es ist menschliches Versagen.

Allerdings werden auch zu Recht Probleme der Sol-
daten geschildert, die einen politischen Handlungsbedarf
aufzeigen, bei denen Bundestag und Ministerium letzt-
endlich gefordert sind, beispielsweise beim eklatanten
Mangel an Ärzten. Allein heute fehlen über 600 Ärzte in
der Bundeswehr; beruhigend ist das nicht. Jedoch denke
ich, dass mit der Zulage für Ärzte der erste Schritt in die
richtige Richtung gemacht worden ist. Der erhöhte
Haushaltsansatz 2011 für das Sanitätswesen ist ein An-
fang für die Attraktivitätssteigerung in diesem Organisa-
tionsbereich.

Wenn Soldaten lesen, dass im Jahr 2009 466 Kame-
radinnen und Kameraden mit PTBS behandelt worden
sind, so schätzen einige in der Truppe diese Zahl wie-
derum als wesentlich höher ein. Das ist alarmierend. Um
diese Dunkelziffer mache ich mir – ich glaube, wir uns
alle – große Sorgen. Ich setze daher auch auf die Vorge-
setzten, Freunde und Familien von Soldaten und hoffe,
dass sie sich bei Verdacht für eine Untersuchung der Be-
troffenen einsetzen. Denn eines ist klar: Es ist keine
Schmach und auch kein Makel. Der Soldatenberuf for-
dert viel, und dementsprechend besteht auch der An-
spruch, viel zurückzubekommen, was die Genesung so-
wohl des Körpers als auch des Geistes betrifft. Dieses
Land kann und wird darauf verzichten, seine gedienten
Frauen und Männer ins Abseits zu stellen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Allerdings beschäftigen mich auch andere Dinge, vor-
neweg die Reservisten. Auch ich bin Reservist. Es macht
Spaß, auf diese Art und Weise etwas für das Land tun zu
können. Doch zum Teil sind wohl einige Truppenteile
nicht in der Lage, adäquat mit ihren Reservisten umzu-
gehen. 188 Vorgänge im Jahr 2009 befassen sich mit der
Thematik von Reservisten. Das sind Eingaben von Men-
schen, die freiwillig ihr soziales Gefüge – sprich: Fami-
lie, Freunde und Arbeit – für eine gewisse Zeit verlassen.
Da ist es aus meiner Sicht nicht zu viel verlangt, dass die
personalbearbeitenden Stellen diesen Personen entge-
genkommen und sie sachgerecht behandeln; denn die
Reservisten sind gerade vor dem Hintergrund der Struk-
turreform und der neuen Bundeswehr, die auf uns zu-
kommt, notwendig. Eigentlich sind, wenn wir einmal
ganz ehrlich sind, die Reservisten schon heute aus der
Bundeswehr nicht mehr wegzudenken. Jeden Tag leisten
im Schnitt 2 400 Reservisten ihren Dienst in der Bundes-
wehr. Auch hier ein Dankeschön an die Reservisten. Sie
sind ein wichtiger Bestandteil der Bundeswehr.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8983

Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiteres oft debattiertes Problem, das wir im Aus-
schuss begleitet haben und das in der Tat in vielen Be-
richten immer wieder thematisiert wird, ist die Ausstat-
tung der Soldaten, und zwar von der Kleinstausstattung,
die teilweise – so mag man denken – sehr schnell zu be-
schaffen ist, bis hin zu größeren Waffensystemen bzw.
geschützten Fahrzeugen. Ja, wir brauchen mehr ge-
schützte Fahrzeuge, nicht nur in Einsatzgebieten, son-
dern auch an den Ausbildungseinrichtungen der Bundes-
wehr im Inland. Es ist von elementarer Wichtigkeit, dass
wir unsere Soldaten auf den Fahrzeugen ausbilden, auf
denen sie im Einsatz arbeiten. Die Militärkraftfahrer
müssen ihre Fahrzeuge in- und auswendig kennen und
wissen, wie sich das Fahrzeug in jeglicher Situation ver-
hält. Wenn auch nur ein Soldat nicht auf dem richtigen
Fahrzeug ausgebildet wird, dann ist das ein Soldat zu
viel.

Ein wichtiges Thema bleibt die Frage der Kommuni-
kation im Auslandseinsatz. Dazu gehört die Möglichkeit,
mit der Familie zu sprechen. Das bisherige Angebot ist
zu gering. Deshalb liegt meine Hoffnung, Herr Minister,
auf der Neuausschreibung und vor allem auf der Neuver-
gabe dieser Leistungen. Wir müssen noch viel tun.

Meine Redezeit geht zu Ende; es gäbe aber noch eini-
ges zu sagen. Meine Ausführungen haben gezeigt, dass
der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus für seinen
neuen Bericht noch einiges zu tun hat, angefangen beim
Sanitätsdienst, über die Frage der Steigerung der Attrak-
tivität des Dienstes und die Frage der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, die weiterhin im Raum steht, bis hin
zur neuen Struktur.

Herr Wehrbeauftragter, vor diesem Hintergrund möchte
ich sagen, dass wir uns auf die Zusammenarbeit freuen.

Ich bedanke mich bei Ihnen allen recht herzlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708113800

Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708113900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist eine gute Tradition,
dass wir nicht erst zu mitternächtlicher Stunde, sondern
zu einer prominenten Zeit über den Jahresbericht des
Wehrbeauftragten diskutieren. Es ist zwar etwas ko-
misch, dass wir jetzt über den Jahresbericht 2009 eines
Wehrbeauftragten diskutieren, der nicht mehr im Amt
ist, aber immerhin!

Es gehört auch zur Tradition, dass in diesem Rahmen
immer den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
Dank ausgedrückt wird. Abgesehen davon, dass mir die
ritualisierte Form, in der das sehr oft geschieht, fremd ist
– Ritualisierung bedeutet oft auch Sinnentleerung –,
stört uns – das ist ein wichtiger Punkt – das Missverhält-
nis zwischen diesen Dankesgesten und dem, was in der
Praxis für die persönlichen Belange der Soldatinnen und
Soldaten getan wird.

Es gibt in diesen Tagen eine Postkartenaktion des
Deutschen BundeswehrVerbandes. Auf der Postkarte ist
eine Frau abgebildet, die unschwer als die Kanzlerin zu
erkennen ist, der die Worte in den Mund gelegt werden:

Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, ver-
dienen unsere Solidarität …

Der Soldat, der ihr auf dem Bild gegenübersteht, fragt:

… sind 2,5 % Bezügekürzung wirklich solidarisch?

Ich glaube, das trifft den Punkt.

Man kann es ein bisschen verallgemeinern: Wenn es
um rüstungsindustrielle oder beschaffungspolitische Maß-
nahmen geht, dann sind die jeweiligen Regierungen und
die sie tragenden Fraktionen sehr großzügig. Wir haben
es gestern erlebt – diese Übung gibt es immer vor Weih-
nachten –, wie großzügig man da ist. Wenn es aber um
die persönlichen Belange der Soldatinnen und Soldaten
geht, dann ist man eher zurückhaltend. Das ist das Miss-
verhältnis, das ich meine. Es reicht vom ursprünglich
versprochenen Weihnachtsgeld, das man dann verwei-
gert hat, über die völlig unzulänglichen Möglichkeiten
der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, mit
ihren Freunden und Familienangehörigen zu kommuni-
zieren – das ist angeblich viel zu teuer –, bis zur unzurei-
chenden Ausstattung des Sanitätsdienstes, aber auch der
Soldatinnen und Soldaten im Hinblick auf ihren persön-
lichen Schutz.

Der neue Wehrbeauftragte hat hierzu einen sehr um-
fangreichen Mängelbericht vorgelegt. Das ist bemer-
kenswert und richtig; das ist auch seine Aufgabe. Es
muss uns aber schon zu denken geben, dass sich das
Bundesministerium der Verteidigung erst dadurch ge-
zwungen sieht, bestimmte Defizite einzugestehen und
sie abzustellen sowie Verbesserungen auf den Weg zu
bringen, deren Umsetzung allerdings eine längere Zeit in
Anspruch nehmen wird. Das ist überhaupt nicht gut. Das
ist der Punkt: Shows zu inszenieren, ist das eine; das an-
dere ist, sich wirklich um diese kleinen, aber drängenden
Probleme der Truppe zu kümmern. Herr Verteidigungs-
minister, das ist Ihre Aufgabe.

Ein anderes Thema ist aus unserer Sicht vordringlich:
die nun in Gang gesetzte Reform der Bundeswehr an
Haupt und Gliedern und die Aufgaben, die auf den
Wehrbeauftragten in diesem Zusammenhang zukom-
men. Wenn sich diese Reform durchsetzt, die darauf ge-
richtet ist, die Bundeswehr auf Auslandseinsätze zu
trimmen und sie da noch besser zu machen, wird es ohne
Zweifel zu beträchtlichen Veränderungen im inneren Ge-
füge der Streitkräfte kommen: Veränderungen der Struk-
tur, Zentralisierung, stärkere Unterordnung der zivilen
Säule der Bundeswehr. Die andere Seite ist der mögliche
Wandel der Kultur in der Truppe, genauer gesagt des
Selbstverständnisses der Truppe. Eine Armee, die eine
offensive Aufstandsbekämpfung und die Durchsetzung
wirtschaftlicher Interessen auf der Agenda hat, pflegt
eine andere Kultur als eine Armee, die sich an den Zwe-

8984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

cken der Verteidigung orientiert. Es ist die Frage, was
dann vom Staatsbürger in Uniform übrig bleibt; das ist
für den Wehrbeauftragten ein zentrales Thema.

Man kann aggressive Patches an der Uniform oder im
Selbstdruck hergestellte T-Shirts als Randerscheinungen
abtun. Schwieriger wird es, wenn man in den Einsätzen
dazu kommt, gezielte Tötungen zumindest billigend in
Kauf zu nehmen. Es wird ganz gefährlich, wenn sich
– nicht zuletzt in Verbindung mit diesen Einsätzen – ein
elitäres Korpsdenken und eine sich vertiefende Skepsis
gegenüber dem Parlamentarismus durchsetzen sollten.
Die Ergebnisse der im März 2010 veröffentlichten
SOWI-Studie der Bundeswehr müssen uns in diesem
Zusammenhang zu denken geben. Das ist ein wichtiges
Thema, über das wir im nächsten Jahr dringend zu dis-
kutieren haben.

2011 haben wir also nicht nur über Standortentschei-
dungen und Ausrüstungsvorhaben zu reden, sondern
auch darüber, wie man die Innere Führung und damit ein
gewisses Maß an Zivilität – darum geht es schließlich –
in den Streitkräften wiederbeleben bzw. stärken kann.
Folgende Themen stehen also an: Beteiligungsrechte der
Soldatinnen und Soldaten, strikte Ausrichtung der Streit-
kräfte an internationalem Recht und Gesetz sowie Fort-
führung der Bundeswehr als Ausbildungsarmee unter
veränderten Bedingungen. Wenn man den Anteil der
Zeitsoldaten erhöhen will, muss man auch etwas tun, um
sie besser auf die Zeit danach vorzubereiten. All das sind
dringende Fragen, über die diskutiert werden muss. In
diesem Zusammenhang ist das Amt des Wehrbeauftrag-
ten von zentraler Bedeutung.

Natürlich wünsche ich uns allen hier und auch allen,
die uns zusehen, frohe Weihnachten und wünsche, dass
die Soldatinnen und Soldaten gesund zurückkehren. Da-
bei gilt: Je früher, desto besser.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708114000

Die Kollegin Agnes Malczak hat jetzt das Wort für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708114100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrter Herr Königshaus, ich möchte Ihnen genauso wie
Ihrem Vorgänger, Reinhold Robbe, im Namen meiner
Fraktion danken. Ich möchte aber auch den Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeitern danken, die die Vielzahl der
Eingaben bearbeiten und ihre Aufgabe engagiert erfül-
len.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten für das
Jahr 2009 nimmt die Situation der Soldatinnen und Sol-
daten und der Bundeswehr insgesamt in den Blick –
sachlich, klar und differenziert. Das Parlament und die
Regierung sind aufgefordert, diesen Bericht nicht ein-
fach nur zur Kenntnis zu nehmen; wir müssen ihn auch
als Aufforderung zum Handeln verstehen.
Eine Funktion des jährlichen Berichtes des Wehrbe-
auftragten ist die Herstellung von Aufmerksamkeit –
Aufmerksamkeit für den Zustand der Bundeswehr und
die Situation der Soldatinnen und Soldaten; denn die
Bundeswehr ist kein Staat im Staate, und sie soll es auch
nie werden. Gleichzeitig haben wir eine besondere Ver-
antwortung für die Soldatinnen und Soldaten. Der
jüngste Versuch des Verteidigungsministers, diese not-
wendige Aufmerksamkeit herzustellen, ging allerdings
fehl. Es ist doch vollkommen klar: Mit einer Aktion wie
diesem Truppenbesuch mit Gattin und Talkmaster wird
die Aufmerksamkeit von der schwierigen Situation in
Afghanistan abgelenkt.


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: Oh, jetzt geht das schon wieder los! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Schauen Sie sich das heute Abend erst einmal an!)


Im Vordergrund stehen schöne Bilder des Ehepaares zu
Guttenberg. Im grellen Blitzlichtgewitter aber verblassen
Probleme, Sorgen und Nöte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das kann nicht im Sinne der Soldatinnen und Soldaten
sein. Die Intention mag richtig gewesen sein, diese In-
szenierung aber war unangemessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Florian Hahn [CDU/CSU]: Unangemessen ist die Reaktion der Opposition!)


Gewisse Themen haben für eine bestimmte Zeit Kon-
junktur. Doch kaum rutschen diese Themen von den vor-
deren Seiten der Zeitungen, scheint auch der Handlungs-
druck nachzulassen. Als dieser Bericht vorgestellt
wurde, dominierten die Personalprobleme im Sanitäts-
dienst generell die Debatte. Die Personallücken dort ha-
ben gravierende Folgen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Vorschläge!)


Es geht beim Sanitätsdienst auch um die psychologische
und psychiatrische Betreuung der Bundeswehrangehöri-
gen.

Ein anderes Thema, das vor einiger Zeit Konjunktur
hatte, nun aber viel zu wenig Aufmerksamkeit genießt,
ist die steigende Zahl der Soldatinnen und Soldaten, die
unter einer einsatzbedingten posttraumatischen Belas-
tungsstörung leiden. Ich freue mich, dass eigentlich alle
Redner und Rednerinnen vor mir dieses wichtige Thema
angesprochen haben. Die Soldatinnen und Soldaten, die
davon betroffen sind, sind auf psychologisch gut ausge-
bildetes Personal und eine qualifizierte psychotherapeu-
tische Behandlung angewiesen. Ich halte es für falsch
und gefährlich, dass das Verteidigungsministerium in
seiner Stellungnahme beschönigend so tut, als sei in die-
sem Bereich alles Nötige bereits getan.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Das ist Realitätsverweigerung. Die Maßnahmen, die das
Verteidigungsministerium für den Sanitätsdienst bisher
ergriffen hat, greifen zu kurz oder wirken zu langsam.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8985

Agnes Malczak


(A) (C)



(D)(B)

Entscheidend wird sein, was im Zuge der Bundeswehr-
reform in Sachen Sanitätsdienst geschieht.

Natürlich müssen die Bundeswehr und der Verteidi-
gungshaushalt insgesamt einen Beitrag zur Erreichung
der Sparziele leisten. Doch die Koalition schafft es der-
zeit nicht, im Zusammenhang mit der Bundeswehrre-
form ein Gesamtpaket zu schnüren, mit dem auch nur
geringe Einsparungen erreicht werden. Am Ende stehen
wir wieder vor der Frage: Was kann sich die Bundes-
wehr noch leisten? Ich befürchte, dass es dann bei den
Fürsorgeleistungen Abstriche geben wird, statt diese zu
verbessern. Darum kann ich die Entscheidung für eine
Truppenstärke in einer Größenordnung von 185 000 Sol-
datinnen und Soldaten nicht nachvollziehen. Masse auf
Kosten von Qualität macht keinen Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte in diesem
Jahr nur an einer Stelle eine Rolle gespielt hat, ist die In-
nere Führung. Thematisiert wurde sie nur im Zusam-
menhang mit den Vorfällen in Mittenwald. Aufmerk-
samkeit für die Innere Führung brauchen wir aber auch
jenseits der negativen Ereignisse und extremen Vorfälle.
Ihre Prinzipien binden die Bundeswehr an die Werte un-
serer Gesellschaft, zuallererst an die Achtung der Men-
schenrechte. Das ist keine Einbahnstraße: Die Bundes-
wehr muss nicht nur auf die Gesellschaft schauen, die
Gesellschaft muss auch auf die Bundeswehr schauen.

Der Bericht des Wehrbeauftragten ist dafür nur ein In-
strument, wenn auch ein sehr wichtiges. Die Tätigkeit
des Wehrbeauftragten entbindet nicht von der Verpflich-
tung zur weiteren und intensiven Auseinandersetzung
mit der Bundeswehr und der Inneren Führung. Der Be-
richt wirft in diesem Zusammenhang bedenkenswerte
Fragen auf, über die dringend diskutiert werden muss
und die nicht auf die lange Bank geschoben werden dür-
fen.

Die Einsätze im Ausland sind in vielerlei Hinsicht
– auch im Hinblick auf die Innere Führung – eine beson-
dere Herausforderung. Hier stellen sich ebenfalls Fra-
gen, die wir nicht ignorieren dürfen. Werden die Prinzi-
pien der Inneren Führung in der Einsatzsituation
umgesetzt? Was bedeuten zum Beispiel die multilatera-
len Zusammenhänge in den Einsätzen für die Innere
Führung? Dies sind einige Entwicklungen, die es zu be-
gleiten gilt, auch weit über die Vorlage des Berichtes des
Wehrbeauftragten hinaus.

Lassen Sie mich abschließend noch auf einen letzten
Punkt zu sprechen kommen. Manche Zeitgenossen kriti-
sieren gerne diejenigen, die Kritik üben. So manches
Mal wurde beispielsweise gegen die Kritik an der Strate-
gie in Afghanistan die Behauptung ins Feld geführt, mit
Kritik würde die Solidarität mit den Soldatinnen und
Soldaten unterlaufen. Dabei ist es gerade für die Solda-
tinnen und Soldaten ungeheuer wichtig, dass kritisch ge-
fragt wird, ob eine Strategie funktioniert oder nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Adressat solcher kritischen Fragen sind nicht die Sol-
datinnen und Soldaten, sondern in erster Linie die politi-
sche und militärische Führung. Das mag für Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unbequem
und unangenehm sein, aber das müssen Sie aushalten.
Kritische Stellungnahmen und Fragen zu den Einsätzen
werden Sie sich von meiner Fraktion auch weiterhin ge-
fallen lassen müssen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Wir sind doch Kummer gewohnt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708114200

Robert Hochbaum hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Robert Hochbaum (CDU):
Rede ID: ID1708114300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter
Königshaus! Ich möchte zunächst ganz kurz auf die
Rede von Frau Evers-Meyer eingehen, die davon ge-
sprochen hat, dass im letzten Jahr im Bereich PTBS
überhaupt nichts passiert sei. Ich weiß nicht, ob Ihnen
entgangen ist, dass wir inzwischen ein PTBS-Trauma-
zentrum, einen PTBS-Beauftragten etc. haben. Die Liste
könnte beliebig fortgesetzt werden. Ich möchte betonen,
dass viel getan worden ist. Dafür danke ich unserem
Minister an dieser Stelle ausdrücklich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir beraten heute den 51. Bericht des Wehrbeauftrag-
ten, der von dem damaligen Wehrbeauftragen, Reinhold
Robbe, vorgelegt wurde. Wir haben inzwischen einen
neuen Wehrbeauftragten. Interessant ist: Dessen aktuelle
Berichte sind dem Bericht, der dieser Debatte zugrunde
liegt – zum Beispiel bezüglich der Ausrüstung in den
Einsätzen –, zumindest ähnlich.

Aus diesem Grund möchte ich einen mir besonders
wichtigen Punkt herausgreifen: die beschriebenen Män-
gel an der Ausrüstung der Soldaten, ob im Einsatz oder
bei der Vorbereitung zu Hause. In diesem Zusammen-
hang hat auch der neue Wehrbeauftragte, wie ich finde,
bereits auf nachhaltige Weise seiner Funktion, Anwalt
der Soldaten zu sein, Ausdruck verliehen. Dafür möchte
ich an dieser Stelle dir, lieber Hellmut Königshaus, und
deiner Mannschaft großen Dank sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zurück zu den aufgeführten Mängeln beim Material,
von denen Soldaten mir und, wie ich weiß, auch anderen
meiner Kolleginnen und Kollegen vor Ort in Afghanis-
tan, aber auch in den Heimatstandorten immer wieder
berichtet haben. Wir sollten dies nicht einfach beiseite-
wischen, sondern sehr genau zuhören und natürlich für
Abhilfe sorgen. Wenn es um geschützte Fahrzeuge, um
Waffen, ja sogar – so lapidar das klingt – um Munition
für unsere Einsatzkräfte geht, sollte bei allen die be-
rühmte rote Lampe aufleuchten. Bei aller Kritik weiß ich
eines genau: Gerade diesen Hinweisen wird vonseiten
unseres Ministers sehr verantwortlich nachgegangen,

8986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Robert Hochbaum


(A) (C)



(D)(B)

und das Abstellen tatsächlich erkannter Mängel wird un-
verzüglich angeordnet.

Doch warum tauchen sie dann immer wieder auf?
Warum dauert ihre Behebung oft länger, als es für mich
persönlich ertragbar ist? Beim näheren Beleuchten die-
ser Frage stößt man unweigerlich, über kurz oder lang,
auf ein leider weithin bekanntes Stichwort: die Bürokra-
tie. Sie stellt schon ein Problem dar, wenn es um die
Frage geht, wie schnell angesichts eines erkannten Man-
gels eine Entscheidung über seine Behebung erfolgen
kann. Noch konkreter: Wie lange dauert es dann, bis der
Mangel behoben wird?

Um es deutlicher zu sagen: Gerade beim Letztge-
nannten kommt es mir oft so vor, als ob mancherorts Be-
amte im Spiel sind, die nicht immer die Notwendigkeit,
vor allem aber nicht die Dringlichkeit von Beschaffun-
gen und Maßnahmen für unsere Soldatinnen und Solda-
ten in den Einsätzen sehen. Hier darf es, wenn es darauf
ankommt, auch einmal keinen normalen Feierabend und
keine Regelstundenzahl in der Woche geben. Ich will es
auf den Punkt bringen: Im und für den Einsatz hat Büro-
kratie nichts zu suchen.

Ich darf die in genau dieselbe Kerbe treffenden Worte
des Ministers, die er bei der Kommandeurstagung der
Bundeswehr in Dresden sagte, zitieren:

Es gibt auch noch die andere Bundeswehr, ein Sys-
tem bürokratischer Regelungswut, die Praxis des
Absicherns und des Nach-oben-Schiebens – melden
soll angeblich frei machen. Wenn wir damit nicht
Schluss machen, dann werden wir scheitern!

Richtig, Herr Minister.

Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang meine
Hochachtung und meinen Dank aussprechen. Sie haben,
neu im Amt, die Problematik, die schon seit langer Zeit
bestanden hat, erkannt und bauen die Bundeswehr um.
Ich weiß, dass es dabei nicht nur, was immer die Runde
macht, um Kopfzahlen und Geld geht, sondern auch um
Effizienz, um Effizienz, die helfen wird, auch diese Pro-
bleme zumindest zu minimieren. Das tun Sie nicht für
uns – das weiß ich –, sondern für die Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz. Dafür danke ich Ihnen und wün-
sche Ihnen tatkräftige Unterstützung aus diesem Haus
und viel Erfolg auf diesem nicht ganz einfachen Weg.

Sehr geehrte Damen und Herren, abschließend noch
einige Sätze zum Stichwort „Rückhalt in der Gesell-
schaft“. In einer Woche feiern wir Weihnachten. Nichts
ist schöner, als dieses Fest mit seiner Familie zu bege-
hen. Viele Soldatinnen und Soldaten können dies nicht
tun, weil sie im Einsatz sind und für unsere Sicherheit
Leib und Leben riskieren. Es liegt an uns, ihnen dabei
Rückhalt zu geben. Aber das ist nicht nur unsere Auf-
gabe. Es ist auch die Aufgabe aller gesellschaftlichen In-
stitutionen und Organisationen.

Ein sichtbares Zeichen des Beistandes wäre beispiels-
weise ein Innehalten und Gedenken an unsere Soldaten
bei größeren Veranstaltungen. Gerade in diesen Tagen
würde ich mir dies von allen gesellschaftlichen Akteuren
wünschen, denen ich zurufe: Seien Sie gedanklich bei
unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, und halten
Sie für eine Minute inne!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708114400

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Vertei-
digungsausschusses zum Jahresbericht 2009 des Wehr-
beauftragten auf den Drucksachen 17/900 und 17/3738.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung einstim-
mig angenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Engagementpolitik im Dialog mit der Bürger-
gesellschaft

– Drucksache 17/3712 –

Hierzu ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde zu de-
battieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ute Kumpf das
Wort.


(Beifall bei der SPD)



Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1708114500

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich vermisse jemanden auf der Regierungsbank. Ich
weiß nicht, ob noch jemand aus dem zuständigen Hause
kommt, um uns bei der Debatte zum bürgerschaftlichen
Engagement zu begleiten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wer soll noch kommen? – Iris Gleicke [SPD]: So sind sie! – Gerold Reichenbach [SPD]: So weit interessiert die das Thema!)


Soweit dieses Feld die Ministerin interessiert, sollte sie
sich ein bisschen mehr reinknien.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht mal ein Staatssekretär aus dem Hause ist da! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Die Bürgergesellschaft ist schon da! – Caren Marks [SPD]: Zumindest ein paar in diesem Raum wissen, wie man es richtig macht!)


Ich sehe auch nicht den zuständigen Staatssekretär. Aber
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind ja hier.

Wir debattieren heute über ein sehr wichtiges Politik-
feld, das wir am 5. Dezember immer sehr hoch halten,
bei dem wir, wenn es zum Schwur kommt, in Bezug auf
die Regierung aber auch Schwächen feststellen. Jeder
von uns weiß, dass bürgerschaftliches Engagement für

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8987

Ute Kumpf


(A) (C)



(D)(B)

eine vitale Demokratie und für den Zusammenhalt unse-
rer Gesellschaft unabdingbar ist. Wer sich freiwillig en-
gagiert, leistet in Eigenverantwortung und Eigeninitia-
tive einen wesentlichen Beitrag für unsere Gesellschaft,
mit dem Vertrauen und Solidarität gestiftet wird.

Bürgerschaftliches Engagement hat viele Gesichter.
Das wissen Sie alle. Sie alle sind in den Wahlkreisen un-
terwegs und kennen Ihren Teil von den 23 Millionen
Menschen, die sich in insgesamt 550 000 Vereinen,
17 000 Stiftungen sowie in Genossenschaften, Netzwer-
ken und Wohlfahrtsverbänden engagieren. Dieses Enga-
gement verdient unsere Anerkennung und Wertschät-
zung und vor allem eine Politik, die die Förderung
bürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe ver-
steht.

Bürgerschaftliches Engagement kann nicht verordnet
und darf nicht verzweckt und als Lückenbüßer miss-
braucht werden. Bürgerschaftliches Engagement ist
nicht zum Nulltarif zu haben. Seit der Vorlage des Ab-
schlussberichts der Enquete-Kommission „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements“ waren diese Punkte
über alle Fraktionen in diesem Hause hinweg immer
Konsens. Darauf aufbauend haben wir seit über zehn
Jahren Politik für die Engagierten entwickelt. Noch in
der Großen Koalition wurde im Januar 2009 der Prozess
für eine nationale Engagementstrategie angestoßen. Wir,
die SPD, waren und sind nach wie vor davon überzeugt,
dass eine nationale Engagementstrategie nur im Dialog
und auf gleicher Augenhöhe mit der Bürgergesellschaft
entwickelt werden kann.


(Beifall bei der SPD – Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues nimmt auf der Regierungsbank Platz)


– Jetzt ist das Ministerium endlich auch vertreten, wenn
auch nicht in Person der Ministerin, sondern eines ent-
sprechenden Zuträgers.


(Zuruf von der SPD: Wir schenken der Bundesregierung mal eine Uhr! – Markus Grübel [CDU/CSU]: Der „Zuträger“ ist der Parlamentarische Staatssekretär! So viel Zeit muss sein!)


Ich hoffe, er nimmt die Ergebnisse der Debatte auch mit.
Ich hätte mir eine Ministerin gewünscht, die sich für die-
ses wichtige Politikfeld – vor zwei Wochen hat sie noch
Preise für bürgerschaftliches Engagement verteilt – auch
einmal nachmittags Zeit nimmt. Es wäre den Zeitauf-
wand von einer Stunde wert, sich einmal ein bisschen
mit dem vertraut zu machen, was wir in den letzten zehn
Jahren gemeinsam geleistet haben. Auch wenn wir hier
nur ein kleiner, aber sehr engagierter Kreis sind, hätten
wir die Aufmerksamkeit der Ministerin verdient.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie wird es nachlesen im Protokoll!)


– Ich hoffe es.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wenn es sich lohnt!)

Die Bundesregierung hat zu Beginn der Legislatur-
periode angekündigt, das Vorhaben einer nationalen
Engagementstrategie, das wir 2009 in der Großen Koali-
tion gemeinsam geschultert haben, weiter zu verfolgen.
Als die nationale Engagementstrategie am 6. Oktober
beschlossen wurde, gab es große Überraschungen, Ent-
täuschungen und natürlich auch höfliche Bekundungen,
da man es sich mit dem zukünftigen Geldgeber natürlich
nicht verscherzen will; das wissen Sie ja, Herr Grübel.

Die beschlossene Engagementstrategie wurde aber
durch die Haushaltsbeschlüsse konterkariert, die heftige
Einschnitte bei Projekten vorsehen, die wir für wegwei-
send halten, um Engagement überhaupt zu ermöglichen.
Es darf einen nicht wundern, dass kein Vertrauen wächst,
wenn auf der einen Seite große Versprechungen gemacht
werden, die sich dann auf der anderen Seite aber nicht in
finanzieller Unterstützung niederschlagen.

Ich will einige Beispiele nennen. Mit Engagement als
Motor für Integration und Teilhabe will die Strategie den
gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Diesen Satz
unterschreiben wir alle. Aber was macht die Regierung?
Abrissbirne statt Abbau: Das Programm „Soziale Stadt“
soll nach dem Willen der Bundesregierung totgespart
werden. Zukünftig darf nur noch in Beton, aber nicht
mehr in Bürgerbeteiligung investiert werden.

Zweites Beispiel. Mit Engagement für Bildung und
individuelle Förderung will die Engagementstrategie
faire Chancen in unserer Gesellschaft schaffen. Doch
was geschieht konkret? Statt die Aussetzung der Wehr-
pflicht für einen entschlossenen Ausbau der Jugendfrei-
willigendienste zu nutzen, errichtet die Bundesregierung
mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst Doppelstruktu-
ren und schafft damit vor allem eine Verstaatlichung der
Freiwilligenarbeit.

Auch die angekündigten lokalen Bildungsbündnisse
bleiben leere Versprechungen, wenn die föderale Zusam-
menarbeit nicht ernsthaft angegangen wird. Statt dass
Bildungspäckchen geschnürt werden, fordern wir von
der SPD, mehr Geld in Ganztagsschulen zu investieren
und die Schule gemeinsam mit der Bürgergesellschaft zu
einer Bürgerschule zu entwickeln, in der Engagement
gelernt und auch erfahren wird.

Drittes Beispiel. Die Engagementstrategie wirbt für
die Bewahrung eines intakten Lebensumfeldes durch
bürgerschaftliches Engagement: Auch das können wir
unterstreichen. Dafür ist aber eine entsprechende Infra-
struktur nötig, wie Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros
und auch Selbsthilfegruppen, die vor Ort vermitteln,
qualifizieren und unterstützen, sowie Netzwerke auf lo-
kaler und Bundesebene.

Doch auch hier wieder: Schall und Rauch. Der sowieso
schon kleine Haushaltstitel für Infrastruktur, Netzwerke
und Freiwilligenagenturen, der 2009 noch 2,3 Millionen
Euro umfasste, wird in 2011 auf 1,6 Millionen Euro
„eingedampft“. Die Bürgerstiftungen sollen hier als Aus-
fallbürgen einspringen, aber ich glaube, keiner von der
Bundesregierung hat die Bürgerstiftungen je gefragt, ob
sie dazu bereit sind, diese Aufgabe zu übernehmen.

8988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Ute Kumpf


(A) (C)



(D)(B)

Letztes Beispiel. Mit der nationalen Engagementstra-
tegie soll Engagierten durch die Verbesserung der recht-
lichen Rahmenbedingungen geholfen werden. Auch
dazu können wir sagen: Ja, das wollen wir. – Bei der
konkreten Ausgestaltung herrscht aber Fehlanzeige.

Es fehlen Aussagen zum Zuwendungsrecht und zum
Bürokratieabbau. Dabei ist das Feld schon bearbeitet
und beackert. Es gab eine Kommission im Bundeskanz-
leramt, die Vorarbeiten geleistet hat, es gibt Vorarbeiten
von der Arbeitsgruppe im „Nationalen Forum für Enga-
gement und Partizipation“, und es gibt Empfehlungen
noch und nöcher, die wir aufgrund unserer Erfahrungen
2008 bei dem Gemeinnützigkeits- und Stiftungsrecht
auch schon aufgegriffen haben, um praxistaugliche Lö-
sungen zu finden.

Wir sagen heute an dieser Stelle: Wir bieten unsere
Mitarbeit dabei an, Ihre Engagementstrategie, die diesen
Namen bislang noch nicht verdient, weiterzuentwickeln
und weiter auszubauen. Gehen Sie auf die Vorschläge
ein, die jetzt bei der Onlinebefragung bei Ihnen einge-
gangen sind, und entwickeln Sie tatsächlich einen Dia-
log mit der Bürgergesellschaft auf gleicher Augenhöhe,
um eine Engagementstrategie auf den Weg zu bringen,
die diesen Namen wirklich verdient! Wir sind dazu be-
reit.

Zunächst einmal bitten wir aber um die Beantwortung
unserer Großen Anfrage, damit wir im Jahr 2011 weiter
mit Ihnen diskutieren – ich glaube, das wäre passend;
denn das Jahr 2011 wird das Europäische Jahr der Frei-
willigentätigkeit sein – und tatsächlich gemeinsam über
die Fraktionen hinweg weiter eine nachhaltige Engage-
mentpolitik hier in diesem Hause betreiben können.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708114600

Jetzt hat die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1708114700

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber
Herr Staatssekretär! Frau Kollegin Kumpf, bevor Sie
sich darüber beschweren, dass die Frau Ministerin nicht
anwesend ist, um Ihrer großartigen Rede zu lauschen,
die, lassen Sie es mich gelinde sagen, nicht so großartig
war, sollten Sie lieber dankbar sein, dass die Ministerin
an großartigen Programmen arbeitet, durch die die Ar-
beitsbedingungen der Ehrenamtlichen in diesem Lande
verbessert werden.


(Zurufe von der SPD: Ui!)


Ohne bürgerschaftliches Engagement wäre unsere
Gesellschaft ärmer – nicht nur im materiellen Sinne. Das
hat unsere Fraktion gemeinsam mit unserem Koalitions-
partner erkannt.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keiner weiß, was konkret Sie damit meinen!)


Nach den neuesten Ergebnissen des dritten Freiwilligen-
surveys engagieren sich 71 Prozent unserer Bundesbürge-
rinnen und Bundesbürger über 14 Jahren ehrenamtlich.
Das sind sage und schreibe 23 Millionen Menschen.

Ich freue mich über jeden Einzelnen, der dazu bei-
trägt, unsere Gesellschaft menschlicher zu machen, und
der einen persönlichen Beitrag leistet, ohne viel Aufhe-
bens darum zu machen. Ich glaube, diese Hochachtung
müssen wir denjenigen zollen, die das Tag für Tag, Wo-
che für Woche und Monat für Monat in diesem Land tun.
Sie tun das natürlich nicht nur in Nachbarschaftshilfen,
in Sportvereinen, bei den Kirchen, bei den Feuerwehren,
bei Rettungsdiensten, in Heimen und in Krankenhäu-
sern. Ich möchte mich auch einmal ganz herzlich bei
denjenigen bedanken, die sich politisch ehrenamtlich en-
gagieren. Auch das ist sehr wichtig für unsere Demokra-
tie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit diese Begeisterung nicht nachlässt, müssen
förderliche Rahmenbedingungen durch eine zukunftsfä-
hige Engagementpolitik geschaffen werden, und zwar
für alle Altersklassen, für Menschen mit und für Men-
schen ohne Migrationshintergrund, für Begabte, für
Benachteiligte, für Frauen und für Männer. Das gilt na-
türlich nicht nur für die älteren Mitbürgerinnen und Mit-
bürger, nein, gerade auch die Jüngeren wollen sich aktiv
einbringen. Wir haben zusätzlich zu den 35 Prozent der
14- bis 24-Jährigen, die sich bereits engagieren, weitere
49 Prozent, die angeben, dass sie sich vorstellen können,
eine ehrenamtliche Tätigkeit zu übernehmen. Das heißt
für mich ganz deutlich, dass es nicht out ist, sich ehren-
amtlich zu engagieren, dass es nicht veraltet ist, sondern
dass ein ganz großes, tiefes Bedürfnis vorhanden ist. Wir
müssen auch die Rahmenbedingungen schaffen, damit
man nicht über diejenigen, die sich ehrenamtlich enga-
gieren, sagt: Bist du blöd, dich zu engagieren. – Viel-
mehr sollte man dies eigentlich über diejenigen sagen,
die das nicht tun.

Die Zahlen zeigen auch, dass junge Menschen keines-
wegs ichbezogen, lethargisch und desinteressiert sind,
sondern sich sehr wohl engagieren wollen. Deswegen
haben wir gemeinsam mit der FDP das tolle Modul der
Jugendfreiwilligendienste und des neuen Bundesfreiwil-
ligendienstes entwickelt. Ich freue mich sehr, dass im
Anschluss meine Kollegen Markus Grübel und Dr. Peter
Tauber dazu noch ausführlicher Stellung nehmen wer-
den.


(Gerold Reichenbach [SPD]: Wissen das Ihre Kollegen von der FDP auch schon? – Weitere Zurufe von der SPD)


– Es würde auch schon helfen, wenn man nicht nur kriti-
siert, dass jemand nicht da ist. Es nützt nämlich auch
nichts, sich hier nur den Hintern platt zu sitzen, Frau
Kumpf, die ganze Zeit zu schwätzen und nicht aufzupas-
sen. Da ist mir jemand lieber, der außerhalb des Parla-
ments arbeitet, statt dass jemand hier sitzt, der sich die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8989

Dorothee Bär


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(D)(B)

ganze Zeit überhaupt nicht für die Debatte interessiert,
aber schreit: Wir interessieren uns dafür wahnsinnig.


(Widerspruch bei der SPD)


– Jetzt ist die SPD endlich auch aufgewacht.

Exemplarisch für funktionierendes Engagement im
kommunalen Bereich sind die Mehrgenerationenhäuser.
Die 500 Häuser, die wir haben, arbeiten in der Regel äu-
ßerst erfolgreich. Die Häuser sind offen für die Men-
schen in Stadt, Gemeinde oder Landkreis. Das Konzept,
das von der damaligen zuständigen Ministerin Frau von
der Leyen vorgestellt und umgesetzt wurde, sieht vor,
dass sich hier Menschen generationenübergreifend tref-
fen, dass es Hilfe zur Selbsthilfe und ein neues nachbar-
schaftliches Miteinander gibt. Die Mehrgenerationen-
häuser werden zu über 60 Prozent von ehrenamtlich
Engagierten getragen. Das heißt, über 16 000 Freiwillige
unterstützen die Arbeit in diesen 500 Häusern.

Ich bin wahnsinnig froh, dass es uns als CDU/CSU-
Bundestagsfraktion in vielen Gesprächen gelungen ist,
dieses Erfolgsprojekt in die Zukunft zu tragen, darüber,
dass wir es nicht nur im Koalitionsvertrag verankert ha-
ben, sondern wir nach einem Jahr der vielen Gespräche
und Diskussionen sagen können: Dieses Erfolgsprojekt
wird in die Zukunft getragen.

Ich freue mich, dass wir ein neues Programm mit vier
neuen Schwerpunktthemen haben. Eines davon ist für
unsere Gesellschaft sehr wichtig, nämlich Alter und
Pflege; hinzu kommen die Themen Integration und Bil-
dung, haushaltsnahe Dienstleistungen und freiwilliges
Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Der Förder-
zeitraum soll drei Jahre betragen, die Fördersumme wie
bislang 40 000 Euro im Jahr. In Zukunft sollen sich aber
auch die Kommunen daran beteiligen, wobei es ihnen
freigestellt sein wird, ob sie dies durch Geld- oder durch
Sachleistungen oder aber durch das Zurverfügungstellen
von Personal tun. Insofern betone ich noch einmal, dass
dies nicht nur ein Erfolg für uns ist, sondern ein großer
Erfolg für jeden Einzelnen in diesem Lande, für diejeni-
gen, die sich engagieren, aber auch für diejenigen, für
die dieses Engagement angeboten wird. Es ist also ein
ganz großartiges Zeichen für gelungene Engagement-
politik.

Ein Letztes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen:
Ich bedanke mich bei denjenigen, die am Heiligen
Abend, am 24. Dezember, Freiwilliges leisten. Ich richte
dieses Dankeschön stellvertretend für alle an die Caritas-
Station in Haßfurt, die an diesem Tag für alle Alleinste-
henden ein Weihnachtsfest veranstaltet, damit sie an die-
sem Tag nicht allein sein müssen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708114800

Heidrun Dittrich hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708114900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Die nationale Engagementstrategie gibt vor, die
Eigeninitiative der Bürger zu stärken. Aber welche Ini-
tiative ist gemeint? Viele Eltern, die Grundschulkinder
haben, kennen das aus eigener Erfahrung: Es wird not-
wendig, ein Klassenzimmer zu streichen. Aber ach, die
Stadtverwaltung hat kein Geld für ihre Schule.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Dann sind sie rot-rot regiert!)


Also streichen die Eltern das Klassenzimmer selbst. Bes-
ser wäre es, Sie streichen die Steuervergünstigungen bei
den Reichen.

Stellen Sie lieber den arbeitslosen Maler ein, damit er
über guten Lohn am gesellschaftlichen Leben teilhaben
kann und in die Sozialversicherungssysteme einzahlt!
Das wäre aus meiner Sicht besser, als ihm über Freiwilli-
gen- oder Seniorenagenturen ein ehrenamtliches Enga-
gement zu vermitteln.

Wenn die Eltern selbst streichen, übernehmen sie
Aufgaben des Staates, für die eigentlich er zahlen sollte.
Ich frage mich: Wozu zahlen wir Steuern? Was macht
die Bundesregierung mit unseren Steuern? Das Klassen-
zimmer wird jedenfalls nicht renoviert. Die Steuerein-
nahmen werden stattdessen dafür verwendet, die Steuer-
belastung einer großen Hotelkette zu senken. Dafür ist
sogar in der Wirtschafts- und Finanzkrise Geld da.

Nehmen wir die 480 Milliarden Euro, die allein in der
Bundesrepublik Deutschland für die Rettung der Banken
bereitgehalten werden. Kein Wunder, dass dem Staat das
Geld fehlt, um die Schulen zu sanieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Nicht Deutschland schafft sich ab, wie ein SPD-Mitglied
kürzlich äußerte, sondern der Sozialstaat wird abge-
schafft.

Noch steht in Art. 20 unseres Grundgesetzes, dass wir
ein sozialer Bundesstaat sind. Der hauptsächliche Inhalt
des staatlichen Handelns sollte nicht die Umverteilung
zu Unternehmen und Banken sein, sondern die Bereit-
stellung von Schulen und Kindertagesstätten und die
Vorsorge bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Aber ge-
rade dafür geht das Geld aus.

An dieser Stelle bietet die nationale Engagementstra-
tegie eine unternehmerfreundliche Lösung. Damit wir
uns richtig verstehen: Ich bin nicht dagegen, eine Stif-
tung für krebskranke Kinder ins Leben zu rufen – aber
nicht zur Ergänzung sozialstaatlicher Aufgaben.

Es wurde immer behauptet, der Sozialstaat sei nicht
mehr bezahlbar. Erst wurde er arm gemacht, und jetzt
wird er abgeschafft.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Beim bürgerschaftlichen Engagement sind die ganz
Großen aber dabei. Die Deutsche Bank und die
Bertelsmann AG sind bereit, mit Stiftungsmitteln staat-
liche Aufgaben privat zu finanzieren. Was geschieht ei-

8990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Heidrun Dittrich


(A) (C)



(D)(B)

gentlich beim Einsatz von Stiftungsmitteln? Die Stiftun-
gen erhalten einen Teil des eingesetzten Geldes vom
Staat, also vom Steuerzahler, zurück. Gleichzeitig wird
kostenlos Werbung gemacht. Außerdem wählen sie aus,
wo ihr Geld eingesetzt wird. Jetzt wird es völlig unde-
mokratisch: Diese Gelder fließen an den demokratischen
Institutionen unseres Staates vorbei. Wir bestimmen
nicht mehr durch Wahlen, Wahlprogramme oder das Par-
lament, wo die Kinder gleichmäßig zu fördern sind. Wir
bestimmen nicht mehr, wie in den Kitas Gruppen ver-
kleinert und mehr Erzieherinnen eingestellt werden kön-
nen.


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Das muss doch das Land bestimmen! Das ist doch gar nicht unsere Kompetenz!)


Nur einzelne Projekte werden befristet gefördert. Die
eine Stadt hat Glück; die andere geht leer aus. Auch das
widerspricht dem Grundsatz, gleiche Lebensbedingun-
gen für alle herzustellen. Wer kennt sie nicht, die Spon-
sorenläufe in der Schule oder die Drittmitteleinwerbung,
damit noch Bundeszuschüsse an Mehrgenerationenhäu-
ser gewährt werden können?


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie eigentlich noch über bürgerschaftliches Engagement?)


Ihre Bürgergesellschaft ist das Gegenmodell zum So-
zialstaat.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt sie langsam zum Thema!)


Sie ist der privatisierte Staat. Vorsorgeeinrichtungen wie
private Krankenhäuser sollen Profit bringen. Bildung
soll Geld kosten. Krankheit soll Geld kosten.

Es ist demokratischer, wenn die großen Unternehmen
höher besteuert werden und die Steuerhinterziehung be-
endet wird. Dann können soziale Leistungen dauerhaft
bezahlt werden. Nur so stellen Sie den Sozialstaat wie-
der her.

Was aber ist in diesem Land Realität? Freiwillige des
neuen Bundesfreiwilligendienstes werden als Pflege-
dienstleistende mit Taschengeld oder gleich als Ehren-
amtliche eingesetzt. Deutschland ist weltweit der Lohn-
drücker Nummer eins geworden, wie die Internationale
Arbeitsorganisation in Genf feststellt. Das stempelt
Deutschland zum Hauptschuldigen der Krise in Europa.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht! Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben?)


Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie die Menschen ernst
in ihrem Engagement, statt das Ehrenamt zu benutzen,
um in der Pflege Lücken zu schließen! Frau Bär hat sich
schon dafür bedankt, aber sie meint es bestimmt anders
als ich. Nehmen Sie die Menschen ernst, die gegen
Stuttgart 21 sind!


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Die Mehrheit hat sich nach der Umfrage geändert!)

Nehmen Sie die Menschen ernst, die in Gorleben und
Lubmin gegen den Castortransport demonstrieren!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


In Stuttgart haben sich Tausende für ihre Interessen ein-
gesetzt. Das wurde mit einem Wasserwerfer beantwortet.
Gehen Sie morgen um 9 Uhr zum Bundesrat! Dort wol-
len die Menschen gegen die ungerechte Hartz-IV-Ge-
setzgebung demonstrieren. Denn die Bürgerinnen und
Bürger wollen nicht Niedriglohnland Nummer eins sein.
Beenden Sie endlich die soziale Kälte in unserem Land!


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708115000

Florian Bernschneider hat jetzt für die FDP-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1708115100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Dittrich, ich bin immer wieder erschro-
cken, wie man so etwas überhaupt sagen kann. Sie müs-
sen sich doch einmal vorstellen, was Sie den Menschen,
die sich in diesem Land ehrenamtlich engagieren, mit
solchen Äußerungen zumuten. Wie kann es denn sein,
dass wir über bürgerschaftliches Engagement sprechen
und Ihr zweiter Satz sich mit dem Mindestlohn beschäf-
tigt?


(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Das ist genau richtig!)


Von dieser ewigen Platte, die wir auch aus dem Aus-
schuss kennen, sollten Sie sich irgendwann trennen; es
wird nicht dadurch besser, dass Sie es ständig wiederho-
len.


(Beifall bei der FDP)


Aber, liebe Frau Kumpf, ich verstehe auch, ehrlich
gesagt, gar nicht, warum wir heute über diese Große An-
frage diskutieren, wenn zu ihr noch keine Antworten
vorliegen. Sie haben vorhin angemahnt, dass Ihnen an
einem Dialog mit der Bundesregierung liegt. Dann muss
man eben auch abwarten, bis die Antworten auf die Fra-
gen vorliegen, die man stellt, weil der Dialog ansonsten
schwierig ist.


(Zuruf der Abg. Ute Kumpf [SPD])


– Wenn man die Antworten aber nicht abwartet, dann ist
es schwierig, darüber zu diskutieren. Es mag auch an
meiner geringen Erfahrung als junger Abgeordneter lie-
gen; aber ich glaube, es ist nicht gewöhnlich, dass man
über eine Große Anfrage diskutiert, bevor die Antwort
vorliegt.


(Caren Marks [SPD]: Das ist sehr gewöhnlich! – Ute Kumpf [SPD]: Das ist das normale parlamentarische Recht!)


– Das scheint jetzt in Ihrer Oppositionsarbeit gewöhnlich
zu werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8991

Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

Frau Kumpf, ich werde das Gefühl nicht los, dass
diese Anfrage auch deswegen debattiert wird, damit die
SPD in diesem Jahr noch einmal unter dem Stichwort
„bürgerschaftliches Engagement und Engagementpoli-
tik“ stattfindet;


(Caren Marks [SPD]: Das haben wir gar nicht nötig!)


denn es scheint Sie zu ärgern, dass wir hier mit großen
Schritten vorankommen. Deswegen zählen Sie ja auch
die engagementpolitischen Erfolge der SPD in den letz-
ten Jahrzehnten in dieser Großen Anfrage noch einmal
auf. Einerseits halte ich das für albern, andererseits kann
ich Ihnen aber auch ehrlich sagen, dass ich es durchaus
akzeptiere und die Erfolge sozialdemokratischer Enga-
gementpolitik anerkenne. Ich glaube nur, dass es an die-
ser Stelle wenig bringt, sich in der Vergangenheit zu suh-
len. Vielmehr sollten wir gemeinsam schauen, wo die
Herausforderungen der Zukunft liegen.


(Beifall bei der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Der Finanzminister hat sich doch davor gedrückt! Herr Schäuble!)


Wir legen ja Modelle für die Zukunft vor. Das, was
die Bundesregierung hier plant, nämlich den Ausstieg
aus Zwangsdiensten hin zu Freiwilligkeit, ist ein histori-
scher Wandel in der Engagementpolitik. Dann muss man
sich aber auch entsprechend einbringen. Es werden
70 000 Freiwilligendienstplätze geschaffen – das ist der
größte Zuwachs, der in diesem Bereich jemals gesche-
hen ist –, und mit einer pauschalen Förderung in Höhe
von 200 Euro in allen Diensten machen wir endlich mit
den Unübersichtlichkeiten in den Förderstrukturen
Schluss. Ein weiterer Punkt, den Sie ansprechen, ist das
Freiwilligendienststatusgesetz. Natürlich müssen wir da-
rüber sprechen; aber Sie müssen auch anerkennen, dass
das Konzept, das wir hier vorlegen, ein guter Schritt zur
Übersichtlichkeit bei den Freiwilligendiensten ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir schaffen es mit dem Bundesfreiwilligendienst,
endlich eine langfristige Perspektive auch für den Ein-
satz Älterer in den Freiwilligendiensten aufzuzeigen,
und wir fördern gerade diejenigen, die in den Freiwilli-
gendiensten bisher zu kurz kommen, nämlich junge
Menschen mit besonderem pädagogischen Förderbedarf.


(Ute Kumpf [SPD]: Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit, Herr Bernschneider! Aber ich frage Sie nicht!)


Anstatt sich jetzt konstruktiv zum Beispiel in diese Dis-
kussion einzubringen, Frau Kumpf, kritisieren Sie hier
Doppelstrukturen, die wir mit diesem Bundesfreiwilli-
gendienst und der Stärkung der Freiwilligendienste an-
geblich schaffen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tatsächlich, nicht angeblich!)


– Hören Sie doch einfach einmal zu! – Ja, meine Damen
und Herren, es sind zwei Dienste, wie es früher übrigens
auch war: der Zivildienst und die Freiwilligendienste.
Aber im Unterschied dazu sorgen wir dafür, dass die
Freiwilligen, die im Einsatz sind, auch tatsächlich die
gleichen Rahmenbedingungen bekommen, ob es nun
beim Gehalt, beim Taschengeld, bei den Urlaubstagen
oder beim pädagogischen Begleitprogramm ist.

Sie fordern hier von uns schlüssige Konzepte, die wir
angeblich nicht haben. Konkret beim Punkt Freiwilli-
gendienste appelliere ich noch einmal an die SPD, sich
selber einmal Gedanken über Konzepte zu machen.


(Ute Kumpf [SPD]: Wir haben diese Freiwilligendienste ausgebaut!)


– Jetzt hören Sie doch einmal zu, Frau Kumpf! – Ihre
stellvertretende Vorsitzende, die Sozial- und Gesund-
heitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern, Manuela
Schwesig, forderte in einer Pressemitteilung vom 19. No-
vember:

Wir wollen stattdessen

– also statt unseres Modells –

einen Bundesfreiwilligendienst auf Bundesebene.

Hört her, so schlecht kann das also gar nicht sein, was
wir da vorlegen. Am letzten Wochenende beschließt
dann das SPD-Präsidium einen schwammigen Be-
schluss, in dem die Rede davon ist, dass Sie das Freiwil-
lige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr
ausbauen wollen; denn Sie stellen in diesem Beschluss
zu Recht fest, dass „die Jugendfreiwilligendienste, das
freiwillige soziale, ökologische und demokratische Jahr,
die in den vergangenen Jahren großen Zuspruch erfuh-
ren, erfolgreich und langjährig erprobt sind“. Das sind
die Dienste, die Sie ja eigentlich, wie es Ihre Sozialmi-
nisterin sagt, abschaffen wollen. Sie wollen alles auf
Bundesebene verlagern. Ihr Parteivorsitzender Sigmar
Gabriel sagt danach in einem Interview, dass die Organi-
sation für das FSJ aber zukünftig beim BAZ liegen solle
– das verstehe ich auch nicht richtig –, und der Kollege
von Frau Schwesig, Herr Nieszery aus Mecklenburg-
Vorpommern, hat mir bei der NDR-Info-Redezeit emp-
fohlen, wir sollten einmal darüber nachdenken, ob wir
nicht einen sozialen Pflichtdienst für alle wollen. In
puncto Freiwilligendienste ist bei der SPD also für jeden
etwas dabei, außer einem einheitlichen Konzept. Da Sie
uns immer Doppelstrukturen vorwerfen, kann ich Ihnen
nur empfehlen, Ihre eigenen Doppelstrukturen in der Be-
schlusslage zu untersuchen und sich bis dahin konstruk-
tiv an der Debatte zu beteiligen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708115200

Britta Haßelmann hat jetzt das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708115300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Kues, ich
habe das Gefühl, dass wir in dieser Debatte – das haben
einige der Redebeiträge gezeigt – schon einmal sehr viel

8992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Britta Haßelmann


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weiter waren; das finde ich bedauerlich. Das Thema bür-
gerschaftliches Engagement wurde einst – ich bin seit
2005 Mitglied des Deutschen Bundestages; das sage ich
in Ihre Richtung, Herr Bernschneider und Frau Bär –
von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag getragen.
Es gab hier sehr viele Überschneidungspunkte. Man hat
versucht, konstruktiv zusammenzuarbeiten und die posi-
tiven Elemente hervorzuheben, und hat ernsthaft über
die Frage diskutiert, welchen Beitrag der Deutsche Bun-
destag neben den Ländern, den Kommunen sowie den
vielen Initiativen, Verbänden und Institutionen zur För-
derung des bürgerschaftlichen Engagements leisten
kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir alle haben sehr ernsthaft darum gerungen.

Bevor ich Mitglied des Deutschen Bundestages
wurde, gab es eine Enquete-Kommission – das war der
Ausgangspunkt –, in der alle Fraktionen festgestellt ha-
ben, dass es notwendig ist, dass sich der Deutsche Bun-
destag in der Verantwortung sieht, das bürgerschaftliche
Engagement von Menschen in diesem Land zu fördern.
Engagement trägt zu einer lebendigen Zivilgesellschaft
bei. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir manche Re-
debeiträge heute wirklich profan. Es tut mir leid, aber es
geht hier nicht darum, kleinteilig aufzulisten, wer was
gemacht hat. Von diesem Debattenniveau sollten wir uns
verabschieden. Sonst macht ein gemeinsamer Unteraus-
schuss zum bürgerschaftlichen Engagement, in dem bis-
lang interfraktionell intensiv gearbeitet wurde, über-
haupt keinen Sinn. Ich muss an dieser Stelle deutlich
sagen: Ich bin genervt von solchen Redebeiträgen wie
denen von der FDP und der CDU/CSU. Damit tun wir
uns allen und dem Thema keinen Gefallen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir können in der Sache darüber streiten, ob die eine
oder andere Idee richtig oder falsch ist.


(Florian Bernschneider [FDP]: Sagen Sie uns doch einmal ein Beispiel!)


– In der Sache kann ich Ihnen gerne ein paar Beispiele
nennen.

Sie haben im Koalitionsvertrag vereinbart, sich drei
Themen auf diesem Feld zu widmen. Das Erste ist ein
Gesetz zur Förderung des bürgerschaftlichen Engage-
ments. – Nichts! Ein solches Gesetz gibt es bisher nicht.
Das Zweite ist: Sie wollten geeignete Rahmenbedingun-
gen für eine nachhaltige Infrastruktur und Stabilisierung
von Engagement und Partizipation schaffen. – Nichts!
Fehlanzeige! Der gesamte Prozess zur Infrastrukturför-
derung ist regelrecht eingestampft. Darüber wird mit den
Ländern und Kommunen nicht mehr diskutiert. Das
Dritte ist: Sie wollten einen Entwurf des Freiwilligen-
dienstestatusgesetzes vorlegen. – Auch hier Fehlan-
zeige! Niemand weiß, ob dieses Gesetz noch kommt.
Das sind die Fakten; die wollten Sie doch hören.

Ein weiterer Punkt. Im Haushaltsjahr 2011 wird der
Haushaltstitel 68472 zur Förderung des bürgerschaftli-
chen Engagements von 2 Millionen Euro um 400 000
Euro bzw. 20 Prozent gekürzt. Sie wollten doch ein paar
Fakten hören. Das sind die Fakten. Sagen Sie angesichts
dessen also nicht, wie toll Sie von Schwarz-Gelb das
bürgerschaftliche Engagement fördern!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich nenne Ihnen gerne weitere Fakten. Sie haben in
der letzten Legislaturperiode in der Großen Koalition,
unterstützt durch uns Grüne, vereinbart, auch Menschen,
die im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind, eine Aufwands-
pauschale als Anerkennung zukommen zu lassen, die
nicht auf den ALG-II-Satz, also auf das Geld, das man
nach dem SGB II bekommt, angerechnet wird.

Alle diese Vereinbarungen, die Sie, CDU/CSU und
SPD, damals gemeinsam vorgeschlagen haben, wurden
jetzt in den Haushaltsplanberatungen sang- und klanglos
unter dem Stichwort SGB II einkassiert und nicht weiter
berücksichtigt. Als ich die Kollegen von der CDU/CSU
darauf ansprach, wussten sie das nicht einmal. So sieht
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements bei Ih-
nen anscheinend aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich finde, wir tun dem Thema keinen Gefallen – des-
halb bin ich auch so ruhig gestartet –, wenn wir uns strei-
ten; denn eigentlich stellt sich in Zeiten einer öffentli-
chen Debatte über Stuttgart 21, eines Volksentscheids in
Hamburg oder von Diskussionen in vielen Städten und
Kommunen über Teilhabe, Partizipation und Bürger-
haushalte doch für uns alle im Deutschen Bundestag eine
ganz zentrale Frage: Wie können wir diejenigen einbe-
ziehen, die sich beteiligen wollen, die teilhaben wollen,
die vielleicht nicht Mitglied einer Partei, eines Gemein-
derates oder einer Fraktion sein wollen, die sich aber um
ihr Gemeinwesen Gedanken machen und Verantwortung
übernehmen wollen?


(Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wie können wir deren Arbeit anerkennen? Wie können
wir diese Arbeit fördern und absichern, indem wir zum
Beispiel Freiwilligenagenturen oder andere Anlaufstel-
len in der Infrastruktur absichern? Über solche Fragen
haben wir zu diskutieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir reden hier nicht über Klein-Klein, wie Sie es ge-
tan haben, Frau Bär, indem Sie gesagt haben, wie toll die
Ministerin ist.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Wie lange dauern Ihre fünf Minuten eigentlich?)


Verdammt noch mal, diese Luftblasen, die in der natio-
nalen Engagementstrategie aufgeschrieben sind, sind es
doch nicht wert, dass wir uns in der Tiefe lange damit
beschäftigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8993


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Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708115400

Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Dann bekommt Herr Grübel auch mehr Zeit!)



Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1708115500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Trotz der schrillen Töne: Deutschland ist ein
wunderbares Land,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


nicht wegen seiner wunderschönen Weihnachtsmärkte
und der Schneelandschaft, sondern weil es einen wert-
vollen Schatz hat, nämlich das hohe bürgerschaftliche
Engagement der Menschen. Über 23 Millionen Men-
schen engagieren sich ehrenamtlich. Sie sagen: Das ist
mein Land, darum engagiere ich mich. Das ist meine
Stadt, darum engagiere ich mich. Das ist mein Verein,
das ist meine Schule, das ist mein Anliegen, das ist mein
Ideal, das sind meine Werte, darum engagiere ich mich.

Die Menschen fördern freiwillig das Gemeinwohl.
Sie spenden Zeit, sie spenden Geld, und sie stiften ihr
Vermögen über die Pflichtabgaben, die der Staat ver-
langt, hinaus. Das ist das Besondere an Deutschland, und
dafür darf ich hoffentlich für uns alle ganz herzlich
Danke sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auf zwei Punkte aus der Großen Anfrage und aus den
Beiträgen der Oppositionsredner möchte ich besonders
eingehen. Der erste Punkt ist die nationale Engagement-
strategie. Eine solche Strategie gab es bisher noch nicht;
jetzt gibt es sie. In der Strategie werden Grundsätze ge-
nannt, Prinzipien und Ziele formuliert und konkrete
Maßnahmen aufgeführt. Die nationale Engagementstra-
tegie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte von hoher ge-
sellschaftlicher Relevanz: Integration, Bildung, Bewah-
rung der Schöpfung, demografischer Wandel und
internationale Zusammenarbeit. Diese fünf Punkte – wir
hören es in fast jeder Rede hier im Bundestag – bilden
die großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Die
Ziele sind eine Verbesserung der Zusammenarbeit von
Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bei der Engage-
mentförderung, um die Schwerpunkte, die ich genannt
habe, besser zu befördern, ein besseres Miteinander der
Bundesministerien, um Synergien zu fördern – kein Ne-
beneinander bei der Engagementpolitik, sondern ein
Miteinander –, eine bessere Koordinierung zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden, die Einbeziehung von
Stiftungen und die Anerkennung und Wertschätzung der
Freiwilligen. All dies steht in der nationalen Engage-
mentstrategie, und all dies ist gut. Die Strategie ist ein
richtiger Schritt in die richtige Richtung.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Sammelsurium an Luftblasen!)


Ihre Kritik, Frau Kumpf, ist für mich Oppositionsritual
an der Arbeit der Regierung. Ich glaube, wir sollten uns
daran nicht so lange aufhalten.

(Ute Kumpf [SPD]: Was sagen Sie zum Zuwendungsrecht?)


Die nationale Engagementstrategie ist aber nicht, ein-
mal vom Kabinett am 6. Oktober beschlossen, zur allge-
meinen und ständigen Verehrung freigegeben, sondern
es ist eine Strategie, die lebt und weiterentwickelt wer-
den wird. Wir haben gerade den Internetbeteiligungspro-
zess. Jede und jeder in Deutschland kann sich an dieser
Strategie beteiligen. Unter engagementzweinull.de kann
noch bis morgen Abend, 17. Dezember, jeder Anmer-
kungen, Ergänzungen und Vorschläge machen sowie
Kritik an dieser Strategie äußern. Nach Vorliegen der Er-
gebnisse werden wir uns im Unterausschuss „Bürger-
schaftliches Engagement“ wieder mit der nationalen En-
gagementstrategie befassen und diese weiterentwickeln.

Lassen Sie mich auf eine zweite Kritik eingehen, die
hier genannt wurde. Sie betrifft den neuen Bundesfrei-
willigendienst. Schauen wir uns einmal die Zahlen an:
Der Bund wird künftig die Freiwilligendienste mit
350 Millionen Euro fördern.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo bleiben die anderen 250 Millionen aus dem Zivildienstetat?)


Die Länder geben etwas mehr als 12 Millionen Euro,
und 8 Millionen Euro kommen aus dem Europäischen
Sozialfonds. Schon ein oberflächlicher Blick auf die
Zahlen macht deutlich, dass das Geld schwerpunktmäßig
vom Bund kommt, weshalb die Forderung der SPD, die-
ser Dienst solle in Verantwortung der Länder durchge-
führt werden, an unserer Verfassung vorbeigeht. Sie alle
haben in Ihren Schubladen das Grundgesetz der Bundes-
republik Deutschland. Darin ist eindeutig geregelt: Die
Finanzierungskompetenz folgt der Verwaltungskompe-
tenz.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708115600

Herr Grübel, möchten Sie eine Frage des Kollegen

Gehring zulassen?


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1708115700

Ja, gern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708115800

Bitte schön.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708115900

Sie starten gerade mit dem Selbstlob, dass Sie aus

dem Zivildiensthaushalt 300 bis 350 Millionen Euro für
den Bundesfreiwilligendienst aufwenden. Jetzt ist es
aber so, dass im Zivildienstetat knapp 600 Millionen
Euro sind. Was tun Sie überhaupt im Sinne von Zivil-
dienstkonversion? Was wird getan, um den Pflegenot-
stand zu beheben? Wo sind die Konzepte, die Angebote,
die konkreten Strukturen und die Vorgaben, die man den
Sozial- und Pflegeeinrichtungen machen kann?


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Die Frage spricht ja für sich selber!)


8994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Kai Gehring


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Das fehlt definitiv. Dabei ist allen klar – selbst die
Ministerin formuliert das so –, dass die jetzigen Zivis
nicht allein durch Bundesfreiwilligendienstleistende er-
setzt werden können. Die spannende Frage ist: Was ist
eigentlich mit den 200 bis 250 Millionen Euro, die bis-
her nicht verplant sind?


(Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär: Das weiß man doch!)


Sollen die zum Stopfen von Haushaltslöchern benutzt
werden, oder was machen Sie damit?


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1708116000

Herr Gehring, es sind rund 2 Millionen Menschen in

Deutschland im Bereich der Pflege beschäftigt.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu wenig!)


Wir hatten im letzten Jahr 92 000 Zivildienstleistende.
Sie haben einen wertvollen und wichtigen Beitrag ge-
leistet. Nicht umsonst ist der Begriff „Zivi“ für unsere
Zivildienstleistenden zu einem Markenbegriff geworden.
Die Pflege wird auch ohne die Zivildienstleistenden
funktionieren müssen. Wir haben den Zivildienst ja so
organisiert, dass es nicht zwingend notwendige Arbeiten
sind, die die Zivildienstleistenden ausführen, sondern er-
gänzende Tätigkeiten.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wo bleiben die 250 Millionen Euro?)


Wir nutzen jetzt einen Teil des Geldes für den Pflicht-
dienst, und zwar einen großen Teil, um die Freiwilligen-
dienste in Deutschland zu stärken.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Die Grünen wollten den Zivildienst schon vor 20 Jahren abschaffen!)


Wenn es früher über 700 Millionen Euro waren, ist na-
türlich die Frage berechtigt: Was ist mit dem Geld? Wir
haben schon einen Teil wegen der Verkürzung des Zivil-
dienstes eingespart. Es ist für eine Regierung sicherlich
ehrenwert, wenn ein Teil des Geldes in die Haushalts-
konsolidierung fließt, um die Schuldenaufnahme zu ver-
ringern oder Schulden abzubauen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also kommt es nicht dem Pflegebereich zugute! Das ist schade! Das wäre im Pflegebereich dringend notwendig gewesen!)


Die Finanzierungskompetenz, so hatte ich gesagt,
folgt der Verwaltungskompetenz. Der Bund finanziert
die Freiwilligendienste überwiegend. Dazu möchte ich
Ihnen noch etwas sagen: Bayern und Baden-Württem-
berg bringen den größten Teil der 12 Millionen Euro auf
Länderseite auf. Abgeordnete aus Ländern, in denen die
SPD regiert, sollten sich davon einmal eine Scheibe ab-
schneiden und ihre Landesregierungen auffordern, die
Jugendfreiwilligendienste deutlich stärker zu stützen und
zu finanzieren. Dann gäbe es auf dem Wege noch etwas
mehr.
Die Kritik, die Sie geäußert haben, halte ich für völlig
unangebracht. Wir können feststellen: Es sind 70 000
Freiwilligendienststellen. Es gab noch nie so viele geför-
derte Freiwilligendienststellen in Deutschland. Es wurde
noch nie so viel Geld eingesetzt, um Freiwilligendienste
in Deutschland zu fördern.


(Florian Bernschneider [FDP]: Richtig!)


Das ist ein gutes Ergebnis der Arbeit der christlich-libe-
ralen Koalition. Damit können wir uns durchaus sehen
lassen.

„Tu was für Dein Land! – Tu was für Dich!“, unter
diesem oder einem ähnlichen Motto gibt es künftig ein
breites Angebot an Freiwilligendiensten, ein Angebot, so
breit und vielfältig wie unsere Gesellschaft: in den Be-
reichen Soziales, Ökologie, Kultur, Sport, Integration,
Zivil- und Katastrophenschutz. Auch in Verantwortung
des Verteidigungsministers gibt es einen freiwilligen
Wehrdienst.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Gemeinnützigkeitsrecht, dem Vereinsrecht usw.? Das ist doch keine Strategie!)


Ob Pflegekittel oder Flecktarn, ob Feuerwehrhelm oder
Sportdress – künftig ist vieles freiwillig möglich. Die
Felder für die Freiwilligendienste werden deutlich brei-
ter. Ich glaube, das ist eine gute Bilanz. Wir haben ein
gutes Ergebnis erzielt. Das ist ein deutlicher Fortschritt
für das Engagement in Deutschland.

Wir werden die Debatte im Frühjahr noch einmal füh-
ren, wenn die Antwort der Bundesregierung vorliegt. Ich
freue mich auf dieses Gespräch, das wir hier im Plenum,
im zuständigen Fachausschuss, dem Familienausschuss,
und im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engage-
ment“ führen werden. Ich denke, es wird gute Antworten
auf die Fragen geben, die die SPD-Fraktion in der Gro-
ßen Anfrage gestellt hat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708116100

Gerold Reichenbach hat jetzt das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1708116200

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Es ist allgemein anerkannt: Im Bereich des frei-
willigen Engagements unserer Bürger spielt Anerken-
nungskultur eine große Rolle. Aber damit, liebe Vertreter
der Regierungsfraktionen, ist nicht gouvernementales
Selbstlob gemeint, wie wir es hier erlebt haben. Damit
ist Anerkennung für die Bürger gemeint, die sich drau-
ßen im Lande freiwillig engagieren. Ich möchte das für
meine Fraktion auch einmal zum Ausdruck bringen:
Danke an all diejenigen, die sich tagaus, tagein in Sport-
vereinen, karitativen Vereinen, sozialen Organisationen,
Kulturvereinen, Hilfsorganisationen, Feuerwehren, Kir-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8995

Gerold Reichenbach


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chengemeinden und Moscheevereinen freiwillig enga-
gieren.

Wir haben diese Anfrage gestellt, weil wir den Ver-
dacht haben – und vieles von dem, was Sie vorgetragen
haben, begründet ihn –, dass hinter diesem Begriff der
Engagementstrategie weniger eine wirkliche Strategie
– die Kollegin der Grünen-Fraktion hat das angespro-
chen – zur Weiterentwicklung des guten Bestehenden
steckt, das wir gemeinsam entwickelt haben, sondern
eher eine – ich sage es einmal vorsichtig – PR-Strategie
dieser Regierung,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Null Substanz! – Markus Grübel [CDU/CSU]: Zur PR-Strategie: In Ihrem Antrag sind die ersten beiden Seiten nur Eigenlob!)


auch um zu verdecken, was inzwischen schon wieder ka-
puttgemacht wird.

Das Programm „Soziale Stadt“ wurde angesprochen.
Ich sehe das in meinem eigenen Wahlkreis. Dort ist im
Rahmen dieses Programms ein großes, breit angelegtes
freiwilliges Engagement der Bürger zur Wohnumfeld-
verbesserung und zur Integration entwickelt worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die dürfen demnächst nur noch Backsteine bezahlen.

Wir beide haben gemeinsam dafür gekämpft, dass das
Vorstandsmitglied der karitativen Hilfsorganisation in
meiner Heimat, das gerade keine Arbeit hat, bei der Auf-
wandspauschale nicht schlechtergestellt wird als das
Vorstandsmitglied, das ein Bankdirektorengehalt erhält.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das wird wieder kaputtgemacht. Das verstehe ich nicht
unter Anerkennungskultur, sondern das ist eher eine Zer-
störung des Bestehenden.

Wir haben auch den Verdacht, dass Sie andere Struk-
turen teilweise weniger aus sachlichen Gründen, sondern
sozusagen aus innerer Koalitionsnot – zum Teil sogar
aus innerer Parteinot – aufbauen, deren Weiterentwick-
lung nicht sinnvoll ist. Ich nenne das Beispiel Freiwilli-
gendienst. Es geht doch darum, dass die Parallelstruktu-
ren, die Sie jetzt in Bundeshand aufbauen, kein echter
Freiwilligendienst sind, sondern – das liegt ja in der Lo-
gik; wahrscheinlich machen Sie das auch, um die Ak-
zeptanz innerhalb der Union zu fördern – ein Pendant
zum „freiwilligen Pflichtdienst“, zu der nach wie vor
aufgehobenen, aber weiter existierenden Wehrpflicht.


(Florian Bernschneider [FDP]: Erklären Sie doch mal Ihr Konzept!)


Dabei nehmen Sie in Kauf, dass Doppelstrukturen ent-
stehen. Gegen die Ausweitung haben wir nichts; darüber
kann man sprechen. Aber wenn man das freiwillige En-
gagement der Bürger breit fördern will, warum erweitert
man dann nicht einfach die bestehenden Strukturen im
Freiwilligen Sozialen Jahr und im Freiwilligen Ökologi-
schen Jahr und baut sie aus? Das hätten wir für eine
sinnvolle Strategie gehalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Florian Bernschneider [FDP]: Das will die SPD also! – Gegenruf von der SPD: Sie haben es immer noch nicht verstanden! Wir geben Ihnen gerne Nachhilfe!)


Der einzige Grund, den ich erkennen kann, ist, dass man
das Instrument des Pflichtdienstes in der Zukunft nicht
ganz weglassen will. Dann hat man einen freiwilligen
Pflichtdienst, den man Bundesfreiwilligendienst nennt.


(Florian Bernschneider [FDP]: Das will Frau Schwesig doch auch!)


Ich nenne ein zweites Beispiel: den Bereich der
Mehrgenerationenhäuser. In diesem Bereich sind Struk-
turen aufgebaut worden. Bundesweit – in den Ländern
werden sie zum Teil mit unterschiedlichen Modellen ge-
fördert; wir alle haben im Unterausschuss darüber disku-
tiert – gibt es eine ganze Reihe von bewährten Instru-
menten.

Ich nenne die Freiwilligenagenturen, die gerade im
Bereich der Betreuung älterer Bürger, im Bereich der
Pflege, im Bereich der sozialen Zuwendung eine ganze
Menge aufgebaut haben. Jetzt wird ein großes Pro-
gramm für Mehrgenerationenhäuser aufgepfropft. Was
passiert eigentlich mit dem Programm, das schon be-
steht? Statt es auszubauen bzw. auszuweiten, werden
neue Etiketten unters Volk gebracht. Unser Verdacht ist:
Das dient nicht dazu, die Strukturen voranzubringen,
sondern dazu, um sagen zu können: Wir haben etwas ge-
macht. – Das ist nicht im Interesse der Freiwilligen-
dienste.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708116300

Kommen Sie bitte zum Ende.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1708116400

Das fragen wir konkret ab. Wir wollen auch wissen,

wie es um die anderen angekündigten Vorhaben steht.
Sollen die auch im Rahmen einer PR-Aktion abgearbei-
tet werden, oder sollen sie doch real abgearbeitet wer-
den?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708116500

Herr Kollege?


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1708116600

Wir freuen uns auf Ihre Antworten. Dann werden wir

mit Ihnen auch gerne in einen konstruktiven Dialog ein-
treten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


8996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010


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Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708116700

Der Kollege Heinz Golombeck hat das Wort für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Heinz Golombeck (FDP):
Rede ID: ID1708116800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Bürgerschaftliches Engagement ist eine tra-
gende Säule unserer freiheitlichen Demokratie. In
Deutschland engagiert sich gut ein Drittel der Bevölke-
rung in Vereinen, Verbänden und Initiativen. Die Enga-
gierten fördern den Zusammenhalt unseres Gemeinwe-
sens. Dieses Gemeinwesen ist ein wesentliches Element
der aktiven Bürgergesellschaft. Engagierte Menschen
gestalten nicht nur ihr individuelles Leben, sondern auch
das staatliche Gemeinwesen aktiv mit.

Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, ist die Arbeit
ehrenamtlicher Helfer besonders wichtig. Ich denke hier
beispielsweise an Bürgerinnen und Bürger, die mit soge-
nannten Kältebussen unterwegs sind oder die in Suppen-
küchen aushelfen. Es haben nicht alle das Glück, die Fei-
ertage in der Geborgenheit ihrer Familie an einem
geschmückten Weihnachtstisch und bei einem Festessen
zu verbringen. Insbesondere für jene Menschen, die ein-
sam und verlassen sind, frieren und Hunger haben, leis-
ten ehrenamtliche Helfer in diesen Tagen Unermessli-
ches.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir hatten bereits im Koalitionsvertrag angekündigt,
eine nationale Engagementstrategie auf den Weg zu
bringen. Vor kurzem wurde diese nun verabschiedet.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, die christlich-libe-
rale Koalition hält Wort und setzt den Koalitionsvertrag
um.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Wir wollen mal schauen, Herr Kollege, was da herauskommt!)


Die nationale Engagementstrategie hebt das bürger-
schaftliche Engagement als wesentliche Form der Teil-
habe am gesellschaftlichen Leben hervor. Die Strategie
zielt nicht nur auf ein generationenübergreifendes Enga-
gement zwischen jungen und alten Menschen ab; sie för-
dert ebenso die Einbindung von Migrantinnen und
Migranten. Unser Ziel ist es, die geeigneten Rahmenbe-
dingungen für eine nachhaltige Infrastruktur und zur Sta-
bilisierung von Engagement zu schaffen. Hieran werden
wir in dieser Legislaturperiode weiter arbeiten. Die na-
tionale Engagementstrategie ist der erste Schritt zur Um-
setzung dieser Ziele.

Bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine ge-
wachsene Säule; es schlägt auch Brücken. Es trägt dazu
bei, dass Europa näher zusammenrückt. In der Europäi-
schen Union leisten Millionen von Bürgerinnen und
Bürgern aller Altersschichten einen positiven Beitrag
hierzu. Die Europäische Kommission sieht die Freiwilli-
gentätigkeit als gelebte Bürgerbeteiligung, die gemein-
same europäische Werte wie Solidarität und sozialen Zu-
sammenhalt stärkt. Daher wurde beschlossen, das Jahr
2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit
auszurufen. Die Bundesregierung wird dies aktiv unter-
stützen.

Ich möchte hier von dieser Stelle aus allen Bürgerin-
nen und Bürgern, die sich engagieren und ehrenamtlich
tätig sind, noch einmal meinen Dank aussprechen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708116900

Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1708117000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Seit dem 6. Oktober dieses Jahres hat Deutschland erst-
mals eine nationale Engagementstrategie. Das ist erst
einmal eine positive Botschaft. Ich finde es durchaus
schade, dass die Oppositionsfraktionen auch hier schon
wieder den Eindruck erwecken, sie seien einfach nur da-
gegen.


(Ute Kumpf [SPD]: Nein, das haben wir nicht gesagt! Stimmt doch gar nicht! Sie müssen zuhören!)


Sicher ist das nur ein erster Schritt, dem weitere fol-
gen müssen. Ich glaube aber, die Tatsache, dass wir diese
nationale Engagementstrategie haben, ist erst einmal
eine gute Sache, weil dadurch eines deutlich wird: Bür-
gerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind gesamt-
gesellschaftliche Aufgaben.

Ich möchte an die vier Ziele der Engagementstrategie
erinnern. Das erste Ziel ist eine bessere Abstimmung
zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund.
Das ist auch dringend nötig.

Das zweite Ziel ist, Stiftungen und Unternehmen wei-
terhin eng in diesen Prozess einzubinden. Ich kann die
Kritik der Linkspartei am Stiftungswesen und dessen
Zunahme in Deutschland überhaupt nicht teilen. Es ist
gelebte soziale Marktwirtschaft, wenn Unternehmen die
Rahmenbedingungen schaffen, damit sich Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter ehrenamtlich engagieren können.
Das ist aller Ehren wert und darf an dieser Stelle einmal
positiv erwähnt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der dritte Punkt – das ist schon genannt worden – ist
die Anerkennung und Wertschätzung derer, die sich en-
gagieren. Dabei geht es eben nicht, wie Sie es zum Teil
suggerieren, um eine materielle Besserstellung. Viele
Menschen, die sich engagieren, wünschen sich einfach,
dass man das anerkennt und wertschätzt und dass man
das auch einmal sagt. Ich glaube, das sollten wir in der
Tat ein bisschen öfter tun. Dazu kam vonseiten der Op-
position etwas wenig; das hätten Sie stärker betonen
können.

Der vierte Punkt – auch das ist wichtig – sind die
Rahmenbedingungen vor Ort. Da wundere ich mich

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8997

Dr. Peter Tauber


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(D)(B)

schon über Ihre Ausführungen; denn genau das machen
wir. Mit dem Feuerwehrführerschein, den das Kabinett
am 15. Dezember beschlossen hat, wurde die Vorausset-
zung dafür geschaffen, dass sich Bürgerinnen und Bür-
ger unbürokratischer engagieren können und der Grund,
warum sie sich engagieren, im Mittelpunkt steht. Des-
halb muss man dem Bundesverkehrsminister wegen der
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes an der Stelle
herzlich Danke sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Warum ist eine solche Strategie notwendig? Wir könn-
ten doch sagen: Alles ist ganz wunderbar. Das Ehrenamt
ist in der freiwilligen Feuerwehr, im Sport, in der Musik,
in der Kultur, im sozialen Engagement, in den Tafeln und
in der Hospizbewegung fest verwurzelt. – Wir wissen
aber auch, dass unsere Gesellschaft vor dramatischen
Veränderungsprozessen steht, und zwar wegen des demo-
grafischen Wandels und der steigenden Zahl von Men-
schen mit Migrationshintergrund, die in ihrem Kultur-
kreis diese Form des Engagements sehr oft gar nicht
kennen und denen wir es vermitteln müssen. Deswegen
ist es richtig, dass wir eine solche Strategie auf den Weg
gebracht haben und dass wir diejenigen, die sich engagie-
ren, ermutigen, sich selbst zu vernetzen.

Dafür gibt es gute Beispiele. Ein Beispiel ist das On-
linenetzwerk www.weltbeweger.de der Stiftung Bürger-
mut. Warum ist das so wertvoll? Weil wir wollen, dass
Menschen erleben, dass sie, wenn sie ein Problem in die
Hand nehmen, eine Perspektive für sich selbst und für
die Menschen schaffen können, für die sie sich engagie-
ren. Dann werden sie nämlich merken, dass sie selbst oft
etwas bewegen können, was die Politik – so hat es der
Geschäftsführer der Stiftung Bürgermut formuliert – nie
leisten könnte.

Dabei ist wichtig: Es geht nicht, wie Sie unterstellen,
um den Rückzug des Staates aus gewissen Bereichen. Es
geht nicht um die Botschaft, dass Bürgerinnen und Bür-
ger etwas leisten, was der Staat nicht finanzieren kann;
denn niemand engagiert sich, um die Haushalte seiner
Kommune, des Landes oder des Bundes zu entlasten,
sondern Menschen engagieren sich aus Begeisterung für
eine Sache. Das steht im Mittelpunkt. Das muss man
einmal deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Menschen erfahren Gemeinschaft. Sie erleben Ver-
antwortung als positive Herausforderung, die Spaß ma-
chen kann, und sie erleben Anerkennung. Das ist der
zentrale Punkt. Man muss lernen, Verantwortung zu
übernehmen. Deshalb sind uns junge Menschen, Jugend-
freiwilligendienste und der neue Bundesfreiwilligen-
dienst so wichtig. Darüber, was wir hier auf den Weg
bringen, haben Sie jahrelang nur geredet. Das muss man
an dieser Stelle einmal ganz deutlich sagen. Wir sagen
den jungen Menschen, dass sie gebraucht werden.


(Zuruf der Abg. Ute Kumpf [SPD])


– Frau Kumpf, dafür, dass Sie das Bundesverdienstkreuz
verliehen bekommen haben, was eine wirklich würdige
Auszeichnung ist, rufen Sie erstaunlich oft dazwischen.
Hören Sie doch einfach einmal zu.


(Ute Kumpf [SPD]: Ich höre zu!)


Schreien Sie nicht immer dazwischen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Was sind Sie denn für ein Schnösel?)


Wir wollen junge Menschen motivieren, Verantwor-
tung zu übernehmen. Die Botschaft „Tu was für Dein
Land! – Tu was für Dich!“ ist genau richtig. Dasselbe
gilt für die ältere Generation; auch sie wollen wir mit-
nehmen.

Grundsätzlich gilt: Die nationale Engagementstrate-
gie ist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgerge-
sellschaft, in der Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen und Solidarität leben, statt nach dem Staat
zu rufen und sich umzudrehen, wenn sie Probleme se-
hen.


(Zuruf der Abg. Heidrun Dittrich [DIE LINKE])


– Frau Dittrich, Sie sollten jetzt einmal genau zuhören;
vielleicht trägt das dazu bei, dass Sie einmal eine neue
Platte auflegen. Die größte Gefahr für diese Art von Bür-
gerkultur, die eine feste Säule der Kultur in Deutschland
ist, besteht in einem paternalistischen Staatsverständnis,
wie Sie es propagieren, nach dem der Staat für alles sorgt
und die Menschen nicht füreinander Verantwortung
übernehmen müssen.

Ich persönlich fühle mich in einer Gesellschaft nicht
wohl, in der der Staat fürsorglich über alle wacht. Ich
wünsche mir eine Gesellschaft, in der Menschen Verant-
wortung übernehmen und füreinander einstehen, weil
nur das – dies muss das Ziel sein – den Zusammenhalt
und das Miteinander stärkt. Die nationale Engagement-
strategie ist ein Beitrag dazu. Ich freue mich auf die wei-
tere Debatte, die in der Tat heute erst beginnt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708117100

Damit schließe ich die Aussprache.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung
von Geldwäsche und Steuerhinterziehung

(Schwarzgeldbekämpfungsgesetz)


– Drucksache 17/4182 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

8998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Es ist verabredet, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Parlamenta-
rischen Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort.

H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1708117200


Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinter-
ziehung wollen wir dazu beitragen, den Wirtschaftsstand-
ort Deutschland noch wirksamer vor Geldwäsche, aber
auch – das ist ein sehr aktuelles Thema – vor Terrorismus-
finanzierung zu schützen. Dazu soll der Katalog der Vor-
taten des Straftatbestandes der Geldwäsche um die De-
likte der Marktmanipulation, des Insiderhandels sowie
der Produktpiraterie erweitert werden.

Damit ist das unabdingbare international abgestimmte
Vorgehen im Rahmen des dafür zuständigen internatio-
nalen Gremiums für Maßnahmen zur Bekämpfung von
Geldwäsche verbunden, das auf den schönen englischen
Namen Financial Action Task Force on Money Launde-
ring, FATF, hört. Die 36 Mitgliedstaaten dieses Gre-
miums haben jetzt Standards vereinbart, um Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung staatenübergreifend besser
bekämpfen zu können. Die Erweiterung des Geldwä-
schestraftatbestandes im vorliegenden Gesetzentwurf
wird ein wichtiger Beitrag, Geldwäsche und Terroris-
musfinanzierung in Deutschland noch wirksamer zu ver-
hindern.

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen terroristi-
schen Bedrohung ist es wichtig, dass wir das Thema
über das von Schwarz-Gelb eingebrachte Schwarzgeld-
bekämpfungsgesetz hinaus mit anderen Gesetzgebungs-
vorhaben energisch und entschlossen angehen. Die von
der FATF im Finanzsektor identifizierten Defizite wollen
wir mit dem Gesetz zur Umsetzung der Zweiten
E-Geld-Richtlinie beseitigen. Dabei soll insbesondere
der Maßstab der Sorgfaltspflichten, den die Institute bei
Risikogeschäften einzuhalten haben, vollständig an den
internationalen Standard angepasst werden. Die instituts-
internen Sicherungsmaßnahmen gegen Geldwäsche und
das Risikomanagement der Institute werden ebenfalls
auf FATF-Standard angehoben. Dieses Gesetz soll be-
reits im März 2011 in Kraft treten.

Darüber hinaus werden Änderungen im Aktiengesetz
erforderlich sein, insbesondere in Bezug auf Namens-
bzw. Inhaberaktien, um damit dem Petitum der FATF
nach mehr Transparenz im Wertpapiergeschäft Rech-
nung zu tragen.

Quellen von Schwarzgeld müssen nicht nur illegale
Geschäfte sein; auch legale Formen der Anlage im Aus-
land haben in den vergangenen Jahren eine Sogwirkung
auf Kapital von deutschen Anlegern ausgeübt. Die Er-
träge aus diesen Anlagen sind häufig nicht bei der Steu-
ererklärung in Deutschland angegeben worden, auch
aufgrund der Einschätzung, dass ein deutscher Finanzbe-
amter niemals einen Hinweis auf Konten im Ausland er-
halten wird.

Dieser Umstand führte dazu, dass mittlerweile erheb-
liche Milliardenbeträge von nicht in Deutschland ver-
steuerten Geldern im Ausland lagern und so der Besteue-
rung in Deutschland entzogen sind.

Selbst die von der rot-grünen Bundesregierung im
Jahr 2004 durchgeführte Steueramnestie hat zu keiner
flächendeckenden Bewegung hin zu mehr Steuerehrlich-
keit in Deutschland geführt. Letztendlich hat der Ankauf
von Steuerdaten, die wir nach der klaren Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren verwer-
ten dürfen, den alles entscheidenden Impuls gebracht.
Aus Angst vor Entdeckung haben Zehntausende die
Reißleine gezogen, eine Selbstanzeige gemacht und sich
den Finanzämtern offenbart. Allein aufgrund der Selbst-
anzeigen aus dem Jahr 2010 können wir mit Steuermehr-
einnahmen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro rechnen.

Die christlich-liberale Koalition ist entschlossen,
diese Praxis der Steuerhinterziehung zu beenden. Wir
wollen mehr Steuerehrlichkeit in Deutschland. Deshalb
erhöhen wir mit diesem Gesetzentwurf den Druck auf
die Steuerhinterzieher. Wir zwingen sie in Zukunft, sich
vollständig zu offenbaren. Wer der Bestrafung entgehen
will, der muss künftig eine steuerliche Lebensbeichte ab-
legen; so will ich es einmal formulieren. Mit der Salami-
taktik machen wir Schluss.


(Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Das waren nicht Sie! – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fremde Lorbeeren!)


Damit das auch wirklich jeder versteht: Die strafbefrei-
ende Selbstanzeige ist künftig die letzte Chance für
Steuersünder. Als Spielzeug für Taktierer hat die strafbe-
freiende Selbstanzeige ausgedient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Verschärfun-
gen stärken die Steuergerechtigkeit, und sie machen un-
missverständlich klar, dass die christlich-liberale Koali-
tion Ernst macht im Kampf gegen Steuerhinterziehung
in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die sogenannte Teilselbstanzeige wird es künftig
nicht mehr geben. Steuerhinterzieher werden sich nicht
mehr scheibchenweise, je nach aktuellem Entdeckungs-
risiko strafbefreiend erklären können. Straffrei wird in
Zukunft nur der bleiben, der alle hinterzogenen Steuern
offenbart. Der Zeitraum für die Inanspruchnahme der
strafbefreienden Selbstanzeige wird deutlich verkürzt.
Künftig wird schon dann, wenn die Prüfungsanordnung
des Finanzamtes bekanntgegeben worden ist, die straf-
befreiende Wirkung einer Selbstanzeige ausgeschlossen
sein. Auch ein fortwährendes Nachschieben von Be-
gründungen und Erklärungen, so lange, bis der Prüfer
tatsächlich vor Ort erscheint, wird künftig nicht mehr
mit einer strafbefreienden Wirkung möglich sein.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 8999

Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)

Ich will sehr offen darauf hinweisen, dass wir schon
in der Diskussion über den Gesetzentwurf über die Frage
von weiteren Zuschlägen diskutiert haben. Im parlamen-
tarischen Verfahren werden wir über die Frage entschei-
den, ob wir bei der Inanspruchnahme der strafbefreien-
den Selbstanzeige zusätzlich noch einen Extrazuschlag
erheben, um Steuerhinterzieher auch wirtschaftlich stär-
ker zu belasten als Bürgerinnen und Bürger, die ihre
Steuern lediglich verspätet bezahlen. Hierzu – darüber
sind wir uns einig – brauchen wir aber eine absolut ver-
fassungsfeste Regelung. Deshalb wollen wir die Sach-
verständigenanhörung, aber auch die Beratungen des
Bundesrates abwarten. Hier gilt eindeutig: Rechtssicher-
heit geht vor Schnelligkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was wir am Schluss brauchen, ist eine verfassungsrecht-
lich absolut saubere Lösung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die christlich-liberale Koalition macht Ernst im
Kampf gegen Geldwäsche und Steuerbetrug. Wir wollen
den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber auch das
Funktionieren unseres Gemeinwesens durch ausgegli-
chene öffentliche Haushalte und steuerehrliche Steuer-
erhebung sichern. Wirksame und zielgenaue Schritte
dazu enthält der vorliegende Gesetzentwurf. Ich bitte Sie
um Unterstützung bei der parlamentarischen Beratung,
Behandlung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708117300

Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1708117400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Ich weiß nicht, ob auch Sie die Frage kennen, die
in der Adventszeit vor allem Kindern gestellt wird: Seid
ihr brav gewesen? Es wird abgefragt: Habt ihr alles erle-
digt, was euch aufgetragen wurde? Habt ihr all das ge-
macht, was notwendig ist?


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist der Nikolaus! Knecht Ruprecht!)


Wenn man der Bundesregierung diese Frage gerade im
Hinblick auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung
und Geldwäsche stellen würde, dann müsste sie, wenn
sie ehrlich wäre, sagen: Nein, und wir verzichten daher
auf die Geschenke.


(Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Dann käme Knecht Ruprecht!)


Herr Staatssekretär Koschyk, das wird gerade bei die-
sem Gesetzentwurf deutlich. Man merkt, dass Schwarz-
Gelb bei diesem Thema ein bisschen bockig ist,

(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Unbelehrbar! – Nicolette Kressl [SPD]: Nicht nur bei diesem Thema!)


dass Sie dieses Thema nicht so recht angehen wollen. Je-
denfalls muss man deutlich sagen, dass Sie bei der Be-
kämpfung der Geldwäsche noch lange nicht das getan
haben, was wirklich notwendig ist. Allein der Kurztitel,
der für diesen Gesetzentwurf gewählt wurde, macht
nachdenklich. Es stellt sich die Frage, warum Sie es
Schwarzgeldbekämpfungsgesetz und nicht Geldwäsche-
bekämpfungsgesetz nennen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: An der Wand steht: „Bekämpfung von Geldwäsche, Steuerhinterziehung“!)


Ich habe den Eindruck, dass Sie ein bisschen Etiketten-
schwindel betreiben und davon ablenken wollen, dass
Sie die Bekämpfung der Geldwäsche nicht so recht an-
gehen wollen, dass Sie sich zieren, all das umzusetzen,
was die Financial Action Task Force on Money Launde-
ring Deutschland ins Stammbuch geschrieben hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hättet ihr auch schon umsetzen können!)


Geldwäschebekämpfung bedeutet, dass wir vermei-
den wollen, dass illegal erworbenes Geld in den legalen
Geldkreislauf kommt. Bei Schwarzgeld hingegen han-
delt es sich um steuerpflichtige, aber unversteuerte Ein-
nahmen. Deswegen stellt sich die Frage, warum Sie die-
sen Begriff und nicht einen anderen gewählt haben. Sie
wollen aus meiner Sicht verschleiern, dass 2010 für
Deutschland wahrlich kein Ruhmesblatt war. Ihnen
wurde durch dieses OECD-Gremium, dem 36 Staaten
angehören, ein verheerendes Zeugnis ausgestellt.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber mehr als die Kavallerie, Herr Kollege!)


Sie sagen, Herr Staatssekretär, dass jetzt vereinbart
wurde, dass wir etwas tun müssen. Entschuldigung, der
Bericht lag schon im Februar 2010 vor.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer war elf Jahre Finanzminister, Herr Kollege? – Dr. Daniel Volk [FDP]: Zehn Jahre vorher waren Sie in der Regierungsverantwortung!)


Sie haben jetzt fast ein Jahr gebraucht, um einen einzi-
gen Punkt aufzugreifen und in einen Gesetzentwurf zu
gießen.


(Beifall bei der SPD – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Man muss schon klatschen, dass Sie überhaupt etwas geschafft haben!)


49 Empfehlungen wurden ausgesprochen. Deutschland
ist in 20 Punkten massiv kritisiert worden.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Seit wann gibt es die Empfehlungen, Herr Kollege?)


15 Kriterien sind teilweise umgesetzt worden, 5 über-
haupt nicht. Deutschland wurden gravierende Defizite
bescheinigt. Deutschland ist kurz davor, auf die

9000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)

schwarze Liste nicht kooperativer Jurisdiktionen gesetzt
zu werden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Was?)


Das wäre eine Blamage. Sie schreiben im Gesetzentwurf
unter B:

Die rasche Beseitigung der … festgestellten Defi-
zite ist notwendig, …

Dazu muss ich sagen: Es ist höchste Eisenbahn, dass
Sie in die Puschen kommen und dass Sie diese Themen
abarbeiten. Wir begrüßen es – das sage ich ganz deut-
lich –, dass Sie jetzt einen Punkt angehen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hätten Sie schon vor zwei Jahren sagen können, Herr Kollege!)


Natürlich sind wir dankbar, dass Sie Insiderhandel,
Marktmanipulationen und Produktpiraterie in den Kata-
log der Vortaten des Geldwäschestraftatbestandes auf-
nehmen wollen. Im Ziel sind wir d’accord, aber über den
Weg müssen wir noch reden. Wir müssen schauen, was
die Anhörung dazu ergibt. Ich kann Ihnen nur dringend
raten, die anderen Punkte unbedingt anzugehen.

Insgesamt stellt sich die Frage: Warum machen Sie
nicht ein Gesamtpaket? Sie gehen hier mit Salamitaktik
vor. Einen Punkt hat man an die Umsetzung der zweiten
E-Geld-Richtlinie angehängt. Jetzt kümmert man sich
um einen kleinen Punkt. Warum behandeln Sie das nicht
als Paket? Ich verstehe das nicht. Es gibt dringenden
Handlungsbedarf, beispielsweise im Gesellschafts- und
Registerrecht, speziell dort, wo es um die Treuhand als
Rechtsform geht. Immobilienmaklerbranche, Goldhänd-
ler, Juweliere, Steuerberater, Rechtsanwälte – all diese
Themen sind angesprochen worden. Nichts ist passiert.

Sie kündigen jetzt für März 2011 etwas Weiteres an.
Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Ich meine, die
Bundesregierung ist in der Pflicht, insbesondere die hei-
ßen Eisen Spielbanken und Kasinos anzugehen. Diese
sind heutzutage schon ein Vergnügungspark für profes-
sionelle Geldwäscher. Diese Probleme muss man ange-
hen; man darf da nicht schlafen.


(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Wer betreibt denn die Kasinos?)


Deswegen muss man deutlich sagen: Los geht es! Das ist
dringend.

Bereits im Sommer dieses Jahres – auch darauf will
ich hinweisen – haben die Koalitionsfraktionen ange-
kündigt, diese Probleme zu lösen. Große Sprünge sind
uns bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terroris-
musfinanzierung versprochen worden. Man hat aller-
dings den Eindruck, Sie laufen in Trippelschritten schlei-
chend um das Ziel herum. Vielleicht steckt auch eine
gewisse Denke dahinter. Womöglich meinen Sie, illega-
les Kapital ist wie ein scheues Reh und macht sich von
alleine davon.

Ich glaube, das ist weit gefehlt. Hier muss gehandelt
werden. Das zeigt auch der jüngste Bericht des Bundes-
kriminalamtes und der BaFin zum Thema Geldwäsche.
Die Zahl der Verdachtsanzeigen ist gestiegen. Im letzten
Berichtszeitraum, im Jahr 2009, gab es 9 000; das ent-
spricht einem Anstieg um 23 Prozent. Dies zeigt uns,
dass es gelungen ist, die Leute für diese Gefahr ein biss-
chen zu sensibilisieren. Es zeigt aus meiner Sicht aber
auch, dass Themen wie Datendiebstahl und Erschlei-
chung von Passwörtern, aber auch die Aktivitäten der
sogenannten Financial Agents, also von Personen, die
ihr Konto gegen Gebühr für illegale Transaktionen zur
Verfügung stellen, dringend angegangen werden müs-
sen.


(Beifall bei der SPD)


Herr Staatssekretär, das erste Problem ist, dass Sie
nicht wirklich etwas tun. Das zweite Problem ist, dass
Sie kleine, eigentlich sinnvolle Schritte bei der Geldwä-
schebekämpfung mit halbgaren Ansätzen bei der Be-
kämpfung der Steuerhinterziehung verknüpfen.


(Beifall bei der SPD)


Sie bringen zum Beispiel die Teilselbstanzeige ins
Spiel. Sie sagen, Schwarz-Gelb schafft die Teilselbst-
anzeige ab. Entschuldigung, aber das tut nicht Schwarz-
Gelb, sondern das hat der Bundesgerichtshof gefordert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In seinem Beschluss vom 20. Mai 2010 hat er entschie-
den: So geht es nicht mehr weiter. – Sie muss man bei
diesem Thema regelrecht zum Jagen tragen; sonst pas-
siert überhaupt nichts.


(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann haben Sie unseren Gesetzentwurf nicht gelesen! Er lag übrigens schon vor dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vor! Unser Gesetzentwurf ist zwei Monate älter! Ihr ärgert euch doch nur, dass ihr nicht darauf gekommen seid! Ihr habt mal wieder gepennt! – Manfred Kolbe [CDU/CSU]: Genau! Ihr habt gar nichts gemacht!)


Was Sie machen, ist letztendlich nur ein Herumdok-
tern und Herumlavieren. Die SPD-Fraktion hingegen hat
den Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der strafbe-
freienden Selbstanzeige eingebracht. Wir glauben, dass
dies der einzig richtige Schritt ist.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Glauben hilft hier aber nicht weiter!)


Sie beheben lediglich die Unsicherheit, die bei den bera-
tenden Berufen und der Finanzverwaltung im Moment
herrscht.

Der Bundesrat hat im Zuge des Jahressteuergesetzes
2010 einige Vorschläge unterbreitet. In der Anhörung
hat sich gezeigt, dass das so nicht wirklich praktikabel
ist. Wenn man, wie Sie, das System beibehalten und die
Strafbefreiung nicht abschaffen möchte, dann kann ich
natürlich verstehen, dass man zum Beispiel sagt: Wir
wollen den Zeitfaktor ändern. Wir wollen, dass die Be-
kanntgabe der Prüfungsanordnung als Ausschlusskrite-
rium für die Straffreiheit bei Selbstanzeige gewählt
wird. – Das ist nachvollziehbar.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Hört! Hört!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9001

Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)

In der Tat wurde in der Anhörung deutlich, dass genau
dieser Zeitraum oft als Opportunitätsfenster zur Selbst-
anzeige genutzt wird. Insofern sage ich: Hier haben Sie
recht. Das muss man auf jeden Fall abstellen. Aber das
wäre wieder eine Minimallösung, zu der Sie getrieben
werden mussten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Was schlagen Sie denn vor? – Manfred Kolbe [CDU/CSU]: Was wollen Sie denn?)


Weitaus konsequenter wäre das, was wir vorschlagen;
das ist nämlich nicht so ein Herumgeeiere wie bei Ihnen.
Herr Dautzenberg hat selbst gesagt:


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Vorsicht! Herr Dautzenberg ist ein guter Mann!)


Über die Frage, ob wir den Zinszuschlag erheben oder
nicht, müssen wir noch diskutieren. Darüber gibt es in
der Koalition vielleicht sogar Streit.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja! Da muss man schließlich genau abwägen! Wir wollen das nämlich verfassungsfest machen, Herr Kollege!)


Nein, bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist
klare Kante notwendig. In unserem Gesetzentwurf haben
wir eine eindeutige Regelung vorgeschlagen: Erstens
muss die Straffreiheit abgeschafft werden, und zweitens
muss die Selbstanzeige im Zuge der Bemessung des
Strafmaßes berücksichtigt werden. Das wäre gut.


(Beifall bei der SPD)


Diese Variante wird von der Deutschen Steuergewerk-
schaft, vom Deutschen Gewerkschaftsbund und vielen
anderen unterstützt. Deswegen bitte ich Schwarz-Gelb:
Zeigen Sie endlich etwas mehr Mut im Kampf gegen
Steuerkriminalität und mehr Mut zur beherzten Tat. Das
wäre auch ein guter Vorsatz für das neue Jahr.

Das würde im Übrigen dazu führen, dass wir uns auf
einen Weg begeben, der uns von der OECD gewiesen
wurde. Die OECD hat nämlich in einer internationalen
Vergleichsstudie festgestellt, dass die zeitliche Befris-
tung und das Auslaufenlassen der Selbstanzeigemöglich-
keiten zentrale Kriterien für den Erfolg im Sinne von
mehr Steuerehrlichkeit und mehr Steuereinnahmen sind.
Das alles wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht berücksich-
tigt. Das finden wir sehr schade, und die negativen
Effekte dessen werden wir bei der Anhörung entspre-
chend herausarbeiten.

Ich werbe noch einmal für unseren Gesetzentwurf,
der sich im Verfahren befindet. Bei der Anhörung wer-
den wir alles Weitere besprechen. Bis dahin wünsche ich
Ihnen besinnliche Tage. Denken Sie noch einmal in
Ruhe darüber nach. Schöne Weihnachtsfeiertage und ei-
nen guten Rutsch ins neue Jahr!

Danke schön.


(Beifall bei der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Danke, gleichfalls, Herr Kollege!)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708117500

Ich gebe das Wort dem Kollegen Daniel Volk für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1708117600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Herr Gerster, die Grundlage Ihrer Analyse des
Berichts der Financial Action Task Force


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: War sehr gut!)


vom Februar 2010


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das war noch besser!)


ist die Gesetzgebung, die Ihre sozialdemokratischen
Finanzminister nach elf Jahren Verantwortung für die
Finanzpolitik hinterlassen haben. Damit haben Sie selbst
Ihren sozialdemokratischen Finanzministern ein Ar-
mutszeugnis bei der Schwarzgeldbekämpfung und der
Bekämpfung der Steuerhinterziehung ausgestellt. So viel
Ehrlichkeit zu Weihnachten hätte ich von Ihnen gar nicht
erwartet. Vielen Dank dafür!


(Beifall bei der FDP)


Die Regierung legt dem Parlament heute den Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von
Geldwäsche und der Steuerhinterziehung vor, welches
auf die volle Unterstützung der FDP-Fraktion trifft.
Denn wir werden damit die Empfehlungen der Financial
Action Task Force im Bereich der Geldwäsche umset-
zen. Diese Task Force ist das wichtigste internationale
Gremium zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Ter-
rorismusfinanzierung. Deutschland beteiligt sich als
Gründungsmitglied aktiv an der weiteren Entwicklung
der Empfehlungen, die wir mit unserem Gesetz umset-
zen werden.


(Beifall bei der FDP)


Auch im Bereich der Steuerhinterziehung ist das Ge-
setz ein wichtiger und richtiger Schritt für mehr Steuer-
gerechtigkeit in Deutschland. Wir sorgen damit dafür,
dass Missbrauch in Form von Steuerbetrug in Zukunft
besser bekämpft werden kann. Die SPD hat es in den elf
Jahren ihrer Regierungsverantwortung leider nicht ge-
schafft, die strafbefreiende Selbstanzeige so zu gestalten,
dass sie nicht zu einer Besserstellung von Steuerhinter-
ziehern führt. Das Einzige, was der SPD in elf Jahren
eingefallen ist, war ein Steueramnestiegesetz, das als
Rohrkrepierer geendet ist.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist gelogen! Wir haben das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz gemacht! – Gegenruf des Abg. Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Die Amnestie war auch dabei! – Gegenruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht bei dem Gesetz!)


9002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

Wir als schwarz-gelbe Koalition handeln jetzt und arbei-
ten all das auf, was in den letzten elf Jahren versäumt
wurde.


(Beifall bei der FDP)


Wir werden die strafbefreiende Selbstanzeige im
Kern beibehalten, werden aber dafür sorgen, dass sie
nicht für eine Steuerhinterziehungsstrategie missbraucht
werden kann.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


Wenn man über dieses Thema spricht, sollte man als
Erstes die hohe praktische Bedeutung der strafbefreien-
den Selbstanzeige betonen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! Für den normalen Steuerzahler!)


Das ist bei Ihnen, Herr Gerster, völlig in den Hintergrund
gerückt. Dazu habe ich kein Wort von Ihnen gehört. Fra-
gen Sie einmal bei den steuerberatenden Berufen und bei
den Steuerpflichtigen nach,


(Nicolette Kressl [SPD]: Fragen Sie doch einmal bei den Steuergewerkschaften nach!)


wie wichtig die strafbefreiende Selbstanzeige im tägli-
chen Steuerveranlagungsgeschäft ist. Sie ist eine einfa-
che Möglichkeit der Behebung von Fehlern, die in der
Vergangenheit fahrlässig – nicht mutwillig – begangen
wurden. Insofern ist es vollkommen richtig, dass wir die
strafbefreiende Selbstanzeige im Kern beibehalten.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit zu dem Vorschlag
eines Strafzuschlags, der auch vom Bundesrat kam, ganz
kurz erwähnen, dass wir als FDP-Fraktion erhebliche
Bedenken haben, einen solchen Strafzuschlag einzufüh-
ren,


(Nicolette Kressl [SPD]: Das wundert uns sehr!)


denn Strafzuschlag bedeutet Strafe.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja!)


Das eine Wort enthält das andere.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja!)


Nach unserer Auffassung ist eine Strafe aber durch ein
Strafgericht und nicht durch die Finanzverwaltung zu
verhängen.


(Beifall bei der FDP)


Dementsprechend haben wir dort allein schon im Hin-
blick auf die Gewaltenteilung erhebliche Bedenken.

Im Übrigen darf ich darauf hinweisen: Wenn ein sol-
cher Strafzuschlag eingeführt werden sollte, würde die
einfache Möglichkeit der Behebung von fahrlässigen
Fehlern bei der Steuerveranlagung faktisch abgeschafft;
denn jeder Steuerpflichtige wäre gehalten, darauf zu
dringen, dass es keine strafbefreiende Selbstanzeige,
sondern eine Ergänzung, eine Berichtigung oder Ähnli-
ches ist. Dadurch würde die Steuerbürokratie ausgewei-
tet und das ganze Verfahren nicht vereinfacht werden.
Deswegen sehen wir einen solchen Strafzuschlag als
keine gute und angemessene Ergänzung zu der strafbe-
freienden Selbstanzeige an.

Ich möchte ganz kurz auch noch darauf hinweisen,
dass wir gerade in den letzten Monaten einen Erfolg mit
der strafbefreienden Selbstanzeige erleben konnten,


(Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD])


nämlich dadurch, dass Steuerpflichtige tatsächlich eine
strafbefreiende Selbstanzeige erstattet haben, weil sie
die Befürchtung hatten, dass bislang nicht versteuerte
Gelder auf ausländischen Konten entdeckt werden.

Das ist nicht nur eine Entwicklung aufgrund der
Steuer-CDs, also dadurch, dass rechtswidrig erlangte
Bankkundendaten verkauft wurden, sondern das ist eine
Entwicklung aufgrund des immer stärkeren Zusammen-
wachsens der Welt und der Finanzmärkte, sodass dem
einzelnen Steuerpflichtigen immer klarer wird, dass es
nicht mehr möglich ist, Gelder zu hinterziehen, indem
sie auf ausländische Konten verbracht werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708117700

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Gerster zulassen?


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1708117800

Sehr gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708117900

Bitte schön.


Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1708118000

Herr Kollege Volk, ich möchte Sie gerne fragen, ob

Sie aus heutiger Sicht im Angesicht der Tatsache, dass
jetzt eine entsprechende Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts vorliegt, die Entscheidung der Landes-
regierung Baden-Württemberg noch immer für richtig
halten, seinerzeit auf den Erwerb der Steuerdaten-CD zu
verzichten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1708118100

Herr Kollege Gerster, das ist ein Thema, das ich auch

noch ansprechen wollte, aber ich kann das gerne vorzie-
hen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)


Ich finde es gerade in rechtsstaatlicher Hinsicht und
vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung zunächst ein-
mal sehr gut, dass es jetzt eine Entscheidung des höchs-
ten deutschen Gerichtes zu dieser Frage gibt. Ich glaube,
dass das Bundesverfassungsgericht weitaus besser als
die Finanzverwaltung dazu berufen ist, diese Frage zu
beurteilen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Auch als das Land Baden-Württemberg!)


Gerade aus Ihren Reihen wird aber immer suggeriert,
man könne das alles sozusagen immer einheitlich be-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9003

Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

trachten, Steuer-CD sei Steuer-CD. Wie gesagt: Es geht
um Bankkundendaten.


(Nicolette Kressl [SPD]: Würden Sie auf die Frage antworten?)


– Ich gehe doch auf die Frage ein, Frau Kressl. Wenn Sie
meiner Antwort lauschen würden, dann würden Sie hö-
ren, dass das genau die Antwort auf die Frage Ihres Kol-
legen ist.


(Nicolette Kressl [SPD]: Nein!)


– Nein? Sie hören also nicht zu, okay.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was?)


Sie suggerieren, dass jeder Fall sozusagen gleich zu
behandeln ist. Die SPD setzt sich dafür ein, dass jede
rechtswidrig erlangte Sammlung von Bankkundendaten
anzukaufen ist. Ich bin der Auffassung, dass jeder Ein-
zelfall gesondert geprüft werden muss, weil eben nicht
alle Fälle immer vergleichbar sind. Insofern ist auch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Ent-
scheidung in einem Einzelfall.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es könnte ja auch eine CD von Heino drin sein!)


Die Verwaltung wird dadurch zu keinem Zeitpunkt da-
von entbunden, immer den jeweiligen Einzelfall zu prü-
fen.

Im Übrigen: Die rechtsstaatliche Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts liegt zwar vor, es bleibt aber
weiterhin die Frage offen, ob es politisch opportun ist,
über einen Ankauf rechtswidrig erlangter Daten sozusa-
gen geradewegs in die Gefahr zu kommen, dadurch ei-
nen schwunghaften Datenhandel zu befeuern.


(Nicolette Kressl [SPD]: Ein Eiertanz vor Weihnachten!)


Ich glaube, dieser Verantwortung sollten wir uns in der
Politik auch stellen.


(Martin Gerster [SPD]: Heißt das jetzt Ja oder Nein?)


– Ich habe Ihre Frage klar mit einem Nein beantwortet,
indem ich gesagt habe, dass nicht alle Fälle über einen
Kamm zu scheren sind. Ich denke, diese Frage habe ich
damit durchaus klar beantwortet.


(Nicolette Kressl [SPD]: Nein!)


Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass wir als
schwarz-gelbe Koalition endlich die richtigen Schritte
einleiten, die in diesem Bereich notwendig sind, nach-
dem die jetzt in der Opposition befindliche SPD dies zu-
vor vernachlässigt hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden dafür sorgen, dass die strafbefreiende
Selbstanzeige eben kein Hilfsmittel für eine Steuerhin-
terziehungsstrategie ist. Deswegen haben wir den Zeit-
punkt, ab dem die Straffreiheit nicht mehr in Anspruch
genommen werden kann, vorverlagert. Herr Kollege
Gerster, Sie haben dies dankenswerterweise hier bereits
als positiv eingeschätzt.

Zu der Teilselbstanzeige erwähne ich nur ganz kurz:
Ja, es gibt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs,
aber Rechtsprechung kann auch wieder geändert wer-
den. Gesetze sind Maßnahmen, die einen politischen
Willen umsetzen; wir sorgen dafür, dass dies nun end-
gültig in das Gesetz einfließen wird. Dementsprechend
ist auch dies ein wichtiger Schritt hin zur Regelung die-
ses Bereichs. Wir stehen klar für den Kampf gegen Steu-
erhinterziehung.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Gleichzeitig wollen wir den Steuerpflichtigen weiterhin
eine goldene Brücke hin zur Steuerehrlichkeit bauen.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Betonung liegt auf „golden“! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Da freuen sie sich aber!)


Da sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir wünschen
uns dabei auch die Unterstützung von der Opposition.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708118200

Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708118300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Sie alle kennen doch den Spruch: Steuern zahlen
nur die Dummen.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin nicht dumm, und ich zahle auch Steuern!)


– Hören Sie doch zu, Herr Schick. Sie kennen aber den
Spruch.

Wenn man sich die zahlreichen Selbstanzeigen der
letzten Zeit anschaut, fragt man sich angesichts dieser
großen Zahl, ob an diesem Spruch nicht doch etwas da-
ran sein könnte.


(Manfred Kolbe [CDU/CSU]: Zahlen Sie denn welche?)


Fakt ist, Steuern zahlen die Ehrlichen, Herr Schick: Sie
und ich. Die anderen begehen ohne Wenn und Aber eine
Straftat – das ist das Entscheidende – und betrügen die
Gesellschaft.

Oh Wunder, dieses Jahr ist die Zahl der Selbstanzei-
gen auf etwa 28 000 angestiegen. Das ist 14-mal so viel
wie in den Jahren zuvor. In Baden-Württemberg gab es
7 342 Selbstanzeigen, in Nordrhein-Westfalen 5 158 und
in Bayern 3 870.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist ja gerade der Erfolg der Selbstanzeige!)


9004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Nicht etwa das schlechte Gewissen plagte die Leute, die
sich auf einmal selbst anzeigen. Sie gehen nicht etwa
deshalb jetzt reuevoll zum Finanzamt, weil sie auf ein-
mal Steuern zahlen wollen. Nein, sie machen es, weil sie
wissen, dass sie bald geschnappt werden könnten, aber,
wenn sie sich jetzt selbst anzeigen, noch straffrei ausge-
hen könnten. Das ist die Wahrheit. Das kann doch wohl
nicht Ihr Ernst sein. Das ist einfach grob ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Steuergerechtigkeit ist so nicht zu schaffen.

Die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige
forderten laut Politbarometer vom Oktober dieses Jahres
etwa 60 Prozent der Befragten. Wahrscheinlich sind es
inzwischen noch mehr. Wir wissen, dass mit dieser Bun-
desregierung eine Abschaffung wohl leider nicht mög-
lich ist. Ich gebe zu, dass auch ich die Hoffnung hatte,
dass Sie zumindest solche verschärfenden Regelungen
planen, die auch tatsächlich verschärfend wirken. Aber
Pustekuchen! Es gibt nur halbherzige Änderungen statt
Konsequenz.

Bevor ich auf Ihre Änderungen eingehe, stelle ich
fest, dass die Regelung der strafbefreienden Selbstan-
zeige, geregelt in § 371 der Abgabenordnung, eben nicht
zu mehr Steuerehrlichkeit geführt hat, auch wenn Sie das
laufend behaupten. Sie sollten dann wirklich einmal er-
klären, warum ausgerechnet in diesem Jahr nach dem
Ankauf von Daten-CDs die Zahl der Anzeigen auf ein-
mal gestiegen ist,


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war klar! Deshalb der Gesetzentwurf!)


nachdem die Bankdaten in Umlauf waren, nicht aber
vorher. Wenn Sie ehrlich wären, müssten Sie das den
Bürgerinnen und Bürgern sagen. Das tun Sie aber nicht.

Sie tun etwas anderes, und das zeigt, für wen Ihr Herz
schlägt. Herr Volk hat das eben noch einmal sehr deut-
lich gemacht. Es schlägt eben nicht für den kleinen
Handwerker, der brav seine Steuern zahlt, sondern für
diejenigen, die ihr Vermögen fleißig ins Ausland brin-
gen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Über goldene Brücken laufen lässt!)


Nun kommen wir zu Ihrem großen Wurf.

Erstens. Künftig sollen bei einer Selbstanzeige alle
Hinterziehungssachverhalte für alle nicht verjährten Ver-
anlagungszeiträume offengelegt werden. Andernfalls er-
lischt die Straffreiheit. Das ist aber nicht neu – darauf
wurde schon hingewiesen –; das hat der Bundesgerichts-
hof bereits im Mai dieses Jahres gefordert. Schätzungen
der Deutschen Steuergewerkschaft gehen davon aus,
dass derzeit noch etwa 100 Milliarden Euro versteckt
liegen, die noch nicht der Verjährung zum Opfer gefallen
sind. Wenn Sie konsequent wären, könnten Sie zugrei-
fen. Aber Sie tun es nicht.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wie denn?)


Zweitens. Die Selbstanzeige soll künftig nicht mehr
möglich sein, sobald der Brief mit der Bekanntgabe der
Prüfungsanordnung im Unternehmen eingeht. Auch das
ist halbherzig. Warum folgen Sie nicht wenigstens hier
der Empfehlung des Bundesrates, der bereits die Absen-
dung des Briefes als Zeitpunkt der Bekanntgabe der Prü-
fungsanordnung vorsieht?

Drittens. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht keiner-
lei Strafgebühr – auch das wäre möglich, Herr Volk – auf
den zu entrichtenden Steuerbetrag vor. In der öffentli-
chen Debatte sind 5 Prozent im Gespräch. Es bleibt da-
bei: 6 Prozent Zinsen ab Fälligkeit. Damit zahlen – das
ist grob ungerecht – die Unehrlichen genauso viel wie
die Ehrlichen. Das kann doch nicht sein. Hier muss un-
bedingt etwas geändert werden.

Der Staatssekretär nährt vor Weihnachten ein biss-
chen die Hoffnung, dass sich die CDU/CSU bewegt. Von
der FDP haben wir leider eben das Gegenteil vernehmen
müssen. Trotzdem hoffe ich – an dieser Stelle werden
Sie unsere Unterstützung haben –, dass wir zu einer je-
weils angemessenen Gebühr kommen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: „Gebühr“ klingt schon anders!)


Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Mit Ihrer halbherzi-
gen Herangehensweise wird sich an dem Problem nichts
ändern. Ohne den Druck auf die Steuersünder durch ver-
mehrte Prüfungen können Sie sich das Ganze sparen.
Dann haben wir nur einen zahmen Papiertiger.

Sie verfolgen einen völlig falschen Denkansatz, wenn
Sie sagen – ich zitiere aus der Antwort der Bundesregie-
rung auf unsere Anfrage vom 8. April dieses Jahres zur
strafbefreienden Selbstanzeige –:

Eine Abschaffung der strafbefreienden Selbstan-
zeige nimmt den Finanzbehörden daher im Ergeb-
nis Ermittlungsmöglichkeiten und verringert das
Steueraufkommen ….

Genau hier liegt aber der Hase im Pfeffer. Denn die Fi-
nanzbehörden haben nicht genug Betriebsprüfer und
Steuerfahnder. Es gibt auch keinen automatischen Infor-
mationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der ver-
schiedenen Länder.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708118400

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708118500

Wenn Sie etwas ändern wollen, dann müssen Sie da-

für Sorge tragen, dass die Finanzbehörden viel besser
ausgestattet werden und Betriebsprüfungen stattfinden.
Sie müssen sich auch endlich auf internationaler Ebene
für den automatischen Informationsaustausch einsetzen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708118600

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9005


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708118700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich will zuerst etwas zum Thema Geldwäsche sagen. Ich
glaube, man kann es insoweit aus dem Parteienstreit he-
rausnehmen, als man sagen muss: Viele Länder in Eu-
ropa waren überrascht von dem, was die Financial Ac-
tion Task Force ihnen zur Geldwäsche ins Stammbuch
geschrieben hat. Dass man seit Februar die Wirklichkeit
noch nicht perfekt geändert hat, liegt nahe. Ich finde, da
müssen wir ehrlich sein.

Aber in einem Punkt ist die Kritik von Herrn Gerster
richtig, und ich möchte sie noch einmal unterstreichen:
Statt einer klaren und vollständigen Bestandsaufnahme
und eines Gesetzentwurfs, mit dem wir die Defizite sys-
tematisch aufarbeiten, finden wir jetzt in dem einen oder
anderen Gesetzentwurf jeweils ein bisschen, sodass die
Befürchtung bestehen muss, dass wir am Ende die ekla-
tanten Schwächen, die in Deutschland vorhanden sind,
eben nicht systematisch aufarbeiten und Geldwäsche da-
mit einmal mehr nicht deutlich genug als zentrales Pro-
blem unserer Wirtschaft erkennen und entsprechend kor-
rigieren. Das halte ich für die falsche Strategie. Statt hier
und da ein bisschen zu ändern, wäre ein systematischer
Ansatz notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Hauptpunkt: die strafbefreiende
Selbstanzeige. Im Wesentlichen wird in den Gesetzent-
wurf aufgenommen, was der Bundesgerichtshof festge-
legt hat. Dass es schon vorher in der Diskussion war, än-
dert nichts daran. Es ist trotzdem richtig, das in den
Gesetzentwurf aufzunehmen. Aber es fehlen entschei-
dende Punkte.

Erstens haben Sie in Ihrem eigenen Antrag im Früh-
jahr festgestellt: Taktieren darf sich nicht lohnen. Mit
dem, was Sie jetzt vorlegen, bleiben Sie hinter diesem
Anspruch zurück, weil es sich nach wie vor lohnt. Der
Ehrliche, der zu spät zahlt, hat einen höheren Zuschlag
als der Unehrliche, der eine Selbstanzeige macht.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das stimmt doch nicht! Er zahlt jetzt mehr!)


Herr Dautzenberg hat das dargelegt. Hier ist Korrektur-
bedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt: Sie greifen bei der Frage der
Selbstanzeige viel zu kurz. Es kann doch nicht sein, dass
man es als tätige Reue bezeichnet, wenn Menschen in
dem Moment, in dem die Untersuchung schon läuft, in
dem die Durchsuchung ihrer Wohnungen und ihrer Ge-
schäftsräume stattfindet, schnell einmal reuig werden.
Die Zunahme – das hat Frau Höll richtig dargestellt – der
Zahl der Selbstanzeigen in diesem Jahr ist darauf zu-
rückzuführen, dass die Leute Angst hatten, dass konkret
in ihrer Bank etwas aufgeflogen ist. Da muss man sich
einmal ehrlich machen. Nach meiner Schätzung haben
etwa 80 Prozent der Selbstanzeigen nichts mit tätiger
Reue, sondern nur mit Taktik zu tun.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, das stimmt nicht! 80 Prozent stimmt nicht, Herr Kollege!)

Das muss eingeschränkt werden; sonst ist der Ehrliche
tatsächlich an dieser Stelle der Dumme.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Schauen Sie in die Veranlagungspraxis!)


– Machen Sie eine andere Schätzung. Es ist auf jeden
Fall die überwältigende Mehrheit.

Nehmen Sie den Fall, der vor dem Bundesgerichtshof
behandelt worden ist. Da ging es darum, dass die Unter-
suchung schon lief und dann jemand meinte, einklagen
zu müssen, dass er noch eine Selbstanzeige machen
könne.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ändern wir doch jetzt!)


– Ja, das hat der Bundesgerichtshof festgelegt. Dann ist
aber die Frage, ob man nicht auch Wiederholungstäter
bei diesem Fall klar einschränken müsste. Sie greifen
hier deutlich zu kurz.

Jetzt will ich auf das zentrale Problem Ihres Gesetz-
entwurfes eingehen, den Art. 3. Es ist richtig, wie es der
BGH gesagt hat: Wer sich nur teilweise ehrlich macht,
also sozusagen nur das Konto bei der Credit Suisse auf-
deckt, aber das Konto bei der UBS oder in Liechtenstein
nicht aufdeckt, soll in Zukunft nicht mehr von der
Selbstanzeige profitieren können. Das ist korrekt. Sie
aber schreiben in Art. 3 eine Übergangsregelung hinein,
in der Sie demjenigen, der bisher nur einen Teil aufge-
deckt hat, also so getan hat, als sei er jetzt ehrlich, in
Wirklichkeit aber nur für ein Konto etwas aufgedeckt
hat, weil er Angst hatte, dass ihm die Ermittler auf die
Spur kommen, für die Zukunft garantieren, dass er straf-
frei ausgeht.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Skandal!)


Sie leisten an dieser Stelle einen Bestandsschutz für
Steuerhinterzieher. Das lehnen wir ab; das werden wir
nicht durchgehen lassen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir leisten Vertrauensschutz! – Gegenruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Vertrauensschutz für Steuerhinterziehung? – Gegenruf des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, für Selbstanzeiger, die hier tätig werden!)


– Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Kolbe nachher für
die Koalition auf diesen Punkt noch eingehen will.

Sie schreiben in Ihrer Begründung:

Für bereits erstattete Selbstanzeigen, die tatsächlich

(nur) Teilselbstanzeigen waren, bleibt daher der bei

Abgabe der Selbstanzeige bestehende Status der
Straffreiheit insoweit erhalten.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist Vertrauensschutz!)


– Genau. Für unehrliche Leute schaffen Sie Vertrauens-
schutz. Aber die vielen ehrlichen Steuerzahler, die in der

9006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)

Zwischenzeit ehrlich gezahlt haben, gucken in die
Röhre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Deswegen wäre es richtig, an dieser Stelle eine klare
Frist einzuführen und zu sagen: Die Leute, die sich in
der Vergangenheit nur teilweise ehrlich gemacht haben,
haben jetzt noch ein Jahr Zeit, um sich insgesamt ehrlich
zu machen. Dann können sie davon profitieren. Aber
nach unserer Ansicht darf es keinen Vertrauensschutz für
unehrliche Leute geben, die so tun, als würden sie sich
ehrlich machen, und in Wirklichkeit mit ganz kaltem
Kalkül weiterhin die ehrlichen Menschen in diesem
Lande betrügen. So geht es nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708118800

Der Kollege Manfred Kolbe hat jetzt das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt endlich ein sachlicher Beitrag!)



Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1708118900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es war allen drei Oppositionsrednern physisch förmlich
anzumerken, dass sie sich ärgern, dass der Koalition
wieder einmal ein guter Gesetzentwurf, diesmal zur
Reform der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß
§ 371 AO, geglückt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Sinn für Humor ist wunderbar, Herr Kolbe! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Gut für das Land, schlecht für die Opposition!)


Keine eigenen Vorschläge außer der Totalabschaffung,
mehr als ein „weg damit“ wird nicht geboten. Es wird
noch gesagt, es sei ein bisschen zu wenig, zwar richtig,
aber eine Minimallösung usw. Dies zeigt, dass wir auf
dem richtigen Wege sind und einen guten Gesetzentwurf
vorgelegt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zur Sache, bitte!)


Damit setzt die unionsgeführte Bundesregierung ihre
konsequente Politik der Bekämpfung der Steuerhinter-
ziehung seit 2005 fort. Was haben wir seit 2005 – in den
ersten Jahren teilweise im Zusammenwirken mit der
SPD – erreicht? Wir haben endlich eine vernünftige
Strafvorschrift – § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO – für die
bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Ver-
brauchsteuern geschaffen. Wir haben erstmals eine Tele-
kommunikationsüberwachung für schwere Steuerhinter-
ziehungstatbestände eingeführt; das gab es vorher nicht.
Wir haben die Verjährungsfrist für besonders schwere
Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert. All dies
hat eine unionsgeführte Bundesregierung eingeführt.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das mussten wir Ihnen abhandeln!)


– Das haben wir teilweise im Zusammenwirken mit Ih-
nen erreicht, Frau Kressl. Auch wir haben das gewollt.

Gleichzeitig hat der Bundesgerichtshof vernünftige
Strafzumessungsregeln aufgestellt. Ab 1 Million Euro
hinterzogene Steuern gibt es grundsätzlich keine Straf-
aussetzung zur Bewährung mehr. Das ist eine richtige
Entscheidung. Wir haben dann bei den Steuer-CDs ent-
schlossen zugegriffen. Ich zitiere die Bundeskanzlerin
vom Februar 2002:

Vom Ziel her sollten wir, wenn diese Daten relevant
sind, auch in den Besitz dieser Daten kommen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundeskanzlerin
eindrucksvoll bestätigt. Zudem schließen wir im interna-
tionalen Bereich fast wöchentlich Abkommen ab, mit
denen wir den Informationsaustausch nach OECD-Stan-
dard vereinbaren und somit die internationale Steuerhin-
terziehung bekämpfen. Diese Bundesregierung ist er-
folgreich bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Schick, wenn ich versuche, herauszubekommen,
was Rot-Grün – Sie haben schließlich von 1998 bis 2005
regiert – in sieben Jahren geschafft hat, dann stelle ich
fest, dass das fast nichts ist. Das mag daran liegen, dass
Sie damals dem Hohen Hause noch nicht angehört ha-
ben. Aber in Erinnerung sind mir nur ein völlig ver-
korkster § 370 a AO – den mussten wir aufheben – und
eine Steueramnestie geblieben, die alles andere als ein
Ruhmesblatt war. Das ist die rot-grüne Bilanz bei der
Bekämpfung von Steuerhinterziehung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Das Gesetz, über dessen Entwurf wir heute in erster
Lesung beraten, sieht eine Neuregelung der strafbefrei-
enden Selbstanzeige nach § 371 AO vor und geht auf
eine Initiative meiner Fraktion zurück. Diese Initiative
haben wir im März gestartet, also vor dem Urteil des
Bundesgerichtshofs, um das hier einzuflechten. Wir, die
Union, haben damals drei Maßnahmen gefordert.

Erstens. Wir wollen den Ausschluss der Selbstanzeige
bereits bei Bekanntgabe der Prüfungsanordnung und
nicht erst bei Erscheinen des Prüfers. Wir wollen keine
Klausurfälle mehr, in denen davon, ob der Prüfer vor
oder hinter dem Gartenzaun steht, abhängt, ob die
Selbstanzeige wirksam ist oder nicht. Die Bekanntgabe
ist nun entscheidend.

Zweitens. Wir wollen eine umfassende Selbstanzeige.
Teilselbstanzeigen werden nicht mehr anerkannt.

Drittens. Wir wollen einen Zuschlag auf die Hinter-
ziehungszinsen, um den Steuerhinterzieher wirtschaft-
lich stärker zu belasten.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9007

Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)

Wie sah Ihre Reaktion aus, meine Damen und Herren
von der SPD? Sie war simpel. Zuerst haben Sie sich wo-
chenlang geärgert, dass die Union bei der Bekämpfung
der Steuerhinterziehung wieder vorne war. Dann kam
der Antrag auf Totalabschaffung. Diesen haben Sie heute
kaum noch vertreten, weil dieser im Bundesrat sang- und
klanglos untergegangen ist. Der Freistaat Bayern hat die
Unionsinitiative aufgegriffen. 15 von 16 Bundesländern
haben sich im Bundesrat unserer Initiative angeschlos-
sen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich zitiere wörtlich den Finanzminister von Rheinland-
Pfalz, Herrn Kühl, vom April dieses Jahres:

Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbe-
freiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich
profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst an-
zeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver
als der Einsatz von Ermittlern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Den Worten Ihres Finanzministers kann man nur wenig
hinzufügen.

Die Selbstanzeige ist auch kein isolierter Fremdkör-
per im Strafrecht. Es gibt vergleichbare Strafbefreiungs-
vorschriften auf vielen anderen Gebieten. Es gibt § 149
Abs. 2 Strafgesetzbuch: Wegen Fälschung von Geld-
und Wertzeichen wird nicht bestraft, „wer freiwillig die
Fälschungsmittel, soweit sie noch vorhanden und zur
Fälschung brauchbar sind, vernichtet“. Es gibt § 261
Abs. 9 Strafgesetzbuch: Wegen Geldwäsche wird nicht
bestraft, „wer die Tat freiwillig bei der zuständigen Be-
hörde anzeigt“. Es gibt § 264 Abs. 5 Strafgesetzbuch:
Wegen Subventionsbetrug wird nicht bestraft, „wer frei-
willig verhindert, dass aufgrund der Tat die Subvention
gewährt wird“.

Das sind alles vergleichbare Vorschriften, nach denen
auch ein gesetzlicher Anspruch auf Strafbefreiung be-
steht, nicht nur auf Milderung im Gerichtsverfahren.
§ 371 AO ist kein Fremdkörper, sondern er entspricht ei-
nem allgemeinen Rechtsgedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb werden wir ihn auch nicht abschaffen. Sowohl
der Herr Staatssekretär als auch der Vorredner haben ja
schon ausgeführt, was eine Abschaffung in der Praxis
bedeuten würde. Jeder Berichtigungsfall ginge mögli-
cherweise zur Staatsanwaltschaft.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr!)


Das kann nicht gewünscht sein, auch von der Effektivität
her nicht. Immerhin haben wir dieses Jahr bisher über
28 000 Selbstanzeigen. Selbst wenn Sie das Personal
verdoppeln oder verdreifachen, würden Sie diese Fälle
nicht aufklären. Ich kann wieder nur Herrn Kühl zitie-
ren:

Mir ist bewusst, dass Strafgerechtigkeit und Steuer-
gerechtigkeit hier im Konflikt miteinander stehen.
Das ist richtig. Aber wir gehen jetzt einen vernünfti-
gen Mittelweg, um beiden gerecht zu werden, während
die Totalabschaffung der Steuergerechtigkeit nicht die-
nen würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zum
Zuschlag sagen. Derzeit gibt es einen Wertungswider-
spruch. Einerseits werden gemäß § 235 AO pro Jahr
6 Prozent Hinterziehungszinsen erhoben, andererseits
beträgt der Säumniszuschlag gemäß § 240 AO, wenn ich
beispielsweise einmal aus Schusseligkeit die Umsatz-
steuererklärung ein paar Tage oder nur einen Tag zu spät
abgebe, 1 Prozent pro Monat. Das ist ein Wertungswi-
derspruch, auf der einen Seite 6 Prozent per annum für
den Hinterzieher, auf der anderen Seite 12 Prozent per
annum für den bloß schusseligen Säumigen.

Deshalb meinen wir als Union, hier wäre ein Zu-
schlag sachgerecht, damit der Steuerhinterzieher wirt-
schaftlich spürbarer belastet würde als der ehrliche Steu-
erzahler. Dieser Zuschlag, Herr Volk, wäre keine Strafe,
hätte keinen Strafcharakter, sondern wäre eine steuerli-
che Nebenleistung, wie sie schon jetzt in der Abgaben-
ordnung vorgesehen ist, beispielsweise gemäß § 162
Abs. 4 Satz 2 Abgabenordnung bei der Verletzung von
Dokumentationspflichten bei Sachverhalten mit Aus-
landsbezug. Der Zuschlag ist ein typisierendes Äquiva-
lent für den Mehraufwand, der der Finanzverwaltung
durch die fehlende Mitwirkung des Steuerhinterziehers
entsteht.

Wir werden in der Anhörung prüfen, ob wir dafür
eine verfassungsfeste Formulierung finden können. Im
Ausschuss werden wir dann noch darüber zu reden ha-
ben, ob wir diese Regelung treffen oder nicht.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zum Vertrauensschutz!)


Vorerst bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit
und bitte Sie alle, diesen guten Gesetzentwurf zu unter-
stützen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gar nichts zum Vertrauensschutz gesagt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708119000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4182 an die Ausschüsse vorge-
schlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. Gibt
es dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin

9008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Vorratsdatenspeicherungen über den
Umweg Europa

– Drucksachen 17/1168, 17/3589 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Dr. Eva Högl
Christine Lambrecht
Christian Ahrendt
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Verabredet ist es, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.

Dann eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort
der Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1708119100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren heute zum wiederholten Mal über ein
Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen, weil das
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Gesetz der
Vorgängerregierung quasi pulverisiert hat. Karlsruhe hat
ganz deutlich die Rote Karte für die bisherige Regelung
der Vorratsdatenspeicherung gezeigt. Nach Auffassung
der Liberalen kann es daher bei diesem Thema ein
schlichtes „Weiter so“ mit einigen kleinen Stellschrau-
ben nicht geben.


(Beifall bei der FDP)


Vielmehr müssen wir gründlich nachdenken, was wirk-
lich notwendig ist und was verfassungsrechtlich verein-
bar ist mit dem, was wir das Grundgesetz nennen.

Sie alle wissen, dass derzeit in Europa eine Evaluie-
rung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung läuft.
Im September sollten eigentlich Vorschläge dafür vorlie-
gen, was passieren soll. Doch offensichtlich hat die
Kommission in Brüssel dasselbe Problem, das hie und
da die Bundesregierung in Karlsruhe gehabt hat, nämlich
klar und deutlich nachzuweisen, dass die Vorratsdaten-
speicherung, wie sie von Brüssel vorgesehen ist und wie
sie hier auch umgesetzt worden ist, wirklich Vorteile
bringt und das ist, was die Sicherheitsbehörden brau-
chen.

Dazu muss man sich nur einmal ein paar Zahlen anse-
hen. Die Aufklärungsquote bei Straftaten im Internet vor
der Einführung der Vorratsdatenspeicherung betrug
82,9 Prozent im Jahr 2007 und nach Einführung der Vor-
ratsdatenspeicherung 75,7 Prozent im Jahr 2009. Da
wurde das Gesetz schon angewandt.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist komisch!)


Das heißt doch, dass die Vorratsdatenspeicherung an
sich offensichtlich nicht das beste Mittel ist.
In anderen EU-Mitgliedstaaten – das ist das beson-
ders Interessante –, wo niemand geklagt hat, wo es keine
politische Diskussion gegeben hat, sind die Zahlen auch
nicht besser. Es gibt also keine belastbaren Zahlen dafür,
dass die anlasslose millionenfache Speicherung von Ver-
bindungsdaten zur Kriminalitätsbekämpfung unbedingt
notwendig ist.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was mich persönlich wirklich umtreibt – das habe ich
auch an anderer Stelle schon gesagt –, ist die Tatsache,
dass dann, wenn es ums Geld geht, nämlich bei Urheber-
rechtsverletzungen, allein im letzten Jahr von der Tele-
kom 2,7 Millionen IP-Adressen gespeichert bzw. ver-
folgt und mitgeteilt werden konnten. Ich frage mich
ernsthaft: Wie kann es sein, dass das dann, wenn es ums
Geld geht, um die Verfolgung von Urheberrechtsansprü-
chen, leichter möglich sein soll als bei – in Anführungs-
zeichen – normaler Kriminalität?


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das hätte ich nicht besser sagen können!)


Ich glaube, wir haben hier ein Vollzugsdefizit und
nicht so sehr ein Umsetzungsdefizit. Wir setzen daher
ganz klar auf die Evaluierung der Richtlinie in der EU.
Die Bundesjustizministerin hat das mehrfach sehr deut-
lich gemacht. Deshalb brauchen die Grünen das auch gar
nicht per Antrag einzufordern.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut gemeint!)


Wir tun das. Wir setzen uns für das sogenannte Quick-
Freeze-Verfahren, für die anlassbezogene Pufferung von
Daten ein, damit Strafverfolgung da möglich ist, wo sie
notwendig ist. Wir sind gern bereit, unseren Vorschlag
mit allen Fraktionen im Deutschen Bundestag zu disku-
tieren. Wir freuen uns auf eine gute Debatte.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708119200

Jetzt hat Eva Högl das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1708119300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Frau Piltz, das Angebot nehmen wir an. Aber dann
legen Sie doch einmal etwas vor! Darauf warten wir
ganz gespannt. Wir haben vernommen, dass die Spitzen
der Koalition das Thema auf 2011 vertagt haben und
dass das Bundesjustizministerium aufgefordert ist, bis
Ende 2010 noch einen Bericht über die Vorratsdatenspei-
cherung vorzulegen. Nun schauen wir auf den Kalender
und stellen fest, dass das Jahr noch 16 Tage hat, eher 15;
wir sind ja jetzt schon am Abend. Wir warten gespannt,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9009

Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

was wir unter dem Tannenbaum zur Vorratsdatenspei-
cherung lesen dürfen.


(Gisela Piltz [FDP]: Ich hoffe, dass Sie unter dem Tannenbaum nicht so etwas lesen müssen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wir lesen immer nur, dass Sie sich nicht einigen können.
Wir sehen, dass Sie nicht handlungsfähig und nicht in
der Lage sind, dieses wichtige Thema zu entscheiden.


(Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD])


Frau Piltz hat gesagt: Es darf kein „Weiter so“ geben. –
Dem kann man zustimmen. Das Bundesverfassungsge-
richt hat entschieden. Wir warten darauf, dass Sie etwas
vorlegen. Sie sind am Zug. Wir wollen hier über etwas
diskutieren.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Aber was ist Ihre Meinung?)


– Ich komme dazu; ich habe ja noch ein paar Minuten.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Was ist das für eine Unruhe hier? – Gegenruf des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]: Ich bin eben interessiert!)


Inakzeptabel ist meiner Meinung nach das Argument:
Wir warten auf Europa. – Darüber müssen wir uns wirk-
lich einmal auseinandersetzen. Die Grünen haben den
Antrag mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherungen
über den Umweg Europa“ vorgelegt. Ich finde übrigens:
Europa ist nie ein Umweg. Aber wir müssen uns darüber
unterhalten, ob wir auf Europa warten können oder
nicht.

Wir sind der Auffassung, dass wir in Deutschland ent-
scheiden müssen, wie es mit der Vorratsdatenspeiche-
rung weitergeht. Das Bundesverfassungsgericht hat am
2. März dieses Jahres entschieden, dass die Vorratsdaten-
speicherung mit Art. 10 Grundgesetz unvereinbar ist. Es
hat klare Kriterien und klare Voraussetzungen formu-
liert, unter denen eine Vorratsdatenspeicherung möglich
wäre, wenn man sie denn möchte.

Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt – ich
will das zitieren, weil das sehr eindringlich war und für
uns auch ein Handlungsauftrag ist –: Anlasslose Speiche-
rung von Telekommunikationsverkehrsdaten ist geeignet,
„ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins her-
vorzurufen“, das „eine unbefangene Wahrnehmung der
Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“ kann.
Wir alle haben das gut gelesen.

Diese Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, können
wir nicht kommentarlos nach Europa delegieren. Diese
Frage müssen wir hier im Deutschen Bundestag beant-
worten. Wir müssen anhand der Maßstäbe des Grundge-
setzes entscheiden, wie wir bei der Vorratsdatenspeiche-
rung weiter vorgehen. Wir im Deutschen Bundestag sind
als Gesetzgeber gefragt.

Ich will noch einen zweiten Grund nennen, warum es
falsch ist, auf Europa zu warten. Wir sind nicht irgendein
Mitgliedstaat in der Europäischen Union; das wissen
wir. Wir müssen das europäische Recht gestalten. Wir
sind ein großer Staat mit viel Gewicht. Ich möchte an
dieser Stelle, anders als es sich in der Europapolitik der
Bundesregierung zeigt, nicht sagen, was ich nicht will,
sondern ich möchte Europa gestalten, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Wir haben dazu die Chance.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708119400

Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Höferlin zulassen?


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1708119500

Ja, bitte sehr.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708119600

Bitte schön.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1708119700

Vielen herzlichen Dank. – Frau Kollegin Högl, ich

lese im Bericht des Rechtsausschusses, dass die SPD-
Fraktion Folgendes von sich gegeben hat:

Die Richtlinie 2006/24/EG werde derzeit auf euro-
päischer Ebene evaluiert. Das Ergebnis solle zu-
nächst abgewartet werden.

Können Sie mir den Zusammenhang zwischen dieser
Aussage und dem, was Sie eben gesagt haben, erklären?
Den verstehe ich nicht ganz.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1708119800

Das bezog sich auf den Antrag der Grünen.


(Manuel Höferlin [FDP]: Da sind wir doch jetzt! Das ist doch jetzt Thema!)


– Genau. Der Titel des Antrags der Grünen ist: „Keine
Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“.
Ich sage aber: Wir dürfen nicht auf Europa warten, son-
dern wir müssen unsere Position in Europa einbringen.
Das ist ein Unterschied. Deswegen haben wir uns da-
mals so positioniert und bei der Abstimmung über den
Antrag der Grünen enthalten.

Ich will kurz ausführen – ich glaube, wir sind gar nicht
so weit voneinander entfernt –, warum ich es falsch finde,
auf Europa zu warten. Ich habe es schon gesagt: Wir müs-
sen unsere Position in Europa einbringen. Wir haben dazu
eine Chance. Es gibt jetzt einen neuen Vertrag, den Ver-
trag von Lissabon, und die Grundrechtecharta. Das gibt
die Gelegenheit, die Balance von Bürgerrechten und Si-
cherheit – ich habe das im Deutschen Bundestag schon
öfter gesagt – neu zu justieren. Das ist eine Riesenchance.
Die Bürgerinnen und Bürger warten darauf, dass wir uns
positionieren. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass
die Richtlinie evaluiert wird. Denn es gibt mit dem Ver-
trag von Lissabon und der Grundrechtecharta neue Maß-
stäbe. Außerdem ist die Richtlinie in einigen Mitglied-
staaten nicht umgesetzt – das wissen wir auch –, und in
einigen Mitgliedstaaten haben die Verfassungsgerichte
wie in Deutschland die nationale Umsetzung der Richtli-
nie kritisiert.

9010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Es gibt also Bewegung in der Debatte um Vorratsda-
tenspeicherungen. Auch die Entscheidung des Europäi-
schen Gerichtshofs steht noch aus. Wir müssen die
neuen Maßstäbe, die sich aufgrund der neuen Vertrags-
grundlagen ergeben, nutzen. Aber ich sage – darin unter-
scheiden wir uns von den Koalitionsfraktionen und der
Bundesregierung –: Wir dürfen nicht tatenlos dabei zu-
sehen, was in Europa passiert, sondern wir müssen un-
sere Vorstellungen in die europäische Debatte einbrin-
gen.


(Gisela Piltz [FDP]: Das tun wir doch auch!)


Wir erwarten von der Kommission einerseits, dass bei
der Evaluierung das Ergebnis nicht schon vorgegeben
wird, sondern dass sie ergebnisoffen durchgeführt wird.
Im Übrigen schreiben auch vier Mitglieder der FDP-
Bundestagsfraktion an die Kommissarin Malmström,
dass sie das erwarten. Da haben wir sogar die gleiche
Auffassung.


(Manuel Höferlin [FDP]: Wir haben wenigstens etwas getan!)


Wir erwarten andererseits von der Bundesregierung,
dass sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluie-
rung einbringt. Darin besteht der Unterschied; denn dazu
haben wir von Ihnen bisher überhaupt noch nichts gese-
hen.


(Manuel Höferlin [FDP]: Und wir von Ihnen nichts gehört!)


– Sie sind am Zug, Sie müssen etwas vorlegen.

Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die
Kommission auf die deutsche Positionierung wartet.
Deutschland ist am Zug. Wir haben uns im Rechtsaus-
schuss mit der Kommissarin Reding und in Brüssel mit
der Kommissarin Malmström unterhalten. Beide haben
uns gesagt, dass wir unsere Position in die Evaluierung
einbringen müssen und dass die Kommission darauf
wartet, dass Deutschland als großer Mitgliedstaat seine
Auffassung deutlich macht.

Deswegen sage ich es noch einmal: Sie sind am Zug.
Wir bieten an, konstruktiv mitzudiskutieren. Aber uns
muss hier im Deutschen Bundestag etwas vorgelegt wer-
den.


(Beifall bei der SPD)


Ein Brief von FDP-MdBs an die Kommissarin reicht
nicht aus, sondern wir wollen von der Bundesregierung
und den Koalitionsfraktionen etwas vorgelegt bekom-
men.


(Gisela Piltz [FDP]: Das, was Sie vorgelegt haben, hat das Verfassungsgericht kassiert!)


Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was uns das
Bundesverfassungsgericht – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708119900

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kolle-

gen Höferlin?

Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1708120000

Ja, der Kollege noch einmal. Aber sicher!


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1708120100

Frau Högl, ich habe noch nicht ganz verstanden, wo-

für Sie stehen und wie Sie zu dem Antrag stehen. Viel-
leicht hilft es Ihnen, wenn ich aus der letzten Sitzungs-
woche vorlese, was der Kollege Olaf Scholz aus Ihrer
Fraktion gesagt hat.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1708120200

Ja.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1708120300

Er sagte zum Thema Vorratsdatenspeicherung:

Ich jedenfalls versichere Ihnen gerne, dass die So-
zialdemokratische Partei, wenn Sie das aufrechter-
halten wollen, was schon einmal da war, oder in
einer gesetzlich neuen Fassung wiederherstellen
wollen, Ihnen Unterstützung leistet.

Ich verstehe das so, dass die sozialdemokratische Frak-
tion gerne möchte, dass die Vorratsdatenspeicherung so,
wie sie schon einmal war, oder in einer neuen Form wie-
deraufersteht. Ist das so?


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1708120400

Lieber Herr Kollege, wenn Sie meine Sätze zuvor ge-

hört hätten und sich nicht darauf konzentriert hätten,
nachzulesen, was Olaf Scholz gesagt hat, dann hätten Sie
gehört, dass ich für die Fraktion der SPD angeboten
habe, konstruktiv mitzuarbeiten. Wir haben allerdings
nichts auf dem Tisch liegen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie denn dafür oder dagegen? Das ist doch die entscheidende Frage!)


Am 2. März ist ein Urteil des Bundesverfassungsge-
richts ergangen. Wir haben jetzt den 16. Dezember. Wir
haben klare Kriterien aufgestellt und erwarten jetzt, dass
Sie als Koalition etwas vorlegen, das die folgenden Kri-
terien berücksichtigt: Datensicherheit, Begrenzung der
Verwendung – das ist ja schon gesagt worden und in der
Diskussion –,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein dünnes Brett!)


Transparenz, das heißt, die Bürgerinnen und Bürger
müssen informiert werden über das, was gespeichert
wird, und Rechtsschutz. Nun sind Sie am Zug, etwas
vorzulegen.


(Gisela Piltz [FDP]: Das hätten Sie alles besser machen können! Späte Erkenntnis!)


Wir wissen auch, dass Sie sich nicht einigen können.
Das lesen wir ja jeden Tag in der Presse.

Deswegen sage ich noch einmal: Der Ball ist in Ihrem
Feld. Wir bieten an, konstruktiv mitzuarbeiten.


(Zuruf von der FDP: Sie enthalten sich!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9011

Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Insofern besteht kein Unterschied zu den Aussagen mei-
nes stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Olaf Scholz.


(Zuruf von der FDP: Das ist gar keine Meinung!)


– Das ist eine klare Position, aber selbstverständlich.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Volle Kampfkraft hier!)


Meine Damen und Herren, wir warten ab, was Sie vorle-
gen. Die SPD wird sich dann eine Meinung bilden. Wir
werden uns konstruktiv einbringen.

Ich will noch einmal daran erinnern, was das Bundes-
verfassungsgericht gesagt hat. Weil ich das wichtig ge-
nug finde und das ja wirklich ein ganz entscheidender
Punkt in der Debatte ist, möchte ich gerne, dass die Bun-
desregierung und die Koalitionsfraktionen in der weite-
ren Debatte das auch berücksichtigen und in die europäi-
sche Debatte einspeisen, nämlich dass Möglichkeiten
zur Wahrnehmung der Rechte der Bürgerinnen und Bür-
ger bei der Registrierung von Daten zur verfassungs-
rechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland
gehören. Von Ihrer Seite, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, habe ich nicht gehört, dass das erfolgen soll. Es gibt
keinen Beitrag zur Evaluierung. Sie haben keine klare
Position dazu, was Sie in Europa vortragen wollen. Des-
wegen komme ich zu dem Ergebnis: Nichtstun ist keine
Antwort. Wir haben aber eine klare Position. Diese wer-
den wir einbringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708120500

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Sensburg

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1708120600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen – ich
sage das direkt von vorne her frei heraus – ist politisch
durchschaubar, europarechtlich fragwürdig, wenn nicht
gar grenzwertig, und sicherheitspolitisch verantwor-
tungslos.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oi, oi, oi!)


Herr Kollege von Notz, damit erübrigt sich auch die
Frage nach unserer Position, die Sie ja eben noch an die
SPD gestellt haben.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die FDP sieht das anders!)


Sie beantragen, die Bundesregierung möge weiteren
Vorhaben zur Vorratsdatenspeicherung auf europäischer
Ebene entgegentreten, und, man solle die vollständige
Aufhebung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie for-
dern.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Tat! Für uns zu Weihnachten! Los geht’s!)


Bei der Vorratsdatenspeicherung handelt es sich um bin-
dendes Europarecht. Eine Richtlinie bedarf der Umset-
zung. Das müssen inhaltlich die Mitgliedstaaten machen.
Die Umsetzung hätte letztendlich bis zum 15. März 2009
erfolgen müssen. Sprich: Wir haben derzeit einen europa-
rechtswidrigen Zustand. Wir verletzen die europäischen
Verträge. Sie fordern, dass wir genau das weitermachen.
Dazu kann ich nur sagen: Auf welchen europarechtlichen
Grundsätzen stehen Sie eigentlich, wenn Sie sehenden
Auges in die Rechtswidrigkeit hereinrennen wollen? Das
ist schon etwas abstrus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Vorratsdatenspeicherung ist aus sicherheitspoliti-
schen Aspekten ein dringend benötigtes Instrument.
Deswegen haben fast alle Länder diese Richtlinie umge-
setzt: 20 Länder haben die Richtlinie umgesetzt, in drei
Ländern befindet sie sich in der Umsetzung, und in zwei
Ländern haben Verfassungsgerichte die Umsetzung auf-
gehoben, nämlich bei uns in Deutschland und in Rumä-
nien. Die ganz überwiegende Mehrheit der Länder hat
die Richtlinie umgesetzt und arbeitet erfolgreich mit der
Richtlinie; das müssen wir auch sagen.

Wir haben ein Problem durch die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010. Es ist ja
nicht so, wie es gerade dargestellt worden ist, dass das
Bundesverfassungsgericht gesagt hätte, die Vorratsda-
tenspeicherung wäre verfassungswidrig. Ich zitiere Ih-
nen auch einmal einen Satz aus dem Urteil:

Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Spei-
cherung von Telekommunikationsverkehrsdaten …
ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar …

Das Verfassungsgericht sagt also ganz deutlich: Das,
was uns die europäische Richtlinie vorgibt, ist mit unse-
rer Verfassung vereinbar, aber nur dann – auch das hat
das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich gesagt –,
wenn Datensicherheit, Datenverwendung, Transparenz
und Rechtsschutz gegeben sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das? Los geht’s!)


Wir müssen jetzt daran arbeiten, dass wir eine Richtli-
nie hinbekommen, die das erfüllt. Die Koalition wird so
etwas vorlegen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn?)


Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Die Vorratsdaten-
speicherung ist nicht verfassungswidrig, sondern sie ist
verfassungsgemäß. – Wir als Gesetzgeber müssen jetzt
handeln. Dazu muss die Bundesregierung einen entspre-
chenden Vorschlag vorlegen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


9012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

Eigentlich, meine Damen und Herren von Bünd-
nis 90/Die Grünen, dürften Sie nicht die vollständige
Aufhebung der Richtlinie fordern. Im Grunde genommen
müssten Sie die zügige Umsetzung fordern, wenn Sie
rechtmäßig handeln würden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rechtmäßig handeln wir ja schon!)


Sie sagen immer: Setzen Sie europäisches Recht endlich
in nationales Recht um, wie es Ihre Aufgabe ist. – Dazu
kann man nur sagen: Man kann Frau Malmström nur da-
für danken, dass die Richtlinie evaluiert wird. Sie wird
aber evaluiert, um zu schauen, wie gut es läuft und wo
Verbesserungen notwendig sind.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie gut läuft es?)


Wir werden nicht vor dem Frühjahr nächsten Jahres mit
Ergebnissen rechnen können. Wenn diese auch noch im-
plementiert werden müssen, dann wird es noch andert-
halb bis zwei Jahre dauern. Das soll aber nicht heißen,
dass wir einen europarechtswidrigen Zustand so lange
aufrechterhalten. Vielmehr haben wir die Pflicht, die
Richtlinie verfassungskonform und europarechtskon-
form umzusetzen. Das müssen wir machen. Auch Frau
Malmström hat das am 3. Dezember ganz deutlich ge-
sagt. Dass evaluiert wird, entbindet nicht von der Ver-
pflichtung, die Richtlinie umzusetzen. Das meinen Sie
aber; allerdings ist das falsch. Wir müssen die Richtlinie
umsetzen. Ich glaube, da stellen Sie Ihre politischen
Wünsche über die Rechtsstaatlichkeit. So geht es leider
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Generalstaatsanwälte haben auf ihrer Arbeitsta-
gung vom 9. bis 11. November Folgendes beschlossen
– ich trage Ihnen das einmal vor; vielleicht trägt das zu
Ihrer Erhellung bei –: Die Generalstaatsanwältinnen und
Generalstaatsanwälte sowie die Generalbundesanwältin
stellen fest, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeiche-
rung dazu geführt hat, dass auch schwere und schwerste
Straftaten nicht mehr aufgeklärt werden können. Sie hal-
ten eine schnelle gesetzliche Regelung nach Maßgabe
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März
2010 für dringend erforderlich. – Auch da sagen unsere
Strafverfolgungsbehörden, dass wir die Vorratsdaten-
speicherung brauchen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn sie dringend erforderlich ist, warum tun Sie das nicht dringend?)


– Wir machen das. Warum stellen Sie solche Anträge?


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir debattieren über Ihren Antrag. Das scheint Ihnen
entgangen zu sein. Sie bringen einen Antrag ein „Vor-
ratsdatenspeicherung entgegenwirken – Richtlinie auf-
heben“ und fragen uns, warum wir jetzt tätig werden.
Das ist wirklich skurril. Dann ziehen Sie doch Ihren An-
trag zurück.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Wo werden Sie denn tätig? – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie nicht die Regierung?)


Hinzu kommt noch die Überlegung, dass Sie meinen,
Quick Freeze wäre die Alternative zur Vorratsdatenspei-
cherung. Auch ich bin inzwischen ein Befürworter von
Quick Freeze geworden, weil Quick Freeze nämlich
ganz eindeutig die Vorratsdatenspeicherung voraussetzt;
denn man kann nichts einfrieren, was man vorher nicht
gespeichert hat.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich dachte, das sei die Position der Bundesjustizministerin! Mit wem reden Sie eigentlich? Da müssen Sie zur FDP gucken und zum Herrn Staatssekretär Stadler, zur Bundesregierung! Sprechen Sie einmal mit der Bundesregierung! Sind Sie eigentlich Koalitionsabgeordneter?)


Gucken wir uns einmal die Fälle an, die aufgetreten
sind: Aus Luxemburg sind uns 1 200 IP-Adressen von
Delikten gemeldet worden. Dann muss geschaut werden,
wem sich diese IP-Adresse zuordnen lässt und wie man
sie matchen kann. Dazu kann man nur sagen: Das sind
keine Alternativen, sondern wir brauchen die Vorratsda-
tenspeicherung. Das ist genauso, als wenn Sie bei einem
Banküberfall zwar ein Autonummernschild registrieren,
dann aber den Halter nicht ermitteln können, weil es
keine Hinterlegung gibt, wem dieses Autokennzeichen
zuzuordnen ist. Wir brauchen also die Vorratsdatenspei-
cherung für die Ermittlung von schweren und schwers-
ten Straftraten. Wir können nicht einfach wegsehen, wie
Sie es machen wollen, und sagen: Das legen wir jetzt ad
acta.

Verweigern Sie sich nicht aus ideologischen Gründen,
die Vorratsdatenspeicherung zu überarbeiten und zuzu-
lassen. Wir werden das machen. Wir werden die Vorrats-
datenspeicherung verfassungskonform ausgestalten. Ihr
Antrag hat weder Hand noch Fuß. Deswegen kann man
ihn nur ablehnen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708120700

Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708120800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das war gerade immerhin ein Standpunkt; das muss man
sagen. Hingegen hat Kollegin Högl nur gesagt, es sei
„sehr richtig und wichtig, dass die Richtlinie evaluiert
wird“ und sie von der Bundesregierung erwarte, „dass
sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluierung
einbringt“.


(Christine Lambrecht [SPD]: Wir sind nicht an der Regierung!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9013

Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

Allerdings müssten die Sozen einmal klären, was ihre
Meinung dazu ist. Dann könnte man darüber diskutieren.
Andere Oppositionsparteien haben sich eine Meinung
gebildet; auch die CDU/CSU und die FDP haben eine
Meinung. Nur die Sozen haben keine Meinung dazu.
Das ist die Situation. Damit ist man raus aus der Debatte.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Schimpfen Sie nicht auf die! Vielleicht brauchen Sie die noch einmal!)


Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
sich nichts geändert – ich darf überraschenderweise sa-
gen, dass die Kollegin Piltz da schlicht recht hat –: Wir
hatten vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung
offensichtlich kein größeres Problem; nach der Ausset-
zung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesver-
fassungsgericht gibt es offensichtlich auch kein größeres
Problem. Es ist nicht so, dass jetzt auf einmal überall die
Kriminalität explodiert. Kollegin Piltz, in diesem Falle
haben Sie sehr recht. Ich hoffe, dass Sie das auch Ihrem
Koalitionspartner verklickern können.

Richtig ist – das ist zu Recht gesagt worden –: Das
Bundesverfassungsgericht hat zu der Regelung, die es
gab, gesagt, dass das gar nicht funktioniert. Es hat auch
gesagt, unter bestimmten, hohen Voraussetzungen sei
eine Vorratsdatenspeicherung möglich. Das ist zunächst
einmal richtig: Das Gericht hat nicht gesagt, dass es auf
keinen Fall möglich ist. Das Gericht hat aber auch nicht
gesagt, dass wir Vorratsdatenspeicherung betreiben sol-
len. In der jetzigen politischen Auseinandersetzung geht
es darum, ob wir sie betreiben wollen oder nicht.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wir müssen!)


Wir haben uns eine klare Meinung dazu gebildet. Im
Übrigen werden wir im Gegensatz zur SPD auf keinen
Fall die Einführung der Vorratsdatenspeicherung kon-
struktiv begleiten. Wir werden extrem konstruktiv dage-
gen arbeiten. Zumindest das können wir zusagen.


(Beifall bei der LINKEN – Christine Lambrecht [SPD]: Das tut uns aber leid! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So kennen wir Sie! Destruktiv auf allen Ebenen!)


All Ihre Vorhaben – Ihre Datensammelwut, der Ab-
bau von Grund- und Freiheitsrechten in den letzten Jah-
ren – haben zwei Gemeinsamkeiten: Zum einen werden
dort leichtfertig lang erkämpfte demokratische Rechte
geopfert; zum Zweiten – das ist hier heute zu Recht aner-
kannt worden – haben Sie weder bei der Onlinedurchsu-
chung noch bei anderen Maßnahmen dem Bundestag
plausibel darlegen können, warum die Maßnahmen
wichtig sind und worin der konkrete Nutzen besteht. Das
haben Sie nicht gemacht; das wäre einmal schön.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708120900

Kollege Korte, gestatten Sie eine Frage des Kollegen

Sensburg?


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121000

Ja. Schöne Bescherung!

Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1708121100

Herr Kollege Korte, ist Ihnen bekannt, dass man euro-

päische Richtlinien innerhalb der Frist, die in der Richt-
linie genannt ist, umzusetzen hat? Macht das ein Mit-
gliedstaat nicht, verstößt er gegen Europarecht, gegen
die europäischen Verträge, die wir alle unterzeichnet ha-
ben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nicht!)


Dann besteht sogar die Möglichkeit, dass es zu einem
Vertragsverletzungsverfahren kommt. Ist Ihnen das be-
kannt? Denn gerade haben Sie gesagt, es bleibe uns
überlassen, ob wir das machen oder nicht.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121200

Wir beschließen das hier im Bundestag. Wer im Glas-

haus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen.
Fakt ist: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass
das, was Sie eingebracht und dem Sie zugestimmt haben,
gar nicht geht und dass alle Daten, die gespeichert wor-
den sind, zu löschen sind. Sie haben dem entsprechenden
Gesetz zugestimmt; die Linke hat dem nicht zugestimmt.
Wir haben uns in diesem Fall offenbar völlig verfas-
sungskonform verhalten; das ist erst einmal festzuhalten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Sie haben noch gar nicht geantwortet!)


Zweitens: Stichwort Europa. Folgendes Verhalten ist
interessant – das waren, um vor Weihnachten etwas Ver-
söhnliches zu sagen, nicht nur Sie –: Bei bestimmten
Maßnahmen im Bereich der inneren Sicherheit – etwa
Biometrie in Ausweisen –, die man hier in der Bundesre-
publik nicht durchbekommen würde, weil es zu viel Wi-
derstand in der Gesellschaft gibt, haben Sie und Ihre
Vorgänger immer wieder versucht, über die Bande, über
Europa zu spielen und dort massiv das einzufordern, was
Sie hier nicht durchsetzen können, um dann zu sagen, es
handele sich um eine EU-Richtlinie, die wir umsetzen
müssten. Das geht natürlich nicht. Man müsste es umge-
kehrt machen: Man müsste die Europäische Union nut-
zen, um die Grundrechte besser zu schützen. So viel
dazu.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121300

Kollege Korte, der Kollege Kauder möchte Sie auch

noch etwas fragen.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121400

Ja, bitte.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege, könnten wir uns darauf einigen, dass
Sie die Frage des Kollegen Sensburg bewusst nicht be-
antwortet haben? Sie haben hypothetisch gesagt, was

9014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)



(A) (C)



(D)(B)

wäre, wenn es diese europäische Richtlinie nicht gäbe.
Es gibt sie aber. Jetzt sind Sie dran.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121500

Herr Kollege Kauder, in der Tat gibt es die europäi-

sche Richtlinie. Aber gab es ein Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts, oder habe ich da irgendetwas überse-
hen? Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: So, wie
die Richtlinie hier umgesetzt werden soll, ist es nicht zu-
lässig; das geht nicht. Das ist doch die Situation. Sehe
ich das falsch, oder wie?


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ja! Sie kennen sich gar nicht aus!)


Ich finde, ich sehe das vollkommen richtig: Wir haben
kein verfassungsfeindliches Gesetz eingebracht, Sie
schon. Das ist die Situation.


(Beifall bei der LINKEN)


In diesem Falle ist es spannend, wie sich die FDP ver-
hält. Ich würde mir natürlich wünschen, dass Sie die
ganze Energie, die Sie aufwenden, um Ihren Parteivor-
sitzenden zu demontieren, in den Widerstand gegen die
Vorratsdatenspeicherung umleiten könnten. Das wäre sehr
gut.


(Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Ich dachte, wir sind im Parlament und nicht auf dem Parteitag, Kollege Korte!)


Eines will ich ganz ernsthaft sagen: In der Tat ist es
besser – Kollege Stadler, damit haben Sie von der FDP
recht, auch wenn Sie das nicht so explizit gesagt haben –,
wenn Sie gar nichts einreichen, als das zu übernehmen,
was die Union möchte. Deswegen hoffe ich, dass Sie in
diesem Punkt weiterhin nichts einreichen werden. Die
Linke steht in dieser Frage an der Seite der FDP. Halten
Sie stand, Kollege Stadler und Kollegin Piltz. Das ist rich-
tig.


(Beifall bei der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Ist das jetzt eine Drohung oder ein Versprechen? – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist jetzt die Höchststrafe!)


– Schließlich wollen wir sachlich Politik machen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Der Antrag der Grünen ist
selbstverständlich sinnvoll. Er ist angebracht und auf der
Höhe der Zeit. Er findet unsere volle Unterstützung. Wir
bleiben ganz klar dabei: Nein zur Vorratsdatenspeiche-
rung


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Und Nein zu Europa!)


und Ja zu einer freien und aufmüpfigen Kommunikation.
Das braucht diese Demokratie.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121600

Das Wort hat der Kollege Konstantin von Notz für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe SPD, es ist wirklich lustig, wenn man der
Regierung vorwirft, vor lauter Zerstrittenheit nicht lie-
fern zu können, wenn man selbst vor lauter Zerstritten-
heit nicht sprechfähig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Das erschüttert uns aber! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Haben Sie nicht zugehört? Da sieht man wieder: Sie können noch nicht einmal zuhören!)


Zu dieser zentralen bürgerrechtlichen Frage haben Sie
sieben Minuten lang nichts gesagt. Das ist bedauerlich.

Liebe Union, lieber Herr Kollege Sensburg, lieber
Herr Kauder, diese Europahörigkeit, zumal die einer li-
beralen Frau Malmström, würde man sich in anderen
Fragen auch wünschen, gerade in diesen Zeiten. Die
Aufmüpfigkeit gegenüber Europa sitzt sozusagen in die-
sem Tortenstück. Hier tun Sie so, als würde quasi alles,
was in Brüssel gemacht wird, vom Himmel fallen und
als müsse man das schnell ausführen, weil man ein bra-
ver Europäer ist. So ist das nun auch nicht. Man kann es
schon kritisch gegen das eigene Grundgesetz halten, und
das wollen wir tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seit dem Karlsruher Urteil vergeht keine Woche, in
der Sie die Vorratsdatenspeicherung nicht als Allheilmit-
tel gegen alle möglichen Gefahren preisen. Das reicht
bis zu Mobbing und Beleidigungen. Dabei drängt sich
die Frage auf: Ist die Vorratsdatenspeicherung wirklich
ein Allheilmittel, ist sie in Sachen Kriminalpolitik wirk-
lich eine eierlegende Wollmilchsau, was Sie hier heute
wieder suggerieren? Das ist sie eben nicht; denn die Vor-
ratsdatenspeicherung kommt – das hat das Gericht glas-
klar gesagt –, wenn überhaupt, nur bei schwersten Straf-
taten in Betracht. Bezüglich der Auswirkungen der
Vorratsdatenspeicherung auf die polizeiliche Kriminali-
tätsstatistik hat Frau Kollegin Piltz schon darauf hinge-
wiesen, dass der zweijährige Test, der in den Jahren
2008 bis 2010 durchgeführt wurde, gezeigt hat, dass da-
durch keine messbaren Änderungen zu verzeichnen sind.

Etwas geht überhaupt nicht. Herr Sensburg, ich bin
Ihnen dankbar, dass Sie auf die Äußerungen von Frau
Malmström eingegangen sind. Man kann nicht wie Frau
Malmström behaupten, dass sich an der Tatsache, dass es
pro Jahr und Land im Durchschnitt 148 000 Zugriffe
gibt – das ist offensichtlich die Zahl –, die Effektivität
der Vorratsdatenspeicherung manifestieren würde. Das
ist total unseriös. Das ist ungefähr so, als würde man sa-
gen, dass sich aus der Tatsache, dass Millionen Men-
schen morgens Horoskope lesen, Rückschlüsse auf den
Wahrheitsgehalt der Horoskope ziehen lassen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9015

Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Was für ein Unsinn!)


Das ist unwissenschaftlich und unseriös. So kann man
mit Fragen, die den Kern unserer Verfassung berühren,
nicht in Brüssel und auch nicht hier im Hohen Haus um-
gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Weil Ihnen hartes Zahlenmaterial fehlt, kommen Sie
oft mit dem Einzelfall. Auch das BKA liefert häufig Ein-
zelfälle. Ich sage Ihnen: Die Einzelfälle sind zweifellos
schlimm – daran gibt es nichts zu rütteln –, aber der Ein-
zelfall – Herr Kauder, das ist mein guter juristischer Ge-
danke, der Sie freuen wird – ist der denkbar schlechteste
Ratgeber für den Gesetzgeber. Ob die Vorratsdatenspei-
cherung in diesen Fällen, die aufgeführt werden, hilft
oder nicht, ist eine rein hypothetische Frage. Belegbar ist
das nicht. Das Einzelfallargument kann nicht als seriöse
Grundlage für einen so tiefen Grundrechtseingriff die-
nen.

Zum letzten, einem wundersamen Punkt, Herr Kol-
lege Sensburg, der mir auch in Ihrer Argumentation auf-
gefallen ist: Bis heute legen Sie keinen Entwurf vor, der
zeigt, wie die Vorratsdatenspeicherung aussehen könnte.
Meine These ist: Sie können es aufgrund der Vorausset-
zungen, die das Bundesverfassungsgericht genannt hat,
nicht so einfach in einem Gesetz umsetzen; das ist näm-
lich nicht so ohne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE] – Zuruf von der CDU/CSU: Warten Sie doch ab!)


Zuletzt. Die aktuelle Debatte über WikiLeaks wirft
ein ganz neues Licht auf die Pläne einer Massenspeiche-
rung. Jede Vorratsdatenspeicherung ist die Schaffung ei-
ner beispiellosen Tatgelegenheitsinfrastruktur. Sie ist
eine Einladung zum Datenmissbrauch und führt das Ge-
bot der Datensparsamkeit durch staatliche Speicherver-
pflichtung ad absurdum.

Ich komme zum Schluss. Ihr Vorhaben ist bürger-
rechtlich gesehen Gift für diese Demokratie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Sie wollen unsere Kommunikationsinfrastruktur zu ei-
nem Strafverfolgungsnetz umbauen. Sie beschädigen da-
mit das Vertrauen der Menschen, in einem freiheitlichen
Rechtsstaat ohne Überwachung kommunizieren zu kön-
nen. Deswegen ist die Vorratsdatenspeicherung der fal-
sche Weg. Ich bitte Sie in dieser weihnachtlichen Zeit:
Kehren Sie um!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121700

Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1708121800

Verehrte Präsidentin! Meine verehrten Kollegen und

Kolleginnen! Liebe Frau Högl, die Regierung ist für viel
verantwortlich, aber dass wir jetzt von der Opposition
aufgefordert werden, die Weihnachtsgeschenke unter Ih-
ren Tannenbaum zu legen, ist ein ganz besonderer
Wunsch. Tatsache ist: Dass Sie diesen Wunsch über-
haupt äußern konnten, ist Abgeordneten wie Gisela Piltz
zu verdanken, die, vertreten von der Justizministerin, ge-
gen die Umsetzung der Richtlinie in Karlsruhe geklagt
haben.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch! Unterschlagen Sie nicht die Grünen! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe auch geklagt!)


Dass wir heute überhaupt darüber nachdenken können,
wie wir unsere Vorstellungen zu diesem Thema auf euro-
päischer Ebene formulieren, ist Abgeordneten wie
Gisela Piltz zu verdanken.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und der Grünen-Fraktion!)


Das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen.


(Beifall bei der FDP)


Es stellt sich die Frage – das ist eben in der Debatte
deutlich geworden –: Wie gehen wir mit der Situation
um? Wir haben eine Richtlinie, die umgesetzt werden
muss, und ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, in
dem das, was hier von der Großen Koalition umgesetzt
worden ist, für verfassungswidrig erklärt wurde. In einer
solchen Situation ist zunächst einmal Sorgfalt angezeigt.
Auf europäischer Ebene wird evaluiert. Wir wissen noch
nicht, wie sich die Evaluation entwickeln wird und wie
sie im März 2011 abgeschlossen wird. Sie war für Sep-
tember angekündigt. Man muss abwarten, was kommt.

Spannend ist auch: Wir haben das erste Mal die Situa-
tion, dass ein Land, nämlich Irland, über sein höchstes
Gericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor-
legt, wie mit der Vorratsdatenspeicherung im Hinblick
auf europäische Grundrechte umzugehen ist. Man muss
sich fragen, ob man nicht erst abwartet, wie sich das
Schicksal der Richtlinie auf europäischer Ebene und vor
dem EuGH entwickelt, oder ob man mit vorauseilendem
Gehorsam unterwegs ist.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erklären Sie das jetzt der CDU? Oder was?)


Man muss sich auch über einen weiteren Punkt klar
werden. Eine Umsetzung der Richtlinie ist gar nicht
mehr möglich, weil das Bundesverfassungsgerichtsurteil
besagt, dass die Richtlinie so, wie sie formuliert ist, in
Deutschland nicht mehr umsetzbar ist; denn das wäre ge-
gen dieses Urteil. Auch das muss man sich klarmachen.

9016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christian Ahrendt


(A) (C)



(D)(B)

Man muss sich in dieser Situation fragen: Wie geht
man mit dem Gesamtthema Vorratsdatenspeicherung
um? Man muss zu einem klaren Ergebnis kommen.
Dazu muss man die Entwicklung der Rechtsprechung
hin zu diesem Urteil betrachten. Zunächst kam es zur
Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung. Während die-
ser Zeit durfte nur im Rahmen des § 100 g der Strafpro-
zessordnung, also bei besonders schweren Straftaten, auf
Vorratsdaten zugegriffen werden. Selbst diese Regelung
hat das Bundesverfassungsgericht nicht aufrechterhal-
ten. Es hat sozusagen seinen eigenen einstweiligen
Rechtsschutz einkassiert und ist in dem Urteil darüber
hinausgegangen.

Das ist ein klares Signal, wohin es gehen muss. Es
kann, weil es darum geht, Straftaten aufzuklären, nur in
eine Richtung gehen: Man puffert kurzfristig Daten,
wenn es dazu einen konkreten Anlass, nämlich einen
Verdacht für eine Straftat, gibt und wenn es einen ent-
sprechenden richterlichen Beschluss gibt, diese Daten
für strafrechtliche Ermittlungen zu nutzen.


(Beifall bei der FDP)


Das ist das, was wir in unserer Rechtsordnung an jeder
Stelle kennen. Das ist auch das, was nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts maximal umgesetzt werden
kann. Diese Diskussion müssen wir führen.

Strafrecht muss sein. Aufklärung muss sein. Aber mas-
senhafte, vorbehaltslose Vorratsdatenspeicherung kann es
nicht mehr geben.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708121900

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708122000

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal ist und bleibt
festzuhalten: Das Bundesverfassungsgericht hat in sei-
nem Urteil vom 2. März dieses Jahres deutlich zum Aus-
druck gebracht, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie
zur Vorratsdatenspeicherung möglich und verfassungs-
gemäß ist.


(Christine Lambrecht [SPD]: Interessant! Das hat Herr Ahrendt aber gerade anders erklärt!)


Sie können sich sicher sein, meine liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition: Es wird uns gelingen, eine
verfassungskonforme und europarechtskonforme Umset-
zung dieser EU-Richtlinie ins Werk zu setzen.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Wir sind gespannt und warten darauf!)

Wir werden den Grundsätzen der Transparenz, der
Rechtsstaatlichkeit, des Datenschutzes und vor allem der
Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen


(Dr. Eva Högl [SPD]: Nicht reden! Handeln!)


und diese Richtlinie umsetzen.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Hört! Hört! Wir warten!)


Lieber Kollege von Notz, ich habe natürlich Verständ-
nis dafür, dass Sie versuchen, sich über das Thema Ver-
bindungsdatenspeicherung zu profilieren; das ist in Ord-
nung. Aber ich bitte Sie, auf Ihre Wortwahl zu achten.
Sie sagten, die Umsetzung der Richtlinie oder die Vor-
ratsdatenspeicherung seien Gift für die Demokratie bzw.
Gift für den Rechtsstaat. Ich bitte Sie, auf solche Formu-
lierungen wirklich zu verzichten und entsprechend abzu-
rüsten. Es geht hier um ein hochseriöses und wichtiges
Thema. Da hat solche Polemik nichts verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Des Weiteren ist festzuhalten, dass wir nicht umhin-
kommen, diese Richtlinie umzusetzen. Mir kommt es ein
bisschen so vor, dass es denjenigen, die jetzt die Hoff-
nung haben, Europa wird die EU-Richtlinie und die Ver-
bindungsdatenspeicherung zu Fall bringen, genauso er-
gehen wird wie denjenigen, die auf Godot gewartet
haben.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist in diesem Fall wohl Ihr Koalitionspartner!)


Sie haben nämlich vergebens gewartet.


(Christine Lambrecht [SPD]: Zuhören, Herr Ahrendt!)


Die EU-Kommissarin Malmström hat vor zwei Wo-
chen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie an dieser
Richtlinie festhalten und es eine Evaluierung geben wird,
dass aber keinesfalls daran gedacht ist, diese EU-Richtli-
nie abzuschaffen – ganz im Gegenteil. Die EU-Kommis-
sarin Malmström ist bekanntermaßen keine konservative
Politikerin, sondern eine liberale Politikerin.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Umso verwunderlicher!)


Wir kommen gar nicht umhin, diese EU-Richtlinie um-
zusetzen, genauso wie es 20 andere EU-Länder bereits
getan haben.

Es ist doch kein Geheimnis: Der blaue Brief aus Brüs-
sel ist in Berlin schon eingegangen. Es droht auch gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren, wie es
gegen Schweden und Österreich bereits läuft. Diese EU-
Richtlinie muss und wird also umgesetzt werden. Davon
bin ich fest überzeugt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überzeugen Sie mal Frau LeutheusserSchnarrenberger davon!)


Eine ganz wichtige Frage lautet: Welche Auswirkun-
gen hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts auf die Arbeit unserer Ermittlungsbehörden? Ich

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9017

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

gebe Ihnen sogar recht, Herr Kollege von Notz, wenn
Sie sagen: Die Verbindungsdatenspeicherung ist kein
Allheilmittel. – Das ist richtig. Aber die Verbindungsda-
tenspeicherung ist aus meiner Sicht eine essenzielle, eine
nicht verzichtbare Methode, die dazu beiträgt, schwerst-
kriminelle Straftäter zur Strecke zu bringen oder terroris-
tische Angriffe in Deutschland zu verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Mittlerweile kön-
nen die Ermittlungsbehörden in Deutschland 78 Prozent
aller Auskunftsersuchen, die sie an Internetprovider
richten, nicht mehr mit einem positiven Ergebnis ab-
schließen. 78 Prozent aller Auskunftsersuchen gehen ins
Leere. Es ist nun einmal so, dass die IP-Adresse insbe-
sondere bei Straftaten im Internet und im Umfeld des In-
ternets der einzige Ermittlungsansatz ist.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Nicht der einzige, aber ein relevanter!)


In diesem Jahr gab es ein größeres Ermittlungsverfah-
ren mit 120 Tatverdächtigen. In diesem Verfahren konn-
ten nicht einmal 2 Prozent der Tatverdächtigen ermittelt
werden, weil die Telekommunikationsunternehmen keine
Daten mehr speichern. Nur die Deutsche Telekom spei-
chert noch Daten, aus abrechnungstechnischen Gründen
für eine Woche. Andere Telekommunikationsunterneh-
men wie Arcor oder HanseNet speichern die Daten über-
haupt nicht mehr. Bei Flatrates, die immer mehr im Kom-
men sind, wird die IP-Adresse nun einmal nicht
gespeichert. Deswegen kommen wir gar nicht umhin,
eine Speicherung der IP-Adressen vorzunehmen. Das ist
für unsere Ermittlungsbehörden ein essenzielles Mittel.

Da Sie, lieber Kollege von Notz, ein bisschen lapidar
von Einzelfällen gesprochen haben,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht lapidar!)


bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch Fälle
gab – das ist nicht gelogen; das hat sich in diesem Jahr
leider Gottes so zugetragen –, in denen Selbstmörder
nicht mehr rechtzeitig ausfindig gemacht werden konn-
ten, sondern erst drei Stunden nachdem sie Selbstmord
begangen haben. Wenn in diesen Fällen die IP-Adresse
feststellbar gewesen wäre, dann wären diese Menschen
möglicherweise – nicht mit Sicherheit, aber möglicher-
weise – noch rechtzeitig gefunden und gerettet worden.


(Christine Lambrecht [SPD]: Und dafür wollen Sie die Vorratsdatenspeicherung?)


Ich bitte Sie deshalb eindringlich, nicht lapidar von Ein-
zelfällen zu sprechen.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nicht lapidar davon gesprochen, Herr Kollege!)


Es geht um zahlreiche Einzelfälle in Deutschland, um
Tausende oder Hunderttausende. Ihnen gilt es Rechnung
zu tragen. Deswegen brauchen wir schnellstmöglich eine
vernünftige Regelung zur Mindestspeicherfrist.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein letzter Punkt noch. Es ist ja immer vom Quick-
freeze-Verfahren die Rede. Abgesehen davon – das ist
mittlerweile hinlänglich bekannt –, dass man nur Sachen
speichern kann, die man auch wirklich hat – man kann
einem Nackten nicht in die Tasche greifen; Dinge, die
nicht gespeichert sind, kann man auch nicht einfrieren –,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sprechen Sie doch zur FDP! Da sitzt Frau Piltz, und da sitzt Herr Staatssekretär Stadler! Dahin müssen Sie sich wenden!)


hat die EU-Kommissarin Malmström deutlich zum Aus-
druck gebracht, dass das Quick-freeze-Verfahren nicht
den Voraussetzungen der EU-Richtlinie entspricht.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was meint die Bundesregierung zu dieser Aussage? Das würde mich interessieren!)


Beim Quick-freeze-Verfahren handelt es sich um eine an-
lassbezogene Speicherung, und es genügt diesen Voraus-
setzungen deshalb nicht.

Zuallerletzt ist deutlich zu machen, dass das Bundes-
verfassungsgericht selbst in seinem Urteil vom 2. März
zum Ausdruck gebracht hat, dass das Quick-freeze-Ver-
fahren keine Umsetzung der EU-Richtlinie wäre. Des-
wegen, glaube ich, sollten wir uns mit dem Thema zwar
beschäftigen, aber wir brauchen eine schnellstmögliche
Umsetzung dieser EU-Richtlinie.

Da selbst Wochenzeitschriften und -zeitungen wie
Die Zeit oder der Stern, die nicht in dem Ruf stehen,
rechtskonservative Publikationen zu sein, sich deutlich
für eine Verbindungsdatenspeicherung aussprechen,


(Zuruf von der SPD: Das ist kein Maßstab!)


bitte ich Sie, einzulenken und sich einer vernünftigen
Lösung nicht zu verschließen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708122100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherung
über den Umweg Europa“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3589,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1168 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-

9018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

derung des Strafgesetzbuchs – Widerstand ge-
gen Vollstreckungsbeamte

– Drucksache 17/4143 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des

(… Strafrechtsänderungsgesetz – … StRÄndG)


– Drucksache 17/2165 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ahrendt für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1708122200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Retten, löschen, helfen und schützen –
das ist das, was Feuerwehrleute, Rettungssanitäter und
Polizisten in Deutschland tagtäglich für unsere Bürgerin-
nen und Bürger leisten. Trotzdem sehen sie sich in zu-
nehmendem Maße Angriffen ausgesetzt. Deswegen ist
es wichtig, dass wir den Schutz unserer Polizisten, unse-
rer Feuerwehrleute und auch den der Rettungssanitäter
verbessern. Dazu legen wir Ihnen einen Gesetzentwurf
vor, der eine Verschärfung der Gesetzeslage bei Wider-
stand gegen Vollstreckungsbeamte vorsieht.

Ich will einmal an einem kleinen Beispiel deutlich
machen, worum es geht: Da werden einige Feuerwehr-
leute Silvester 2008/2009 zu einem Brandeinsatz geru-
fen. Sie fahren hin, finden brennende Container vor und
werden bei ihrem Einsatz mit Raketen beschossen und
mit Böllern beworfen.

Es ist festzustellen, dass Polizeibeamte, wenn sie
ganz normal ihren Dienst verrichten, sich zunehmend
Angriffen ausgesetzt sehen. Die Bundespolizei verzeich-
nete im Jahre 2009 1 555 Straftaten gegen Polizeibeamte
bei ganz profanen Dingen wie Identitätsfeststellung, In-
gewahrsamnahmen und Festnahmen, die zum normalen
Dienst eines Beamten gehören. 462 körperliche Verlet-
zungen mit Krankenhausbehandlungen waren die Folge.

In den Ländern sieht es nicht besser aus. In Nord-
rhein-Westfalen gab es im Jahre 2008 6 400 Wider-
standshandlungen; in Bayern waren es 3 500. Die Zahlen
sind also auch da hoch. Deswegen ist es von großer Be-
deutung, nicht nur den Schutz zu verbessern, sondern
auch den Straftatbestand des § 113 Strafgesetzbuch zu
ändern, und zwar einmal dadurch, dass man die general-
präventive Wirkung verschärft, indem das Strafmaß an-
gehoben wird, zum Zweiten dadurch, dass auch das ge-
fährliche Werkzeug in den Straftatbestand einbezogen
wird, und zu guter Letzt dadurch, dass der Kreis der ge-
schützten Personen auf Rettungskräfte und Feuerwehr-
leute erweitert wird.

Das ist es, was wir mit dem Gesetzentwurf bezwe-
cken. Wie wichtig das ist, wird an Tagen deutlich, an de-
nen wir erleben, dass diejenigen, die uns schützen, zur
Kenntnis nehmen müssen, dass andere, die eigentlich
mit für ihren Schutz verantwortlich sind, gemeinsam mit
denjenigen demonstrieren, die sie angreifen. Wir erleben
das jetzt gerade in Mecklenburg-Vorpommern, wo der
Ministerpräsident mit solchen Leuten unterwegs ist, die
das berühmte Schottern ausüben, während der Innen-
minister im Einsatzstab bei seinen Polizisten ist.

Wir senden hier das klare Signal aus, dass diese geis-
tige Beihilfe zum Widerstand gegen Polizeibeamte nicht
weiter geleistet werden darf. Deswegen ist die Verschär-
fung des § 113 Strafgesetzbuch wichtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Entschuldigen Sie sich auf der Stelle beim Herrn Ministerpräsidenten! Unglaublich! Haben Sie keinen Respekt? – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Unverschämtheit! Das traut sich noch nicht mal die CSU!)


– Auch durch Ihren Zwischenruf helfen Sie hier nicht,
Herr Kollege.


(Burkhard Lischka [SPD]: Das, was Sie hier erzählen, ist unwahr! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer demonstriert, ist also Terrorist für Sie!)


Wir müssen nicht nur die Strafen verschärfen, son-
dern auch die Länder sind ein Stück weit gefordert, weil
immer mehr Polizisten in immer mehr Einsätzen sind
und die Polizeien in den Ländern in den letzten Jahren
personell ausgedünnt worden sind. Wir brauchen auch
ein Stück weit Verbesserungen bei der Ausbildung unse-
rer Polizisten. Das, was wir als Koalition hier auf Bun-
desebene zur Verbesserung des Schutzes tun können, ist
das eine, aber auch die Länder sind gefordert, die Situa-
tion der Polizeibeamten zu verbessern.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Polizisten, Feu-
erwehrleute und Rettungskräfte müssen immer und je-
derzeit bereit sein, ihre Gesundheit und teilweise auch
ihr Leben einzusetzen, um Menschen in Not und in be-
sonderen Situationen zu helfen. Deswegen ist es wichtig,
dass die Koalition handelt. Sie handelt konsequent.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Placebos streut sie ins Land!)


Deswegen verschärfen wir den § 113 Strafgesetzbuch.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708122300

Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9019


(A) (C)



(D)(B)


Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1708122400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Ahrendt, ich fand es schon ein bisschen befremd-
lich, dass sich ausgerechnet ein Vertreter der FDP, der
Liberalen, hier hinstellt und das Demonstrationsrecht,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Mit Füßen tritt! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind die Implosionsgeräusche bei der Koalition!)


also die Möglichkeit, zu demonstrieren und seine Mei-
nung zum Ausdruck zu bringen, die im Grundgesetz ver-
ankert ist, infrage stellt und die Teilnahme an Demon-
strationen – ich will es kaum wiederholen – als geistige
Beihilfe darstellt.


(Gisela Piltz [FDP]: Frau Kollegin, wenn Sie nicht richtig zuhören, dann können wir auch nichts dafür!)


Ich glaube, als überzeugter Liberaler sollten Sie sich für
eine solche Äußerung schämen. Schämen, schämen,
schämen!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gisela Piltz [FDP]: Vielleicht sollten Sie einfach einmal zuhören, bevor Sie sich schämen!)


– Mich wundert es nicht, dass Sie aufgeregt sind. Wenn
eine solche Äußerung aus unseren Reihen käme, dann
würde auch ich mich aufregen – aber ganz gewaltig. Das
kann ich mir bei den Liberalen noch viel besser vorstel-
len.


(Gisela Piltz [FDP]: Nein, ich bin nicht aufgeregt! Ich bin erstaunt darüber, dass Sie nicht zuhören können!)


Jetzt möchte ich aber zum Gesetzentwurf kommen.
Herr Ahrendt, wir alle hier in diesem Hause sind uns ei-
nig, dass Gewalt kein Mittel zur Auseinandersetzung
sein darf.


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Genau das hat er gesagt!)


Ich bin der Meinung: Demonstration ja, aber Gewalt
nein.


(Holger Krestel [FDP]: Da haben Sie den falschen Anfang gewählt! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein, genau den richtigen!)


– Nein, ich glaube, Sie stellen hier etwas in einen völlig
falschen Zusammenhang. Eine Demonstration hat nichts
mit Gewalt zu tun,


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


eine Demonstration ist das durch die Verfassung ge-
währte Recht, seine Meinung kundzutun. Wenn das für
Sie Gewalt ist, dann sollten Sie Ihr Verfassungsverständ-
nis überprüfen, lieber Kollege. Mir geht wirklich die
Hutschnur hoch, wenn so etwas in diesem Haus ausge-
rechnet von den Liberalen zum Besten gegeben wird.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die treten das Demonstrationsrecht mit Füßen! So weit ist es mit der Partei schon gekommen!)


Ich glaube, ich muss für die SPD nicht besonders er-
klären, dass für uns Gewalt gegen Polizeibeamte, gegen
Rettungsdienste, gegen den Katastrophenschutz und ge-
gen die Feuerwehr nicht zu akzeptieren ist. Man muss
sich die Frage stellen, was dagegen zu tun ist. In diesem
Punkt bin ich mit Ihnen der Meinung: Da müssen wir ge-
nau hinschauen. Ich sage Ihnen aber auch, dass wir die
Diskussion über diese Frage kritisch-konstruktiv beglei-
ten werden, wie wir es auch in anderen Bereichen schon
durchexerziert haben. Jetzt will ich Ihnen einige Punkte
dazu sagen.

Es passt nicht, dass Sie hier alle geplanten Maßnah-
men gleichsetzen. In diesem Gesetzentwurf werden drei
verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen. Lassen Sie
uns eine nach der anderen prüfen.

Sie schlagen auf der einen Seite eine Verschärfung
des § 113 StGB vor, indem Sie die Strafandrohung von
zwei Jahren auf drei Jahre hochsetzen wollen. Dazu sage
ich: Das ist nichts anderes als ein Symbolstrafrecht und
sonst nichts.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit helfen Sie keinem einzigen Polizeibeamten;
denn das, was Sie ansprechen, die massive Ausübung
von Gewalt, ist bisher nicht straffrei. Wenn ein Polizist
beispielsweise bei einer Demonstration von jemandem
angegriffen wird und unter Umständen einen Zahn ver-
liert, dann ist es nicht so, dass der Täter nicht belangt
werden kann. Dazu benötigt man aber den § 113 nicht;
dafür sind schon die Gesetze zur gefährlichen Körper-
verletzung einschlägig. Den § 113 benötigt man hierfür
nicht, weil er nichts anderes als ein Auffangtatbestand
für den Fall ist, dass andere Regelungen nicht greifen.
Das ist selten der Fall. Deswegen sage ich: In diesem
Fall haben wir unsere Probleme mit einer Heraufsetzung
des Strafmaßes.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Kein Problem haben wir beispielsweise damit, dass
Sie in die strafverschärfenden Regelbeispiele des § 113
Abs. 2 nicht nur die Waffe, sondern auch die gefährli-
chen Werkzeuge aufnehmen wollen. Darüber können wir
reden; ob wir dem zustimmen, werden die Ausschussbe-
ratungen ergeben. Das ist durchaus ein akzeptabler Vor-
schlag.

Noch etwas halte ich für akzeptabel, weil der zu-
grunde liegende Sachverhalt mich sehr belastet. Das
liegt vielleicht an einer anderen Funktion, die ich aus-
übe; ich bin, wie Sie wahrscheinlich wissen, Vizepräsi-
dentin der THW-Bundeshelfervereinigung. Es nimmt
immer mehr zu, dass gegen Helfer während der Aus-
übung ihrer Aufgaben in irgendeiner Form Gewalt aus-
geübt wird. Das muss man sich einmal vorstellen: Die
Leute engagieren sich, die Leute helfen, die Leute ber-

9020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Christine Lambrecht


(A) (C)



(D)(B)

gen, und dann sind sie Übergriffen ausgesetzt. Deswe-
gen bin ich ebenso wie meine Fraktion vollkommen ein-
verstanden, diese Rettungsdienste mit aufzunehmen.

Die Regelung, die Sie dazu in Ihrem Gesetzentwurf
vorgeschlagen haben, indem Sie die Rettungsdienste und
die Feuerwehren aufgenommen haben, nicht aber bei-
spielsweise den Katastrophenschutz – darauf hat Sie der
Bundesrat zu Recht hingewiesen –, müssen wir wohl
noch einmal genau betrachten. Sie wollen diesen Punkt
zwar weiter prüfen, aber dies wird meines Erachtens in
den Ausschussberatungen genau zu hinterfragen sein;
denn es ergibt keinen Sinn, dass der Katastrophenschutz
in der Regelung nicht enthalten ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich halte den Vorschlag, den Sie auf den Tisch gelegt ha-
ben, in einigen Punkten für durchaus diskutabel.

Bei der Strafverschärfung haben wir, wie gesagt, das
Problem, dass wir sie für eine Symbolik halten. Das wird
auch von den Betroffenen so gesehen. Es ist keineswegs
so, dass Sie ihnen damit helfen. Glauben Sie allen Erns-
tes, ein gewaltbereiter Täter überlegt sich, eine Straftat
zu begehen, weil die Strafe von zwei auf drei Jahre
hochgesetzt wurde? Diese Täter gehören zu einer Klien-
tel, die nicht wohlberechnend und abwägend agiert; viel-
mehr reagieren diese Täter aus dem Bauch heraus, aus
Wut heraus. Deswegen bringt die Verschärfung des
§ 113 gar nichts. Dort, wo es tatsächlich zu gewalttätigen
Übergriffen kommt, haben wir schon längst die Mög-
lichkeit, Strafen wegen Körperverletzung zu verhängen.
Das habe ich schon gesagt, aber vielleicht ist dies noch
einmal eine kleine Nachhilfe. Einige sagen, der Täter
gehe straffrei aus; aber das ist Quatsch.

Wir brauchen diese weiße Salbe nicht, aber wir brau-
chen durchaus die Möglichkeit, die Regelbeispiele und
den Kreis derjenigen zu erweitern, die geschützt werden
sollen. Deswegen werden wir uns in die Ausschussbera-
tungen einbringen. Allerdings werden wir hinsichtlich
des letzten Punktes prüfen, ob wir das eine oder andere
in den Ausschussberatungen noch verbessern können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708122500

Das Wort hat der Kollege Heveling für die Unions-

fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1708122600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bei strafrechtspolitischen Debatten hier im Deutschen
Bundestag steht oft der Opferschutz im Mittelpunkt – zu
Recht. In den vergangenen Jahren ist der Schutz der kör-
perlichen Unversehrtheit und der Integrität mehr und
mehr in den Vordergrund der politischen Überlegungen
gerückt. Bestehende Ungleichgewichte zwischen Straf-
rechtsnormen zum Schutz von Eigentum und Vermögen
und der körperlichen Unversehrtheit wurden bereits an
vielen Stellen beseitigt. Auch das ist gut und richtig.

Opfer haben einen Anspruch darauf, dass der Staat ef-
fektiv gegen die sie verletzenden Täter vorgeht. Es ist
eine seiner Kernaufgaben, die Sicherheit und Freiheit
der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Wenn es zu
Verletzungen dieser Rechtsgüter gekommen ist, ist es
seine Pflicht, diese Taten angemessen zu ahnden; denn
in unserer Gesellschaft kommt alleine dem Staat das
Recht zu, im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger
notfalls Gewalt anzuwenden.

Bei uns gilt nicht das Faustrecht. Wir haben das ar-
chaische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lange über-
wunden. Der Staat hat das Gewaltmonopol. Das ist eine
Errungenschaft des modernen Rechtsstaats.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Diese Errungenschaft müssen wir gegen Erosionen, egal
von welcher Seite, verteidigen.

Gesetze allein setzen das Gewaltmonopol nicht durch.
Auch wir Politiker, die die Gesetze beschließen, setzen
es nicht durch. Der Staat muss sich seiner Organe bedie-
nen. So sind es konkrete Personen, die im Dienste der
Gesellschaft für das Gewaltmonopol stehen: Polizistin-
nen und Polizisten, Rettungs- und Hilfskräfte, Vollzie-
hungsbeamte. Sie alle halten ihren Kopf hin. Dabei wer-
den sie oftmals selbst Opfer von Gewalt.

Wenn es heute um die Anpassung der Vorschriften be-
züglich des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte
geht, dann geht es auch um Fragen des Opferschutzes;
denn es ist auch Aufgabe des Staates, diejenigen zu
schützen, die ihren Dienst für den Staat leisten. Dafür
gibt es neben den allgemeinen Strafvorschriften wie Nö-
tigung oder Beleidigung auch die Sondervorschriften für
Vollstreckungsbeamte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir als christlich-liberale Koalition sehen hierbei die
Notwendigkeit zu Anpassungen; denn leider müssen wir
feststellen, dass der Respekt gegenüber den Staatsorga-
nen und damit der Respekt gegenüber dem Staat insge-
samt an vielen Stellen abnimmt. Das halten wir für eine
bedenkliche Entwicklung.

Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die
Zahl der Fälle von Widerstandshandlungen gegen die
Staatsgewalt von 1993 bis 2009 um 44 Prozent auf
26 344 Fälle angestiegen. 2009 befanden sich darunter
2 194 Fälle politisch motivierter Kriminalität. Das ent-
spricht einer Steigerung um 100 Prozent gegenüber dem
Vorjahr. Das alles sind Entwicklungen, die uns alarmie-
ren müssen.

Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang einige
zentrale Befunde, die das Kriminologische Forschungs-
institut Niedersachsen, für das der Name Professor
Christian Pfeiffer steht, in einem jüngst veröffentlichten
Forschungsbericht im Hinblick auf Gewalt gegen Poli-
zeibeamte festgestellt hat: Erstens. Die Täter handeln

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9021

Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

meist allein, sind in der großen Mehrheit männlich und
durchschnittlich jüngeren Alters.

Zweitens. Zwei von fünf Tätern haben eine nichtdeut-
sche Herkunft. Insbesondere Personen aus den Ländern
der ehemaligen Sowjetunion sowie türkische Täterinnen
bzw. Täter oder Täter aus anderen islamischen Ländern
treten überproportional in Erscheinung.

Drittens. Das zweithäufigste Motiv für Angriffe auf
Polizeibeamte ist Feindschaft gegenüber der Polizei
bzw. dem Staat.

Viertens. Es zeigt sich, dass der Anteil unter Alkohol-
einfluss verübter Angriffe seit 2005 gestiegen ist.

Fünftens. Zwei Drittel der Angriffe werden von Per-
sonen begangen, die bereits polizeilich in Erscheinung
getreten sind.

Sechstens. Personen, die im Rahmen von Demonstra-
tionen Übergriffe ausführen, stellen eine besondere Täter-
gruppe dar. Hier ist der Anteil von Gruppentaten naturge-
mäß am höchsten. Zudem werden bei solchen Übergriffen
am häufigsten Waffen eingesetzt. Feindschaft gegenüber
der Polizei und dem Staat allgemein ist dabei ein zentrales
Übergriffsmotiv. Bei etwa einem Viertel der Übergriffe
lässt sich zudem Tötungsabsicht unterstellen.

Die Ergebnisse dieser Studie müssen uns aufrütteln.
Wir können und dürfen es nicht zulassen, dass das Ge-
waltmonopol des Staates infrage gestellt wird. Wir kön-
nen und dürfen diejenigen, die das Gewaltmonopol des
Staates repräsentieren, nicht einfach ihrem Schicksal
überlassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sollten uns aber auch vor bloßen politischen Re-
flexen in jeglicher Hinsicht hüten. Die Befunde des For-
schungsberichts sind zu ernst, und sie zeigen, dass das
Problem vielschichtig ist und eines Ansetzens an vielen
Stellen bedarf. So erzeuge ich Respekt vor dem Staat
und seinen Organen sicherlich nicht oder nicht vorrangig
allein durch repressive Maßnahmen und die Mittel des
Strafrechts. Strategien hierfür müssen an anderer Stelle
ansetzen. Aber angesichts der Entwicklung dürfen wir
die Instrumente des Strafrechts auch nicht aus dem Blick
lassen. Wenn sich – die Zahlen belegen dies – eine zu-
nehmende Bereitschaft zur Gewalt in der gesamten
Bandbreite, beim – in Anführungsstrichen – einfachen
Streifengang wie bei der Großdemonstration, konstatie-
ren lässt, müssen wir darauf mit dem Strafrecht reagie-
ren.

Im Hinblick darauf sind im Übrigen drei weitere Be-
funde des Forschungsberichts von Bedeutung: zum ei-
nen, dass es in der deutlichen Mehrheit der Fälle gelingt,
die Täter unmittelbar oder später dingfest zu machen.
Konkret ist dies bei über 90 Prozent der Fall. Zum ande-
ren findet gegen rund 90 Prozent der festgenommenen
oder ermittelten Täter schließlich auch ein Strafverfah-
ren statt. Die Chancen zur Verwirklichung des staatli-
chen Strafanspruchs sind damit in den Fällen von Gewalt
gegen Polizeibeamte recht groß. Allerdings wird – dies
ist der dritte Befund – fast ein Drittel der Strafverfahren
eingestellt. Kommt es zur Aburteilung, werden in den
meisten Fällen Geldstrafen verhängt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die christlich-libe-
rale Koalition sieht die Notwendigkeit, die Vorschriften
über den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte anzu-
passen. Die vorgenannten Befunde des Forschungsbe-
richts des Kriminologischen Forschungsinstituts Nieder-
sachsen untermauern dies. Uns geht es dabei um
zweierlei: zum einen um den Schutz des staatlichen Ge-
waltmonopols. Es hat eine wichtige Befriedungsfunktion
für die Gesellschaft. Wir dürfen es nicht aushöhlen und
unterminieren lassen. Zum anderen geht es aber auch um
den Schutz der Polizistinnen und Polizisten sowie ande-
rer Vollstreckungsbeamter.

Angesichts der zunehmenden Gewalt sprechen wir
uns deshalb dafür aus, den Strafrahmen beim Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte von zwei Jahren auf drei
Jahre anzuheben. Dies findet sich so im Gesetzentwurf
wieder, und ich möchte dazu noch eine Beurteilung zitie-
ren, die der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende
Olaf Scholz zur Erhöhung des Strafrahmens am
14. Oktober 2010 dem Hamburger Abendblatt gegeben
hat:

Die Beschlüsse der Bundesregierung sind zu begrü-
ßen. Sie entsprechen dem, was die sozialdemokrati-
schen Innenminister und der Bundesrat schon lange
gefordert haben.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Offensichtlich liegen wir bei der Erhöhung des Strafrah-
mens nicht ganz so falsch.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wird Zeit, dass der nach Hamburg abschwirrt! Es ist ja nicht auszuhalten, was Scholz hier so alles sagt!)


Es ist richtig, den Strafrahmen anzuheben; denn es ist
nicht nachzuvollziehen, dass etwa die Beschädigung ei-
nes Polizeiautos mit bis zu fünf Jahren Haft wesentlich
härter bestraft werden kann als der Übergriff auf einen
Polizisten, der mit zwei Jahren bestraft werden kann.
Auch hier gilt es, Unwuchten beim Rechtsgüterschutz
auszugleichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bislang können im Übrigen Fischwilderer genauso be-
straft werden wie Täter, die Gewalt gegen Vollstre-
ckungsbeamte ausüben. Hier besteht also Handlungsbe-
darf.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein! Sie haben es nicht verstanden!)


Vor allem die besondere gewalttätige Tätergruppe bei
Demonstrationen geht oftmals mit Waffengewalt gegen
die Vollstreckungsbeamten vor. Mit der Anpassung des
§ 113 Abs. 2 StGB wird hierzu eine Differenzierung
durch die Rechtsprechung gesetzlich nachvollzogen.

Bedenkenswert ist – dies sollten wir in der weiteren
Beratung des Gesetzentwurfs sehr genau diskutieren –,

9022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

wie wir mit der zunehmenden Gewalt bei den – in An-
führungsstrichen – einfachen Diensthandlungen umge-
hen. Hier sollten wir uns schon die Frage stellen, ob es
die Möglichkeit gibt, auch sie in den Schutz des § 113
einzubeziehen; denn auch das ist eine der wesentlichen
Erkenntnisse der Studie des Instituts von Professor
Pfeiffer: Gerade hierbei hat die Gewaltanwendung zuge-
nommen.

Außerdem sollten wir überlegen, ob die Opfergruppe
in ausreichendem Maße definiert ist. Ins Auge fallen na-
turgemäß die Fälle von Gewaltanwendung gegenüber
Polizisten. Darüber hinaus repräsentieren aber eben viele
andere Personengruppen von Rettungskräften über die
Feuerwehr bis hin zum THW und dem Katastrophen-
schutz den Staat. Auch hier sollten wir sorgsam überle-
gen und intensiv miteinander diskutieren.

Wir haben also noch einige Punkte zu besprechen.
Wir als christlich-liberale Koalition haben dabei aber
auch ein klares Ziel im Blick: deutlich zu machen, dass
wir am staatlichen Gewaltmonopol nicht rütteln lassen
und dass für uns der Schutz von Polizistinnen und Poli-
zisten sowie anderen Vollstreckungsbeamten wichtig ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708122700

Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708122800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Deutscher Richterbund, Deutscher Anwalt-
verein und auch die Strafverteidigervereinigungen haben
in Stellungnahmen Ihre Änderungswünsche zum Straf-
recht deutlich kritisiert und als sachlich falsch definiert.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Zu Recht!)


Aber lassen Sie uns dieses Thema ganz nüchtern be-
trachten. Ausgangspunkt der Diskussion sind Studien
zum Anstieg von Gewalt gegen Polizeibeamte. Um eines
ganz klar zu sagen: Gewalt gegen Menschen ist grund-
sätzlich abzulehnen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn es zu einem Anstieg kommt, muss versucht wer-
den, gegen diesen Anstieg Maßnahmen zu ergreifen. Das
heißt in diesem Fall: Werden Polizeibeamte immer häu-
figer Opfer von Gewalt, sind wir in der Verpflichtung,
dagegen zu wirken. Insofern besteht keine Zwietracht.

Das Wie ist jedoch die Frage. Damit kommen wir zu
einem grundlegenden Aspekt Ihres Gesetzentwurfs. Sie
schlagen höhere Höchststrafen vor. Was würden wir da-
mit erreichen? Was wäre die Wirkung Ihrer vorgeschla-
genen Änderungen? In der Begründung Ihres Gesetzent-
wurfs findet sich übrigens darüber nicht ein Wort. Mit
Sicherheit wird dieser Vorschlag von den Beschäftigten,
die es zu schützen gilt, als gerecht empfunden. Wer sich
an ihnen vergreift, soll härter bestraft werden. Emotional
habe ich dafür volles Verständnis. Ist es aber vordergrün-
dig unsere Aufgabe, das Gerechtigkeitsempfinden zu be-
dienen, oder sollten wir in erster Linie den Anstieg von
Gewalt gegen Polizeibeamte bekämpfen?


(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Das eine tun und das andere nicht lassen!)


Letzteres wäre doch sicherlich das oberste Ziel.
Schauen wir uns also Ihren Vorschlag aus dieser Rich-
tung an.

Hält ein härteres Strafmaß irgendeinen Täter von An-
griffen ab? Ich erinnere Sie daran, dass solche Handlun-
gen sehr häufig unter Alkoholeinfluss oder hoher Emo-
tionalität stattfinden. Welcher Täter denkt da an das
Strafmaß? Ich kann Ihnen aus eigenem Erleben sagen:
Einen kühlen, abwägenden Eindruck haben solche Täter
auf mich nicht gemacht, und ich habe mehrere solcher
Täter erlebt. Wo setzt Ihr Vorschlag dann an? Gibt es
Übergriffe, die bisher nicht ausreichend unter Strafe ge-
stellt werden können? Es gibt Tatbestände von Beleidi-
gung bis Mord, die, wenn sie dem Sachverhalt entspre-
chen, angewendet werden können. Nennen Sie mir einen
strafwürdigen Sachverhalt, bei dem die Justiz nicht an-
lasswürdig handeln kann! Ich denke, das können Sie
nicht.

Das Thema „Gewalt gegen Polizeibeamte“ schlägt
hier im Haus oft in eine Extremismusdiskussion um; das
haben wir gerade erlebt. Es dürfte aber auch Ihnen nicht
entgangen sein, dass der Großteil der Vorfälle im norma-
len polizeilichen Alltag im Streifeneinzeldienst stattfin-
det. Das ist nun genau der Bereich, den ich selber viele
Jahre erlebt habe. Da hat sich einiges in den vergangen
Jahren geändert. Wussten Sie, dass es einen Unterschied
ausmacht, ob ich eine Streifenwagenbesatzung oder drei
Besatzungen in den Einsatz schicken kann? Können Sie
sich vorstellen, dass die Kombination aus weniger für
den Einsatz zur Verfügung stehenden Beamten und ein
deutlich höher werdender Altersdurchschnitt sich nicht
gerade fördernd auf die Sicherheit von Einsatzbeamten
auswirkt?

Nehmen wir das Phänomen häusliche Gewalt. Hier
gibt es den deutlichsten Anstieg an Übergriffen gegen
Polizeibeamte. Zu Recht wurden die Handlungsmöglich-
keiten gerade bei diesem Phänomen für die Polizei er-
weitert. Aber bei geringeren Einsatzstärken und höhe-
rem Altersdurchschnitt entstehen vermehrt Situationen,
in denen Beamte ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müs-
sen. Hier sind also Handlungskonzepte gefragt. Die
Linke will nicht Rache an den Tätern durch härtere Stra-
fen, sondern weniger Opfer durch Prävention und ausrei-
chend personelle und technische Ausstattung.


(Beifall bei der LINKEN – Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Das Strafrecht kennt keinen Rachegedanken!)


Noch ein Gedanke zum Schluss. Es trifft mich per-
sönlich, wenn Polizeibeamte immer wieder mit der Wut
von Menschen konfrontiert werden, mit einer Wut, die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9023

Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)

eigentlich nicht den Beamten meint, sondern den Staat,
in dessen Auftrag der Beamte handelt, oder – noch ge-
nauer gesagt – die Wut über das, was Regierungen hier-
zulande machen oder manchmal auch nicht machen. Ob
es das Unvermögen ist, die NPD endlich zu verbieten,
oder Ihre Atompolitik – die Polizei muss es draußen aus-
baden. Es ist falsch, die Polizei zu einem Ersatzgegner
zu machen. Aber das fängt eben schon dann an, wenn
eine Regierung an ihrem Volk vorbeiregiert. Ändern Sie
das! Hier können Sie tatsächlich zu einer Entspannung
beitragen, und das ganz ohne Gesetzesverschärfung.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708122900

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Wolfgang Wieland von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708123000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Ahrendt, bisher hielt ich den Vergleich der FDP mit
der implodierenden DDR durch Ihren nordischen Kolle-
gen Wolfgang Kubicki für richtig schräg.


(Marco Buschmann [FDP]: Ist er ja auch!)


Aber nun ist mir aufgefallen, dass die Machthaber in der
DDR auch keine Demonstrationen mochten.


(Marco Buschmann [FDP]: Das ist ein großer Unterschied!)


Auch Sie haben friedliche Demonstranten in die Nähe
von Straftätern gerückt. Darüber sollten Sie einmal
nachdenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir reden hier über Widerstand gegen Vollstreckungsbe-
amte, und Sie stellen den Ministerpräsidenten, mit dem
Sie am liebsten selbst eine Koalition gebildet hätten, in
diese Ecke. Ich schließe mich Frau Lambrecht an: Das
war eine Schande!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will aber nicht nur Schlechtes über die FDP sagen,
sondern ich will jemanden von meiner Kritik ganz deut-
lich ausnehmen, jemanden, den ich niemals auch nur in
die Nähe von Erich Honecker rücken würde, nämlich
den Kollegen Max Stadler. Er hat in dieser Frage wie im-
mer einen liberalen Standpunkt. Hervorragend!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Und er guckt richtig begeistert!)


– Er wird gleich strahlen. – Ich zitiere aus einem Inter-
view mit ihm in der taz vom 29. April dieses Jahres. Die
Frage lautete:
Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach sagte
jüngst: „Wer einen Polizeibeamten verletzt, dem
drohen zwei Jahre. Das ist absolut nicht nachvoll-
ziehbar.“ Kennt er unser Strafrecht nicht?

Antwort von Max Stadler:

Herr Bosbach ist ein exzellenter Jurist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das will ich einmal so im Raum stehen lassen; wir spre-
chen zurzeit über ein wichtigeres Thema. Stadler weiter:

Er hat hier aber nur den Strafrahmen für den „Wi-
derstand gegen Vollstreckungsbeamte“ erwähnt.
Daneben gelten selbstverständlich die deutlich hö-
heren Strafdrohungen für Körperverletzungen.

Frage:

Schärfere Strafen für Gewalt gegen Polizeibeamte
lehnen Sie aber ab?

Antwort:

Wir verurteilen jede Gewalt gegen Polizeibeamte.
Es ist unerträglich, wenn sie bei ihrer schweren Ar-
beit angegriffen werden. Aber die Strafrahmen sind
ausreichend, die Gerichte können sie ausschöp-
fen …

Das Interview schließt mit dem denkwürdigen Satz:

Wir brauchen weder zum Schutz von Polizisten
noch für andere Berufsgruppen ein Sonderstraf-
recht.

Wahr gesprochen; so ist es.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Nur setzen Sie diese Einsicht leider nicht um.

Was Sie uns hier präsentieren, ist ein reines Placebo.
Ich komme aus Berlin und weiß nun wirklich, was Ge-
walt gegen Polizeibeamte bedeutet, gerade im täglichen
Dienst. Dass auch nur eine einzige Straftat in Zukunft
nicht mehr geschieht, weil Sie im Strafrahmen von zwei
auf drei Jahre gehen, glauben Sie doch selber nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es war eine gute Idee, das Forschungsinstitut von
Pfeiffer in Niedersachsen zu beauftragen, eine umfängli-
che Untersuchung über Gewalt gegen Polizeibeamte
durchzuführen. Sie warten dann aber noch nicht einmal
das Endergebnis und die Vorschläge zur Prävention ab,
sondern kommen jetzt mit diesem Vorschlag nach dem
Motto „Immer mehr der gleichen Dosis; das wird dann
auch helfen“. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Wer ein
reales Problem einer Scheinlösung zuführt, der handelt
schlimmer als derjenige, der gar keine Lösung vorlegt.
Das ist die Kritik an Ihrem Entwurf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


9024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)

Natürlich gibt es vielschichtige Gründe für diese Art
des Vorgehens gegen Polizeibeamte. Da müssen wir he-
rangehen.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Wir tun das!)


Die Lösung liegt aber in der Prävention. Es gibt soziale
Gründe, die Lebenschancen müssen verbessert werden,
und es ist Antiaggressionsarbeit zu leisten.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Hat dem irgendwer widersprochen?)


Es bedarf eines breiten gesellschaftlichen Ansatzes. So
müsste das sein. Das, was Sie hier vorlegen, ist wirklich
in keiner Weise geeignet, um zu Verbesserungen zu ge-
langen. Da können und wollen wir auch nicht konstruk-
tiv sein.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Kennen wir schon!)


Das ist der falsche Weg.

Wir brauchen eine Debatte. Wir brauchen Pfeiffers
Ergebnis, um es umfangreich erörtern zu können, und
nicht wieder nur sieben Thesen, die Schünemann ihm
abgenötigt hat – so war es doch –, nach dem Motto: Le-
gen Sie schnell etwas vor! Wir brauchen eine grundsätz-
liche Auseinandersetzung und Abhilfe bei der Justiz. Die
hohe Zahl an Verfahrenseinstellungen ist doch auch im
Personalmangel begründet, darin, dass die Justiz an die-
ser Stelle schlecht arbeitet. Da muss man ansetzen. Es
geht nicht an, die Höchststrafe einfach mal so hoppla-
hopp von zwei auf drei Jahre zu erhöhen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708123100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/4143 und 17/2165 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Für Fairness beim Berufseinstieg – Rechte der
Praktikanten und Praktikantinnen stärken

– Drucksache 17/3482 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Faire Bedingungen in allen Praktika garantie-
ren

– Drucksache 17/4044 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen

– Drucksache 17/4186 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1708123200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss

so anfangen: Ja, wo sind sie denn? Sie werden das ken-
nen. Eigentlich führt das zu einer Geschichte, bei der
man schmunzeln muss. Wenn wir fragen: „Ja, wo sind
sie denn, die Fachkräfte, die wir schon heute so dringend
brauchen und morgen und übermorgen noch mehr?“
– von überall tönt dieser Ruf –, dann ist zu sagen: Sie
verstecken sich gar nicht. Sie sind mitten unter uns, nicht

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9025

Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)

nur im Bundestag oder in den Ministerien, nicht nur in
den Redaktionen und Industriebetrieben, nein, überall in
der Arbeitswelt treffen wir auf junge Menschen, die eine
abgeschlossene Ausbildung, aber keine reguläre Be-
schäftigung haben. Zu viele Fachkräfte von morgen und
übermorgen verkümmern in Deutschland im Wartesaal
Praktikum. Genau um diese jungen Menschen geht es
uns in unserem Antrag.

Um Ihnen zu schildern, wie umfangreich das Problem
ist, sage ich: Jede vierte Hochschulabsolventin, jeder
Dritte mit schulischer Ausbildung und jede Fünfte mit
betrieblicher Ausbildung steigt per Praktikum in den Be-
ruf ein, obwohl die Ausbildung abgeschlossen ist, das
Studium mit Erfolg absolviert wurde und im Rahmen der
Ausbildung selbstredend auch viele Praktika abgeleistet
wurden. Seit mehr als fünf Jahren weiß der Deutsche
Bundestag, wissen wir alle um diese Situation. Zwei
große Petitionen, eine davon von der DGB-Jugend, hät-
ten eigentlich auch dem Letzten von uns damals die Au-
gen öffnen müssen. Doch Sie, Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU und FDP – das muss ich Ihnen wirklich
sagen –, haben die Augen erst einmal ganz fest zugeknif-
fen,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten damals unserem Antrag zustimmen können!)


frei nach dem Motto: Wenn ich nichts sehe, dann ist da
auch kein Problem.


(Gisela Piltz [FDP]: Das machen wir nicht!)


Das ist die Devise, nach der Sie fünf Jahre lang nichts
getan haben. Fünf Jahre Blockade!


(Beifall bei der SPD)


Dabei ist 2008 auch noch wissenschaftlich unterlegt
worden, dass wir ein dickes Problem haben.


(Gisela Piltz [FDP]: Wer hat denn elf Jahre regiert?)


INIFES, das Internationale Institut für Empirische So-
zialökonomie, hat festgestellt: Je jünger die Alters-
gruppe, desto größer der Anteil derjenigen, die nach
Ausbildungsabschluss nur über ein Praktikum einsteigen
konnten. Nur jeder Vierte wurde anschließend in ein Ar-
beitsverhältnis übernommen. Dieser negative Trend ist
bis heute ungebrochen. Das heißt, wir haben eine ein-
deutige Datenlage: Berufseinstieg in Deutschland wird
immer prekärer.

Dann musste ich lesen – Herr Kollege Schummer, ich
sage es jetzt einmal Ihnen –, dass Albert Rupprecht von
einigen wenigen schwarzen Schafen spricht. Dazu kann
ich nur sagen: Es geht nicht um wenige schwarze
Schafe, es geht um einen immer größer werdenden Teil
der Herde. Da sind inzwischen ganz viele schwarz ge-
worden; denn Scheinpraktika sind im Laufe der Jahre sa-
lonfähig geworden,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem in den Ministerien!)

auch in der Politik. Dieser Missbrauch – Sie alle wissen
das – macht nicht einmal vor den Türen unserer Ministe-
rien halt. Das finde ich skandalös.


(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Den gibt es auch in Ihren Büros!)


Wahrscheinlich werden Sie sagen: Da gab es doch
auch einmal etwas in einem Ministerium für Arbeit und
Soziales. Ja, stimmt. Auch da waren wir nicht damit zu-
frieden, wie Praktikantinnen und Praktikanten vergütet
wurden. Aber ich will Ihnen sagen: Daraus haben wir
gelernt. Das ist bei Ihnen bis heute noch nicht passiert.


(Beifall bei der SPD)


Wir reden über Ausbeutung im Zusammenhang mit
jungen Menschen, die eine Ausbildung komplett abge-
schlossen haben und zu Recht einen ordentlichen Be-
rufseinstieg erwarten; aber wir ermöglichen ihn in
Deutschland nicht. Deshalb, finde ich, ist es relativ ver-
logen, wenn wir uns auf der einen Seite alle Möglichkei-
ten vor Augen halten, wie wir den Fachkräftemangel be-
heben, aber den jungen Leuten, die wir gut ausgebildet
haben, auf der anderen Seite keinen seriösen Einstieg in
den Beruf ermöglichen. Ich weiß, dass viele von uns sol-
che Beispiele kennen: in der Familie, bei Kindern, Nich-
ten und Neffen, aus der Nachbarschaft. Das spielt sich
nicht im Geheimen ab.

Wir haben mit unserem Antrag voll qualifizierte Be-
rufseinsteiger im Fokus, die ausgebeutet werden. Es ist
nämlich nichts anderes als Ausbeutung, wenn Berufsein-
steiger monatelang als flexible und billige Arbeitskräfte
missbraucht werden.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Eine Sauerei ist das!)


Dann haben sie vielleicht die Hoffnung, doch irgend-
wann einmal fest eingestellt zu werden. Sie sind Berufs-
einsteiger und Opfer unternehmerischer Interessen – im-
mer wieder. Wir wissen: Es gibt Ausnahmen. Ja, es gibt
lobenswerte Unternehmen; aber sie stehen leider nicht
für das große Ganze.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Sie stehen aber für die Mehrheit!)


Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, die Internet-
seite der DGB-Jugend oder die von fairwork e. V. anzu-
schauen, dann werden Sie feststellen – es wurde eine
große Umfrage durchgeführt –, dass viele junge Leute
gute Erfahrungen im Praktikum gemacht haben und dass
andere hingegen sagen: Nie wieder so; keine Bezahlung,
keine freien Tage und vor allem keine Chance, etwas zu
lernen. – Genau darum soll es in einem guten Praktikum
aber gehen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sagen deshalb: Wir möchten, dass der Begriff
„Praktikum“ im BGB definiert ist. Wir wollen eine Min-
destvergütung festschreiben. Wir wollen, dass jedes
Praktikum mit einem schriftlichen Vertrag begründet
wird. Wir meinen auch, dass die Zeit der Betriebszuge-
hörigkeit im Rahmen eines Praktikums angerechnet wer-

9026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)

den muss, wenn später eine Einstellung erfolgt. Das sind
unsere Mindestforderungen. Außerdem wollen wir die
Rechte von Missbrauchsopfern stärken.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708123300

Frau Kollegin Lösekrug-Möller, erlauben Sie eine

Zwischenfrage des Kollegen Kurth?


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1708123400

Selbstverständlich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708123500

Bitte schön, Herr Kurth.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1708123600

Frau Kollegin, Sie sprachen von Ausbeutung beim

Berufseinstieg, von Opfern unternehmerischer Ausbeu-
tung.


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1708123700

Ja.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1708123800

In Thüringen wurde jüngst bei den Haushaltsberatun-

gen bekannt, dass das von der SPD geleitete Wirtschafts-
ministerium keinerlei Mittel für Praktika eingestellt hat.
Es wurde angefragt, wie viele Mittel das Wirtschafts-
ministerium einzustellen gedenkt. Die Frage wurde von
Herrn Machnig von der SPD wie folgt beantwortet: Er
gedenke nicht, Mittel einzustellen; er bekomme Prakti-
kanten auch so. Ist das unter Ausbeutung zu verstehen?
Sind die dortigen Praktikanten vielleicht Opfer ministe-
rieller Ausbeutung?


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1708123900

Ich freue mich über Ihre Frage, und ich will sie Ihnen

gerne beantworten: Das ist nicht in Ordnung. Das
Schlimme ist: Nichts anderes tun viele CDU- und FDP-
geführte Ministerien. Da können alle noch dazulernen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/ CSU]: Ich dachte, Sie hätten gelernt!)


Vielleicht haben Sie die entsprechende Passage in mei-
ner Rede, Herr Kollege, überhört.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Schicken Sie Ihre Rede an den Kollegen in Thüringen!)


Ich halte viel davon, wenn man klar sagt, wo die Pro-
bleme liegen, und dann anfängt, die Probleme zu lösen.
Das ist das Ziel unseres Antrags. Sie können sicher sein:
Ich werde den Kollegen Machnig anschreiben. Ich bin
mir sicher, dass er seine Haltung revidieren wird.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Da bin ich gespannt!)


Übrigens bin ich dankbar, dass sich der Ältestenrat
des Bundestages aufgrund unseres hartnäckigen Einsat-
zes entschieden hat, in Sachen Praktika besser zu wer-
den. Ohne unseren Druck, Herr Kollege, wäre das heute
noch nicht so weit.


(Beifall bei der SPD)


Ich fahre fort. Es geht auch um diejenigen, deren
Rechte missbraucht wurden. Wir wollen, dass sie besser
geschützt werden. Auch dazu finden Sie Vorschläge in
unserem Antrag.

Ich fasse zusammen, worum es der SPD geht: Sie füh-
ren eine Debatte über den Fachkräftemangel und tun
zugleich nichts, aber auch gar nichts dafür, dass unsere
jungen ausgebildeten Fachkräfte zuversichtlich und or-
dentlich in ihr Berufsleben einsteigen können. Das ist
ein Problem. Wenn wir es jetzt nicht lösen, machen wir
uns doppelt schuldig. Sie alle wissen, dass wir einem
doppelten Abiturjahrgang und damit einer großen
Menge von jungen Leuten entgegensehen, die studieren
wollen.

Ich habe die große Sorge, dass sie, wenn sie ihre Aus-
bildung abgeschlossen haben, nur das Angebot bekom-
men, erst einmal ein Praktikum zu machen. Dann ma-
chen sie vielleicht noch eines und noch eines und noch
eines. Das ist die Erfahrung, die junge Leute machen,
wenn sie in den Beruf einsteigen.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sie kennen die Realität nicht!)


Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand.

Ich freue mich, dass nicht nur von uns, sondern auch
von den Grünen und von den Linken ein Antrag vorliegt.
Diese drei Anträge haben ja eines gemeinsam: Sie
schauen der Realität ins Auge und schlagen konkrete Lö-
sungen vor. Diese hätte ich gerne – das sage ich als ehe-
maliges Mitglied des Petitionsausschusses – vor vielen
Jahren schon gehabt. Da haben sich Zigtausende von
jungen Leuten an den Bundestag gewandt und um Hilfe
gebeten. Diese ist nicht möglich gewesen, weil das Bil-
dungsministerium in der Großen Koalition – Herr
Fuchtel, ich nehme Sie da jetzt aus; Sie vertreten heute
ein anderes Haus – strikt abgelehnt hat, festzustellen,
dass es überhaupt einen Handlungsbedarf gibt.


(Zuruf von der FDP: Müntefering, ja!)


Wir sollten unsere jungen Leute nicht so im Stich las-
sen. Handeln Sie! Das Beste wäre, Sie würden unserem
Antrag zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708124000

Das Wort hat der Kollege Uwe Schummer von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1708124100

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!

Liebe Kollegin Lösekrug-Möller, wenn Sie sagen, dass
es fünf Jahre Stillstand gab, sollten Sie auch bedenken,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9027

Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)

dass der Arbeitsminister in der alten Bundesregierung,
also zu Zeiten der Großen Koalition, eine ganz wichtige
Funktion innehatte.


(Anette Kramme [SPD]: Der ist vom Bildungsministerium gebremst worden!)


Sie müssten also auch sagen: Das von uns geführte Ar-
beitsministerium hat diesen Stillstand mit verursacht.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ihre Fraktion wollte das doch nicht! Bleiben Sie doch bei der Wahrheit!)


Ich denke, miteinander zu regieren und sich dann wie
heute aus dem Staub zu machen, das ist zu billig. Hier
sollten Sie entsprechend Mitverantwortung übernehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


– Die Zwischenrufe zeigen, wie wichtig es ist, dass mor-
gen im Bundesrat das Bildungspaket verabschiedet wird.
Ich wünsche mir allerdings auch ein Bildungspaket für
die SPD-Fraktion.


(Zurufe des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Meine lieben Freunde, ich habe seit 2002 selbst hun-
dert Praktikanten über das Bundestagsbüro erlebt.


(Anette Kramme [SPD]: Alle bezahlt?)


– Alle bezahlt. 400 Euro für eine projektbezogene Auf-
gabe. Sie laufen mit und erleben in der Parlamentswoche
die verschiedensten Gremien. Es gibt ein Zeugnis. Das
ist eine tolle Talentschmiede. Es sind auch wunderbare
Botschafter im Heimatkreis dafür, dass parlamentarische
Demokratie eben nicht nur aus Schimpferei besteht, son-
dern dass man auch versucht, miteinander vernünftige
Lösungen zu finden und Argumente auszutauschen,
ohne sich aus der Verantwortung zu stehlen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Lösung schlagen Sie vor? – Zurufe von der SPD)


So gibt es verschiedenste Praktika, die absolut positiv
und wichtig sind: Praktika zur Berufsorientierung, an de-
nen in diesem Jahr 300 000 Schüler teilgenommen ha-
ben und sich weiterentwickeln konnten; Praktika zum
Einstieg in die Berufswelt, die von der Bundesagentur
für Arbeit finanziert werden; studienbegleitende Prak-
tika als integraler Bestandteil des Studiums oder Aus-
landspraktika. In allen Befragungen, die mir vorliegen,
hat der überwiegende Teil derer, die ein Praktikum ab-
solviert haben, gesagt: Es war sinnvoll; es war hilfreich;
es war gut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt auch eine Studie des Internationalen Zentrums
für Hochschulforschung, bei der 70 000 Absolventen be-
fragt wurden. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass je-
der Hochschulabsolvent im Schnitt nach drei Monaten
eine solide und vernünftige Arbeit gefunden hat. Nach
18 Monaten lag die Quote der Arbeitslosigkeit bei dieser
Gruppe bei 2 Prozent; hier herrschte folglich Vollbe-
schäftigung. Das heißt, das Horrorszenario, das Sie eben
gemalt haben, dass es eine Generation Praktikum gibt,
dass flächendeckend Ausbeutung stattfindet, ist völlig
überzogen, falsch und diskriminierend,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


weil all die Unternehmen, die Praktika anbieten, damit in
die falsche Ecke gestellt werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708124200

Herr Kollege Schummer, erlauben Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Lösekrug-Möller?


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1708124300

Immer, wenn sie kurz ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708124400

Bitte schön.


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1708124500

Die Länge der Frage, Herr Kollege Schummer, be-

stimme immer noch ich.

Ich möchte wissen, ob Sie mit mir übereinstimmen,
dass, wenn es um die Regelung von Praktika geht, wie
wir sie in unserem Antrag vorschlagen, es mitnichten um
Praktika geht, die im Rahmen einer Ausbildung, eines
Studienganges, einer schulischen Ausbildung im Grunde
genommen Regelungen der Bundesländer unterliegen.
Uns geht es vielmehr ausdrücklich um jene jungen Men-
schen – der Fachbegriff lautet: Berufseinsteiger –, die
über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Ist
Ihnen dieser Zusammenhang klar?


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1708124600

Die Frage ist, in welcher Form diese Definition in ei-

nem Gesetz möglich ist und ob Abgrenzungsnotwendig-
keiten vorhanden sind. Das ist ein Thema, über das wir
im Ausschuss und in der weiteren Debatte reden werden.


(Anette Kramme [SPD]: Das Bundesarbeitsgericht kann definieren, aber die Union offensichtlich nicht!)


– Wir als Parlament können selber definieren; denn wir
sind gesetzgebende Instanz. Das gehört zur Gewaltentei-
lung, die wir miteinander respektieren sollten.

Das Entscheidende für gute Praktika ist der Paradig-
menwechsel. Dieser liegt derzeit darin, dass im Jahr
2005 jeden Tag netto 2 000 Arbeitsplätze vernichtet
wurden und dass in diesem Jahr, also 2010, trotz der
Weltwirtschaftskrise jeden Tag netto 1 100 Arbeitsplätze
neu geschaffen werden. Erstmals seit über 30 Jahren re-
den wir über einen Fachkräftemangel. Heute ist es nicht
mehr so – das ist der Paradigmenwechsel –, dass sich
viele Qualifizierte auf wenige Arbeitsplätze bewerben.
Vielmehr müssen viele Unternehmen heute um die fä-
higsten Köpfe kämpfen. Hier hat sich das Gewicht im
Sinne der Beschäftigten massiv verändert.

Ich halte Ihre Anträge für schmalspurig. Wir müssen
in der Tat miteinander überlegen und darüber reden, was

9028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)

wir tun können, um den Fachkräftemangel und auch die
Abwanderung hier im Land zu stoppen. In einem sol-
chen Diskurs sollten wir verschiedene Themen bespre-
chen. Mit Ihrer Konzentration auf Praktika führen Sie
eine Scheindebatte, die bei der Behandlung des Themas
„Gute Arbeit und gute Konditionen für die Arbeit“ über-
haupt nicht weiterführt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie wollen sich wieder wegschummeln!)


Ich kann Ihnen nur empfehlen, dafür einzutreten, dass
das Bildungspaket morgen im Bundesrat verabschiedet
wird. Das Niveau Ihrer Zwischenrufe zeigt, dass auch
Sie dieses Bildungspaket benötigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Von folgenden Fragen waren wir als Exportnation in
den letzten Jahren der Krise in besonderer Weise betrof-
fen: Wie ist die Lohnentwicklung, die sich auch dadurch
verbessert, dass wir entsprechende Arbeitsmarktdaten
– es gibt unter 3 Millionen Arbeitslose in unserem
Land – haben? Warum ist die Bürokratie bei Existenz-
gründungen so überbordend? Wie sind die Sicherheit
und die Standards für Arbeitsplätze? Wie sind die beruf-
lichen Perspektiven? Gibt es ausreichend Akzeptanz für
Technik? Auch das führt dazu, dass Menschen in andere
Länder abwandern. Das wäre ein Breitbandthema, über
das wir im Ausschuss und darüber hinaus reden sollten.
Notwendig ist ein Bündel an Maßnahmen. Die entspre-
chenden Konsequenzen sind zu ziehen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Reden Sie doch einmal zur Sache!)


Wenn wir jetzt einmal konkret über Missbrauch reden
– jeder hat dafür sein Beispiel –, dann denke ich an die
SPD in Hamburg; denn sie bietet derzeit ein Wahlkampf-
praktikum an. Lernziel: Plakate kleben, Stände aufbauen
und Zettel verteilen. Lernzeit: 37,5 Stunden in der Wo-
che. Die SPD zahlt hierfür 300 Euro monatlich, also
2 Euro die Stunde. Erwartet werden aber: fortgeschritte-
nes Studium, Führerschein, EDV-Kenntnisse und ein
Höchstmaß an Flexibilität. Das ist das sozialdemokrati-
sche Problem: Sie sind Weltmeister in der Theorie und
Anfänger in der Praxis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708124700

Herr Kollege Schummer!


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1708124800

Aus der Opposition heraus können Sie immer nur

tolle Anträge stellen. Ich finde, für dieses Jahr reicht es.
Alles andere sollten wir im nächsten Jahr weiterdiskutie-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708124900

Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers von der

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)



Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708125000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es bleibt dabei: Jeder Dritte nach einer schuli-
schen Ausbildung, jeder Vierte nach einem Hochschul-
studium und jeder Fünfte nach einer betrieblichen Aus-
bildung steigt über ein Praktikum in den Beruf ein. Diese
Praktikantinnen und Praktikanten werden oft gar nicht
oder schlecht bezahlt. Nur jeder Fünfte wird nach dem
Praktikum eingestellt. Das ist in Deutschland für viele
der einzige Weg, sich eine berufliche Perspektive aufzu-
bauen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Bundesregierung tut so, als ob das alles ganz nor-
mal sei. Dabei weist eine Studie des Bundesministe-
riums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2008 darauf
hin, dass viele Betriebe Praktikantinnen und Praktikan-
ten als reguläre Arbeitskräfte ausnutzen. Das darf so
nicht bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)


Für Schwarz-Gelb sind solche Praktika noch immer kein
typischer Weg für den Berufseinstieg. Die Bundesregie-
rung behauptet auch noch, „dass sich der Arbeits- und
der Ausbildungsmarkt seit 2008“ – als die Studie veröf-
fentlicht wurde – „bereits sehr positiv zugunsten der Be-
rufsanfänger entwickelt“ habe.


(Dr. Philipp Murmann [CDU/CSU]: Das ist auch so!)


Sehen Sie den Tatsachen endlich einmal ins Auge: Für
die Absolventinnen und Absolventen im Praktikum hat
sich in Deutschland nichts verändert.

Die Generation Praktikum ist aktueller denn je. Seit
den Massenpetitionen im Jahre 2006 liegen die Pro-
bleme glasklar auf dem Tisch. Unsere Fraktion, Die
Linke, wollte schon im Jahre 2007 das Berufsbildungs-
gesetz so ändern, dass vertragliche Mindestschutzbe-
stimmungen für alle Praktikantinnen und Praktikanten
gelten.


(Beifall bei der LINKEN)


Seit Jahren fordern Betroffene und Gewerkschaften,
endlich etwas zu verändern.

Meine Damen und Herren von der Koalition, all das
ignorieren Sie einfach; Sie verbauen Zukunftschancen,
statt sie zu schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Einzige, was Ihnen immer wieder einfällt, ist, die
Wirtschaft um Selbstverpflichtung zu bitten. Doch die
Unternehmen husten Ihnen da etwas: Nur 1 500 von ins-
gesamt 3,5 Millionen Betrieben haben sich an die Min-
deststandards für Praktika gehalten. Gratuliere, meine
Damen und Herren von der Regierung! Sie sagen:
0,5 Prozent sind schon viel mehr als nichts. Ich sage Ih-
nen heute: Der Weg der Selbstverpflichtung ist einfach
gescheitert.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9029

Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Die Folgen für den Staat und für die Betroffenen sind
immens: Durch Ihre Praxis wird ein solider Berufsein-
stieg bei vielen Absolventen immer weiter hinausgezö-
gert. Dadurch verschiebt sich auch die Familienplanung
immer weiter nach hinten. In Deutschland wandern gut
ausgebildete Fachkräfte aus. Dem Staat entgehen so So-
zialversicherungsbeiträge und Steuereinnahmen. Wann
beenden Sie endlich diesen Spuk?

Ich muss die Bildungsministerin auffordern: Bezahlen
Sie die Praktikantinnen und Praktikanten in Ihrem
Ministerium! Wo leben wir eigentlich, wenn die deut-
sche Bildungsministerin die Praktikantinnen und Prakti-
kanten in ihrem eigenen Hause ausnutzen lässt?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Da begeben Sie sich auf dünnes Eis!)


Wir Linke bleiben dabei: Wir wollen das Berufsbil-
dungsgesetz so gestalten, dass es auch für Praktika nach
der Ausbildung und nach dem Studium gilt. Wir setzen
uns weiterhin dafür ein, dass Praktika nicht länger als
drei Monate dauern, dass Praktikantinnen und Praktikan-
ten die vollen Mitbestimmungsrechte erhalten und dass
Praktika nach der Ausbildung und nach dem Studium
gut bezahlt werden.

Meine Damen und Herren von der Regierung, Größe
zeigt der, der Fehler zugibt und bereit ist, neue Wege zu
gehen. Wir laden Sie deshalb heute ein, unseren Antrag
zu unterstützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708125100

Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Neumann von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1708125200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir beschäftigen uns heute einmal mehr mit
Anträgen der Opposition, die zum Ziel haben, ein Pro-
blem zu lösen, das so, wie es in den Anträgen steht, nicht
zu lösen ist.


(Anette Kramme [SPD]: Da träumen Sie aber!)


Bereits die HIS-Studie aus dem Jahr 2007 mit dem Titel
„Generation Praktikum – Mythos oder Massenphäno-
men?“ hat mit Blick auf den Vorwurf, dass Praktikanten
als billige Hilfskräfte eingesetzt werden, empirisch
nachgewiesen,

… dass … der Begriff „Generation Praktikum“ mit
Blick auf den beruflichen Verbleib von Hochschul-
absolventen nicht gerechtfertigt ist.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie glauben also nicht, dass es das gibt?)


Die Mehrheit der Praktikanten war mit dem Praktikum
auch inhaltlich zufrieden, sowohl hinsichtlich des Ni-
veaus als auch des Lerngehalts. Gleichwohl – das ist der
Unterschied – gab es spürbare Unterschiede bei der Be-
zahlung der Praktika. Ein Fazit der HIS-Studie war, dass
„der berufliche Einstieg über Praktika mitnichten der
Regelfall“ ist.

Wir müssen den folgenden Punkt ansprechen: Die im
Zuge der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudien-
gänge erfolgte verstärkte Einbettung von Praktika in den
Studienordnungen war eine notwendige Maßnahme.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708125300

Herr Kollege Neumann, darf ich Sie kurz unterbre-

chen? Die Kollegin Mast von der SPD-Fraktion würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1708125400

Ja.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708125500

Bitte schön, Frau Mast.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1708125600

Herr Kollege Dr. Neumann, angenommen, Sie hätten

recht und das Problem würde nicht existieren,


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das hat er nicht gesagt!)


dann dürfte es für Sie doch kein Problem sein, unseren
Anträgen zuzustimmen, weil sie dann ja auch nicht scha-
den würden. Stimmen Sie mit mir überein?


(Lachen bei der FDP)


Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung. Wenn es aber so ist,
wie Sie sagen, wäre es doch kein Problem, die Debatte
jetzt zu schließen. Dann könnten Sie unserem Antrag zu-
stimmen, und die Welt wäre für die Jugendlichen in Ord-
nung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Gisela Piltz [FDP]: Das ist eine interessante Verdrehung!)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1708125700

Liebe Kollegin, ich habe ganz klar gesagt, dass die

Anträge der Oppositionsfraktionen mitnichten das Pro-
blem lösen.


(Anette Kramme [SPD]: Ah! – Anton Schaaf [SPD]: Sie haben gesagt, es gibt kein Problem!)


– Hören Sie mir weiter zu. Ich werde Ihnen das erklären.
Sie lösen das Problem nicht.


(Anette Kramme [SPD]: Erkenntnisgewinn während der Rede! – Gisela Piltz [FDP]: Ich weiß gar nicht, warum diese SPD nicht zuhören kann!)


9030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich ganz kurz etwas zu den Anträgen der
Oppositionsfraktionen sagen:

Erstens. Der allgemeinen Aussage, dass Absolventen-
praktika nach einer Ausbildung oder einem Studium
grundsätzlich fragwürdig sind – das merken Sie ja an –,
muss entschieden widersprochen werden. Das zeigen
auch die Ergebnisse der Studie. Eine Vielzahl von Stu-
diengängen, gerade an Universitäten – das muss man
sich einmal genau anschauen –, zielt nicht auf ein klar
umrissenes Berufsfeld. Selbst nach Abschluss eines Stu-
diums kann daher ein Praktikum zur Orientierung oder
zum Ausfüllen von Übergangszeiten sinnvoll sein. Ich
denke, dass es viele Praxisbeispiele gibt, die belegen,
dass es für den Lebenslauf, für die Vita eines Absolven-
ten und damit für seinen weiteren Berufsweg wichtig ist,
vor dem tatsächlichen Berufseinstieg unterschiedliche
Erfahrungen gemacht zu haben.


(Anette Kramme [SPD]: Aber bitte bezahlt!)


Zweitens. Der angebliche Regelungsbedarf hinsicht-
lich Dauer und Vergütung – darum geht es in Ihren An-
trägen – wird nicht gesehen. Das zeigen auch die Ergeb-
nisse der HIS-Studie.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Quatsch!)


Herr Gehring, die meisten Praktika dauern nur kurze
Zeit. 50 Prozent dauern maximal drei Monate.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie die Studie einmal komplett!)


Ihr Vorschlag, eine Mindestvergütung von monatlich
350 Euro brutto einzuführen – damit komme ich auf das
Kernproblem zurück –, kann doch wohl nicht ernst ge-
meint sein. Wollen Sie tatsächlich einen weiteren Nie-
driglohnsektor schaffen? Das wäre ein Missbrauch von
Praktika. An dieser Stelle muss nicht mit gesetzlichen
Regelungen entgegengewirkt werden. Das zeigt die
HIS-Studie. Seltene Ausnahmen, die Sie hier beschrie-
ben haben, sind nicht der Regelfall.

Ich komme jetzt ganz kurz auf die Aussage der Bun-
desregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Drucksache 17/3047 –
hinsichtlich des Bedarfs an gesetzlichen Regelungen zu
sprechen. Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.
Herr Präsident, ich zitiere ganz kurz aus dieser Antwort:

Entscheidend ist aber, dass sich der Arbeits- und
der Ausbildungsmarkt seit 2008 bereits sehr positiv
zugunsten der Berufsanfänger entwickelt hat und
auch die Prognose auf eine weiter steigende Nach-
frage nach qualifizierten jungen Fachkräften schlie-
ßen lässt.

Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Ich will noch einen dritten Punkt vortragen. Bereits
heute sind junge Menschen, die sich in einer Berufsaus-
bildung befinden oder ein Praktikum absolvieren, hin-
sichtlich ihrer Vergütungsansprüche, hinsichtlich der Ar-
beitszeit sowie hinsichtlich Fragen der Sicherheit und
Gesundheit am Arbeitsplatz durch rechtliche Regelun-
gen geschützt. Sie unterliegen den Bestimmungen des
Berufsbildungsgesetzes – das haben Sie gesagt – und des
Arbeitsschutzgesetzes, und sie genießen auch den vollen
Sozialversicherungsschutz.

Interessant ist – das ist der vierte Punkt –, dass sich
bis heute mehr als 1 500 Unternehmen freiwillig der Ini-
tiative „Fair Company“ angeschlossen haben.


(Anette Kramme [SPD]: Wie viele Unternehmen gibt es in Deutschland?)


Darunter sind 23 von 30 DAX-Unternehmen – das sind
fast 80 Prozent –, die ihre Praktikanten grundsätzlich be-
zahlen. Selbst wenn Sie das hier bestreiten, sage ich: Die
FDP setzt daher auf die Selbstverpflichtung der Wirt-
schaft.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oh!)


– Hören Sie bitte genau zu. – Die genannten Zahlen ge-
ben uns wieder einmal recht.

Wir haben gute Möglichkeiten, Absolventen frühzei-
tig an das Unternehmen zu binden. Denken Sie bitte da-
ran, dass derjenige Arbeitgeber schlecht beraten ist, der
in diesen Zeiten gute Absolventen, die er als Praktikan-
ten in seinem Unternehmen beschäftigt, gehen lässt, ins-
besondere mit Blick auf die Zukunft.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708125800

Herr Kollege Neumann, es besteht der Wunsch nach

einer Zwischenfrage der Kollegin Alpers.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1708125900

Bitte schön.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708126000

Herr Kollege Neumann, Sie haben gerade hervorge-

hoben – das hatte ich vorhin schon einmal gesagt –, dass
sich 1 500 Betriebe an der Selbstverpflichtung bezüglich
Mindeststandards beteiligt haben. Herr Neumann, wir
haben in Deutschland insgesamt 3,5 Millionen Betriebe.
1 500 Betriebe entsprechen ungefähr 0,05 Prozent aller
Betriebe. In all den letzten Jahren haben sich also nur
0,05 Prozent an der Selbstverpflichtung beteiligt. Ich
frage Sie angesichts dieser Erfahrung, dass sich über
viele Jahre eine so geringe Selbstverpflichtungsquote er-
gibt: Ist das eine Grundlage, auf der wir aufbauen kön-
nen?

Herr Neumann, Sie sagen, dass diese Orientierung für
den Berufseinstieg positiv ist. Ich frage mich: Wenn wir
in allen Bereichen einen so großen Fachkräftemangel ha-
ben, warum müssen sich dann gut ausgebildete Fach-
kräfte und gut ausgebildete Akademiker orientieren? Die
Akademiker sagen nach dem zweiten oder dritten Prakti-
kum, dass sie das vierte, fünfte oder sechste Praktikum
nicht mehr im Lebenslauf angeben, weil es einen schlech-
ten Eindruck macht. Bitte erklären Sie uns das einmal.


(Gisela Piltz [FDP]: Haben Sie noch etwas anderes drauf als Zahlen?)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9031


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1708126100

Das war mehr als eine Frage. Ich möchte ganz kurz

darauf antworten. Das, was ich gesagt habe, bezog sich
auf die Unternehmen, die sich dieser Selbstverpflichtung
angeschlossen haben. Gehen Sie bitte nicht davon aus,
dass eine Regelung für den Umgang mit Praktikanten
unbedingt notwendig ist. Warum soll es nicht möglich
sein – ich habe ja gerade über die Selbstverpflichtung
gesprochen –, dass es auch ohne Regelung faire Bedin-
gungen gibt? Schützen wir doch die Praktikanten vor
übermäßigen Regelungen,


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


lassen wir ihnen doch die Perspektive, sich vielschichtig
zu orientieren, um in der beruflichen Weiterbildung Er-
fahrungen für den zukünftigen Beruf zu sammeln.


(Anette Kramme [SPD]: Sie sind lustig! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ein schlechter Witz!)


Ich komme zum fünften und letzten Punkt. Da hören
Sie bitte ganz genau zu. Wenn wir eine weitere Regelung
zum Zugang und zur Ausgestaltung von Praktika zulas-
sen würden – das machen wir ja nicht –, dann würden
das Angebot, die Flexibilität und auch die Inanspruch-
nahme von Praktikumsplätzen gefährdet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denken Sie bitte an gemeinnützige Organisationen, an
soziale Organisationen und dergleichen. Bei diesen Or-
ganisationen ist es oftmals schwierig, Praktika genau zu
regeln.

Wir brauchen eine Perspektive für die jungen Men-
schen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Auch das, was auf
EU-Ebene beraten wurde, sehen wir sehr kritisch, weil
wir damit rechnen, dass es in den meisten Fällen Nach-
teile für die Praktikumssuchenden mit sich bringt. Las-
sen wir den Unternehmen bei der Schaffung von Rege-
lungen Freiheit und Möglichkeiten und den Praktikanten
und Berufseinsteigern die Chancen, weiter Erfahrungen
zu sammeln, um einen erfolgreichen Weg in den Beruf
zu finden.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708126200

Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von

Bündnis 90/Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708126300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Debatte und die Anträge von SPD, Linksfraktion
und von uns Grünen sind offensichtlich bitter notwen-
dig. Sie sind leider notwendig, weil der Bundesregierung
offensichtlich das Problembewusstsein und der Reali-
tätssinn für die Situation der jungen Generation in die-
sem Land völlig fehlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wie bei vielen anderen Dingen auch!)


Dass die FDP hier heute durch Herrn Neumann erst-
mals einräumt, dass es ein Problem bei Praktika gibt, ist
zwar durchaus bemerkenswert und interessant, aber ich
hätte mir gewünscht, dass Sie einen praktikablen Lö-
sungsvorschlag machen. Selbstverpflichtungen – das ist
sehr deutlich geworden – sind keine Lösung; sie funktio-
nieren nicht. Mit Ihrer Position schützen Sie nicht die
Praktikanten, sondern Unternehmen, die Praktikanten
nicht schützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Der Berufseinstieg der jungen Generation hat sich in
den letzten Jahren auch infolge der Wirtschaftskrise er-
schwert. Das ist ganz offensichtlich. Mittlerweile ist es
alltägliche Erfahrung, dass selbst sehr gut ausgebildete
junge Menschen mit Praktika, mit Honorar- und Mini-
jobs sowie mit befristeten Arbeitsverträgen konfrontiert
sind.

Damit können wir uns nicht einfach abfinden, son-
dern wir müssen die Chancen aller jungen Menschen
ganz klar verbessern. Uns sind faire Praktika während
der Ausbildung und während des Studiums und danach
ein guter Berufseinstieg statt Warteschleifen wichtig.
Das muss das gemeinsame Ziel aller Fraktionen in die-
sem Haus sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Natürlich sind Praktika in der Regel eine wertvolle
Lernphase; das bestreitet niemand, auch niemand aus der
Opposition. Sie können zur Berufsorientierung dienen;
das ist doch ganz klar. Aber wir können nicht einfach
vom Tisch wischen, dass es Probleme in Form des Miss-
brauchs von Praktika gibt. Den Problemen, die es hier
gibt, muss sich auch die konservative, neoliberale Seite
dieses Hauses stellen, statt sie weiterhin zu leugnen und
schönzureden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass Unternehmen
unter dem Deckmantel von Praktika billige Arbeitskräfte
einstellen, reguläre Jobs ersetzen oder sogar Lohndum-
ping betreiben. Praktika sind Lernverhältnisse, und sie
müssen endlich auch als solche definiert werden. Sie
dürfen weder als Arbeitsverhältnisse noch als Ausbeu-
tungsverhältnisse missbraucht werden. Auch das müsste
in diesem Hause eigentlich Konsens sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist seit Jahren überfällig, dass die Bundesregierung
klare rechtliche Regelungen zum Schutz von Praktikan-
tinnen und Praktikanten trifft. Bestehende Schutzlücken

9032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

müssen endlich geschlossen werden, um für alle Prak-
tika faire Bedingungen zu garantieren.

Ich möchte Ihnen die Daten einer Untersuchung des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, also einer
Studie Ihres eigenen Hauses, ans Herz legen. Die zentra-
len Ergebnisse sind, dass die Praktikumsphase für jede
zweite Person länger als sechs Monate dauert und das
Praktikum für die Hälfte der Praktikanten unbezahlt ist.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Genau!)


Bei den Absolventen solcher Praktika geht es nicht um
eine Minigruppe. Denn 20 Prozent der jungen Erwachse-
nen machen nach dem Abschluss der Berufsausbildung
oder des Studiums ein Praktikum oder mehrere Praktika;


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: 1,9 Millionen junger Menschen!)


das sind 1,9 Millionen junger Menschen in diesem Land;
dieser Problematik müssen Sie sich endlich stellen. Nur
bei wenigen von ihnen, nämlich bei genau 11 Prozent,
mündet das Praktikum in ein sicheres Jobverhältnis. So-
mit ist offenkundig, dass Praktika auch missbraucht wer-
den. Wer das ignoriert, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Schwarz-Gelb, der versündigt sich an den Berufs-
einstiegschancen der jungen Generation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir Grüne weisen seit Jahren auf die zunehmende
Ausnutzung von Praktikanten als unter- und unbezahlte
Arbeitskräfte hin. Wir haben 2006, übrigens als erste
Fraktion im Deutschen Bundestag, einen Antrag einge-
bracht, der Vorschläge zur Beseitigung unfairer Prakti-
kumsbedingungen beinhaltete. Wir waren auch diejeni-
gen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich
der Bundestag fraktionsübergreifend eine Selbstver-
pflichtung im Hinblick auf den fairen Umgang mit Prak-
tikantinnen und Praktikanten im Parlament auferlegt hat.
Nicht zuletzt deshalb sind wir vom Wegsehen und
Nichtstun der jetzigen und im Übrigen auch der vorheri-
gen Bundesregierung so genervt.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das waren wir auch!)


– Ja.

Wenn jetzt – unsere Kleine Anfrage ist schon erwähnt
worden – selbst in den Bundesministerien pro Jahr Hun-
derte von Hochschulabsolventen im Rahmen mehrmona-
tiger, unbezahlter Praktika beschäftigt sind, dann ist das
Ausnutzung und keine Bagatelle. Vor diesem Hinter-
grund geht es nicht an, dass Frau von der Leyen – vorher
war es Herr Scholz – die Schirmherrschaft für die Initia-
tive „Fair Company“ übernommen hat. Hier muss man
endlich geeignete Regelungen treffen. Gerade der Ar-
beitsminister bzw. die Arbeitsministerin muss ein Vor-
bild sein und darf kein schlechtes Beispiel geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708126400

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708126500

Wir Grüne fordern, gesetzlich ganz klar zu regeln,

dass Praktika Lernverhältnisse sind, dass jeder Prakti-
kant einen Vertrag und ein Zeugnis bekommt und dass
die Dauer von Praktika auf maximal drei bis sechs Mo-
nate begrenzt wird, damit gar nicht erst das Risiko be-
steht, dass reguläre Jobs ersetzt werden oder der Grund-
satz der Arbeitsmarktneutralität verletzt wird.

Der letzte Punkt: Natürlich müssen Studierende und
Azubis, die ein Praktikum machen, eine Aufwandsent-
schädigung von mindestens 300 Euro pro Monat erhal-
ten. Wenn Sie diese und weitere Regelungsvorschläge
aus den Anträgen der Oppositionsfraktionen aufgreifen
und sie sich zu eigen machen würden, dann würden
Praktika gestärkt und Ausnutzung und Prekarität ge-
stoppt. Das müssen Sie jetzt endlich tun. Ich hätte mir
bei Ihnen einen etwas größeren vorweihnachtlichen
Ruck gewünscht, damit Sie jetzt endlich handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708126600

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708126700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Jetzt kommt der vorweihnachtliche Ruck.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Aha! Aber Herr Murmann!)


Dieses Haus befasst sich ja nun schon zum wiederhol-
ten Male mit dem Thema Praktika. Die Oppositionspar-
teien haben uns eine bunte Mischung von Anträgen vor-
gelegt. Sie konnten sich offensichtlich auch nicht
darüber einigen; denn die Anträge sind sehr unterschied-
lich. Die SPD nennt das „Für Fairness beim Berufsein-
stieg“. Die Grünen fordern: „Faire Bedingungen in allen
Praktika garantieren“. Garantien sind natürlich immer
gut. „Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen“, so
nennen das die Linken. Auf den ersten Blick mag das
eine oder andere ja auch ganz gut aussehen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch gut!)


Aber aus meiner Sicht gehen diese Anträge an der aktu-
ellen Lage vorbei. Warum das so ist, möchte ich Ihnen
begründen.

Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf die Pra-
xis und nicht nur auf die vielen Papiere, die Sie hier im-
mer wieder zitieren. Wie sieht denn so etwas in der Pra-
xis aus? Bei einem Handwerksbetrieb oder auch bei
einem Mittelständler geht eine Bewerbung ein. Mal ge-
schieht das schriftlich, mal mündlich, mal über einen be-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9033

Dr. Philipp Murmann


(A) (C)



(D)(B)

kannten Mitarbeiter. In den meisten Fällen möchten die
Mädchen und Jungen oder Jugendlichen einfach einmal
hineinschnuppern. Manchmal kommen sie von einer
Schule, häufig von einer Partnerschule.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist richtig und kein Problem! Es sagt doch niemand, dass das ein Problem ist!)


– Das ist auch kein Problem. Aber dann lesen Sie einmal
Ihre Anträge. Sie haben darin die Praktika in Gänze be-
schrieben.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


– Doch, schauen Sie einmal hinein! Da ist null Differen-
zierung enthalten. Ich möchte auch noch einmal darauf
hinweisen, dass gerade die Praktika, die von den Betrie-
ben angeboten werden, für eine Berufsorientierung sehr
wichtig sind.


(Beifall bei der SPD)


Das sind mal zwei Wochen; mal sind es vier Wochen.
Selten sind es mehr als zwei Monate.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Es geht nicht um Schulorientierung, sondern es geht um Leute, die eine abgeschlossene Ausbildung haben!)


– Ja, genau. Aber das sind eben ganz wenige Fälle.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,9 Millionen Menschen!)


In Ihren Anträgen fassen Sie einfach alle Praktika zu-
sammen. Das ist undifferenziert und deswegen sinnlos.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anhaltende Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708126800

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie doch ein-

mal den Redner zu Wort kommen. Ihre Redner hatten ja
auch die Möglichkeit. – Bitte, Herr Kollege.


(Zuruf von der FDP: Gute Stube! Kann man im Praktikum lernen!)



Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708126900

Danke, Herr Präsident. – Ehe es bei diesen Praktika

wirklich einmal zu wertschöpfenden Tätigkeiten kommt,
vergehen in der Regel mehrere Wochen, sei es im Ma-
schinenbaubetrieb, beim Heizungsbauer, beim Kfz-
Meister oder in der Apotheke. Dem steht ein erheblicher
Aufwand für die Betreuung dieser Praktikanten gegen-
über. Das ist auch richtig so; denn die jungen Leute sol-
len ja auch etwas lernen. Sie sollen durch verschiedene
Bereiche in den Firmen gehen. Das kann natürlich auch
einmal nach einer Berufsausbildung sein. Dies ist aber
nach allem, was mir vorliegt, heute eher die Ausnahme.
Sie zitieren ja immer irgendwelche Zahlen von 2006 und
2007. Das ist längst Vergangenheit.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verweigern ja, neue Zahlen zu erheben! Dann legen Sie doch eine neue Studie auf!)


Entscheidend sind diese Erfahrungen für die spätere Be-
rufswahl.

Wir stellen auch fest, dass die Nachfrage an Praktika
ständig steigt. Das merke ich zum Beispiel auch in mei-
nem Unternehmen. Deswegen ist die Frage, ob es sinn-
voll ist, hier eine staatliche Regulierung einzuführen und
die Hürden für die Betriebe, die Praktika anbieten, wei-
ter nach oben zu schrauben.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie machen Sie es in Ihrem Unternehmen?)


Schon heute scheuen viele kleine Unternehmen, Prakti-
kanten anzunehmen. Wir müssen, wenn wir Regelungen
treffen – gesetzliche Regelungen sind für solche Dinge
meiner Meinung nach unangemessen –, sehr darauf ach-
ten, dass wir die Hindernisse für Praktika nicht immer
weiter aufbauen; denn damit vermindern wir die Anreize
für Unternehmen, Praktikanten auszubilden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn die Nachfrage so stark steigt, gibt es anscheinend keine Hindernisse!)


Eine Sache ist natürlich auch klar: Wenn ein Prakti-
kant Arbeitsleistungen erbringt, dann sollte man es ihm
auch vergüten. Das tun auch die meisten Unternehmen.
Dort, wo es tatsächlich Missbrauch gibt – da sind wir
uns sicherlich einig –, ist das auf das Schärfste zu verur-
teilen.

Aber jetzt noch einmal zu dem von Ihnen immer zi-
tierten Mythos von der Generation Praktikum. Der My-
thos stammt aus einem Zeit-Artikel vom März 2005. Da-
rin wurde eine prekäre Situation von Akademikern
beschrieben, die keinen Job finden und daher Praktikum
an Praktikum reihen.

März 2005, vielleicht erinnern Sie sich noch, in wel-
cher Zeit wir uns damals befanden: rot-grüne Regierung,
hohe Arbeitslosigkeit, Frustration in Deutschland; Bun-
deskanzler Schröder schmeißt hin. In dieser Zeit entsteht
der Begriff „Generation Praktikum“ in der Öffentlich-
keit. Es gehen Petitionen ein, die von 60 000 Leuten un-
terschrieben werden.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also gibt es doch ein Problem! Was machen wir jetzt dagegen?)


Das bauen Sie jetzt als aktuelles Problem auf. Das ist al-
ter Wein in alten Schläuchen und bringt uns überhaupt
nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Generation Praktikum ist heute noch größer!)


Insgesamt ist festzustellen: Diese Generation Prakti-
kum gibt es in dieser Form heute nicht. Die Bewertung
der Praktika ist überwiegend positiv. Wir sollten den Un-
ternehmen und vielen Betrieben, die Praktikantenplätze

9034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Philipp Murmann


(A) (C)



(D)(B)

zur Verfügung stellen, auch danken und nicht immer nur
auf ihnen herumhacken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Über einige Punkte lässt sich aber sicherlich nachden-
ken. Ein schriftlicher Praktikantenvertrag, ein Prakti-
kumszeugnis und auch eine Begrenzung von Praktika
sollten sicherlich selbstverständlich sein. Ich bin aber
der Meinung, dass das keine Aufgabe des Gesetzgebers,


(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Doch, genau das ist im Berufsbildungsgesetz nicht geregelt!)


sondern zum Beispiel der Tarifparteien ist. Das können
die Betriebe und die Gewerkschaften miteinander aus-
handeln. Dafür muss doch nicht der Gesetzgeber tätig
werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708127000

Herr Kollege Murmann, sind Sie bereit, noch Zwi-

schenfragen von Frau Alpers und Herrn Gehring zu be-
antworten?


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708127100

Ja, bitte gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708127200

Bitte, Frau Alpers.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708127300

Sehr geehrter Herr Murmann, Sie sagten gerade, das

Problem bestehe nicht, das sei ein altes Problem. Ich
möchte Sie noch einmal darauf hinweisen: Dieses Pro-
blem besteht für 1,9 Millionen junge Menschen. Das ha-
ben wir jetzt schon dreimal gehört.


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708127400

Das sind Zahlen von 2008 aus dem Ministerium von

Olaf Scholz.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708127500

Ja. Herr Murmann, aber die Situation hat sich nicht

verändert.


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708127600

Das behaupten Sie.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708127700

Warum ist das kein Problem? Sie selber wollten keine

neuen Untersuchungen. Warum wollten Sie denn keine
neue Evaluation, wenn das für Sie doch angeblich kein
Problem ist? Das ist der erste Teil meiner Frage.


(Gisela Piltz [FDP]: Ach nein, nicht auch noch zwei Teile!)


Zum zweiten Teil meiner Frage. Ist es für Sie kein
Problem, dass jeder Dritte nach einer abgeschlossenen
Schulausbildung, jeder vierte Hochschulabsolvent und
jeder Fünfte nach einer beruflichen Ausbildung keine
Arbeit als vollwertige Fachkraft erhält? Ist das ein Pro-
blem oder ist das kein Problem für die Regierungskoali-
tion?


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708127800

Sie haben jetzt völlig verschiedene Themen angespro-

chen. Man sollte sie jetzt nicht alle mit dem Thema Prak-
tikum vermischen.

Es ist natürlich so, dass wir alle uns bemühen – ich
denke, darin sind wir uns auch einig –, dass der Über-
gang in das Berufsleben nach dem Studium möglichst
reibungslos funktioniert. Ich denke, das ist in der Mehr-
zahl – leider nicht immer; das ist halt so – auch der Fall.
Ich persönlich kenne kein Unternehmen, das solche Vor-
gehensweisen, die von Ihnen kritisiert werden, anwen-
det. Ich hielte das sicherlich auch für fragwürdig.

Wir müssen uns aber die Frage stellen, ob wir jetzt als
Gesetzgeber mit staatlichen Gerüsten gegen dieses
Thema vorgehen oder ob wir nicht lieber dafür plädieren
sollten, dass dies im Rahmen einer Selbstverpflichtung,
die ja schon angesprochen wurde, geregelt wird. Das al-
les sind tolle Initiativen. Übrigens: Sie sagen, 1 500 Un-
ternehmen hätten sich der Initiative „Fair Company“ an-
geschlossen. Das heißt aber nicht, dass all diejenigen,
die sich ihr nicht angeschlossen haben, jetzt Missbrauch
betreiben. Das unterstellen Sie ja immer.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Hat Ihr Unternehmen sich angeschlossen?)


Insofern bin ich der Meinung, dass man über einzelne
Dinge sicherlich reden kann. Aber man muss aufpassen,
dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, da-
mit der Anreiz für Unternehmen, gerade auch für klei-
nere, groß bleibt, auch Praktikanten einzustellen. Darauf
kommt es mir an.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708127900

Herr Kollege Murmann, jetzt möchte der Kollege

Gehring noch eine Zwischenfrage stellen.


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708128000

Bitte schön. So haben wir noch einen fröhlichen

Abend, bevor wir anfangen, Adventslieder zu singen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708128100

Bitte schön, Herr Kollege Gehring.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708128200

Bei den Debattenbeiträgen der Regierungsfraktionen

vergeht mir leider die Heiterkeit.


(Zurufe von der FDP: Oh!)


Da Sie die letzten verfügbaren regierungsamtlichen
Zahlen aus dem BMAS hier mehrfach angezweifelt ha-
ben, möchte ich Sie einfach einmal fragen: Wann werden
Sie als Koalition die nächste Umfrage, die nächste Stu-
die, die nächste empirische Erhebung auf den Weg brin-
gen? Dafür sollten Sie sich doch eigentlich einsetzen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9035

Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

Wenn doch eh alles in Ordnung ist, dann können Sie ja
eine solche Studie durchführen und ihre Annahmen be-
weisen.

Zum anderen möchte ich einmal eine ganz konkrete
Frage stellen. Im Bundesjugendministerium, im Ministe-
rium mit Frau Schröder – geborene Köhler – an der
Spitze, das für die Jugendlichen zuständig ist, sind
80 Praktika gemacht worden, die bis zu sechs Monate
dauerten und für die es keine Vergütung gab. Diese
80 Praktikanten waren Hochschulabsolventinnen und
-absolventen. Finden Sie das eigentlich in Ordnung? Ist
Frau Schröder, die Bundesjugendministerin, damit ein
Vorbild, oder ist sie eher ein schlechtes Beispiel?


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708128300

Ich habe es ja schon gesagt: Es kommt sehr darauf an,

was für eine Art Praktikum das ist.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine ganz konkrete Frage!)


Bei manchen Praktika schnuppert man einmal in einen
Betrieb hinein. Man will einfach ein Gefühl für die ent-
sprechende Tätigkeit bekommen.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sechs Monate sind ein bisschen viel!)


– Ja, sechs Monate sind ungewöhnlich; das ist richtig.
Deswegen bin ich auch dafür, dass man eine Bezahlung
grundsätzlich in Erwägung zieht. Aber ich bin eben nicht
dafür, dass man mit gesetzlich befohlenen Mindestlöh-
nen arbeitet. Sie schlagen 10 Euro pro Stunde für einen
Schüler vor, der vielleicht eine Woche in meinem Unter-
nehmen ist.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie haben den Antrag nicht gelesen! Das haben wir nicht vorgeschlagen! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Quatsch!)


– Lesen Sie es einmal nach. Das steht so in Ihrem An-
trag.

Sie haben das alles in einen Topf geworfen – das ist es
ja, was ich kritisiere –, und deswegen bin ich dagegen,
solche gesetzlichen Regelungen hier überhaupt zu disku-
tieren. Vielmehr müssen wir uns die Situation sehr genau
anschauen, weil das Praktikum für junge Leute eine
wichtige Funktion im Hinblick auf ihren späteren Beruf
hat.

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Thema anspre-
chen, und zwar das Thema Beweislastumkehr, das Sie in
die Debatte einbringen. Das bedeutet auch für kleine Un-
ternehmen – Sie sprechen in Ihren Anträgen immer von
allen Praktikumsstellen; das ist ebenfalls ein Problem –,
beispielsweise für eine Apotheke, dass sie nachweisen
müssen, was gemacht wurde. Ich halte dies für einen
weiteren Sargnagel dafür, dass Unternehmen weitere
Praktikumsplätze zur Verfügung stellen.
Wenn Sie sich Praktika in Ministerien der Linken in
Brandenburg oder in Ministerien der SPD oder bei der
Thüringer SPD-Landtagsfraktion ansehen, so finden sich
auch dort diese von mir genannten Punkte. Deswegen ist
es aus meiner Sicht wichtig, dass man zwischen Praktika
und solchen Dingen unterscheidet, die tatsächlich mit
wertschöpfender Arbeit verbunden sind. Die Tarifpar-
teien sollten sich darüber unterhalten, was sinnvoll ist.
Im Übrigen ist dies auch im Europaparlament im Mo-
ment ein Thema. Ich bin der Meinung, wir sollten ab-
warten, wie die Diskussion dort läuft, bevor wir hier vor-
schnell handeln.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708128400

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1708128500

Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen empfeh-

len: Machen Sie ab und zu wieder einmal ein Praktikum,
damit Sie sehen, dass die Welt gar nicht so schlecht ist.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das mache ich sogar!)


– Ich mache häufiger Praktika; das können Sie mir glau-
ben. – Wir werden im Ausschuss sicherlich noch eine in-
teressante Diskussion führen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708128600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3482, 17/4044 und 17/4186 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-
weisen. Die Federführung zu den drei Vorlagen ist je-
doch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Die
antragstellenden Fraktionen wünschen Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
antragstellenden Fraktionen abstimmen, Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Überweisungsvorschläge sind da-
mit abgelehnt.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Die Linke hat doch diese Federführung mit beantragt.


(Zuruf: Federführung beim Ausschuss für Bildung!)


– Genau. So haben wir auch abgestimmt.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie haben gesagt: Ausschuss für Arbeit und Soziales!)


– Nein, ich hatte gesagt: Ich lasse zuerst über den Über-
weisungsvorschlag der antragstellenden Fraktionen ab-

9036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

stimmen, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Das ist das, was die SPD beantragt hat.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt drei Anträge, also drei Antragsteller! – Gegenruf der Abg. Gisela Piltz [FDP]: Habt ihr nichts Besseres zu tun?)


– Wir können auch über alle Anträge einzeln abstimmen,
wenn Sie das wünschen. Das Ergebnis wird dadurch
nicht verändert werden. Jedenfalls ist der Antrag, die Fe-
derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales zu
ressortieren, abgelehnt worden.

Dann lasse ich jetzt über die Überweisungsvorschläge
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung. Wer diesem Überwei-
sungsvorschlag zustimmt, den bitte ich um sein Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Über-
weisungsvorschläge sind angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion. Damit liegt die Federführung jeweils
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu der
Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz und die Informationsfreiheit

Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des Bundes-
beauftragten für den Datenschutz und die In-
formationsfreiheit
– 22. Tätigkeitsbericht –

– Drucksachen 16/12600, 17/790 Nr. 5, 17/4179 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)

Gerold Reichenbach
Gisela Piltz
Jan Korte
Dr. Konstantin von Notz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Stephan Mayer von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708128700

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr ge-

ehrte Kollegen! Wir debattieren heute den 22. Tätig-
keitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten für die
Jahre 2007 und 2008 sowie die dazugehörige Entschlie-
ßung. Man könnte sich zunächst zu der Annahme verlei-
ten lassen, dass das ein alter Hut ist, weil es um einen
Tätigkeitsbericht für die Jahre 2007 und 2008 geht. Wer
sich aber den Bericht näher zu Gemüte führt, wird sehr
schnell feststellen, dass er nichts an Aktualität verloren
hat. Er nimmt sogar in einer gewissen Weise weissagend
manche Dinge voraus, die heute brandaktuell sind. Ich
denke dabei an die Debatte über Geodatendienste oder
an die sehr intensive Debatte über soziale Netzwerke im
Internet.

Ich möchte vorausschicken, dass ich allen Kollegin-
nen und Kollegen Berichterstatter herzlich dafür danke
– das meine ich sehr ernst –, dass es gelungen ist, wieder
eine fraktionsübergreifende Entschließung zu dem Tä-
tigkeitsbericht zustande zu bringen.


(Beifall im ganzen Hause)


Das war bisher immer guter Brauch und ist auch dieses
Mal gelungen. Ich möchte nicht verhehlen, dass es sich
für mich dabei nicht um eine Selbstverständlichkeit oder
eine Petitesse handelt. Denn – auch das ist kein Geheim-
nis – die Positionen und Meinungen zum Thema Daten-
schutz sind in diesem Hause durchaus kontrovers und
teilweise auch sehr konträr.

Dass es uns wieder gelungen ist, über alle fünf Frak-
tionen hinweg eine fraktionsübergreifende Entschlie-
ßung zustande zu bringen, ist, glaube ich, bemerkens-
wert. Ich möchte in diesen Dank an die Kollegin
Berichterstatter Piltz und an die Herren Berichterstatter
auch den Dank an die Mitarbeiter sowohl der Abgeord-
neten als auch aus dem Bundesinnenministerium und
beim Bundesdatenschutzbeauftragten mit einbeziehen.
Es waren sehr konstruktive Gespräche, die vor allem in
dem Geist geführt wurden, dass wir zu einem positiven
Ergebnis kommen wollten.

Ich glaube, es ist ein schönes Zeichen, dass der Deut-
sche Bundestag eine einheitliche Position zum Thema
Datenschutz hat. Ich möchte nicht verhehlen, dass jede
Fraktion auch gewisse Abstriche machen musste, was
Maximalforderungen anbelangt. Bei einem Kompromiss
ist es nun einmal so, dass sich nicht jeder zu 100 Prozent
durchsetzen kann. Aber ich glaube, es ist ein schönes
Zeichen, dass wir, wenn es um Datenschutz und den Tä-
tigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten geht,
mit einer Stimme sprechen.

Datenschutz und Datensicherheit haben deutlich an
Bedeutung gewonnen. Ich halte es für bemerkenswert,
dass es uns gelungen ist, insgesamt zu 16 einzelnen
Punkten sehr dezidierte und meines Erachtens auch sub-
stantiierte Aussagen zu treffen. Aus meiner Sicht muss
es, wenn es um das Thema Datenschutz geht, insgesamt
einen Dreiklang geben, und zwar zwischen der Selbst-
verantwortung der Bürgerinnen und Bürger, der selbst-
verpflichtenden Bindung der Wirtschaft und den not-
wendigen gesetzlichen Regelungen.

Zunächst zum Thema Selbstverantwortung der Bür-
ger. Ich erachte es als außerordentlich interessant und
positiv, dass die jüngste sogenannte JIM-Studie für das
Jahr 2010 festgestellt hat, dass insbesondere die Jugend-
lichen – es sind über 1 000 Jugendliche zwischen 12 und 19

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9037

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

befragt worden – deutlich sensibler mit ihren personen-
bezogenen Daten im Internet umgehen.

Die Ergebnisse zeigen: Noch im Jahr 2009 haben
51 Prozent der Jugendlichen Fotos und Filme von Freun-
den und Verwandten ins Internet gestellt. Ein Jahr später,
2010, sind es nur noch 41 Prozent. Es geben auch nur
noch 46 Prozent der befragten Jugendlichen persönliche
Informationen im Internet an. Ein Jahr zuvor, 2009, wa-
ren es noch 83 Prozent.

Im Jahr 2009 haben immerhin noch 69 Prozent der
befragten Jugendlichen persönliches Material, insbeson-
dere Fotos, ins Internet hochgeladen. Ein Jahr später,
2010, sind es nur noch 64 Prozent.

Das zeigt: Die öffentliche Debatte zum Thema Daten-
sicherheit und Datenschutz und der Auftrag an den Ein-
zelnen, verantwortungsvoll und selbstbestimmt mit per-
sonenbezogenen Daten umzugehen, trägt erste Früchte.
Aber natürlich darf dies nicht das Ende sein. Die Aufklä-
rungsarbeit muss weitergehen und noch intensiviert wer-
den, und zwar schon allein deshalb, weil – das hat diese
Studie auch zutage gefördert – die Aufenthaltszeit im In-
ternet zunimmt. Jugendliche bewegen sich im Durch-
schnitt täglich knapp zweieinhalb Stunden im Internet.
Auch die Mitgliedschaft in sozialen Netzwerken im In-
ternet hat im Vergleich zum Vorjahr noch einmal deut-
lich zugenommen.

Was das Thema Aufklärung und Bildungsarbeit anbe-
langt, verspreche ich mir sehr viel von der kommenden
Stiftung Datenschutz.


(Beifall bei der FDP)


Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, im kommen-
den Haushalt 2011 schon einmal 10 Millionen Euro ein-
zustellen, um diese Stiftung Datenschutz auf den Weg zu
bringen. Ich verspreche mir von dieser kommenden Stif-
tung Datenschutz vor allem deshalb sehr viel, weil sie in
prädestinierter Weise dazu beitragen kann, der Vertrau-
ensbildung zwischen den Bürgern und den Unternehmen
Vorschub zu leisten. Dabei stellen Themen wie das Da-
tenschutzgütesiegel oder das Datenschutzaudit Chancen
dar. Auch wenn die Wirtschaft diesen Themen vielleicht
etwas reserviert gegenübersteht, glaube ich, dass man
mit den beiden genannten Themen zu einer stärkeren
Vertrauensbildung bei den Verbrauchern beitragen kann.

Ein großes Thema in der aktuellen Debatte ist die
Profilbildung im Internet, insbesondere was personenbe-
zogene Daten anbelangt. Dies ist zunächst einmal kri-
tisch zu sehen, wobei ich hinzufüge, dass nicht jede Pro-
filbildung per se negativ zu sehen ist, insbesondere dann
nicht, wenn sie auf die persönliche Einwilligung des Be-
troffenen zurückzuführen ist. Sie muss aus meiner Sicht
immer die Grundvoraussetzung dafür sein, dass es über-
haupt zu einer Profilbildung von personenbezogenen
Daten im Internet kommt.

In diesem Zusammenhang bin ich dem Bundesinnen-
minister sehr dankbar dafür, dass er ein Eckpunktepapier
vorgelegt hat, das Grundlage sein wird, um das kom-
mende Gesetz zum Schutz von Persönlichkeitsrechten
im Internet zu erarbeiten. Die rote Linie, von der der
Bundesinnenminister spricht, ist meines Erachtens der
richtige, der zukunftsweisende Weg. Das Internet darf
auf der einen Seite kein rechtsfreier Raum sein; auf der
anderen Seite müssen wir uns aber auch davor hüten, das
Internet und den Umgang mit dem Internet überzuregu-
lieren.

Ich glaube, dass es richtig ist, zu sagen, dass Mei-
nungsfreiheit im Internet, in der virtuellen Welt, genauso
wie in der realen Welt gilt. Aber es muss natürlich auch
bestimmte Grenzen, bestimmte Barrieren geben. Wenn
es schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte
und in die Intimsphäre gibt oder es zu ehrverletzenden
Beschreibungen im Internet kommt, muss es auch einen
Rechtsanspruch für den Einzelnen geben, diese Inhalte
aus dem Internet zu tilgen. Ich sage ganz offen: Dieses
Recht des Betroffenen muss natürlich auch sanktionsbe-
wehrt sein, sprich: mit eventuellen Schmerzensgeldan-
sprüchen ausgestaltet sein.

Das Eckpunktepapier zeigt also einen hervorragenden
Weg auf. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch
die Selbstverpflichtung der Wirtschaft anzusprechen.
Die BITKOM hat vor kurzem einen Entwurf für einen
Datenschutzkodex für Geodatendienste vorgelegt. Ich
begrüße diesen Entwurf – das sage ich in aller Deutlich-
keit –; er ist meines Erachtens eine gute Diskussions-
grundlage. Aber es muss uns auch erlaubt sein, dabei
noch mit Hand anzulegen und entsprechende Hinweise
zu geben. Es ist ein wichtiger Ansatzpunkt, dass man
eine zentrale Informations- und Widerspruchsstelle für
den Einzelnen schafft, dass er im Internet also an einer
zentralen Stelle seinen Widerspruch deponieren kann,
wenn es um das Pixeln, die Unkenntlichmachung von
Immobilien im Internet, geht.

Ich sage aber auch ganz offen, dass ich ein Problem
mit diesem Vorhaben der BITKOM habe, weil sie die
Kontrolle dieser Selbstverpflichtung nur auf eigene
Rechnung machen will. So kann es nicht gehen. Die
Kontrolle dieser Selbstverpflichtung muss meines Er-
achtens in staatliche Hand gegeben werden. Man kann
der Wirtschaft nicht einerseits zugestehen, sich Selbst-
verpflichtungen aufzuerlegen – das ist meines Erachtens
grundsätzlich der richtige Weg –, und ihr andererseits er-
lauben, die Einhaltung dieser Selbstverpflichtungen
selbst zu kontrollieren. Das geht meines Erachtens zu
weit.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das stimmt!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die dritte
Komponente in dem Dreiklang, den ich vorhin beschrie-
ben habe, ist der Gesetzgeber. Es bedarf gesetzgeberi-
scher Änderungen als Leitplanken, die als Schutz im
Hinblick auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen der
Wirtschaft dienen. In diesem Zusammenhang ist natür-
lich festzustellen, dass im Laufe der letzten 20 Jahre das
Bundesdatenschutzgesetz an Übersichtlichkeit und Pra-
xistauglichkeit verloren hat. Deshalb ist es neben dem
Erfordernis, den Beschäftigtendatenschutz neu zu re-
geln, unser Ansinnen und unser ernsthaftes Bestreben in
der christlich-liberalen Koalition, das Bundesdaten-
schutzgesetz modern und technikneutral umzugestalten.

9038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Ich bin sehr froh, dass es uns in der Entschließung ge-
lungen ist, nicht an der Oberfläche zu bleiben, sondern
uns zu konkreten Themen dezidiert zu äußern. Wir ha-
ben uns zum Beispiel zum Thema intelligente Stromzäh-
ler – der englische Begriff lautet „Smart Metering“ – ge-
äußert. Hier besteht die akute Gefahr des Missbrauchs
durch Unbefugte. Es bedarf entsprechender technischer
und organisatorischer Maßnahmen, um zu verhindern,
dass die Lastenprofile, die durch solche Stromzähler er-
mittelt werden, missbräuchlich genutzt werden. Wir ha-
ben uns zum Melderecht dahin gehend geäußert, dass
wir derzeit kein Erfordernis für ein bundesweites, zen-
trales Melderegister sehen. Wir haben uns zudem zum
Zensus 2011 geäußert, genauso wie ganz dezidiert zur
Speicherung von Passagierdaten. Ich betone: Es ist aus
meiner Sicht dringend erforderlich, dass die Europäische
Union ein Musterabkommen nicht nur mit den USA,
sondern auch mit anderen Ländern erarbeitet, das ganz
klar festlegt, unter welchen Voraussetzungen Passagier-
daten übermittelt werden, und das konkrete Hinweise
gibt und Verpflichtungen aufoktroyiert, wenn es um die
Festlegung der Speicherfrist und den Rechtsschutz geht.

Abgesehen von dem Tätigkeitsbericht für die Jahre
2007 und 2008 stehen wir vor ganz neuen Herausforde-
rungen. Wenn Persönlichkeitsprofile von Gesichtserken-
nungsdiensten erstellt werden, wenn es zum Beispiel mit
einem internetfähigen Fotohandy möglich ist, in Echtzeit
eine Person auf der Straße oder im Café zu identifizie-
ren, dann ist Vorsicht geboten. Wenn es bei Suchmaschi-
nen immer mehr gang und gäbe ist, Profilbildung vorzu-
nehmen, ist dies höchst gefährlich, wenn aus diesen
Erkenntnissen konkrete Rückschlüsse auf Verhaltens-
weisen, Vorlieben oder Hobbys gezogen werden. Ge-
nauso besteht eine konkrete Gefahr in der zunehmenden
Ermittlung von Standortdaten. Das ist zwar nach § 98
des Telekommunikationsgesetzes verboten. Aber nach-
dem immer mehr Diensteanbieter auf dem Markt sind,
die nicht dem Telekommunikationsgesetz unterfallen,
besteht auch hier eine konkrete Gefahr des Missbrauchs.
Dem müssen wir uns sehr intensiv annehmen. Ich hoffe
auf die gleiche konsensuale und sachliche Zusammenar-
beit, wenn es um diese von mir angesprochenen Themen
geht.

Ich darf mich abschließend bei allen herzlich bedan-
ken. Es ist ein mutiges und schönes Zeichen, dass es uns
gelungen ist, eine fraktionsübergreifende Entschließung
zustande zu bringen. Lassen Sie uns in diesem Sinne
weiterarbeiten, wenn es um Datenschutz und Datensi-
cherheit in Deutschland geht.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708128800

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerold Reichenbach

von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1708128900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren Kollegen! Lassen Sie mich vorab Herrn
Peter Schaar, der oben auf der Tribüne sitzt, und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die hervorragende
Arbeit im Bereich des Datenschutzes und der Informa-
tionsfreiheit danken.


(Beifall im ganzen Hause)


Oft kämpfen Sie gegen Windmühlen, manchmal mit gro-
ßem Rückhalt, oft aber auch ziemlich allein gelassen.
Herr Schaar, vielen Dank für Ihre hervorragende Arbeit!
Obwohl Sie meistens als Mahner und eher als personifi-
ziertes schlechtes Gewissen uns Politikern im Nacken
sitzen, wissen wir alle, dass Sie Ihre Arbeit mit absoluter
Leidenschaft und höchster Gewissenhaftigkeit ausfüh-
ren. Nichts anderes erwarten wir von Ihnen als unserem
obersten Hüter von Daten und Informationen.

Ein Zeichen dafür ist unter anderem der vorliegende
Tätigkeitsbericht, über den wir heute debattieren. Sie
zeigen uns darin die Möglichkeiten und Gefahren für die
Zukunft auf. Sie mahnen die Politik, zu handeln, und
zwar insbesondere mit Blick auf ein Zeitalter, in dem
sich die Technik derart schnell weiterentwickelt, dass
der Gesetzgeber oft hinterherhinkt und dem technologi-
schen Fortschritt nur hinterherschaut.

Das wird auch dadurch deutlich – das ist schon ange-
sprochen worden –, dass das Gefährdungspotenzial mehr
als aktuell ist, das in dem Bericht für die Jahre 2007 und
2008, den wir heute debattieren, aufgezeigt wird. Darum
haben die Bundestagsfraktionen diesen Bericht zum An-
lass genommen, erneut eine gemeinsame Entschließung
zu formulieren. Auch ich möchte mich bei den Kollegin-
nen und Kollegen, bei den Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern sowie bei den Ministerien bedanken.

Natürlich ist diese Entschließung ein Kompromiss.
Inhaltlich gibt es aber trotzdem viele Dinge, in denen
sich die Fraktionen einig waren. Ich möchte hier nicht
alle Punkte aufzählen, aber ein paar Beispiele nennen,
etwa das Erfordernis der Stärkung der Rechte der Betrof-
fenen – das ist angesprochen worden –, eine Regelung
zur Profilbildung sowie eine engere Zweckbindung beim
Umgang mit persönlichen Daten. Das ist ein Problem,
das bei der Zunahme von Diensten, Verknüpfungsmög-
lichkeiten und neuen Netzwerken nach unserer Ansicht
immer dringlicher wird.

Ebenso einig war man sich grundsätzlich darin, dass
im Bereich der Bildung und Medienkompetenz gehan-
delt werden muss und die von der Bundesregierung ge-
plante Stiftung Datenschutz keine Parallelstrukturen zu
den Aufgaben der Datenschutzbeauftragten des Bundes
und der Länder herausbilden darf und gleichzeitig ihre
Unabhängigkeit garantiert sein muss.

So weit bestand Einigkeit – um nur die wichtigsten
Punkte zu nennen. Die Nagelprobe jedoch wird die kon-
krete Ausgestaltung und Umsetzung der erforderlichen
Maßnahmen sein. Die Bundesregierung ist gefordert,
konkret tätig zu werden; denn der Tätigkeitsbericht ist
nicht nur dazu da, ihn zur Kenntnis zu nehmen und eine
gemeinsame Entschließung mit guten Absichten zu for-
mulieren. Er ist vielmehr dazu da, Missstände und Pro-
blemfelder aufzudecken, sie anzugehen und politisches
und gesetzgeberisches Handeln folgen zu lassen.

Davon, Kollege Mayer, kann ich bei den aktuellen
Vorschlägen der Bundesregierung allerdings noch nicht

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9039

Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

so viel erkennen. Im Bereich des Datenschutzes ist diese
Bundesregierung nach wie vor, wie in anderen Berei-
chen, gespalten. Der Bundesinnenminister und die CDU
fordern eine schnelle Regelung zur Vorratsdatenspeiche-
rung. Die Bundesjustizministerin und die FDP – wir ha-
ben es vorhin in der Debatte erlebt – sagen: Wir warten
lieber ab, wir wollen Europa nicht vorgreifen.


(Gisela Piltz [FDP]: Das war eine mutige Interpretation meiner Rede, Herr Reichenbach! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Wir werden uns einigen! Sie werden sehen!)


Abwarten und möglichst wenig entscheiden scheint
ohnehin ein Prinzip zu sein. Die Verbraucherschutzmi-
nisterin moniert beispielsweise den mangelnden Schutz
der Persönlichkeitsrechte im Internet, und da sie mit ih-
ren Forderungen bei den Diensteanbietern nicht durch-
dringt, schaltet sie öffentlichkeitswirksam, aber ziemlich
hilflos ihr Facebook-Profil ab.

Andererseits setzt der Bundesinnenminister mit sei-
nem Vorschlag der sogenannten Rote-Linie-Gesetzge-
bung und dem gleichzeitig vorgelegten Kodex der Inter-
netbranche – Sie haben das eben angesprochen –
weitestgehend auf die Selbstkontrolle durch die wirt-
schaftlichen Interessen der beteiligten Unternehmen.

Wir sagen dagegen ganz klar: Ein lockerer gesetzlicher
Rahmen, der durch jede Menge Selbstverpflichtungen der
Branche ergänzt werden würde, ist nicht ausreichend, um
einen adäquaten Persönlichkeits- und Datenschutz zu ge-
währleisten. Nach dem sogenannten Rote-Linie-Entwurf
– so wie er uns bekannt geworden ist – werden die Unter-
nehmen auch weiterhin fleißig Daten erheben, verarbeiten
und weitergeben, Profile erstellen und diese wirtschaft-
lich nutzen dürfen, da nur die gezielte Veröffentlichung
personenbezogener Daten für unzulässig erklärt werden
soll. Bis zu der roten Linie soll der Wirtschaft dann wohl
ohne einklagbare gesetzliche Regelungen ein freier Ge-
staltungsspielraum gegeben werden, in dem sie sich le-
diglich nach eigenem Ermessen einschränkt. Sie selbst
haben gesagt, dass es nicht sein kann, dass sich diejeni-
gen, die davon profitieren, selbst kontrollieren.

Was die Effektivität und Reichweite von Selbstregu-
lierungskräften betrifft, haben wir auch aufgrund der Er-
fahrungen aus der Vergangenheit unsere Zweifel. Denn
es ist gerade anhand der Banken- und Finanzkrise deut-
lich geworden, dass es eine Mär ist, dass der Markt sich
selbst reguliert und sanktioniert.

Wir halten es für wichtig – die Datenskandale in der
Vergangenheit haben das gezeigt –, dass die bestehenden
Datenschutzgesetze und Regeln zunächst einmal konse-
quent vollzogen werden. In der Vergangenheit – ich
denke da etwa an die jüngsten Debatten über den bar-
geldlosen Zahlungsverkehr – ging es noch nicht einmal
um Selbstkontrolle, sondern darum, dass Grenzsituatio-
nen ausgenutzt werden. Da geht es darum, dass zum Bei-
spiel internationale Anbieter sich um Monierungen
durch Landesdatenschutzbeauftragte – ich formuliere es
einmal etwas umgangssprachlich – einen Dreck scheren.

Deshalb meinen wir: Wir brauchen klare Regelungen
und nicht nur eine rote Linie, sodass alles vor der roten
Linie sozusagen freigegeben ist und es der Wirtschaft
überlassen bleibt, Regeln zu entwickeln, an die sie sich
freiwillig hält. Wenn ich mir den Kodex anschaue, stelle
ich übrigens fest: Es gibt nur minimale Sanktionen, die
geradezu einen Anreiz bieten, dann, wenn es wirtschaft-
lich opportun ist, dagegen zu verstoßen.

Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder haben mit ihrer Entschließung zu einem moder-
nen Datenschutzrecht für das 21. Jahrhundert vom
Juni 2010 eine ganze Reihe von Vorschlägen vorgelegt.
Die von uns zur Annahme empfohlene Entschließung
nimmt darauf Bezug. Wir fordern die Bundesregierung
auf, die Vorschläge ernsthaft in die Überlegungen einzu-
beziehen und den gesetzlichen Rahmen wirkungsvoll zu
verbessern, gerade im Hinblick auf Widerspruchsrechte
und andere Betroffenenrechte, sowie ein Verbot der Ver-
knüpfung von Daten zu erlassen, welches an einen kla-
ren Erlaubnisvorbehalt geknüpft werden sollte. Hier se-
hen wir alle gemeinsam Handlungsbedarf, wie in der
Entschließung auch zum Ausdruck kommt. Es geht da-
rum, rechtsfeste Kategorien umzusetzen.

Wir brauchen klar definierte Regeln und Rechte, die
die Betroffenen wirksam einfordern können und die mit
wirksamen Kontrollen und Sanktionen bewehrt sind.
Dazu bieten wir Ihnen unsere Kooperation an. Wir for-
dern die Bundesregierung nach wie vor auf: Nehmen Sie
das ernst, was der Bundesdatenschutzbeauftragte, aber
auch die Gesamtheit der Datenschutzbeauftragten des
Bundes und der Länder an Vorschlägen unterbreitet ha-
ben, und setzen Sie es in gesetzgeberisches Handeln um!
Dabei wird die SPD-Fraktion Sie in diesem Hause unter-
stützen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708129000

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1708129100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Schaar, Sie sitzen zwar da oben al-
leine auf der Tribüne, aber Sie sind nicht allein auf wei-
ter Flur im Datenschutz. Ich denke, das wird durch diese
Debatte sehr deutlich.

Ich möchte mich meinen Vorrednern insofern an-
schließen, als auch ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern, un-
seren Mitarbeitern, dem BMI und seinen Mitarbeitern
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danke.

Ich sitze jetzt schon seit über drei Stunden hier im
Plenum.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finden wir gut! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür danken wir dir!)


9040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

– Ja, das ist schon einen Beifall wert. Dafür bin ich
dankbar. Das ist auch sehr nett, aber darum ging es gar
nicht. – Ich wollte sagen: Es ist schon ein besonderes
Highlight des heutigen Tages, dass es uns gelungen ist,
zu diesem Thema eine fraktionsübergreifende Entschlie-
ßung zustande zu bringen. Das hebt sich wohltuend von
manch anderer Debatte ab. Dafür mein ganz persönli-
cher Dank.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Wir können ja da mal was bei der Vorratsdatenspeicherung probieren! – Heiterkeit)


– Gemeinsame Beschlüsse auf Vorrat, gar kein Problem,
lieber Kollege Grindel; darüber können wir einmal re-
den.

Der Tagesspiegel titelte vor nicht allzu langer Zeit,
die „Idee Datenschutz“ habe sich überlebt. Auch Mark
Zuckerberg von Facebook meint zu wissen: The age of
privacy is over. – Der Deutsche Bundestag ist da augen-
scheinlich anderer Meinung. Ich persönlich finde: Das
ist auch gut so.

Datenschutz hat sich keineswegs überlebt. Ob in Düs-
seldorf oder Köln, in Berlin oder Schwerin – Daten-
schutz ist aktuell. Eine freie und offene Informationsge-
sellschaft würde genau diese Freiheit verlieren, wenn sie
dem Einzelnen das Bedürfnis nach Privatheit versagen
würde.

Richtig ist natürlich, dass sich die datenschutzrechtli-
chen Rahmenbedingungen in den zurückliegenden Jah-
ren deutlich verändert haben. Vorbei ist die Zeit von
Hängeordnern und Leitz-Ordnern.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider!)


– Alles relativ, mein Lieber. – Vorbei ist die Zeit von
Stechkarten und Spiralkabeln. Heute mieten wir Server-
kapazitäten in Neu-Delhi oder speichern direkt in einer
Cloud. Die globale Dimension des Themas Datenschutz
und die dadurch bedingte, sich stetig verändernde Nach-
frage nach datenschutzrechtlichen Vorgaben müssen bei
der Anpassung des Datenschutzrechts an das digitale
Zeitalter umfassend berücksichtigt werden. Dabei sind
wir auf einem guten Weg.

Dass sich diese Koalition des Themas Datenschutz
angenommen hat, lieber Kollege Reichenbach, belegen
die folgenden einfachen Zahlen – ich habe in der vorhe-
rigen Debatte ja gelernt: Zahlen sind das A und O –: Im
Koalitionsvertrag von Union und FDP findet sich der
Begriff Datenschutz an 27 unterschiedlichen Stellen.


(Gerold Reichenbach [SPD]: Das sagt noch gar nichts! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Papier ist geduldig und Datenträger auch!)


Zum Vergleich: Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und
Grünen war es genau fünfmal, im Koalitionsvertrag der
Großen Koalition sogar nur dreimal der Fall. Ich finde,
das ist schon ein deutlicher Fortschritt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Gerold Reichenbach [SPD]: Das ist ein statistischer Effekt! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Tonnenideologie reinsten Wassers! Immer diese DDR-Vergleiche! Das ist ja furchtbar!)


Und wir setzen unsere Vorgaben auch um. Da ist zum
Beispiel die Forderung nach einem Arbeitnehmerdaten-
schutzgesetz.


(Gerold Reichenbach [SPD]: Wir haben eins vorgelegt!)


Wir als christlich-liberale Koalition arbeiten an einem
Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, das wir im nächsten
Jahr hier vorlegen und umsetzen werden.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind gespannt!)


Das ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber den elf Jah-
ren, in denen die verschiedenen sozialdemokratischen
Arbeitsminister das nicht hinbekommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nicht so sozial wie die FDP!)


Es ist schon darauf hingewiesen worden: Wir haben
es geschafft, eine Stiftung Datenschutz ins Leben zu ru-
fen. Selbstverständlich wird sie unabhängig sein. Und
selbstverständlich ist doppelte Arbeit nicht sinnvoll.
Aber wir haben das auf den Weg gebracht; Sie haben das
nicht geschafft – genauso wenig wie Sie es geschafft ha-
ben, dem Bundesdatenschutzbeauftragten mehr Geld zur
Verfügung zu stellen. Sie haben nur Sprüche gemacht,
wir haben gehandelt und mehr Geld draufgelegt. Von da-
her haben wir mehr bewegt als Sie in den elf Jahren, in
denen Sie vergeblich versucht haben, etwas beim Daten-
schutz zu bewegen.


(Gerold Reichenbach [SPD]: Guck’ mal: Gar kein Applaus! Da klatscht noch nicht mal die eigene Fraktion!)


Wir als christlich-liberale Koalition setzen auf ein Ne-
beneinander gleich mehrerer Regelungsmechanismen.
So richtig es ist, dass wir an neuen gesetzlichen Rege-
lungen für manche Phänomene nicht vorbeikommen, so
falsch ist der Glaube, allein über neue Gesetze Probleme
lösen zu können. Selbstverpflichtungen, vor allem der
Internetwirtschaft, tragen insofern schlicht der Tatsache
Rechnung, dass deutsches Recht eben nur in Deutsch-
land gilt und nicht auf den Cayman Islands. Das muss
man einfach zur Kenntnis nehmen.

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ein solcher
Kodex der Branche nur dann akzeptabel ist, wenn darin
effektive und transparente Verfahren garantiert werden.
Das gilt vor allem auch für Verfahren bei etwaigen Ver-
stößen einzelner Unternehmen gegen die selbst gesetzten
Vorgaben. Funktionieren diese Sanktionsmechanismen
allerdings, würde das zu einer dringend notwendigen
Entlastung der Aufsichtsbehörden beitragen. Auch das
kann ein positiver Effekt sein.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9041

Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

Denn zur Wahrheit beim Datenschutz gehört leider
auch, dass es erhebliche Vollzugsdefizite gibt. Laut Sta-
tistik musste ein deutsches Unternehmen im Jahr 2009
alle 39 000 Jahre – in Worten: neununddreißigtausend
Jahre – damit rechnen, durch einen Vertreter einer Auf-
sichtsbehörde kontrolliert zu werden. Ich glaube, dass
wir hier ansetzen müssen, dass auch die Landesregierun-
gen nachbessern und ihre Landesdatenschutzbeauftrag-
ten besser ausstatten müssen.


(Beifall bei der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt!)


Trotz der begrenzten Reichweite müssen gesetzliche
Regelungen – wo nötig – über die Formulierung eines
Rahmens weit hinausgehen und konkret werden. Das gilt
selbstverständlich für die Rechte der Betroffenen wie
Widerspruchsrechte oder Ansprüche auf Sperrung oder
Löschung. Solche Instrumente, die die informationelle
Selbstbestimmung des Betroffenen absichern sollen,
dürfen nicht vom Gutdünken einer datenverarbeitenden
Stelle abhängig gemacht werden. Diese Aussage gilt
umso mehr, wenn die persönlichen Daten des Einzelnen
zu kommerziellen Zwecken ge- oder – und das passiert
nicht selten – missbraucht werden.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe schon vorher geklatscht!)


– Ich bin begeistert, Wolfgang. – Ich komme zu einem
tendenziell weihnachtsfreundlichen Abschluss: Noch
einmal mein Dank für die gemeinsame Beratung. Ich
würde mich freuen, wenn wir beim Thema Datenschutz
auch in Zukunft gemeinsam etwas bewegen könnten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708129200

Das Wort hat der Kollege Jan Korte von der Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708129300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Peter Schaar! In der Tat ist es eine gute Sa-
che, dass wir eine gemeinsame Beschlussempfehlung
auf den Weg gebracht haben. Ich denke, das trägt auch
der Tatsache Rechnung, dass der Datenschutz innerhalb
der Gesellschaft, der Bevölkerung einen hohen Stellen-
wert bekommen hat.

Noch eine kleine Anmerkung. Dieser gemeinsame
Antrag ist auch insofern ein gutes Zeichen, als die Kolle-
gen von der CDU/CSU in dieser Beziehung vielleicht
einmal in sich gehen könnten. Bei diesem Sachthema
konnten wir gut zusammenarbeiten. Vielleicht ist das bei
anderen Themen in Zukunft auch möglich. Das wäre
doch ein gutes Zeichen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wichtig ist


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bekämpfung von Linksextremismus!)


– der Kollege Grindel ist wach geworden; das ist gut,
jetzt kommt ein bisschen Stimmung in den Laden –, dass
wir innerhalb dieser Legislaturperiode versuchen – das
war in den letzten Jahren genauso –, die gemeinsame
Beschlussempfehlung Stück für Stück umzusetzen.
Wenn alle Fraktionen dafür sind und diese Beschluss-
empfehlung ernst nehmen, wird man das ja wohl irgend-
wie hinbekommen. Wir als Linke sind auf jeden Fall da-
bei.

Da Herr Schaar im Haus ist, möchte ich vorab noch
einen Punkt ansprechen. Wir beraten heute den Tätig-
keitsbericht von 2007 und 2008. Wir sollten dafür sor-
gen, dass Herrn Schaar in Zukunft genügend Kollegin-
nen und Kollegen zur Verfügung stehen, sodass wir in
späteren Jahren den Bericht des Vorjahres diskutieren
und nicht den von vor drei Jahren. Hier müssen wir un-
bedingt nachbessern.


(Beifall bei der LINKEN)


Selbstverständlich fehlen viele wichtige Punkte in
dieser gemeinsamen Beschlussempfehlung. Das ist klar.
Es handelt sich um einen Minimalkonsens.

Auf Seite 45 des Berichtes – ich habe ihn gelesen –
findet sich zum Beispiel das Thema Onlinedurch-
suchungen. Dort wird zu Recht gesagt, das sei ein
schwerwiegender Grundrechtseingriff. Das ist wohl
wahr; wir haben heute schon über die Vorratsdatenspei-
cherung gesprochen. Bis heute haben Sie, die die Mög-
lichkeit einer Onlinedurchsuchung eingeführt haben,
auch in diesem Fall nicht gesagt, wofür wir dieses In-
strument überhaupt brauchen. Das BKA hat laut der
jüngsten Anfrage der Fraktion Die Linke noch gar keine
Onlinedurchsuchung durchgeführt. Wir sollten also die
Aussagen im Bericht hierzu ernst nehmen und diese
Möglichkeit streichen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein anderer Punkt ist, dass bei allen elektronischen
Großprojekten einige Aspekte nicht beachtet wurden –
von uns zwar schon, aber darüber gab es keinen Konsens.
So gibt es zum Beispiel beim Millionengrab E-Perso und
bei der gesamten Biometriestrategie weniger Daten-
schutz. Deshalb muss hier – darauf wurde schon hinge-
wiesen – dringend ein Kurswechsel eingeleitet werden.
Ich erinnere auch an ELENA, an die Gesundheitskarte
und die Vorratsdatenspeicherung, über die wir heute
schon diskutiert haben und die einen der schwerwie-
gendsten Eingriffe in die informationelle Selbstbestim-
mung überhaupt darstellt.

Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn man die Aussagen
des Berichts ernst nimmt, müsste man ein Moratorium
für all diese Großprojekte fordern und eine wirkliche

9042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

bürgerrechtliche Evaluierung vornehmen. Das wäre an-
gemessen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, über
den noch gar nicht diskutiert worden ist, nämlich den
Umgang mit Sozialdaten. Hartz IV ist nicht nur Armut
per Gesetz, sondern damit einher geht per Gesetz auch
ein Fehlen von Datenschutz. Auch beim Umgang mit
den Daten von Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfän-
gern ist es an der Zeit, endlich einen wirksamen Daten-
schutz einzuführen. Hier hätten Sie uns an Ihrer Seite.
Hier ist aber, wie ich glaube, noch extrem viel Druck
vonnöten.

Der Bericht sollte für uns also Mahnung und Hand-
lungsanweisung zugleich sein. Wir würden uns in die-
sem Bereich intensiv engagieren. Wir sollten jetzt aber
erst einmal die Punkte der gemeinsamen Beschlussemp-
fehlung, bei denen wir alle einer Meinung sind – Herr
Grindel schaut begeistert –, umsetzen. Dann sollten wir
einen grundlegenden Kurswechsel einleiten. Dafür muss
allerdings diese Regierung abgewählt werden. Auch da-
ran arbeiten wir.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708129400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Dr. Konstantin von Notz von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Peter Schaar, auch wir Grünen begrüßen
die mit und in dem Bericht zum Ausdruck kommende
Bedeutung der Arbeit des Bundesdatenschutzbeauftrag-
ten. Wir bedanken uns bei ihm und all seinen Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern für die insgesamt geleistete
Arbeit, aber insbesondere für die in den Jahren 2007 und
2008. An diesem Punkt gilt es festzuhalten: Ein unab-
hängiges Aufsichtssystem ist ein verfassungsfester Bau-
stein unseres Datenschutzkonzeptes.

Auch ich freue mich über die fraktionsübergreifende
Beschlussempfehlung und die konstruktive Zusammen-
arbeit. Das ist ein positives Signal in diesen manchmal
garstigen politischen Zeiten. Das zeigt auch – da stimme
ich dem Kollegen Mayer völlig zu – die Bedeutung und
die Wichtigkeit dieses Themas in der aktuellen Zeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU])


Für uns besonders wichtig war, dass in den Bericht
die Bedeutung bundesweiter Gütesiegel und ein Prüfan-
trag zur Schaffung gesetzlicher Regelungen für Smart
Grid Eingang gefunden haben sowie Bezug auf die
wichtigen Anregungen im Eckpunktepapier zur Moder-
nisierung des Datenschutzes genommen wurde. Das al-
les sind wichtige politische Punkte für einen modernen
Datenschutz. Wir wollen an dieser Stelle offen über Da-
tenschutz sprechen. Nicht nur innerhalb der Regierung
gibt es erhebliche Meinungsunterschiede – nehmen wir
nur das Stichwort „Vorratsdatenspeicherung“ –, sondern
auch uns Grüne trennt manches von der Bundesregie-
rung – das sei hier erwähnt –, zum Beispiel bei ELENA.
Hier findet im Augenblick eine verfahrenstechnisch aus-
gesprochen unwürdige Beerdigung – häppchenweise
und auf Raten – statt, ohne dass die Datensammelei ge-
stoppt wird. Noch immer werden die Daten jeden Monat
zentral gespeichert und gemeldet, was klar rechtswidrig
ist. Frau Piltz, auch wenn Sie sich hier für die tolle Da-
tenschutzpolitik abfeiern lassen, da versagen Sie leider
komplett.


(Gisela Piltz [FDP]: Das werden Sie noch sehen!)


Beim neuen Pannen-Personalausweis ist es genauso.
Man kann ihn den Bürgerinnen und Bürgern nicht emp-
fehlen, und dies tut kaum jemand mehr;


(Jan Korte [DIE LINKE]: Richtig!)


denn über die zugesagte Sicherheit verfügt er gerade
nicht.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: 400 000 haben ihn schon beantragt!)


Das Beharren auf der Vorratsdatenspeicherung von
Union und – nach dem halbgaren Vortrag vorhin; wir ha-
ben darüber vor zwei Stunden diskutiert – vermutlich
auch dem Kern der SPD steht meiner Ansicht nach im
klaren Widerspruch zu dem vorliegenden Bericht, der
die Sorge zum Ausdruck bringt, dass die Vielzahl der
Datenverarbeitungen und das unaufhörliche Anwachsen
von Datenbeständen es den Bürgerinnen und Bürgern
immer schwerer mache, ihr Recht auf informationelle
Selbstbestimmung auszuüben. Die verpflichtende Vor-
ratsdatenspeicherung trägt genau zu einem solch unauf-
hörlichen Anwachsen von Datenbeständen bei.

Beim Thema Internet, der zentralen Bewährungs-
probe für den Datenschutz unserer Zeit, liefert die Bun-
desregierung bisher nichts außer einer angedeuteten ro-
ten Linie. Frau Piltz, das ist wichtig; jetzt müssen Sie
aufpassen, weil Sie sich eben so gelobt haben.


(Gisela Piltz [FDP]: Wir sind doch nicht in der Schule! Das ist echt unter meiner Würde!)


Die rote Linie des Innenministers erfasst eben nur die
Veröffentlichung von Daten. Nicht erfasst, sondern der
Selbstregulierung überlassen bleiben die Erhebung, die
Speicherung, die Verwaltung, die Weitergabe und die
Kommerzialisierung von Daten; das ist alles ungeregelt.
Da bohren Sie ein wirklich dünnes Brett. Das geht so
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Ich wusste gar nicht, dass ihr so einen Regelungswahn habt!)


Auch die letzten Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichts zur Onlinedurchsuchung und zur Vorrats-
datenspeicherung mit komplexen umfänglichen Maßga-
ben zu den verfassungsrechtlich gebotenen Schutzmaß-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9043

Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

nahmen machen diesen Bedarf überdeutlich. Da haben
Sie nichts getan.

Kollege Mayer hat das Bundesdatenschutzgesetz an-
gesprochen und es sehr milde gesagt. Es ist in der Tat
völlig überholt und in den 70er- und 80er-Jahren stehen
geblieben. Es stellt auf Großrechnertechnologien ab und
geht an den Realitäten im Jahr 2010 völlig vorbei. Wir
brauchen eine Generalrevision dieses Gesetzes, das für
uns die nächsten Jahre ein ganz zentrales Gesetz werden
muss.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das machen wir!)


Ich bin gespannt, was in diesem Bereich erfolgt, wenn es
schon mit der roten Linie so schwierig ist.

Noch wichtiger und grundlegender sind Anstrengun-
gen beim Datenschutz durch Technik. Auch hier muss
der Gesetzgeber tätig werden; denn alle Hoffnungen auf
einen sich selbst entfaltenden Markt der sogenannten
Privacy Enhancing Technologies haben sich nicht hinrei-
chend erfüllt. Bereits ab Werk muss für freiheitswah-
rende Einstellungen und Optionen in Soft- und Hard-
ware gesorgt werden.

Im Datenschutz liegt der entscheidende Weg noch vor
uns. Der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten ist
ein erster Schritt; viele weitere große – und nicht kleine –
Schritte müssen folgen. Die Bürgerinnen und Bürger die-
ses Landes erwarten von uns einen effektiven Schutz ih-
rer Daten.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Debatte war von großer Einmütigkeit geprägt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708129500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des
Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Infor-
mationsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4179, in Kennt-
nis des genannten Berichts auf Drucksache 16/12600
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung sichern

– Drucksache 17/4030 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Gustav Herzog von der SPD-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1708129600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel „Zukunftsfähig-
keit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern“ ist
die Reaktion auf eine Entscheidung des Haushaltsaus-
schusses, die die Koalitionsfraktionen mit Unterstützung
von Grünen und Linken herbeigeführt haben. Das Bun-
desministerium wurde vorgeführt, als Sie deutlich ge-
macht haben, was Sie vorhaben, nämlich dass aus der
bisher sehr gut funktionierenden Ausführungsverwal-
tung lediglich eine Gewährleistungsverwaltung wird.

Ich will in meiner Rede drei Schwerpunkte setzen
– über die Details der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung können wir sicherlich im Verkehrsausschuss reden,
sobald der angeforderte Bericht des Ministeriums vor-
liegt –: Ich will mich als Abgeordneter mit der gesell-
schaftspolitischen Frage beschäftigen, ob es uns um öf-
fentliche Daseinsvorsorge oder um eine reine
Privatisierungsideologie gehen sollte. Ich will mich als
Verkehrspolitiker der Frage stellen, ob Sie sich die rich-
tigen Ziele gesetzt haben, ob Sie ausreichend Mittel zur
Verfügung stellen und ob Sie über die passende Organi-
sation verfügen, um den Ausbau und die Unterhaltung
der Wasserwege zu gewährleisten. Ich stelle mir als So-
zialdemokrat die Frage, wie Sie mit 13 000 Menschen
umgehen, die gute Arbeit geleistet haben. Ich sage Ih-
nen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung haben aufgrund Ihrer Ent-
scheidung keine schöne Weihnacht.


(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)


Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ist vielen
Prüfungen unterzogen worden: durch Kienbaum in den
Jahren 1996/1997


(Patrick Döring [FDP]: Das ist nicht umgesetzt worden!)


und im Rahmen des Gutachtens zu den Kernaufgaben
von 2001. Es gab einen ständigen Personalabbau und
eine ständige Anpassung: Über 27 Prozent der Stellen
sind in den letzten 17 Jahren abgebaut worden. Heute
sind in dieser Verwaltung weniger Menschen beschäf-
tigt, als es die Vorgabe von 2001 vorsah. Ich füge hinzu:
Auch sozialdemokratische Verkehrsminister waren an
diesem Abbau beteiligt.

Wie ist die aktuelle Situation? Ich muss der FDP und
den Grünen ein Kompliment machen: Sie haben ge-
schickte Medienvorarbeit geleistet. Ich lese in der

9044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)

Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21. No-
vember dieses Jahres, dass 13 000 Bürokraten 8 000
Binnenschiffern gegenüberstehen. Ich hätte mir von den
Kollegen Wilms und Staffeldt, die dort zitiert wurden,
schon gewünscht, dass sie auf Folgendes hinweisen: In
dieser Verwaltung sind nicht 13 000 Bürokraten tätig.
Natürlich zählen auch der Staatssekretär und Vertreter
des Ministeriums dazu; aber 70 Prozent der Beschäftig-
ten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung – es ist
wichtig, darauf hinzuweisen – sind Menschen, die in den
Außenbereichen arbeiten, die sich bei jedem Wetter,
auch bei diesem, darum kümmern, dass die Schleusen
und die Sicherheitseinrichtungen funktionieren und die
Bojen Licht geben, dass die Sicherheit auf See und auf
unseren Binnenwasserstraßen gewährleistet ist.

Zudem sind dort über 1 000 Auszubildende tätig. Es
ist eine spannende Frage an die Bundesregierung, wie
die Bundesverwaltung in Zukunft ihre Ausbildungsquote
halten will, wenn die Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung so abgespeckt worden ist. Ich sage Ihnen: Die Lehr-
linge, die Sie in der politischen Führung haben, werden
bei der Ausbildungsquote nicht mitgezählt.


(Beifall bei der SPD)


All Ihre Argumente und Sparappelle wären tatsäch-
lich glaubwürdig, wenn Sie von der FDP sich darange-
macht hätten, die in Ihrem Sparbuch vorgeschlagenen
Maßnahmen umzusetzen. Sie wollten ein Ministerium
abschaffen; jetzt fühlt sich Ihr früherer Generalsekretär
da sehr wohl. Sie wollten die Anzahl der Staatssekretäre
reduzieren; nichts ist passiert. Aber bei den Leuten, die
draußen an den Schleusen arbeiten, wollen Sie einspa-
ren.


(Patrick Döring [FDP]: Da klatscht nicht einmal die SPD! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja eine bittere Wahrheit! Das ist wirklich kein Grund, zu jubeln!)


– Bei bitteren Wahrheiten fehlt einem vielleicht der En-
thusiasmus.

Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis will ich zitieren:

Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bun-
des verfügt über hohe Kompetenz und stellt sich
mit neuen Methoden und Lösungen den veränder-
ten Herausforderungen.

Jetzt hätte ich natürlich donnernden Applaus von der
Koalition erwartet. Warum? Ich habe Ihren Bundes-
minister, Herrn Dr. Peter Ramsauer, zitiert. Das steht auf
Seite 1 einer schönen druckfrischen Broschüre, Ausgabe
11/2010, mit dem sehr interessanten Titel „Gut zu wis-
sen, was dahintersteckt“.

Das ist tatsächlich die Frage: Was steckt dahinter? Sie
haben eine andere verkehrspolitische Konzeption. Sie
haben sich vom integrierten Verkehr verabschiedet. Sie
haben in Ihrem Aktionsplan das Ziel „Verlagerung auf
Schiene und Wasserstraße“ relativiert. Vor allen Dingen
haben Sie mit geschlossenen Finanzierungskreisläufen
die Straße privilegiert.

(Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)


Die gesamten Mauteinnahmen fließen in den Verkehrs-
träger Straße.


(Patrick Döring [FDP]: So, wie alle Trassenentgelte bei der Schiene bleiben!)


Das Haushaltsrisiko und die Auswirkungen der Schul-
denbremse tragen in Zukunft allein die Verkehrsträger
Schiene und Wasserstraße. Das werden wir in den nächs-
ten Jahren erst richtig merken, wenn die Verteilungs-
kämpfe noch härter werden.


(Beifall bei der SPD)


Ich habe nicht den Eindruck, dass es Ihnen um eine
effizientere Organisation geht, was der Bundesrech-
nungshof anmahnt.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Guck an!)


Ihnen geht es darum, vergaberechtlich darauf zu achten,
dass möglichst viele ihr Geld damit verdienen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es!)


Sie missbrauchen die Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung für Ihre Privatisierungsideologie. Das Ganze pas-
siert auf dem Rücken der Beschäftigten, geht zulasten
der Infrastruktur und geschieht auf Kosten des Steuer-
zahlers.


(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Abwegig! – Weiterer Zuruf von der FDP: Wie aus der Phrasendreschmaschine!)


Die öffentliche Verwaltung kann sich diesem Wettbe-
werb stellen, wenn es um Qualität, Sicherheit und Kos-
ten geht. Wenn Sie das einem Sozialdemokraten nicht
glauben wollen,


(Torsten Staffeldt [FDP]: Das fällt uns nicht schwer!)


dann machen Sie einmal eine Dienstreise nach Hessen.
Herr Westerwelle darf zwar nicht mehr nach Rheinland-
Pfalz; aber ich denke, dass Sie Ihren hessischen Ver-
kehrsminister besuchen dürfen. Dessen Vorgänger hat
vor drei Jahren einen Versuch gestartet. Er hat eine Stra-
ßenmeisterei zur Privatisierung ausgeschrieben.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Äpfel mit Birnen vergleichen!)


Es gab einen Wettbewerb mit den anderen Straßenmeis-
tereien. Im Sommer dieses Jahres hat er den Versuch
vorzeitig für beendet erklärt. Er hat gesagt: Die Privaten
waren teurer, die Qualität war nicht so gut, und vor allen
Dingen waren Mängel bei der Sicherheit zu finden. –
Gehen Sie einmal nach Hessen.

Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokraten treten für mehr
Transport auf der Wasserstraße ein. Dafür brauchen wir
eine leistungsfähige und regional verankerte Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung.

Zum Abschluss noch an die Adresse unserer mariti-
men Freunde: Es nützt nichts, mit voller Kraft vorauszu-
fahren, wenn das Ruder falsch eingestellt ist.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9045

Gustav Herzog


(A) (C)



(D)(B)

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Torsten Staffeldt [FDP]: Bei euch ist das Ruder blockiert! Das dreht sich nur linksherum! Das ist das Problem!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708129700

Das Wort hat der Kollege Matthias Lietz von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Matthias Lietz (CDU):
Rede ID: ID1708129800

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Ab-

geordnete! Kollege Herzog, auch ich möchte zu Beginn
zurückblicken: Bereits 1999 richtete das Verkehrsminis-
terium die Projektgruppe „Entwicklungskonzepte für
eine zukunftsorientierte WSV – Konzentration der WSV
auf Kernaufgaben“ ein. Vor dem Hintergrund bisheriger
und künftiger Personaleinsparungen sowie knapper wer-
dender Haushaltsmittel sollten die künftige Aufgaben-
struktur und konkrete Umsetzungsvorschläge ermittelt
werden. Ziel des Gutachtens war die zukunftsfähige Ge-
staltung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes. Mit Blick auf eine künftige Aufgabenstruktur
und ihre Kernaufgaben wurde unter anderem Folgendes
geprüft: Welche Aufgaben müssen oder sollen von der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit welcher Intensi-
tät selbst wahrgenommen werden und welche nicht?
Welche Aufgaben können oder sollen durch Dritte wahr-
genommen werden, und welche Aufgaben können sogar
ganz entfallen? Der Abschlussbericht wurde 2001 vorge-
legt.

Heute stellt sich natürlich die Frage: Was wurde aus
dem Gutachten der Projektgruppe, und was wurde von
den damaligen Ergebnissen bis heute umgesetzt?

Seit einem Jahr wird das Verkehrsministerium von ei-
nem Minister der christlich-liberalen Koalition geführt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja das Problem! – Florian Pronold [SPD]: „Geführt“ eigentlich nicht! „Geführt“ ist übertrieben!)


Bis dahin – das haben Sie hier selbst erwähnt –, also bis
zum Herbst des Jahres 2009, lag das Verkehrsministe-
rium in der Verantwortung der SPD. Es ist daher interes-
sant, dass der Antrag „Zukunftsfähigkeit der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung sichern“ ausgerechnet von
Ihnen vorgelegt wurde.

Im Abschlussbericht von 2001 nennt die Projekt-
gruppe beispielsweise für Aufgaben, die der Gewährleis-
tungsverantwortung zugeordnet und auch durch Dritte
erbracht werden können, ein theoretisches Einsparpoten-
zial von 6 200 Dienstposten bei damals rund 15 000 Mit-
arbeitern.


(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Bei Umsetzung der Vorschläge wäre ein künftiger Perso-
nalumfang von 8 800 Dienstposten bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung denkbar. Bis zum Ende ihrer Ver-
antwortung im Ministerium hat die SPD darauf verzich-
tet, auch nur annähernd einen Weg zur Erreichung dieses
Zieles zu beschreiten. Stattdessen hat man sich immer
für die Zementierung bestehender Strukturen entschie-
den.


(Gustav Herzog [SPD]: Wir wussten eben, was wichtig ist!)


Sie haben sich von Ihrem Leitbild eines aktivierenden
Staates verabschiedet, in dem der Staat nicht einfach we-
niger, sondern anders werden muss.


(Florian Pronold [SPD]: Haben Sie einmal geschaut, welche Aufgaben es gibt?)


Wenn man über Ihr Leitbild liest, kommt man zu dem
Schluss, dass statt einer Zementierung der Durchfüh-
rungsverwaltung ein Schritt zu mehr Gewährleistungs-
verantwortung der richtige Ansatz zur Reform der WSV
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Was heißt das auf Deutsch?)


In Ihrem heute vorliegenden Antrag erwähnen Sie die
gemeinsame Vereinbarung von 2005 und beklagen sich,
dass diese Vereinbarung ausgelaufen ist und nicht ver-
längert wurde. Eines kann ich Ihnen in diesem Zusam-
menhang versichern: Wir werden uns als Koalition ge-
nau überlegen, wie wir künftig eine Vereinbarung
gestalten. Wir unterstützen eine echte Reform der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest machen und
uns nicht nur auf die Optimierung bestehender Ge-
schäftsabläufe beschränken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Das heißt konkret?)


Wir unterstützen eine echte Aufgabenkritik und eine
Überprüfung der bisherigen Reformschritte bei der Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung.

Ich bin mir sicher: Eine echte Reform ist nur in einem
engen Dialog mit den Beschäftigten, ihren Interessen-
vertretungen sowie mit den Gewerkschaften auf den
Weg zu bringen. Dabei müssen beide Seiten vorurteils-
und ideologiefrei in den Dialog eintreten. Ich sage nicht,
dass die Gespräche ohne intensive Debatte verlaufen
werden; aber keine Seite sollte sich bereits jetzt auf un-
verrückbare Positionen versteifen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr vernünftig!)


Noch bevor der Bericht aus dem Ministerium überhaupt
vorliegt und somit noch gar nicht klar ist, welche
Schritte die Regierung konkret ergreifen wird, ist es un-
nütz, hier und heute über eine mögliche Zerschlagung
der Strukturen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
zu reden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die vom Bundesrechnungshof angemahnte Organisa-
tionsreform ist notwendig. Wie diese konkret aussieht,
werden wir erst – so ist es angekündigt – nach dem
26. Januar 2011 entscheiden können, wissend, dass auch
die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung den kommenden

9046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Matthias Lietz


(A) (C)



(D)(B)

Reformprozess konstruktiv begleiten will. Mit Ihrem
Antrag wollen Sie erreichen, dass krampfhaft an der bis-
herigen Struktur festgehalten wird. Darüber hinaus for-
dern Sie eine Aufstockung des bestehenden Personals.
Das sichert nicht die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung, sondern verhindert eine effi-
ziente, langfristige und kritische Betrachtung der Aufga-
benerledigung.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708129900

Das Wort hat der Kollege Roland Claus von der Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708130000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für den

Fall, dass uns noch jemand außerhalb dieses Plenarsaals
wahrnimmt: Wir reden hier über eine Beschäftigten-
gruppe, die selten im Rampenlicht steht, aber wichtige
Aufgaben erfüllt. Wir reden über die Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung des Bundes, die WSV. Es geht hier im
besten Sinne des Wortes um einen öffentlichen Dienst
mit etwa 13 000 Mitarbeitern, um eine Verwaltung, die
wir als Abgeordnete oder auch Bürgerinnen und Bürger
keinesfalls alltäglich wahrnehmen, aber der wir viel häu-
figer begegnen, als wir es wahrnehmen, sei es, wenn wir
mit dem Schiff in Berlin auf der Spree fahren, sei es,
wenn wir als Käufer von Produkten aus Übersee in Er-
scheinung treten. Die Sache ist uns also lieb und teuer.
Deshalb ist es gut, dass die SPD diesen Antrag einbringt,
in dem es heißt: Der WSV als leistungsfähiger Institu-
tion muss eine Zukunft gegeben werden. Wir wollen den
öffentlichen Dienst erhalten und modernisieren und
nicht zerschlagen. – Dem wird die Linke zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Grundkonflikt, der hier besteht, ist mit zwei sehr
sperrigen bürokratischen Begriffen besetzt, die ich über-
setzen muss. Der erste Begriff lautet „Ausführungsver-
waltung“. Dabei geht es um eine Verwaltung, die selbst
tun kann, was notwendig ist. Ein Beispiel: Eine Schleuse
muss repariert werden. Die Verwaltung ist in der Lage,
die Schleuse zu reparieren. – Der zweite sperrige Begriff
lautet „Gewährleistungsverwaltung“. Er bedeutet: Was
zu tun ist, soll anderen übertragen werden. Im genannten
Beispiel muss man also jemanden suchen, der die
Schleuse reparieren kann. Wir sagen, um das klarzustel-
len, ganz deutlich: Die Linke will, dass die WSV selbst
handeln kann.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Allerdings wollen wir wissen, was die Bundesregie-
rung vorhat, über Jahre aber nicht öffentlich vorgetragen
hat. Deshalb – nur deshalb – haben wir im Haushaltsaus-
schuss dafür gestimmt, dass bis zum 26. Januar nächsten
Jahres ein Bericht vorzulegen ist. Wir wollen, dass die
Karten auf dem Tisch liegen. Erst dann können wir ent-
scheiden.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sagen ganz deutlich: Wir wollen keine als Ge-
währleistung getarnte Privatisierung der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Das Bundesverkehrsministe-
rium müsste eigentlich noch wissen, wohin das führt;
denn es ist auch Bundesbauministerium. Bei der Sanie-
rung Ihres eigenen Hauses in der Invalidenstraße hier in
Berlin ist Ihnen selbiges fast auf den Kopf gestürzt,
nachdem Sie die Bauaufsicht privatisiert haben. Liebe
Bundesregierung, aus Fehlern kann man klug oder stur
werden. Sie müssen selbst entscheiden, welchen Weg
Sie gehen.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Die Geschichte mit den volkseigenen Betrieben ist schon ein bisschen länger her!)


Allerdings muss auch die sozialdemokratische Frak-
tion an die Zeit erinnert werden, als sie noch den Traum
von Tony Blair und Gerhard Schröder träumte. Er ging
so: Wir von der SPD können Privatisierung besser als
CDU, CSU und FDP.


(Sebastian Körber [FDP]: Absoluter Unsinn!)


Immerhin stammt das Konzept, das Sie jetzt kritisieren,
aus dem Jahre 2001. Damals gab es eine rot-grüne Bun-
desregierung und einen sozialdemokratischen Verkehrs-
minister, wenn ich das einigermaßen richtig erinnere. Sei
es drum: Eine SPD-Fraktion minus Agenda 2010 ist mir
allemal lieber als eine Agenda-SPD. Deshalb stimmen
wir Ihrem Antrag zu. Wenn auch der Bericht vorliegt,
können wir für Klarheit sorgen. Wir sagen: Klarheit ja,
Privatisierung nein.


(Beifall bei der LINKEN)


In diesem Sinne habe ich eine kleine lokalpatriotische
Bitte an die WSV. Es gibt in Magdeburg-Rothensee ein
sehr traditionsreiches Schiffshebewerk, das seit 2006 au-
ßer Betrieb ist. Es handelt sich um ein technisches Denk-
mal. Wir setzen uns dafür ein, dass dieses technische
Denkmal erhalten bleibt. Wir sind für die Zukunft der
WSV. Also sollte sich die WSV auch ein Stück weit für
die Zukunft dieses technischen Denkmals einsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708130100

Das Wort hat jetzt der Kollege Torsten Staffeldt von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1708130200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wie-

der einmal bezeichnend, dass sich die Linke für Denk-
mäler einsetzt.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie machen es ja nicht! – Cornelia Behm [BÜND Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9047 Torsten Staffeldt NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das tun wir auch!)


(A) (C)


(D)(B)


Ich beginne mit einem Zitat:

Gerade wer das Bewahrenswerte bewahren will,
muss verändern, was der Erneuerung bedarf.


(Florian Pronold [SPD]: Ja! Aber damit kann man nicht jeden Schmarrn begründen!)


Meine Damen und Herren, es mag für die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD vielleicht überraschend sein,
aber dieses Zitat stammt von Willy Brandt. Es steht in
völligem Widerspruch zu dem, was wir gerade vom Kol-
legen Herzog gehört haben.


(Florian Pronold [SPD]: Aber Willy Brandt hätte bestimmt nie die Wasserund Schifffahrtsverwaltung privatisiert! Das ist der Unterschied!)


– Sie sollten lieber das beherzigen, was Willy Brandt ge-
sagt hat; denn er war zukunftsgerichteter als Sie heute.


(Florian Pronold [SPD]: Ist die FDP schon so orientierungslos, dass sie sich an Willy Brandt orientiert?)


Meine Damen und Herren, was ist geschehen? Wir
haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir ein
Gesetz zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung vorlegen werden. Ursache dafür ist, dass die bishe-
rigen SPD-Verkehrsminister dies nie geschafft haben
oder schaffen wollten. Seit 1998 haben Sie fünfmal – mit
den Ministern Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe
und Tiefensee – die Chance gehabt, die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung zu reformieren. Sie haben es
nicht geschafft.


(Gustav Herzog [SPD]: Wir haben sie reformiert, aber Sie haben es zerschlagen!)


Auch jetzt will die SPD das nicht und spielt sich hier
als Retter der Bedrohten auf. Da werden Horrorszena-
rien und Untergangsvisionen an die Wand gemalt. Ich
möchte gerne ein paar Beispiele aus der Presse der letz-
ten Monate zitieren. So sagte etwa der Kollege Gustav
Herzog am 4. November: Die Koalition hat sich vorge-
nommen, diese Behörde auf Biegen und Brechen zu de-
montieren.

Der Kollege Johannes Kahrs aus Hamburg, der jetzt
nicht da ist, sagte:

Hier soll nach dem Willen der Koalition eine Be-
hörde … kaputtmodernisiert werden.

Immerhin redet der Kollege Kahrs von Modernisie-
rung und nicht von Demontage wie der Kollege Herzog.

Mein Bremerhavener Kollege Uwe Beckmeyer, der
leider auch nicht da ist, wusste bereits am 26. Juni, was
kommen wird; denn er behauptete: Das kommt einer
Zerschlagung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
gleich.

Es gab Beschimpfungen und Unterstellungen der
Kollegen aus der SPD in der Öffentlichkeit. Das alles
war völlig sach- und fachfremd und ohne jegliche inhalt-
liche Auseinandersetzung mit dem, was wir mit dieser
Reform eigentlich vorhaben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Ich finde die Aussage angesichts Ihrer Vorhaben eher harmlos!)


Meine Damen und Herren, Sie behaupten, dass unsere
Reform zu Problemen bei der Schifffahrt führen wird.
Sie lehnen jede Veränderung ab.


(Florian Pronold [SPD]: Das ist nicht wahr!)


Herr Herzog, Sie haben eben das Beispiel mit dem
schönen Weihnachten für die Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter gebracht. Sie verunsichern doch die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, wenn Sie von ei-
nem Stellenabbau sprechen, der angeblich 6 000
Menschen betrifft. Das ist völlig absurd. Diese Zahl ha-
ben Sie sich aus den Fingern gesogen.


(Gustav Herzog [SPD]: Nein, das ist Ihr Ziel!)


– Nein, das ist nicht unser Ziel. Unser Ziel ist es, die Ver-
waltung zukunftsfähig zu gestalten. Aber darauf komme
ich noch.

Ich will sagen: Sie sind die Brandstifter, die erst Feuer
legen und sich hinterher als Feuerwehr aufspielen wol-
len.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Und das bei einer Wasserund Schifffahrtsverwaltung!)


Sie sind das eigentliche Problem. Eigentlich hätte ich
das eher – das muss ich in diesem Falle sagen – von der
Dagegen-Partei, nämlich von den Grünen erwartet.


(Florian Pronold [SPD]: Sie sollten sich einen besseren Redenschreiber suchen!)


Zu den Fakten. Viele Berichte des Bundesrechnungs-
hofs weisen nach, dass eine wirkliche Reform längst
überfällig ist. Wenn man die Berichte aufmerksam liest,
stellt man fest, dass die Ursache vieler Probleme in der
Struktur der Verwaltung liegt. Viele Köche verderben
den Brei, könnte man auch ganz platt sagen. Der Bun-
desrechnungshof mahnt einen ernsthaften ganzheitlichen
und nachhaltigen Sanierungsprozess bei der WSV an,
und das hat seinen Grund.

Der behauptete Stellenabbau in der Verwaltung hat
nicht stattgefunden; darauf hat der Kollege Lietz eben
schon hingewiesen. Die Verwaltung beschäftigt nämlich
nahezu genauso viele Menschen wie 2001, nämlich in
etwa 14 400 und nicht 13 000, wie hier immer gesagt
wird. Gemäß der Antwort auf eine Anfrage der Grünen
vom Sommer dieses Jahres sind es 14 400.


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist der Unterschied zwischen Stellen und Beschäftigten!)


Das entsprechende Beispiel haben wir schon gehabt. Das
ist, bezogen auf die Gesamtlänge der Schifffahrtsstra-
ßen, so, dass etwa alle 500 Meter ein Mitarbeiter oder
eine Mitarbeiterin stehen müsste.

Die seit langem geforderte und in § 7 der Bundes-
haushaltsordnung geforderte Prüfung der Vergabe von

9048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Torsten Staffeldt


(A) (C)



(D)(B)

Arbeiten an Externe, wenn es denn wirtschaftlich sinn-
voll ist, wird seit Jahren durch unklare Ausschreibungs-
bedingungen und nicht vollkostenorientierte Vergleiche
unterlaufen. Anstatt umzusteuern wird sogar noch einer
draufgesetzt, indem heutzutage darüber nachgedacht
wird, wieder einen Bagger auf Kosten der Schifffahrts-
verwaltung einzusetzen, um angeblich einen Markt her-
zustellen, der so nicht vorhanden wäre.


(Gustav Herzog [SPD]: Legen Sie doch einmal die Zahlen vor, dass die Vergabe günstiger ist!)


Wenn wir Märkte schaffen wollen, dann müssen wir
den Anbietern am Markt die Möglichkeit geben, Geld zu
verdienen.


(Gustav Herzog [SPD]: Darum geht es Ihnen!)


Das heißt, wir müssen die Ausschreibungszeiträume und
die Vergabezeiträume so gestalten, dass es auch Sinn
macht. Die Verwaltung macht das Gegenteil.


(Florian Pronold [SPD]: Es geht nicht darum, Geld zulasten der Steuerzahler zu verdienen! Eine Vergabe muss günstiger für den Steuerzahler sein! – Gegenruf von der FDP: Ist sie ja auch!)


– Genau so ist es. Die Vergabe wird auch günstiger sein,
wenn man eine Vollkostenrechnung betrachtet, lieber
Kollege.


(Florian Pronold [SPD]: Traue keiner Statistik, die die FDP nicht selber gefälscht hat!)


Das Motto der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
lautet nicht: „Wir machen Schifffahrt“, sondern das
Motto lautet: „Wir machen Schifffahrt möglich.“ – Wa-
rum also müssen Seezeichen, umgangssprachlich Bojen
oder seemännisch auch Tonnen genannt, von einer Be-
hörde verlegt werden? Das muss keineswegs zwangsläu-
fig so sein. Die Handelskammer Bremen beispielsweise
hat über Jahrhunderte die Tonnen gelegt, um Bremen für
die Schifffahrt erreichbar zu machen. Erst später wurden
diese Aufgaben vom Staat übernommen. Das Gleiche
gilt für die Schleusen, die nicht unbedingt staatlich be-
trieben werden müssen, und auch für Schiffskonstruktio-
nen. Es wurden eierlegende Wollmilchsäue konzipiert
und zu astronomischen Kosten gebaut, die hinterher aber
trotzdem nicht nutzbar waren.

Das alles sind Beispiele dafür, dass es zwingend not-
wendig ist, diese Behörde zu reformieren, zu erneuern
und für die Zukunft fit zu machen. Das ist unsere Auf-
gabe.

Die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrts-
verwaltung liegt uns am Herzen. Die Schifffahrt auf See
und auf Binnenrevieren muss effektiv und möglich sein.
Wir werden daher den Umbau mit dem Ziel betreiben,
die Effizienz zu steigern. Die Verwaltung wird langfris-
tig und sozialverträglich zunehmend zum TÜV und we-
niger zur Autowerkstatt für Wasserstraßen, um das
Ganze einmal ein bisschen anschaulicher zu machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden weiter
benötigt, weil sie als Einzige über das detaillierte Know-
how verfügen, um Vergaben auch durchführen, kontrol-
lieren und bewerten zu können. Deswegen sind Ihre An-
sätze völlig abstrus. Das, was Sie hier in die Öffentlich-
keit hinein propagieren, ist völlig abstrus und absurd.


(Gustav Herzog [SPD]: Wir werden sehen!)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich komme
zum Ende.


(Florian Pronold [SPD]: Das ist gut! Die erste positive Botschaft!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708130300

Schnell, bitte.


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1708130400

Ja. – Wir haben Verantwortung für die Mitarbeiterin-

nen und Mitarbeiter der Schifffahrtsverwaltung über-
nommen. Vor allem haben wir aber auch eine Verant-
wortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern
unseres Landes, den Steuerzahlerinnen und Steuerzah-
lern, dafür übernommen,


(Florian Pronold [SPD]: Dann stimmen Sie unserem Antrag zu!)


sinnvoll und effektiv mit den Mitteln umzugehen, die
uns zur Verfügung gestellt werden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708130500

Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708130600

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben jetzt ja schon eine ganze Menge gehört. In die
Historie sind wir vom Kollegen Lietz eingeführt worden,
und Kollege Claus hat es irgendwie geschafft, auch noch
die Agenda 2010 einfließen zu lassen. Es hat mich doch
ganz schön gewundert, dass das mit der Zukunftsfähig-
keit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Verbin-
dung zu bringen sein soll.

Ich möchte jetzt wieder auf das zurückkommen, was
auch Kollege Staffeldt angesprochen hat, nämlich auf
die Erfahrungen mit der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung, und das ansprechen, was hinter dieser Verwaltung
steckt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein an-
strengendes Jahr hinter uns und freuen uns jetzt wirklich
endlich auf Weihnachten, auch wenn durch dieses Fest
bei manchem zwiespältige Gefühle ausgelöst werden.
Manche Weihnachtsgeschenke sind schön verpackt, aber
Enttäuschung macht sich breit, wenn man hineinschaut.
Dieses Gefühl habe ich leider auch bei dem Antrag der
SPD.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9049

Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)

Sie reden von der Zukunftsfähigkeit der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Ihre Hauptforderung besteht je-
doch darin, alles so zu lassen, wie es ist.


(Gustav Herzog [SPD]: Dann haben Sie nicht richtig gelesen!)


Für zukunftsfähige Lösungen ist es aber erforderlich,
erstens die Probleme zu erkennen, zweitens sie zu unter-
suchen und drittens wirkliche Verbesserungsvorschläge
zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie tun aber nichts davon. Sie ignorieren, dass die Bedin-
gungen an den Wasserstraßen und in den Direktionen
unterschiedlich sind.

Ich gebe Ihnen recht, dass wir zum Beispiel eine leis-
tungsfähige Struktur für den Seeverkehr brauchen. Herr
Staffeldt, Sie kennen das ja auch. Sie müssen aber bitte
auch eines zur Kenntnis nehmen: Trotz Investitionen in
Milliardenhöhe stagniert die Binnenschifffahrt seit
20 Jahren. Sie scheren aber alles über einen Kamm. Da-
mit werden Sie vor allem den Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern nicht gerecht. Die Menschen verlangen Ehr-
lichkeit. Das ist oft nicht populär. Es ist aber nun einmal
unsere Aufgabe, das Gemeinwohl und nicht die Interes-
sen einer Verwaltung im Blick zu haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Torsten Staffeldt [FDP] – Florian Pronold [SPD]: Hier spricht die grüne FDP!)


Wir müssen uns deswegen genau ansehen, was vor
Ort los ist. Ich habe mir im jetzt zu Ende gehenden Jahr
viel Zeit genommen und alle sieben Direktionen im Bun-
desgebiet und das BSH besucht und vor allem auch in-
tensive Fachgespräche mit den Mitarbeitern über die
dort stattfindenden Arbeiten geführt. Ich habe dort viel
Beeindruckendes gesehen. Vielfach habe ich gute An-
sätze dafür kennengelernt, wie man die Verwaltung effi-
zienter machen und auf neue Ziele ausrichten kann.

Aber auch die Defizite sind sehr offensichtlich: Es
existieren zu viele Ideen, Strukturen und Vorschläge ne-
beneinander. Die linke Hand weiß einfach viel zu oft
nicht, was die rechte macht. Trotz Gutachten, Arbeits-
gruppen und deutlicher Kritik vom Bundesrechnungshof
ist hier sowohl unter Unions- wie zum Schluss auch un-
ter SPD-Führung im Verkehrsministerium nichts, aber
auch gar nichts Substanzielles passiert.

Mit dieser permanenten Problemignoranz geschieht
genau das, was die SPD mit ihrem Antrag eigentlich ver-
hindern will: Die Haushälter machen uns nämlich den
Hahn dicht; sie sperren uns das Geld, weil nichts pas-
siert. Damit werden einfach nur Stellen abgebaut, aber
die Struktur wird nicht verändert. Das Ergebnis wird
dann tatsächlich eine schlechtere Bewirtschaftung der
Bundeswasserstraßen sein.

Werte Kolleginnen und Kollegen, was wir jetzt wirk-
lich brauchen, ist eine fundierte Analyse unserer Bun-
deswasserstraßen. Wir müssen fragen: Wo findet der
Verkehr statt? Welche Wasserstraßen müssen erweitert
und saniert werden? Wie können wir die natürlichen Be-
dingungen unserer Flusslandschaften erhalten? Erst
müssen wir darauf ehrliche Antworten finden, und dann
können wir sagen, welche Verwaltung wir dafür an wel-
cher Stelle und mit welchen Kompetenzen brauchen.

Ich begrüße deswegen ausdrücklich die Signale aus
dem Verkehrsministerium, Herr Ferlemann:


(Gustav Herzog [SPD]: Das ist aber jetzt sehr interessant! – Florian Pronold [SPD]: Jamaika!)


Jetzt wird eine Überprüfung der Wasserstraßen für das
nächste Jahr angekündigt. Diese ist verdammt lange
überfällig.

Den Damen und Herren von der Koalition kann ich
hier nur eine im Auftrag meiner Fraktion erarbeitete Stu-
die empfehlen. Wir sind eine konstruktive Opposition,


(Lachen des Parl. Staatssekretärs HansJoachim Otto – Zuruf von der CDU/CSU: Selten so gelacht!)


und wir haben gar nichts dagegen, wenn Sie, Herr
Ferlemann, einmal bei uns abschreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Ministerium muss jetzt endlich sagen, wohin die
Reise gehen soll. Wir werden uns daran aktiv und kon-
struktiv beteiligen.

An die Kollegen von der SPD appelliere ich: Lassen
Sie hier die Fundamentalopposition beiseite und beteili-
gen Sie sich konstruktiv.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Der Beifall kommt von der falschen Seite! Das sollte Sie sehr nachdenklich machen!)


Wer eine Reform blockiert, schädigt nachhaltig die Zu-
kunft unserer Wasserstraßen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708130700

Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Das tut nach solchem Unsinn gut!)



Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1708130800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Nach dem letzten Beitrag hätte ich
meine Rede fast umschreiben müssen, aber der Antrag,
über den wir heute sprechen, setzt sich mit der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung des Bundes auseinander. Das

9050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)

ist ein Thema, dessen Bedeutung in der Tat nicht unter-
schätzt werden darf.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Als ich den Titel des Antrags las, war ich überrascht:
„Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung sichern“ – das ist ein Herzensanliegen der Union.
Sollten die Sozialdemokraten vernünftig geworden sein,
Herr Kollege Herzog?


(Gustav Herzog [SPD]: Wir sind immer vernünftig!)


Nein, das Undenkbare ist nicht geschehen. Die SPD tut
das, was sie am besten kann: Sie geht auf Distanz zu sich
selbst, verleugnet die Reformen der Regierung Schröder,
ignoriert die Zukunft und lebt mit Begeisterung in der
Vergangenheit.


(Florian Pronold [SPD]: Was denn jetzt? Vorher haben wir nichts gemacht, jetzt haben wir zu viel gemacht! Können Sie sich mal einigen, was der Vorwurf ist?)


Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
haben fast alle hier vertretenen Parteien das Bundes-
ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf-
gefordert, bis zum 26. Januar des nächsten Jahres einen
Bericht über den Umbau der Wasser- und Schifffahrts-
verwaltung von einer Ausführungs- zu einer Gewährleis-
tungsverwaltung vorzulegen. Grundlage dafür sollten
die Ergebnisse einer Projektgruppe aus der Schröder-
Zeit sein. Es ist klar, dass es die Sozialdemokraten wa-
ren, die sich ihren eigenen Erkenntnissen verweigerten.
Sie stimmten wieder gegen sich selbst.


(Gustav Herzog [SPD]: Nein, nein! Wir haben die Erkenntnisse genau geprüft und nur das umgesetzt, was vernünftig ist!)


Wir als Union wollen den Wandel, wir wollen die Zu-
kunft:


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Da klatscht aber nur die Hälfte bei Ihnen!)


Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wird zusätzli-
che Aufgaben erhalten, ohne alte Kernkompetenzen zu
verlieren. Wir denken dabei an Natur- und Umwelt-
schutz, Wasserwirtschaft und Wassertourismus. Auch
die Gewährleistung der ökologischen Durchgängigkeit
an Stauanlagen soll in den Aufgabenkatalog der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung aufgenommen werden.

Die Welt dreht sich, die Welt bewegt sich und verän-
dert sich. Auch wir müssen uns verändern, um zu blei-
ben. Das gilt auch für Sie. Die Dinosaurier konnten sich
nicht schnell genug anpassen.


(Florian Pronold [SPD]: Mit solchen Sprüchen kann man jeden Unsinn begründen!)


Deren Schicksal wollen wir der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung ersparen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das, was andere besser können, soll die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung an andere vergeben. Die Kern-
kompetenzen dieser Verwaltung werden wir nicht antas-
ten. Privatisierung darf nicht zu einem Kompetenzver-
lust des Staates führen. Die Privatisierung staatlicher
Aufgaben findet ihre Grenze in der Verantwortung für
das Gemeinwohl.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]: Das müssen Sie aber in die Tat umsetzen!)


Für uns bedeutet dies, dass hoheitliche und sicher-
heitsrelevante Aufgaben auch weiterhin von der Wasser-
und Schifffahrtsverwaltung erledigt werden müssen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)


Wir wollen keinen trägen und verfetteten Staat. Wir wol-
len einen starken und schlanken Staat, der entschieden
durchgreift, wo es nötig ist, aber auch nur da. Dieser
Staat kann dann Aufgaben der Baudurchführung,
Schleusendecks- und Fährdienste, Fahrwasserausbagge-
rung und planbare Unterhaltungsmaßnahmen an Dritte
vergeben, wenn er die Fähigkeit behält, deren Leistung
zu beurteilen und zu überwachen. Das ist der entschei-
dende Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Wir werden ein paar Berichte anfordern! – Florian Pronold [SPD]: Wird es billiger oder teurer für den Steuerzahler?)


Ich glaube nicht, dass wir durch diese moderaten
Maßnahmen Leistungs- und Sicherheitseinbußen hin-
nehmen müssen. Im Gegenteil: Nach einer Entschla-
ckung geht es im Normalfall immer wieder besser.

Aber lassen Sie mich bitte noch auf diejenigen zu
sprechen kommen, die am meisten von dem Wandel be-
troffen sind: die Menschen in der Wasser- und Schiff-
fahrtsverwaltung. Neben dem Titel gibt es einen wahren
Satz in Ihrem Antrag:

Die wichtigste Ressource der WSV ist ihr Personal.


(Gustav Herzog [SPD]: Das legen Sie sich unter das Kopfkissen!)


Das kann ich nur unterschreiben. Die Mitarbeiter brau-
chen klare Ansagen und verlässliche Rahmenbedingun-
gen.

Meine Besuche vor allem im Wasser- und Schiff-
fahrtsamt in meiner Heimatstadt Wilhelmshaven haben
mir gezeigt, dass hier hochmotivierte Menschen hart ar-
beiten. Sie sind der Zukunft zugewandt und offen für
neue Aufgaben.

Wenn ich allerdings in der Zeitung lese – das kam auch
in Ihrem Beitrag zur Sprache, Herr Kollege Herzog –,
dass SPD-Politiker auch bei mir vor Ort das Amt heim-
suchen, um dort Angst zu schüren, Panik zu verbreiten
und den nahenden Weltuntergang in den grellsten Farben
schildern,


(Torsten Staffeldt [FDP]: Brandstifter!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9051

Hans-Werner Kammer


(A) (C)



(D)(B)

dann verstehe ich, dass die Motivation leidet. Dies
würde auch mir aufs Gemüt schlagen.


(Florian Pronold [SPD]: Das kann ich mir bei Ihrem Gemüt gar nicht vorstellen!)


Motivation statt Resignation und Aufbruch statt Läh-
mung: Das sind die Devisen der Union. Deshalb werden
die neuen Aufgaben der Wasser- und Schifffahrtsverwal-
tung auch im Bereich des Personals Konsequenzen ha-
ben: Im Bereich der hoheitlichen und sicherheitsrelevan-
ten Aufgaben wird es grundsätzlich keinen Stellenabbau
geben. Unser aller Sicherheit kann nur von Profis garan-
tiert werden. Das wissen wir. Das schätzen wir. Das ga-
rantieren wir.


(Gustav Herzog [SPD]: Die Häuptlinge bleiben, die Indianer werden in die Wüste geschickt!)


– Wir schicken niemanden in die Wüste. Das können Sie
vielleicht besser.

Es gibt derzeit bedauerlicherweise eine betrübliche
Entwicklung: Wir haben zurzeit ein Moratorium bei der
Wiederbesetzung vakanter Stellen in der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Wir haben einen Beförderungs-
stopp beim gehobenen und höheren Dienst.


(Gustav Herzog [SPD]: Das motiviert!)


Leidtragende sind die engagierten Mitarbeiter des Was-
ser- und Schifffahrtsamtes in Wilhelmshaven und ihre
vielen Kollegen in der ganzen Bundesrepublik. Deshalb
hat der Haushaltsausschuss beschlossen, diese Maßnah-
men aufzuheben, wenn das Bundesministerium für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung einen aussagefähigen
Bericht vorlegt. Nur eine Partei hat gegen die Aufhe-
bung des Beförderungsstopps gestimmt: die SPD.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ach nee!)


Gleichzeitig will die SPD die WSV wie eine basisde-
mokratische Kolchose im öffentlichen Dienst führen.
Solche Experimente sind noch öfter gescheitert als so-
zialdemokratische Regierungen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb lehnen wir so rückwärtsgewandte Anträge
ab. Für uns ist klar: Schifffahrt tut not. Machen wir sie
möglich. Eine starke maritime Wirtschaft braucht eine
starke Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Nehmen wir
Kurs auf die Zukunft.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Gustav Herzog [SPD]: Sie nehmen Kurs auf die Vergangenheit!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708130900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4030 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU

(Kyffhäuser)

terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertrie-
benen – Aussöhnung vollenden

– Drucksache 17/4193 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1708131000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Am 5. August 1950 gaben sich in Stuttgart Vertreter
der Vertriebenen die Charta der deutschen Heimatvertrie-
benen. Sie gilt seither als Grundgesetz der deutschen
Heimatvertriebenen. Sie gehört zu den Gründungsdoku-
menten unseres Landes, und sie ist untrennbar mit der Er-
folgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland verbun-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Grundgesetz der Vertriebenen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, darf als schriftlicher Ausdruck der
Entschlossenheit der damaligen Heimatvertriebenen gel-
ten, ihren Beitrag zum Wiederaufbau in Deutschland und
zum Frieden in Europa zu leisten. Dieser dann tatsäch-
lich und in beispielhafter Weise geleistete Beitrag wurde
vom Deutschen Bundestag in einem Entschließungsan-
trag vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Endes
des Zweiten Weltkriegs gewürdigt.

Ziel des nunmehr eingebrachten Antrags ist es, die
Leistung der Heimatvertriebenen erneut zu unterstrei-
chen und dafür Sorge zu tragen, dass der Heimatverlust
von 14 Millionen Deutschen zum Mahnmal für alle Ver-
treibungen der Gegenwart gemacht wird. Revisionis-
musabsichten sind damit freilich ebenso wenig verbun-
den wie Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust und
anderer Verbrechen rund um den Zweiten Weltkrieg zu
leugnen.

9052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

Sieben Forderungen werden nun von uns erhoben, die
allesamt dem Ziel der Vollendung der Versöhnung die-
nen. Einige Forderungen sind wissenschaftlicher Natur
wie die systematische Erfassung von Zeitzeugenberich-
ten oder die Nachwuchsförderung im akademischen Be-
reich angesichts auslaufender Stiftungsprofessuren im
Bereich „Geschichte der Deutschen im östlichen Eu-
ropa“. Andere unserer Vorschläge haben einen wertvol-
len kollektivpädagogischen Charakter wie etwa der inte-
ressante Vorschlag der Deklarierung des 5. August zum
bundesweiten Gedenktag für die Opfer der Vertreibung
oder der Appell zur Unterstützung der Arbeit der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“.

Am Wichtigsten erscheint mir indes die ganz am An-
fang gestellte Forderung nach pragmatischer Zukunfts-
orientierung und nationaler Selbstversöhnung. Tatsäch-
lich sind es ja weniger die Vertreiber von damals, die
einer Aussöhnung im Wege stehen; teilweise sind wir es
eher selbst. Ich denke hierbei beispielsweise an die Kol-
leginnen und Kollegen, die ganz links in diesem Hohen
Hause sitzen und aus ideologischen Gründen den deut-
schen Vertriebenen die berechtigte Aufmerksamkeit bis
heute vorenthalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie setzen damit das böse Werk der DDR fort, die
Gleiches tat. In Zeiten der deutschen Teilung galten die
Vertriebenen im Osten als unliebsam. Ihr Schicksal
wurde vom SED-Staat verharmlost und ihrem Schmerz
des Heimatverlustes noch die Demütigung des Leid Ig-
norierens hinzugefügt.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Diese beschämende Vernachlässigung hat zwar 1990 mit
dem Ende der DDR-Diktatur nachgelassen. Was aber
immer noch fehlt, ist die endgültige Aussöhnung der
Deutschen mit sich selbst. Diese wollen wir mit dem
vorliegenden Antrag voranbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wie schon Abraham Lincoln unter Berufung auf ein
Jesus-Wort sagte:

Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, mag nicht
bestehen.

Wir wollen die Vertriebenen in ihrem Bemühen unter-
stützen, unser Volk durch Erinnerung zu dieser Selbst-
versöhnung zu führen und damit jene Einigkeit in dem
von Lincoln beschworenen Haus der Nation herzustel-
len, die zu dessen dauerhafter Stabilität notwendig ist.

Wir wollen die Vertriebenen aber auch als wertvolle
Mittler und Brückenbauer zwischen den Völkern aner-
kennen, als welche sie schon der frühere Bundesinnen-
minister Otto Schily zu Recht betrachtet hat. Tatsächlich
prädestiniert die Vertriebenen ihr Schicksal des Heimat-
verlustes mehr als andere Gruppen zur grenzübergreifen-
den humanitären Mahnung und Warnung vor künftigen
Vertreibungen. Die deutschen Heimatvertriebenen kön-
nen aufgrund ihrer leidvollen eigenen Erfahrungen glaub-
würdiger als andere Vertreibung als jene Menschheitsgei-
ßel bezeugen, die sie tatsächlich ist, und damit einen
unschätzbaren Beitrag dazu leisten, dass Vertreibung ge-
nerell geächtet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für diese Rolle, meine Damen und Herren, schulden wir
den Vertriebenen nicht nur Anerkennung, sondern auch
unseren ausdrücklichen Dank, den ich in aller Form zum
Ausdruck bringe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Seiner Heimat
beraubt zu sein, wie es 14 Millionen deutschen Lands-
leuten nach 1945 widerfuhr, und dennoch nicht auf Ra-
che zu sinnen, sondern aus Überzeugung am friedlichen
Bau des gemeinsamen Hauses Europa mitzuwirken,


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Große Leistung!)


ist ein Akt christlicher Demut und staatsbürgerlicher
Verantwortung, der aller Ehren wert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass die Vertriebenen sich 1950 bereits eine Charta
mit europäischer Dimension gaben, zeugt von ihrem
Weitblick. Diesen Akt sollten wir Nichtvertriebenen nach
Kräften unterstützen und jene Solidarität mit ihnen be-
weisen, die ein Werk der Versöhnung verdient hat. In die-
sem Sinne kann die Antwort des Hauses nur eine klare
und deutliche Mehrheit für den vorgelegten Antrag sein.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708131100

Leider kann ich dem nächsten Redner nicht das Wort

erteilen, da ich noch immer nicht in der Lage bin, so-
wohl hier oben zu sitzen als auch unten zu reden. Ich
gebe also meine Rede zu Protokoll1). Sie müssen darauf
verzichten, meine wohl abgewogenen Worte zu hören.

Ich erteile das Wort dem Kollegen Patrick Kurth für
die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1708131200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wir reden heute erneut über ein Thema, das mehr ist
als eine Geschichtsstunde, ein Erinnerungsfestakt oder
ein Folkloreseminar, obwohl das manche gerne so sehen
möchten. Wir reden mehr als über den Austausch von
gleichen oder unterschiedlichen Anschauungen. Nein,
wir reden heute über Vertreibung und ihre Ausmaße bis
heute und in Zukunft. Das ist ein sehr komplexes Thema,
zu dem jede Partei und jede Generation den eigenen
Standpunkt beständig überprüfen muss. Bis heute, bis in
die Gegenwart ist dieses traurige Thema aktuell. Auch in
der Gegenwart gibt es in der Welt Vertreibung und Ent-

1) Anlage 2

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9053

Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)

rechtung. Für die Zukunft ist das Gleiche zu erwarten.
Das ist traurige Realität.

Vertreibung ist durch internationales Recht geächtet.
Sie findet dennoch selbst in jüngster Zeit statt. Die Bei-
spiele in Ruanda, Jugoslawien oder Darfur kennen Sie.
Schätzungsweise 70 Millionen Menschen wurden in den
letzten 100 Jahren im Sinne der Vertreibung, über die
wir heute sprechen, vertrieben. Die bis heute aktuellen
Vertreibungen betrachten wir Deutsche mit ganz beson-
derer Sensibilität, nicht nur weil wir eine große Verant-
wortung haben, sondern auch weil wir selbst als Deut-
sche betroffen sind. In diesem Zusammenhang sind der
Antrag und die BdV-Charta zu sehen. Nach dem von
Deutschland ausgehenden Krieg entstand im Nachgang
der zweifelsohne größten Vertreibung diese Charta. Sie
entstand von und durch die Betroffenen, und sie entstand
auch mit Blick auf die künftige Zeit.

Versuchen Sie sich nur einen Moment in die Nach-
kriegszeit und die Menschen hineinzuversetzen, die den
von Deutschland verursachten Krieg überlebt haben und
ihre Heimat verlassen mussten. Sie mussten Strapazen
der Flucht, die Trauer um den Verlust von Verwandten,
Nachbarn und Eigentum sowie die Schwierigkeit der In-
tegration in die neuen Gebiete auf sich nehmen. Vor kur-
zem hat eine Tageszeitung kommentiert:

Man stelle sich die Menschen vor, die quasi noch
mit der Kleidung, die sie auf der Flucht trugen, ei-
nen Beschluss fassten und auf ihre Heimat verzich-
teten.

Wenn Sie an diese Umstände, an die Verhältnisse der
Zeit, die Ungewissheit der Zukunft, den aufziehenden
Kalten Krieg denken, dann stellen Sie fest, dass diese
Charta wirklich erstaunlich und zukunftsweisend ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dazu gehören mehrere Punkte, zum Beispiel der Im-
puls der Aussöhnung. Das 20. Jahrhundert war bestimmt
durch Krieg, Gewaltherrschaft, Flucht und Vertreibung,
aber auch durch den Willen, sich auszusöhnen. Die
Charta der Heimatvertriebenen zeigte dies schon kurz
nach dem Krieg. Leider fehlt gerade das Element der
Aussöhnung bei so vielen Vertreibungen bis in die
jüngste Zeit. Dazu gehört auch: Die Worte „Rache“ und
„Vergeltung“ spielten damals eine große Rolle. Sie spie-
len auch in der Gegenwart oft eine große Rolle. In der
Charta werden sie explizit nicht erwähnt. Natürlich kann
man nicht auf etwas verzichten, das einem ohnehin nicht
zusteht. Aber das Vermächtnis bleibt deswegen stark,
weil gerade Rache und Vergeltung bis in die heutige Zeit
eine große Rolle spielen. Mehr noch: Die Vertriebenen
verpflichteten sich schon damals vor allen Parteien zur
Schaffung eines geeinten Europas. Die Heimatvertriebe-
nen wussten, dass nur ein versöhntes und geeintes Eu-
ropa dauerhaft den Frieden sichern kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Charta ist aber auch deshalb bis in die heutige
Zeit von großer Bedeutung, weil sie innenpolitisch radi-
kalen Versuchungen den Boden entzog. Auch das ist
– gerade wenn wir an Jugoslawien denken – ein ganz
starkes Element.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie hat eine große Bedeutung, weil sie wirtschafts- und
gesellschaftspolitisch die Integration von Millionen von
Flüchtlingen und Vertriebenen ermöglichte. Denken Sie
nur an das Wirtschaftswunder. Gerade die gesellschaftli-
che und wirtschaftspolitische Integration von Vertriebe-
nen in ihren jeweiligen neuen Ländern fehlt aber bis
heute an vielen Stellen.

Übrigens ist die Vertriebenenfrage bis in die Gegen-
wart auch bei einer ganz anderen Diskussion von Bedeu-
tung, nämlich bei der deutschen Integrationsdebatte.
Viele Deutsche haben Zuwanderungs- und Integrations-
erfahrungen, und zwar im eigenen Land. Erinnern Sie
sich, wie Deutsche ihre eigenen Landsleute nach dem
Krieg aufgenommen haben? Oftmals alles andere als
herzlich. Auch diesbezüglich mussten viele dazulernen.
Viele von denen, die heute über Integration reden, haben
in ihrer eigenen Familie Integration erlebt.


(Beifall bei der FDP)


Am Ende aber gilt: Wir wissen um die deutsche
Schuld. Wir wissen, dass das deutsche Reich einen
fürchterlichen Krieg begonnen hat, dass Verbrechen in
bis dahin unbekanntem Ausmaß stattfanden und furcht-
bares Leid über Europa gebracht wurde. Wir wissen aber
auch von den schrecklichen Folgen, die eine Flucht mit
sich bringt.

Das ist vielleicht eines der stärksten Leitbilder im in-
ternationalen Vergleich: Verbrechen dürfen nicht gegen-
einander aufgewogen werden. Sonst legitimieren sie ein
Stück weit zahlreiche weitere Vertreibungen, in diesem
Fall diejenigen seit 1945. Schuld und Leid sind immer
individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Nazi-
herrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen.

Es ist gut, dass die Koalition noch einmal klarstellt,
wie sie zu Flucht und Vertreibung steht. Ich möchte mich
ganz herzlich bei Klaus Brähmig und bei der Koalition
für die gute Zusammenarbeit bedanken. Es war ein har-
tes Ringen, zum Teil um jedes einzelne Wort. Am Ende
ist ein sehr guter Antrag herausgekommen, der nicht nur
an die Vorgänge erinnern soll, die geschehen sind, son-
dern der auch in die Zukunft weist, damit wir in Sachen
Vertreibung und Unrecht urteilsfähig bleiben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708131300

Das Wort hat nun Lukrezia Jochimsen für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708131400

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Eins vorweg: Ich spreche heute hier als Kriegskind. In
Ihrem Antrag wird die Generation der Kriegskinder be-
sonders erwähnt als eine Bevölkerungsgruppe, der man

9054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)

bisher zu wenig Zuwendung und wissenschaftliche Auf-
merksamkeit gewidmet hat. Außerdem spreche ich hier
als jemand, der zu keiner Zeit in der DDR ideologisiert
worden ist.

Es ist schon sonderbar, welch unterschiedliche Auf-
fassung von Geschichte man als Zeitzeuge haben kann.
Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung
von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie
in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen
kommt aus meiner Sicht selten zusammen.


(Beifall bei der LINKEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist doch nicht Ihr Ernst! Das kann doch niemals Ihr Ernst sein! Dann müssen Sie den Antrag einmal lesen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die ist doch unverbesserlich!)


Jetzt gehen wir das einmal Schritt für Schritt durch. In
dem Antrag heißt es:

Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb
mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in
ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen
waren.

Es findet sich kein Wort darüber, dass die Deutschen die
brutalsten Vertreiber waren, und zwar lange bevor sie
von Vertreibungen betroffen waren.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das steht alles drin!)


Ausgeblendet werden die Massenvertreibungen ganzer
Völkerschaften unter deutscher Herrschaft.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist nicht Ihr Ernst!)


Verschwiegen wird die Vertreibung und Ermordung der
Juden, Roma und Sinti.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was reden Sie denn da? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie reden von einem anderen Thema!)


Es wird die Charta von 1950 gefeiert, die, genau wie
der Antrag von 2010, die Vorgeschichte der Vertreibung
vollständig ausklammert. Da wird folgender Satz dieser
Charta gefeiert: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf
Rache und Vergeltung.“


(Beifall bei der CDU/CSU)


Verzichten? Verzichten kann man doch nur auf etwas,
von dem man glaubt, dass es einem zusteht.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Satz war 1950 ein Unding.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ich habe doch gerade etwas dazu gesagt!)


Ihn 2010 zu feiern, ist eine politische Zumutung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Sie sind eine Zumutung! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das geht doch nicht, was Sie hier machen! Das ist doch völlig am Thema vorbei!)


Und rächen? An wem sollten sich Heimatvertriebene
1950 eigentlich rächen können? An den Alliierten viel-
leicht? Was hier zum Ausdruck kommt und laut Antrag
65 Jahre später immer noch Gültigkeit haben soll, ist aus
meiner Sicht moralische Hybris.


(Beifall bei der LINKEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist nicht Ihr Ernst! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Irgendwo müssen Sie aber Ihre ideologische Verbohrtheit herhaben!)


Ralph Giordano hat vor einem Jahr geschrieben:

Mit dem stets im Brustton großmütigen Verzeihens
vorgetragenen Kernsatz macht die „Charta“
Deutschland zum Gläubiger der Geschichte, die
einst okkupierten Länder Mittel- und Osteuropas
aber zu deren Schuldnern. Darin liegt der eigentli-
che Skandal der „Charta“.

Skandal!

Nein, diese Charta ist kein Meilenstein zu Integration
und Aussöhnung, wie es im Antrag heißt. Im Gegenteil:
Sie verkehrt die Dimensionen von Opfererfahrungen in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf nicht hin-
nehmbare Weise.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das sagen Sie?)


– Jawohl, das sage ich.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist ja interessant! Das gibt es doch überhaupt nicht! Seit 1990 redet Ihre Partei Unglaubliches! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann müssen Sie die SED auch noch aufführen! Dann wäre es richtig!)


Auf nicht hinnehmbare Weise wird in dem Antrag
verschwiegen, wer eigentlich diese Charta geschrieben
und unterschrieben hat, zum Beispiel, dass zahlreiche
Unterzeichner Funktionsträger des NS-Regimes waren,
zum Beispiel, dass die frühe Verbandsgeschichte des
Bundes der Vertriebenen eng mit den Nazis verbunden
war, und zum Beispiel, dass der Bund der Vertriebenen
diese Geschichte bis heute nicht aufgearbeitet hat.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Das ist ein Skandal! – Gegenruf des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Unerhört!)


Pure Geschichtsverfälschung betreiben die Autoren
des Antrags auch damit, dass sie behaupten, die Vertrie-
benen und ihre Verbände hätten eine positive Funktion
bei der Normalisierung des Verhältnisses zu den östli-
chen Nachbarländern gehabt.


(Michael Link [Heilbronn] [FDP]: Eben! Ganz genau! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Was denn sonst?)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9055

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



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Auch da ist das Gegenteil der Fall. Die Nichtanerken-
nung der Oder-Neiße-Grenze war ihr Dogma, und die
Entspannungspolitik gegenüber dem Osten konnte nur
gegen sie durchgesetzt werden.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ausgesprochen gefühllose Rede!)


Sie nannten das „Verrat“, und Willy Brandt nannten sie
„Verräter“.

Vertreibungen in der Gegenwart, ja, das ist ein
Thema, in der Tat.


(Zuruf von der FDP: Sie diffamieren die Opfer der Vertreibung!)


Aber kein Satz zur Lage der Roma und Sinti in Europa!
Hat man irgendwann vom Bund der Vertriebenen etwas
zu den Abschiebungen der Roma in den Kosovo gehört?
Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, ein
angesehenes CDU-Mitglied, hat diese Abschiebungen
heute in Berlin angeprangert. Gerade an diesem Beispiel
könnten Sie deutlich machen, wie wichtig Ihnen die
Lehren aus der Geschichte wirklich sind.

Stattdessen wollen Sie eine Gedenkmöglichkeit bei
der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einrich-
ten, wahrscheinlich ein Denkmal.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Gott sei Dank! Das wird höchste Zeit!)


Zu allem Überfluss wollen Sie einen nationalen Gedenk-
tag für die Opfer von Vertreibungen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708131500

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie ist schon die ganze Zeit am Ende!)



Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708131600

Das ist alles falsches, die Geschichte verdrehendes

Pathos. Wir sagen dazu Nein.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das hätte mich auch gewundert, bei der Rede!)


Ich meine, die Antragsteller spielen ein gefährliches
Spiel mit der Geschichte.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ihre Rede ist ein Schlag ins Gesicht der Heimatvertriebenen!)


Ich kann nur hoffen, dass die Mehrheit dieses Hohen
Hauses das erkennt und dabei nicht mitmacht.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708131700

Das Wort erteile ich nun Kollegen Volker Beck für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708131800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn all

die salbungsvollen Worte, die zum Thema „Vertreibung
und Flucht“ von der Koalition kamen, ernst gemeint
sind, dann müssen Sie beim Thema „Roma aus dem Ko-
sovo“ flüchtlingspolitisch tatsächlich die Konsequenzen
ziehen; ansonsten ist das alles weiße Salbe und besten-
falls Heuchelei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Dass die Charta der Heimatvertriebenen 60 Jahre alt
wird, ist für mich als Kind von Vertriebenen kein Grund
zum Feiern. Der 5. August 1950 ist gewiss kein geeigne-
ter Gedenktag, um an das Vertreibungsschicksal zu erin-
nern.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Was denn sonst, Herr Beck!)


– Lassen Sie mich ausreden, dann erzähle ich es Ihnen.
Oder stellen Sie eine Zwischenfrage.

Ich möchte keinen Zweifel aufkommen lassen: Mein
Vater ist selbst vertriebener Sudetendeutscher. Meine
Großeltern wurden in beiden Weltkriegen vertrieben.
Mit den Vertreibungen aus den Ostgebieten und aus
Tschechien in den letzten Wochen und Monaten des
Zweiten Weltkrieges – mit schweigendem Einverständ-
nis der westlichen Alliierten; das gehört auch zur Wahr-
heit –, ist den Vertriebenen großes Unrecht widerfahren.
Trotz alledem: Weder diese Charta noch die dahinterste-
henden Organisationen tragen zur Versöhnung mit unse-
ren osteuropäischen Nachbarn bei.

Sie schreiben in dem vorliegenden Antrag zwar von
einem Geist der Charta für ein geeintes Europa, doch
auch nach mehrfacher Lektüre dieser Charta habe ich
diesen Geist nicht finden können; ganz im Gegenteil.
Der von uns allen hier geschätzte Professor Micha
Brumlik


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Es stimmt nicht, dass der überall geschätzt ist!)


schrieb dazu im August in der taz treffend:

Sogar wenn man von der völkischen Schöpfungs-
theologie absieht, die den Text durchweht, und den
Umstand übergeht, dass viele der Erstunterzeichner
in der NSDAP oder der SS waren


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Wie beim Spiegel und beim Stern auch!)


bzw. Männer, die sich lange vor 1933 in Ostmittel-
europa als Volkstumskämpfer betätigten, zeigt sich
in der Sache, wie falsch die Grundaussage der
Charta ist:

Weder entspricht es der historischen Wahrheit, dass
das Schicksal der Vertriebenen an Leid vom
Schicksal keiner anderen Gruppe in den Jahren
1939 bis 1945 übertroffen wurde,


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: 1950!)


– wie es in der Charta heißt –

noch ist einsichtig, wie man auf Rache und Vergel-
tung verzichten kann. … Verzichten – feierlich
dazu – kann man nämlich nur auf etwas, was einem
legitimerweise zusteht …

9056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Das hat die Kollegin richtigerweise ausgeführt.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wie ich bereits ausgeführt habe!)


Meine Damen und Herren, die Charta ist ein einseiti-
ges Dokument. Sie klammert die historische Kriegs-
schuld Nazideutschlands aus,


(Beifall bei der LINKEN)


und sie erwähnt mit keinem Wort die Verbrechen der
Deutschen, die im Holocaust und in der Ermordung von
6 Millionen Jüdinnen und Juden gipfelten.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dann müssen Sie die Charta mal lesen, Herr Beck!)


Diese Verbrechen gingen der Vertreibung voraus. Sie
rechtfertigen sie nicht, aber sie stehen im Kontext mitei-
nander.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, eine angemessene Erinne-
rungskultur im Land der Täterinnen und Täter muss an-
ders aussehen. Ihr Antrag stellt an einem Punkt etwas zu
Recht fest. Da heißt es:

So gilt es ebenfalls, an die Vertreibung von über ei-
ner Million Polen aus den damaligen polnischen
Ostgebieten und hunderttausender Ukrainer im
Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen „West-
verschiebung“ Polens zu erinnern.

Richtig, aber auch dazu findet sich in der Charta der
Vertriebenen kein Sterbenswörtchen. Der Deutsche Bun-
destag kann sich doch nicht positiv auf ein Dokument
beziehen, in dem behauptet wird, dass das Schicksal der
Vertriebenen an Leid in dieser Zeit dem Schicksal keiner
anderen Gruppe vergleichbar ist, sondern das Vertrei-
bungsschicksal diese übertroffen hat.

Meine Damen und Herren von der Union und von der
FDP, Sie alle waren doch schon einmal in einem Kon-
zentrationslager. Sie alle haben sich in Ihrer Heimatstadt
doch schon einmal gefragt: Wo sind eigentlich die Jüdin-
nen und Juden hin, die früher in unserer Stadt gelebt ha-
ben? – Die gibt es nicht mehr; die Familien sind nicht
mehr da, die Straßenzüge sind nicht mehr da. Die Syna-
gogen sind weg. Sie können doch nicht so tun, als ob das
Vertreibungsschicksal in dieser Art und Weise singulär
war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was Sie hier unterstellen! Was Sie für einen Kontext herstellen!)


Meine Damen und Herren, die Rache- und Verzichts-
haltung des Vertriebenenverbandes, die Haltung von
Frau Steinbach zur Oder-Neiße-Grenze, diese Art von
Politik hat mir als Enkel und Kind von Vertriebenen zum
zweiten Mal die Heimat genommen. Ich war in Tsche-
chien, ich war in der Slowakei, aber als Kind von Sude-
tendeutschen war ich niemals im Sudetenland, weil ich
mich mit Ihren Verbandsfunktionären und Ihrer Ideolo-
gie nicht gemein machen wollte. Das war für mich per-
sönlich vielleicht ein Fehler, aber das zeigt, wie schwie-
rig es ist, zu einer Heimat ein Verhältnis zu finden, wenn
das Heimatgefühl und Rückbesinnungsgefühl mit dieser
Art von revanchistischer Ideologie und der Politik Ihres
Verbandes konnotiert ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Erika Steinbach [CDU/ CSU]: Das ist ja unglaublich!)


– Wenn Sie das unglaublich finden, dann nenne ich Ih-
nen gerne einige Erstunterzeichner der Erklärung von
Stuttgart 1950:


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ein Schauspieler sind Sie! Sie führen eine Komödie auf! Und das bei einem solchen Thema! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Unfassbar, was Sie hier erzählen! Sie wissen überhaupt nicht, was los ist! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


– Lassen Sie mich noch drei Sätze sagen. – Rudolf
Wagner, Sprecher der Landsmannschaft der Deutschen
Umsiedler aus der Bukowina – SS-Obersturmbandführer –,
Erik von Witzleben, Sprecher der Landsmannschaft
Westpreußen – SS-Offizier –, Walter von Keudell, Spre-
cher der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg –


(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Beck, Sie haben doch keine Ahnung!)


erst in der DNVP, dann in der NSDAP –, Josef Walter,
Vorsitzender des Landesverbands der Heimatvertriebe-
nen in Hessen – –


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das bringt doch nichts! Keine neuen Erkenntnisse! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Unwürdig!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708131900

Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kom-

men.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708132000

Er war stellvertretender Hauptgeschäftsführer der su-

detendeutschen Wirtschaftskammer und zuständig für
die Verteilung des jüdischen Vermögens im Reichspro-
tektorat Böhmen/Mähren.

Meine Damen und Herren, das ist nur ein Auszug aus
der langen Liste von Komplizen und Tätern des NS-Re-
gimes, die diese Charta unterzeichnet haben. Im Geiste
Europas brauchen wir eine andere Grundlage für die
Versöhnung. Nur dann werden wir einig sein, Herr
Strobl, in diesem Haus Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Unverschämtheit von Herrn Beck! So kann man das nicht machen! – Gegenruf von der LINKEN: Das ist eine Tatsache!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9057


(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708132100

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU-

Fraktion.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708132200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-

nen! Sehr geehrte Kollegen! Frau Kollegin Jochimsen,
Herr Kollege Beck, ich halte es für unwürdig und be-
schämend,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Jawohl!)


wie Sie mit Ihren Reden auf dem Schicksal von
15 Millionen Vertriebenen und deren Nachkommen he-
rumtrampeln und einen Gründungsakt der Bundesrepu-
blik Deutschlands diskreditieren,


(Widerspruch bei der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich trample auf niemandem herum! – Zuruf von der CDU/CSU: Unwürdig!)


der an Größe aus meiner Sicht kaum zu übertreffen ist.
Davor sollte man Respekt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Um mit den Worten unseres Bundestagspräsidenten,
Professor Lammert, zu sprechen: Es handelt sich bei der
Charta der Heimatvertriebenen um das Gründungsdoku-
ment der Bundesrepublik Deutschland und


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und der LINKEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ihr habt doch überhaupt nichts begriffen!)


– um ihn weiter zu zitieren – um ein bleibendes Ver-
mächtnis für die Zukunft des wiedervereinigten
Deutschlands. Ich möchte hinzufügen: auf das wir Deut-
sche alle stolz sein können, egal, ob wir einen Vertriebe-
nenhintergrund haben oder nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und der LINKEN – Gegenruf des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Die haben nichts begriffen!)


Meine sehr verehrten Kollegen Jochimsen und Beck,
ich wundere mich schon, mit welchem Hochmut, mit
welcher Arroganz


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Arroganz! Überheblichkeit!)


Sie hier ein Dokument diffamieren, das vor 60 Jahren
proklamiert wurde. Das halte ich für abscheulich und für
in jeder Hinsicht traurig und beschämend.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Für unwürdig! – Zuruf von der LINKEN: Ihre Rede ist traurig und beschämend! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen das zur Grundlage Europas machen?)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man
muss sich wirklich in die Zeit zurückversetzen.

(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Junger Mann, das kann ich ganz gut!)


Es ist leicht, jetzt, 60 Jahre später, über ein Dokument zu
urteilen und zu sagen: Da hätte noch der eine Satz hi-
neingehört, und der andere Satz hätte noch etwas aus-
führlicher dargelegt werden müssen. Sie müssen sich der
Ehrlichkeit halber einmal in die Zeit um 1950 zurückver-
setzen: 15 Millionen Deutsche sind am Ende und nach
dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden.


(Zurufe von der LINKEN)


3 Millionen davon kamen auf schreckliche und barbari-
sche Art und Weise ums Leben. Viele sind gedemütigt
und vergewaltigt worden.


(Zurufe von der LINKEN)


Fast alle waren traumatisiert. Man hat im Jahr 1950
durchaus andere Dinge angesichts von 8 Millionen Hei-
matvertriebenen in Westdeutschland erwartet. Die 4 Mil-
lionen Heimatvertriebenen in Ostdeutschland durften
sich ja gar nicht äußern. Deren Schicksal ist in jeglicher
Weise verniedlicht und in keiner Weise gewürdigt wor-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Durch die Kommunisten!)


Man hatte durchaus befürchtet, dass sich diese 8 Millio-
nen Deutsche radikalisieren würden. Aber das ist nicht
eingetreten.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Die haben über die Bodenreform Land bekommen! – Gegenruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Raub und Totschlag war das!)


Sie haben auf jegliche Rache, auf jeglichen Revanchis-
mus, auf jeglichen Hass verzichtet.


(Zurufe von der LINKEN)


Ich halte das im Nachhinein für höchst bemerkenswert.
Alle Deutsche können auf diese heroische Leistung stolz
sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN – Hilde Mattheis [SPD]: „Heroische Leistung“?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708132300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Jochimsen?


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708132400

Sehr gerne.


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708132500

Herr Kollege, ich kann mich sehr gut in die Jahre

1950 und folgende versetzen. Ich war damals ein junges
Mädchen und nachher eine junge Frau. Ich frage Sie: Ist
Ihnen eigentlich bekannt, wie viele Millionen Ausge-
bombte, wie viele Menschen, die alles Hab und Gut ver-
loren haben, wie viele Schwerverletzte 1950 in Deutsch-

9058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)

land gelebt haben und dass nicht nur die Vertriebenen
das Schuldschicksal dieses schrecklichen Krieges zu tra-
gen hatten, sondern auch Millionen von Menschen im
Lande selbst?

Es ging mir persönlich nie um eine Aufrechnung.
Aber ich verwahre mich dagegen, dass man sagt,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Frage!)


eine Gruppe sei die vom Schicksal am schlimmsten be-
troffene gewesen, und so tut, als hätte es 1950 eine Nor-
malgesellschaft von solchen gegeben, die im Gegensatz
zu den Heimatvertriebenen kein Leid erfahren hätten.

Ich kann Ihnen sagen: Ich kann mich sehr gut in die
Zeit von 1950 versetzen. Ich möchte einmal wissen, ob
Sie eine Vorstellung davon haben, wie viele Millionen
Erwachsene und Kinder in beiden Teilen Deutschlands
1950 unter diesem Kriegsleid gelitten haben.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708132600

Frau Kollegin Jochimsen, mir ist nicht nur bekannt,

welch großes Unheil der Zweite Weltkrieg über
Deutschland gebracht hat,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Deutschland über die Welt!)


sondern auch – dies möchte ich ganz deutlich betonen –,
welch schreckliches Unheil der Zweite Weltkrieg, der
unbestreitbar von deutscher Hand ausgegangen ist, über
die gesamte Welt gebracht hat.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: So ist das! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Genau!)


Das wird von niemandem, insbesondere auch nicht vom
Bund der Vertriebenen bestritten, ganz im Gegenteil.

Sie werden doch nicht negieren können, dass am
Ende des Zweiten Weltkriegs Menschen nur aufgrund
der Tatsache, dass sie an einem bestimmten Ort wohn-
ten, vertrieben wurden, unabhängig davon, ob ihnen per-
sönliche Schuld zuteilwurde oder nicht.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird doch nicht bestritten! – Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Es sind Menschen ausgebombt worden! Was ist mit den Ermordeten?)


Ich möchte schon betonen: Das Schlimmste und, wie
ich glaube, auch das Schwerwiegendste, was man einem
Menschen antun kann, ist, dass man ihm seine Heimat
nimmt. Ich persönlich habe noch sehr gut die Schilde-
rung meiner Großeltern, die aus dem Sudetenland stam-
men, in den Ohren, wie schlimm es ist, wenn man aufge-
fordert wird, innerhalb von zwölf Stunden das eigene
Haus, das man sich mühsam aufgebaut hat, zu verlassen,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Fragen Sie mal KZ-Überlebende! Unglaublich!)


maximal 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen darf und die
Heimat nie mehr wiedersieht.

Frau Kollegin Jochimsen, ich möchte auch noch ein-
mal betonen, dass Sie aus meiner Sicht den großen Feh-
ler begehen, Unrecht gegen Unrecht aufzuwiegen. Un-
recht ist etwas Singuläres.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Es bestreitet doch keiner, dass von deutscher Hand kata-
strophales Unrecht über den ganzen Globus verbreitet
worden ist. Aber das rechtfertigt in keiner Weise das Un-
recht, das 12 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten
Weltkriegs und danach zuteilwurde.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Es geht um keine Rechtfertigung!)


Das ist der historische Fehler, den Sie begehen: Sie wie-
gen das eine gegen das andere auf. Diesen Fehler ma-
chen wir nicht, und diesen Fehler dürfen wir nicht ma-
chen.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Eine Frage zum Schluss: Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, hätte es dann Vertreibungen gegeben? Was ist der Kontext? Was war zuerst: der Krieg oder die Vertreibungen?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708132700

Frau Kollegin, Sie haben jetzt nicht das Wort, sondern

Herr Mayer hat das Wort.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708132800

Frau Kollegin Jochimsen, es war ein herausragender

Akt der Versöhnung und Verständigung, dass die Hei-
matvertriebenen am 5. August in Stuttgart-Bad Cannstatt
diese Erklärung proklamiert haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Erklärung sollte heute nicht nur der Erinnerung
dienen, sondern sie sollte in progressiver Hinsicht auch
dafür dienen, dass sich das Leid, das 15 Millionen Deut-
schen nach dem Zweiten Weltkrieg wiederfahren ist, nie
mehr wiederholt. Deswegen ist es umso wichtiger, dass
der 5. August den Status eines nationalen Gedenktags
bekommt.

Ich sage ganz offen: Wir werden hier leisten müssen,
was der Bundesrat im Jahr 2003 beschlossen hat, näm-
lich dass der 5. August nationaler Gedenktag wird. Hier
sind wir – auch das sage ich ganz offen – als gesamter
Deutscher Bundestag in der Bringschuld. Ich hoffe, dass
uns dies alsbald gelingt. Gerade für die jungen Leute
müssen wir uns dafür einsetzen, dass sich das nicht wie-
derholt, was sich im letzten Jahrhundert viel zu oft ereig-
net hat, nämlich massenhafte Vertreibungen.

Vertreibung hat an Aktualität leider Gottes nicht ver-
loren.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den Roma?)


Just an diesem Tag sind 44 Millionen Menschen auf die-
sem Globus auf der Flucht oder vertrieben worden. Das
zeigt ganz deutlich, dass es leider Gottes noch immer ein

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9059

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

viel zu aktuelles Thema ist. Gerade deshalb ist es wich-
tig, dass der 5. August ein nationaler Gedenktag wird.

Ich bin insbesondere sehr dankbar, dass es uns in dem
gemeinsamen Entschließungsantrag der christlich-libe-
ralen Koalition gelungen ist, aufzunehmen, dass wir die
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ noch weiter
vorantreiben wollen. Wir sind hier auf einem guten
Weg. Es waren schwierige Monate. Das Jahr 2010 war
kein einfaches Jahr. Insbesondere der Hintanstellung
jeglicher persönlicher Interessen der Präsidentin des
BdV – dies sage ich hier in aller Deutlichkeit – ist es zu
verdanken, dass sich die Stiftung so erfolgreich weiter-
entwickeln konnte. Der Kollegin Erika Steinbach gilt in
diesem Zusammenhang großer Dank und hohe Anerken-
nung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Große Leistung von Erika Steinbach!)


Es ist die historische Wahrheit, dass es die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht gäbe, wenn
Erika Steinbach als BdV-Präsidentin im Jahr 2000 nicht
die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ gegründet
hätte, damals mit Peter Glotz an ihrer Seite, der leider
Gottes viel zu früh verstorben ist.

Erika Steinbach hat die Charta der Heimatvertriebe-
nen als Akt der Selbstüberwindung bezeichnet. Ich
glaube, genau das ist es auch. Es ist bemerkenswert, dass
in der Präambel der Charta der Gottesbezug mit aufge-
nommen wurde. Ich darf deutlich machen, dass der pro-
gressive Charakter der Charta sehr entscheidend ist, um
mit den Worten von George Santayana, einem amerika-
nischen Philosophen und Schriftsteller, zu sprechen:

Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu ver-
dammt, sie zu wiederholen.


(Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ CSU])


Ich glaube, das sollten wir uns ins Stammbuch schrei-
ben.

Ich darf mit dem Schlusssatz der Charta enden, mei-
nes Erachtens ein herausragendes Dokument:

Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Wil-
lens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus
Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns
alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden
wird.

Den Sinn dieses Satzes sollten wir uns immer vor Augen
halten.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708132900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4193 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ausweitung der Assistenzpflege
auf Einrichtungen der stationären Vorsorge
und Rehabilitation

– Drucksache 17/3746 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Ilja
Seifert für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708133000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Bei-
spiel: Zwei Personen werden ungefähr zeitgleich mit ei-
nem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Beide er-
halten ungefähr dieselbe Diagnose. Beide bekommen im
Krankenhaus die erforderliche Behandlung. Der eine ist
Rollstuhlfahrer und wird nicht nur von den Kranken-
schwestern und -pflegern versorgt, sondern hat auch
noch seine Assistentin oder seinen Assistenten dabei, die
oder der ihm hilft, seinen Alltag zu bewältigen. Der an-
dere geht anschließend in die Reha. Der Mensch mit
Rollstuhl geht nicht in die Reha, weil er seine Assisten-
tin oder seinen Assistenten dorthin nicht mitnehmen
kann. Wie soll er wieder gesund werden? So ist zurzeit
die Situation in Deutschland.

Wir haben hier kurz vor der Bundestagswahl 2009 ge-
meinsam beschlossen, dass Menschen mit Behinderung
ihre Assistentin oder ihren Assistenten, wenn sie oder er
nach dem Arbeitgebermodell beschäftigt ist, mit ins
Krankenhaus nehmen können, weil inzwischen eingese-
hen wurde, dass dort besondere Bedingungen herrschen,
die man nur mit der Assistentin oder dem Assistenten
bewältigen kann. Das ist aber weder in der Vorsorge,
also bei prophylaktischen Maßnahmen, noch in der
Nachsorge möglich. Deshalb legt die Linke jetzt einen
Gesetzentwurf vor, der diese Lücke schließt.

Lassen Sie Menschen mit Behinderung sowohl pro-
phylaktische Maßnahmen als auch kurative Maßnahmen
als auch Reha-Maßnahmen mit ihrer Assistentin oder ih-
rem Assistenten bewältigen, damit sie voll am Leben
teilhaben können, so wie es die UN-Behindertenrechts-
konvention vorschreibt.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir schlagen hier eine kleine gesetzgeberische Maß-
nahme vor. Es entsteht kein großer Aufwand; es ist un-

9060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)

problematisch zu regeln. Es bedarf keiner großen Ak-
tionspläne, keiner Umsetzungskonzeptionen und auch
keiner großen Datenerhebungen; die Kosten sind über-
schaubar.

Ich weiß wie die meisten von Ihnen, die sich mit der
Problematik beschäftigen, dass das nur ein kleiner
Schritt auf dem Weg ist, den wir gehen müssten: Eigent-
lich müssten wir auch den Menschen, die ihre Assistenz
nicht nach dem Arbeitgebermodell beschäftigen, die
Möglichkeit geben, ihre Assistentin oder ihren Assisten-
ten sowohl bei Vorsorge- als auch bei Behandlungs- und
Nachsorgemaßnahmen mitzunehmen. Aber lassen Sie
uns wenigstens diesen kleinen Schritt gehen.

Das Ziel muss sein – dazu haben wir alle uns ver-
pflichtet, als wir das UN-Übereinkommen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und
es damit ohne Vorbehalte in nationales Recht umgesetzt
haben –, die volle Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rungen in allen Lebensbereichen zu sichern. Volle Teil-
habe heißt im Krankheitsfall, dass wir wieder richtig ge-
sund werden können, jedenfalls, was eine akute
Krankheit wie den Herzinfarkt angeht. Die Menschen
haben gelernt, mit ihrer Behinderung zu leben; aber wir
dürfen ihnen nicht zumuten, zusätzlich krankgemacht zu
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Bitte ergreifen Sie die Initiative, springen Sie über Ihren
Schatten und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708133100

Das Wort hat nun Kollegin Maria Michalk für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1708133200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Auch zur fortgeschrittenen Abendstunde wird
wohl niemand in unserem Land ernsthaft bestreiten, dass
die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinde-
rungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
und vor allen Dingen seit der Wiedervereinigung vor
20 Jahren Schritt für Schritt verbessert wurden.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Heute gehen wir den nächsten Schritt!)


Es ist aber auch unbestritten, dass es in unserer gesell-
schaftlichen Wirklichkeit hier und da noch Teilbereiche
gibt, in denen Optimierungsbedarf besteht. Das ist ein
immerwährender Prozess; ich glaube, bei dieser Feststel-
lung sind wir uns einig.

Eher uneinig sind wir uns mit den Initiatoren des in
Rede stehenden Gesetzentwurfs hinsichtlich der Schritt-
folgen und der Geschwindigkeit bestimmter Initiativen.
Warum? Kurz vor Ende der letzten Wahlperiode, am
5. August 2009, haben wir das Gesetz zur Regelung des
Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus in Kraft gesetzt.

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das war ja gut, aber es reicht nicht aus!)


Dieses ermöglicht es Behinderten mit besonderem pfle-
gerischen Bedarf, ihre eigenen, bei ihnen beschäftigten
Pflegekräfte mit einem Kostenanspruch für Übernach-
tung und Verpflegung gegenüber dem jeweiligen Kran-
kenhausträger in das Krankenhaus mitzunehmen. Wir
haben mit diesem Gesetz vor einem Jahr die Hoffnung
verbunden, dass die persönlichen Assistenzkräfte mit
dem Krankenhauspersonal sehr gut zusammenarbeiten
und die pflegerische Versorgung für Menschen mit Be-
hinderung deutlich verbessert wird, weil sie die vertrau-
ten Pflegekräfte Tag und Nacht um sich haben.

Es wurde geschätzt, dass für diese Leistungen der
Pflegeversicherung, für die Weiterzahlung des Pflege-
geldes jährlich Aufwendungen in Höhe von 50 000 Euro
entstehen. Das war damals die Einschätzung. Die Kosten
der gesetzlichen Krankenversicherung waren wegen der
nicht bekannten Verweildauer – die spielt in diesem Zu-
sammenhang auch eine Rolle – kaum zu schätzen.

Schon damals hat die Fraktion Die Linke einen Ände-
rungsantrag auf Ausweitung der Leistungen auf Vorsor-
ge- und Rehabilitationseinrichtungen nach § 107 SGB V
gestellt. Auch wurden Stimmen laut, die die Anbindung
der Leistungen an das Arbeitgebermodell kritisierten,
weil geistig Behinderte oder Menschen mit Demenzer-
krankungen, die von ihren Angehörigen gepflegt werden,
nicht in den Genuss dieser Leistungen kommen. Das kann
ich nachempfinden. Andererseits bauen wir auch in Zu-
kunft nicht nur auf die Solidarität in unserer Gesellschaft
als Ganzes, sondern auch auf die Solidarität in den Fami-
lien. Wir werden es nicht schaffen, alles finanziell auszu-
gleichen, was an Liebe, Fürsorge, Unterstützung und So-
lidarität in der Familie geleistet wird. Das verdient mehr
als bisher unsere größte Hochachtung. Dies ist die richtige
Stelle, um das noch einmal zu erwähnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun ist gerade einmal ein Jahr seit Inkrafttreten die-
ses Gesetzes vergangen. Wir müssen hier und da feststel-
len – das gebe ich zu –, dass es mit der Umsetzung der
persönlichen Assistenz im Krankenhaus noch nicht hun-
dertprozentig klappt. Manche Krankenhäuser sind über
das Gesetz und seine Inhalte wohl unzureichend infor-
miert. Immer wieder hören wir von Beispielen, dass es
bei der Aufnahme der Assistenzperson zu Problemen
kommt.

Ich finde, wir haben zunächst einmal nicht ein Rege-
lungsdefizit, sondern ein Umsetzungs- und Anwen-
dungsproblem. Gleichwohl nehme ich das Anliegen ei-
ner Gleichberechtigung bei der persönlichen Assistenz
in anderen Verweilorten ernst. Wir sind auch nach der
UN-Behindertenkonvention gehalten – da sind wir uns
einig –, uns mit den unterschiedlichsten Lebensumstän-
den und den sehr individuellen Lebensstandards ausein-
anderzusetzen. Das gilt zum Beispiel auch für stationäre
Einrichtungen zur Behandlung nach einem Suchtentzug;
so etwas ist auch gemeint. Man kann auch vermuten,
dass Menschen mit Behinderung gerade in Rehabilita-
tionseinrichtungen die erforderlichen Hilfen erhalten,
vielleicht sogar eher als in einem Krankenhaus. Darüber
kann man sehr gut reden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9061

Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)

Unser Leben ist sehr individuell. Deshalb haben wir
als Gesetzgeber Schwierigkeiten, nicht nur in diesem
Punkt, die Wechselfälle des Lebens in ein und demsel-
ben Gesetz einzufangen. Mancher Fortschritt ist nur des-
halb gelungen – gerade in der sozialen Gesetzgebung –,
weil es auch den Mut zur Lücke gab, wenn keine ver-
lässlichen Daten vorlagen. Schritt für Schritt ist dann
nachgebessert worden. Klarheit in der Gesetzgebung be-
deutet, neben sachlichen Argumenten immer auch die fi-
nanziellen Auswirkungen zu betrachten.

Ich hoffe, die Offenheit für das Anliegen als solches
ist klargeworden. Dazu stehen wir.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen die Daten aber erst einmal dahin gehend prü-
fen, wie es um die praktische Umsetzung steht. Dafür ist
es ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes aber viel zu
zeitig.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies den Re-
gelungsbedarf des SGB IX als auch den des SGB XII
betrifft. Deshalb müssen auch die Kommunen in die
Diskussion einbezogen werden. Ich sage: Im Sinne der
UN-Behindertenrechtskonvention und zugunsten der be-
troffenen behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger
plädieren wir für eine Gesetzesberatung, aber nach dem
Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708133300

Das Wort hat nun Hilde Mattheis für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1708133400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist in diesem Haus wichtig, sich die Lebenssituationen
von Menschen mit Behinderungen immer vor Augen zu
halten und darauf zu achten, dass es in der Tat um Anti-
diskriminierung und Teilhabe geht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ihre Initiative, das, was Sie vorlegen, ist richtig und
wichtig. Ich bedanke mich ganz ausdrücklich bei Ihnen.
Denn uns alle eint, glaube ich, das Bestreben, für Men-
schen mit Behinderungen – vor allem in besonderen Le-
benslagen – Erleichterungen und Hilfen zu gewährleis-
ten, und zwar für alle.

Deswegen haben wir vor anderthalb Jahren hier im
Deutschen Bundestag das Gesetz zur Regelung des As-
sistenzpflegebedarfs im Krankenhaus verabschiedet.
Dieses gemeinsame Anliegen, Menschen mit Behinde-
rungen, die einen besonderen Assistenzbedarf haben, im
Falle eines Krankenhausaufenthaltes eine Pflegekraft an
die Seite zu stellen, die ihr Vertrauen genießt und die vor
allen Dingen um diesen besonderen Pflegebedarf weiß
und ergänzend zu dem, was das Krankenhauspersonal
leistet, Hilfestellungen bieten kann, ist richtig und wich-
tig.
Bis dahin gab es keinen Anspruch gegenüber den
Kostenträgern auf Mitaufnahme dieser Pflegekraft ins
Krankenhaus und auch keinen Anspruch auf Weiterzah-
lung der Leistungen während der Dauer des Kranken-
hausaufenthaltes. Das hatte zur Folge – dies ist mit unse-
ren Sozialgesetzbüchern das eine oder andere Mal der
Fall –, dass sich die Kostenträger für nicht zuständig er-
klärt haben oder – das ist noch schlimmer – dass Men-
schen mit hohem Hilfebedarf notwendige Untersuchun-
gen und Krankenhausaufenthalte vermieden haben, was
natürlich mitunter gravierende Folgen für ihren Gesund-
heitszustand hatte.

Wir haben in der letzten Legislaturperiode diese Si-
cherheit gewährleistet. Wir haben mit diesem Gesetz
nicht nur die Mitaufnahme garantiert, sondern auch die
Zahlung des Pflegegelds für die Dauer von stationären
Aufenthalten zur Akutbehandlung sowie bei kranken-
hausersetzender häuslicher Krankenpflege und für die
Dauer einer stationären Leistung zur medizinischen Re-
habilitation gewährleistet. Wir haben mit dem Gesetz
auch Hilfe zur Pflege für die Dauer des stationären Kran-
kenhausaufenthaltes gewährt, sodass die Möglichkeit
der Weiterbeschäftigung einer besonderen Pflegekraft
gesichert ist.

Mit diesen Maßnahmen haben wir den Forderungen
vieler Verbände entsprochen, die die Interessen von
Menschen mit Behinderungen vertreten. Das war, meine
ich, zu Recht ein großes Anliegen. Mit damals hochge-
rechnetem geringem finanziellen Einsatz wurde mit dem
Assistenzpflegebedarfsgesetz für eine Personengruppe
in unserer Gesellschaft Gutes bewirkt.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ja!)


Wir haben die Gesetzesänderungen in den entsprechen-
den Sozialgesetzbüchern V, XI und XII verankert.

Allerdings steht eine Evaluierung noch aus. Es ist zum
Beispiel unklar, ob es weiterhin Probleme mit Kostenträ-
gern gibt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich
ein guter Anlass, das Thema erneut aufzugreifen. In dem
jetzt in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf der
Partei Die Linke wird gefordert, die Assistenzpflege auf
Einrichtungen der stationären Vorsorge und der Rehabili-
tation auszuweiten.

Wir als SPD


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die drei Leute da?)


können diese Forderung generell unterstützen.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Oh ja! Ihr seid heute völlig geschlossen!)


– Ja, wir als SPD können diese Forderung generell sehr
unterstützen. Wir sind uns absolut einig, dass wir diese
Forderung unterstützen, Herr Zöller.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Man sollte dafür sorgen, dass ihr nie mehr werdet! Ihr seid ja die drei von der Tankstelle!)


9062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Hilde Mattheis


(A) (C)



(D)(B)

Denn sie betrifft, wie ich bereits dargestellt habe, insbe-
sondere Menschen mit einem ganz starken individuellen
Hilfebedarf.

Unser Appell lautet: Lassen Sie uns in dem jetzt be-
ginnenden Verfahren auch die Bilanz aus dem ziehen,
was wir vor anderthalb Jahren gemeinsam auf den Weg
gebracht haben.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Richtig!)


Wie war die Wirkung des Assistenzpflegebedarfsgeset-
zes seit seinem Inkrafttreten? Wie viele Menschen konn-
ten davon profitieren? War der 2009 aufgestellte Finanz-
rahmen einigermaßen gut kalkuliert? Wird die Leistung,
wie es unsere Absicht war, auch in der medizinischen
Reha gewährt? Wird dadurch auch die Vorsorge abge-
deckt? Denn in § 111 SGB V werden Vorsorgeeinrich-
tungen und Rehaeinrichtungen gleichgesetzt.

Dies alles sollten wir gemeinsam im Sinne der Men-
schen mit Behinderungen klären. Ich bin mir sicher, dass
wir dann in diesem Hause, genauso wie 2009, eine ganz
breite Mehrheit für dieses gemeinsame Anliegen hinbe-
kommen und weiter Gutes bewirken können.

In diesem Sinne bedanke ich mich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber dann solltet ihr mit ein paar mehr Leuten da sein!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708133500

Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1708133600

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gut

gemeint ist nicht immer gut gemacht. Die Motivation
mag nachvollziehbar sein; aber der Gesetzentwurf geht
an der Realität vorbei. Zunächst einmal kommt diese
Diskussion hier und jetzt zur falschen Zeit.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aha! Wieso?)


Denn das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflege-
bedarfs im Krankenhaus wurde erst im Juli 2009 vom
Bundestag beschlossen. Über die Erfahrungen bei der
Umsetzung des Gesetzes gibt es seither noch keine Er-
kenntnisse.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Fragen Sie mal die Betroffenen!)


Niemand weiß das besser als die Linke selbst.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Fragen Sie doch mal die Betroffenen!)


Sie, Herr Kollege Seifert, haben die Bundesregierung
im Juni und im Oktober 2010 nach einem Erfahrungsbe-
richt gefragt.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ja!)

Beide Male lautete die Antwort gleich: Es gibt aufgrund
der kurzen Geltungsdauer des Gesetzes noch keine Er-
fahrungen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Dann müsst ihr mal die Betroffenen fragen!)


Insbesondere gibt es keine Erfahrungen, die auf die drin-
gende Notwendigkeit der Ausweitung der betroffenen
Einrichtungen hindeuten würden. Außerdem hat das Bun-
desgesundheitsministerium Ihnen, Herr Seifert, deutlich
gemacht: Eine Erweiterung des Leistungsanspruchs auf
Einrichtungen über den Krankenhausbereich hinaus wird
nicht in Aussicht gestellt. Das war vor zwei Monaten.
Wozu also jetzt diese Debatte?


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Eben! Um das zu ändern!)


Die Linke nimmt in ihrem Gesetzentwurf Bezug auf
die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen. Die Ausdehnung des Assistenzbedarfs
für Menschen mit Behinderungen leitet sie aus Art. 25
dieser Konvention ab. Nichts könnte verfehlter sein.
Denn bereits in der Debatte im Juli 2009 wurde deutlich,
dass sich schon das Gesetz zur Regelung des Assistenz-
pflegebedarfs im Krankenhaus nicht aus dieser UN-Kon-
vention ableiten ließ.

Aus diesem Grund hat sich die FDP seinerzeit der
Stimme enthalten. Zu Recht haben wir die Auffassung
vertreten, dass die Aufnahme einer Begleitperson im
Krankenhaus bereits in § 2 der Bundespflegesatzverord-
nung geregelt ist. Dieser beschreibt die aus medizini-
schen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleit-
person des Patienten. Eine Neuregelung war daher
unnötig, und unnötigen Gesetzen stimmen wir nicht zu.

Wenn die Linke jetzt auch noch die Ausweitung des
Gesetzes auf die Bereiche Vorsorge und Rehabilitation
aus der UN-Konvention ableiten möchte, ist dies noch
weniger begründet. Bereits in der Debatte im Jahr 2009
wollte die Linke die Zahlungen für Assistenzpfleger aus-
weiten. Sie wollte neben den Krankenhäusern die Vor-
sorge- und Rehabilitationseinrichtungen gemäß § 107
SGB V in den Leistungskatalog aufnehmen. An der
Situation des letzten Jahres hat sich aber nichts geändert.
Der Gesetzentwurf der Linken kann nicht aus der
UN-Konvention abgeleitet werden.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Klar kann er das!)


Sehen wir uns einmal die Realität an. Es ist sicher aus
behindertenpolitischer Sicht erfreulich, dass die Assis-
tenzpfleger im Krankenhaus an der Seite der Betreuten
sind. Wir haben aber noch keine Erkenntnisse über den
tatsächlichen Bedarf. Die medizinisch hochwertige Be-
treuung ist ja allein schon durch den Krankenhausaufent-
halt rund um die Uhr gewährleistet.

Wir haben ferner keine Erkenntnisse, ob auch im
Vorsorge- und Rehabilitationsbereich Assistenzpfleger
zwingend benötigt werden. In der Regel dauern Vor-
sorge- und Rehamaßnahmen sehr viel länger und sind
sehr viel zeitaufwendiger als Krankenhausaufenthalte.
Das bedeutet: Die Pfleger werden bei voller Bezahlung

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9063

Dr. Erwin Lotter


(A) (C)



(D)(B)

für einen erheblichen Zeitraum auf ihre reine Begleit-
funktion reduziert. Die Linke behauptet, das vorhandene
Rehapersonal könne die Assistenzleistung nicht in der
nötigen Qualität und im nötigen Umfang erbringen. Dies
entspricht schlichtweg nicht den Tatsachen. Es entwertet
die Arbeit, die von den Menschen im Krankenhaus und
in den Rehazentren erbracht wird.

Die Argumentation der Linken ist an den Haaren her-
beigezogen. Sie behaupten, es seien Mehrkosten von
circa 150 000 Euro zu erwarten. Das ist reines Wunsch-
denken. Ihr Gesetzentwurf hätte eine fatale Konsequenz.
Die Leistungsverpflichtungen der Kommunen würden
erheblich ausgeweitet. Gleiches gilt für die Verpflichtun-
gen der Pflegeversicherung, und dies ohne jede zwin-
gende Begründung.

Die Linke führt in ihrem Antrag aus: Zu erwartende
Mehrausgaben „sollen im Ergebnis nicht die Kommunen
mit zusätzlichen Kosten belasten.“ Schön wäre es, meine
Damen und Herren. Natürlich würden die kommunalen
Haushalte belastet; denn die Assistenten werden aus dem
SGB XII finanziert. Schon in der Anhörung zum Assis-
tenzpflegebedarfsgesetz im Jahr 2009 wurde übrigens
von der Sozialhilfe klargestellt: Die Kosten wären für
die Sozialhilfeträger erheblich.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Im Jahr 2009 war ich
behindertenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestags-
fraktion. Ich habe die Diskussion um die Assistenzpfle-
ger aufmerksam verfolgt. Damals wie heute sage ich
klar: Die UN-Konvention über die Rechte von Men-
schen mit Behinderungen muss in Deutschland ohne
Wenn und Aber in nationales Recht umgesetzt werden.
Aber für ein Gesetz im Sinne der UN-Konvention gibt es
doch eine ganz klare Voraussetzung: Die vorgeschlage-
nen Maßnahmen müssen die Situation der betreuungsbe-
dürftigen Behinderten nachweisbar und dauerhaft ver-
bessern. Dann kann man sich auch über eine Novel-
lierung unterhalten. Dann kann man auch darüber spre-
chen, ob nicht entsprechend Geld in die Hand genom-
men werden sollte. Wenn künftige Erfahrungsberichte
erweisen, dass die derzeitige Lage nicht zufriedenstel-
lend ist, können wir diese Debatte ansetzen. Vorausset-
zung wäre die Erkenntnis: Eine Ausweitung eines Ge-
setzes auf Vorsorge- und Rehaeinrichtungen ist medizi-
nisch zwingend geboten.

Aber zunächst werden wir die Auswirkungen der ge-
rade erst vor 17 Monaten in Kraft getretenen Regelungen
abwarten und sorgfältig auswerten. Vielleicht lässt sich
dann ja Anpassungsbedarf feststellen.

Sie wollen die Parteien der Regierungskoalition als
behindertenfeindlich darstellen. Nicht mit uns, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und schon gar nicht mit mir.
Wir werden uns für alle Maßnahmen einsetzen, die sinn-
voll sind im Interesse der Behinderten. Schaumschläge-
rei aber ist ineffektiv und würde Kosten verursachen, die
wir nicht mittragen. Dies ist nicht im Interesse der Be-
troffenen, und dies ist auch nicht im Sinne derjenigen,
die ihr Engagement und ihre Arbeitskraft für unsere be-
hinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das sagen Sie den Betroffenen, die eine Assistenz brauchen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708133700

Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg von der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Vor anderthalb Jahren haben wir an gleicher Stelle
schon einmal über den Assistenzpflegebedarf von Men-
schen mit Behinderung beraten. Wir haben damals un-
sere Bedenken und auch unsere Anmerkungen zu dem
verabschiedeten Assistenzpflegebedarfsgesetz kundge-
tan. Uns ging es damals ums Ganze. Es ging uns darum,
Menschen mit Behinderung ganzheitlich zu betrachten.
Es ging uns um die Verbesserung der gesundheitlichen
Versorgung, und es ging uns auch darum, Menschen mit
Pflegebedarf in den Blick zu nehmen.

Das Assistenzpflegebedarfsgesetz hat aber genau die-
sen ganzheitlichen Blick nicht. Es weist nämlich einen
Mangel auf, den leider auch der Gesetzentwurf der Frak-
tion Die Linke nicht beseitigt. Der Mangel liegt in dem
kleinen Anspruchskreis von Leistungsempfängerinnen
und Leistungsempfängern. Es profitieren nämlich nur
diejenigen, die ihre Alltagsunterstützung und Pflege
durch von ihnen persönlich angestellte besondere Assis-
tenzkräfte sicherstellen. Dabei stellt sich natürlich die
begründete Frage: Was passiert mit den anderen pflege-
bedürftigen Menschen mit Behinderung, mit denen näm-
lich, die ihre Assistenz von ambulanten Diensten oder
anderen Anbietern erhalten? Diese haben zu Recht den
gleichen Wunsch und auch Bedarf, aber dummerweise
beschäftigen sie ihre Assistenzen nicht nach dem Arbeit-
gebermodell. Eine derartige Ungleichbehandlung bei
gleichen Bedarfen lässt sich wirklich nur sehr schwer
vermitteln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Für uns ist das unverständlich und auch inkonsistent.
Je weniger es einem Menschen mit Behinderung mög-
lich ist, selbstbestimmt ein Arbeitgebermodell zu mana-
gen – dafür gibt es wirklich gewisse Voraussetzungen –,
umso geringer ist die Chance auf Assistenzpflege im
Krankenhaus oder in Vorsorge- oder Rehaeinrichtungen.
Das erklären Sie einmal einem Menschen mit Behinde-
rung, der von diesen Regelungen nicht profitiert!

Es ist also eine privilegierte Gruppe von Menschen
mit Behinderung, die vom Assistenzpflegebedarfsgesetz
profitiert. Das gilt ebenso bei der geplanten Erweiterung
durch den nun vorgelegten Gesetzentwurf.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber wir können ja einmal klein anfangen!)


Die Bundesregierung hat in der Beantwortung einer
Kleinen Anfrage vom 15. September 2010 als eine Maß-

9064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)

gabe des Assistenzpflegebedarfsgesetzes angeführt, dass
Versorgungsbrüche vermieden werden sollen. Die ver-
trauten Betreuungspersonen sollen den auf Hilfe ange-
wiesenen Personen auch in kritischen Versorgungssitua-
tionen zur Verfügung stehen. Eine Regelungslücke sei
durch das Assistenzpflegebedarfsgesetz geschlossen
worden, so die Bundesregierung.

In ihrer Antwort verkennt die Bundesregierung, dass
diese Lücke eigentlich sehr viel größer ist. Durch das
Assistenzpflegebedarfsgesetz in seiner jetzigen Form
wird nur für einen kleinen Kreis von Menschen mit Be-
hinderung ein Schutzschirm aufgespannt. Ein Großteil
der Betroffenen wird unbeachtet im Regen stehen gelas-
sen. Daran wird auch durch den Gesetzentwurf der Frak-
tion der Linken nur bedingt etwas geändert.

Hinzu kommt noch, dass wir bisher nur wenig bis gar
nichts über die Annahme der Regelung zur Assistenz-
pflege in Krankenhäusern wissen. Aus diesem Grund
möchte ich die Bundesregierung auffordern, uns in ab-
sehbarer Zeit über den Sachstand und die Erfahrungen
mit dem Assistenzpflegebedarfsgesetz im Krankenhaus
für Menschen mit Behinderung zu unterrichten.


(Eine Reihe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP betritt den Plenarsaal)


– Guten Abend.


(Unruhe)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708133800

Reden Sie ruhig weiter, Frau Kollegin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, ich möchte aber auch gehört werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708133900

Das ist ein ganz unerheblicher Vorgang.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, nein, auch wenn Sie es nicht unerheblich fin-
den, wenn die FDP ihre Reihen auffüllt. Ich möchte
gerne, dass auch diese Herren in den Genuss meiner
Rede kommen.

Uns ist an einer guten und nachhaltigen Gesundheits-
versorgung gelegen. Verbesserungen können wir nur er-
zielen, wenn wir ausreichend und transparent informiert
werden.


(Unruhe)


– Es freut mich, dass Sie jetzt hierhergekommen sind, es
würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie zuhören
würden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708134000

Frau Kollegin, Sie müssen aber allmählich zum Ende

kommen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden uns dem Gesetzentwurf nicht versperren,
weil es uns um die Betroffenen geht, anders offensicht-
lich als Ihnen gerade. Wir müssen aber grundlegend
überdenken, wie die zukünftige Weiterentwicklung des
Assistenzpflegebedarfsgesetzes, über die wir hier gerade
reden, aussehen soll.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708134100

Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich Kolle-

gen Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1708134200

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das kurz
zusammenfassen: Wir sprechen gerade – und haben ge-
sprochen; ich möchte das kurz zusammenfassen – über
einen Gesetzentwurf,


(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lassen Sie es, die hören eh nicht zu!)


mit dem gefordert wird, dass Menschen mit Behinde-
rung ihre persönliche Assistenz nicht nur ins Kranken-
haus, sondern auch in die oft folgende medizinische Re-
habilitationsmaßnahme und in stationäre Vorsorge-
maßnahmen mitnehmen können.

Man wird sich jetzt natürlich fragen, warum über all
das zu dieser späten Stunde – viele externe Zuhörer gab
es ja nicht – hier noch einmal so ausführlich diskutiert
wird. Ich glaube, das hat auch ein bisschen damit zu tun,
dass die Linken in ihrem Gesetzentwurf neue Leistungen
fordern, was sie deutlich machen und auch in bestimm-
ten Situationen vor Wahlkämpfen deutlich machen wol-
len, weil sie dort, wo sie selbst in der Regierungsverant-
wortung sind – ich kann es Ihnen ja nicht ersparen, das
zu sagen –, Leistungen für Menschen mit Behinderung
gekürzt und eingespart haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das gilt etwa in Berlin für die Kürzung des Blindengel-
des zu Zeiten der rot-roten Koalition, das gilt für Einspa-
rungen im Bereich der Behindertenfahrdienste, für Ein-
sparungen bei Mobilitätshilfen und bei Wohlfahrts-
verbänden.


(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Kommen Sie mal zum Thema!)


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9065

Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)

– Ja, ich will nur, dass man versteht, was die Motivation
dafür ist, dass das alles jetzt in dieser Weise als eine ein-
zelne Initiative vorgetragen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In der Sache leuchtet es mir völlig ein, dass Menschen
mit Behinderung ihre Assistenzkräfte, die sie im Arbeit-
gebermodell beschäftigen, selbstverständlich sowohl zu
stationären Klinikaufenthalten als auch zu Vorsorge- und
Rehabilitationsmaßnahmen mitnehmen wollen. Nach
wie vor halte ich die Schaffung des gesetzlichen An-
spruchs auf die Mitnahme der Assistenz bei stationären
Krankenhausaufenthalten für richtig. Dies ist unter Mit-
wirkung der Union und aufgrund wesentlicher Impulse
beispielsweise unseres damaligen Behindertenbeauftrag-
ten Hubert Hüppe gelaufen, des Vorgängers von Maria
Michalk.


(Hilde Mattheis [SPD]: Ich kann mich aber anders erinnern!)


Ich meine nach wie vor – darin unterscheide ich mich
vielleicht ein bisschen von anderen Rednern –, es war
eine richtige Entscheidung der vorigen Bundesregierung
und der vorigen Koalition, diese Leistung einzuführen.


(Zuruf von der LINKEN)


– Ich habe ja gesagt, ich habe volles Verständnis für je-
den, der sich das als Betroffener wünscht, auch wenn es
eben – Frau Scharfenberg hat das hervorgehoben – auf
das Arbeitgebermodell begrenzt ist. Ich habe volles Ver-
ständnis dafür, dass jemand, der dies als Betroffener im
Krankenhaus nutzt, es auch in Rehabilitations- und Vor-
sorgeeinrichtungen nutzen will.

Aber wenn wir eine solche Erweiterung des Leis-
tungsanspruchs wollen, dann muss das sorgfältig vorbe-
reitet werden. Darin hat Kollege Lotter doch komplett
recht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört, dass die Auswirkungen der bestehenden
Regelung, die immerhin erst am 31. Juli 2009 in Kraft
getreten ist, beobachtet und ausgewertet werden. Ich
habe das Gefühl, auch darüber, dass das zu geschehen
hat, besteht Einvernehmen im Haus.

Auf dieser Grundlage kann dann geprüft werden, ob
und in welcher Form gesetzgeberischer Anpassungsbe-
darf besteht. Ich bin Herrn Lotter und der FDP-Fraktion
ausgesprochen dankbar dafür, dass er betont hat: Wenn
sich zeigt, dass dort Handlungsbedarf besteht, dann ist
selbstverständlich auch Bereitschaft zum Handeln vor-
handen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Selbstverständlich bedeutet eine Leistungsausweitung
auch höhere Kosten für die Träger der Sozialhilfe. Das
ist ein Problem, das es immer wieder erschwert, zusätzli-
che Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen zu
treffen. Dennoch haben wir in den vergangenen Jahren
in der Politik für diese Menschen vieles erreicht. Mit der
Ratifizierung der UN-Konvention, dem Sozialgesetz-
buch IX und dem Rechtsanspruch auf Leistungen in
Form des Persönlichen Budgets haben wir wichtige Re-
gelungen auf einem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe
von Menschen mit Behinderung verabschiedet. Als
CDU/CSU-Fraktion haben wir daran einen wichtigen
Anteil.

Aber in der Praxis zeigt sich, dass diese Ansprüche
mitunter zu spät, nur zum Teil oder auch gar nicht umge-
setzt werden; auch das gehört zur Realität. Das kann uns
alle hier im Haus nicht ruhen lassen. Für uns ist es des-
halb ein wichtiges Anliegen, die Eingliederungshilfe
weiterzuentwickeln. Hier besteht Reformbedarf, um eine
moderne und teilhabeorientierte Behindertenpolitik wei-
terhin zu ermöglichen. Ich glaube, dass wir uns auch in
diesem Punkt fraktionsübergreifend einig sind oder zu-
mindest einig sein müssten. Bei all unseren Forderungen
und Verbesserungsvorschlägen brauchen wir dann aber
auch die Unterstützung der Länder und der Kommunen,
denn sie tragen in erster Linie die Kosten für Eingliede-
rungshilfeleistungen. Der Grundsatz muss sein: Leistun-
gen müssen dem Menschen mit Behinderung entspre-
chen, nicht der Mensch den Leistungen.

Ich habe vorhin vom Sozialgesetzbuch IX gespro-
chen. Darin gibt es etwas, was mich regelrecht aufregt,
nämlich dass Menschen mit Behinderung bei der Suche
nach den zuständigen Kostenträgern entgegen der gel-
tenden Rechtslage immer noch viel zu häufig von einer
Stelle zur anderen weitergereicht werden, ohne die für
sie erforderlichen Leistungen zu bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das ist eine besonders ärgerliche Form von Schwarzer
Peter. Fristen für die Bearbeitung von Anträgen werden
nicht eingehalten, unterschiedliche Leistungen nicht ko-
ordiniert.

Ich glaube, wir müssen uns über die Zukunft Gedan-
ken machen und gegebenenfalls eine andere Ausgestal-
tung der gemeinsamen Servicestellen in Betracht ziehen,
die wir im Sozialgesetzbuch IX geschaffen haben. Ich
kann mir zum Beispiel vorstellen, über ein neues Mitei-
nander von Servicestellen, Pflegestützpunkten, Pflege-
beratungsstellen und ähnlichen Stellen zu reden.

Ich komme zum Schluss. Politische Entscheidungen,
die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt
betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konven-
tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
messen lassen. Ich appelliere an uns alle: Schaffen wir
nicht noch mehr Bürokratie! Vereinfachen wir den Be-
hördendschungel, damit die Betroffenen nicht ständig
von Pontius zu Pilatus laufen müssen, um das zu bekom-
men, was ihnen zusteht. Das gilt nicht nur für diejenigen,
die ihre Assistenz nach dem Arbeitgebermodell organi-
sieren, sondern für alle Menschen mit Behinderungen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


9066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010


(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708134300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3746 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Es folgen jetzt zehn Tagesordnungspunkte hinter-
einander. Ich bitte um angemessene Aufmerksamkeit,
wenn Sie schon hier eingetroffen sind.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Freie und gleiche Wahlen in Belarus einfor-
dern – Menschenrechtslage verbessern

– Drucksache 17/4194 –

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Erika
Steinbach, Uta Zapf, Marina Schuster, Wolfgang
Gehrcke, Marieluise Beck.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/4194. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der Grü-
nen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der
SPD angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Nicole Maisch, Winfried Hermann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts
verbessern

– Drucksache 17/4041 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

1) Anlage 3
Reisende besser schützen
– Drucksachen 17/2428, 17/4019 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gabriele Hiller-Ohm
Horst Meierhofer
Dr. Ilja Seifert
Abg. Markus Tressel

Auch hier ist vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll
zu geben. – Sie sind einverstanden. Folgende Kollegen
wollten sprechen und haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Peter Wichtel, Marlene Mortler, Gabriele Hiller-
Ohm, Jens Ackermann, Kornelia Möller, Markus
Tressel.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4041 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Tagesordnungspunkt 18 b. Wir kommen zur Abstim-
mung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/4019, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2428
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und den Linken bei Stimmenthaltung der
SPD angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
setzes über die Einsetzung eines Nationalen
Normenkontrollrates
– Drucksache 17/1954 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/4241 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Kai Wegner

Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben, und
zwar von den Kollegen Kai Wegner, Andrea Wicklein,
Frank Schäffler, Michael Schlecht und Kerstin
Andreae.3)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4241, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/1954 in der Ausschussfassung anzuneh-

2) Anlage 4
3) Anlage 5

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9067

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aber knapp!)


Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Energiesteuer- und des
Stromsteuergesetzes

– Drucksachen 17/3055, 17/3307 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/4234 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Ingrid Arndt-Brauer
Dr. Birgit Reinemund

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/4235 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde

Hierzu liegen ein gemeinsamer Änderungsantrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie
ein weiterer Änderungsantrag und ein Entschließungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Auch hier
sind die Reden zu Protokoll gegeben worden, und zwar
von den Kollegen Norbert Schindler, Peter Aumer,
Ingrid Arndt-Brauer, Birgit Reinemund, Barbara Höll
und Lisa Paus.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/4234, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/3055 und 17/3307 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.


(Parl. Staatssekretär Daniel Bahr fotografiert von der Regierungsbank aus die Abgeordneten der FDP-Fraktion)


1) Anlage 6
– Es finden hier also noch künstlerische Betätigungen
statt?


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, vollbringe ich
doch gerade die rhetorische Meisterleistung, die Abstim-
mungen in hohem Tempo zu absolvieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir stimmen zunächst über die Änderungsanträge ab,
und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktio-
nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/4251. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ände-
rungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge-
lehnt.

Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4252: Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD und der Lin-
ken abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit denselben Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4253. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei
Enthaltung der Linken abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Bildungszusammenarbeit von Bund und Län-
dern verlässlich weiterentwickeln

– Drucksache 17/4187 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

9068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Monika Grütters,
Tankred Schipanski, Ernst Dieter Rossmann, Swen
Schulz, Patrick Meinhardt, Rosemarie Hein und Priska
Hinz.


Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1708134400

Vor fast genau sechs Monaten, am 10. Juni 2010, ha-

ben wir im Plenum bereits einmal einen Antrag der SPD
diskutiert. Der Titel des Antrags lautet „Nationalen Bil-
dungspakt für starke Bildungsinfrastrukturen schaffen“.
Die Ähnlichkeiten zum nun vorliegenden Antrag „Bil-
dungszusammenarbeit von Bund und Ländern verläss-
lich weiterentwickeln“ entgehen dem aufmerksamen Le-
ser nicht.

Der Grund dafür, dass die SPD ihren alten Wein noch
einmal in neue Schläuche packt, ist schnell gefunden.
Denn die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2011 vor
wenigen Wochen hat noch einmal deutlich gemacht, wie
ernst die christlich-liberale Bundesregierung ihr Be-
kenntnis zur Schaffung der Bildungsrepublik Deutsch-
land nimmt: Wie schon im Jahr 2010 werden auch im
Jahr 2011 die Mittel für Bildung und Forschung um
mehr als 7 Prozent erhöht. Die Steigerung des Gesamt-
haushaltes um 782 Millionen auf nun insgesamt mehr
als 11,6 Milliarden Euro ist in Zeiten der Schulden-
bremse ein starkes Zeichen, das Bildung und Forschung
für diese Regierung absolute Priorität genießen.

Der gerade erschienene Bildungsfinanzbericht bestä-
tigt diese Einschätzung ausdrücklich. Im Jahr 2010 wer-
den die öffentlichen Bildungsaufgaben in Deutschland
zum ersten Mal die Grenze von 100 Milliarden Euro
überschreiten. Auch einen Hinweis auf die Gründe für
diese Steigerung gibt der Bildungsfinanzbericht: „Als
Ergebnis politischer Entscheidungen stiegen die öffent-
lichen Bildungsausgaben im Vergleich zu den gesamten
öffentlichen Ausgaben überproportional.“

Ich empfehle den Kollegen hier noch einmal einen
Blick in unseren Koalitionsvertrag „Wachstum. Bildung.
Zusammenhalt“. Die christlich-liberale Koalition hält
ihre Versprechen nicht nur mit einem aktuellen Wirt-
schaftswachstum von 3,5 Prozent, sondern auch mit ei-
nem nie dagewesenen Engagement für Bildung und For-
schung.

Das reizt die Opposition natürlich – und statt eine
verantwortungsbewusste und nachhaltige Politik zu
würdigen, legt die SPD ihre wenig originellen Ideen
schon wieder vor. Viel Neues ist Ihnen nicht eingefallen.
Noch immer beschränkt sich Ihre Kreativität auf die
plumpe Forderung nach noch mehr Geld und einem
noch größeren Engagement des Bundes. Fast ein wenig
dreist ist Ihre Haltung, dem Bund die alleinige Verant-
wortung für die Erreichung des 7-Prozent-Ziels für die
Bildung zuzuschieben, und das auch noch „unbeschadet
der föderalen Zuständigkeiten“, wie Sie es ja ausdrück-
lich formulieren. Dazu gehört schon ein gerüttelt Maß
an Ignoranz. Sie fordern, dass der Bund bis 2015 die
notwendigen jährlichen Mehrausgaben von 20 Milliar-
den Euro alleine tragen soll: 10 Milliarden Euro über ei-
nen „direkten Beitrag“ und die anderen 10 Milliarden
Euro durch Transfers des Bundes an die Länder und
Kommunen. Dieses Verständnis von „Bildungszusam-
menarbeit“, in dem der eine zahlt, während der andere
das Geld nach bildungsideologischem Gutdünken aus-
geben darf, ist eine gedankenlose Übernahme der Ver-
sorgungsmentalität, die so mancher SPD-Bildungs-
minister in den letzten Wochen zur Schau gestellt hat.

Dabei investiert diese Bundesregierung bereits mehr
Geld in die Bildung, als jede andere Regierung das je
zuvor getan hat. Das gilt im Übrigen auch für alle Re-
gierungen, die von SPD und Grünen gebildet wurden.
Ich darf Ihnen zwei Beispiele nennen: Wir unterstützen
die Studierenden in Deutschland bei der Finanzierung
ihres Studiums im kommenden Jahr mit mehr als
1,7 Milliarden Euro. Damit haben wir die Förderung in
diesem Bereich im Vergleich zu Rot-Grün – 2005:
1,1 Milliarden Euro – um mehr als 53 Prozent ausge-
baut.

In die konkrete Verbesserung der Lehre an den Hoch-
schulen investieren wir in diesem Jahr 780 Millionen
Euro, zum Beispiel durch den Wettbewerb „offene Hoch-
schule“ und den Bologna-Mobilitätspakt. Damit über-
treffen wir die Förderung der letzten rot-grünen Regie-
rung in diesem Bereich bei weitem. 2005 hatten SPD
und Grüne hierfür nämlich nur 9 Millionen Euro übrig,
obwohl die Umsetzung des Bologna-Prozesses bereits
seit 1999 auf der Tagesordnung stand.

Die ersten Ergebnisse unserer Investitionen in die
Bildungsrepublik Deutschland können wir bereits jetzt
sehen:

Im Jahr 2010 konnte das Statistische Bundesamt wie-
der einen Rekord bei den Studienanfängerzahlen ver-
melden. 442 000 junge Menschen haben im Jahr 2010
ein Studium aufgenommen, 4 Prozent mehr als noch
2009. Das ist auch ein Verdienst unseres Engagements
bei der Studienfinanzierung. Mit BaföG-Erhöhung, der
Stärkung der Begabtenförderungswerke und der Einfüh-
rung des Deutschlandstipendiums schaffen wir die Vo-
raussetzungen dafür, dass möglichst viele junge Men-
schen ein Studium finanziert bekommen.

Auch sorgen wir dafür, dass sich wieder vermehrt
junge Menschen aus bildungsfernen Schichten für ein
Studium entscheiden. Die letzte Studie des HIS hat ge-
zeigt, dass die Studierquote in dieser Gruppe um 6 Pro-
zent angestiegen ist, während die Studierquote bei Kin-
dern aus bildungsnahen Schichten „nur“ um 3 Prozent
stieg. Anders als die Opposition gern polemisiert, sor-
gen wir dafür, dass die Kluft zwischen bildungsfernen
und bildungsnahen Schichten kleiner wird und eben
nicht wächst. Das schaffen wir, weil wir unsere Bil-
dungspolitik verantwortungsvoll und nachhaltig gestal-
ten und uns nicht in ideologischen Debatten erschöpfen.

Auch die aktuelle PISA-Studie, die Deutschland si-
gnifikante Fortschritte in allen Teilbereichen attestiert,
zeigt, dass die Bundesregierung unter Angela Merkel
und mit Annette Schavan im Bildungsbereich ihre Ver-
sprechen hält.

Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)

Das beste Beispiel dafür, wie man es nicht macht, ist
leider nicht nur hinsichtlich der PISA-Studie wieder ein-
mal Berlin. Nicht nur, dass wir einen rot-roten Senat ha-
ben, dem nicht mehr einfällt, als Gymnasiumsplätze ver-
losen zu lassen; nun haben wir auch noch eine grüne
Spitzenkandidatin, die sich vorstellen kann, diese erfolg-
reichste aller Schulformen „mittelfristig“ ganz zur Dis-
position zu stellen.

Damit bin ich auch schon beim Kooperationsverbot,
das die Bildungsdebatte zwischen Bund und Ländern
wesentlich prägt. Sie sprechen sich in Ihrem Antrag für
eine verstärkte Kooperation zwischen Bund und Län-
dern aus. Sie haben recht: Schaut man sich die Bil-
dungsergebnisse der SPD-geführten Bundesländer an
und vergleicht diese mit den CDU-geführten Bundeslän-
dern, dann kann man wirklich nur zu dem Schluss kom-
men, dass ein stärkeres Engagement dieser christlich-li-
beralen Regierung in den SPD-geführten Länder
wirklich notwendig wäre.

Die Bundesbildungsministerin und auch meine Frak-
tion haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir ei-
ner Fortentwicklung der Verfassungswirklichkeit offen
gegenüberstehen. Bund und Länder sollten in der Tat ge-
meinsam dafür Sorge tragen, die Leistungsfähigkeit un-
seres Bildungssystems nicht nur gemeinsam „festzustel-
len“ sondern „sicherzustellen“. Es sind allerdings die
Länder, in denen die Bereitschaft, dem Bund eine ange-
messene Mitsprache zu ermöglichen, noch nicht in aus-
reichendem Maße gegeben ist. So lange bleibt nur der
Appell an eben diese Länder, ihrer Verantwortung für
die Bildung dann auch finanziell angemessen gerecht zu
werden.

Bisher hat es Annette Schavan jedenfalls mit großer
Kunstfertigkeit verstanden, dem Bund mit intelligenten
Instrumenten ein Engagement in der Bildungspolitik zu
ermöglichen. Mit Exzellenzinitiative und Hochschulpakt
hat die Ministerin Wege jenseits des Kooperationsverbo-
tes gefunden, die wirksam genutzt werden.

So ist die Fortentwicklung des Hochschulpakts eine
Möglichkeit, um auf den absehbaren Anstieg der Studie-
rendenzahlen aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht
zu reagieren. Fest muss aber stehen, dass ein Engage-
ment des Bundes nicht mit einem finanziellen Rückzug
der Länder einhergehen darf, wie das anscheinend dem
Berliner Bildungssenator Zöllner und einigen anderen
Bildungsministern vorschwebt.

Der Bund wird seine Verantwortung für die Bildungs-
politik wahrnehmen, das zeigt nicht zuletzt der Haushalt
des BMBF. Er wird aber die Länder nicht aus ihrer
– auch finanziellen – Verantwortung für das Bildungs-
system entlassen. Dies zu glauben wäre ein Missver-
ständnis unseres föderalistischen Systems, und das wird
in meiner Fraktion keine Zustimmung finden.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1708134500

Der Antrag der SPD-Fraktion „Bildungszusammen-

arbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwi-
ckeln“ findet zumindest in seinem Titel Zustimmung
über Fraktionsgrenzen hinweg. Es ist lobenswert, dass
sich die SPD aktueller bildungspolitischer Fragen an-
nimmt und durchaus konstruktive Vorschläge unterbrei-
Zu Protokoll
tet. Ideen und Vorstellungen müssen aber immer in der
Wirklichkeit, allen voran in der Verfassungswirklichkeit
eingebettet sein, ansonsten wird man schnell wie die
Partei Die Linke zu einer Partei der Utopien.

Die Bildungspolitik liegt in unserem Bundesstaat pri-
mär im Verantwortungsbereich der Länder. Dieser ver-
fassungsrechtliche Fakt stößt auf große Ablehnung in
der Bevölkerung. Dies belegen uns beinahe jede Woche
neue Umfragen in den Zeitungen. Unser Volk wünscht
sich ein stärkeres Engagement des Bundes in der Bil-
dung, es wünscht sich mehr Vergleichbarkeit, Transpa-
renz und Konstanz.

Auch wenn wir als Bundespolitiker dies ähnlich be-
werten, können wir dies nicht „von oben“ verordnen,
und wir dürfen auch in der Bevölkerung nicht den Ein-
druck erwecken, dass wir dies könnten. Politik muss ehr-
lich sein. Zur Ehrlichkeit gehört, dass ohne ein „Mitma-
chen“ der Länder im Bereich der Bildung nichts geht. So
kann die SPD-Bundestagsfraktion noch so gute Modelle,
Ideen und Vorschläge erarbeiten – ohne ein Miteinander
mit den Bundesländern wird die Umsetzung nicht gelin-
gen.

Der Bund hat durch die christlich-liberale Koalition
seinen Part vorbildlich gestaltet. Wir gestalten die Bil-
dungsrepublik Deutschland. Massive Aufwüchse im
Haushalt des BMBF und ein intensives Arbeiten mit den
Bundesländern bei der Exzellenzinitiative, dem Hoch-
schulpakt 2020, dem Pakt für Forschung und Innova-
tion, dem Qualitätspakt Lehre. Diese Pakte sind finan-
ziell hervorragend ausgestattet. Einen im Antrag
geforderten zusätzlichen „Nationalen Bildungspakt“
bedarf es nicht. Allen voran ist nicht einzusehen, warum
der Bund für Maßnahmen zahlen soll, die im alleinigen
Zuständigkeitsbereich der Bundesländer liegen.

Es sind einige Bundesländer, die nicht „mitziehen“,
insbesondere die, in denen die SPD Verantwortung
trägt. Das haben uns die jüngsten Diskussionen um das
Deutschlandstipendium und die BAföG-Novelle gezeigt.
Es ist ein Versagen der Länder in der Bildungspolitik,
insbesondere bei der finanziellen Schwerpunkt- bzw.
Prioritätensetzung. Auch der Bund hat eine ange-
spannte Haushaltslage, aber für uns haben Bildung und
Wissenschaft höchste Priorität. Für uns ist eine gute
Bildungspolitik die beste Sozialpolitik. Bundesbildungs-
ministerin Annette Schavan ist stetig bemüht, mit den
Ländern Grundlinien der Bildungspolitik festzulegen,
und sucht eine konstruktive Zusammenarbeit. Doch die
Bundesländer verwehren uns oftmals diese konstruktive
Zusammenarbeit, primär aus ideologischen und partei-
taktischen Gründen. Die Länder kommen ihrer verfas-
sungsmäßigen Aufgabe im Bereich der Bildung nicht
mehr nach.

Richtig erkennt der vorliegende Antrag daher, dass es
einer Koordinierung der Bildungszusammenarbeit be-
darf. Der im Antrag vorgeschlagene Ausbau des Natio-
nalen Bildungsberichtes ist eine Idee. Ob sie zielführend
ist, vermag ich aus der heutigen Perspektive nicht zu be-
urteilen. Entscheidend ist, dass die Bundesländer die
Notwendigkeit einer Koordinierung durch den Bund an-
erkennen. Die Kultusministerkonferenz ist das gelebte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9069
gegebene Reden

Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

Gegenteil eines modernen Föderalismus. Doch zeigt uns
die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG, dass der
Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich hat. Hier
wünscht sich unsere Bildungsministerin die Möglichkeit
eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und
enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine gene-
relle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Län-
dern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund
scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshil-
fen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der
Länder zu nehmen.

Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Auf-
gabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in un-
sere Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet
von verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im
Bund-Länder-Verhältnis der „Grundsatz des bundes-
freundlichen Verhaltens“, die sogenannte Bundestreue,
elementar. Dieses Prinzip ist – als ungeschriebene Ge-
neralklausel – als staatsrechtliche Ausprägung des
Grundsatzes von Treu und Glauben zu verstehen. Es ver-
pflichtet – so das Bundesverfassungsgericht – den Bund
und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompeten-
zen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das
Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange
der Länder zu nehmen“. Diesen Fakt müssen die Bun-
desländer begreifen. Sie müssen die koordinierende
Funktion des Bundes wollen. Nur dann kann Bildungs-
zusammenarbeit in einem modernen Föderalismus ge-
lingen.


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1708134600

Gestern haben sich einmal mehr die Ministerpräsi-

denten mit der Bundeskanzlerin zu einem Bund-Länder-
Gipfel getroffen, deren Vorgängertreffen in den letzten
zwei Jahren bekanntlich zu „Bildungsgipfeln“ stilisiert
worden sind. Davon könnte nun in diesem Jahr keine
Rede sein, obwohl der Bedarf für eine bessere Koordi-
nierung und für gemeinsame Aktionen von Bund und
Ländern doch aktueller denn je ist. Die jüngsten PISA-
Studien haben gezeigt, dass das konzertierte Vorgehen
von Bildungspolitikern in Kommunen, Ländern und
Bund für eine gute Bildungspolitik auch gute Ergebnisse
hervorbringen kann. Dies macht Mut, dieses Zusammen-
wirken auch in der Zukunft fortzusetzen. Nicht zuletzt
deshalb mehren sich auch die Stimmen, die die absolut
überflüssige und unverständliche Selbstfesselung des
Bundes und Selbstkasteiung der Länder durch das soge-
nannte „Kooperationsverbot“ aus den leidigen Zeiten
der Föderalismusreform I zurecht infrage stellen. Die
Einsicht wächst: Wenn in Zeiten von Finanzenge in den
öffentlichen Haushalten Bildung weiterhin Priorität ha-
ben soll, brauchen wir gerade mehr und nicht weniger
Kooperation.

Schließlich stellen wir auch fest: In der bildungspoli-
tischen Debatte fordern immer mehr Stimmen eine Bun-
deseinheitlichkeit im schulischen Bildungsbereich ein.
Viele sind es leid, zwischen den Bundesländern auf un-
terschiedliche Schulsysteme und nicht aufeinander ab-
gestimmte Lehr- und Lerninhalte zu treffen. Das müssen
auch die jährlich über 100 000 Kinder, die von einem
Bundesland in ein anderes ziehen, am eigenen Leib er-
Zu Protokoll
fahren, wenn sie so nicht die Chancen, sondern die
Grenzen des deutschen Föderalismus und seine Zersplit-
terung im Bildungsbereich leidvoll selbst erfahren müs-
sen.

Konsens und Kooperation müssen also Leitprinzipien
für eine Politik sein, die sich an den tatsächlichen Bil-
dungsbedürfnissen und Bildungserfordernissen orien-
tiert. Dann stellt sich aber die Frage, welche praktisch
zugänglichen Wege wir in der gegenwärtigen Verfas-
sung der Bundesrepublik und bei der Vielfalt der politi-
schen Akteure konstruktiv gehen können, um diesen
Prinzipien gerecht zu werden. Um es glasklar zu sagen:
Die SPD ist nicht dafür, die landespolitische Zuständig-
keit für die Bildung durch eine Bundeszuständigkeit ab-
zulösen. Dies würde nicht nur den Grundprinzipien der
Verfassung widersprechen, es wäre auch bildungspoli-
tisch falsch. Denn natürlich liegen in der landesbezoge-
nen, sehr konkreten und direkten Ausgestaltung von
schulischen Bildungsangeboten auch große Chancen.

Die SPD sieht aber auch mit großer Sorge, wie das
Zusammenwirken von Bund und Ländern in der Bil-
dungspolitik in der Vergangenheit hin und her ge-
schwankt ist. Oft gab es da euphorische Ankündigungen
von Bildungsgipfeln, die aber von Kohl bis Merkel dann
doch vor allem Attrappe und schöner Marketing-Schein
gewesen sind. Dem gegenüber steht dann wieder der Mi-
nimalismus vieler kleiner Punkt-zu-Punkt-Entscheidun-
gen und Verabredungen, die trotz aller Widerstände un-
ter dem Druck der Verhältnisse dennoch zustande
gekommen sind. Für eine zukunftsgerichtete Bildungs-
politik brauchen wir eine neue und nachhaltige sowie
konkret gefasste Bereitschaft, die Bildungszusammenar-
beit von Bund und Ländern verlässlich weiterzuentwi-
ckeln.

Als machbares Projekt möchten wir Ihnen mit diesem
Antrag die Aufwertung der seit fünf Jahren erfolgreich
eingeführten Bildungsberichterstattung hin zu einem In-
strument von offener Bildungskoordinierung und -bera-
tung vorschlagen. Wir sehen hierin eine große Chance
für eine bessere, offene Koordinierung der Bund-Län-
der-Bildungszusammenarbeit. Dazu soll die Bundesre-
gierung ein Konzept für die Weiterentwicklung des Na-
tionalen Bildungsberichtes vorlegen. Der Bericht soll
sich künftig nicht nur wie bisher auf die wissenschaftli-
che Feststellung und Beschreibung von Wirklichkeiten
beschränken. Er soll stattdessen ambitionierter, politi-
scher, zielbestimmter und damit auch praxiswirksamer
werden.

Dafür sollen die bildungspolitischen Ziele, die von
den Ländern und vom Bund gemeinsam verfolgt werden,
in diesem alle zwei Jahre vorzulegenden Bildungsbe-
richt klar bestimmt, terminiert und quantifiziert werden.
Die gesamte Bildungskette von der frühkindlichen Bil-
dung bis zur Weiterbildung ist einzubeziehen. Bei der
Auswahl der Zielvereinbarungen sind dabei sowohl die
auf europäischer Ebene vereinbarten Kernziele des stra-
tegischen Rahmens für die Zusammenarbeit auf dem Ge-
biet der allgemeinen und beruflichen Bildung 2020 als
auch die in der Qualifizierungsinitiative für Deutsch-
9070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

land von Bund und Ländern vereinbarten Ziele ange-
messen zu berücksichtigen.

Um hier einen politischen Einschub zu machen: Es ist
doch absurd, dass wir im Bildungsausschuss des Bun-
destages und auch hier im Plenum immer wieder mit
Zielvorstellungen konfrontiert werden, die auf europäi-
scher oder nationaler Ebene von den Exekutivgremien
der Länder und des Bundes festgelegt worden sind, diese
Zielvorstellungen aber der parlamentarischen Beglei-
tung und Beratung entzogen sind, weil sie im entschei-
denden Instrument zur Bildungsentwicklung in Deutsch-
land, nämlich dem Nationalen Bildungsbericht, keine
Rolle spielen. Ein Bildungsbericht, der aus seiner Ana-
lyse keine Handlungsempfehlungen und Folgerungen
ableitet, kastriert sich selbst und ist damit letztlich ein
verschenktes Instrument. Deshalb sind wir auch dafür,
dass zu diesen Zielen auch der Grad ihrer Verwirkli-
chung, wenn möglich landesspezifisch, ausgewiesen
werden sollte.

Ein solcher Ansatz, Sachstände und Zielvereinbarun-
gen zu den bestehenden Bund-Länder-Initiativen sehr
konkret zu fassen, wie es unter anderem beim Hoch-
schulpakt 2020 bis in Details hinein vorgesehen ist, ist
so auch für andere bildungspolitische Aufgabenstellun-
gen als Methode anwendbar und hilfreich. Die Autoren-
gruppe, die von Bund und Ländern gemeinschaftlich mit
diesem Bildungsbericht beauftragt ist, soll deshalb zu-
sätzlich zu den Zielvereinbarungen, die auf politischer
Ebene zwischen Bund und Ländern respektive nur zwi-
schen den Ländern geschlossen werden, weitere von der
Wissenschaft aus als relevant erachtete Kennzahlen des
Bildungsberichtes sowie bildungspolitische Maßnahmen
von Bund, Ländern und Kommunen Bewertungen und
Handlungsempfehlungen entwickeln und im Rahmen der
Bildungsberichterstattung mit vorlegen.

Die Auseinandersetzung mit solchen bildungspoliti-
schen Gutachten kann die bildungspolitische Diskussion
in Bund und Ländern nur fördern und so am Ende dazu
beitragen, dass dem Interesse von Bund wie Ländern,
von allen bildungspolitischen Akteuren und vor allem
auch von denjenigen, die von guter Bildung in Deutsch-
land am meisten profitieren sollen, an einem möglichst
hochwertigen Bildungssystem in Deutschland gedient
wird.

Um es noch einmal klar herauszustellen: Eine erfolg-
reiche, konstruktive Bildungszusammenarbeit von Bund
und Ländern setzt Vertrauen, Erwartungs- und Pla-
nungssicherheit voraus. Dies gilt umso mehr, als dass
das Grundgesetz im Bereich der Bildungszuständigkei-
ten klar zwischen Bund und Ländern ordnet, aber auch
bildungsrelevante Gemeinschaftsaufgaben definiert und
die in der Praxis zunehmend entscheidende Frage, wie
die Schnittstellen zwischen den Bildungsphasen trotz un-
terschiedlicher Zuständigkeiten reibungsfrei zu gestal-
ten sind, offen lässt.

Wir erleben an allen relevanten Bildungsfragen, dass
sich diese Fragen immer dringlicher stellen: Wie steht
es um die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten
und Schulen? Wie steht es um die Zusammenarbeit von
Schulen und berufsbildenden Einrichtungen? Wie steht
Zu Protokoll
es um das Zusammengehen von beruflicher Erstausbil-
dung und Weiterbildung, sei es im akademischen oder im
klassisch berufsbildenden Bereich? Wir haben zugleich
auch noch die Schnittstellen zwischen den verschiede-
nen politischen Ebenen: Wie steht es um die Zusammen-
arbeit zwischen Kommunen und Ländern? Wie steht es
um die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem
Bund? Auch wenn eine durchsetzungsstarke Plattform
für eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder
Koordinierung bisher verfassungsrechtlich nicht vorge-
sehen ist – das praktische Bedürfnis danach besteht of-
fensichtlich umso dringlicher.

Allein schon die Übersicht über bildungsrelevante
Entscheidungen in den Ländern und Kommunen zu be-
halten, wird immer schwieriger. Nicht anders ist es bei
den Berichten über Sachstände und Fortschritte bei be-
stehenden Bund-Länder-Initiativen oder bildungspoliti-
schen Zielvereinbarungen. Die entsprechenden Bil-
dungsberichte von kommunaler Seite, von Ländern und
vom Bund sind selbst Legion. Allerdings verhält sich
ihre bildungspolitische Bedeutung proportional umge-
kehrt zu ihrer Rezeption. Diese erfolgt in der Regel nur
in engen Experten- und Fachpolitikerkreisen und reicht
wenig in die parlamentarische und öffentliche Mei-
nungsbildung hinein. PISA ist hier eine Ausnahme.
Umso wichtiger ist deshalb ein Koordinierungsinstru-
ment, das es ermöglicht, dass die Erreichung europäi-
scher wie nationaler Bildungsziele besser überprüfbar
ist.

Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Gerade
weil wir keine Allzuständigkeit des Bundes in Bildungs-
fragen wollen, müssen wir jetzt die vorhandenen Instru-
mente im konstruktiven Sinne weiter entwickeln. Das
Ziel ist nicht die direkte Steuerung von Bildungsmaß-
nahmen durch den Bund, sondern die Etablierung und
Unterstützung einer gemeinschaftlichen Zielorientie-
rung von Bund, Ländern und Kommunen. In diesem
Sinne werben wir bei der Bundesregierung und auch bei
den anderen Fraktionen um Unterstützung für unsere
Initiative.


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1708134700

Eine zentrale Herausforderung ist die Verbesserung

unseres Bildungswesens. Damit dies gelingen kann,
müssen alle Kräfte zusammengenommen werden, auch
und gerade die von Bund und Ländern. Das gegenseitige
Beharren auf Zuständigkeiten oder Nichtzuständigkei-
ten behindert gute und schnelle Problemlösungen. Den
Bürgerinnen und Bürgern ist es vollkommen egal, wel-
che staatliche Stelle denn nun wofür zuständig ist. Am
Ende nehmen sie uns – vollkommen zurecht – alle in die
Pflicht. Wir sind also, ob wir wollen oder nicht, alle,
egal ob auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene, in
der Verantwortung.

Es gibt wahrlich viel zu leisten. Die aktuellen Ergeb-
nisse der PISA-Studie haben deutlich gezeigt, dass sich
Anstrengungen lohnen, dass unser Bildungswesen aber
weiterhin unter unseren Erwartungen und Möglichkei-
ten bleibt. Die SPD-Fraktion hat mit diesem Antrag den
Rahmen für einen nationalen Bildungspakt definiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9071
gegebene Reden

Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen, dass der Bund 10 Milliarden Euro jährlich
zusätzlich für Bildung einsetzt. Dieses Ziel ist erreich-
bar, wenn wir auf Steuergeschenke und auf das falsche
Betreuungsgeld verzichten und gleichzeitig Vermögende
und Hochverdienende stärker zur Finanzierung heran-
ziehen. Einige der zentralen Ziele, die mit diesen Mitteln
im nationalen Bildungspakt umgesetzt werden sollen,
möchte ich hier kurz skizzieren.

Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Kinder
und Jugendlichen in den Kindertagesstätten und in den
Schulen optimal gefördert werden. Dazu braucht es zum
Ersten flächendeckend kostenlose Ganztagsangebote
mit kostenlosem Mittagessen. Zum Zweiten braucht es
deutlich mehr pädagogisches Personal, also Lehrer,
aber auch Sozialpädagogen, Erzieher, Pädagogen für
Musik, Sport, Theater und anderes mehr. Das muss be-
zahlt werden; aber das können die Kommunen und die
Länder allein unmöglich auf die Beine stellen, nicht zu-
letzt, weil diese Regierungskoalition ihnen mit ihrer un-
seriösen Finanzpolitik finanzielle Spielräume genom-
men hat. Der Bund muss also bei der Finanzierung
helfen.

Doch selbst wenn das Geld zur Verfügung steht, fallen
diese Leute ja nicht vom Himmel. Um sie überhaupt zu
bekommen, braucht es eine entsprechende Ausbildungs-,
eine Fachkräfteoffensive. Auch hier müssen Bund und
Länder zusammenarbeiten, sonst wird das wahrschein-
lich in hundert Jahren nichts.

Aber wie soll denn nun die Zusammenarbeit von
Bund und Ländern erreicht werden? Es gibt dazu viele
Überlegungen. Die Länder stellen sich unter Koopera-
tion vor, dass der Bund ihnen möglichst viel Geld mit
möglichst wenig Vorbedingungen zur Verfügung stellt,
und dann machen die Länder schon alles gut. Das ist
verständlicherweise nicht die erste Wahl aus Bundes-
sicht. Der Bund wiederum hätte sicher am liebsten,
wenn er Geld nur für Dinge gibt, die klar in seiner Ver-
antwortung liegen und unter seiner Kontrolle stehen.
Dann gibt es die Mischvariante der Kooperation, so wie
sie im Hochschulbereich etwa beim Hochschulpakt er-
folgreich angewandt wird – nachdem die SPD-Bundes-
tagsfraktion dies bei der Föderalismusreform durchge-
setzt hat. Dort nehmen Bund und Länder gemeinsam
Verantwortung wahr, indem sie eine gemeinsame Ziel-,
Verwaltungs- und Finanzierungsvereinbarung treffen.

Die Lösung des Problems liegt möglicherweise in ei-
ner Mischung aus allen drei Bereichen. Was spricht da-
gegen, wenn der Bund in den von ihm verantworteten
Bereichen ordentlich nach vorne prescht. Etwa bei der
Versorgung von Schulen mit Sozialarbeitern? Das dürfte
kaum auf den Widerstand der Länder treffen und der
Bund könnte das einfach machen.

Die Länder brauchen auch mehr Mittel, um ihre urei-
genen Aufgaben wahrzunehmen, beispielsweise zur Ein-
stellung von Personal. Der Bund muss ihnen also Spiel-
raum geben, etwa durch die Überlassung von höheren
Mehrwertsteueranteilen oder indem in bisherigen
Mischfinanzierungen der Anteil des Bundes erhöht und
die Länder dadurch entlastet werden. Das könnte etwa
beim BAföG so funktionieren.
Zu Protokoll
Schließlich braucht es auch eine Änderung des
Grundgesetzes zur Aufhebung des Kooperationsverbo-
tes, damit so erfolgreiche Initiativen wie das Ganztags-
schulprogramm der Regierung Gerhard Schröder neu
ermöglicht werden.

Wir haben schon lange kein Erkenntnis-, sondern ein
Umsetzungsproblem. Eigentlich braucht es nur den gu-
ten Willen der Akteure. Dann könnten wir mit der Bil-
dungsrepublik Deutschland starten. Fangen wir an!


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1708134800

Wir haben hier in dieser Woche in einer aktuellen

Stunde bereits über die Ergebnisse der neuesten PISA-
Studie für Deutschland gesprochen. PISA hat Deutsch-
land bildungspolitisch wachgerüttelt. Wie auch schon
bei den vorangegangenen Untersuchungen wurde deut-
lich, dass gute Ergebnisse bei den PISA-Studien immer
dort erzielt werden, wo FDP und Union verantwortlich
sind. Die größten Schwierigkeiten haben dagegen die
Schülerinnen und Schüler, auf deren Rücken die ideolo-
gischen Bildungsexperimente der rot-rot-grünen Lan-
desregierungen ausgetragen werden. Und weil diese
genau solche Fehlentwicklungen offensichtlich zur
Kenntnis nehmen, fällt Ihnen nichts anderes ein, als
Geld aus dem Bundeshaushalt zu fordern – um eigene
Fehler auszugleichen. Das ist Bildungsflucht vor der
Verantwortung!

Machen Sie doch bitte zuerst Ihre Hausaufgaben in
den Ländern, anstatt auf das Geld des Bundes zu setzen.
Das wäre ehrlich, und das wäre vor allem redlich gegen-
über den Kindern und Jugendlichen in den Ländern, in
denen Rot-Rot-Grün regiert. Wir jedenfalls sind nicht
bereit, Geld in Ihre überschuldeten Landeshaushalte zu
pumpen, um Ihre verfehlten Bildungsexperimente zu fi-
nanzieren.

Und was sind denn die Konsequenzen Ihrer Politik?
Betrachten Sie einmal die Zahl der Schulabgänger ohne
Abschluss! Diese ist nirgends so hoch wie in den Bun-
desländern, in denen Sie regieren: 7,2 Prozent in Rhein-
land-Pfalz, 10,6 Prozent in Berlin, und in Mecklenburg-
Vorpommern verlassen 17,9 Prozent aller Schülerinnen
und Schüler die Schule, ohne über einen Abschluss zu
verfügen. In Baden-Württemberg sind es gerade noch
5,6 Prozent.

Dies sind junge Menschen, die es Ihrer verfehlten Bil-
dungspolitik verdanken, dass sie sich ohne jede Chance
und ohne Perspektive auf einem zunehmend hochqualifi-
zierten Arbeitsmarkt zurechtfinden sollen. Eines zeigt
sich damit doch ganz deutlich: Die rot-rot-grünen Bil-
dungsexperimente sind die beste Garantie für weniger
Bildungsgerechtigkeit und für mehr Bildungsarmut in
unserem Land.

Gerade beim Thema Bildungspartnerschaft kann man
doch deutlich sehen, wie Anspruch und Wirklichkeit so-
zialdemokratischer Politik auseinanderklaffen. Dieses
Land braucht endlich eine echte Bildungspartnerschaft
zwischen Bund, Ländern und vor allem den Kommunen.
Dafür steht diese Regierung der Mitte!
9072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)

Als Oppositionspartei legen Sie uns heute einen um-
fangreichen Antrag mit mehr oder weniger sinnvollen
Forderungen vor – und wenn Sie gefordert sind, dann
kneifen Sie. Das konnte man bei Ihrer Blockade der
BAföG-Modernisierung erleben, als Sie eine notwendige
Erhöhung der Leistungen verzögert haben, und das
konnte man beim nationalen Stipendienprogramm se-
hen. Dieses wird nun aufgrund Ihrer Blockadepolitik
ausschließlich vom Bund finanziert und eben nicht in ei-
ner Partnerschaft von Bund und Ländern. So ernst ist es
Ihnen mit Bildungspartnerschaften in unserem Land.
Hören Sie also auf, immer nur Sonntagsreden über Bil-
dungspartnerschaften zu halten, und gestalten Sie diese
endlich.

Natürlich ist es notwendig, über die Finanzbeziehun-
gen zwischen Bund und Ländern zu diskutieren. Span-
nend ist, was in Ihrem Antrag nicht steht. Kein Wort zum
Kooperationsverbot. Hier haben wir quer durch die Par-
teien sehr unterschiedliche Positionen. Hier haben Sie
sich bisher als die moralischen Entrüster aufgespielt.
Und jetzt schweigen Sie. Was ist da los? Hat Sie Ihr
rheinland-pfälzischer Ministerpräsident zum Schweigen
verdonnert? Hier haben Sie die Möglichkeit: Sagen Sie
es doch offen!

Wenn es um Finanzbeziehungen geht, darf es doch
nicht darum gehen, dass wir über Bundesbeglückungs-
programme Milliarden in Ihre Bildungsirrwege pumpen,
ohne dass Ihre Landesregierungen endlich die Fehlent-
wicklungen in der Bildungspolitik korrigieren.

Wir werden nicht über Bundesmittel die Kürzungen
ausgleichen, die Sie bei den Bildungsausgaben vorneh-
men. Wir werden nicht aus dem Bundeshaushalt Ihre
Bildungsbürokratie finanzieren, ohne dass Sie den Schu-
len endlich mehr Freiräume und Gestaltungsmöglich-
keiten geben. Und wir werden keinen Cent dafür geben,
dass Sie in den Ländern den Menschen kostenfreie Kin-
dergärten und Universitäten versprechen, während an-
dere dafür zahlen müssen.

In Ihrem Antrag kritisieren Sie die Bildungsgipfel, die
angeblich ohne greifbare Ergebnisse geblieben seien.
Also, meine Damen und Herren von der SPD, das ist
doch nun wirklich heuchlerisch. Sie waren doch in der
Regierung, als die Bildungsgipfel eingeführt wurden,
und Sie haben diese doch mitgetragen. Aber wie in vie-
len Punkten gilt bei den Sozialdemokraten wohl auch
hier, dass man sich aus Opportunismus und Wahltaktik
von dem verabschiedet, was man in der Regierung be-
schlossen hat. Dies ist unredlich, und dies werden wir
Ihnen nicht durchgehen lassen.

Und eines sage ich Ihnen auch: Für mich sind die Bil-
dungsgipfel auch nicht das Allheilmittel, und ich bin
auch nicht überzeugt, dass die Bildungsgipfel immer ge-
nug konkrete Ergebnisse bringen. – Dies habe ich be-
reits in der Vergangenheit gesagt, und zu dieser Mei-
nung stehe ich auch weiterhin. Aber dass dabei eben
doch auch Ergebnisse herauskommen können, die unse-
rer Bildungs- und Wissenschaftslandschaft positive Im-
pulse geben, zeigt nicht zuletzt der Qualitätspakt Lehre.
Und es wäre gut, wenn Sie dies auch anerkennen wür-
den, anstatt alles immer nur schlechtzureden.
Zu Protokoll
Sie reden bei Bildungspartnerschaften immer nur
vom rechtlichen Verhältnis zwischen Bund und Ländern.
Sie reden von mehr Geld vom Bund an die Länder. Ja,
der Bund hat seine Verantwortung wahrzunehmen. Und
mit 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung
– dem bisher höchsten Aufwuchs – nimmt diese Regie-
rung der Mitte ihre Verantwortung so wahr wie keine
Vorgängerregierung.

Ja, diese Regierung will eine ehrliche Partnerschaft
zwischen allen Beteiligten. Und wir wollen klare Zustän-
digkeiten zwischen Bund und Ländern. Wir wollen mehr
Freiheiten für Schulen, sich an solchen Partnerschaften
zu beteiligen. Aber ich sage Ihnen gerade als bekennen-
der Bildungsföderalist: Die Länder haben ihre Verant-
wortung genauso wahrzunehmen und der Bildung die
höchste Priorität einzuräumen und dürfen sich nicht in
die Büsche zu schlagen.


Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708134900

Niemand ist unfehlbar. Aber wenn einer einen Fehler

gemacht hat und das erkennt, sollte er ihn korrigieren.
Die Einführung des Kooperationsverbotes zwischen
Bund und Ländern in der Bildung war ein Fehler. Pro-
jekte, wie das Ganztagsschulprogramm, das bei aller be-
rechtigter Kritik für manche sanierte Schule gesorgt hat,
können nun nicht mehr vereinbart werden. Nun macht
der Bund erstaunliche Verrenkungen, um doch noch ir-
gendwie in die Bildung hineinzuregieren. Bildungsketten,
Berufseinstiegsbegleiter etc. werden erfunden, um die
schlimmsten Auswüchse einer verfehlten Bildungspolitik
von Bund und Ländern zu kaschieren, sogar Umwege
über die Bundesanstalt für Arbeit werden nicht gescheut,
um Geld für die Bildungsbeteiligung Benachteiligter lo-
cker zu machen. Da wird manches zum bürokratischen
Monstrum und läuft an den für Bildung Zuständigen vor-
bei. Dabei wäre es so einfach: mehr Geld in Schulen und
Kindereinrichtungen, für Volkshochschulen und andere
Träger der Erwachsenenbildung und natürlich in die
berufliche Weiterbildung. Letzteres kann durchaus zu-
mindest teilweise durch die Bundesagentur für Arbeit
verantwortet werden. Aber das alles passiert nicht, je-
denfalls nicht durch den Bund – er darf ja nicht –, und zu
wenig durch Länder und Kommunen – die können nicht
mehr.

Darum hat Die Linke schon im März beantragt, das
Kooperationsverbot aufzuheben. Nun wagt sich eigent-
lich fast niemand mehr, die Aufkündigung der Zusam-
menarbeit in Bildungsfragen gutzuheißen, aber es hat
auch niemand den Mut, die notwendige Grundgesetzän-
derung in Angriff zu nehmen. Solange reicht es aber
auch nicht, immer aufs Neue einzuklagen, dass man
7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Bildung ste-
cken und – gleich wie viele Milliarden jährlich – mehr
ausgeben will. Uns sind die Instrumente fürs Ausgeben
abhandengekommen, und eine neue Verteilung der
Geldströme zwischen Bund, Ländern und Kommunen,
die eine bessere Finanzierung der Bildungsinfrastruktur
möglich machen würde, ist nicht in Sicht. Außerdem sind
20 Milliarden Euro wohl zu gering bemessen; selbst die
Hans-Böckler-Stiftung geht von 37 Milliarden Euro aus.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9073
gegebene Reden

Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

Aber das Problem liegt tiefer. Die jüngste PISA-Stu-
die war noch nicht richtig veröffentlicht, da tönte es aus
dem Süden des Landes, die Nordländer versauten den
Durchschnitt. Aber es geht hier um den Durchschnitt,
und man sollte sich damit auch nicht zufrieden geben.
Bildungspolitisch verliert die Bundesrepublik als Gan-
zes und jede einzelne Schülerin und jeder einzelne Schü-
ler, der oder die sich nicht ausreichend Bildung aneig-
nen kann. Dem stehen aber noch andere Dinge im Wege
als die mangelhafte Ausfinanzierung des bundesdeut-
schen Bildungssystems.

Neulich erklärte mir eine junge Frau aus einer Besu-
chergruppe – sie steht kurz vor dem Abitur –, dass sie
aus Bayern in ein anderes, nördlicher und östlicher ge-
legenes Bundesland gezogen sei und dort einen Vorteil
und einen Nachteil für sich verspürte. Der Vorteil: Die
Fremdsprachenausbildung war in Bayern intensiver.
Der Nachteil: In Chemie fehlten ihr zwei vollständige
Schuljahre an Unterrichtsstoff. Denn in Bayern wird
Chemie erst von der 9. Klasse an unterrichtet, in Sach-
sen-Anhalt bereits ab Klasse 7. Wer für sein Abitur die
zweite Fremdsprache braucht, hat Pech, wenn er nach
einem Umzug die begonnene Sprache nicht weiterführen
kann, weil die neue Schule sich auf andere Fremdspra-
chen konzentriert. Beim Abitur kommt es nämlich nicht
darauf an, ob man die Fremdsprache beherrscht, son-
dern ob man drei Jahre dem entsprechenden Unterricht
beigewohnt hat. Die Liste solcher Unmöglichkeiten
ließe sich fortsetzen.

Ein Zentralabitur, bei dem alle bundesweit die glei-
chen Aufgaben lösen, wird das nur noch verschlimmern.
Dabei gibt es inzwischen für jedes Fach einheitliche Bil-
dungsstandards, in denen akribisch genau aufgelistet
wird, welche Fähigkeiten und welche Wissenskomplexe
am Ende eines Bildungsganges erreicht werden müssen.
Das eigentlich müsste reichen, um Vergleichbarkeit her-
zustellen.

Im bundesdeutschen Bildungssystem sind aber Ver-
einbarungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, wich-
tiger als ein vielfältiges und hohes Bildungsniveau. Die
Bildungspolitiker und die bildungsinteressierte Lobby
der Betuchten achten peinlich genau darauf, dass ihnen
keines der überkommenen Privilegien verloren geht.
Dagegen scheint kein Kraut gewachsen. Fast verschämt
werden darum alle möglichen Förderinstrumente entwi-
ckelt, weil man ja nicht als unsozial gelten will.

Nun haben Bildungsforscher und Autoren der PISA-
Studie diesem System eine ziemliche Abfuhr erteilt. Aber
ob Bewegung in die Sache kommt? Ich fürchte, mit einer
noch ausgeprägteren Bildungsberichterstattung wird
man da nicht viel ausrichten, weil der Wille zum Um-
steuern nicht vorhanden ist. Das ginge nämlich auch mit
den vorhandenen Instrumenten. Aber es geht nicht in
diesem System. Ein Beispiel dafür ist der Ansatz der In-
klusion. Das scheint zum neuen Modewort zu verkom-
men. Jeder benutzt es, kaum einer weiß, was das ist. In-
klusion meint alle: Mädchen und Jungen, mit und ohne
Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund, aus
allen sozialen Milieus. Inklusion, die nicht auch im Gym-
nasium stattfindet, geht nicht; das ist Exklusion. Wenigs-
Zu Protokoll
tens die Gymnasiasten werden ausgeschlossen aus der
neuen Form des Lernens. Wer es – wie die SPD – also
schon für einen Fortschritt hält, Haupt- und Realschule
zusammengeschlossen zu haben, der hat von Inklusion
noch überhaupt nichts verstanden.

In dem ausführlichen Forderungsteil hat die SPD
übersehen, dass es auch bei den Lehrerinnen und Leh-
rern zu dramatischen Engpässen kommen wird, wenn
nicht mehr Lehrkräfte ausgebildet werden. Darum hat
Die Linke im Sommer ein Fachkräfteprogramm „Bil-
dung und Erziehung“ beantragt, das könnte man zwi-
schen Bund und Ländern sogar vereinbaren. Vielleicht
wäre ja das ein Anfang für weitergehende Vereinbarun-
gen, die endlich dem ganzen Bildungssystem und allen
Lernenden in allen Ländern der Bundesrepublik zugute-
kommen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Die Advents- und Weihnachtszeit ist voll von Ritua-
len. Im Dezember 2010 fehlt nun ein Ritual, das Bundes-
kanzlerin Merkel im Jahr 2008 erfunden hat und seitdem
vorantreiben wollte: „Die Bildungsgipfel auf dem Weg
zur Bildungsrepublik“. – Heute ist der Tag, an dem ei-
gentlich der Bildungsgipfel Nr. 4 hätte stattfinden müs-
sen. Stattdessen? Fällt aus wegen „ist nicht“.

Im Herbst 2008 haben Bundeskanzlerin und Bundes-
bildungsministerin die Länder aufgefordert, mit einer
nationalen Qualifizierungsinitiative Deutschland zu ei-
ner Bildungsrepublik zu machen. Seitdem werden Be-
standsaufnahmen gemacht, Übersichten erstellt und Lis-
ten ausgefüllt – mehr leider nicht. Im Dezember 2008
begannen dann die Trauerspiele, genannt „Bildungsgip-
fel“.

Nr. 1 war im Dezember 2008 ein Warmlaufen, bei
dem sich die Konflikte um Geld und Steuerung schon
glasklar abzeichneten.

Nr. 2 im Dezember 2009 brachte statt erster Ergeb-
nisse einen bildungspolitischen Offenbarungseid. Statt
wie angekündigt, „in die Bildungsrepublik aufzubre-
chen“, einigten sich Bund und Länder nur aufs Vertagen
und darauf, den Finanzbedarf kleinzurechnen. Die
OECD errechnet konstant einen jährlichen Mehrbedarf
von gut 20 Milliarden Euro, Bund und Länder rechneten
das gemeinsam schön auf nur noch 13 Milliarden Euro.
Schlimmer noch: Wieder wurden die notwendigen Qua-
litätsziele nicht formuliert.

Bildungsgipfel Nr. 3 im Sommer 2010 war dann das
letzte Aufbäumen. Der unauflösbare Interessenwider-
spruch wurde deutlich. Nebulöses Vertagen – Ende.

Das ist kein gutes Signal gewesen. Auch wenn die
PISA-Ergebnisse in der letzten Woche einen ermutigen-
den Zwischenstand aus den Schulen geben, so bleibt
klar: Deutschland ist noch immer keine Bildungsrepu-
blik. Schlimmer noch: Seit dem Herbst 2008 ist viel zu
wenig passiert. Da stellt sich die Frage: Warum fällt der
Bildungsgipfel Nr. 4 heute aus, obwohl Ergebnisse so
dringend nötig wären? Die Antwort ist so kurz wie er-
nüchternd: weil die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“
9074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9075

Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

nicht mehr für ein Gewinnerthema hält. Nach drei bluti-
gen Nasen hat sie gelernt, dass sie ihre unionsphysikali-
schen Gesetze der Macht hier nicht anwenden kann. Mit
der Föderalismusreform hat sie sich als Bundeskanz-
lerin im Bildungsbereich selbst entmachtet.

Diese Erkenntnis ist in Teilen der Union nun immer-
hin angekommen: Bildungsministerin Schavan lässt öf-
fentlich immer wieder verlauten, dass sie das Koopera-
tionsverbot für einen Fehler hält. Bisher folgt aus dieser
Erkenntnis leider nichts. Sobald CSU-Kultusminister
Spaenle neben Frau Schavan sitzt, versteigt sie sich zu
so aberwitzigen Argumenten wie –, der Föderalismus an
sich stehe einer guten Bildungspolitik nicht im Wege, so
bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der PISA-Er-
gebnisse letzte Woche. Den Föderalismus will ja auch
niemand abschaffen, aber das Kooperationsverbot.

Hier lässt allerdings leider auch die SPD zu wün-
schen übrig. Der heute vorliegende Antrag der Bundes-
tagsfraktion ist da so wachsweich, dass ich mich frage,
warum sie da der Mut verlassen hat. Statt sich klar ge-
gen das Kooperationsverbot auszusprechen, verschwur-
beln Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, die
derzeitige bildungsfeindliche Verfassungslage. Zitat aus
Ihrem Antrag: „Eine durchsetzungsstarke Plattform für
eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder Ko-
ordinierung ist verfassungsrechtlich nicht vorgesehen“.
Und dann schlagen Sie allen Ernstes vor, dass der
Nationale Bildungsbericht „das Koordinierungsinstru-
ment“ sein soll, nennen ihn aber selbst ein „Hilfsinstru-
ment“ und überfrachten ihn dann völlig? Liebe Kolle-
gen, das ist, gelinde gesagt, undurchdacht. Wir
brauchen den politischen Willen zur Zusammenarbeit,
damit Bund und Länder ihre gemeinsame Verantwortung
auch gemeinsam wahrnehmen können. Mit diesem poli-
tischen Willen kann dann auch die Verfassung entspre-
chend geändert werden.

Gestern Abend hat sich die Kanzlerin routinemäßig
mit den Ministerpräsidenten getroffen. Unter ferner lie-
fen stand auch ein Bildungsthema an: die Finanzierung
von zusätzlichen Studienplätzen angesichts der Ausset-
zung der Wehrpflicht. Was dabei rausgekommen ist, geht
zulasten der Studierenden. Bund und Länder wahren ihr
Gesicht, indem sie alles dem Hochschulpakt aufbürden.
Die Hochschulen bleiben überfordert, weil der Hoch-
schulpakt eh schon unterausgestattet ist. Den Studienbe-
rechtigten wird keine gute Perspektive geboten – trotz
Fachkräftemangels. Ich frage mich, wann Bund und
Länder endlich konkrete Maßnahmen und verbindliche
inhaltliche Zielmargen im Bildungssystem vereinbaren
oder wenigstens überhaupt formulieren werden. Das ist
nämlich notwendig, um die Schwächen bei frühkindli-
cher und schulischer Bildung sowie an den Hochschulen
zu beseitigen.

Die Bundeskanzlerin und die Bundesbildungsministe-
rin sollten eingestehen, dass die Überhöhung der Treffen
zu „Bildungsgipfeln“ ein Fehler war. Stattdessen sollten
sie sich mit den Ländern zusammensetzen und konkrete
Fortschritte vereinbaren. Das ist die Aufgabe einer Bun-
desregierung.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708135000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/4187 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Sta-
bilisierungs- und Assoziierungsabkommen
vom 29. April 2008 zwischen den Europäi-
schen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaa-
ten einerseits und der Republik Serbien ande-
rerseits

– Drucksache 17/3963 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Peter Beyer,
Wolfgang Götzer, Günter Gloser, Rainer Stinner, Sevim
Dağdelen und Marieluise Beck.


Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1708135100

Als Ende letzter Woche in Oslo der chinesische Frie-

densnobelpreisträger Liu Xiaobo geehrt wurde, konnte
er selbst der Zeremonie nicht beiwohnen. Er ist im Nord-
osten Chinas inhaftiert. Seine Frau konnte ebenfalls
nicht nach Oslo reisen. Sie steht in Peking unter Hausar-
rest. Der Stuhl des Preisträgers war nicht der einzige,
der leer blieb. Gleich eine Reihe von Staaten hatten auf
Druck Chinas keine Vertreter nach Oslo entsandt.

Ein Signal der Stärke hingegen war die Teilnahme
Serbiens. Nach heftigen Diskussionen im Lande zog Bel-
grad die ursprüngliche Absage zurück. Sicherlich, die
Europäische Union hatte zuvor hinter den Kulissen an
Serbien appelliert, beim Festakt in der norwegischen
Hauptstadt Präsenz zu zeigen; denn wer die EU-Mit-
gliedschaft anstrebt, sollte die europäischen Werte, zu
deren Kern die Menschenrechte gehören, bedingungslos
teilen.

Bemerkenswert am serbischen Sinneswandel waren
jedenfalls die ermutigenden Erklärungen aus der Belgra-
der Politik, vom Präsidenten, von Regierungsmitgliedern
und Abgeordneten. Überzeugend war die wahrnehmbare
Kritik der Zivilgesellschaft an den Boykottplänen des
serbischen Außenministers. Die Bürger halten nichts von
einer Rückkehr zur längst überwunden geglaubten Ära
Milosevic und allen damit verbundenen negativen Aus-
wirkungen. Serbien war am vergangenen Freitag also in
Oslo vertreten: Ein Gewinn für Europa und ein Zeichen
für die Stärkung der Menschenrechte.

Russlands Stimme ist ebenfalls in Serbien gut wahr-
nehmbar. Deshalb ist die anstehende Einleitung des Ra-
tifikationsprozesses des Stabilisierungsabkommens mit
Serbien durch den Bundestag ein richtiger und notwen-
diger Schritt nach vorn.

Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)

Der Ratifizierungsprozess ist das Ergebnis der positi-
ven Entwicklungen im Verhältnis Serbiens zur Europäi-
schen Union. Die Bundesregierung hat diesen Annähe-
rungsprozess mit Engagement und Nachdruck begleitet.
Die Koalitionsfraktionen hatten Anfang Oktober dieses
Jahres unter dem Titel „Beitrittsantrag der Republik
Serbien zur Prüfung an die Europäische Kommission
weiterleiten“ einen Antrag ins Plenum eingebracht und
mit Mehrheit des Hauses verabschiedet. Denn wir befür-
worten, dass der Beitrittsprozess in Gang gesetzt wird.

Serbien hatte zuvor im September zusammen mit al-
len Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Reso-
lution in die VN-Generalversammlung eingebracht, die
das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur
Kenntnis nimmt, dass die Unabhängigkeitserklärung des
Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstößt, und di-
rekte Gespräche zwischen Serbien und Kosovo mit Un-
terstützung der Europäischen Union vorsieht. Das
gemeinsame Vorgehen mit der EU zeigt, dass Serbien
auf Kooperation statt Konfrontation setzt und sich klar
auf einen proeuropäischen Weg begeben hat. Dieser
Weg nach Europa lohnt sich für die Menschen.

Serbien wird im Rahmen des Stabilisierungs- und As-
soziierungsprozesses indes hart daran arbeiten müssen,
alle Kriterien der Europäischen Union vollständig und
uneingeschränkt zu erfüllen. Dazu gehört die verlässli-
che und aktive Zusammenarbeit mit dem Internationalen
Strafgerichtshof. Dazu gehören des Weiteren die regio-
nale Zusammenarbeit und die gutnachbarschaftlichen
Beziehungen auch und gerade mit dem Kosovo, ein-
schließlich eines konstruktiven Lösens offener bilatera-
ler Fragen.

Gerade mit Blick auf die gutnachbarschaftlichen Be-
ziehungen sind durchaus positive Entwicklungsansätze
erkennbar. So stelle ich in diesem Zusammenhang erfreut
fest, dass Serbien in Bosnien und Herzegowina – das war
nach meinem Eindruck weitgehender Konsens in der
Debatte zum Althea-Einsatz vor zwei Wochen an dieser
Stelle – allmählich mehr und mehr stabilisierend wirkt.
Ein weiteres Beispiel für die intensiver werdende Zu-
sammenarbeit im ehemals jugoslawischen Raum ist die
verstärkte Kooperation im internationalen Güterbahn-
verkehr. Und der serbische Präsident Boris Tadic hat
jüngst nicht nur Zagreb besucht, sondern auch Vukovar.
Zusammen mit seinem kroatischen Amtskollegen Ivo
Josipovic setzte er ein starkes Signal der Versöhnung an
dem Ort, der so sehr für die Schrecken des Krieges zwi-
schen beiden Ländern steht. Es gibt sie also, die so wich-
tigen ermutigenden Signale, Symbole und Aktionen, die
ernsthaftes Bemühen erkennen lassen.

Am Ende des Tages gelten für Serbien wie übrigens
für alle EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien.
Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt werden. Einen
EU-Beitritt gibt es nur bei strikter, vollständiger Erfül-
lung aller Kriterien, ansonsten nicht. Das müssen alle
am Prozess Beteiligten verinnerlichen.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1708135200

Vor zwei Monaten haben wir uns dafür ausgespro-

chen, das Beitrittsgesuch Serbiens zur Europäischen
Zu Protokoll
Union zur Prüfung an die Europäische Kommission wei-
terzuleiten, und heute geht es darum, mit der Zustim-
mung zur Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assozi-
ierungsabkommens mit Serbien einen umfassenden
rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Vorbereitun-
gen Serbiens auf den von ihm gewünschten EU-Beitritt
erfolgen.

Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, in
den Serbien nach der Ratifizierung dieses Abkommens
in allen EU-Mitgliedstaaten eintreten wird, ist für Ser-
bien eine große Chance und eine große Herausforde-
rung. Für die EU ist das Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsabkommen ebenfalls eine sehr gute Möglichkeit,
die Beziehungen zwischen der EU und Serbien zu gestal-
ten. Wir bauen damit eine Arbeitsstruktur auf, und es
wird regelmäßige Berichte und Konferenzen geben. Da-
durch wird Serbien klar bestimmen können, wo es auf
seinem Weg bei der Integration in die EU steht, und wir
können klar sehen, welche Entwicklungen sich in Ser-
bien vollziehen, und klar definieren, was wir von Serbien
auf seinem Weg in die EU erwarten.

Bayern hat mit Serbien im Rahmen der Zusammenar-
beit in der seit 40 Jahren bestehenden Ständigen Kom-
mission viele Erfahrungen sammeln können. Serbien gilt
in der Region als verwaltungsstark und wirtschaftlich
innovativ. Insofern bietet das Stabilisierungs- und Asso-
ziierungsabkommen durch die Heranführung an den eu-
ropäischen Markt insbesondere große Vorteile für die
Entwicklung der serbischen Wirtschaft und aufgrund der
zentralen Lage Serbiens die Möglichkeit zur Prosperi-
tätssteigerung in der gesamten Region. Serbien wird die
einmalige Möglichkeit bekommen, von dem Experten-
wissen der europäischen Beamten und von den Vorbei-
trittshilfen des EU-Heranführungsinstruments IPA zu
profitieren. Ich hoffe, dass Serbien diese große Chance
nutzen wird und dadurch schnelle Fortschritte auf dem
Weg in die EU macht.

Gleichzeitig möchte ich dem Wunsch Ausdruck ge-
ben, dass Deutschland Serbien auf diesem Weg auch in
der Zukunft weiterhin so eng diplomatisch begleitet, wie
dies in den letzten Monaten geschehen ist. Deutschland
hat unter der christlich-liberalen Regierung endlich
wieder eine aktive Rolle in der Westbalkan-Politik ein-
genommen.

Die Herausforderungen, vor denen Serbien steht,
sind groß, wie der letzte Fortschrittsbericht der EU-
Kommission zeigt: Funktionsfähigkeit der demokrati-
schen Institutionen, Reform des Justizwesens, Korrup-
tionsbekämpfung und Regelung der Wahlkampffinanzie-
rung, Klärung von Eigentumsrechten und des Status von
Flüchtlingen, Reform des Arbeitsmarkts, Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit und des Schwarzmarktes, Fortfüh-
rung der Privatisierung – all dies, um nur einige wenige
Beispiele herauszugreifen, sind Aufgaben, die Serbien in
den nächsten Jahren ernsthaft angehen muss.

Hinzu kommen zwei weitere wichtige, für Serbien in-
nenpolitisch höchst sensible Herausforderungen, bei de-
nen wir das Land nicht aus der Verantwortung lassen
können. Erstens muss Serbien unter Respektierung der
bestehenden Grenzen einen Modus Vivendi mit Kosovo
9076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)

finden, der dazu führt, dass die noch offenen bilateralen
Fragen schrittweise mit dem Ziel gelöst werden, dass
Kosovo zunehmend tatsächlich als souveräner Staat
agieren kann. Die Förderung regionaler Kooperation im
Zeichen eines von guter Nachbarschaft und friedlichem
Herangehen geprägten europäischen Geistes gehört zu
den Kernpunkten des Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsabkommens. Auf der Erfüllung dieses Kernpunktes
– und zwar sowohl im Verhältnis zu Kosovo als auch im
Verhältnis zu seinen anderen Nachbarn, insbesondere
Kroatien und Bosnien-Herzegowina – werden wir ge-
genüber Serbien bestehen.

Zweitens muss sich Serbien seiner Verantwortung
stellen, die es beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens
gespielt hat. Hierbei ist die uneingeschränkte Zusam-
menarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für
das frühere Jugoslawien von größter Bedeutung und aus
meiner Sicht gehört hierzu auch ganz klar die Ausliefe-
rung von Ratko Mladić und Goran Hadžić, die wegen
Kriegsverbrechen angeklagt sind. Ich möchte in diesem
Zusammenhang daran erinnern, dass 2005 die Auf-
nahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien so lange
hinausgezögert wurde, bis die damalige Chefanklägerin
Carla del Ponte am 4. Oktober 2005 die uneinge-
schränkte Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof be-
stätigte. Zwei Monate später wurde der flüchtige Gene-
ral Gotovina auf Teneriffa festgenommen. Ich glaube,
dass es sehr wichtig ist, dass wir in dieser Frage eine
klare und konsequente Linie verfolgen.

Zu einer wahrhaftigen Aufarbeitung der Kriegsge-
schehnisse gehört aber bei allen ehemaligen Beteiligten
noch mehr, zum Beispiel sich zu den historischen Fakten
zu bekennen, Schuld einzugestehen und sich dafür zu
entschuldigen und echte Aussöhnung anzustreben. Ich
finde, wir sollten hierbei Unterstützung leisten.

Serbien bekommt mit dem Stabilisierungs- und Asso-
ziierungsabkommen eine große Chance. Wir begrüßen
dies und stimmen deshalb dem Gesetzentwurf zu.


Günter Gloser (SPD):
Rede ID: ID1708135300

Die Menschen in Südosteuropa vertrauen auf das

Versprechen einer europäischen Perspektive. Mit diesem
Ziel vor Augen unternehmen sie große Anstrengungen,
um ihre Länder an europäische Standards anzupassen.
Mit diesem Ziel vor Augen muten Politiker in dieser Re-
gion ihren Wählerinnen und Wählern harte Reform-
schritte zu.

Deshalb sollten wir Serbien wie auch die anderen
Länder der Region auf ihrem Weg in die Europäische
Union wohlwollend begleiten und unterstützen. Denn
wenn wir ihnen am Ende ihrer Bemühungen die Tür vor
der Nase zuschlagen, werden wir nicht nur eine Ent-
wicklungsmöglichkeit für die Europäische Union ver-
passt haben. Wir werden mitten in der EU – denn die
Länder des Balkans sind schließlich vollständig von EU-
Ländern umringt – erneut massive Sicherheitsprobleme
haben, etwa politische, soziale und ethnische Unruhen,
Migration und möglicherweise auch wieder bewaffnete
Konflikte.
Zu Protokoll
Für eine mögliche Erweiterung der EU müssen aber
nicht nur die Länder Südosteuropas noch viele Voraus-
setzungen erfüllen. Auch die EU selbst muss erst noch
erweiterungsfähig werden. Denn Europa scheint ja wei-
terhin in einer Dauerkrise zu sein. Trotz wirtschaftlichen
Aufschwungs gibt es nur noch ein Thema: die Staatsfi-
nanzen und den Euro.

So wichtig das auch ist, durch diese Debatten werden
wichtige Reformthemen hintangestellt. Eigentlich gilt es
ja, Europa nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lis-
sabon wieder flottzumachen und auf Kurs zu bringen.
Stattdessen wird die EU weiter auf unbestimmte Zeit auf
das Trockendock gelegt. Was wir damit riskieren, habe
ich eingangs dargestellt. Auch deshalb ist die Verunsi-
cherung in der deutschen Europapolitik, die Kanzlerin
Merkel und ihr Außenminister Westerwelle zu verant-
worten haben, nicht nur bedauerlich, sondern höchst ge-
fährlich. Europa braucht Orientierung und Klarheit
über die eigene Entwicklung. Die derzeitige Bundesre-
gierung liefert leider das Gegenteil: Sie erzeugt den Ein-
druck von nationalem Egoismus und verhindert damit
nicht nur eine positive Entwicklung in Europa, sondern
sie schwächt in der Folge auch die dringend notwendige
Fähigkeit der EU zu einer Erweiterung in Südosteuropa.

Im Fall von Serbien ist das besonders bedauerlich.
Serbien als ehemaliger Kriegsgegner der NATO im Ko-
sovo-Krieg 1999 hatte und hat wohl von allen Staaten
des ehemaligen Jugoslawiens den weitesten Weg nach
Europa zu gehen. Umso mehr müssen wir anerkennen,
welche Strecke Serbien erfolgreich zurückgelegt hat,
und das Land weiter unterstützend und sehr aufmerksam
begleiten. Heute hat Serbien bei allen Problemen, auf
die ich noch zu sprechen kommen werde, auf jeden Fall
einen europäischen Weg eingeschlagen und manchen
Nachbarn auf dem Weg nach Europa sogar überholt.
Angesichts dieser Erfolge erwartet und verdient das
Land unsere aktive Unterstützung und Begleitung.

Für die Menschen in Serbien selbst stellt sich die Si-
tuation freilich etwas anders dar. Sie verspüren jetzt
– nach den beschriebenen historischen Umbrüchen –
schmerzlich die Mühen der Ebene. Die europäische
Orientierung der derzeitigen Regierung wird zwar
mehrheitlich von der Bevölkerung mitgetragen – selbst
in der Kosovo-Frage sind viele Menschen pragmatisch
eingestellt –, Inflation, Arbeitslosigkeit, Bürokratie,
Korruption und organisierte Kriminalität lassen sich
aber nicht von heute auf morgen bekämpfen. Wie überall
messen die Menschen eine Regierung letztlich an dem,
was bei ihnen persönlich ankommt.

Die Erfahrung anderer Reformländer in Mittel-, Ost-
und Südosteuropa zeigt, dass die Zeitspanne kurz ist, in
der Reformen die volle Unterstützung der Menschen ha-
ben. Soziale Härten und wachsende soziale Ungleich-
heiten können schnell den Reformeifer untergraben.
Deshalb ist es wichtig, dass besonders die wirtschaftli-
che Öffnung und die Modernisierung von Verwaltung
und Justiz zügig vorangetrieben und die weit verbreitete
Korruption effektiv bekämpft wird.

Dies sind auch aus Sicht der Europäischen Union die
wichtigsten Arbeitsfelder für weitere Reformen. Und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9077
gegebene Reden

Günter Gloser


(A) (C)



(D)(B)

machen wir uns nichts vor: Ohne den freundschaftlichen
Druck aus Brüssel, ohne den ständigen Wettbewerb un-
ter den Ländern der Region würde es viele positive Ent-
wicklungen nicht geben. Deshalb müssen wir kritisch
sein. Deshalb dürfen wir keine politischen Rabatte für
Beitrittskandidaten geben. Deshalb müssen wir aber
auch die europäische Perspektive als positiven Anreiz
glaubwürdig anbieten.

Wenden wir uns aber noch einmal der internationalen
Diplomatie zu: Die nach einigem Zögern doch sehr kon-
struktive Reaktion Belgrads auf das Gutachten des In-
ternationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeit des Ko-
sovo bedeutete für die serbische Führung ein hohes
politisches Risiko. Sie hat es auf sich genommen und ist
mit der formellen Empfehlung der EU-Außenminister
zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur EU zu-
recht belohnt worden.

Dieser Punkt entspricht geradezu mustergültig den
drei Grundprinzipien des Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsprozesses: nämlich erstens, den Ländern der Re-
gion attraktive Anreize für eine europäische Orientie-
rung zu geben und mittelfristig die volle Integration in
die EU in Aussicht zu stellen, zweitens dafür auch mutig
Reformschritte und umfassende Kooperation zu verlan-
gen und drittens die regionale Zusammenarbeit zu inten-
sivieren.

Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
stellte den Anreiz dar, den Serbien brauchte, um auf ei-
nen konstruktiven Weg der Auseinandersetzung mit der
Existenz eines unabhängigen Kosovo einzuschwenken.
Die Änderung der harten Haltung Serbiens war das Er-
gebnis. Das ist eine erhebliche Leistung angesichts der
Stimmung in dem durch den Verlust des Kosovo noch im-
mer traumatisierten Land.

Die in Aussicht gestellten Verhandlungen zwischen
Serbien und dem Kosovo werden die regionale Zusam-
menarbeit stärken und zur Einsicht beitragen, dass mit-
tel- und langfristig beide Seiten ein großes Interesse an
einer umfassenden Zusammenarbeit haben. Wenn sich
diese Erkenntnis erst durchsetzt, werden sich auch Pro-
bleme wie die Situation der serbischen Minderheit im
Kosovo oder die Anerkennung von Zolldokumenten des
Kosovo durch Serbien lösen lassen.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1708135400

Die Europäische Union hält Wort, und Deutschland

hält Wort: Wir stehen zu der Zusage, dass die Zukunft
der Länder des westlichen Balkans in der Europäischen
Union liegt. Wir gehen dabei Schritt für Schritt vor, und
nun steht ein weiterer konkreter Schritt an. Die Bundes-
regierung hat dem Deutschen Bundestag das Assoziie-
rungs- und Stabilisierungsabkommen der Europäischen
Union mit Serbien zur Ratifizierung vorgelegt, und die
FDP unterstützt diesen Antrag.

Diese Ratifizierung ist, gemeinsam mit der Weiterlei-
tung des serbischen Beitrittsantrages an die Kommis-
sion, ein klares Signal an Serbien, dass wir Serbiens
Weg in die Europäische Union voll und ganz unterstüt-
zen. Ich will hier aber auch noch einmal ganz klar sa-
Zu Protokoll
gen: Serbien muss die notwendigen Bedingungen dafür
erfüllen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag im Ok-
tober einen Antrag beschlossen, in dem wir die Bundes-
regierung aufgefordert haben, sich für die Weiterleitung
des Beitrittsantrages Serbiens an die Europäische Kom-
mission einzusetzen. Das ist in der Zwischenzeit erfolgt.
Wir haben in diesem Antrag aber auch ganz deutlich ge-
macht, dass Serbien sich nicht auf bisherigen Fort-
schritten ausruhen darf. Wir haben ganz deutlich die Vo-
raussetzungen für die weitere Annäherung benannt. Das
sind, neben den Kopenhagener Kriterien, eben auch die
beiden folgenden ganz wichtigen Punkte: volle Koope-
ration mit dem internationalen Kriegsverbrechertribu-
nal in Den Haag und eine einvernehmliche Grenzrege-
lung mit dem Kosovo. Von diesen Kriterien werden und
können wir nicht abgehen, wenn wir das Wertefunda-
ment und die Handlungsfähigkeit der Europäischen
Union nicht gefährden wollen. Ich habe es immer für
fair gehalten, das von Anfang an ganz klar zu sagen und
Serbien hier keine falschen Hoffnungen zu machen. Ich
halte es für besser, von Anfang an die Karten auf den
Tisch zu legen, denn nur dann können wir Serbien auch
zusagen, dass es keine weiteren Hürden geben wird.

Wie sieht es nun mit beiden Punkten aus? Die Ge-
spräche mit dem Kosovo sind in Vorbereitung. Hier gab
es natürlich durch die Neuwahlen im Kosovo Verzöge-
rungen. Ich hoffe aber, dass auf der technischen Ebene
bald Gespräche beginnen können. Wir werden beide Sei-
ten genau beobachten und auch jeden für sich bewerten.
Niemand muss befürchten, zur Geisel eines anderen ge-
macht zu werden. Ich warne aktuell aber die serbische
Seite ganz ausdrücklich, die vom Europarat veröffent-
lichten Vorwürfe gegen den amtierenden kosovarischen
Ministerpräsidenten Hashim Thaći als Vorwand für wei-
tere Verzögerungen zu missbrauchen. Diesen Vorwürfen
muss eindeutig nachgegangen werden. Sie sind aber
kein Grund, die dringend notwendigen Gespräche über
praktische Kooperation zwischen Serbien und Kosovo
zu verschieben.

Die uneingeschränkte Kooperation mit dem interna-
tionalen Kriegsverbrechertribunal ist unabdingbare Vo-
raussetzung für weitere Fortschritte. Hier müssen und
werden wir genau hinschauen. Die letzten Äußerungen
von Chefankläger Brammertz mahnen stärkere Bemü-
hungen Serbiens an. In seinem Bericht vor dem Sicher-
heitsrat der Vereinten Nationen vom 6. Dezember 2010
verlangt er von Serbien einen pro-aktiveren Ansatz zu
Festnahme von Ratko Mladić und Goran Hadžić. Die
serbische Regierung müsse deutlicher machen, dass sie
Unterstützungsnetzwerke nicht toleriere, sondern im
Gegenteil jede Unterstützung der Angeklagten bei ihrer
Flucht strafbar sei. Der Schlüssel zur Festnahme von
Mladić und Hadžić liegt nach Brammertz in Serbien.
Hier muss es also dringend klarere Bemühungen geben.

Das ist auch mein Appell an die serbische Regierung:
Unterstützten Sie uns deutsche Politiker durch gute
Nachrichten aus Ihrem Land. Wir haben in Deutschland
und in der gesamten EU eine gewisse Erweiterungsmü-
digkeit. Wir Politiker in Deutschland werden dauerhaft
unsere Wählerinnen und Wähler nur dann von neuen
Beitritten überzeugen können, wenn wir substanzielle
9078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



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Fortschritte der Kandidatenländer vorweisen können.
Politische Rabatte kann sich die Europäische Union
nicht mehr leisten, und es wird sie auch nicht mehr ge-
ben. Die Tür zur Europäischen Union bleibt offen. Den
Weg hindurch gehen müssen die Länder selber. Dazu er-
folgt jetzt hier ein weiterer wichtiger Schritt. Ich hoffe
und wünsche mir eine Entwicklung in Serbien, die uns
ermöglicht, weitere Schritte schnell folgen zu lassen.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708135500

Der deutsche Außenminister Westerwelle ließ in sei-

ner Pressemitteilung zur Wahl im Kosovo am vergange-
nen Wochenende verlauten:

Ich bin zuversichtlich, dass der 12. Dezember ein er-
folgreicher Tag für die Demokratie und die Menschen in
diesem jungen Staat wird.

Nach der Wahl hieß es in einer gemeinsamen Erklä-
rung der EU-Außenbeauftragten Ashton und des EU-Er-
weiterungskommissars Stefan Füle:

Wir freuen uns darauf, mit der neuen kosovarischen
Regierung zusammenzuarbeiten und baldmöglichst den
Dialog zwischen Pristina und Belgrad zu beginnen.

Einen Tag zuvor hatte der Europarat einen Bericht
von Dick Marty veröffentlicht, nach dem der wiederge-
wählte kosovarische „Regierungschef“ Hashim Thaci
während des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien
schwere Kriegsverbrechen an Serben begangen habe –
ein Krieg, den die damalige rot-grüne Bundesregierung
mit teilweise gefälschten Berichten über serbische Mas-
saker und „Hufeisenpläne“ begründete. Aus dem Be-
richt geht auch hervor, dass Thaci bis heute ein führen-
der Kopf des organisierten Verbrechens sei und sich
wegen seiner politischen Ämter und seiner guten Kon-
takte zu westlichen Regierungen und Geheimdiensten
„unberührbar“ fühle. Die NATO, die EULEX, der Inter-
nationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugosla-
wien und sämtliche westlichen Geheimdienste wüssten
von den schmutzigen Geschäften der kosovarischen
„Regierungen“, hätten aber ihre Ermittlungen auf poli-
tischen Druck hin eingestellt. Laut dem Bericht des Eu-
roparates hätten sie sogar Beweismittel vernichtet.

Das verwundert kaum. Denn es war Hashim Thaci,
der nach Verhandlungen mit der deutschen und den eu-
ropäischen Regierungen im Februar 2008 die Unabhän-
gigkeitserklärung des Kosovo ankündigte, die bereits
nach wenigen Tagen von der deutschen Regierung aner-
kannt wurde. Der deutsche Geheimdienst warnte damals
schon, hier werde ein Mafiastaat errichtet. Ende August
traf sich Westerwelle noch mit Thaci, schüttelte – wie zu-
vor schon seine grünen und rosaroten Vorgänger
Fischer und Steinmeier – diesem Kriegsverbrecher die
Hand und brüstete sich damit, dass Deutschland „einer
der ersten Staaten“ war, „die die Republik Kosovo als
unabhängigen Staat anerkannt haben“.

Bundesaußenminister Westerwelle wurde bei seiner
damaligen Reise auf den Balkan nicht müde, auch den
folgenden Satz zu sagen: „Das, was uns betrifft, gehört
nach Brüssel und nicht nach New York.“ Was er damit
gemeint hat, war unverblümt: Hier in Europa gilt unser
Zu Protokoll
eigenes Gesetz und nicht das Völkerrecht. Dieses Gesetz
schreiben wir in Brüssel, und wir schreiben es in jedem
Fall neu, je nach unseren Interessen. Deshalb erklären
wir die Abspaltung des Kosovo für legitim, während wir
drohen, die Unabhängigkeit der Republik Srpska von
Bosnien und Herzegowina notfalls auch mit Waffenge-
walt zu verhindern.

Es ging damals um einen Resolutionsentwurf, den
Serbien in die UN-Vollversammlung eingebracht hatte,
der erneut – im Einklang mit dem Völkerrecht und den
vorangegangenen UN-Resolutionen – die Prinzipien der
Souveränität und territorialen Unversehrtheit betonte
und neue Statusverhandlungen im Rahmen der UN ein-
forderte. Deutschland drohte damals, die Weiterleitung
des serbischen Beitrittsersuchens zur EU nicht an die
Kommission weiterzuleiten, sollte Serbien von diesem
Entwurf nicht Abstand nehmen. Serbien knickte ein und
brachte stattdessen einen neuen Entwurf ein, in dem die
EU aufgefordert wurde, einen Dialog zwischen Belgrad
und Pristina zu moderieren. Deutschland hat somit ver-
hindert, dass die UN-Vollversammlung im Namen des
Völkerrechts zur Sezession des Kosovo Stellung nehmen
konnte und somit tatsächlich das Völkerrecht durch ein
Brüsseler Recht ersetzt.

In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, wa-
rum wir erst heute über den vorliegenden Gesetzentwurf
debattieren, mit dem ein Abkommen vom Frühjahr 2008
ratifiziert werden soll. Das Stabilisierungsabkommen,
über das wir heute diskutieren, ist datiert auf den
29. April 2008. Abgeschlossen wurde es zu diesem Zeit-
punkt, um die Pro-EU-Kräfte bei den damals stattfin-
denden Parlamentswahlen in Serbien zu stärken. Dass
das Abkommen so bald nicht ratifiziert würde, wurde
schon damals offen ausgesprochen.

Die Linke warnt davor, den EU-Beitrittsprozess zur
Aushebelung des Völkerrechts zu missbrauchen. Das
Völkerrecht gilt auch für Europa, und die Kriegsverbre-
cher aller Seiten müssen im gleichen Maße verfolgt wer-
den. Sie können nicht die einen vor Gericht stellen und
die anderen zum „Regierungschef“ eines illegitimen
Mafiastaates machen. Die Linke fordert die Bundesre-
gierung auf: Kündigen Sie den Pakt mit dem Teufel, und
geben Sie Ihre Unterstützung für die Sezession des Ko-
sovo auf!

Zuletzt noch zum Inhalt dieses Abkommens, der hier
leider sehr kurz kommt, da das Abkommen instrumenta-
lisiert wurde. Das Abkommen zwingt Serbien – ich zi-
tiere aus dem Gesetzentwurf –, „seinen Außenhandel ge-
genüber der Union vollständig zu liberalisieren“.
Dadurch sollen – ich zitiere weiter – „deutschen Unter-
nehmen verbesserte Exportchancen“ geboten und „die
Niederlassung von Unternehmen aus der Europäischen
Union in Serbien“ erleichtert werden. Schon heute
drängen deutsche Telekommunikations- und Energie-
unternehmen massiv auf den serbischen Markt, was zu
steigenden Preisen für die Bevölkerung führen wird.
Zugleich wird Serbien gezwungen, Löhne und Sozialleis-
tungen drastisch zu kürzen, um, wie es heißt, „dem Wett-
bewerbsdruck und den Marktkräften in der Europäi-
schen Union standhalten zu können“. Zugleich lehnt die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9079
gegebene Reden

9080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Sevim Daðdelen


(A) (C)



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Sevim Dağdelen
Bundesregierung jeden „Beitrittsautomatismus“ ab.
Das heißt: Selbst wenn Serbien all diese neoliberalen
Reformen durchführt, wird es vermutlich niemals selbst
in die EU aufgenommen werden und mitbestimmen kön-
nen. Erkauft wird dieses Abkommen mit Heranführungs-
hilfen und Darlehen in Milliardenhöhe. Wenn diese ei-
nes Tages versiegen, wird sich die EU mit dem nächsten
völlig verarmten und verschuldeten Staat an ihrer Peri-
pherie konfrontiert sehen. Mit ihrer neoliberalen Politik
arbeitet die Bundesregierung mitten in der Krise schon
an den Zusammenbrüchen und Aufständen von morgen.

Die Linke lehnt diesen Irrweg ab und fordert eine Ab-
kehr vom Neoliberalismus und eine Rückkehr zum Völ-
kerrecht. Maxime deutscher Außenpolitik muss Demo-
kratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit sein.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
zwischen der Europäischen Union und Serbien ist ein
wichtiger Schritt für beide Seiten. Er bringt das Land
der EU näher, und er trägt dazu bei, im noch immer
glimmenden Krisenherd mitten in Europa die Vorausset-
zungen für eine sich dynamisch entwickelnde Region zu
schaffen. Das ist jedenfalls die Hoffnung, die wir sicher
hier im Bundestag und in der EU alle gemeinsam teilen.
Deshalb begrüßen wir dieses Abkommen als Chance
und nicht zuletzt als Signal an Serbien.

Wir tun dies, obwohl nach wie vor eine der lange Zeit
geltenden Bedingungen für sein Zustandekommen nicht
erfüllt ist: die Überstellung von Ratko Mladić und
Goran Hadžić nach Den Haag. Mehr noch: Der jüngste
Bericht des Chefanklägers zur Bewertung der Zusam-
menarbeit Serbiens mit dem Internationalen Gerichtshof
ist deutlich kritisch. Er formuliert es natürlich diploma-
tisch, aber es ist zu verstehen: Nach wie vor fehlt der
politische Wille in Serbien, diese Bedingung zu erfüllen.
Brammertz fordert zugleich – wiederum verklausuliert –
anhaltenden Druck seitens der EU, ohne den eine Aus-
lieferung der Beschuldigten wohl kaum zu erwarten sei.

Es steht also noch viel Arbeit bevor, die eigentlich vor
der Geltung des Stabilisierungsabkommens zu leisten
gewesen wäre. Aber auch das Abkommen selbst ist zu-
gleich ein Katalog zu erfüllender Aufgaben – und auch
dies für beide Seiten. Denn es verpflichtet die EU zu
dauerhaftem und verstärktem Engagement, und es ver-
pflichtet Serbien zur Erfüllung der Bedingungen, derer
es zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedarf.
Dabei geht es nicht allein um innenpolitische Entwick-
lungen, sondern auch um intensivierte regionale Koope-
ration.

Denn trotz aller Fortschritte ist die ganze Region im
Südosten Europas nach wie vor eine ernsthafte Heraus-
forderung für die europäische und nicht zuletzt deutsche
Politik. Deutschland als größter Staat der EU und Ver-
ursacher eines Teils der historischen Lasten in Südost-
europa in den großen Kriegen des vergangen Jahrhun-
derts hat hier besondere Verantwortung.
Es gibt ein miteinander verflochtenes Dreieck aus
Serbien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Sie
alle wollen in die EU, und sie alle sollen in die EU. Ein
schwarzes Loch in ihrer Mitte kann sich die EU auf
Dauer nicht leisten. Dazu müssen jedoch die Beziehun-
gen zwischen diesen drei Nachbarn verbessert werden.
Was sie entwickeln müssen, ist konstruktive Zusammen-
arbeit.

Vor einigen Wochen habe ich hier im Plenum eine fal-
sche Information verbreitet. Dafür möchte ich mich ent-
schuldigen und das heute richtigstellen. Die serbische
Regierung war trotz vorheriger Ankündigung nicht ge-
schlossen zur Amtseinführung des neuen serbischen Pa-
triarchen in das kosovarische Pec gereist, und Serbien
beansprucht auch nicht diese Stadt, wie es das im Fall
von Nord-Mitrovica tut. In Pec steht das Patriarchats-
kloster, dessen Schutz Serbien beansprucht und auch er-
hält.

Aber Serbien beharrt auf dem Kosovo als Teil seines
Staates und erschwert so die Stabilisierung des Kosovo.
Verschiedene internationale Institutionen agieren des-
halb dort nebeneinander und stehen sich oft genug im
Weg. Eine dynamische Wirtschaft kann so kaum entste-
hen.

Problematisch bleibt auch die Entwicklung Bosnien-
Herzegowinas. Noch immer ist das Land blockiert durch
das Fehlen einer modernen Verfassung. Der Vertrag von
Dayton bleibt Grundlage und Hürde zugleich. Und der
serbische Präsident Tadic tritt im Wahlkampf mit dem
härtesten Blockierer einer Verfassungsreform, dem Prä-
sidenten der serbischen Teilrepublik Dodik, und der frü-
heren Vertrauten des Serbenführers Karadzić Biljana
Plavsić auf.

Die beiden Staaten, die Hauptopfer der Kriege wa-
ren, bleiben auch heute zurück, und Serbien tut sich
schwer mit seiner Vergangenheit und Gegenwart.
Deutschland und die EU, involviert in die Geschichte
der Kriege und mitverantwortlich für ihr Ende, sind an-
gesichts des Reformstaus in den Ländern des Balkans
müde geworden. Jetzt werden auch die Mittel zur Unter-
stützung der Region gekürzt. Aber wir brauchen Dyna-
mik und Anstrengungen. Wir brauchen ständiges und
anhaltendes, ernsthaftes Engagement. Das aber fehlt,
teils in der Region selbst, teils in der EU.

Außenminister Westerwelle hat mit seinem ersten und
bisher einzigen Besuch zur Entspannung im serbisch-ko-
sovarischen Verhältnis beigetragen. Vor Zeiten gab es
Außenminister, die in anderen Regionen monatelange
Pendeldiplomatie betrieben, um Einigungen zu erzielen,
Verhandlungen voranzubringen. Ich wünschte mir einen
deutschen Außenminister, der heute dasselbe auf dem
westlichen Balkan tut und der für die Anerkennung der
staatlichen Realitäten auch in der EU wirbt, um dort
endlich Geschlossenheit zu erzielen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708135600

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/3963 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9081

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Für eine Stärkung der breit aufgestellten euro-
päischen Grundlagenforschung – Keine finan-
ziellen Einschnitte beim Europäischen For-
schungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts
ITER

– Drucksache 17/3483 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Stefan Kaufmann,
René Röspel, Martin Neumann, Petra Sitte und Sylvia
Kotting-Uhl.


Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1708135700

Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags der

SPD – Stärkung des Europäischen Forschungsrates
– ERC – und eine ausgewogene Finanzierung des ITER-
Projektes – ist richtig. Auch die Forderung nach Verrin-
gerung von administrativen Hürden für den ERC erhält
unsere Unterstützung.

Die Bundesregierung ist jedoch schon weiter als die
Opposition:

Bereits im Frühjahr 2010 hat die Bundesregierung in
einem Leitlinienpapier die deutschen Vorstellungen für
die Struktur des 8. Forschungsrahmenprogrammes der
EU-Kommission übermittelt. Dieses Leitlinienpapier
beinhaltet auch eine finanzielle und administrative Stär-
kung des ERC. Außerdem gehen die Schlussfolgerungen
des Europäischen Rates vom Juli mit dem Ziel einer bes-
seren Kostenkontrolle und einer Verbesserung des Ma-
nagements bei ITER auf die Initiative der Bundesregie-
rung zurück. Vor diesem Hintergrund fordern Sie nur,
was die Bundesregierung schon lange getan hat.

Ihre weiteren Forderungen, zum Beispiel jene, dafür
Sorge zu tragen, dass ITER nicht auf Kosten gut funktio-
nierender und auch international als innovativ bewerte-
ter Institutionen und Projekte finanziert wird oder dass
ITER nicht auf Kosten der Erforschung und Nutzung der
erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz finan-
ziert wird, sind eher dazu bestimmt, das ITER-Projekt
zum Scheitern zu bringen. Auch das Abstimmungsver-
halten Ihrer Parteikollegen im Haushaltsausschuss des
Europäischen Parlaments macht dies deutlich. Der am
6. Dezember im Trilog mit Rat, Kommission und Vertre-
tern des EP mühsam ausgehandelte Kompromiss über
die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für das ITER-Pro-
jekt wurde nicht zuletzt von Ihrer Fraktion im Haus-
haltsausschuss zu Fall gebracht. Von einer konstrukti-
ven Opposition keine Spur.

Auch Ihre Einlassungen zur Energieproblematik sind
realitätsfremd. So behaupten Sie in Ihrem Antrag, die
Fusionsforschung käme als Energiequelle definitiv zu
spät. Dabei ist bekannt, dass noch in diesem Jahrhun-
dert der weltweite Strombedarf etwa auf das Sechsfache
des heutigen Bedarfs ansteigen wird. Selbst Greenpeace
rechnet mit einer Vervierfachung des Bedarfs. Dieser
von Experten prognostizierte Bedarf an Energie ist mit
keiner der heute bekannten Technologien zu decken,
auch nicht etwa mit regenerativen Energien.

Die Fusionsenergie verspricht vor diesem Hinter-
grund gegenüber den bekannten Energiequellen derart
große Vorteile, dass sich alle Anstrengungen lohnen, ihr
zum Durchbruch zu verhelfen. Das gilt im Übrigen auch
dann, wenn man das Projekt noch der Grundlagenfor-
schung zurechnet. Funktioniert die Kernfusion wie ge-
plant, können wir unseren Energiebedarf ab der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts einfach und sauber decken.
Lassen Sie mich Ihnen nur vier Punkte zu bedenken ge-
ben:

Erstens: Die für den Fusionsprozess nötigen Grund-
stoffe – einerseits Deuterium, das in natürlichem Wasser
enthalten ist, andererseits Tritium, das aus Lithium ge-
wonnen wird – sind nahezu überall auf dieser Welt vor-
handen; der Vorrat ist nach menschlichen Maßstäben
unerschöpflich. Da die Fusionstechnik eine extrem hohe
Energiekonzentration zur Folge hat, wird im Gegensatz
zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehr wenig
Fläche verbraucht. Klimatische Schwankungen haben
– wie auch bei der Kernspaltung – keinerlei Einfluss auf
die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für
die Grundlastversorgung von Ballungsräumen sowie
der Großindustrie.

Zweitens: Bei der Kernfusion entstehen praktisch kei-
nerlei CO2-Emissionen. Es ist eine saubere Ener-
gieform. Wir dürfen daher die Kernfusion – anders als
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in
Abs. 2 Ihres Antrags – nicht gegen die Förderung erneu-
erbarer Energien und der Energieeffizienz ausspielen.
Bei der harten internationalen Konkurrenz liegt die Zu-
kunft Deutschlands als Innovationsstandort in der For-
schung. Die Fortführung von ITER hat also nichts damit
zu tun, die Förderung erneuerbarer Energien oder For-
schungsausgaben in diesem Bereich zurückzufahren. Im
Übrigen ist die Kernfusion aufgrund der faktisch unbe-
grenzten Verfügbarkeit ihres Brennstoffs den erneuerba-
ren Energien gleichzustellen.

Drittens: Die Kernfusionstechnologie bietet auch jen-
seits der Energiegewinnung im Kraftwerk bahnbre-
chende Entwicklungsmöglichkeiten. So ist beispiels-
weise eine Weiterentwicklung für den wichtigen Bereich
der Antriebstechnik vorstellbar.

Viertens: Wir stehen in internationaler Verantwor-
tung. Wie Sie in Ihrem Antrag hervorheben, sind am
ITER-Projekt neben der EU auch Japan, Russland, die
USA, China, Indien und Südkorea beteiligt. Das bietet

Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobach-
tung aus. Unsere Partner beobachten sehr genau, wie
sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zukunfts-
weisenden Projekt verhält. Auch das verpflichtet uns zu
einer sehr gewissenhaften Prüfung des weiteren Vorge-
hens. Bei einem Ausstieg müssen insbesondere die Aus-
wirkungen auf die europäische Forschungszusammen-
arbeit, auf die deutschen Fusionsprojekte in Garching
und Greifswald, aber auch auf andere deutsche Großfor-
schungsprojekte mit internationaler Beteiligung wie
XFEL in Hamburg und FAIR in Darmstadt geprüft wer-
den. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere deut-
schen Forschungseinrichtungen, zum Beispiel die Helm-
holtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe, vor
allem aber das IPP in Garching, bisher überproportio-
nal von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert haben.
Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht,
ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald bzw. dem
Nachfolger DEMO ab circa 2025 die Perspektive.

Die deutsch-französische Zusammenarbeit und
Freundschaft könnte aufgrund des ITER-Sitzes in Cada-
rache und des damit zusammenhängenden starken fran-
zösischen Interesses am Projekt in Mitleidenschaft gezo-
gen werden. Auch diese Überlegungen gehören zu einem
ehrlichen Umgang mit der Zukunft von ITER. Eine ein-
seitige Kündigung des ITER-Abkommens ist – abgese-
hen von den außenpolitischen Verwerfungen – auch for-
schungs- und umweltpolitisch unverantwortlich. Das
ITER-Abkommen enthält im Übrigen auch keine Rück-
trittsmöglichkeit für Euratom als einem der Vertrags-
partner. Gemäß Art. 24 Abs. 6 ist die Beendigung des
Vertrages nur durch eine Vereinbarung aller Partner
möglich.

Wir – die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP –
bekennen uns zur Fusionsforschung, weil wir die darin
liegenden immensen Chancen zur Sicherung unserer
Energieversorgung über das Jahr 2050 hinaus sehen.
Die Kernfusion ist eine der wichtigsten Zukunftstechno-
logien überhaupt.

Bei Ihnen hingegen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, lässt sich keine klare Position erkennen.
Einerseits erklären Sie Ihre grundsätzliche Zustimmung
zum ITER-Projekt und beschreiben in Ihrem Antrag die
Fusionsforschung als einen „spannenden Forschungs-
bereich“, dessen „Vorteile die dafür langfristig verfüg-
baren Ressourcen und die relative Umweltverträglich-
keit im Vergleich zur Kernspaltung sind“. Andererseits
versuchen Sie alles, um das Projekt zu torpedieren. Dies
ist ein erneutes Beispiel für die unklare Haltung der So-
zialdemokraten zu beinahe allen politischen Themen. Es
ist schade, dass Sie in der Opposition immer mehr die
Regierungsfähigkeit verlieren, sich mehr und mehr den
Grünen annähern und offensichtlich eine zweite Dage-
genpartei werden wollen.

Festzuhalten bleibt: Genau wie bei Stuttgart 21 ist
unklar, ob die SPD das ITER-Projekt unterstützt oder
nicht. Bekennen Sie Farbe und sagen Sie endlich, ob Sie
für oder gegen das ITER-Projekt sind.

Wir stimmen jedenfalls mit voller Überzeugung gegen
Ihren Antrag.
Zu Protokoll

René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1708135800

Letzte Woche waren wir auf Ausschussdelegations-

reise in Brüssel. Gemeinsam haben wir mit Experten der
Ständigen Vertretung, des Europäischen Parlaments,
der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates,
der deutschen Forschungsorganisationen und der Wirt-
schaft über die europäische Forschungspolitik gespro-
chen. Das waren zwei sehr intensive und hoch span-
nende Tage, für deren Organisation ich mich hier noch
einmal ganz ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Ständigen Vertretung und des Deut-
schen Bundestages bedanken möchte.

Ich glaube, keiner der Delegationsteilnehmerinnen
und -teilnehmer widerspricht, wenn ich zusammenfas-
send sage, dass alle Vertreter eine europäische For-
schungsinstitution am meisten gelobt haben: den Euro-
päischen Forschungsrat – ERC. Dieses seit 2007 auf der
europäischen Ebene neue Instrument ist Bestandteil des
7. Forschungsrahmenprogramms – FRP. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft – DFG – hat dabei in Bezug
auf Arbeitsweise und Strukturen Pate gestanden. Wie bei
der DFG fördert der ERC einzelne Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aller Fachrichtungen der Grundla-
genforschung. Die Umsetzung des Bottom-up-Prinzips,
Projekte werden dabei von der Basis her von Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelt und
allein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewer-
tet, ist hierbei ein Kernelement der Förderung. Eine
Steuerung „von oben“ etwa seitens der EU-Kommission
soll nicht stattfinden. Dies ist für die europäische For-
schungsförderung ein neues Prinzip.

Für den Zeitraum 2007 bis 2013 stehen für den ERC
circa 7,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese werden
als „starting grants“ für junge Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler sowie als „advanced grants“ an be-
reits etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler vergeben. Die Nationalität der Bewerberinnen und
Bewerber spielt dabei keine Rolle; sie müssen aber in-
nerhalb der EU oder in den assoziierten Staaten for-
schen. Dass die ausgewählten Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler zur weltweiten wissenschaftlichen Spit-
zenklasse gehören, zeigt exemplarisch die Verleihung
des diesjährigen Nobelpreis für Physik an Kostya
Novoselov. Herr Novoselov erhielt bereits 2008 einen
„starting grant“.

Dr. Jack Metthey, Direktor der ERC Executive
Agency, erklärte uns letzte Woche in Brüssel, dass im
Vergleich zum Durchschnitt die Bewerbungen von Deut-
schen für einen ERC-Grant überproportional positiv be-
schieden wurden. Hier wirkt sich wohl die gute Vorbe-
reitung der Anträge aus, unter anderem durch die DFG.
Feststellen muss man aber auch, dass wir Deutschen
„Exporteure von Talenten“ sind. Denn viele deutsche
Staatsbürger, die einen Grant gewinnen, forschen mit
diesem Geld im europäischen Ausland, insbesondere in
Großbritannien. Auch ziehen wir immer noch zu wenig
ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
nach Deutschland. Hier müssen wir auf Bundes-, aber
auch Landesebene unbedingt nachbessern.
9082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

Bei aller Euphorie für das Instrument war bei der De-
legationsreise aber auch nicht zu überhören, dass die
Administration des ERC durchaus noch verbesserungs-
fähig ist. Das betrifft die administrativen Regularien für
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber beson-
ders auch die institutionelle Anbindung des ERC und
damit die Sicherstellung des Bottom-up-Prinzips.

So wie das Thema ERC bei unseren Gesprächspart-
nern die Augen leuchten ließ, so verdrehten sie diese bei
einem anderen Thema: dem Internationalen Thermonu-
klearen Experimental-Reaktor, kurz ITER. Dabei han-
delt es sich um ein gemeinsames Projekt der EU,
Japans, Russlands, der USA, Chinas, Indiens und Süd-
koreas zum Bau und Unterhalt eines Fusionsforschungs-
reaktors. In diesem Reaktor sollen Abläufe, die in der
Sonne stattfinden, in einem Kraftwerk nachempfunden
werden. Als Standort wurde das französische Cadarache
gewählt. Die EU trägt 45,5 Prozent der Kosten. Im Un-
terschied zum ERC handelt es sich bei ITER um ein typi-
sches Top-down-Projekt. Dies bedeutet, dass über die
Förderung des Projektes maßgeblich auf politischer
Ebene entschieden wurde und wird.

Was unseren Gesprächspartnern in Brüssel – und ich
denke, uns geht es dabei ähnlich – bei dem Thema be-
sonders übel aufstieß, sind die bekannt gewordenen
enormen Kostensteigerungen für das Projekt. Nach ak-
tuellen Informationen werden die Baukosten für ITER
auf über 15 Milliarden Euro steigen, was eine Verdreifa-
chung der ursprünglichen Kosten bedeutet. Für die EU
heißt dies einen Kostenanstieg auf circa 7,2 Milliarden
Euro, im Vergleich zu den 2,7 Milliarden Euro, die bei
Vertragsunterzeichnung vereinbart waren. Diese Gelder
sollen nach der Entscheidung des Europäischen Rates
aus dem EU-Haushalt fließen. Allein für die Jahre 2012
und 2013 klafft nach heutigen Informationen eine
Finanzierungslücke von 1,3 Milliarden Euro. Ein großer
Teil soll davon aus dem EU-Forschungsbudget gegenfi-
nanziert werden, was nachhaltig negative Auswirkungen
auf die gesamte europäische Forschungslandschaft ha-
ben könnte. Frau Professor Helga Nowotny, die Gene-
ralsekretärin des ERC, sieht deshalb die Gefahr, dass
auch am ERC gespart werden könnte. Das ist sicher
keine abwegige Einschätzung.

Eigentlich hatten sich Rat, Kommission und Vertreter
des Europäischen Parlaments letzte Woche auf einen
Haushaltskompromiss geeinigt. Geplant waren Budget-
umschichtungen im Bereich 1a (Wettbewerbsfähigkeit)

und 2 (Landwirtschaft) für den Zeitraum 2010 bis 2013.
Dieser Vorschlag ist aber vom Europäischen Parlament
abgelehnt worden. Eine Entscheidung über die ITER-
Finanzierung ist nun mit ungewissem Ausgang auf 2011
verschoben worden. Wie mögliche Erhöhungen nach
2013, die bei diesem Mammutprojekt leider auch für die
Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, abgefan-
gen werden, ist noch vollkommen unklar. Die Kommis-
sion hat bereits vorgeschlagen, diese bzw. ähnliche Pro-
jekte in Zukunft nicht mehr aus dem allgemeinen EU-
Haushalt, sondern über einen extra Topf zu finanzieren.
Woher das Geld dafür kommen soll, ist ebenfalls noch
vollkommen unklar. Eine stärkere finanzielle Beteili-
gung der Mitgliedstaaten an ITER wird somit wahr-
Zu Protokoll
scheinlicher. Wir als SPD-Bundestagsfraktion lehnen
dies ab.

Ob die Kernfusion in der Zukunft wirklich zu einer
bezahlbaren und sicheren Energiequelle wird, ist voll-
kommen unklar. Herausfinden werden das unsere Nach-
nachfolger frühestens 2050. Fusionsforschung ist ein
spannender Forschungsbereich. Für die bereits heute
nötige Energiewende kommt sie als Energiequelle aber
definitiv zu spät. Wir als SPD-Bundestagfraktion fänden
es nicht hinnehmbar, wenn ITER auf Kosten regenerati-
ver Energiequellen finanziert werden würde. Nicht ak-
zeptierbar wäre es außerdem – und ich glaube, da sind
wir uns in diesem Hohen Hause einig – wenn ITER auf
Kosten des bereits heute überaus erfolgreichen ERC ge-
baut werden würde. Ein einziges Forschungsprojekt darf
einfach nicht auf Kosten aller anderen Forschungsberei-
che durchgedrückt werden. Dr. Metthey wies in seinem
Vortrag darauf hin, dass die Einrichtung des ERC ohne
die starke Unterstützung Deutschlands nicht möglich
gewesen wäre. Der ERC benötigt auch weiterhin diesen
Beistand. Eine einstimmige Unterstützung durch den
Deutschen Bundestag wäre deshalb aus meiner Sicht
wünschenswert.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1708135900

Bei der Fusionsforschung geht es um die Auswirkun-

gen von Strömungen auf die Stabilität der magnetisch
eingeschlossenen Plasmen und auf den Transport von
Energie und Teilchen aus dem Plasma heraus. Das
große Ziel der weltweiten Fusionsforschung ist es, ein
heißes Gas aus Wasserstoff möglichst lange und stabil in
einem Magnetfeldkäfig zusammenzuhalten, um so die
Energieerzeugung durch Verschmelzung der Teilchen
nach dem Vorbild der Sonne in einem Kraftwerk auf der
Erde zu verwirklichen. Diesem Ziel wollen die Forscher
in Zukunft mit dem Fusionsexperiment ITER näherkom-
men. Auf dem Weg zur Nutzung der Fusionsenergie sind
aber nicht nur einige technische, sondern auch noch
grundlegende physikalische Fragen zu lösen.

Das ist Ihnen alles bekannt, und dennoch habe ich
immer wieder den Eindruck, dass die Kollegen der Op-
position, insbesondere Bündnis 90/Die Grünen, die Fu-
sionsforschung zu einseitig betrachten. Immer wieder
höre ich die gleichen Sätze: Bis ITER Energie erzeugt,
vergehen noch vierzig Jahre und mehr. Das lohnt sich
nicht. – Es geht aber bei dem Fusionsreaktor ITER nicht
ausschließlich um die Stromerzeugung. ITER ist ein For-
schungsreaktor. Er dient dem Erkenntnisgewinn zur
Plasmaforschung. Was kann Plasma, was tut es unter
bestimmten Bedingungen usw.? Hier geht es um Grund-
lagenforschung, und die muss finanziert werden, aber
nicht unter den gegenwärtigen Voraussetzungen und
schon gar nicht zum Nachteil anderer Forschungsvorha-
ben.

Die Ergebnisse des Rates für Wettbewerbsfähigkeit
vom 26. November 2010 stellen die geplante Finanzie-
rung des europäischen Großprojektes ITER vor neue
Herausforderungen. Die Ergebnisse machen ganz deut-
lich, dass es nach wie vor einen erheblichen Handlungs-
bedarf bei der Finanzierung gibt und dass das Projekt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9083
gegebene Reden

Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)

innerhalb kurzer Zeit auf eine nachhaltige finanzielle
Grundlage gestellt werden muss. Dem stimmen wir voll
und ganz zu. Kostendeckelung, nachvollziehbare Kon-
trollmechanismen und gutes Management sind dafür die
Basis.

Das Großprojekt ITER aber einfach fallen zu lassen,
halten wir nach wie vor für den falschen Ansatz. Denn
ein Scheitern des Projektes kommt aus forschungspoliti-
scher Betrachtung einem immensen Gesichtsverlust
gleich. Internationale Partner jetzt im Regen stehen zu
lassen, hätte auch für andere internationale Projekte fa-
tale Auswirkungen.

Es ist unstrittig, dass bei der Finanzierung des Pro-
jektes sowie bei der Arbeitsweise des Managements
noch erheblicher Klärungsbedarf besteht. Der erste Lö-
sungsvorschlag ist nicht, wie wir gehofft hatten, akzep-
tiert worden. Das zwingt uns zu neuen strategischen und
finanzplanerischen Überlegungen.

Aus den Berichten der Kommission werden zwei
grundlegende Probleme in der Konzeption um das For-
schungsprojekt sichtbar: die Finanzierung auf der einen
Seite und die konzeptionelle Umsetzung und Controlling
auf der anderen Seite. Von Anfang an hätten reale wirt-
schaftliche Kennzahlen und ökonomische Gesetzmäßig-
keiten dem Vorhaben zugrunde gelegt werden müssen.

Die Kalkulation rechnete damals mit einer Gesamt-
summe der Kosten von 5,5 Milliarden Euro. Jetzt sind
wir bei Gesamtkosten von 7,2 Milliarden Euro angekom-
men. Diese Kostensteigerung ist auf erhöhte Rohstoff-
preise, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, höhere
Qualitätsanforderungen und Fehleinschätzungen über
den notwendigen Umfang von Diagnostiken zurückzu-
führen.

Erst jetzt wird erkennbar, dass ein wesentliches Ein-
sparpotenzial vorhanden ist. Eine strategisch ausgerich-
tete Kostenkontrolle hätte bereits zu Beginn eingeführt
und ein konkreter Finanzplan vorgelegt werden müssen.
Das erwarten wir von jedem anderen Forschungsprojekt
auch. Hier liegt vielleicht auch die Volksweisheit „Zu
viele Köche verderben den Brei.“ zugrunde. Hohe Er-
wartungen, die Verpflichtungen gegenüber wichtigen
wirtschaftlichen Partnern und der potenzielle Verlust
der internationalen Anerkennung haben wohl den In-
stinkt für Wirtschaftlichkeit und sinnvolle Kosten-Nut-
zen-Analyse überlagert.

Wir sind daher immer wieder gefordert, uns mit den
enormen Kostensteigerungen zu befassen, die sich be-
reits im Jahre 2008 abgezeichnet hatten. Die Verteue-
rung des Projektes ist und bleibt ein ernst zu nehmendes
Problem. Deshalb ist es wichtig, eine Kostendeckelung
einzuführen und Geld zur Verfügung zu stellen, ohne da-
bei andere wichtige Forschungsprojekte zu gefährden.
Es geht an dieser Stelle aber auch um eine strategische
Entscheidung, in welche Bereiche die EU perspektivisch
Geld investieren möchte. Deswegen halte ich es für
wichtig und richtig, eine Umschichtung aus dem EU-
Agrarhaushalt zugunsten der Fusionsforschung vorzu-
nehmen. Wir wollen nicht länger unrentable Bereiche
Zu Protokoll
mit enormen Mitteln fördern. Wir wollen in die Zukunft
investieren.

Die bisher geleisteten Forschungsarbeiten dürfen
nicht vergeblich gewesen sein. Deswegen wird das Fu-
sionsforschungsprojekt ITER, auch wenn wir zukünftige
Entwicklungen aufmerksam und kritisch beobachten
und analysieren müssen, von der Bundesregierung nach
wie vor befürwortet und unterstützt. Denn der ITER wird
bahnbrechende Forschungs- und Entwicklungsarbeit er-
möglichen.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708136000

Das Megaprojekt ITER, der Versuchsreaktor zur Er-

probung der Kernfusion, beschäftigt uns hier seit länge-
rem. Aktuell geht es um die Frage, wie kurzfristig
1,4 Milliarden Euro aufgebracht werden können, um
überhaupt weiter planen zu können. Denn bereits vor
dem eigentlichen Baubeginn sind die Kosten explodiert
und lassen sich auch weiterhin kaum verlässlich planen.

Das ist auch der Haken am vorliegenden SPD-An-
trag: Die Geschichte der bisherigen ITER-Planung
zeigt, dass die Kosten nicht beherrschbar sind, also
auch nicht zuverlässig gedeckelt werden können, wie
dies die Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag for-
dern. Wir treten seit langem dafür ein, aus diesem Pro-
jekt auszusteigen, bevor unumkehrbare Tatsachen ge-
schaffen werden – nicht weil wir technikfeindlich sind,
sondern weil neue Technologien nicht ohne ihren sozia-
len und ökologischen Kontext zu denken sind. Vor die-
sem Hintergrund fällt ITER aus der Zeit. Es ist ein Pro-
dukt der 80er-Jahre, einer Zeit, als internationale
Zusammenarbeit an Großtechnologien über die Grenzen
der Blöcke hinweg etwas Neues war. Unsere Grundkritik
ist, dass eine Technologie, die – wenn überhaupt – frü-
hestens 2050 zur Verfügung steht, nichts zum Kampf
gegen den Klimawandel beitragen kann, bleibt. Die
Zukunft gehört dezentralen und erneuerbaren Ener-
gieformen, die jetzt schnell und flächendeckend durch-
gesetzt werden müssen. Auch dies wird Geld kosten,
Geld, das nicht für den Bau von Megareaktoren ver-
brannt werden darf.

Der SPD-Antrag lenkt jedoch den Blick auch auf den
Europäischen Forschungsrat, dessen Budget, so der An-
tragstext, keinesfalls unter den Mehrausgaben für ITER
leiden dürfe. Dieser Forderung kann sich die Linke na-
türlich anschließen. Die Einzelförderung einer wirklich
innovativen Pionierforschung durch eine wissenschafts-
geleitete Auswahl der geförderten Personen ist eine
richtige Idee. Wir sagen aber auch: das Konzept der
Förderauswahl muss überarbeitet werden.

Mich hat, wie andere Kolleginnen und Kollegen im
Forschungsausschuss auch, die Präsentation des Grün-
dungsgeneralsekretärs des ERC, Professor Winnacker,
im vergangenen Jahr schockiert. Die aktuellen Förder-
statistiken bestätigen seine Aussagen:

Die Beitrittsländer in Mittel- und Osteuropa spielen
bei der Vergabe der Fördermittel keine nennenswerte
Rolle. Als Begründung gibt der ERC an, dass diese Län-
der eben noch nicht solch eine leistungsfähige Wissen-
9084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)

schaftslandschaft hätten und diese erst aufgebaut wer-
den müsse. Diese Aussage konterkariert das eigentliche
Förderkonzept: Wenn wirklich innovative Köpfe und
nicht große Strukturen gefördert werden sollen, er-
scheint es sehr unwahrscheinlich, dass diese Pionierfor-
scher alle in Westeuropa sitzen. Und selbst wenn die Tat-
sache Berücksichtigung findet, dass knapp 30 Prozent
der Geförderten außerhalb ihres Heimatlandes arbeiten,
bleibt die Feststellung, dass die Verteilung wohl nicht
nur die Leistungsfähigkeit der einzelnen Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler widerspiegelt. Viel eher
dürfte die Zusammensetzung der Gutachterkommitees
Aufschluss über Präferenzen der ERC-Förderung ge-
ben. Die ERC-Präsidentin Helga Nowotny sieht einen
eindeutigen Zusammenhang zwischen Forschungsaus-
gaben des jeweiligen Sitzlandes und Erfolg bei der För-
derung durch den Forschungsrat.

Wenn also bei der Förderung nur die ohnehin schon
finanz- und drittmittelstarken Institutionen zum Zuge
kommen, bleibt die Frage: Wie soll die Wissenschafts-
landschaft in den neuen EU-Staaten ohne spezifische
Förderung jemals auf Augenhöhe kommen, wenn der
Vorsprung der etablierten Staaten noch zusätzlich durch
ERC-Milliarden und andere Initiativen ausgebaut wird?

Frauen sind schlicht unterrepräsentiert bei der För-
derung. Der Anteil sank zuletzt sogar von 20,7 auf
19,4 Prozent. Auch hier ist es sehr unwahrscheinlich,
dass mehr als 80 Prozent der begabtesten Nachwuchs-
wissenschaftler Männer sein sollen. Die Frage, was
Spitzenforschung ausmacht, kann nicht ohne die Be-
rücksichtigung sozialer Kontexte beantwortet werden.
Wer die innovativsten Köpfe sucht, sollte die spezifi-
schen Forschungsansätze aus weiblicher Sicht stärker
berücksichtigen.

Wenn also die Reformen der europäischen For-
schungsförderung, auch des Forschungsrates, derzeit
vorbereitet werden, dann geht es nicht nur um Entbüro-
kratisierung. Die Kommissionsdirektion Forschung und
die neue ERC-Präsidentin Helga Nowotny sollten sich
dringend mit der Frage beschäftigen, wie die Förderung
von Spitzenforschung nicht nur denjenigen eine Chance
gibt, die schon qua Publikationsliste und Titel als exzel-
lent gelten, sondern auch denen, die es qua eigener
Ideen werden könnten. Die Förderung von Frauen und
die Unterstützung für die Wissenschaft in den Beitritts-
ländern muss eine stärkere Rolle im Begutachtungspro-
zess spielen. Nur dann hat die Bezeichnung Pionierfor-
schung – oder neudeutsch: Frontier Research – für die
Förderung des ERC seine Berechtigung.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708136100

Unbestreitbar ist die Fusionsforschung ein spannen-

der Forschungsbereich, der bereits Generationen von
Naturwissenschaftlern fasziniert und der durch die ent-
sprechende Grundlagenfinanzierung politisch zur Blüte
gebracht wurde. Ob die Kernfusion aber jemals in das
Stadium einer verlässlichen Energieproduktion über-
führt werden kann, steht vollkommen in den Sternen. Für
die bereits heute einzuleitende Zukunft nachhaltiger
Energiegewinnung ist die Fusion kein Beitrag, denn sie
Zu Protokoll
kommt frühestens nach 2050 und damit viel zu spät und
sie ist nicht umweltverträglich.

Seit einem Jahr sind bei ITER erhebliche Kostenstei-
gerungen, eklatante Managementfehler und strukturelle
Probleme bekannt. Die Finanzierung der Mehrkosten
von 1,3 bis 1,4 Milliarden Euro allein in den Jahren
2012/2013 konnte bisher nicht bewerkstelligt werden.
Jetzt hat die Bundesregierung im Ausschuss der Ständi-
gen Vertreter der EU einem Vorschlag der europäi-
schen Präsidentschaft zugestimmt, der eine Finanzie-
rung innerhalb des EU-Haushaltes vorsieht. Es sollen
460 Millionen Euro aus der Rubrik 1 a – unter anderem
Forschung – und 814 Millionen Euro aus der Rubrik 2
– Landwirtschaft – entnommen werden. Aus der Ru-
brik 1 a werden neben dem Forschungsrahmenpro-
gramm die Programme Lebenslanges Lernen und Eras-
mus, das Innovationsprogramm für Kleine und Mittlere
Unternehmen sowie die Energieprojekte des Konjunk-
turbelebungsprogramms finanziert. Das EU-Parlament
hat seine Zustimmung dazu bisher mit Recht verweigert:
ITER ist ein Fass ohne Boden und verhindert ein nach-
haltiges Energiekonzept, weil es die Mittel für erneuer-
bare, kurz- und mittelfristig zu entwickelnde Energien
bindet.

Die Zukunftsaufgabe der europäischen Energierevo-
lution liegt in den erneuerbaren Energien, im Netzaus-
bau und -management, in der Effizienz und in der Green
Economy. Die Herausforderung der klimaverträglichen
Wohlstandssicherung gilt es durch Innovationen zu be-
wältigen, statt an unhaltbaren Versprechen auf dem Weg
zu „unendlich viel Energie“ zu kleben. Nach mehr als
einem halben Jahrhundert Fusionsforschung haben sich
andere, zukunftsweisendere Wege gezeigt als die fossi-
len, atomaren Visionen der Fusionsforschung des ver-
gangenen Jahrtausends.

Wir halten deshalb an unserer Forderung nach Aus-
stieg aus dem Milliardengrab ITER fest und bitten die
Bundesregierung, über den Ministerrat und durch ent-
sprechende europäische Initiativen darauf hinzuwirken,
dass – solange die Finanzierung des Prestigeprojektes
nicht gesichert ist – auch keine weiteren Aufträge für
Komponenten und zum Bau von ITER vergeben werden.
Es ist hochgradig unseriös, das Festhalten am ITER-
Konzept zu beteuern, ohne die finanzielle Beteiligung ab-
sichern zu können. Den europäischen Landwirtschafts-
etat für ländliche Entwicklung zu plündern, ist jedenfalls
genau so wenig seriös, wie die europäische Energiefor-
schung einseitig auf ein Fusionsprojekt auszurichten.

ITER ist in seiner einmaligen internationalen Kon-
struktion – so zeigt sich nun – der Versuch, staatlich ge-
förderte Forschung unter internationaler Beteiligung zu
bewerkstelligen und weltweit gefertigte Komponenten
für einen Reaktor zusammenzutragen. Die entsprechen-
den nationalen Organisationen, wie für Europa F4E
sind bereits am Design des Projektes gescheitert, der
Zusammenbau wird die Energieforschung nicht beflü-
geln können.

Der von der SPD vorgelegte Antrag benennt den ak-
tuellen Konflikt der Finanzierung auf europäischer
Ebene zutreffend und hat daher meine Sympathie. Aller-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9085
gegebene Reden

9086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)

dings ist meine Fraktion sowohl auf nationaler als auch
auf europäischer Ebene davon überzeugt, dass die poli-
tische Verantwortung nicht bei der Benennung des Kon-
flikts stehen bleiben darf. Der Haushaltsehrlichkeit
muss eine Fokussierung auf die Zukunftsaufgaben fol-
gen. Die öffentlich finanzierte Forschung hat gerade im
Nachgang der internationalen Klimakonferenz in Can-
cún verstärkt Beiträge zur Begrenzung des Klimawan-
dels und zum Umbau der Energiesysteme zu liefern. Hier
darf nicht zugunsten eines unbrauchbaren Prestigepro-
jekts gekürzt werden.

Die Europäische Kommission hat bereits im Mai
2010 prognostiziert, was ein geordneter Ausstieg der EU
aus ITER jetzt kosten würde. Es ist an der Zeit, bei ITER
die Notbremse zu ziehen und das Projekt zu verlassen.
Entsprechende Anträge haben Bündnis 90/Die Grünen
bereits im April und Juli in den Bundestag eingebracht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708136200

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3483 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom
28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Eu-
roparats vom 23. November 2001 über Com-
puterkriminalität betreffend die Kriminalisie-
rung mittels Computersystemen begangener
Handlungen rassistischer und fremdenfeindli-
cher Art

– Drucksache 17/3123 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/
913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur
strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter For-
men und Ausdrucksweisen von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des
Zusatzprotokolls vom 28. Januar 2003 zum
Übereinkommen des Europarats vom 23. No-
vember 2001 über Computerkriminalität betref-
fend die Kriminalisierung mittels Computersys-
temen begangener Handlungen rassistischer
und fremdenfeindlicher Art

– Drucksache 17/3124 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/4123 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Sebastian Edathy
Christoph Strässer
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des
Rahmenbeschlusses liegt ein Änderungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Proto-
koll genommen: Ansgar Heveling, Christoph Strässer,
Jörg van Essen, Halina Wawzyniak und Jerzy Montag.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1708136300

Heute schließen wir mit der zweiten und dritten Le-

sung die Beratung von zwei Gesetzentwürfen im Zusam-
menhang mit Straftaten im Bereich der Cyberkriminali-
tät ab.

Worum geht es in der Sache?

Mit Drucksache 17/3123 liegt ein Gesetzentwurf vor,
der die Voraussetzungen – nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1
GG – für die Ratifikation des Zusatzprotokolls zum
Übereinkommen des Europarates über Computerkrimi-
nalität betreffend die Kriminalisierung mittels Compu-
tersystemen begangener Handlungen rassistischer und
fremdenfeindlicher Art schaffen soll.

Mit Drucksache 17/3124 liegt ein Gesetzentwurf zur
Umsetzung der sich aus dem Zusatzprotokoll sowie aus
dem Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur straf-
rechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Aus-
drucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
ergebenden Verpflichtungen auf nationaler Ebene vor.

Der Zweck des Rahmenbeschlusses ist die strafrecht-
liche Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeind-
lichkeit. Das Zusatzprotokoll erweitert diese Bekämp-
fung um die strafrechtliche Verfolgung im Bereich
rassistischer und fremdenfeindlicher Handlungen im In-
ternet. Sowohl das Zusatzprotokoll als auch der Rah-
menbeschluss führen die Angleichung des materiellen
Strafrechts und damit eine Mindestharmonisierung von
Strafvorschriften auf europäischer Ebene fort. Nicht zu-
letzt sind dieser Entwicklung die großen Fortschritte der
letzten Jahre im internationalen Kampf gegen Rassis-
mus und Fremdenfeindlichkeit zu verdanken. Die Frist
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ist mit dem
28. November 2010 verstrichen. Wir treffen damit heute
sehr zeitnah die notwendigen Umsetzungsentscheidun-
gen.

In weiten Teilen entspricht das geltende deutsche
Recht bereits heute den Anforderungen des Rahmenbe-
schlusses und des Zusatzprotokolls. Umsetzungsbedarf
ergibt sich aber unter anderem in Bezug auf den Kreis
der Schutzbedürftigen. Dieser wird in Art. 1 Abs. 1
Buchstabe a des Rahmenbeschlusses definiert. Schutz-
bedürftig ist eine „nach den Kriterien der Rasse, Haut-
farbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder
ethnischen Herkunft definierte Gruppe von Personen
oder […] ein Mitglied einer solchen Gruppe“.

Gemäß Zusatzprotokoll – Art. 3 Abs. 1 – sollen unter
bestimmten Voraussetzungen „das Verbreiten oder an-
derweitige Öffentlich-verfügbar-Machen rassistischen

Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

und fremdenfeindlichen Materials über ein Computer-
system“ als Straftaten gelten. Rassistisches und frem-
denfeindliches Material nach Art. 2 Abs. 1 des Zusatz-
protokolls ist „jedes schriftliche Material, jedes Bild
oder jede andere Darstellung von Ideen oder Theorien,
das beziehungsweise die Hass, Diskriminierung oder
Gewalt aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstam-
mung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der
Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vor-
geschoben wird, gegen eine Person oder eine Personen-
gruppe befürwortet oder fördert oder dazu aufstachelt“.

Um nun den Anforderungen des Rahmenbeschlusses
und des Zusatzprotokolls zu genügen, ist eine Änderung
von § 130 StGB notwendig. § 130 StGB Abs. 1 Nr. 1 in
seiner heutigen Form bezeichnet denjenigen als strafbar,
„wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen
Frieden zu stören, zum Hass gegen Teile der Bevölkerung
aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen
gegen sie auffordert“.

Explizit werden in § 130 StGB „Teile der Bevölke-
rung“ erfasst, nicht aber Einzelpersonen, wie es sowohl
der Rahmenbeschluss als auch das Zusatzprotokoll aus-
drücklich verlangen, da hier nicht nur „Gruppen von
Personen“ sondern auch das einzelne „Mitglied einer
solchen Gruppe“ in den Kontext der Schutzbedürftigen
fallen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf Drucksache
17/3124 kommt die Bundesregierung dieser Pflicht nach
und schlägt unter anderen folgende Änderung des § 130
Abs. 1 Nr. 1 vor:

Strafbar ist, „wer in einer Weise, die geeignet ist, den
öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine nationale,
rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft
bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder
gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu
einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der
Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder
Willkürmaßnahmen auffordert“.

Mit diesen Änderungen sind die im Rahmenbeschluss
genannten Gruppen ausdrücklich aufgeführt, darüber
hinaus bleiben weiterhin Einzelpersonen und Gruppen
aller anderen „Teile der Bevölkerung“ durch § 130
StGB Abs. 1 Nr. 1 geschützt, das heißt also auch Ein-
zelne oder Gruppen, die aufgrund ihrer Homosexualität,
Behinderung oder ihres Alters angegriffen werden.

Womit wir beim Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angekommen sind, der eine Erweite-
rung der aufgezählten Gruppen um die Merkmale der
Sexualität, des Alters und der Behinderung vorsieht.
Dieser Antrag kurz vor Toresschluss und nach einer aus-
führlichen Debatte im Rechtsausschuss geht an den Not-
wendigkeiten vorbei, geht es doch in dem vorliegenden
Gesetzentwurf mitnichten darum, andere als die explizit
erwähnten Gruppen zu diskriminieren oder gar ihnen
den Schutz durch den § 130 StGB zu entziehen. Was ist
das für eine Idee! Die im Rahmenbeschluss genannten
Gruppen finden im neuen Gesetzestext lediglich eine
wörtliche Erwähnung, damit wir die EU-Vorgaben ein-
deutig umsetzen und einer Vereinheitlichung der straf-
Zu Protokoll
rechtlichen Vorschriften nicht mit möglichen Irritatio-
nen im Wege stehen, aber doch nicht, um andere
Bevölkerungsgruppen, die keine explizite Erwähnung
finden, gegenüber den explizit erwähnten schlechterzu-
stellen. Unser Ziel muss doch eine klare Umsetzung der
Zielvorgaben und der damit verbundene bessere Schutz
aller Bevölkerungsgruppen sein. Anstatt dieses Ziel zu
verfolgen, stimmen Sie eine allgemeine Antidiskriminie-
rungsdebatte an, die uns an dieser Stelle überhaupt nicht
weiterbringt und die vor allen Dingen an den Zielsetzun-
gen des Gesetzentwurfes rein gar nichts ändert. Zusätz-
lich sollten Sie sich ins Gedächtnis rufen, dass es hier im
Speziellen um den internationalen Kampf gegen Rassis-
mus und Fremdenfeindlichkeit geht.

Natürlich kann man über die Benutzung des Begriffes
„Rasse“ trefflich streiten und der Auffassung sein, er sei
generell problematisch und werfe grundsätzliche Fra-
gen auf. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob die jet-
zige Debatte der richtige Ort ist, sich mit diesen Fragen
zu befassen. Vielleicht würde aber schon ausreichend
helfen, die Gesetzesbegründung zum allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz durchlesen, in der es heißt,
dass nicht der Gesetzgeber die Existenz menschlicher
Rassen annimmt, sondern dass derjenige, der sich ras-
sistisch verhält, dies annimmt. Natürlich ist die Verwen-
dung des Begriffes nicht unproblematisch und wurde ja
auch bereits auf EU-Ebene vor allem vor dem Hinter-
grund der Antirassismusrichtlinie viel und intensiv dis-
kutiert. Auf EU-Ebene hat man sich für die Beibehaltung
der Begrifflichkeit entschieden, und auch auf nationaler
Ebene verwenden wir den Begriff im Grundgesetz. Eine
spannende Diskussion, die es sich an anderer Stelle si-
cher lohnt zu führen. An dieser Stelle aber und im Kon-
text des vorliegenden Gesetzentwurfes handelt es sich
um eine Diskussion ohne Not. Wir sollten daher jetzt un-
sere Entscheidung über die Gesetzentwürfe treffen und
sie so wie vorgelegt beschließen.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1708136400

Wir stimmen heute über den Entwurf eines Gesetzes

zum Zusatzprotokoll zu einem Übereinkommen des Eu-
roparates über mittels Computersysteme begangene
Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art
sowie über das entsprechende Gesetz zur Umsetzung des
Rahmenbeschlusses ab. Das Zusatzprotokoll intendiert
die internationale Angleichung des materiellen Straf-
rechts und die Verbesserung der Zusammenarbeit in dem
Bereich der Bekämpfung von Rassismus und Fremden-
feindlichkeit. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung werden Änderungen im Strafgesetzbuch vorgenom-
men, die der Umsetzung des Rahmenbeschlusses und des
Zusatzprotokolls dienen.

Im Wesentlichen entspricht das deutsche Strafrecht,
insbesondere der Straftatbestand der Volksverhetzung,
bereits den Vorgaben des Rahmenbeschlusses und des
Zusatzprotokolls. Doch während bisher § 130 Abs. 1
StGB nur „Teile der Bevölkerung“ unter Schutz stellte,
verlangt die Umsetzung, dass auch Einzelne bzw. Mit-
glieder von Gruppen gegen die Aufstachelung zu Hass
und Gewalt vom Schutzbereich der Norm umfasst wer-
den müssen. Dem wird nunmehr nachgekommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9087
gegebene Reden

Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

Im gleichen Zuge werden die im Rahmenbeschluss
genannten und die in der Praxis die wesentlichen
Anwendungsfälle bildenden Gruppen in Zukunft in
Abs. 1 der Vorschrift gegen Volksverhetzung explizit auf-
geführt. Danach macht sich in Zukunft strafbar, „wer in
einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu
stören, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder
durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen
Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen we-
gen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten
Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass
aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffor-
dert“.

Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt jeden Schritt
zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlich-
keit. Nicht nur als Rechtspolitiker, sondern auch als
Menschenrechtspolitiker und Mitglied der Parlamenta-
rischen Versammlung des Europarates begrüße auch ich
grundsätzlich die Intension der Gesetzentwürfe und die-
sen Schritt. Deshalb werden wir den Gesetzentwürfen
auch zustimmen.

Wir wollen uns auch nicht grundsätzlich den Vor-
schlägen des Änderungsantrags der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen verschließen, der noch einen Schritt
weiter geht und die Aufzählung um weitere Antidiskrimi-
nierungsmerkmale erweitert und explizit weitere Merk-
male von Gruppen, die Opfer der sogenannten hate
crimes werden und als besonders gefährdet gelten, auf-
nimmt – nämlich durch ihr Geschlecht, ihre Behinde-
rung, ihr Alter oder ihre sexuelle Identität bestimmte
Gruppen. Der Antrag wurde aber so spät gestellt, dass
er nicht mehr im Rechtsausschuss beraten werden
konnte und bereits nach der 1. Lesung abgestimmt wer-
den soll. Wir werden uns deshalb enthalten, ohne uns ei-
ner zukünftigen ausführlicheren Debatte zu dieser Frage
verschließen zu wollen.

Wenn ich sage, dass ich grundsätzlich inhaltlich mit
den Gesetzentwürfen und dem Änderungsantrag über-
einstimme oder nicht prinzipiell abgeneigt bin, so
möchte ich aber die Gelegenheit nicht versäumen, mein
Missfallen gegenüber der sprachlichen bzw. begriffli-
chen Umsetzungen der Diskriminierungstermini zum
Ausdruck zu bringen.

Es geht mir im Wesentlichen um den historisch extrem
belasteten Begriff der „Rasse“. Der Begriff „Rasse“
suggeriert außerdem, dass es unterschiedliche mensch-
liche Rassen gebe. Der Begriff ist heute wissenschaftlich
entkräftet. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den
Begriff „Rasse“ weiterhin zu verwenden – und es gibt
erst recht keinen politischen Grund. Zwar ist der Begriff
nicht neu und wird auch in Rechtsordnungen anderer
Länder angewendet. In Deutschland wird der Begriff zu-
dem in Wissenschaft und Rechtsprechung sehr reflektiert
benutzt. Trotzdem müssen Gerichte und Parlamente im-
mer wieder herausstellen, dass sie das Konzept der
„Rasse“ selbstverständlich ablehnen, auch wenn sie den
Terminus verwenden.

Die Verwendung der Begrifflichkeit in juristischen
und politischen Dokumenten, aber auch zunehmend im
gesellschaftlichen Bereich ist auf internationaler und
Zu Protokoll
europäischer Ebene umstritten. Schon mit dem Glauben
an die Existenz von „Rassen“ können Differenzierungen
und Hierarchiesierung von konstruierten Menschenbil-
dern entstehen und Vorurteile aufrechterhalten werden.

Die UNESCO hat sich schon 1995 in einer Erklärung
gegen den Rasse-Begriff gewendet. Von Bedeutung ist
auch eine Entschließung des Europäischen Parlaments
von 1997 anlässlich des Europäischen Jahres gegen
Rassismus. Das Europäische Parlament regt an, den Be-
griff in allen amtlichen Texten zu vermeiden, genauso
wie auch das Deutsche Institut für Menschenrechte emp-
fiehlt, den Begriff aus deutschen Rechtstexten zu entfer-
nen.

Die Politik hat diese Vorgaben und Empfehlungen
noch nicht aufgenommen. Der Vorschlag des Menschen-
rechtsinstituts basiert auf einer Tagung, an der auch
Vertreter des Bundesjustizministeriums und des Auswär-
tigen Amtes teilgenommen haben. Andere staatliche In-
stitutionen wie die Antidiskriminierungsstelle des Bun-
des verwenden den Begriff bereits bewusst nicht mehr.
Stattdessen ist von „rassistischer Diskriminierung“
oder von Benachteiligungen aus „rassistischen Grün-
den“ die Rede. Es ist bemerkenswert, dass bis heute in
Gesetzestexten, die eigentlich der Bekämpfung von Ras-
sismus dienen sollen, der Ausdruck „Rasse“ verwendet
wird. Rassismus lässt sich aber nicht glaubwürdig be-
kämpfen, solange der Begriff „Rasse“ weiter verwendet
wird.

Die Formulierung im Strafgesetzbuch, aber auch in
den anderen deutschen Gesetzen bis hin zur Verfassung
führen zu einem eklatanten Widerspruch. Nach der au-
genblicklichen Lage müssen Opfer im Falle rassisti-
scher Diskriminierung geltend machen, aufgrund ihrer
„Rasse“ diskriminiert worden zu sein. Sie müssen sich
gewissermaßen selbst einer vermeintlichen „Rasse“ zu-
ordnen und werden so gezwungen, selbst rassistische
Terminologie und Gedankengut verwenden zu müssen.
Eine Änderung dieser Sachlage wäre ein wichtiges Si-
gnal, um jeden Anschein einer Anerkennung von Ras-
senkonzeptionen entgegenzutreten.

Es ist unbestritten, dass nicht der bloße Begriff Poli-
tik und Gesellschaft schlecht macht. Es gibt Probleme,
die Staaten nicht alleine durch Sprachpolitik lösen wer-
den. Gesetzestexte tragen aber auch zur Bewusstseins-
bildung bei und sollten eine Vorbildfunktion haben.
Dass es auch anders geht, zeigen mehrere europäische
Länder wie Schweden, Finnland und Österreich, die be-
reits alternative Begrifflichkeiten nutzen.

Nun ist es so, dass der jetzige Gesetzentwurf bereits
sprachliche Modernisierungen an anderer Stelle vor-
sieht. So wird das bisher in § 130 Abs. 2 Nr. 1 StGB ver-
wendete Tatbestandsmerkmal „durch ihr Volkstum be-
stimmte Gruppe“ durch die Formulierung „durch ihre
ethnische Herkunft bestimmte Gruppe“ ersetzt. Der
sachliche Gehalt der Vorschrift wird dadurch nicht ge-
ändert. Durch das Merkmal der ethnischen Herkunft
werden außerdem die im Rahmenbeschluss verwendeten
Begriffe „Hautfarbe“ und „Abstammung“ erfasst. Im
Zuge dessen hätte man nun auch den Begriff „Rasse“
ersetzen können. Eine bloße Streichung des Begriffs
9088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

„Rasse“ wäre allerdings nicht ausreichend und wirk-
sam, weil damit der Schutzbereich verengt würde. Zu-
dem ist es zur Bekämpfung von Rassismus gerade not-
wendig, dass die Verfassung sich klar und explizit davon
distanziert.

Die Fraktion Die Linke legt einen Antrag vor, in dem
sie den Begriff aus dem Grundgesetz und anderen Geset-
zestexten streichen will und die Formulierung „ethni-
sche, soziale und territoriale Herkunft“ verwendet.
Würde man den Begriff „Rasse“ aber durch Begrifflich-
keiten mit Bezug zu Ethnizität ersetzen, stellt sich die
Frage, ob der Schutzbereich der Norm dadurch nicht
eingeschränkt würde.

Zu überdenken ist – so wie es das Deutsche Institut
für Menschenrechte vorschlägt –, grundsätzlich von
„rassistischer Diskriminierung“ und nicht von „Diskri-
minierung aus Gründen der Rasse“ zu sprechen. Es gilt
in jedem Fall eine Regelung zu finden, die den sachli-
chen Gehalt von Vorschriften nicht einengt. Doch diese
Frage müssen wir heute weder juristisch, noch politisch
beantworten. CDU/CSU und FDP haben unseren
Wunsch abgelehnt, für eine Klarstellung im Gesetz zu
sorgen, zumindest den Begriff der „Rasse“ in weiteren
Beratungen kritisch zu hinterfragen und nach Alternati-
ven zu suchen. Sie werden sich also in Zukunft die Frage
gefallen lassen müssen, wie sie zu diesem Begriff stehen.
Für uns ist dieses Thema damit noch nicht erledigt und
wird auch in Zukunft auf der Tagesordnung stehen.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1708136500

Der Europarat hat im Jahre 2003 ein Zusatzprotokoll

beschlossen, mit dem das Übereinkommen von 2001 ge-
gen mittels Computersystemen begangener Handlungen
rassistischer und fremdenfeindlicher Art ergänzt wurde.
Dieses Zusatzprotokoll muss von Deutschland noch rati-
fiziert werden, wofür mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf die nach dem Grundgesetz notwendigen Vorausset-
zungen geschaffen werden.

Der gleichzeitig vorgelegte Entwurf eines Gesetzes
zur Umsetzung des entsprechenden Rahmenbeschlusses
des Rates aus 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung be-
stimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit regelt die innerstaatliche Um-
setzung des Zusatzprotokolls.

Die europäischen Vorgaben sollen durch eine Ände-
rung von § 130 des Strafgesetzbuchs umgesetzt werden.
Im deutschen Recht entspricht diese Norm den europäi-
schen Vorgaben bereits weitgehend. Es macht sich da-
nach strafbar, wer – in einer Weise, die geeignet ist, den
öffentlichen Frieden zu stören – zum Hass gegen Teile
der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Will-
kürmaßnahmen gegen sie auffordert.

Jedoch erfasst die Norm gegen Volksverhetzung in
seiner bisherigen Fassung lediglich „Teile der Bevölke-
rung“ und keine Einzelpersonen. Demgegenüber ver-
langen sowohl der Rahmenbeschluss als auch das Zu-
satzprotokoll, dass die entsprechenden Strafvorschriften
nicht nur die Aufstachelung zu Hass und Gewalt gegen
Zu Protokoll
bestimmte Gruppen, sondern auch gegen einzelne Mit-
glieder der Gruppen erfassen.

Zur Umsetzung der Vorgaben von Rahmenbeschluss
und Zusatzprotokoll ist es daher erforderlich, dass in
§ 130 StGB zukünftig neben Bevölkerungsteilen auch
Gruppen und Einzelpersonen gesondert aufgeführt wer-
den. Damit wird auch dem Umstand Rechnung getragen,
dass Hetze gegen Gruppen einen wesentlichen Anwen-
dungsfall in der Praxis bildet.

Den übrigen Vorgaben des Rahmenbeschlusses und
des Zusatzprotokolls genügt das geltende Recht bereits
heute.

Die Grünen wollen dazu mit ihrem kurz vor Abschluss
des Gesetzgebungsverfahrens noch eingebrachten Ände-
rungsantrag explizit zusätzlich die Merkmale „Ge-
schlecht, soziale Herkunft, Weltanschauung, Behinde-
rung, Alter, sexuelle Identität“ in den Tatbestand der
Norm aufnehmen.

Diese weitere Aufzählung verlängert den Volksverhet-
zungsparagrafen jedoch unnötig, denn alle Träger sol-
cher Merkmale sind bereits als Teile der Bevölkerung
oder zumindest als Einzelne ohne weiteres vom Schutz-
bereich der Norm erfasst.

Wenn der Grünen-Antrag auf die sogenannten Hate
Crimes abzielt, also auf von Hass und abwertender Ge-
sinnung motivierte Taten, so verkennt er, dass diese und
fremdenfeindliche Beweggründe eines Täters bereits
nach geltendem Recht als erschwerender Umstand ge-
wertet und bei Festlegung des Strafmaßes durch die Ge-
richte berücksichtigt werden können.

Von daher besteht kein Umsetzungsbedarf, da Beweg-
gründe und Ziele des Täters sowie die Gesinnung, die
aus seiner Tat spricht, bei der Strafzumessung nach § 46
StGB vom Gericht abzuwägen sind und auch regelmäßig
zu einer Strafschärfung führen. Darüber hinaus erfüllt
bei Hasstaten eine derartige Motivation auch regelmä-
ßig das Mordmerkmal eines niederen Beweggrundes.

Abgesehen von diesen inhaltlichen Ablehnungsgrün-
den zu ihrem Antrag müssen sich die Grünen vorhalten
lassen, dass sie mit einer Änderung in letzter Minute
nicht zu einem geordneten parlamentarischen Verfahren
beitragen. In diesem Zusammenhang darf ich auf die
mittlerweile abgelaufene Umsetzungsfrist zu den euro-
päischen Vorgaben von Ende November diesen Jahres
hinweisen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch kurz auf
einen Vorschlag eingehen, der in der Beratung der Ent-
würfe im Rechtsausschuss erhoben wurde. Die Sozial-
demokraten regten dort an, den Begriff der Rasse bei der
Umsetzung der europäischen Rechtsakte zu vermeiden,
weil dieser Begriff selber schon diskriminierend sei. Die
Frage, ob dies zutrifft, ist grundsätzlicher Natur und
kann nicht im Rahmen der Umsetzung geklärt werden.
Dass weder Zusatzprotokoll noch Rahmenbeschluss ge-
eignete Anknüpfungspunkte für diese begriffliche Dis-
kussion sind, zeigt zunächst der Rahmenbeschluss
selbst, der ebenso die Begriffe Rasse und rassische Ver-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9089
gegebene Reden

Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)

folgung enthält. Der Begriff findet sich im Übrigen auch
in Art. 3 Abs. 3 im Grundgesetz wieder.

Darüberhinaus muss in Ruhe geklärt werden, ob mit
der Vermeidung eines Begriffes tatsächlich das in Zu-
sammenhang mit ihm begangene Unrecht vermieden
werden kann. Wegen des bereits erwähnten zeitlichen
Umsetzungsdruckes konnte diese Debatte in diesem Ver-
fahren jedenfalls nicht mehr geführt werden.

Den Regierungsentwürfen in der ursprünglichen Fas-
sung wird meine Fraktion daher zustimmen.


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708136600

Beraten werden erstens der Entwurf eines Gesetzes

zu dem Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Über-
einkommen des Europarats vom 23. November 2001
über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisie-
rung mittels Computersystemen begangener Handlun-
gen rassistischer und fremdenfeindlicher Art und zwei-
tens der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des
Rahmenbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. No-
vember 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimm-
ter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des Zusatzpro-
tokolls vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des
Europarats vom 23. November 2001 über Computerkri-
minalität betreffend die Kriminalisierung mittels Com-
putersystemen begangener Handlungen rassistischer
und fremdenfeindlicher Art (Transformationsgesetz).

Bei ersterem handelt sich um ein Vertragsgesetz nach
Art. 59 Abs. 2 GG, mit dem die Ratifikation des im Titel
benannten Zusatzprotokolls erfolgen soll. Das Zusatz-
protokoll wurde bereits am 28. Januar 2003 von Deutsch-
land gezeichnet. Die Ratifikation des Übereinkommens
selbst ist bereits am 9. März 2009 erfolgt, daher kann
nun das Zusatzprotokoll ratifiziert werden. Das Proto-
koll wurde ausweislich der Angaben beim Europarat von
mehr als fünf Staaten ratifiziert, sodass es grundsätzlich,
Art. 10 des Zusatzprotokolls, in Kraft getreten ist; für
Deutschland, das bisher noch nicht ratifiziert hat, tritt es
natürlich erst mit Ratifikation in Kraft.

Im Zusatzprotokoll selbst geht es um besondere Rege-
lungen im Kampf gegen fremdenfeindliche und rassisti-
sche Handlungen und Propaganda, die durch das Fort-
schreiten und die Möglichkeiten der Computertechnik
begünstigt werden. Das Zusatzprotokoll hebt die beson-
dere Bedeutung der Meinungsfreiheit und die positiven
Effekte der Nutzung von Computersystemen dafür her-
vor. Als Kehrseite wird jedoch die Vereinfachung der
rassistischen und fremdenfeindlichen Propaganda da-
durch erkannt. Diese sei eine Verletzung der Menschen-
rechte vor dem Hintergrund, dass alle Menschen frei
und an Würde und Rechten gleich geboren sind, und eine
Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat. Ausgehend
davon, dass derartige Handlungen in den Vertragsstaa-
ten überwiegend kriminalisiert sind, strebt das Protokoll
eine Harmonisierung an, die im Gleichgewicht zwischen
Meinungsäußerung und wirksamer Bekämpfung derarti-
ger Handlungen stehen muss, ohne die Grundsätze des
innerstaatlichen Rechts auf Meinungsäußerung beein-
trächtigen zu wollen. Dazu sieht das Protokoll in den
Zu Protokoll
konkreten Bestimmungen einige Öffnungsklauseln vor,
die erheblichen Spielraum für die Umsetzung im natio-
nalen Recht lassen.

Grundsätzlich gefordert wird jedoch von den Mit-
gliedstaaten, entsprechende Handlungen unter Strafe zu
stellen, wenn andere geeignete Mittel nicht zur Verfü-
gung stehen.

Die Öffnungsklauseln sind teilweise so weit gefasst,
dass von der angestrebten Harmonisierung wenig übrig
bleiben wird; allerdings ist dies aus nationaler Sicht
vorteilhaft, da dem deutschen Gesetzgeber ein erhebli-
cher Spielraum verbleibt, um die angestrebten Ziele zu
erreichen.

Auch wenn das Protokoll eine Einschränkung des ge-
schützten Personenkreises nach „Zugehörigkeit zu einer
Gruppe, die durch die Rasse, die Hautfarbe, die Abstam-
mung, die nationale oder ethnische Herkunft oder die
Religion“ – letzteres Merkmal nur, soweit es vorgescho-
ben ist, um Motive der ersten Kriterien zu verdecken –
vornimmt und Diskriminierungen nach Geschlecht, se-
xueller Identität und sozialer Herkunft nicht erfasst, ste-
hen einer Zustimmung zur Ratifikation keine Bedenken
entgegen. Diese Gruppen können im Transformations-
gesetz, vergleiche Bundestagsdrucksache 17/3124, über
den Wortlaut des Protokolls hinaus freiwillig erfasst
werden.

Beim zweiten Gesetzentwurf handelt es sich um das
oben bereits erwähnte Transformationsgesetz. Die Vor-
gaben des Protokolls werden im Rahmen des § 130
Strafgesetzbuch aufgenommen.

Der Strafrahmen selbst wird nicht geändert. Abs. 1,
Störung, des öffentlichen Friedens, wird konkretisiert im
Hinblick auf die Merkmale des Protokolls: nationale,
rassische, religiöse, ethnische Herkunft, erfasst nun
auch derartige Handlungen gegen Einzelne, aber nur
aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen.
Abs. 2 Nr. 1, Verbreitung von Schriften mit diesem In-
halt, wird nur leicht konkretisiert, da dieser Absatz be-
reits entsprechende Merkmale vorgesehen hat.

Die Umsetzung des Zusatzprotokolls hat begrüßens-
werterweise nicht zu gesetzgeberischem Aktionismus
geführt; vielmehr wird nur geändert, was zwingenden
Vorgaben des Protokolls entspricht. Im Übrigen wird
deutlich ausgeführt, in welchen Bereichen im deutschen
Recht bereits der Schutz gewährleistet ist. Im Kern ein-
zige Änderung des materiellen Strafrechts ist die Auf-
nahme des Schutzes von Einzelpersonen in § 130 StGB,
der vom Zusatzprotokoll zwingend vorgeben ist; jedoch
nur im Hinblick auf dessen/deren Zugehörigkeit zu einer
Gruppe, was letztlich bereits Rechtsprechung ist.

Bedauerlicherweise übernimmt der Gesetzentwurf
nicht die Einschränkungen des Protokolls im Hinblick
auf die Religion. Laut Protokoll soll dies nur dann erfor-
derlich sein, wenn die Religion lediglich vorgeschobe-
nes Kriterium ist, um gegen Personen oder Gruppen
aufgrund ihrer Herkunft zu hetzen. Die Neuformulierung
erfasst Religion als eigenständiges Merkmal.
9090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9091

Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

Darüber hinaus wäre es begrüßenswert gewesen, die
Diskriminierungskriterien, die letztlich im deutschen
Recht „nur“ klarstellende Funktion haben, um Merk-
male wie Geschlecht, sexuelle Identität und soziale Her-
kunft zu ergänzen. Nach weiter geltender Rechtslage
– „Teile der Bevölkerung“ – werden diese zwar erfasst;
wenn man sich jedoch um Klarstellung bemüht, sollte
diese umfassend sein. Es könnte sonst der Eindruck ent-
stehen, dass die Hetze gegen Gruppen der Bevölkerung,
die zum Beispiel durch die sexuelle Identität gekenn-
zeichnet sind, weniger gravierend ist in den Augen des
Gesetzgebers.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708136700

Wir setzen heute zwei europäische Vorgaben in unser

nationales Strafrecht um. Es geht um die Bekämpfung
von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ein wichtiges
und richtiges Anliegen, für das sich die Grünen schon
seit Jahren einsetzen. Allerdings liegen die Defizite in
Deutschland nicht im materiellen Recht. Unser Straf-
recht bietet jetzt schon alle Möglichkeiten, Straftaten
aus rassistischer oder fremdenfeindlicher Motivation
oder Gesinnung zu verfolgen und zu bestrafen. Die Än-
derungen, über die wir heute beschließen, haben im We-
sentlichen klarstellenden Charakter.

Die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeind-
lichkeit auf rechtlicher Ebene ist jedoch nur eine Seite.
Die Defizite bestehen bei uns unverändert in der Umset-
zung, im praktischen Bereich. Polizistinnen und Polizis-
ten sind allzu oft nicht ausreichend geschult, um die
rassistische, fremdenfeindliche oder Minderheiten be-
drohende Zielrichtung oder dahin gehende Beweg-
gründe einer Straftat schon zu Beginn einer Ermittlung
zu erkennen. In der Folge werden dann entsprechende
Beweise nicht gesichert, ohne die die Beweisführung ei-
ner rassistischen, fremdenfeindlichen oder minderhei-
tenfeindlichen Volksverhetzung nicht mehr möglich ist.
In Einzelfällen werden solche Elemente komplett über-
sehen, obwohl sie eigentlich ins Auge springen müssten.

Insofern sind die nun aufgrund des Rahmenbeschlus-
ses und des Zusatzprotokolls vorgenommenen Änderun-
gen sinnvolle, gute und notwendige Klarstellungen und
Ergänzungen.

Das ist zuerst die Ergänzung, dass die Aufstachelung
zu Hass und Gewalt nicht nur gegen Teile der Bevölke-
rung, sondern auch gegen einen Einzelnen als Teil einer
Gruppe unter Strafe gestellt wird. Bisher war dies schon
nach der Rechtsprechung des BGH anerkannt, aber
nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt.

Zum anderen wird das Merkmal „Teile der Bevölke-
rung“ beispielhaft konkretisiert. Die Koalition schlägt
die ausdrückliche Aufnahme der Merkmale „nationale,
rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft
bestimmte Gruppe“ in den Gesetzestext vor. Diese Auf-
zählung, die laut Begründung der Koalition „einen we-
sentlichen Anwendungsfall des § 130 StGB in der Praxis
bildet“, greift allerdings zu kurz und kann nur zu Miss-
verständnissen führen. Warum werden religiöse Grup-
pen hervorgehoben, weltanschauliche Gruppen aber
nicht? Warum fehlt die Benennung der Behinderten, wa-
rum fehlen das Geschlecht oder die sexuelle Identität als
Gruppenmerkmal?

Wir haben daher einen Änderungsantrag einge-
bracht, der einen horizontalen Ansatz verfolgt und alle

(dort: Art. 19 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union)

führten Diskriminierungsmerkmale umfasst. Dazu gehö-
ren neben den im Gesetzentwurf genannten auch das
Geschlecht, die Weltanschauung, die Behinderung, das
Alter und die sexuelle Identität. Damit sind die beson-
ders gefährdeten Gruppen explizit genannt, und keine
Gruppe wird der anderen vorgezogen.

Auch dies ist allerdings nicht als abschließende Auf-
zählung zu verstehen, sondern nur als Konkretisierung
der am meisten gefährdeten Gruppen, auf die sich die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union verständigt
haben. Jede sonstige abgrenzbare Gruppe der Bevölke-
rung sowie der Einzelne, der dieser Gruppe gehört, wird
durch § 130 StGB selbstverständlich weiterhin ge-
schützt.

Insgesamt begrüßen wir die Gesetzesentwürfe als
weitere Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit, die zu einer erhöhten Sensibi-
lisierung nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der
Strafverfolgungsbehörden und Gerichte führen werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708136800

Wir kommen zur Abstimmung.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4123, den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Zusatzproto-
koll auf Drucksache 17/3123 anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.

Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4123, den
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses und
des Zusatzprotokolls auf Drucksache 17/3124 anzuneh-
men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4226 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Lin-
ken und der Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen und der Grünen bei Enthaltung der
SPD und der Linken angenommen.

9092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Ralph
Lenkert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Ungefährliche und klimaschonende Kältemit-
tel in Kfz-Klimaanlagen verwenden

– Drucksachen 17/3432, 17/4070 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Hirte
Frank Schwabe
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Proto-
koll gegeben: Christian Hirte, Frank Schwabe, Lutz
Knopek, Karin Binder und Valerie Wilms.


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1708136900

Ich habe mit großem Interesse die Pressemitteilung

des Kollegen Lenkert vom 27. November gelesen; aller-
dings konnte ich mir dabei ein Kopfschütteln nicht ver-
kneifen. Der Vorwurf der Linken, dass die Koalitions-
fraktionen Klientelpolitik betreiben, ist nicht neu und
wird mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit immer
wieder aufgewärmt. Natürlich, Herr Lenkert, betreiben
wir Klientelpolitik. Nur besteht der Unterschied darin,
dass wir eine Politik betreiben, die die Bürgerinnen und
Bürger in den Vordergrund stellt. Klientelpolitik betrei-
ben die Linken übrigens auch sehr eifrig, aber im Mittel-
punkt steht dort beispielsweise die Forderung, die Ren-
tenansprüche ehemaliger Stasi-Angehöriger nach oben
zu korrigieren. Insofern denke ich, dass die Linke mit
dem Wort Klientelpolitik und anderen Plattitüden etwas
vorsichtiger umgehen sollte.

Es entspricht auch überhaupt nicht der Tatsache,
dass meine Partei die Verletzung von Bürgern durch die
Wahl eines von Ihnen verteufelten Kältemittels einfach
in Kauf nimmt. Falls das Kältemittel Tetrafluorpropen
– R1234yf – tatsächlich, das von Ihnen beschriebene
Risikopotenzial darstellen sollte, so wären die Tage von
R1234yf wohl gezählt. Ich habe allerdings viel mehr den
Eindruck gewonnen, dass es der Fraktion Die Linke nur
darum geht, sich irgendein Thema zu suchen, mit dem
Sie der Regierungskoalition an die Karre fahren kann.
Ich glaube, wir haben, angesichts der Weltklimakrise,
wohl andere Sorgen, als uns um das Prahl- und Balzver-
halten der Linken zu kümmern.
Der Weltklimagipfel ist kürzlich zu Ende gegangen.
Erstmals wird das Ziel, die Erderwärmung auf 2 Grad zu
begrenzen, verbindlich bestätigt. Das ist nicht nur ein
Verdienst der mexikanischen Gastgeber, sondern auch
das Ergebnis des deutschen Verhandlungsgeschicks in
den Arbeitsgruppen. Dabei ist allen Teilnehmern deut-
lich geworden, dass es vieler Einzelmaßnahmen bedarf
um das 2-Grad-Ziel einzuhalten oder sogar zu unterbie-
ten. Der Klimawandel ist die globale Herausforderung
für die Staatengemeinschaft. National wie international
müssen wir heute Entscheidungen treffen, damit künftige
Generationen nicht nur ausreichend mit Energie und
Ressourcen versorgt werden, sondern ihnen ihrerseits
die Spielräume zur gesellschaftlichen und wirtschaftli-
chen Gestaltung erhalten bleiben. Dazu gehört auch,
dass wir auf umweltschädliche Kühlmittel in unseren
Autoklimaanlagen verzichten. Kohlenwasserstoffe, wie
HFKW und FKW, das gegenwärtig noch in den Auto-
klimaanlagen verwendet wird, schädigen das Klima
1 300 bis 24 000 mal stärker als CO2. Daher werden in
der Europäischen Union mit der EU-Richtlinie 2006/40/EG
ab 2011 nur noch solche Kältemittel in Kfz-Klimaanla-
gen zugelassen, die maximal 150 mal so klimaschädlich
sind wie Kohlendioxid. Das ist schon eine beachtliche
Zahl. Zum Verständnis: Ein Kilogramm des bisherigen
in Autoklimaanlagen verwendeten Kältemittels Tetra-
fluorethan – R134a – ist 1 300 mal so umweltbelastend.

Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass die deutsche
Autoindustrie an Kohlendioxid als Kältemittel festhält,
während sich die gesamte übrige Welt bereits anders
entschieden hat. Warum haben sich die führenden Auto-
mobilhersteller in dieser Welt für Tetrafluorpropen ent-
schieden? Es liegt sicher nicht im Interesse der Automo-
bilbauer, ein möglichst gefährliches Kühlmittel zu
verwenden. Es liegt vielmehr daran, dass R1234yf wie
kein anderes Kältemittel allen Ansprüchen genügt. Als
nahezu 1:1-Ersatz für das heutige Kältemittel R134a ist
ein Umstieg auf R1234yf für Automobilhersteller schnell
und problemlos möglich. Mit einem Global Warming
Potential, GWP, von 4 liegt das Kältemittel weit unter
dem EU-Richtwert von 150. Die Verweildauer von
R1234yf in der Atmospähre beträgt nur 11 Tage, im Ge-
gensatz zu 13 Jahren bei R134a und mehr als 500 Jahren
bei Kohlendioxid. Unter Klimagesichtspunkten ist eine
derartige Kurzlebigkeit in der Luft ein nicht unerhebli-
cher Faktor. Zudem verbrauchen Fahrzeuge mit dem äu-
ßerst energieeffizienten Kältemittel R1234yf weniger
Kraftstoff und erzeugen damit weniger verbrennungsbe-
dingte Emissionen als Fahrzeuge, in denen weniger effi-
ziente Alternativen zum Einsatz kommen. Der Energie-
bedarf der Klimaanlage ist bei tiefer Geschwindigkeit
höher und steigt mit der Außentemperatur. Bei einer Au-
ßentemperatur von 37 Grad etwa entfallen im Stadtver-
kehr rund 28 Prozent des Treibstoffverbrauchs auf die
Klimaanlage. Bei 23 Grad sind es circa 14 Prozent. Im
Durchschnitt und über ein ganzes Jahr hinweg ver-
braucht eine Klimaanlage innerorts mehr als fünf Pro-
zent des gesamten Treibstoffs.

Auch bei Nachrüstung oder Reparatur von Altanla-
gen kann Tetrafluorpropen angewandt werden. Ebenso
unbestritten ist, dass gerade in den heißeren Regionen

Christian Hirte


(A) (C)



(D)(B)

dieser Welt Kohlendioxid eine wesentlich schlechtere
Kühlfähigkeit hat als Tetrafluorpropen. Das sind für
mich stimmige Argumente, die für den Einsatz von
R1234yf sprechen: großer Einsatzbereich, einfache
Handhabung und geringes Treibhauspotenzial.

Der Antrag der Linken geht aber auch aus wirtschaft-
lichen Gründen an der Sache vorbei. Würde man, wie
Die Linke es fordert, die deutsche Autoindustrie zu ei-
nem nationalen Alleingang verpflichten, hätte dies er-
hebliche Nachteile für die deutschen Autobauer zur
Folge. Kohlendioxid mag als Kältemittel zwar sehr um-
weltfreundlich sein, es benötigt aber einen zehnfach hö-
heren Druck. Damit müssten die deutschen Fabrikate
mit der aufwändigeren und kostenintensiveren CO2-
Technik ausgerüstet werden. Dies würde nicht nur zu er-
heblichen Entwicklungs- und Fertigungskosten bei den
Zuliefereren führen, sondern auch zu höheren Verkaufs-
preisen bei den Modellen der nächsten Generation. Sin-
kende Absatzzahlen und damit der Abbau von Arbeits-
plätzen wären die unvermeidliche Folge. Auch wären
die Kfz-Werkstätten nicht in der Lage, sich ohne erhebli-
che Kosten auf ein duales System mit CO2 für deutsche
Fabrikate und Tetrafluorpropen für ausländische Mar-
ken einzustellen. Die Kosten dafür hätte dann der End-
kunde zu tragen. Auch aus diesem Grund halte ich einen
nationalen Alleingang mit CO2 für sehr problematisch.

Noch etwas zur Frage der Sicherheit von Tetrafluor-
propen. Ich finde es in hohem Maße unseriös, wenn die
Linke den Bürgern suggerieren will, dass mit Tetra-
fluopropen der Tod Einzug in die Klimaanlage hält. Es
ist korrekt, dass Honeywell in seinem Produktdatenblatt
auf die stofflichen Eigenschaften seines Kühlmittels und
auf Sicherheitsmaßnahmen hinweist. Das ist nicht nur
geboten, sondern auch gesetzlich vorgeschrieben. Es ist
richtig, dass beim Brand von Tetrafluorpropen Fluss-
säure entsteht, aber das ist auch bei R134a so, und auch
andere Fahrzeugbauteile entwickeln bei Bränden giftige
Stoffe. Wenn ein Auto in Brand gerät, ist davon meist
nicht nur die Klimaanlage betroffen. Der Anteil an
Kunststoffen im Auto steigt. Denn dies bedeutet nicht
nur Gewichtsreduzierung und damit Kraftstoffeinspa-
rung, sondern häufig auch geringere Produktionskosten
im Vergleich zu Metallen. Seit den Zeiten Henry Fords
ist der Anteil an Kunststoffen im Fahrzeug beständig ge-
wachsen und macht heute etwa 17 Prozent des Gesamt-
fahrzeuges aus. Da ist es sehr wahrscheinlich, dass bei
einem Brand auch Plastikteile in Brand geraten. Auch
diese setzen giftige Gase und Säuren frei, ohne dass die
Linke jemals auf die Idee gekommen wäre, das Auto
gleich ganz zu verbieten.

Nur ein Beispiel: Hart-PVC und Polyvinylidenchlo-
rid, PVDC, brennen in der Zündflamme, verlöschen aber
außerhalb sofort. Weich-PVC dagegen kann, je nach Art

(insbesondere Weichmacher und Flammschutzmittel)

flamme weiterbrennen. Dabei entsteht neben Kohlen-
monoxid auch Chlorwasserstoff oder anders ausge-
drückt Salzsäure. Daneben entstehen beim Brand auch
Chlorkohlenwasserstoffe (insbesondere Vinylchlorid),
andere aliphatische und aromatische Kohlenwasser-

(zum Beispiel Methan, Propylen, n-Butan, Buten, Zu Protokoll Benzol, Toluol, Xylol)

hyd, Acetaldehyd, Benzaldehyd, Salicylaldehyd, Aceton
etc.), Phosgen sowie chlorierte Dibenzodioxine und
Dibenzofurane. Phosgen wurde übrigens im 1. Weltkrieg
als chemischer Kampfstoff eingesetzt.

Sofern man der Linken unterstellt, sie verteufele Te-
trafluorpropen nur aus Gründen des Verbraucherschut-
zes, so hätte sie folgerichtig auch ein Verbot des Einsat-
zes von Kunststoffen im Fahrzeugbau fordern müssen.
Dies wäre zumindest konsequent gewesen. Die Wahrheit
ist doch, dass Tetrafluorpropen vergleichbar sicher im
Einsatz ist wie das bisherige R134a; aber immer wieder
werden die Erkenntnisse der vom Umweltbundesamt be-
auftragten Bundesanstalt für Materialprüfung zitiert
und gegen die Automobilindustrie eingesetzt. Die Versu-
che der BAM zeigen aus Sicht der Automobilindustrie
jedenfalls keine unerwarteten Ergebnisse, sind mit dem
Kenntnisstand der SAE-Untersuchung vereinbar und er-
klärbar. Die BAM hat eindeutig klargestellt, dass diese
Untersuchungen unter „Laborbedingungen“ erfolgt
sind und keinen realen Fahrzeugtests entsprechen; das
heißt, die Tests sind nicht praxisrelevant.

Es ist auch festzuhalten, dass bei Zündquellen, wie
zum Beispiel bei einer Streichholzflamme oder einem
elektrischen Lichtbogen, die messbare HF-Bildung bei
den BAM-Tests unter den Grenzwerten blieb. Die BAM
fasst im Fazit zusammen: „Im Falle einer R1234yf-An-
wendung im Fahrzeug ist eine sorgfältige, vorausschau-
ende Gefahrenanalyse notwendig. Es sind Maßnahmen
zu ergreifen, um sicherzustellen, dass verbleibende Ge-
fährdungen gemäß Stand der Technik ethisch und recht-
mäßig vertretbar sind.“

Die Automobilindustrie hatte diese Hinweise bereits
im Vorfeld aufgegriffen und umgesetzt. Die Vorgehens-
weise und die Richtigkeit der erzielten Ergebnisse der
ausgeführten Risikoanalyse der deutschen Fahrzeugher-
steller – die diese zusätzlich zu den Tests anderer Fahr-
zeughersteller durchführten – wurden durch ein Gutach-
ten des TÜV-Süd bestätigt. Daher sieht meine Fraktion
keinerlei Argumente, die für ein Verbot von Tetrafluor-
propen sprechen. Die Linke sollte zum wichtigen Thema
Verbraucherschutz sachdienlichere Beiträge leisten, als
es bei diesem Antrag der Fall war.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1708137000

Nachdem wir in der Aktuellen Stunde die Ergebnisse

der Klimakonferenz in Cancún debattiert haben, geht es
auch bei diesem Antrag um den Klimaschutz. Allerdings
um ein Thema, das nicht prominent im Licht der Öffent-
lichkeit steht, jedoch nicht minder wichtig ist.

Es geht um die Chemikalien, mit denen die Klima-
anlagen in den Autos für eine angenehme Temperatur
sorgen. Klimaanlagen gehören heute zur Standardaus-
rüstung von fabrikneuen Pkws. Kaum jemand möchte
mehr auf gut gekühlte Auto-, Bus- oder Bahnfahrten ver-
zichten. Jedoch entweicht aus den Fahrzeugen perma-
nent etwas Kältemittel in die Umwelt und schädigt die
Atmosphäre. Der Rat der Klimawissenschaftler, IPCC,
der die Vereinten Nationen berät, schätzt, dass weltweit
nicht nur die Anzahl der Fahrzeuge signifikant steigen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9093
gegebene Reden

Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

wird, sondern vor allem die Anzahl der Fahrzeuge, die
mit einer Klimaanlage ausgestattet sind. Nach Berech-
nungen des IPCC werden allein im Jahr 2015 schädli-
che Kältemittel im Umfang von mindestens 270 Millio-
nen Tonnen CO2-Äquivalenten aus Klimaanlagen in die
Atmosphäre gelangen und den Klimawandel verstärken.
Es besteht somit dringender Handlungsbedarf, diese
Thematik anzugehen. Das bisher durchgängig verwen-
dete Tetrafluorethan – R134a – ist 1400-mal schädlicher
als CO2 und daher ab Anfang 2011 nicht mehr zulässig.
Doch durch welches Kältemittel soll R134a ersetzt wer-
den?

Die Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung
in ihrem Antrag auf, über die Vorgaben der EU-Richtli-
nie 2006/40/EG, die Emissionen aus Klimaanlagen in
Kraftfahrzeugen regelt, hinauszugehen. So soll die Bun-
desregierung sicherstellen, dass Kältemittel in Kfz-Kli-
maanlagen bei Neuwagen ab dem 1. August 2011 keine
Stoffe enthalten, die in ihrer ursprünglichen Zusammen-
setzung oder infolge von Reaktionen die menschliche
Gesundheit gefährden, das heißt brennbar, toxisch oder
ätzend sind. Die eingesetzten Chemikalien sollen laut
Antrag chemisch reaktionsträge sein und ein Global-
Warming-Potenzial von unter 150 aufweisen. Darüber
hinaus fordern die Linken, dass die eingesetzten Chemi-
kalien keine nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt-
medien Wasser, Boden und Luft haben.

Wir begrüßen, dass mit diesem Antrag die Debatte
über klimaschädliche Kältemittel hier im Parlament an-
gestoßen wurde. Es ist in der Tat nicht einzusehen, wa-
rum es das Kältemittel R1234yf in Deutschland geben
soll, wenn auch Kohlendioxid als Kältemittel eingesetzt
werden könnte. Die Risiken sind deutlich geringer.
„Chemie statt sauberer Kältetechnik“ – mit dieser
Überschrift brachte es die „Auto Bild“ am 10. Juni 2010
gut auf den Punkt, als bekannt wurde, dass 1234yf ver-
wendet werden soll. Als Alternative für R134a war ei-
gentlich die Kühlung durch CO2 angedacht. Auch der
VDA verkündete 2007, dass die deutsche Autoindustrie
in Zukunft auf CO2 setzen würde. CO2 ist billig, ungiftig
und nicht brennbar. Der Nachteil der serienreifen CO2-
Technik ist, dass für die Übergangszeit die Werkstätten
verschiedene Anlagensysteme warten müssten.

Doch auch 1234yf hat Nachteile. Das Umweltbundes-
amt, UBA, hat die Bundesanstalt für Materialforschung
und -prüfung, BAM, im Oktober 2009 beauftragt, Mes-
sungen zum Brandverhalten des Kältemittels 1234yf im
Vergleich mit dem bisher eingesetzten Kältemittel R134a
durchzuführen. Dabei wurden die Versuche so ausge-
wählt, dass sie der Anwendung dieses Stoffes in Pkw-
Klimaanlagen möglichst nahe kommen. In ihrem Ab-
schlussbericht verweist die BAM darauf, dass im Falle
eines Einsatzes von 1234yf eine umfassende Gefahren-
analyse erforderlich ist und viele Maßnahmen zur Vor-
sorge getroffen werden müssen, zum Beispiel konse-
quente Abschirmung heißer Oberfläche im Motorraum,
Einbau eines automatischen Löschsystems im Motor-
raum, Maßnahmen, die eine Einleitung von Fluor-
wasserstoff in den Passagierraum im Gefahrenfall
unmöglich machen, Maßnahmen zur Vermeidung der
Funkenbildung auch im Falle eines Unfalls, unter ande-
Zu Protokoll
rem die Abschaltung der Stromzufuhr sowie die Informa-
tion von Rettungskräften. Dieser Bericht wirft einige
Fragen auf.

Liegen der Bundesregierung aktuelle Daten vor, ob
und wie die Fahrzeughersteller ab 1. Januar 2011 Vor-
sorgemaßnahmen getroffen haben? Welche Vorkehrun-
gen wird die Bundesregierung treffen, damit die Empfeh-
lungen der BAM berücksichtigt werden? Interessant
wäre aber auch, zu wissen, ob der Bundesregierung ak-
tuelle Daten zum Stand der Technik für den Ersatz des
Kältemittels R134a durch CO2 oder 1234yf in Fahrzeug-
Klimaanlagen vorliegen, oder ob der Bundesregierung
Daten der deutschen Fahrzeughersteller vorliegen, wel-
che Fahrzeugtypen als Erste mit einem neuen Kältemittel
ausgestattet werden.

Zwar kann man argumentieren, dass die EU-Richtli-
nie nur einen Rahmen vorgibt und die Industrie sich für
eine Lösung innerhalb dieses Rahmens entscheiden
kann. Ich möchte die Autoindustrie jedoch auffordern,
die Untersuchungen der Bundesanstalt für Materialfor-
schung und -prüfung bei ihren Entscheidungen zu
berücksichtigen. Genauso sollte die bisher geleistete
Forschungs- und Entwicklungsarbeit deutscher Kälte-
mittelhersteller berücksichtigt werden.

Um alle Aspekte des Themas anzusprechen: Neben
der Frage der Wahl des Kältemittels ist es wichtig, die
bisherigen Klimaanlagensysteme zu optimieren, damit
der Energieverbrauch und die daraus resultierenden
Emissionen deutlich sinken. Auch sollte durch verbes-
serte Komponenten und Werkstoffe die Anlagendichtheit
erhöht werden, damit wir auch im Bereich der Kältemit-
tel eine Lösung finden, die dem Klimaschutz dient und
die Umwelttechnologien voranbringt.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1708137100

Heute beschäftigen wir uns nunmehr zum dritten Mal

mit dem vorliegenden Antrag der Linkspartei zu Kühl-
mitteln in Kfz-Klimaanlagen, und man muss leider fest-
stellen, dass es gegenüber der ersten Behandlung hier
im Plenum keinen substanziellen Erkenntnisgewinn ge-
geben hat.

Die Fakten sind hinlänglich bekannt, deshalb will ich
mich auf das Wesentliche beschränken. Ab dem 1. Ja-
nuar 2011 sind bei der Genehmigung aller neuen Fahr-
zeugtypen und ab dem 1. Januar 2017 generell bei allen
Neuwagen nur noch Kältemittel mit einem Treibhauspo-
tenzial kleiner als 150 zugelassen. Das derzeit verwen-
dete Mittel R134a mit einem Treibhauspotenzial von
1 430 muss daher ersetzt werden. Als Alternativen wur-
den zum einen die in Deutschland entwickelte CO2-Tech-
nologie sowie zum anderen das synthetische Kältemittel
R1234yf der Firmen Honeywell und DuPont diskutiert.

Die deutsche Automobilindustrie hat sich frühzeitig
für die CO2-Technologie stark gemacht, konnte sich da-
mit aber international nicht durchsetzen. Da es betriebs-
wirtschaftlich aufgrund der enormen Skaleneffekte der
Automobilproduktion keinen Sinn macht, nationale In-
sellösungen zu entwickeln, haben sich auch die deut-
9094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Dr. Lutz Knopek


(A) (C)



(D)(B)

schen Hersteller letztlich für den Einsatz von R1234yf
entschieden.

Der Antrag der Linkspartei zielt darauf ab, diese Ent-
scheidung rückgängig zu machen und nationale wie eu-
ropaweite Regelungen zu erlassen, sodass R1234yf als
Kältemittel nicht zugelassen wird. Dieses Ansinnen leh-
nen wir sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen
Gründen ab.

Wir lehnen den Antrag aus formalen Gründen ab, da
er schlicht europarechtswidrig ist. Die einschlägige EU-
Richtlinie 2006/40/EG setzt europaweit technologieof-
fene Standards für Emissionen aus Kfz-Klimaanlagen.
Einseitige nationale Abweichungen von dieser Richtli-
nie verstoßen gegen die Bestimmungen zum freien Wa-
renverkehr und die Bestimmungen zum EU-Binnen-
markt. Die Forderung, sich bis zum 1. August 2011 für
eine Änderung der EU-Richtlinie einzusetzen, ist ange-
sichts der üblichen Vorlaufzeiten auf europäischer
Ebene – die Kommission, bei der das alleinige Initiativ-
recht liegt, die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament
müssten zustimmen – völlig unrealistisch. Insofern muss
man erneut von einem reinen Schaufensterantrag der
Linken sprechen.

Aber auch inhaltlich ist der Antrag nicht begründet.
Es ist eben nicht so, dass, wie Kollege Lenkert ausge-
führt hat, „Umweltverbände, Umweltbundesamt und
Bundesanstalt für Materialforschung vor dem Einsatz
warnen.“ Vielmehr hat die Bundesanstalt für Material-
forschung in einer Pressemitteilung am 20. Oktober
2009 klargestellt, dass eine solche Interpretation ihres
Tests durch die Deutsche Umwelthilfe nicht zulässig ist:
„Eine mögliche Fehlinterpretation der Pressemitteilung
der Deutschen Umwelthilfe führt zu der Annahme, die
BAM hätte Stellung zur Gefährlichkeit des Kältemittels
bezogen. Dies ist nicht der Fall“, so die eindeutige Aus-
sage der BAM. Die einzigen aussagekräftigen Studien,
die es bislang gibt, wurden seitens der Industrie und von
der renommierten Society of Automotive Engineers er-
stellt. Diese bescheinigen R1234yf einen unbedenkli-
chen Einsatz in Kraftfahrzeugen. Zudem darf nicht au-
ßer Acht gelassen werden, dass jedes neu entwickelte
Fahrzeug ohnehin ein Typenzulassungsverfahren mit
entsprechenden Sicherheitsuntersuchungen zu durch-
laufen hat. Letztlich trägt die Industrie daher selbst die
Verantwortung für die von ihr eingesetzten Produkte.

Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch auf die vor
kurzem angelaufene Kampagne PRO KLIMA der Deut-
schen Umwelthilfe eingehen. Die DUH erhält für diese
Kampagne 800 000 Euro aus dem europäischen Um-
weltprogramm Life+, das eine Co-Finanzierung durch
den deutschen Steuerzahler voraussetzt. Das Programm
Life+ ist dazu gedacht, neue innovative Umwelttechni-
ken bei der Markteinführung zu unterstützen. Es stellt
meiner Meinung nach jedoch eine klare Zweckentfrem-
dung von Fördermitteln dar, wenn mit diesen Geldern
einseitig eine Kampagne gegen eine bestimmte Techno-
logie finanziert wird. Das ist weder umwelt- noch ord-
nungspolitisch akzeptabel und schadet letztlich auch
dem Ansehen der Deutschen Umwelthilfe selbst. Den
Antrag der Linksfraktion lehnen wir ab.
Zu Protokoll

Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708137200

„1234yf“ heißt eine Chemikalie, die ab dem kommen-

den Jahr in alle Fahrzeug-Klimaanlagen als Kältemittel
gepumpt werden soll; und sie ist eine tickende Zeit-
bombe. Die Chemikalie ist schnell entflammbar und ex-
trem gesundheitsschädlich. Tests des Umweltbundesam-
tes haben gezeigt, dass 1234yf bei Unfällen Fahr-
zeugbrände auslöst und giftige Stoffe freisetzt.

Damit stellt das Kältemittel ein großes Risiko für Kfz-
Nutzer, Ersthelfer und Rettungskräfte dar. Bald rollen
rund 24 000 Tonnen des gefährlichen Chemiecocktails
in Autos über unsere Straßen. Das Schlimme ist: Die
Verbraucherinnen und Verbraucher haben keine andere
Wahl. Nach dem Willen der Automobilhersteller soll das
Kältemittel flächendeckend in allen Autos zum Einsatz
kommen.

Die Bundesregierung weigert sich, der Automobilin-
dustrie zum Schutz der Kfz-Nutzer auf die Finger zu
klopfen. Die Einführung sicherer Kältemittel sei Sache
der Hersteller. Im Mai dieses Jahres erklärte der Vorsit-
zende des Lobbyverbandes der deutschen Automobilin-
dustrie, der ehemalige CDU-Bundesverkehrsminister
Matthias Wissmann, man werde 1234yf flächendeckend
einführen. Zu diesem Zeitpunkt war noch keine Sicher-
heitsprüfung für den Stoff durchgeführt worden – von ei-
ner Zulassung ganz zu schweigen. Gleichwohl hatte das
Umweltbundesamt Praxistests mit dem Mittel durchge-
führt. Das Ergebnis war katastrophal: Schon wenn sich
ein Kühlmittelschlauch löst, entzündet sich die Chemi-
kalie bei Betriebstemperatur des Motors. Das Auto geht
in Flammen auf, und giftige Flusssäure wird durch die
Belüftungsanlage in den Insassenraum geleitet.

Der Fall 1234yf ist ein Skandal: In der Antwort auf
unsere Kleine Anfrage von Ende Juni 2010 zitiert die
Bundesregierung ausschließlich Aussagen des Lobby-
Verbandes der Automobilindustrie VDA. Zitat: Aufgrund
industrieeigener Prüfungen „kommt der VDA zu der
Einschätzung, dass […] ein Einsatz von R 1234yf in Kli-
maanlagen von Fahrzeugen unbedenklich ist“. Noch bei
einer Fachveranstaltung Ende November 2010 – also
gut einen Monat vor Einführung der gefährlichen Che-
mikalie – wiederholte das Umweltbundesamt seine Kri-
tik und warnt vor der Verwendung von 1234yf. Warum
hört die Bundesregierung auf den Lobbyisten und CDU-
Mann Wissmann und nicht auf die eigene Fachbehörde?
Die Bundesregierung ist nicht Erfüllungsgehilfe der Au-
tomobillobby. Sie hat eine gesetzliche Vorsorgepflicht,
um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu
schützen. Das ist ihre Aufgabe.

Die Bundesregierung muss den Gift-Cocktail 1234yf
vom Markt verbannen, denn es gibt klimaneutrale und
unschädliche Alternativen für gut klimatisierte Auto-
fahrten. Das Umweltbundesamt empfiehlt, künftig auf
das gesundheitlich unbedenkliche und unbrennbare
Kohlendioxid, also CO2, zum Betrieb von Klimaanlagen
in Fahrzeugen zurückzugreifen. Es kann vorhandenen
CO2-Quellen entnommen werden. Es kommt also nicht
zu einer zusätzlichen Klimabelastung. Die Fachbehörde
des Bundesumweltministeriums hat Praxistests mit dem
natürlichen Kältemittel an gängigen Fahrzeugen durch-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9095
gegebene Reden

9096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)

geführt. Das Ergebnis ist eindeutig: In Serienfahrzeugen
benötigen Klimaanlagen mit CO2 im Vergleich zu ande-
ren gängigen Kältemitteln weniger Energie. Sie sparen
also zusätzlich Sprit, schonen das Klima und sind ge-
sundheitlich unbedenklich.

Die Linke fordert, dass Kfz-Klimaanlagen grundsätz-
lich nicht mit gesundheitsgefährdenden Kältemitteln be-
trieben werden dürfen. Sie dürfen auch nicht brennbar,
giftig oder ätzend sein sowie keine nachteiligen Auswir-
kungen auf die Umwelt haben. Ich fordere die Bundesre-
gierung auf: Stellen Sie sich auf die Seite der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher und kommen Sie ihrer
gesetzlichen Vorsorgepflicht nach!


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708137300

Was gilt eigentlich das Wort von Matthias Wissmann,

dem Präsidenten des Verbandes der Automobilindus-
trie? Im Jahr 2007 hatte er vor Beginn der Internationa-
len Automobilausstellung in Frankfurt am Main bekun-
det, dass die deutsche Autoindustrie in Umsetzung einer
EU-Richtlinie zeitnah auf natürliche und umweltfreund-
liche Kohlendioxid-Kältemittel umsteigen und die Arbeit
an chemischen Alternativen einstellen werde. Mittler-
weile wissen wir, dass der VDA eine Kehrtwende vollzo-
gen hat und der Einsatz des neuen Kältemittels Tetra-
fluorpropen, des sogenannten 1234yf von Honeywell
und Dupont, beschlossene Sache ist. Ich will heute nicht
über die sicherheitsrelevanten Fragen dieser falschen
Entscheidung sprechen, auf die ich in der ersten Lesung
des Antrags eingegangen bin, sondern die klimarelevan-
ten und industriepolitischen Implikationen in den Mittel-
punkt rücken.

Kohlendioxid als Kältemittel ist bewährt, wird in vie-
len Bereichen bereits eingesetzt. So haben die Berliner
Verkehrsbetriebe ihre Busse in diesem Sommer mit Koh-
lendioxid-Klimaanlagen ausgestattet. Führende deut-
sche Hersteller für Fahrzeugklimaanlagen wie zum Bei-
spiel Konvekta, Eberspächer und Webasto haben im
Vertrauen auf Wissmanns Zusage Millionen in die Ent-
wicklung der Kohlendioxid-Technik investiert und sie
marktreif gemacht.

Aber die deutsche Automobilindustrie, angeführt von
ihrem Verband, begibt sich lieber in die Abhängigkeit
der US-amerikanischen Chemieriesen Honeywell und
Dupont, die sich auf ein Joint Venture für Konstruktion,
Bau und Betrieb einer Produktionsstätte für Tetrafluor-
propen geeinigt haben. Sie sind weltweit die Einzigen,
die dieses Mittel herstellen. Auf gut Deutsch bilden diese
Firmen das Monopol für die Substanz und bestimmen
damit auf Jahre hinaus auch den Preis. Das ist indus-
triepolitisch, vorsichtig formuliert, äußerst kurzsichtig.

Noch schlimmer sind die klimapolitischen Implikatio-
nen; denn Klimaanlagen, die mit Tetrafluorpropen be-
trieben werden, sind viermal so schädlich wie die mit
Kohlendioxid. Außerdem können diese Anlagen auch
weiterhin mit dem verbotenen und 1 300-mal so schädli-
chen Mittel Tetrafluorethan betrieben werden. Wer ga-
rantiert denn, dass dieses Mittel bei einer Wartung nicht
einfach wieder eingefüllt wird? Was hat die Bundesre-
gierung getan, damit das alte chemische Mittel nicht
weiter verwendet wird? Hier ist nicht erkennbar, wie das
kontrolliert werden soll.

Kohlendioxid als Kältemittel hat das geringste Treib-
hauspotenzial. Allerdings müssen die Klimaanlagen um-
gerüstet werden, um dem höheren Druck von 120 bar
standzuhalten. Damit wären sie für das besonders
schädliche bisherige Kältemittel untauglich. Und das ist
auch der Grund für die Blockade der deutschen Auto-
mobilindustrie. Eine Klimaanlage, die für Kohlendioxid
ausgerüstet wäre, würde für einen Mittelklassewagen zu
Mehrkosten von rund 50 Euro führen, die eingespart
werden sollen.

Aus einem weiteren Grund ist die Entscheidung gegen
Kohlendioxid als Kältemittel falsch. Denn seine Stoffei-
genschaften eignen sich besonders gut für die Umkehr
des Kühlprozesses. Die Klimaanlage kann also zur Wär-
mepumpe werden, mit der auch geheizt werden kann. Bei
modernen Dieselfahrzeugen und Hybridautos reicht die
Abwärme des Motors schon heute nicht aus, um das
Fahrzeug im Winter ausreichend schnell zu heizen. Für
reine Elektroautos gilt das erst recht. Die Zukunft der
Fahrzeugklimaanlagen wird daher eine integrierte Wär-
mepumpenfunktion haben müssen, um insbesondere bei
elektrischem Antrieb den Strombedarf für den Nebenver-
braucher Heizung so gering wie möglich zu halten.

Das alles scheint Matthias Wissmann als Chef der
deutschen Automobilindustrie nicht zu stören. Er hat
Klimaanlagen mit dem chemischen und klimaschädli-
chen Kältemittel Tetrafluorpropen sogar als „Ökoinno-
vation“ bei der EU-Kommission angepriesen und wollte
dafür Kohlendioxid-Gutschriften für die Automobil-
industrie erhalten. Das hat die EU-Kommission aller-
dings zu Recht abgelehnt.

So viel zum Thema Anspruch und Wirklichkeit der
deutschen Automobilindustrie als Klimaschützer!


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708137400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Umweltausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/4070, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/3432 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD an-
genommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 23. Juni
2010 zur Änderung des Protokolls über die
Übergangsbestimmungen, das dem Vertrag
über die Europäische Union, dem Vertrag
über die Arbeitsweise der Europäischen Union
und dem Vertrag zur Gründung der Europäi-
schen Atomgemeinschaft beigefügt ist

– Drucksache 17/3357 –

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9097

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (21. Ausschuss)


– Drucksache 17/4244 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth (Heringen)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Diether Dehm
Manuel Sarrazin

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden folgender Kollegen zu Protokoll gegeben:
Thomas Dörflinger, Karl Holmeier, Michael Roth,
Michael Link, Diether Dehm und Manuel Sarrazin.


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1708137500

Wir debattieren heute abschließend den Gesetzent-

wurf der Bundesregierung zur Änderung des Protokolls
über die Übergangsbestimmungen zur Zusammenset-
zung des Europäischen Parlaments nach Inkrafttreten
des Vertrags von Lissabon. Wir erinnern uns: Die Ar-
beits- und Rechtsgrundlage in der EU ist seit Dezember
2009 der Vertrag von Lissabon; das Europäische Parla-
ment wurde aber im Juni 2009 noch auf der Vertrags-
grundlage von Nizza gewählt. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf soll die Zusammensetzung des Europäischen
Parlaments nun angepasst werden. Das Protokoll legt
insbesondere fest, die Zahl der Sitze im Europäischen
Parlament bis zum Ende der laufenden Legislatur-
periode um 18 auf insgesamt 754 Sitze zu erhöhen. Die
Höchstzahl der primärrechtlich vorgesehenen Zahl von
EP-Sitzen wird damit vorübergehend überschritten.

Ich komme gleich zum Kernpunkt des Gesetzentwurfs
und einem legitimatorischen Problem: So sollen die Mit-
gliedstaaten, die zusätzliche Mandate erhalten, diese
nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften ver-
geben. Konkret heißt das, dass die Plätze in Ad-hoc-
Wahlen oder auf der Grundlage der Ergebnisse der
Europawahlen vom Juni 2009 vergeben werden. Mög-
lich ist aber auch – so sieht es der Gesetzentwurf vor –,
dass die nachrückenden EP-Abgeordneten aus der Mitte
der nationalen Parlamente ernannt werden. Ich war im-
mer einer derjenigen, die die Stärkung des Parlaments
und damit die Tendenz zur Beseitigung eines institutio-
nellen Demokratiedefizits innerhalb der EU durch den
Vertrag von Lissabon für einen der wichtigsten Punkte
gehalten haben. Jetzt kann man die Auffassung vertre-
ten, es handle sich hier um eine Übergangsvorschrift,
die dadurch notwendig wurde, dass sich die Wahlen zum
Europäischen Parlament und die Ratifizierung des Ver-
trages von Lissabon überschnitten haben. Im Übrigen
– darauf weist das Bundesverfassungsgericht hin – ist
das Europäische Parlament auch nach der Neuformulie-
rung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem
Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach sei-
nem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentations-
organ eines souveränen europäischen Volkes. Folglich
scheint eine Benennung nachrückender Abgeordneter
für dieses Parlament – ohne vorherige Wahl – verkraft-
bar. Gleichwohl, das räume ich gerne ein, wäre mir eine
konsequente Umsetzung des EU-Rechts an dieser Stelle
lieber gewesen.

Wir sind uns einig, dass mit der Möglichkeit der
Nachbesetzung der zusätzlichen Mandate aus der Mitte
der nationalen Parlamente die Wahlrechtsgrundsätze
nicht ausreichend berücksichtigt werden, und ich habe
dargelegt, dass es sich dabei auch um eine Problematik
handelt, bei der man sehr genau hinschauen muss. Wir
haben uns die Frage gestellt, wie damit umzugehen ist,
und kommen als CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu dem
Ergebnis, eine pragmatische Herangehensweise zu emp-
fehlen und dem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Lassen Sie mich aber auch ein paar grundsätzliche
Anmerkungen zum Stimmenverhältnis im Europäischen
Parlament machen. Ich halte eine umfassende Überar-
beitung des Systems für die Wahlen zum Europäischen
Parlament für richtig und bin dem britischen EP-Kolle-
gen Andrew Duff für seine Vorschläge dankbar, auch
wenn ich sie nicht in allen Punkten teile. Richtig ist, dass
bevölkerungsarme Mitgliedstaaten im Vergleich zu be-
völkerungsreichen Mitgliedstaaten nach wie vor über-
proportional viele Stimmen erhalten. Folglich ist bei der
Wahl des Europäischen Parlaments das Prinzip der
Gleichheit aller Bürger nur unzureichend verwirklicht.
Nach den primärrechtlichen Regelungen beträgt die
Höchstzahl der Abgeordneten 751. Kein Mitgliedstaat
erhält mehr als 96 Sitze und keiner weniger als sechs
Sitze. Das führt dazu, dass das Gewicht der Stimme des
Staatsangehörigen eines bevölkerungsschwachen Mit-
gliedstaats etwa das Zwölffache des Gewichts der
Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsstar-
ken Mitgliedstaats betragen kann.

Damit politische Projekte gelingen können, ist eine
zentrale Idee der europäischen Integration, Diskrimi-
nierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu ver-
bieten oder zu beschränken. Die Konzeption des Binnen-
markts beruht auf der Überzeugung, es mache keinen
Unterschied, aus welchem Mitgliedstaat eine Ware oder
eine Dienstleistung stammt, woher ein Arbeitnehmer
oder Unternehmer kommt und welcher Herkunft Investi-
tionen sind. Dieses Kriterium der Staatsangehörigkeit
soll nach dem Lissabon-Vertrag entscheidend sein, wenn
die politischen Einflussmöglichkeiten der Bürger in der
Europäischen Union zugemessen werden. Es gibt hier
nach meinem Dafürhalten einen Wertungswiderspruch,
der aber mindestens ansatzweise aufgelöst werden
könnte.

Deswegen der Vorschlag: Wenn wir unter Beibehal-
tung der Höchstzahl von 751 Abgeordneten und einem
Sockel von sechs Sitzen pro Mitgliedstaat einen Vertei-
lungsschlüsse nach D’Hondt für alle weiteren Sitze an-
wenden, der die Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten
stärker berücksichtigt, könnte dies eine Lösung sein.
Letztlich brauchen wir mit Blick auf Beitritte von neuen
Ländern in der Zukunft einen Mechanismus, der sich
selbst perpetuiert und die Notwendigkeit vermeidet, mit
jedem Beitritt den Vertrag von Lissabon erneut in die
Hand nehmen zu müssen. Lassen Sie uns darüber einmal
diskutieren.

Thomas Dörflinger


(A) (C)



(D)(B)

Abschließend danke ich meinen Berichterstatterkolle-
gen für den konstruktiven Austausch und werbe um Zu-
stimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1708137600

Wir reden zwar im Zusammenhang mit den Über-

gangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäi-
schen Parlaments viel über Demokratie, aber ich habe
den Eindruck, einige haben nicht wirklich verstanden,
was Demokratie letztlich bedeutet.

In unserer letzten Debatte zu diesem Thema im Mai
dieses Jahres hatte ich bereits auf die Worte von Winston
Churchill hingewiesen, der gesagt hat:

„Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich
den Ansichten anderer Leute zu beugen.“

Das sollten wir uns auch in dieser Sache alle zu Her-
zen nehmen. In einer Demokratie muss man sich den
Mehrheiten fügen, und ganz offensichtlich sind wir in
Europa nicht in der Mehrheit mit unserer Vorstellung,
die zusätzlichen Mandate dürften ausschließlich auf
Grundlage einer Direktwahl vergeben werden.

Das mag uns gefallen oder nicht. Die Mehrheit der
Staats- und Regierungschefs hat sich aber nun einmal
darauf verständigt, auch die umstrittene Option 3 im
Verfahren zur Nachbesetzung der zusätzlichen Sitze im
Europaparlament zuzulassen, also die Benennung der
Abgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente.

Als Mitgliedstaat mit den meisten Einwohnern sollten
wir auch die Größe haben, uns der Mehrheit zu beugen,
wenn wir selbst in der Minderheit sind und daher dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung heute zustimmen.

Das ist der erste zentrale Punkt, auf den ich in dieser
Debatte hinweisen will.

Außerdem, denke ich, sollte man zwei weitere Ge-
sichtspunkte im Hinterkopf behalten:

Erstens. Natürlich ist die Direktwahl zum Europäi-
schen Parlament ein Meilenstein in der europäischen
Politik gewesen.

Aber gerade weil das so ist, sollte man den direkt ge-
wählten Mitgliedern dieses Parlaments auch zugeste-
hen, dass zuallererst sie selbst über die sie betreffenden
Angelegenheiten entscheiden.

Und das Europaparlament hat entschieden, dass eine
Benennung der Abgeordneten aus der Mitte der nationa-
len Parlamente zwar nicht mit dem Geist des Akts von
1976 vereinbar ist. Danach sollen nämlich die europäi-
schen Abgeordneten direkt und nicht indirekt über eine
Wahl in einem nationalen Parlament gewählt werden. Es
hat aber auch seine Auffassung klargemacht, dass den-
noch im Fall unüberwindbarer technischer oder politi-
scher Schwierigkeiten eine indirekte Wahl durch die na-
tionalen Parlamente akzeptabel ist.

Ich fände es eine ziemliche Respektlosigkeit gegen-
über den direkt gewählten Europaparlamentariern, sich
als Abgeordnete eines nationalen Parlaments hinzustel-
len und zu sagen: Es ist uns egal, wie das Europaparla-
Zu Protokoll
ment diese Angelegenheit sieht. Wir stimmen gegen die
Änderung des Protokolls, wenn die zusätzlichen Abge-
ordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente be-
stimmt werden können. Ich finde, wir sollten die Position
des Europaparlaments respektieren und uns als natio-
nale Parlamentarier entsprechend fair verhalten.

Zweitens. Der nächste Gesichtspunkt, auf den ich
gern hinweisen möchte, ist folgender: Alle, die dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung heute nicht zustimmen,
müssen sich im Klaren darüber sein, dass sie versuchen,
darüber zu bestimmen, wie sich ein anderer Mitglied-
staat zu verhalten hat – hier konkret Frankreich, das
aufgrund seiner innerstaatlichen Regelungen die um-
strittene Variante ins Auge fasst.

Sie würden sich, genauer gesagt, anmaßen, die Fran-
zosen darüber zu belehren, wie Demokratie auszusehen
hat.

Ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken.

Ich sehe eine Benennung der zusätzlichen Europaab-
geordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente aus
Demokratiegesichtspunkten ebenfalls sehr kritisch.

Ich möchte aber betonen, dass wir uns auch als Abge-
ordnete des größten EU-Mitgliedstaates den Mehrheiten
in Europa beugen müssen. Hier kann ich nur nochmals
an den Satz von Churchill erinnern. Als deutsche Abge-
ordnete sollten wir anderen Parlamenten nichts vor-
schreiben. Dies würde dem freundschaftlichen und re-
spektvollen Umgang mit den anderen Mitgliedstaaten
widersprechen. Außerdem sollten wir akzeptieren, dass
das Europaparlament als eigenständiges EU-Organ
auch eigene Entscheidungen trifft, die uns nicht immer
hundertprozentig gefallen.

Zurückhaltung unsererseits ist vor allem auch vor
dem Hintergrund geboten, dass Deutschland seine der-
zeitigen Sitze im Europaparlament bis zur nächsten
Wahl behält und damit die im Lissabon-Vertrag vorgese-
hene Höchstzahl an Sitzen vorübergehend überschritten
wird. Ich bitte Sie deshalb, dem Gesetzentwurf der Bun-
desregierung zuzustimmen.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1708137700

Meine Fraktion und ich bedauern zutiefst, dass im

spanischen Vorschlag zu den Übergangsregelungen zur
Zusammensetzung des Europäischen Parlaments die
dritte Option, also die Nachbenennung aus den nationa-
len Parlamenten, bestehen bleibt. Deshalb haben wir
bereits in einem Antrag vom 15. Dezember vergangenen
Jahres deutlich gemacht, dass wir diese Lösung für in-
akzeptabel halten. In diesem Punkt gab es immerhin eine
breite fraktionsübergreifende Übereinstimmung im
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union. Unter Hinweis auf die Direktwahlen zum Euro-
päischen Parlament seit 1979 und das Demokratieprin-
zip haben die Fraktionen unisono diese Möglichkeit
scharf kritisiert – zu Recht. Wahlrechtsgrundsätze sind
nun einmal fundamentale Verfassungsgrundsätze.

Die SPD-Fraktion ist im Lichte des Urteils des Bun-
desverfassungsgerichts zur Begleitgesetzgebung zum
9098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

Vertrag von Lissabon ihrer Integrationsverantwortung
nachgekommen. Wir haben die Bundesregierung früh-
zeitig darauf aufmerksam gemacht und auch eindring-
lich aufgefordert, in den Verhandlungen darauf hinzu-
wirken, dass die im Vorschlag genannte dritte Option
der Nachbenennung nicht übernommen wird. Ich kann
nur feststellen: Die Bundesregierung hat sich trotz die-
ser frühzeitigen Kritik nicht ausreichend auf europäi-
scher Ebene dafür eingesetzt, dass eine Nachbenennung
aus den nationalen Parlamenten möglich ist, um die zu-
sätzlichen Mandate zu besetzen.

Ganz klar: Die SPD-Bundestagsfraktion stellt in kei-
ner Weise und zu keinem Zeitpunkt die Vereinbarung der
Anpassung der Sitzverteilung an sich infrage. Zum Ab-
stimmungsverhalten meiner Fraktion habe ich bereits in
der gestrigen Ausschusssitzung gesagt, dass wir uns
dennoch aus integrationspolitischer Verantwortung
dazu entschlossen haben, dem vorliegenden Gesetzent-
wurf zuzustimmen. Das Problem der Nachbesetzung
stellt sich – zum Glück – nur in Frankreich. Es handelt
sich also um einen absoluten Sonderfall, der in dieser
Form künftig nicht mehr eintreten wird und darf.

Unsere Bedenken wiegen deshalb so schwer, weil das
Europäische Parlament – erst Recht durch den Vertrag
von Lissabon – die wichtigste Legitimationsquelle euro-
päischer Rechtsakte ist. Das Mitentscheidungsverfahren
als ordentliches Gesetzgebungsverfahren macht es na-
hezu zum gleichberechtigten Gesetzgeber neben dem
Rat. Auch sonstige parlamentstypische Funktionen, wie
Wahlfunktion, Budgetfunktion und Willensbildungs-
funktion werden von den Kolleginnen und Kollegen in
Brüssel wahrgenommen. Nicht zuletzt die öffentlich-
keitswirksamen Debatten im Europäischen Parlament
zum SWIFT-Abkommen oder den Haushaltsverhandlun-
gen zeigen uns: Ein zahnloser Tiger ist das Europäische
Parlament schon lange nicht mehr.

Zudem offenbart uns die Debatte heute aber das reale
Problem: das Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts für
Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Deshalb
werden wir unsere Kolleginnen und Kollegen bei Vorha-
ben zu einer Wahlrechtsreform nach besten Kräften un-
terstützen. Schon lange gilt nicht mehr, dass nationale
Parlamente und das Europäische Parlament sich in
Konkurrenz befinden – zumindest sehen wir Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten das so. Das Europäi-
sche Parlament und die nationalen Parlamente sind
zwei Seiten ein und derselben Medaille – der Parlamen-
tarisierung und damit auch der Demokratisierung der
Europäischen Union. Es gibt also viel zu tun. Eine Ent-
parlamentarisierung der Politik, wie sie von vielen be-
klagt wird, können und wollen wir unter keinen Umstän-
den zulassen. Mehr Demokratie in Europa wagen geht
nicht mit mehr Intergouvernementalismus, sondern nur
mit mehr Parlamentarismus.


Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1708137800

Im Rahmen eines politischen Gesamtkompromisses

unter den EU-Mitgliedstaaten wurde mit dem Vertrag
von Lissabon auch eine Erhöhung der Zahl der Mandate
des Europäischen Parlamentes um insgesamt 18 einge-
Zu Protokoll
führt. Dies war notwendig, um die Zustimmung aller
EU-Mitgliedstaaten für den Vertrag zu erhalten.

Der Vertrag konnte aus den bekannten Gründen nicht
so bald wie ursprünglich geplant in Kraft treten. Daher
musste zunächst noch einmal nach dem alten Vertrag ge-
wählt werden. Der Europäische Rat beschloss darauf-
hin, als Übergangsmaßnahme die Zahl der Mandate be-
reits in der laufenden Legislaturperiode des
Europäischen Parlaments an die mit dem Vertrag von
Lissabon vorgesehene erhöhte Zahl anzupassen. Der
Vorschlag der spanischen EU-Ratspräsidentschaft vom
4. Dezember 2009 nach Art. 48 Abs. II EUV sah vor,
dass die betroffenen Mitgliedstaaten – Deutschland ge-
hörte im Übrigen nicht dazu – ihre zusätzlichen Abge-
ordneten nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften
bestimmen – vorausgesetzt, die neuen Abgeordneten
wurden in allgemeinen unmittelbaren Wahlen gewählt.

Der spanische Vorschlag sah drei Alternativen vor,
von denen zwei auf den ersten Blick unbedenklich wa-
ren, nämlich die Durchführung von Ad-hoc-Nachwahlen
oder die Bestimmung auf Grundlage des Ergebnisses
der Europawahlen vom Juni 2004. Die dritte Alternative
jedoch warf gewisse Fragen nach der demokratischen
Legitimation der neuen Abgeordneten auf, nämlich dass
ein nationales Parlament die zusätzlichen Abgeordneten
auch aus seiner Mitte bestimmen könnte.

Dieses Änderungsprotokoll wurde vom Bundestag
auch deshalb besonders aufmerksam begleitet, weil es
den ersten Anwendungsfall des neuen Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung
in EU-Angelegenheiten darstellte, und zwar konkret des
§ 10 des EUZBBG. Die Koalitionsfraktionen waren sich
bewusst, dass der Umgang beider Verfassungsorgane
mit diesem Fall stilbildend für alle künftigen Fälle sein
würde. Aus diesem Grunde gab der Bundestag am
21. April 2010 eine Stellungnahme nach Art. 23. Abs. 3
GG in Verbindung mit § 10 EUZBBG ab, in der er seine
Bedenken äußerte und die Bundesregierung um Aufklä-
rung bat. Nachdem das Auswärtige Amt die entspre-
chenden Informationen übermittelt und den Bundestag
um Erklärung seines Einvernehmens gebeten hatte,
konnte dieser sein Einvernehmen am 16. Juni 2010 er-
teilen.

Bundestag und Bundesregierung haben in diesem
Dossier in ihrer Zusammenarbeit einen neuen Weg be-
schritten, der sehr durch Kooperation und gegenseitige
Information geprägt war und durchaus als Modell für
künftige Fälle dienen kann. Ich möchte an dieser Stelle
ausdrücklich Herrn Staatsminister Dr. Werner Hoyer
danken, der großen Wert auf diese enge Kooperation
legte, sodass dieses Dossier alsbald für alle Seiten be-
friedigend abgeschlossen werden konnte.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708137900

Da der Vertrag von Lissabon erst am 1. Dezember

2009 in Kraft getreten war, musste das Europäische Par-
lament, EP, im Juni 2009 noch nach den vorher gelten-
den vertraglichen Bestimmungen gewählt werden. Da-
bei hätte man es bis zum Ende der Wahlperiode belassen
können und belassen sollen. Denn dies entspricht dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9099
gegebene Reden

Dr. Diether Dehm


(A) (C)



(D)(B)

guten Grundsatz, dass Parlamente sich nach dem Recht
bilden und zusammensetzen, das zur Zeit ihrer Wahl gilt.

Allerdings ist richtig, dass die Mitgliedstaaten, die
nach dem Vertrag von Lissabon mehr Abgeordnete im
EP bekommen sollten, mit dieser Regelung nicht einver-
standen waren. Das ist zwar verständlich, dennoch be-
stand kein Zwang, diesen Forderungen nachzugeben.
Vor allem dann nicht, wenn eine vertragsgemäße und
verfassungskonforme Lösung dafür nicht möglich war.

Tatsächlich ist es so: Die konkreten Regelungen zur
Parlamentserweiterung, vorgeschlagen von der damali-
gen spanischen Ratspräsidentschaft, verstoßen gegen
demokratische Wahlrechtsgrundsätze. Sie brechen die
Grundsätze, die seit der ersten Direktwahl des EP ver-
bindlich festgelegt sind: Nach einer der drei Varianten
– der sogenannten Option C –, die der spanische Vor-
schlag enthält und nach der in Frankreich zusätzliche
Mitglieder des EP bestimmt werden sollen, findet keine
direkte Wahl durch die Bevölkerung statt. Hier ist die
Ernennung der zusätzlichen EP-Mitglieder durch die
nationalen Parlamente vorgesehen, und zwar aus dem
Kreis ihrer Abgeordneten.

Dass diese Lösung demokratiewidrig ist, war bei den
ersten Diskussionen im Bundestag bei allen Fraktionen
unbestritten. Auf einen in seinen Formulierungen sehr zu-
rückhaltenden Antrag der Koalitionsparteien – 17/1179 –
hatte der Bundestag dann auch festgestellt, dass „die im
spanischen Vorschlag enthaltene Option zur Bestim-
mung der zusätzlichen Mitglieder des Europäischen
Parlamentes durch Benennung aus der Mitte der natio-
nalen Parlamente dem Geist des Direktwahlakts von
1976 widerspricht“. Dieser berechtigte Einwand ist lei-
der folgenlos geblieben.

In dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzent-
wurf der Bundesregierung werden weder diese Grund-
satzproblematik noch der Beschluss des Bundestags
auch nur eines Wortes gewürdigt. In der Aussprache im
federführenden EU-Ausschuss haben sich die Koali-
tionsfraktionen CDU/CSU und FDP – wie auch aus dem
offiziellen Bericht hervorgeht – schamhaft überhaupt
nicht geäußert. Die SPD hat den Gesetzentwurf zwar für
inakzeptabel erklärt, im selben Atemzug aber angekün-
digt, aus integrationspolitischer Verantwortung heraus
dem Entwurf zustimmen zu wollen. Die Grünen erklär-
ten aus derselben Verantwortung heraus, sich der
Stimme enthalten zu wollen.

Unserer Integrationsverantwortung für eine demo-
kratische Europäische Union entspricht es, keiner demo-
kratiewidrigen Ausgestaltung der EU oder eines ihrer
Organe zuzustimmen – auch nicht in einer Übergangs-
vorschrift. Einer Wahl zu einer parlamentarischen Ver-
tretungsköperschaft, bei der das passive Wahlrecht nicht
allen Bürgerinnen und Bürgern zusteht, sondern auf ei-
nen privilegierten Personenkreis – hier: auf die Abge-
ordneten der jeweiligen nationalen Parlamente – be-
schränkt ist, verstößt auch gegen die fundamentalen
Grundsätze der parlamentarischen Demokratie, wie sie
unter anderem in Art. 38 des Grundgesetzes niederlegt
sind – vor allem die Grundsätze der allgemeinen, der
gleichen und der direkten Wahl.
Zu Protokoll
Sosehr wir die Europäische Integration bejahen, so
sehr lehnen wir es ab unverzichtbare Verfassungsprinzi-
pien einer angeblichen Integrationsverantwortung zu
opfern. Das gilt für Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlich-
keit und natürlich für die Demokratie. Den Gesetzent-
wurf lehnen wir daher ab.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708138000

Wir sprechen heute über eine höchst wichtige euro-

päische Angelegenheit. Mit dem Vertrag von Lissabon
ändert sich der Schlüssel, nachdem die Mandate auf die
einzelnen Mitgliedstaaten verteilt werden. 12 Staaten er-
halten zusätzliche Mandate, insgesamt 18. Deutschland
muss in Zukunft auf 3 Sitze verzichten, da die Ober-
grenze für Abgeordnete aus einem Land von 99 auf
96 abgesenkt wird. Durch die verzögerte Annahme des
Vertrages von Lissabon konnte das aktuelle Europäische
Parlament aber noch nicht nach den neuen Bestimmun-
gen gewählt und besetzt werden. Daher sind wir heute in
einer Situation, in der Lissabon Realität, das Parlament
aber nach den alten Regeln von Nizza zusammengesetzt
ist.

Der Europäische Rat hat sich darauf geeinigt, dass
zusätzliche Sitze schon während der Wahlperiode nach-
besetzt werden sollen. Kurz: Die zwölf Länder, denen
nach Lissabon mehr Sitze im Parlament zustehen, sollen
diese Sitze möglichst schnell nachbesetzen. Diese Ent-
scheidung finden wir gut. Vor allem die Bürgerinnen und
Bürger in Spanien haben mit dem erfolgreichen Referen-
dum zum Vertrag von Lissabon viel Europamut bewie-
sen. Diesen Mut wollen wir belohnen und zeigen, dass
wir die gestärkten Mitbestimmungsrechte der Bürgerin-
nen und Bürger so schnell wie möglich in die Praxis um-
setzen wollen. Es ist das richtige Zeichen, die vier zu-
sätzlichen Sitze, die Spanien mit dem Vertrag von
Lissabon zustehen, neben den 14 anderen Mandaten
frühzeitig zu besetzen.

Nicht gut ist die Art und Weise, wie diese Sitze nach-
besetzt werden sollen. Das Protokoll, das heute zur Ab-
stimmung steht, sieht für die Nachbesetzung drei Optio-
nen vor: Die Vergabe der zusätzlichen Mandate auf
Grundlage der Ergebnisse der letzten Europawahlen
oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen sind die zwei
Möglichkeiten, die demokratisch sind und die wir gut
finden. Wir sollen heute aber ein Protokoll absegnen,
dass es unter anderem auch ermöglicht, die zusätzlichen
Abgeordneten aus der Mitte des jeweiligen nationalen
Parlaments benennen zu lassen. Das können wir nicht
tolerieren! Warum?

Bis 1974 sind die Abgeordneten des Europäischen
Parlaments nicht direkt gewählt, sondern aus den natio-
nalen Parlamenten entsandt worden. Erst mit dem Di-
rektwahlakt von 1976 und den ersten Direktwahlen des
Europäischen Parlaments 1979 ist es dann gelungen,
die damalige Europäische Gemeinschaft näher an die
Bürgerinnen und Bürger zu bringen, also demokrati-
scher zu machen. Diese demokratische Errungenschaft
ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Europa der
Bürgerinnen und Bürger. Der Vorschlag, über den wir
heute abstimmen, ist ein Rückschritt. Und demokrati-
9100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9101

Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

sche Rückschritte auf Kosten der Bürgerinnen und Bür-
ger – wenn auch zeitlich begrenzt – wird es mit uns nicht
geben.

Diese Problematik hat nicht nur meine Fraktion wie-
derholt zum Ausdruck gebracht. Alle Parteien dieses
Hauses haben in ihren Anträgen und Stellungnahmen
deutlich gemacht, dass die dritte Option nicht mit dem
Geist des Direktwahlakts von 1976 vereinbar ist und im
Widerspruch zu Art. 14 Abs. 3 des Vertrages der Euro-
päischen Union steht. Der bestimmt, dass das Europäi-
sche Parlament aus direkten Wahlen hervorgeht. Aus
dieser richtigen Erkenntnis haben die Kolleginnen und
Kollegen der Koalition aber leider nicht die entspre-
chende Konsequenz gezogen. Sie haben der Option C
frühzeitig ihre Absolution gegeben, indem sie gesagt ha-
ben: Ist in Ordnung, wenn es einen guten Grund gibt. –
Der gute Grund ist folgender: Manche der Mitgliedstaa-
ten sehen sich nicht in der Lage, ihre zusätzlichen Sitze
auf Grundlage der Ergebnisse der letzten Europawahlen
oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen nachzubesetzen.
Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen hat dieses
Haus daraufhin der Bundesregierung ihr Einvernehmen
gegeben, auch der Option C ihre Zustimmung zu geben.

Das bringt uns heute in ein wirkliches Dilemma.
Stimmt der Bundestag dem Protokoll zu, dann geben wir
demokratische Grundprinzipien preis – wenn auch nicht
dauerhaft. Stimmt der Bundestag mit Nein, dann ist das
eine Stimme für die Legitimation des Europäischen Par-
laments durch die Bürgerinnen und Bürger. Wir verhin-
dern aber auch, dass die anderen elf Mitgliedstaaten
ihre zusätzlichen Mandate nachbesetzen können. Ich
hätte mir gewünscht, dass uns die Koalition nicht in
diese Lage hineinmanövriert hätte. Jetzt gibt es gute
Gründe, dem Protokoll zuzustimmen, aber auch mindes-
tens genauso gute Gründe, nicht dafür zu stimmen. Wir
von Bündnis 90/Die Grünen können diese Zustimmung
heute nicht geben.

Wenn der Bundestag heute dem Protokoll zustimmt
und auch alle anderen 26 Mitgliedstaaten dieses ratifi-
zieren, werden die zusätzlichen 18 Mandate im Laufe
des kommenden Jahres nachbesetzt. Die primäre Auf-
gabe der Bundesregierung kann es dann nur sein, eine
Wiederholung einer solchen Entscheidung für die Zu-
kunft auszuschließen, indem sie sich mit den anderen
Mitgliedstaaten und in Abstimmung mit dem Europäi-
schen Parlament auf ein einheitliches Wahlrecht für die
Wahlen zum EP verständigt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708138100

Wir kommen zur Abstimmung.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4244, den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf
Drucksache 17/3357 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
der Grünen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich
machen

– Drucksache 17/3863 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Proto-
koll gegeben: Dorothee Bär, Peter Tauber, Marlene
Rupprecht, Florian Bernschneider, Diana Golze und
Katja Dörner.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1708138200

Prävention und Gesundheitsförderung sind eine ent-

scheidende Antwort auf die neuen gesundheitlichen
Herausforderungen im 21. Jahrhundert. In der Kindheit
und Jugend werden gesundheitsgefährdende, aber auch
gesundheitsfördernde Verhaltensweisen geprägt. Thema
des 13. Kinder- und Jugendberichts ist deshalb die
gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförde-
rung in der Kinder- und Jugendhilfe. Dort können nach-
haltige Angebote einen wichtigen Beitrag zur Verringe-
rung der Leiden der Betroffenen sowie zur Entlastung
der Sozialversicherungssysteme leisten.

Der Antrag der Grünen gründet überwiegend auf den
Ergebnissen des 13. Kinder- und Jugendberichts und
nimmt dort erarbeitete Empfehlungen auf. Es werden al-
lerdings die vielfältigen, bereits von der Bundesregie-
rung getroffenen Initiativen und Maßnahmen zur The-
matik kaum bis gar nicht berücksichtigt.

Zunächst gehört die geforderte Umsetzung von Er-
gebnissen und Empfehlungen des 13. Kinder- und Ju-
gendberichts in die Fachpraxis nicht zu den Aufgaben
der Bundesregierung. Zuständig für die praktische Aus-
gestaltung der Kinder- und Jugendhilfe sind einerseits
Länder und Kommunen, andererseits Träger von Ein-
richtungen, Diensten und Angeboten. Jugendbehörden
und Fachverbände haben bereits eine Vielzahl von Ta-
gungen zum 13. Kinder- und Jugendbericht durchge-
führt, um die Ergebnisse in die Fachpraxis zu transpor-
tieren.

Hinsichtlich der von den Grünen geforderten Verbes-
serung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugend-
hilfe und dem Gesundheitssystem hat die Bundesre-
gierung bereits wichtige Schritte eingeleitet: Im
Referentenentwurf eines Kinderschutzgesetzes wird
diese Intention aufgegriffen. Mit dem Aktionsprogramm
„Frühe Hilfen“ wurden Erkenntnisse für eine bessere
Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und
Gesundheitssystem gewonnen. Mit dem „Nationalen

Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

Zentrum Frühe Hilfen“ werden durch gemeinsame Trä-
gerschaft der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
klärung mit dem Deutschen Jugendinstitut das Gesund-
heitssystem und die Jugendhilfe zusätzlich strukturell
verbunden. Überdies ist die Bundesregierung bereits in-
tensiv dabei, die Möglichkeiten der beantragten einheit-
lichen Zuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen
mit Behinderung – sogenannte große Lösung – zu prü-
fen.

Hinsichtlich der Forderungen nach einer besseren
Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule wird da-
rauf hingewiesen, dass die Bundesregierung bereits seit
mehreren Jahren Modellprojekte zu dieser Thematik för-
dert. Im Übrigen sind für den Schulbereich die Länder
zuständig. Damit ist der Antrag, dessen Zielsetzung
grundsätzlich begrüßt wird, im Ergebnis abzulehnen.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1708138300

Mit der Vorlage des 13. Kinder- und Jugendberichts

ist es der Bundesregierung erstmals gelungen, einen Be-
richt vorzulegen, der alle Kinder in Deutschland in den
Blick nimmt – ganz gleich, ob es sich um Kinder mit oder
ohne Behinderungen handelt. Die Ergebnisse des Be-
richts sind zunächst einmal sehr beruhigend.

Der Bericht macht nämlich deutlich, dass 80 Prozent
der Kinder- und Jugendlichen, begleitet von ihren Eltern
und unterstützt durch gesellschaftliche Institutionen wie
Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie den sozi-
alstaatlichen Unterstützungsmechanismen, das erleben,
was man eine „sorgenfreie Kindheit“ nennt. Sie haben
die Möglichkeit einer selbstbestimmten Entwicklung und
nutzen diese. Damit bleibt Deutschland ein für Kinder-
und Jugendliche lebenswertes Land, das gute Rahmen-
bedingungen bietet. Professor Dr. Heiner Keupp hat da-
her deutlich gemacht: „Es ist mir (…) wichtig, dass Ka-
tastrophenmeldungen (…), in denen von 70 Prozent
psychisch kranken Kindern in Deutschland die Rede ist,
absoluter Unsinn sind. Etwa 80 Prozent der Kinder und
Jugendlichen wachsen in Deutschland nach wie vor ge-
sund und gut in diese Gesellschaft hinein. Das ist kein
Naturphänomen, sondern (…) das Ergebnis eines guten
Sozialstaates, eines Bildungssystems und von Familien,
die so schlecht nicht sind, wie sie immer wieder gemacht
werden.“ Dies ist eine sehr erfreuliche Botschaft, die
wir angesichts vieler – gerade auch Eltern verun-
sichernder – Berichte mit einer gewissen Zufriedenheit
in unser Land tragen sollten.

Dieses positive Resümee darf allerdings nicht dazu
führen, die Kinder und Jugendlichen aus den Augen zu
verlieren, die derzeit noch nicht die notwendige Unter-
stützung und Förderung erfahren. Der 13. Kinder- und
Jugendbericht macht deutlich, dass die Schaffung guter
Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern
und Jugendlichen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
von Kommunen, Ländern und Bund ist. Dies gilt gerade
auch für die beiden im Bericht näher beschriebenen
Schwerpunkte der gesundheitsbezogenen Prävention
und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugend-
hilfe sowie der Inklusion behinderter Kinder und Ju-
gendlicher.
Zu Protokoll
Der Bericht mahnt zu Recht eine weitergehende wis-
senschaftliche Begleitung der beiden noch zu beschrei-
benden Leitthemen des aktuellen Berichtsschwerpunktes
an. Hilfreich war hier vor allem der Hinweis auf aktuelle
amerikanische Forschungen von Richard Lerner, der
„die fünf Cs der positiven Jugendentwicklung“ – näm-
lich competence, caring, connection, confidence, cha-
racter – definiert hat. Deutlich wird hier, dass neben ma-
teriellen vor allem soziale Beziehungsgeflechte und
Rahmenbedingungen eine wesentliche Voraussetzung
dafür sind, dass Kinder und Jugendliche „gut in die Ge-
sellschaft hineinwachsen“. Diese Aspekte kommen in
vielen politischen Diskussionen kaum vor. Es ist unsere
Aufgabe, sich diesen Aspekten stärker zu widmen und
hier die im 13. Kinder- und Jugendbericht nahezu aus-
gesparte Verantwortung und Aufgaben der Eltern zu the-
matisieren. Richard Lerner hat noch ein sechstes „C“
definiert: contribution. Gemeint ist damit, positive Ju-
gendentwicklung mit gesellschaftlicher Partizipation zu
verknüpfen. Der Bereich der Jugendfreiwilligendienste
beispielsweise schafft eine solche Möglichkeit der Parti-
zipation. Doch auch dieser Punkt, der noch breiten ge-
sellschaftspolitischen Spielraum bietet, ist eine gesamt-
staatliche Aufgabe. Hier sind Kommunen und Länder
ebenso gefordert wie der Bund. Entscheidend ist aber
auch hier ein positiver Ansatz, den es durch eine wissen-
schaftliche Begleitung zu stärken gilt.

Die gesundheitsbezogene Prävention und Gesund-
heitsförderung ist schon seit vielen Jahren auf der Ta-
gesordnung. Hier sollte es aber eine erkennbare
Schwerpunktbildung bzw. eine stärkere Fokussierung
als bislang ergeben. Dies erscheint uns sehr wichtig.

Als besonderes Problem haben alle Sachverständigen
in der Anhörung eine „Große Lösung“ in der Frage der
Zuständigkeit bzw. einer tragfähigen Verknüpfung der
Kinder- und Jugendhilfe mit der Behindertenhilfe auf
kommunaler Ebene angemahnt. Auch der 13. Kinder-
und Jugendbericht umschreibt die Problematik einer nur
beschränkten Zuständigkeit und Kompetenz der Kinder-
und Jugendhilfe für behinderte Kinder und Jugendliche
und eine laut der Experten „lebensfernen“ Konstruktion
des § 35 a SGB VIII. In diesem Zusammenhang sind
auch der § 20 SGB V und die Komplexleistungen des
SGB VIII in den Blick zu nehmen.

Die Bundesregierung hat ihre Position zu dem Be-
richt der unabhängigen Sachverständigenkommission
und den darin gezogenen Schlussfolgerungen in ihrer
Stellungnahme dargelegt, die dem Bericht vorangestellt
ist. Diese Einschätzung ist nach wie vor gültig. Es ist
sehr erfreulich, dass die Ergebnisse des Berichts die
Bundesregierung in ihrem Handeln bestärkt.

Viele der Anregungen und Empfehlungen der
Kommission, die in den Verantwortungsbereich der Bun-
desregierung fallen, haben wir bereits in dieser Legisla-
turperiode angestoßen. Ein wesentlicher Teil der Forde-
rungen des von den Grünen vorgelegten Antrags bezieht
sich auf die Umsetzung von Ergebnissen und Empfeh-
lungen des 13. Kinder und Jugendberichts in die Fach-
praxis. Hier muss man den Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen noch einmal klar und deutlich sagen:
9102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)

Dies gehört nicht zu den Aufgaben der Bundesregie-
rung. Zuständig für die Ausgestaltung der Kinder- und
Jugendhilfe in der Praxis sind einerseits die Länder und
Kommunen, andererseits die freien und öffentlichen Trä-
ger von Einrichtungen, Diensten und Angeboten. Ju-
gendbehörden und Fachverbände haben bereits eine
Vielzahl von Tagungen und Fortbildungsveranstaltun-
gen zum 13. Kinder und Jugendberichts durchgeführt,
häufig unter Mitwirkung von Mitgliedern der Sachver-
ständigenkommission, um die Ergebnisse in die Fach-
praxis zu transportieren. Das dürfte auch der Grünen-
Fraktion eigentlich nicht entgangen sein. Die in einem
großen Teil der Forderungen formulierten Inhalte und
Intentionen des Antrags sind zudem bereits in Vorhaben,
Modellprojekten oder Strategien der Bundesregierung
berücksichtigt. So werden im Referentenentwurf des
Kinderschutzgesetzes die Absicht der Prävention und
eine Verbesserung der Kooperation zwischen Kinder-
und Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem aufgegrif-
fen. Dies hätten die Damen und Herren der Grünen-
Fraktion eigentlich wissen müssen.

Mit dem Aktionsprogramm „Frühe Hilfen“ und den
in diesem Programm vom Bund gemeinsam mit den Län-
dern initiierten Modellprojekten wurden bereits wert-
volle Impulse gesetzt und Erkenntnisse für eine bessere
Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und
Gesundheitssystem gewonnen. Das BMFSFJ hat mit
dem „Nationalen Zentrum Frühe Hilfen“ eine erfolgrei-
che Institution geschaffen, die durch gemeinsame Trä-
gerschaft der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-
klärung mit dem Deutschen Jugendinstitut das
Gesundheitssystem und die Jugendhilfe strukturell ver-
bindet.

Ebenso ist die Bundesregierung bereits intensiv da-
bei, die Möglichkeiten einer einheitlichen Zuständigkeit
für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zu
prüfen. Ich habe ja bereits ausgeführt, wo die Probleme
liegen. Ihr Antrag allerdings gibt auf diese Problemstel-
lung keine Antworten, sondern setzt eher noch falsche
Schwerpunkte.

Auch wurden in den vergangenen Jahren bereits meh-
rere gemeinsame „systemübergreifende“ Gremienbe-
schlüsse etwa der Jugend- und Familienministerkonfe-
renz und der Gesundheitsministerkonferenz zur
Gesundheitsförderung und zu einem besseren Kinder-
schutz getroffen. Auch dies berücksichtigen Sie in Ihrem
Antrag leider nicht.

Hinsichtlich Ihrer Forderungen nach einer besseren
Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule weise ich
Sie darauf hin, dass die Bundesregierung bereits seit
mehreren Jahren Modellprojekte zu dieser Thematik för-
dert. Auch das Konzept der regionalen bzw. lokalen Bil-
dungslandschaften entstand in diesem Kontext. Im Übri-
gen müssten Sie eigentlich wissen, dass für den
Schulbereich die Länder zuständig sind.

Ich halte fest: Der aktuelle Kinder und Jugendbericht
bestätigt die Politik der christlich-liberalen Koalition in
vielen Bereichen eindrucksvoll. Ihr Antrag, meine sehr
geehrten Damen und Herren von den Grünen, enthält
zum Großteil Forderungen, die längst angegangen wur-
Zu Protokoll
den. Der Antrag bringt uns im Ringen für ein besseres
Aufwachsen der Kinder keinen Schritt weiter. Meine
Fraktion wird ihn daher ablehnen.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1708138400

Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregie-

rung „Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen, ge-
sundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförde-
rung in der Kinder- und Jugendhilfe“ stellt die
gesundheitliche Situation und Prävention für Kinder
und Jugendliche in den Mittelpunkt. Der Antrag der
Grünen hierzu deckt sich an vielen Stellen mit dem be-
reits vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion „Gesundes
Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern“.

Ich möchte mich besonders auf einen Punkt konzen-
trieren, der sowohl in unserem Antrag als auch dem An-
trag der Grünen eine zentrale Rolle spielt: Es handelt
sich um das Prinzip der Inklusion. Inklusion heißt: Nicht
mehr der Mensch mit besonderen Bedürfnissen, etwa mit
einer Behinderung, ein sozial benachteiligter Mensch,
ein Mensch mit Migrationshintergrund oder auch eine
Person mit einer Hochbegabung, muss sich der Gesell-
schaft anpassen, wie dies bei der Integration der Fall
ist. Vielmehr muss sich die Gesellschaft mit ihren Struk-
turen den individuellen Bedürfnissen aller Menschen
anpassen. Eine inklusive Gesellschaft bezieht alle Men-
schen mit ihren Bedürfnissen von Anfang an ein und
grenzt gar nicht erst aus. Individualität und Vielfalt der
Menschen werden anerkannt und wertgeschätzt.

Inklusion ist nicht nur eine Forderung des 13. Kinder-
und Jugendberichts, sie ist auch das zentrale Anliegen
der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese trat in
Deutschland am 26. März 2009 in Kraft. Sie ist gelten-
des deutsches Recht und muss umgesetzt werden.

Mit der Umsetzung von Inklusion ergeben sich kon-
krete Veränderungen für das Aufwachsen von Kindern
und Jugendlichen.

Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht auf
gemeinsames und gesundes Aufwachsen. Krippen, Kin-
dertageseinrichtungen und Schulen dürfen nicht ausson-
dern, alle Kinder haben das Recht, gemeinsam zu ler-
nen. Jedem Kind muss individuelle Förderung zur
Verfügung gestellt werden. Kindertageseinrichtungen,
Schulen und Lehrkräfte müssen durch Fortbildung und
Begleitung bei der Umsetzung des inklusiven Bildungs-
anspruchs unterstützt werden. Lehramtsstudiengänge
müssen an die Anforderungen inklusiver Bildung ange-
passt werden. Barrierefreiheit bei allen Neu- und Um-
bauten versteht sich von selbst.

Das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen
muss so gestaltet sein, dass sie ihr Bedürfnis nach Bewe-
gung, Spiel und Sport ausleben können. Um ein bewe-
gungsfreundliches und gesundes Wohnumfeld zu schaf-
fen, müssen soziale Stadtentwicklung und Gesundheits-
förderung stärker verknüpft werden.

Die enormen Streichungen der schwarz-gelben Re-
gierung beim Programm „Soziale Stadt“ sind unverant-
wortlich. Gerade auf dem Gebiet der gesundheitlichen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9103
gegebene Reden

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)

Präventionsarbeit im Sozialraum leisten Quartierma-
nage-mentteams hervorragende Arbeit.

Gesetzlicher Handlungsbedarf besteht bei der
Schnittstellenproblematik zwischen Sozialhilfe – SGB
XII – und Kinder- und Jugendhilfe – SGB VIII. Kinder
und Jugendliche mit einem erzieherischen oder einem
behinderungsspezifischen Bedarf, der aus einer seeli-
schen Behinderung resultiert, sind dem SGB VIII zuge-
ordnet, während für Kinder und Jugendliche mit einer
körperlichen oder geistigen Behinderung das SGB XII
einschlägig ist. Aufgrund dieser Schnittstellenproblema-
tik kommt es immer wieder zu Zuständigkeitsstreitigkei-
ten und Reibungsverlusten.

Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben
aber – unabhängig von der Art und Schwere ihrer Be-
hinderung – Bedürfnisse, wie sie jedes Kind entwickelt.
Es ist daher vor allem aus Kindersicht sinnvoll, alle
Leistungen für Kinder unter dem Dach der Kinder- und
Jugendhilfe zusammenzufassen – „Große Lösung“.

Auch aus der Sicht der inklusiven Perspektive, für die
jedes Kind ungeachtet seiner Behinderungen oder be-
sonderen Bedürfnisse gleich wertvoll ist und individuell
gefördert werden muss, macht nur diese „Große Lö-
sung“ Sinn. Darüber hinaus bin ich für die Prüfung ei-
ner noch umfassenderen „Großen Lösung“, die nicht
nur die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in das
SGB VIII transferiert, sondern auch die anderen Sys-
teme – das Schul-, das Gesundheits- und das Jugendhil-
fesystem – mit Blick darauf einbezieht, ob das jeweilige
Leistungssystem dem inklusiven Ansatz gerecht wird.

Eine weitere Schnittstellenproblematik ergibt sich bei
der Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe mit
dem Gesundheitswesen. Der 13. Kinder und Jugendbe-
richt beschreibt als wichtiges Ziel, Kinder- und Jugend-
hilfe mit den verschiedenen Akteuren des öffentlichen
und privaten Gesundheitswesens enger zu verzahnen,
damit gesundheitsbezogene Prävention und Gesund-
heitsförderung im Kinder- und Jugendalter besser gelin-
gen kann. Alle mit Kindern und jugendlichen arbeiten-
den Stellen müssen sich besser vernetzen.

Alle politischen Ebenen sind gefordert, Lücken bei
der Förderung eines gesunden Aufwachsens, bei der
Vernetzung von Strukturen und bei der Etablierung von
Maßnahmen für frühe Förderung und für frühe Hilfen
aufzudecken und zu schließen.

Kinder und Jugendliche sind nach Art. 12 der UN-
Kinderrechtskonvention bei allen sie betreffenden Maß-
nahmen entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife zu be-
teiligen. Politik für Kinder und Jugendliche und mit Kin-
dern und Jugendlichen ist ein sich ständig verändernder
Prozess hin zu einer kindergerechteren Gesellschaft. Wir
haben auf diesem Weg schon viel erreicht, aber es gibt
auch noch viel zu tun. Wir fordern deshalb die Fort-
schreibung des Nationalen Aktionsplans für ein kinder-
gerechtes Deutschland 2005 bis 2010, den die Bundes-
regierung leider gerade mit einer fachlich guten Ab-
schlussveranstaltung zu Grabe getragen hat. Ich kann
nicht verstehen, warum man diesen Aktionsplan mit sei-
nen vielen sehr guten Ansätzen und bereits gewachsenen
Zu Protokoll
Strukturen, auch bei den Kindern und Jugendlichen,
nicht fortführt.

Schließlich ist die deutlichste Wertschätzung aller
Kinder von Anfang an die Verankerung der Kinderrechte
im Grundgesetz. Die Zustimmung für dieses von den
großen Kinderorganisationen mitgetragene Vorhaben
wächst. Ich werde weiter für die Verankerung der Kin-
derrechte im Grundgesetz kämpfen und bitte Sie alle um
Ihre Unterstützung.


Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1708138500

Die heute vorliegende Initiative nimmt Bezug auf den

13. Kinder- und Jugendbericht, dem wir uns im Fami-
lienausschuss mit einer Anhörung und einem Experten-
gespräch sehr ausführlich gewidmet haben. Das war
auch richtig und wichtig. Schließlich wird uns nicht alle
Jahre ein so fundierter Bericht über die Situation von
Kindern und Jugendlichen in unserem Land, diesmal mit
dem Schwerpunkt der Gesundheitsentwicklung und Prä-
vention, zur Verfügung gestellt.

Darüber hinaus handelt es sich um den ersten Kin-
der- und Jugendbericht, der alle Kinder und Jugendli-
chen in den Blick nimmt – auch diejenigen mit Behinde-
rungen gleich welcher Art. Ferner stellt der Bericht die
Schnittstellen zwischen den drei Systemen Kinder- und
Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe
ins Zentrum seiner Untersuchung. Damit haben die be-
teiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Neu-
land betreten. Dafür ist ihnen ausdrücklich zu danken.

Der Bericht hat zum einen zu dem erfreulichen Ergeb-
nis geführt, dass etwa 80 Prozent aller Kinder und Ju-
gendlichen in Deutschland nach wie vor gesund und gut
aufwachsen. Das sollte man zu Beginn festhalten, denn
das gehört – bei allem Verständnis für Kritik – zu einer
ehrlichen Bestandsaufnahme dazu. Allerdings wurde
auch deutlich, dass die soziale Herkunft eines Kindes
auch über seine Gesundheit entscheidet. Kinder finden
sich zunehmend in sozial und gesundheitlich schwieri-
gen Lebenslagen. Dies zu ändern muss Ziel einer verant-
wortungsbewussten Politik sein. Auch in anderen Berei-
chen enthält der 13. Kinder- und Jugendbericht den
einen oder anderen hilfreichen Fingerzeig. Diese Hin-
weise sollten alle staatlichen Ebenen beachten und in
ihr Handeln einfließen lassen. Die Bundesregierung
wird dies, wo sie zuständig ist, tun.

Der zum Bericht vorliegende Antrag der Grünen ent-
hält einige gute Ansätze. Über diese, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, kommt er jedoch nicht hi-
naus. Sie bemängeln einen angeblichen Flickenteppich
von Projekten und Modellprogrammen und fordern zu-
gleich in Ihrem Antrag ein neues Modellprogramm, dass
die Vernetzung von Bildungseinrichtungen und Jugend-
hilfe verbessern soll. Dabei konterkarieren Sie damit
nicht nur ihre eigenen Ausführungen, sondern ver-
schweigen, dass diese Regierung zum Beispiel mit dem
Programm „Bildungsketten“ und dem Programm „Ju-
gend Stärken“ bereits zusätzliche Anstrengungen unter-
nimmt, um jungen Menschen bei der Erlangung eines
Schulabschlusses sowie dem Übergang von Schule in
Ausbildung zu helfen.
9104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

Mit dem Programm „Bildungsketten“ beispielsweise
wollen wir bundesweit lerngefährdeten Hauptschülerin-
nen und Hauptschülern zu einem Schulabschluss und ei-
nem Einstieg in eine Ausbildung verhelfen. Gedacht ist
an 30 000 Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7, die
nach einem Kompetenztest individuell betreut und dann
in Betriebe vermittelt werden sollen.

Schon heute arbeiten 1 000 von der Bundesagentur
für Arbeit finanzierte Fachleute als Bildungslotsen und
betreuen etwa 20 000 Schülerinnen und Schüler. Hierzu
sollen in den nächsten Jahren weitere 1 000 vom Bun-
desministerium für Bildung und Forschung finanzierte
Berater hinzutreten. Das lässt sich der Bund rund
755 Millionen Euro bis 2018 kosten.

Schön einfach machen Sie es sich, wenn Sie eine bes-
sere Vernetzung und ein besseres Schnittstellenmanage-
ment zwischen den Akteuren der Kinder- und Jugend-
hilfe fordern. Die Erkenntnis, dass gerade bei Kindern
und Jugendlichen mit körperlichen und geistigen Ein-
schränkungen ein erhöhter Abstimmungsbedarf zwi-
schen dem SGB VIII – Kinder und Jugendhilfe – und
dem SGB XII – Sozialhilfe – besteht und Schnittstellen-
probleme zwischen den verschiedenen Regelungssyste-
men existieren, ist aber alles andere als neu.

Über mögliche Lösungen dieser Schnittstellenpro-
bleme – Stichwort „Große Lösung“ – diskutiert man
politisch wie wissenschaftlich seit über einem Jahrzehnt.
Während der Regierungszeit von Rot-Grün hat sich hier
übrigens nichts bewegt. Daher sollten Sie ehrlich sein
und dieser Regierung, gerade bei diesem komplexen
Thema, zugestehen, gründlich und strukturiert zu arbei-
ten. Indem Sie das gesamte Thema Inklusion in einem
Punkt Ihres Antrages kurz abfertigen, werden Sie der
Sache nicht gerecht, denn es müssen hier viele Punkte
bedacht werden.

Prinzipiell sprechen wir über zwei Lösungsoptionen:
Erstens, die Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche
mit und ohne Behinderung wird unter dem Dach der
Kinder- und Jugendhilfe über eine entsprechende
Neufassung des § 35 a SGB VIII zusammengefasst oder,
zweitens, die Sozialhilfe erhält wieder die Alleinzustän-
digkeit über alle behinderungsbedingten Hilfen für Kin-
der und Jugendliche mit Behinderung. Beide Lösungs-
ansätze haben ihre Vor- und Nachteile. Bei beiden sind
etliche Fragen wie die Ausgestaltung der Kostenbeteili-
gung, die Bedarfsfeststellung und Leistungssteuerung
oder die Angleichung der Rechtsanspruchsvorausset-
zungen zweier bis dato unterschiedlicher Systeme zu
klären. Das braucht Zeit.

Gerade deshalb will ich uns allen, insbesondere der
Opposition, die dieser Tage mit so mancher Forderung
und manchem Versprechen schnell bei der Hand ist,
noch einmal eine zentrale Aussage aus der Anhörung
des 13. Kinder- und Jugendberichts in Erinnerung ru-
fen: Die Experten haben unisono erklärt, dass eine Be-
seitigung dieser Schnittstelle wahrscheinlich nur in
einem Prozess über mehrere Stufen und Jahre zu be-
werkstelligen sein wird. Ein Hauruck-Verfahren würde
mehr Schaden anrichten als nützen. Und vor allem wa-
ren sich alle Experten einig, dass man dieses Thema
Zu Protokoll
nicht zur politischen Profilierung nutzen sollte, um den
schwierigen Abstimmungsprozess zwischen Kommunen,
Ländern und Bund nicht unnötig durch parteipolitisches
Fingerhakeln zu erschweren. Nicht zuletzt müsste auch
die Reform der Kommunalfinanzen bei dieser schwieri-
gen Reform mit bedacht werden. Wenn sich das alle zu
Herzen nehmen würden, wäre, glaube ich, schon viel ge-
wonnen.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708138600

„Die Bundesregierung will die Rahmenbedingungen

für das Aufwachsen der nachfolgenden Generationen
weiter verbessern. Dazu gehört auch das soziale, psy-
chische und physische Wohlbefinden von Kindern und
Jugendlichen. Die bestmögliche Förderung der Gesund-
heit ist dabei ein zentrales Anliegen der Bundesregie-
rung.“ Dies sind die einleitenden Worte aus der Stel-
lungnahme der Bundesregierung zum XIII. Kinder- und
Jugendbericht. In diesem Bericht ging es um Chancen
für ein gesundes Aufwachsen und um die dafür notwen-
digen politischen Maßnahmen und Initiativen. Was aber
macht die Bundesregierung, um das große Ziel einer
bestmöglichen Förderung zu erreichen? Spiegelt es sich
wirklich im politischen Handeln wider?

Es ist in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen
Studien nachlesbar, es wurde in der Fachanhörung zu
besagtem Bericht von mehreren Sachverständigen be-
tont, und es wird durch einen Blick in unsere Schulen
und Kitas eines sehr schnell deutlich: Gesundheit und
Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen hängen in
extrem hohem Maße mit ihren gesellschaftlichen Teilha-
bemöglichkeiten zusammen. Die Lebensbedingungen,
unter denen Kinder aufwachsen, beeinflussen ihre kör-
perliche, psychische und soziale Entwicklung. Nicht erst
seit Vorliegen des Kinder- und Jugendberichtes ist be-
kannt, dass soziale Benachteiligung und Armut mit ge-
sundheitlichen Belastungen verbunden sind. In Deutsch-
land leben über 3 Millionen Kinder in Armut oder sind
akut von Armut bedroht, 3 Millionen Kinder, deren
Wohlbefinden offenkundig nicht zum zentralen Anliegen
der Bundesregierung gehört. Die Politik von Familien-
ministerin Schröder und Arbeitsministerin von der
Leyen müsste sich also insbesondere auf diese Gruppe
von Kindern und Jugendlichen konzentrieren oder sie
zumindest im Fokus haben. Vor allem Frau von der
Leyen hätte viele Möglichkeiten gehabt, auch für diese
Kinder bessere Chancen auf ein gesundes Aufwachsen
zu schaffen. Sie hätte in der letzten Legislaturperiode
eine Kinderzuschlagsreform initiieren können, um aus
dieser Leistung ein wirksames Instrument zur Kinderar-
mutsbekämpfung zu machen. Stattdessen hat sie Stück-
werk betrieben und kaum spürbare Verbesserungen vor-
genommen. Sie hätte weiterhin, statt nur das Kindergeld
um 10 Euro zu erhöhen, auch die Familien und deren
Kinder finanziell besser stellen können, bei denen diese
Erhöhung nicht angekommen ist, also bei denen, die von
ALG II leben müssen.

In ihrem neuen Ressort, dem Ministerium für Arbeit
und Soziales, aber hätte sie eigentlich den ganz großen
Wurf im Kampf gegen die Kinderarmut machen können,
indem sie den Rüffel des Bundesverfassungsgerichtes
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9105
gegebene Reden

Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)

ernsthaft umgesetzt hätte. Stattdessen aber legte sie eine
Reform der Hartz-IV-Regelsätze vor, in der der Kinder-
regelsatz weder eigenständig berechnet noch kindge-
recht und erst recht nicht gesundheitsfördernd ist.

Die neue Familienministerin schloss geradezu naht-
los an diesen Politikansatz an. Kinderarmut ist im
Hause Schröder inzwischen gar kein Thema mehr, Fami-
lien im ALG-II-Bezug wird das Elterngeld gestrichen,
und die Erhöhung des Kinderfreibetrages wird gefeiert,
als wäre es eine politische Errungenschaft und nicht die
notwendige Schlussfolgerung aus einer weiteren Kin-
dergelderhöhung. Wer angesichts einer solchen Politik
dann behauptet, über frühe Hilfen und Familienhebam-
menprogramme einen wichtigen Beitrag zum gesunden
Aufwachsen zu leisten, scheint entweder nichts zu ver-
stehen oder eine offensichtliche Klientelpolitik für Bes-
serverdienende etablieren zu wollen. Wer es mit einer
bestmöglichen Förderung der Gesundheit aller Kinder
ernst meint, schafft gesellschaftliche Rahmenbedingun-
gen, die alle Kinder einbeziehen.

Die Gesundheitspolitik kann die sozial bedingten ge-
sundheitlichen Ungleichheiten nicht im Alleingang
wirksam bekämpfen. Diese Ungleichheiten aber werden
nicht bekämpft. Stattdessen wachsen sie in allen Bevöl-
kerungsgruppen. Besonders bei Kindern und Jugendli-
chen hat dies fatale Folgen, da diese Ungleichheit sich
in der Zeit des Heranwachsens besonders negativ auf
die Entwicklung und die Zukunft dieser Kinder auswirkt.
Wenn man aber anerkennt, dass die Einflüsse des Ar-
beitsmarktes, der Einkommensverteilung, der Leistungs-
fähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und der Bil-
dungspolitik auf die Gesundheit so enorm sind, erkennt
man, dass gesundheits- und präventionspolitische An-
sätze allenfalls Akzente setzen können. Um die Chancen,
Ressourcen und damit auch die gesundheitliche Situa-
tion der Bevölkerung und insbesondere der Kinder und
Jugendlichen entscheidend positiv zu beeinflussen, ist
eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik erforderlich,
die über die klassische Aufgabenstellung der Gesund-
heitspolitik hinausgeht und alle Politikbereiche umfasst.
Ein solch umfassender Politikansatz aber ist im Regie-
rungshandeln nicht erkennbar.

Die Linke teilt die gesundheitspolitischen Ansätze,
die im Antrag der Grünen stehen. Was aus unserer Sicht
fehlt, sind die Bezüge zu gesamtgesellschaftlichen Pro-
zessen und zu daraus erwachsenden politischen Maß-
nahmen. Eine Stärkung der Jugendhilfe als wichtiges In-
strument im Bereich der Prävention, eine Verbesserung
der Bildungslandschaft, die allen Kindern gleichen Zu-
gang gewährt, die Rolle einer qualitativ hochwertigen
Kinderbetreuung und nicht zuletzt die Bekämpfung der
Kinderarmut durch die Schaffung einer existenzsichern-
den Grundsicherung für Kinder und die Bekämpfung der
Familienarmut durch einen gesetzlichen Mindestlohn
sind Forderungen, die auch in diese Debatte gehören.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708138700

Was sind die zentralen gesundheitsbezogenen Fakto-

ren und Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von
Kindern und Jugendlichen in der heutigen Zeit? Der
Zu Protokoll
13. Kinder- und Jugendbericht gibt Antworten, zeigt
Problembereiche auf und stellt gleichzeitig klar, dass die
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen weitrei-
chende Bezüge über den Kontext medizinischer Pro-
blemstellungen hinaus hat.

Dieser 13. Kinder- und Jugendbericht ist einzigartig in
mehrfacher Hinsicht: Erstmals werden alle Kinder und
Jugendlichen in Deutschland, mit und ohne Behinderun-
gen, in den Blick genommen. Erstmals werden im Kinder-
und Jugendbericht die Schnittstellen zwischen Kinder-
und Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Behindertenhilfe
berücksichtigt. Erstmals werden richtungsweisende Kon-
zepte wie Salutogenese und Befähigungsgerechtigkeit als
Basis für eine gelingende Gesundheitsförderung nutzbar
gemacht.

Es ist gut, die Situation der Kinder und Jugendlichen
durch Kinder- und Jugendberichte regelmäßig in den
Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte zu stellen.
Aber ich möchte kritisch festhalten: Dieser Bericht hätte
schon in der letzten Wahlperiode diskutiert werden müs-
sen, denn so lange liegt er bereits vor. Viel Zeit ist ins
Land gegangen, ohne dass Ergebnisse reflektiert, kri-
tisch diskutiert oder tragfähige Konzepte entwickelt
wurden.

Umso wichtiger ist es, jetzt genau dies und noch mehr
zu tun. Es reicht längst nicht mehr, den Sachstand der
Fachdiskussion wiederzugeben. Der Bericht sagt ganz
klar: Es gibt großen Nachholbedarf bei der Gesund-
heitsprävention, es gibt Versorgungsbrüche zwischen
den Systemen und zu viele Projekte und zu wenig inte-
grierte Regelangebote. Die Bundesregierung ist in der
Pflicht, diesen Prozess in Gang zu setzen. In unserem
Antrag gibt es Vorschläge, wie zu verfahren ist und wel-
che Konsequenzen gezogen werden müssen.

Positiv ist: Den meisten Kindern in Deutschland geht
es gut. Aber es muss uns alarmieren, dass Kinder und
Jugendliche, die auch in anderen Bereichen abgehängt
sind, auch im Gesundheitsbereich Nachteile haben. Bei-
spielsweise Kinder mit Behinderungen, Jugendliche mit
Migrationshintergrund oder Kinder mit Traumaerfah-
rung. Gerade da besteht Handlungsbedarf.

So gibt es zum Beispiel schon seit einigen Jahren die
kontrovers geführte Diskussion darüber, alle Leistun-
gen für alle Kinder und Jugendlichen im SGB VIII zu
konzentrieren und Synergieeffekte zu nutzen, die soge-
nannte Große Lösung. Angeregt hat die Bundesregie-
rung in ihrer Stellungnahme genau diese einheitliche
Verantwortung für alle Kinder und Jugendlichen in der
Zuständigkeit der Jugendhilfe. Die ist angesichts der
vor einem Jahr ratifizierten UN-Behindertenrechtskon-
vention auch nur konsequent. Denn Kinder sind vor al-
lem Kinder und nicht Behinderte oder Nicht-Behinderte.
Was ist in den 19 Monaten seit Veröffentlichung der Stel-
lungnahme passiert, wie viele Ressourcen haben die zu-
ständigen Ministerien in die Erarbeitung von Lösungs-
vorschlägen investiert? Wenig bis nichts.

Problematische Gesundheitsentwicklungen bei jun-
gen Menschen sind gekennzeichnet durch eine deutliche
Zunahme chronischer und psychosomatischer Erkran-
9106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9107

Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

kungen und Entwicklungsstörungen. Die Frage nach
Ursachen und vor allem auch nach möglichen wirksa-
men Strategien zur Vorsorge rückt viel zu oft in den Hin-
tergrund. Genau darum muss es aber gehen, wenn wir
Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Jugend-
lichen verbessern wollen. Folgerichtig fordert der Kin-
der- und Jugendbericht insbesondere eine Verbesserung
des Zusammenwirkens der drei Systeme Kinder- und Ju-
gendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe ein.
Er macht auch deutlich, dass es zwar gute Konzepte zur
Prävention und Gesundheitsförderung gibt, die beste-
henden Angebote jedoch in der Praxis nicht ausreichend
und befriedigend miteinander koordiniert und abge-
stimmt sind. Deswegen bleiben sie hinter ihren Möglich-
keiten zurück.

Wie unterstützt die Bundesregierung beispielsweise
die Etablierung des Setting-Ansatzes für den Kita-Be-
reich, um gesundheitsfördernde Ressourcen zu identifi-
zieren und zu stärken? Über die Schaffung gesundheits-
gerechter Verhältnisse könnte die gesundheitliche
Situation der Kinder und Eltern nachhaltig verbessert
werden. Möglich wäre, unter aktiver Einbeziehung aller
Beteiligten die jeweiligen Gesundheitspotenziale im
Kita-Bereich zu ermitteln und im Setting einen Prozess
geplanter organisatorischer Veränderungen anzuregen.
Doch die Ministerin ist Antworten schuldig geblieben.

Bund, Länder und Kommunen tragen gemeinsam die
Verantwortung für das gesunde Aufwachsen von Kin-
dern und Jugendlichen. Ein erster Schritt, dieser Verant-
wortung für das gesunde Aufwachsen gerecht zu werden,
könnte die Einrichtung eines koordinierten Bund-Län-
der-Arbeitskreises sein, der eine gesundheitsförderliche
Gesamtstrategie für Kinder und Jugendliche entwickelt
und umsetzt.

Die Kinder- und Jugendhilfe kann und soll nicht ge-
sundheitliche Präventionsaufgaben des Gesundheitssys-
tems übernehmen. Aber sie braucht kontinuierliche An-
gebote, fachliche Standards und Evaluation der Praxis.
Eine gesundheitsfördernde Gesamtstrategie, die die
Potenziale der Jugendhilfe nutzt und stärkt, ist längst
überfällig. Dieser Aufgabe muss sich die Bundesregie-
rung endlich ernsthaft widmen. Vielen Dank.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708138800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3863 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen des Europarats vom
16. Mai 2005 zur Verhütung des Terrorismus

– Drucksache 17/3801 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/4124 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Sebastian Edathy
Jörg van Essen
Raju Sharma
Jerzy Montag

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Patrick Sensburg, Sebastian
Edathy, Jörg van Essen, Ulla Jelpke, Jerzy Montag.


Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1708138900

Heute beschließen wir in zweiter und dritter Lesung

das Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom
16. Mai 2005 zur Verhütung des Terrorismus. Damit
schaffen wir die gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG notwe-
nigen Voraussetzungen, damit die Bundesrepublik
Deutschland dieses Übereinkommen ratifizieren kann.
Dieses im Oktober 2006 unterzeichnete Abkommen ist
bereits zum 1. Juni 2007 in Kraft getreten und bedarf
nun noch unserer Zustimmung. Ich begrüße die Ankün-
digung der SPD-Fraktion, hier gemeinsam mit den
Fraktionen der christlich-liberalen Koalition diesem
Gesetz zuzustimmen. Und es spricht für sich, dass die
Linke als einzige Fraktion dieses Hauses diesem Gesetz
nicht zustimmen möchte. Damit beweist die Linkspartei
erneut, dass ihr der Schutz unserer Bürgerinnen und
Bürger vor terroristischen Anschlägen offensichtlich
nicht wichtig ist. Das Abkommen wurde bereits sowohl
von einigen unserer Nachbarländer wie Frankreich, Ös-
terreich und Polen ratifiziert. Selbst Russland hat das
Übereinkommen ratifiziert. Nur die Linken sind – mal
wieder – dagegen.

Das Übereinkommen zur Verhütung des Terrorismus
ist ein weiterer Baustein im Bereich der Prävention von
Terrorismus. Neben den vielen nationalen Anstrengun-
gen zur Terrorismusbekämpfung und den Maßnahmen
im Rahmen der Europäischen Union hat sich damit auch
die älteste paneuropäische Organisation mit seinen
47 Mitgliedstaaten ein weiteres Mal diesem wichtigen
Ziel für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger
verschrieben. Das ist nachdrücklich zu unterstützen.
Gerade letztes Wochenende mussten die Menschen in
Stockholm erleben, wie real und wie nah die Bedrohung
insbesondere durch den islamistischen Terrorismus ist.
Auch deutsche Staatsbürger sind bereits Opfer von isla-
mistischen Terrorakten geworden. Und auch wenn bei
uns in Deutschland bislang noch kein Anschlag Opfer
gefordert hat, haben wir Grund zur erhöhten Wachsam-
keit. Aktuell mussten die Sicherheitsvorkehrungen er-
höht werden.

Alle Maßnahmen, die im Einklang mit unserer frei-
heitlich-demokratischen Rechtsordnung einen Beitrag
zur Verhütung von Terrorismus leisten, sollten daher un-
sere Unterstützung erhalten. Dabei ist klar: Als Antwort
auf den globalen Terrorismus reichen nationale Instru-
mente zur Prävention allein nicht aus. Wir brauchen
hier eine starke internationale Zusammenarbeit im Rah-
men der EU, der NATO, der Vereinten Nationen und
eben auch des Europarates sowie weiterer internationa-
ler Organisationen wie der OSZE.

Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

Das Übereinkommen zielt inhaltlich auf eine bessere
Prävention von Terrorismus ab, wobei menschenrechtli-
che, demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze na-
türlich gewahrt bleiben müssen. Im Kern verlangt es da-
bei von den Vertragsparteien wirksame Maßnahmen, um
die Durchführung terroristischer Aktivitäten und Atten-
tate zu verhindern. Das betrifft zum einen innerstaatli-
che Maßnahmen wie die Aus- und Weiterbildung der
Strafverfolgungsbehörden sowie die bessere Zusammen-
arbeit innerstaatlicher Behörden. Zum anderen betrifft
dies die internationale Zusammenarbeit, zum Beispiel in
Bezug auf den gegenseitigen Austausch von Informatio-
nen.

Darüber hinaus werden die Vertragsparteien ver-
pflichtet, konkrete Handlungen, die im Vorfeld eines Ter-
roranschlages durchgeführt werden, unter Strafe zu stel-
len, wenn diese rechtswidrig und vorsätzlich begangen
werden. Dazu gehört zunächst nach Art. 5 der Überein-
kunft die öffentliche Aufforderung zur Begehung einer
terroristischen Straftat. Dabei reicht der Vorsatz, andere
Personen zu einem Terroranschlag anzustiften, aus –
und zwar unabhängig davon, ob dabei terroristische
Straftaten unmittelbar befürwortet werden. In Art. 6
werden die Vertragsparteien verpflichtet, das Anwerben
von Personen zur Durchführung von Terroranschlägen
unter Strafe zu stellen. Schließlich wird in Art. 7 festge-
halten, dass auch die Ausbildung für terroristische Zwe-
cke unter Strafe gestellt werden muss. Das Übereinkom-
men verfolgt damit das Ziel, in allen 47 dem Europarat
zugehörigen Staaten die öffentliche Provokation von
Terrorakten sowie die Rekrutierung und die Ausbildung
von Terroristen unter Strafe zu stellen.

Neben dieser Verpflichtung zur Schaffung der ge-
nannten Straftatbestände verlangt das Übereinkommen
zudem eine verstärkte Zusammenarbeit der Vertragspar-
teien in der nationalen wie internationalen Präventions-
politik. Bestehende Regelungen im Bereich des Ausliefe-
rungsrechts sowie der Rechtshilfe in Strafsachen sollen,
wo dies notwendig ist, wirksam angepasst werden.

Besonders erfreulich ist, dass im Übereinkommen
auch die Opferperspektive berücksichtigt wurde. Art. 13
fordert die Vertragsparteien auf, den Schutz, die Ent-
schädigung und die Unterstützung von Opfern des Ter-
rorismus in ihrem innerstaatlichen Recht zu implemen-
tieren. Damit bekennt sich die Gemeinschaft der im
Europarat vertretenen Staaten zu ihrer Verantwortung
auch für die Leidtragenden von Terroranschlägen.

Die Präventionspolitik zur Verhütung von Terroris-
mus lebt nicht nur davon, dass sie eine möglichst breite
internationale Verankerung besitzt, sondern auch von
der Bereitschaft, vorhandene Regelungen regelmäßig zu
überprüfen und, wenn notwendig, den aktuellen Ent-
wicklungen anzupassen. Es ist daher positiv zu bewerten,
dass in Art. 30 des Übereinkommens auch ein Konsulta-
tionsprozess vorgesehen ist, der die effektive Umsetzung
der getroffenen Vereinbarung sowie die Weiterentwick-
lung sicherstellen soll. Damit ist gewährleistet, dass die
Vertragsparteien neue Entwicklungen im Rahmen dieses
Übereinkommens berücksichtigen können.
Zu Protokoll
Die Aktivität des Europarates im Bereich der Vorbeu-
gung von Terrorismus wird übrigens gerade in diesen
Tagen wieder sichtbar. Im Rahmen des türkischen Vor-
sitzes treffen sich heute und morgen zahlreiche interna-
tionale Experten in Istanbul zu einer Konferenz, um über
Präventionsmittel, Rechtsinstrumente und deren Umset-
zung zu beraten. Ein solcher Austausch liegt in unserem
ureigensten Interesse, da nur so Informationen, Erfah-
rungen, Ideen und innovative Ansätze allen Vertragspar-
teien zur Verfügung gestellt werden und dadurch unser
aller Sicherheit gestärkt wird.

Aufgrund der hohen Relevanz präventiver Maßnah-
men zur Abwehr terroristischer Vorhaben rufe ich alle
Mitglieder des Deutschen Bundestages auf, durch eine
Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bun-
desregierung den Weg für eine Ratifizierung dieses
Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutsch-
land frei zu machen.


Sebastian Edathy (SPD):
Rede ID: ID1708139000

Am 24. Oktober 2006 unterzeichnete die damalige

Bundesregierung das Übereinkommen des Europarats
zur Verhütung des Terrorismus. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf soll nun durch Beschlussfassung des
Bundestages die Grundlage für die Ratifizierung des
Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutsch-
land gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG geschaffen werden.

Die Umsetzung der in diesem Übereinkommen festge-
legten Maßnahmen zur Prävention terroristischer Akte
sowie der strafrechtlichen Ahndung ihrer Vorbereitung
erfolgte in Deutschland weitestgehend schon vor der
nun anstehenden Ratifizierung. So wurden während der
16. Legislaturperiode bestehende Regelungslücken von
der Großen Koalition geschlossen. Besonders zu erin-
nern ist hierbei an das Gesetz zur Verfolgung der Vorbe-
reitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten
vom 28. Mai 2009, welches die Vorgaben des Überein-
kommens maßgeblich abgedeckt hat, sofern diese nicht
schon ohnehin geltendes deutsches Recht gewesen sind.

Die Gefahren, mit denen offene Gesellschaften wie
die unsere durch die Aktivitäten international agieren-
der Terrornetzwerke verstärkt ausgesetzt sind, sorgen in
der Öffentlichkeit immer wieder für Beunruhigung. Die
Politik ist daher in der Pflicht, dieser permanent gege-
benen abstrakten Bedrohung ein größtmögliches Maß
an öffentlicher Sicherheit entgegenzusetzen. Die Kunst
besteht hierbei darin, der Versuchung zu widerstehen,
sich selbst wie auch der Bevölkerung suggerieren zu
wollen, dass es durch immer mehr und schärfere Gesetze
so etwas wie eine staatliche Sicherheitsgarantie für alle
Bürgerinnen und Bürger geben könne. Mehr als einmal
musste der sozialdemokratische Teil der damaligen Bun-
desregierung die Unionsparteien an die Notwendigkeit
dieser Selbstbeschränkung erinnern.

Ergebnis der Arbeit in der Großen Koalition waren
am Ende eine Reihe von Gesetzesnovellen, die meines
Erachtens den schwierigen Spagat zwischen der Ge-
währleistung öffentlicher Sicherheit einerseits und des
Grundrechtsschutzes andererseits gemeistert haben. Sie
entsprechen damit den Zielen des Übereinkommens des
9108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Sebastian Edathy


(A) (C)



(D)(B)

Europarates. Dieses sieht nämlich neben den Bestim-
mungen zur Verhütung und Verfolgung terroristischer
Straftaten auch vor, rechtsverbindliche Festlegungen be-
stimmter Mindeststandards zum Schutz terrorverdächti-
ger Personen zu schaffen. Diese im Übereinkommen ge-
nannten Mindeststandards, die in den Abs. 3 bis 5 des
Art. 15 aufgeführt sind, betreffen im innerstaatlichen
deutschen Recht vor allem die Strafprozessordnung.
Hierbei gibt es vor der Ratifizierung des Übereinkom-
mens meines Erachtens noch Ergänzungsbedarf hin-
sichtlich der Rechtsstellung staatenloser Personen, die
sich einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Terrorver-
dachts ausgesetzt sehen.

In Art. 15 Abs. 3 Buchstabe a des Übereinkommens
wird festgelegt, dass staatenlosen Personen, die ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in einen bestimmten Land ha-
ben, den gleichen Zugang zu Vertretern dieses Staates
eingeräumt werden muss wie den Staatsangehörigen des
jeweiligen Landes. Die Buchstaben b und c regeln das
Besuchsrecht der Vertreter des Heimatstaates bei den
Verdächtigen sowie die Pflicht der Vertragspartei, die
Verdächtigen über ihre Rechte nach a und b zu informie-
ren. Auch hier gilt beides analog für staatenlose Perso-
nen. Die entsprechende Rechtsnorm in der deutschen
Strafprozessordnung, der § 114 b Abs. 2 Satz 3 StPO,
sieht allerdings nur das Recht auf konsularische Vertre-
tung für ausländische Staatsangehörige vor. Nun sind
staatenlose Personen zweifelsfrei Ausländer, können
aber aufgrund der fehlenden Staatsangehörigkeit nach
§ 114 b in Deutschland bisher keinerlei offizielle Vertre-
tung in Anspruch nehmen.

Der Bundesrat hat im Rahmen der ersten Beratung
des vorliegenden Gesetzentwurfs in seiner Stellung-
nahme vom 15. Oktober 2010 bereits eine diesbezüg-
liche Prüfbitte im Zuge des weiteren Gesetzgebungs-
verfahrens formuliert. Den in dieser Stellungnahme
diesbezüglich geäußerten Bedenken des Bundesrates
schließe ich mich an, da ich aus oben genannten Grün-
den die Notwendigkeit zur Ergänzung des § 114 b StPO
für unerlässlich halte. Um den Vorgaben des Europarats
in vollem Umfang gerecht zu werden, sollte diese Lücke
in der StPO entsprechend den Formulierungen in Art. 15
Abs. 3 des zu ratifizierenden Übereinkommens geschlos-
sen werden.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1708139100

Das Europäische Übereinkommen zur Verhütung des

Terrorismus aus dem Jahr 2005 ist im Jahr 2007 in Kraft
getreten. Es verlangt von den Vertragsparteien wirk-
same Maßnahmen, um die Begehung terroristischer
Straftaten zu verhindern. Dazu sollen vorsätzliche öf-
fentliche Aufforderungen zur Begehung einer terroristi-
schen Straftat sowie die Anwerbung und Ausbildung für
terroristische Zwecke unter Strafe gestellt werden. Das
Übereinkommen ergänzt mit diesen Anforderungen an
die nationalen Rechtsordnungen die bestehenden Terro-
rismuskonventionen der Vereinten Nationen.

Der heute zu beschließende Gesetzentwurf wird die
Voraussetzungen des Grundgesetzes für die Ratifizie-
rung des Übereinkommens herstellen.
Zu Protokoll
Über die Zustimmung zu dem Übereinkommen hinaus
sind keine weiteren Änderungen deutscher Vorschriften
erforderlich. Die letzte Lücke auf diesem Feld wurde mit
dem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schwe-
ren staatsgefährdenden Gewalttaten und der Einfügung
des § 89 a in das Strafgesetzbuch im letzten Jahr ge-
schlossen.

Was die seitens der Länder geäußerte Prüfbitte be-
trifft, so schließen wir uns demgegenüber der Bundesre-
gierung an. Eine Gleichstellung von staatenlosen Perso-
nen mit ausländischen Staatsangehörigen folgt bereits
aus dem Text des Übereinkommens. Eine Änderung der
Strafprozessordnung halten wir daher nicht für ange-
zeigt.

Bei allen zukünftigen Gesetzesvorhaben wird die
FDP-Bundestagsfraktion darauf achten, dass die Be-
kämpfung des Terrorismus mit Augenmerk und Vernunft
erfolgt. Wenn Deutschland infolge der Zustimmung zu
dem hiesigen Abkommen keine Änderungen an seinem
Strafrecht und Strafprozessrecht vornehmen muss, dann
zeigt dies, was wir in Deutschland für ein ausgewogenes
Instrumentarium an Gesetzen haben. Die bestehenden
Vorschriften auch effizient zu nutzen ist weiterhin vor-
derste Pflicht für den Erfolg einer wirksamen Terrorbe-
kämpfung.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708139200

Die Bundesregierung möchte die Zustimmung des

Bundestages zum Übereinkommen des Europarats zur
„Verhütung des Terrorismus“ einholen. Eine solche Zu-
stimmung käme einer Art Selbstverpflichtung nahe, als-
bald noch mehr, noch schärfere „Antiterrorgesetze“ zu
beschließen. Wie bei fast allen Antiterrorabkommen der
letzten Jahre wird hier einmal mehr weit über das Ziel hi-
nausgeschossen. Man kann sich schon sehr genau aus-
malen, wo in naher Zukunft die sogenannten Sicherheits-
politiker noch „Nachbesserungsbedarf“ zum Schließen
angeblicher „Sicherheitslücken“ sehen: Vorratsdaten-
speicherung, Onlineüberwachung usw. lassen grüßen.
Die Kritik der Fraktion Die Linke erstreckt sich vor al-
lem hierauf: Das Übereinkommen beschränkt sich nicht
darauf, konkrete terroristische Handlungen unter Strafe
zu stellen. Im Vordergrund stehen nicht Taten, sondern
es wird weit im Vorfeld des normalen Strafrechts vor al-
lem auf Absichten und Gesinnungen abgestellt. Das
klingt sehr vage und unpräzise – und das ist es auch.

Im Einzelnen: In Art. 5 geht es um die öffentliche Auf-
forderung zur Begehung einer terroristischen Straftat.
Das ist an sich nichts Neues. Doch hier ist schon das
„Zugänglichmachen einer Botschaft“ gemeint, die viel-
leicht – je nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft –
mit dem Vorsatz erfolgt, andere zu Terrorakten anzustif-
ten. Das soll ausdrücklich unabhängig davon gelten,
„ob dabei terroristische Straftaten unmittelbar befür-
wortet werden“. Das Übereinkommen redet wörtlich
von einer „indirekten Aufforderung“. Ausschlaggebend
ist, ob die Gefahr „begründet“ erscheint, dass Terror-
akte begangen werden „könnten“. Das ist eindeutig zu
viel an Wenn, Aber und Vielleicht. Was da konkret übrig
bleibt, wird häufig genug die Willkür staatlicher Ermitt-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9109
gegebene Reden

Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

ler sein, die einen Freibrief erhalten, unliebsame Mei-
nungsäußerungen für terrorverdächtig zu halten.

Von gleichem Geist sind die Bestimmungen in Art. 6
und 7, die „Anwerbung für terroristische Zwecke“ sowie
„Ausbildung für terroristische Zwecke“ bestrafen wol-
len. Unter anderem fehlt jegliche klare Definition.

Damit nicht genug. Art. 9 fordert: Wer andere „an-
weist“, eines dieser vage beschriebenen Delikte zu be-
gehen, soll ebenso bestraft werden. Das heißt: Wenn Sie
jemanden „anweisen“, eine Botschaft zu veröffentli-
chen, die andere wiederum – vielleicht – zu Terrorakten
anstachelt, dann machen Sie sich schon strafbar. Was
„anweisen“ bedeutet, wird nicht verraten. All dies ist so
haltlos, so unbestimmt, so derart um zwei Ecken ge-
dacht, dass am Ende kaum noch einer weiß, ob er sich
nun strafbar macht, wenn er etwa die Presseerklärung
einer umstrittenen Organisation auf seiner Homepage
zitiert. Ist das schon eine indirekte Aufforderung zu wei-
teren Anschlägen?

Einiges von dem, was in diesem Übereinkommen ge-
fordert wird, hat der Bundestag schon im Mai letzten
Jahres beschlossen: etwa die Strafbarkeit des Aufenthal-
tes in sogenannten Terrorcamps; außerdem macht sich
strafbar, wer sich in Fähigkeiten „unterweisen“ lässt,
die zum Begehen einer terroristischen Straftat notwen-
dig sind. Die Linke hat damals schon darauf hingewie-
sen: Es ist eine Sache, Straftaten zu sanktionieren; dazu
gehören auch versuchte und in Ausnahmefällen auch ge-
plante Straftaten. Es ist aber eine andere Sache, das
Strafrecht auf einen Bereich auszudehnen, wo überhaupt
keine konkreten Täter da sind, wo es keine Tatmittel gibt,
noch nicht einmal einen Tatplan oder einen Tatort und
kein definiertes Verhalten. Da muss es eine Grenze ge-
ben, sonst sind wir an einem Punkt angelangt, wo die
Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Forschungs-
freiheit usw. bedroht sind, wann immer ein Staatsanwalt
zum Schluss kommt, irgendetwas geschehe mit bösem
Vorsatz oder sei irgendwie gefährlich.

Interessanterweise hat die FDP damals weitgehend
die Sicht der Linken geteilt. Der Kollege Jörg van Essen
hatte bei der ersten Lesung zum sogenannten GVVG,
Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren
staatsgefährdenden Gewalttaten, im Januar 2009 geäu-
ßert, er möchte seinen Kollegen – van Essen ist Staats-
anwalt – „nicht zumuten, mit Strafvorschriften umgehen
zu müssen, die nicht wirklich handhabbar sind, bei de-
nen sie ein schlechtes Gefühl haben und die beinhalten,
dass vorher eigentlich schon feststeht, dass ein ganz
wichtiger Faktor, nämlich die Absicht, in aller Regel
nicht wird nachzuweisen sein“. Was hat sich seither ge-
ändert? Inhaltlich gar nichts, nur dass die FDP jetzt
nicht mehr die angebliche Bürgerrechtspartei spielt wie
während ihrer Oppositionszeit, sondern als Regierungs-
partei genauso auf den Grundrechten herumtritt wie da-
mals die Große Koalition. Denn das Übereinkommen
fordert, das Strafrecht genau in diese grundverkehrte
Richtung auszubauen, also noch mehr Willkür, Vorfeld-
und Verdachtskriminalisierung zu betreiben.

Es wird dann nicht lange dauern, bis die Bundesre-
gierung Nachbesserungsbedarf sieht. Denn wie soll man
Zu Protokoll
denn konkret herausfinden, ob ein Journalist, der den
Vertreter einer bewaffneten Widerstandsgruppe inter-
viewt, damit womöglich indirekt zu Anschlägen auffor-
dern will? Der Ruf nach Onlinedurchsuchung, Abhörak-
tionen und Einschränkung der Pressefreiheit ist jetzt
schon zu hören.

Dieses Übereinkommen führt nicht zur besseren Be-
kämpfung des Terrorismus, sondern zu einer Gefahr für
demokratische Freiheiten und eine rechtsstaatliche Jus-
tiz. Deswegen lehnt Die Linke dieses Übereinkommen
ab.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708139300

Die hierzulande verschärften Sicherheitsmaßnahmen

und die aktuellen Ereignisse in Schweden führen deut-
lich vor Augen, dass es ein ernstzunehmendes Potenzial
terroristischer Straftaten sowohl inländischer als auch
externer Täterinnen und Täter gibt. Damit dieses Poten-
zial nicht in seine menschenverachtende, zerstörerische,
abscheuliche Umsetzung mündet, ist es für einen Staat
wie die Bundesrepublik Deutschland unerlässlich, sich
nach besten Kräften schützend vor seine Bevölkerung,
deren individuellen Rechte und Freiheiten sowie das
rechtsstaatliche Gefüge zu stellen.

In einer regional und international immer enger zu-
sammenwachsenden Staatengemeinschaft ist es dabei
völlig legitim, dass ein Staat mit einem oder mehreren
anderen zusammenarbeitet, sich mit diesem oder diesen
austauscht, um seiner Schutzpflicht nachzukommen. In-
soweit sehen wir Grünen eine grenzüberschreitende Zu-
sammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn
– und damit meine ich nicht nur die Ebene der Europäi-
schen Union, sondern insbesondere auch die des Euro-
parats – grundsätzlich als etwas Positives, etwas Not-
wendiges an – allerdings nur, wenn und solange sich die
Zusammenarbeit an einem hohen Schutzniveau für die
Rechte und Freiheiten der Menschen Europas orientiert.

Das Abkommen, über dessen Ratifikation wir heute
entscheiden sollen, ist vor über fünf Jahren im Rahmen
des Europarats geschlossen worden. Es bezieht also im
Vergleich zur EU eine weitaus größere Anzahl von Län-
dern mit ein. Der Inhalt des Abkommens wird zumindest
rechtlich keinen direkten Einfluss auf das bestehende
nationale Recht haben. Umsetzungsbedarf ist nicht zu
erkennen. Es fällt anlässlich der heutigen Befassung mit
diesem Abkommen allerdings auf, dass die deutsche
Rechtsordnung in strafrechtlicher Hinsicht bereits wei-
tergeht, als es das Abkommen fordert.

Art. 7 des Abkommens verlangt, die Ausbildung für
terroristische Zwecke unter Strafe zu stellen. Gemeint
sind hier mit dem Begriff nur diejenigen, die ausbilden,
nicht aber diejenigen, die sich ausbilden lassen. Ausbil-
der werden nach deutschem Strafrecht bereits erfasst.
Nach deutschem Strafrecht macht sich aber auch straf-
bar, wer bei der Vorbereitung einer schweren staatsge-
fährdenden Gewalttat sich ausbilden lässt. Über die am
Ende der vergangenen Wahlperiode eingeführten Vor-
schriften § 89 a und 89 b StGB haben wir in diesem
Hause seinerzeit zu Recht kontrovers diskutiert. Sie stel-
len bereits bestimmte Aufnahmen von Beziehungen zu ei-
9110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9111

Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

ner Gruppe unter Strafe, wenn dies einer zukünftigen
Unterweisung in irgendwelchen, nicht näher bezeichne-
ten Fertigkeiten dienen soll, die wiederum der mögli-
chen zukünftigen, nach Ort und Zeit nicht bestimmten
Ausführung einer schweren Straftat dienen sollen.

Was bei der Verabschiedung 2009 galt, gilt auch
heute: Bei §§ 89 a und 89 b StGB handelt es sich um eine
rechtsstaatlich unverträgliche Vorfeldstrafbarkeit. Der-
artige Vorschriften sind nicht, wie die damals verant-
wortliche Bundesjustizministerin so salopp bemerkte,
auf Kante genäht, sondern tragen Elemente von Gesin-
nungsstrafrecht in sich. Ich habe schon damals
gemahnt: Die Vorbereitung einer Vorbereitung einer
Straftat unter Strafe zu stellen, ist Ausdruck einer Si-
cherheitsphobie, die keine Grenzen und keine Regeln
kennt, sondern nur Erfolg haben will, und dies offen-
sichtlich um jeden Preis. In Deutschland soll kein
Mensch allein für seine Absichten bestraft werden. Das
gilt zum Beispiel auch für Personen, die Vorbereitungen
für einen Totschlag oder Mord treffen, solange sie das
Versuchsstadium nicht erreichen. Strafrecht ist eben kein
Gefahrenbekämpfungsrecht. Diesen Trend gilt es aufzu-
halten und umzukehren. Das sehen CDU/CSU und Teile
der SPD bekanntlich anders. Von der FDP erwarten wir
nicht, dass sie ihren Lippenbekenntnissen Taten Folgen
lässt.

Wie ich eingangs bereits betont habe: Die Grünen se-
hen die Notwendigkeit und auch die Vorteile grenzüber-
schreitender Kriminalitätsbekämpfung. Wir stellen uns
hier nicht grundsätzlich quer. Allerdings geben wir
Werte wie Menschenrechte, Freiheit und Rechtsstaat-
lichkeit nicht an der Tür ab, auch wenn Europa darauf
steht. Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen
Sicherheitspolitik und Kriminalitätsbekämpfung kann
nur gelingen, wenn ein einheitliches, hohes Rechts-
schutzniveau gewährleistet ist. Mit der EMRK und der
sie begleitenden Rechtsprechung des EGMR hat der
Europarat sehr gute Ansätze. Die inzwischen rechtsver-
bindliche EU-Grundrechtecharta sowie die EMRK kön-
nen gemeinsam entscheidende Impulse für die beiden
europäischen Organisationen geben.

Absolute Sicherheit für jeden einzelnen Menschen
kann und wird es nicht geben. Dieser Satz ist schon un-
zählige Male strapaziert worden, bleibt aber stets rich-
tig. Das staatliche Streben nach absoluter Sicherheit
führt auf einen für Menschenwürde, Menschenrechte
und freiheitlichen Rechtsstaat gefährlichen Irrweg. Ver-
lässliche Rechtsschutzstandards, gesetzgeberisches Au-
genmaß und regelmäßige kritische Überprüfung von
Gesetzen und staatlichen Maßnahmen verhindern, dass
die Bundesrepublik und mit ihr die europäischen Part-
ner auf diesen Weg abdriften.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708139400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/4124, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/3801 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses
90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Mast, Anette Kramme, Angelika Krüger-Leißner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Echte Perspektiven für Altbewerberinnen und
Altbewerber schaffen – Ausbildungsbonus bis
2013 verlängern

– Drucksache 17/4191 –

Die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen sind
zu Protokoll genommen: Matthias Zimmer, Paul
Lehrieder, Katja Mast, Willi Brase, Johannes Vogel,
Agnes Alpers, Brigitte Pothmer.


Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1708139500

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jakob Maria

Mierscheid beantwortete die Frage eines Diplomanden,
ob die Namensgebung einer nach ihm benannten Brücke
im Regierungsviertel seine Zustimmung erfahren habe,
lakonisch bejahend. Mierscheid schloss seine Antwort
dann aber mit der Bemerkung, dass er über diese Brücke
nicht gehe. Sie sei ihm zu windig. Genauso täten auch
die Sozialdemokraten gut daran, sich nicht allzu sehr
auf den Ausbildungsbonus zu fixieren; denn es ist ein
ziemlich windiger Steg, über den sie da gehen: Die uns
vorliegenden Evaluationen zeigen eine lediglich schwa-
che Wirkung des Ausbildungsbonus als arbeitsmarkt-
politisches Instrument.

Für die überwiegende Mehrheit der Betriebe ist der
Ausbildungsbonus kein entscheidendes Einstellungskri-
terium. In der Befragung zum Instrument Ausbildungs-
bonus gaben 90 Prozent der nicht geförderten Betriebe
an, dass Altbewerber zunächst die gleichen Chancen im
Bewerbungsprozess erhalten wie Erstbewerber. Unter
den geförderten Betrieben gaben 68 Prozent an, dass sie
sich erst nach der Auswahl eines Bewerbers um eine ge-
eignete Fördermöglichkeit bemühen. Etwa drei Viertel
gaben an, dass ihnen die Altbewerber bereits vor der
Einstellung durch vorherige Tätigkeiten im Betrieb be-
kannt waren und dass sie Praktika als sinnvoller und ef-
fektiver als finanzielle Zuschüsse ansehen. 82 Prozent
der Betriebe gaben an, sie hätten den Altbewerber auch
ohne Ausbildungsbonus eingestellt. Es zeigen sich also
deutliche Hinweise auf Mitnahmeeffekte. Die Forderung
der SPD, den Ausbildungsbonus noch stärker zu bewer-
ben, scheint mir daher eher wie eine Einladung zum ar-
beitsmarktpolitischen Rabattmarkenschalter auf Kosten
der Steuerzahler.

Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

Nur etwa 30 Prozent der Geförderten wissen über-
haupt, dass sie durch den Ausbildungsbonus gefördert
werden. Dies ist ein Beleg dafür, dass die Anregung zur
Förderung durch den Ausbildungsbonus in der Regel
nicht von den Bewerbern ausgeht. Interessant ist auch
ein Vergleich zwischen geförderten und ungeförderten
Altbewerbern. Bei beiden Vergleichsgruppen liegt der
Ausbildungsstatus nach 12 Monaten bei 85 Prozent.
Dies zeigt, der Ausbildungsbonus ist längst nicht so ef-
fektiv, wie sein Name vermuten lässt. Der eingangs be-
reits erwähnte SPD-Abgeordnete Mierscheid hat bezüg-
lich des nach ihm benannten Bauwerkes aber auch
schon relativierend festgestellt, sinnvoll sei eine Brücke
nur dort, wo auch Wasser fließe.

Der Ansatz der Union hingegen ist ein anderer. Wir
gestalten die wesentlichen Rahmenbedingungen auf dem
Ausbildungsmarkt so, dass wir die Altbewerber nach-
haltig und nicht nur für die Dauer von Subventionierun-
gen in den Arbeitsmarkt bringen. Wichtigster Eckpfeiler
dabei war und ist die vernünftige Arbeits-, Finanz- und
Wirtschaftspolitik unter Kanzlerin Angela Merkel. Diese
Politik ist das Fundament für die erfreuliche wirtschaft-
liche Entwicklung in unserem Land und führt eben auch
zu einer hohen Nachfrage nach Auszubildenden und da-
mit zu einer sinkenden Zahl Altbewerber. Ein weiterer
wichtiger Eckpfeiler stellt der Nationale Ausbildungs-
pakt dar, mit dem wir gezielte Maßnahmen ergreifen, um
vor allem die Ausbildungsreife junger Menschen sicher-
stellen und somit ihre dauerhafte Integration in den Aus-
bildungsmarkt. Im Übrigen haben wir im Rahmen des
Beschäftigungschancengesetzes den Ausbildungsbonus
für Auszubildende insolventer Betriebe bis Ende 2013
verlängert. Damit sichern wir jungen Menschen ihren
Start ins Arbeitsleben.

Wir werden neben den Anstrengungen, die wir mit
dem Ausbildungspakt leisten, auch im Rahmen der Eva-
luation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente genau
prüfen, welche Instrumente sich unter welchen Umstän-
den als effektiv erweisen. Nur wenn Instrumente auch ef-
fektiv sind, wollen wir sie weiterhin einsetzen und finan-
zieren, ganz im Sinn des Kollegen Mierscheid, der jüngst
zur Verwendung öffentlicher Mittel den bemerkenswer-
ten Satz prägte: „Wie Wasser ohne Aufenthalt unter ei-
ner Brücke hindurchfließt, so rinnt das Geld durch die
Hände derjenigen, die sich der Instrumente nicht versi-
chern, wie das Geld zu halten ist.“ Ein wahrer Satz eines
großen Kollegen, den sich seine Fraktion doch zu Her-
zen nehmen möge.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1708139600

Was den ersten Teil Ihres Antragstitels betrifft, stehe

ich voll auf Ihrer Seite: Eines der wichtigsten Ziele die-
ser Bundesregierung ist und bleibt es, jungen Menschen
zu einer Ausbildung zu verhelfen und ihnen so den Ein-
stieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Beim zweiten Teil
des Titels – „Ausbildungsbonus bis 2013 verlängern“ –
können wir Ihnen leider nicht folgen. Ja, wir haben den
Ausbildungsbonus 2008 gemeinsam in der Großen
Koalition eingeführt, um jungen Menschen einen Weg
ins Berufsleben zu ermöglichen. Seither ist einige Zeit
vergangen. Wir haben Erfahrungen mit dem Ausbil-
Zu Protokoll
dungsbonus gemacht und uns die Frage gestellt: Hält er,
was wir uns davon versprochen haben? Nicht umsonst
hatten wir dieses Instrument der Arbeitsmarktpolitik zu-
nächst bis Ende dieses Jahres befristet. Nun haben wir
uns entschieden, den Ausbildungsbonus nicht zu verlän-
gern – weil wir unsere Schlüsse gezogen haben und weil
wir wissen, dass Arbeitsmarktpolitik immer ein lernen-
des System ist und sein muss.

Zweck des Ausbildungsbonus war – und ist noch –,
die individuellen Ausbildungschancen von förderungs-
bedürftigen Ausbildungssuchenden aus früheren Schul-
entlassungsjahren zu verbessern, indem Arbeitgebern
ein finanzieller Anreiz für deren zusätzliche Einstellung
gegeben wird. Nicht zum Ziel des Ausbildungsbonus
gehört die Bekämpfung des Fachkräftemangels. Die
Ausbildung des eigenen Fachkräftenachwuchses ein-
schließlich der Zahlung einer angemessenen Ausbil-
dungsvergütung ist und bleibt originäre Aufgabe der
Wirtschaft.

Die Zahl der bewilligten Anträge auf Ausbildungsbo-
nus lag im September 2010 bei 40 430. Dies ist mehr als
die Hälfte der ehemals anvisierten jeweils 30 000 För-
derfälle pro Ausbildungsjahr. Das ursprüngliche Ziel
war ehrgeizig, die Zielgröße konnte aber nicht erreicht
werden.

Der Zwischenbericht 2010 zum Ausbildungsbonus
lieferte zudem deutliche Hinweise auf Mitnahmeeffekte:
71 Prozent der geförderten Betriebe gaben an, dass sie
den Ausbildungsplatz auch ohne Förderung geschaffen
hätten. 82 Prozent der Betriebe haben demnach auch
ohne den Ausbildungsbonus eine Altbewerberin oder
einen Altbewerber eingestellt.

Der Ausbildungsbonus war ursprünglich so angelegt,
dass das Zusätzlichkeitskriterium Mitnahmeeffekte ver-
hindern sollte. Dies ist nur in 20 Prozent der Fälle ge-
lungen. In Anbetracht der demografischen Entwicklung
und des bestehenden arbeitsmarktpolitischen Instru-
mentariums zur Unterstützung benachteiligter junger
Menschen hält die Bundesregierung eine Ersatzlösung
nach dem Auslaufen des Ausbildungsbonus für nicht er-
forderlich. Auch zeigen die Ergebnisse des Zwischenbe-
richts 2010, dass Praktika von vielen Beteiligten sinn-
voller als finanzielle Hilfen für Arbeitgeber angesehen
werden, um förderungsbedürftigen jungen Menschen
einen Zugang zum Ausbildungsmarkt zu verschaffen.

Aufgrund der Prognosen zur allgemeinen Rückläufig-
keit der Schulabgängerzahlen und der positiven wirt-
schaftlichen Entwicklung auch auf dem Ausbildungs-
markt ist von verbesserten Einmündungschancen der
Altbewerber am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt auszu-
gehen. Der Anteil der Bewerber aus früheren Schulent-
lassjahren an allen Bewerbern nahm vom Ausgangspunkt
2004/2005 bis zum Jahr 2006/2007 um 6,2 Prozent-
punkte zu – das ist ein Anstieg von 46,2 Prozent auf
52,4 Prozent – und konnte im Berichtsjahr 2007/2008
um 0,7 Prozentpunkte auf 51,7 Prozent abgebaut wer-
den. Dies ist insbesondere dem Ausbildungspakt und den
intensiven Vermittlungsbemühungen der Agenturen für
Arbeit und Grundsicherungsstellen für diesen Personen-
kreis zu verdanken.
9112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals be-
tonen, dass das Bundeskabinett am 7. Juni 2010 generell
eine Instrumentenreform beschlossen hat: Sie wird Mög-
lichkeiten prüfen, die Vielzahl der Programme und För-
derinstrumente des Bundes für junge Menschen zur
Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit besser auf-
einander abzustimmen und – wo es sinnvoll und möglich
ist – zu bündeln.

Der Wegfall des Ausbildungsbonus wird zudem durch
die am 26. Oktober 2010 beschlossene Neuauflage des
Ausbildungspakts kompensiert. Schon der „alte“ Aus-
bildungspakt konnte eine Erfolgsbilanz vorweisen: Im
Ausbildungsjahr 2009/2010 wurden 483 500 Ausbil-
dungsplätze gemeldet; das waren 1,7 Prozent mehr als
im Vorjahr. Dem standen 552 200 gemeldete Bewerber
gegenüber. Die Wirtschaft erreichte ihre selbstgesetzten
Zielmarken und stellte 2009 circa 72 600 neue Ausbil-
dungsplätze, 46 300 neue Ausbildungsbetriebe und
32 000 Einstiegsqualifizierungen zur Verfügung. Die
Zahl der Altbewerber ging im Jahr 2009/2010 um
150 000 auf circa 250 000 zurück. Auch der neue Aus-
bildungspakt will diese Zahl weiter verringern, die Aus-
bildungsbeteiligung Jugendlicher mit Migrationshinter-
grund deutlich erhöhen und lernbeeinträchtigte, sozial
benachteiligte Jugendliche individuell unterstützen.

Im Rahmen des Paktes setzt sich die Wirtschaft das
Ziel, im Durchschnitt pro Jahr 60 000 neue Ausbildungs-
plätze einzuwerben, jährlich 30 000 neue Ausbildungs-
betriebe einzuwerben und jährlich 30 000 betrieblich
durchgeführte Einstiegsqualifizierungen durchzuführen.

Die Bundesregierung wird durch die neue Initiative
„Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum
Ausbildungsabschluss“ eine ganzheitliche Betreuung für
30 000 förderungsbedürftige Schülerinnen und Schüler
schaffen mithilfe von zusätzlichen 1 000 Berufsein-
stiegsbegleitern, die durch die BA finanziert werden. Sie
wird die Angebote der Berufsorientierung ausbauen und
das JOBSTARTER-Programm fortentwickeln. Die Bun-
desagentur für Arbeit wird ihre Beratungs- und Vermitt-
lungsangebote weiter gezielt verbessern, um Jugendli-
che und Betriebe durch den Arbeitgeberservice, die
Berufsberatung und die neue Jobbörse im Internet bes-
ser und passgenauer zu vermitteln.

Die erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre
für junge Menschen muss konsequent fortgeführt wer-
den. Insbesondere präventive Maßnahmen wie Maßnah-
men der vertieften Berufsorientierung und die Berufs-
einstiegsbegleitung, die im Rahmen der Initiative
Bildungsketten durch ein Sonderprogramm der Bundes-
regierung ausgeweitet wurde, sollen die jungen Men-
schen optimal auf die Berufswahl und den Ausbildungs-
und Arbeitsmarkt vorbereiten und direkte Übergänge in
die Berufsausbildung befördern.


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1708139700

Menschen stärken, Wege öffnen – das will die SPD.

Für uns gehört klar und deutlich dazu: Jeder Jugend-
liche braucht einen Ausbildungsplatz. Denn kein Ju-
gendlicher darf verloren gehen. Das ist die Vorausset-
zung für gute und würdevolle Arbeit. Als Partei der Ar-
beit streiten wir für eine Politik, die Perspektiven schafft
Zu Protokoll
und damit Teilhabe ermöglicht. Kein Jugendlicher darf
verloren gehen – das heißt für uns als SPD, dass jeder
das Recht auf eine Ausbildung haben muss. Das ist un-
ser Ziel, das wir durch Fördern und Fordern am Ar-
beitsmarkt unterstützen können.

Und was macht Ursula von der Leyen? Sie schafft
Ende dieses Jahres klammheimlich ein Förderinstru-
ment für Jugendliche ab. Eiskalt lässt sie den Ausbil-
dungsbonus für Altbewerber auslaufen. Und mit dieser
Kälte geht es weiter: Zum 31. Dezember entfällt der
Ausbildungsbonus, der Jugendliche unterstützt, die es
schwerer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Er
unterstützt auch die Betriebe, die ihnen eine Chance ge-
ben und damit Verantwortung übernehmen. Meist sind
es Handwerker und Mittelständler, die das Herz an der
richtigen Stelle haben. Also anders als Sie, die offenbar
nur warme Worte haben, aber kalte Taten folgen lassen.
Uns geht es darum, Jugendlichen eine Chance auf be-
triebliche Ausbildung zu geben, die sonst keine hätten.
Das ist uns auch viel wert. Denn jede Investition in Bil-
dung zahlt sich in Zukunft aus.

Und dass dieses Instrument gut und sinnvoll war, ha-
ben wir in Pforzheim und dem Enzkreis schon viele
Jahre gewusst. Der Ausbildungsbonus ging auf unsere
Erfahrungen von vor Ort zurück; darauf sind wir zu
Recht stolz. Der heutige Oberbürgermeister von Pforz-
heim, Gert Hager, war sogar einer unserer Sachverstän-
digen bei der Anhörung im Deutschen Bundestag. Doch
Ursula von der Leyen lässt das kalt; es ist ihr egal – ob-
wohl im Bericht zur Überprüfung des Ausbildungsbonus
von neutralen Experten eindeutig steht: „Aufgrund des
frühen Berichtszeitpunktes ergibt sich, dass die vorge-
stellten Ergebnisse vor allem beschreibenden Charakter
haben und noch keine kausalen Wirkungsanalysen ent-
halten. Naturgemäß enthält der Bericht deshalb nur vor-
läufige Ergebnisse. Wichtige Untersuchungsschritte wie
die Wirkungsanalyse, die langfristige Analyse sowie die
Analyse der finanziellen Auswirkungen und eine ab-
schließende Beurteilung sind für den Endbericht ge-
plant.“ Die Kernbotschaft lautet also: Es braucht noch
Zeit, um eine echte Wirkungsanalyse des Ausbildungs-
bonus vorzulegen. Doch was macht die Bundesregie-
rung auf Grundlage ihres eigenen Berichts? Sie schafft
den Ausbildungsbonus ab, ohne überhaupt belastbare
Aussagen über das arbeitsmarktpolitische Instrument
treffen zu können.

Das ist Politik auf dem Rücken von jungen Menschen,
die konkrete Antworten erwarten. Stattdessen erleben
sie eine Ministerin, die warmen Worten über Chancen
eiskalte Taten folgen lässt. Frau von der Leyen, Sie blei-
ben die Ministerin der kleinteiligen und wirkungslosen
Projekte statt zukunftsweisender Perspektiven.

Am Beispiel des Ausbildungsbonus zeigt sich deut-
lich: Diese Bundesregierung redet über bessere Bildung
und kürzt gleichzeitig das Geld. Sie schafft Rechtsan-
sprüche auf Qualifizierung und Bildung ab. Das steckt
in Wahrheit hinter dieser Politik; das steht auch so in
den Kürzungsbeschlüssen der Bundesregierung: Es sol-
len Rechts- in Ermessensleistungen umgewandelt wer-
den. Das erste Opfer ist der Ausbildungsbonus, weitere
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9113
gegebene Reden

Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)

werden in Kürze folgen. Leittragende sind jene, die auf
unsere Unterstützung angewiesen sind.

In den Haushaltsberatungen haben wir erlebt, wie
Schwarz-Gelb die Mittel für erfolgreiche arbeitsmarkt-
politische Programme zusammengestrichen hat. Alleine
hier werden 1,3 Milliarden Euro im kommenden Jahr zu
viel gekürzt. Auch hierfür trägt Ursula von der Leyen die
Verantwortung. Sie ist und bleibt Bildungskürzungsmi-
nisterin. Diese Politik zeigt, in welche Richtung die von
der Bundesregierung groß angekündigte Reform der ar-
beitsmarktpolitischen Instrumente im kommenden Jahr
gehen wird. Das wird kein großer Wurf, wie von
Schwarz-Gelb angekündigt. Das wird ein schmerzhafter
Bumerang für diejenigen, für die wir mehr Unterstüt-
zung und Fairness am Arbeitsmarkt brauchen: für Ju-
gendliche, für Langzeitarbeitslose, für Menschen mit
Behinderung, für Migrantinnen und Migranten und für
Alleinerziehende.

Kein Jugendlicher darf verloren gehen. Dieses Kern-
versprechen der SPD gilt. Deshalb legen wir heute einen
Antrag vor, um den Ausbildungsbonus zu verlängern.
Dabei haben wir auch die doppelten Abiturjahrgänge im
Blick und die geplante Abschaffung der Wehrpflicht.
Beides setzt den Ausbildungsmarkt und vor allem die Ju-
gendlichen, die es jetzt schon schwerer haben, massiv
unter Druck. Dieser Verdrängungswettbewerb führt zu
mehr Altbewerbern. Es ist nicht zu spät. Sie von
Schwarz-Gelb können jugendlichen Altbewerberinnen
und Altbewerbern noch ein wertvolles Weihnachtsge-
schenk unter den Baum legen – denn jeder junge Mensch
hat das Recht auf einen Einstieg in den beruflichen Auf-
stieg. Stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen Sie
endlich echte Perspektiven für junge Menschen, insbe-
sondere für diejenigen, die unsere volle politische Un-
terstützung dringend brauchen. Ich fordere Sie auf: Neh-
men Sie Ihren eigenen Bericht zum Ausbildungsbonus
ernst – kein Jugendlicher darf verloren gehen.


Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1708139800

Der Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2010 hat

die Zahlen klar auf den Tisch gelegt: Gemessen an der
entsprechenden Wohnbevölkerung gibt es in Deutsch-
land eine Ungelerntenquote von 15,2 Prozent in der
Gruppe der 20- bis 29-jährigen ohne eine abgeschlos-
sene Berufsausbildung. Dabei ist die Quote der Frauen
mit 15,2 Prozent noch etwas höher als die der Männer,
von denen 14,9 Prozent betroffen sind. Das sind rund
1,45 Millionen junge Erwachsene, denen kein qualifi-
zierter Einstieg ins Berufs- und Arbeitsleben gelungen
ist. Ich möchte eine weitere Untersuchung nennen. In
der Studie der Bertelsmann-Stiftung „Keine Perspektive
ohne Ausbildung“ wurde die Gruppe der 25- bis 34-jäh-
rigen 2007 in Westdeutschland untersucht. 20,8 Prozent
von ihnen – das ist ein Fünftel – hatten keinen Ausbil-
dungsabschluss. Unter ihnen finden sich auch Tausende
von Altbewerberinnen und Altbewerbern, die keinen
Ausbildungsplatz gefunden haben, ihren Wunsch nach
einer voll qualifizierende Ausbildung aber – und das
teilweise schon seit Jahren – aufrechterhalten.
Zu Protokoll
Auch die Determinanten, die in eine solche Situation
führen, sind untersucht worden. Das ist eine breite Pa-
lette: ein fehlender oder niedriger Schulabschluss,
schlechte Noten im Abgangszeugnis, der Bildungstand
der Eltern oder ein Migrationshintergrund. Auch bei
jungen Frauen, die ein eigenes Kind betreuen, besteht
ein hohes Risiko, ausbildungslos zu bleiben. Betroffen
sind mittlerweile auch nicht mehr nur Schulabgänger
mit einem Hauptschulabschluss. Die Bertelsmann-Stu-
die hat nachgewiesen, dass mittlerweile auch eine hohe
Zahl von Realschülern betroffen ist.

Angesichts dieser Zahlen und Analysen erscheint es
doch sehr erstaunlich, dass die Bundesregierung eine
Verlängerung des Ausbildungsbonus ablehnt. Die Be-
gründung ist mehr als fadenscheinig: Nach allen Pro-
gnosen werde es weniger Schulabgänger geben. Außer-
dem werde die positive wirtschaftliche Entwicklung auf
dem Ausbildungsmarkt ankommen. Folglich würden
sich auch die Einmündungschancen für Altbewerberin-
nen und Altbewerber verbessern. An dieser Stelle
springt die Bundesregierung eindeutig zu kurz. Denn
eine geringere Zahl von Schulabgängern bedeutet nicht
gleichzeitig eine Verbesserung ihrer Qualifikationen.
Vergessen bleibt dabei auch der Aspekt, dass voraus-
sichtlich viele Schulabgängerinnen und -abgänger mit
einer Hochschulzulassung durch die doppelten Abitur-
jahrgänge zusätzlich auf den Ausbildungsmarkt strö-
men. Und dann sind es wieder die bereits oben genann-
ten jungen Erwachsenen mit Startnachteilen, die auf der
Strecke bleiben. In seinem Qualifizierungsmonitor
fragte das Institut der deutschen Wirtschaft Köln ausbil-
dende Unternehmen, welche Gruppen von Auszubilden-
den beschäftigt werden. Im Ergebnis liegen Jugendliche
mit Hauptschulabschluss mit 44,7 Prozent nur noch
knapp vor Jugendlichen mit Fach- bzw. Hochschulreife,
die bereits auch schon bei über 40 Prozent liegen. Altbe-
werberinnen und Altbewerber sind laut Untersuchung
dagegen nur in jedem vierten ausbildenden Unterneh-
men vertreten.

Im September 2009 machte der Bundesrechnungshof
eine Mitteilung an die Bundesagentur für Arbeit über
die Prüfung des Ausbildungsbonus. In seiner Würdigung
hielt der Bundesrechnungshof den Ausbildungsbonus für
„sinnvoll und hilfreich“. Bestehende Fördermöglich-
keiten für Auszubildende würden auf diesem Weg har-
monisiert und in ein einheitliches Leistungssystem zu-
sammengeführt. Somit würden die „Transparenz, die
Wirksamkeit und die Einheitlichkeit der Förderung von
Ausbildungsverhältnissen für unversorgte und leistungs-
schwache Bewerber“ verbessert. Der Bundesrechnungs-
hof unterstrich auch, dass der vom Gesetzgeber beab-
sichtigte Personenkreis, erreicht würde. In den meisten
der geprüften Fälle hatten die Auszubildenden schlechte
Schulleistungen oder hatten den Besuch einer weiterfüh-
renden Schule abgebrochen. Es traten sogar Einzelfälle
zu Tage, in denen junge Menschen sich seit mehr als sie-
ben Jahren um einen Ausbildungsplatz bemühten oder
eine ungelernte Tätigkeit ausübten.

Der Bundesrechnungshof nannte einen weiteren
wichtigen Punkt, der für die Verlängerung des Ausbil-
dungsbonus spricht. Es wurde festgestellt, dass beson-
9114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)

ders kleinere Unternehmen mit unter 50 Beschäftigten
den Ausbildungsbonus in Anspruch genommen haben.
In der Regel wurden über dieses Instrument ein, zwei zu-
sätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Das waren be-
sonders Betriebe, die in den letzten Jahren nicht ausge-
bildet hatten. Das bedeutet: Eine Förderung schafft
zusätzliche Ausbildungsplätze. Auch im Nationalen Bil-
dungsbericht 2010 wird betont, dass Ausbildungsförde-
rungen bei allen Betriebsgrößenklassen zu einer deutli-
chen Erhöhung der Ausbildungsquote führt – und das
besonders bei den mittleren und kleinen Unternehmen,
bei den die Ausbildungsquote fast drei- bzw. viermal so
hoch ist wie bei Betrieben ohne Förderung. Der Ausbil-
dungsbonus scheint eines der wichtigen Anreizinstru-
mente zu sein, und die Bundesregierung täte gut daran,
Zahlen und Fakten nicht einfach zu ignorieren, sondern
den Ausbildungsbonus als Chance für viele Jugendliche
zu verlängern.

Die Debatte um den Fachkräftebedarf darf nicht so
geführt werden, wie Bundesministerin von der Leyen es
sich mit dem einfachen Zuzug von ausländischen Fach-
kräften vorstellt. Die Arbeit, die in Deutschland anfällt,
muss von den hier lebenden Menschen geleistet werden
– das ist die beste Integration. Der Ausbildungsbonus ist
einer von mehreren Möglichkeiten, schnell und unmittel-
bar in dieser Frage Abhilfe zu schaffen. Wir wollen
keine Armee von Chancenlosen, die mitgeschleppt wer-
den, sondern qualifiziert ausgebildete Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, denen sich gute Perspektiven in
der Arbeitswelt und gerechte Teilhabechancen in der
Gesellschaft eröffnen.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1708139900

Ich muss schon sagen, liebe Kolleginnen und Kolle-

gen von der SPD, wenn ich mir einige Ihrer Anträge und
Vorstöße in der letzten Zeit ansehe, dann muss ich immer
wieder an den britischen Schriftsteller Stevenson den-
ken, aber nicht etwa, weil er „Die Schatzinsel“ ge-
schrieben hat, sondern wegen der berühmten Ge-
schichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die stammt
nämlich auch von Stevenson. Waren Sie als Regierungs-
partei noch Dr. Jekyll, sind Sie als Oppositionspartei
nun Mr. Hyde. Eine Partei – zwei Meinungen. Bei Ihrem
jetzigen Antrag zum Ausbildungsbonus ist es wieder ge-
nauso. Was Sie damals selbst ins Gesetz geschrieben ha-
ben, will Ihnen heute nicht mehr einleuchten.

Dabei ist die Sache doch ganz klar: Sie haben den
Ausbildungsbonus in der Großen Koalition eingeführt.
Und Sie haben den Ausbildungsbonus befristet, und
zwar bis Ende 2010. Das war nicht die FDP, das war
nicht die aktuelle Bundesregierung, sondern das waren
Sie selbst. Sie haben damals in der Begründung von ei-
ner „Einmalmaßnahme“ gesprochen, und Sie haben an
gleicher Stelle deutlich gesagt: „Der Ausbildungsbonus
tangiert den Grundsatz, dass Betriebe die Berufsausbil-
dung selbst durchführen, verantworten und finanzie-
ren.“ Deswegen sei die Evaluation durch den Bund not-
wendig. Will heißen: Wir wollen überprüfen, ob der
Ausbildungsbonus diesen Grundsatz nicht nur berührt,
sondern verletzt.
Zu Protokoll
Davon wollen Sie in Ihrem Antrag jetzt nichts mehr
wissen, sondern bezweifeln die Aussagekraft der Eva-
luation. Deskriptive Analysen reichten nicht aus. Wir-
kungsanalysen seien abzuwarten. Das klingt ja erstmal
nach einem Argument, ist es aber nicht. Zu welchem
Zweck hätte die Evaluation im Jahr 2010 denn dienen
sollen, wenn es nicht die Entscheidung über eine mögli-
che Verlängerung gewesen wäre? Hat Sie damals bei
der Formulierung der Evaluationsklausel einfach wis-
senschaftliches Interesse getrieben? Ich glaube nicht.

Dann sehen wir uns doch die Ergebnisse des Evalua-
tionsberichts einmal an: Über zwei Drittel der geförder-
ten Betriebe gaben an, dass sie sich erst nach der Aus-
wahl eines Bewerbers um eine Fördermöglichkeit
bemüht haben. Etwa drei Viertel der Betriebe gaben an,
dass ihnen die Altbewerberinnen und Altbewerber be-
reits vor der Einstellung bekannt waren, vorwiegend
durch Praktika. Über 70 Prozent der Betriebe gaben an,
dass sie den Ausbildungsplatz auch ohne Förderung ge-
schaffen hätten. Und schließlich betonten über 80 Pro-
zent der Betriebe, sie hätten auch ohne Ausbildungsbo-
nus einen Altbewerber oder eine Altbewerberin
eingestellt.

So, und jetzt frage ich Sie: Wann, wenn nicht bei die-
sen Ergebnissen, würden Sie denn von dramatischen
Mitnahmeeffekten sprechen? Ich zitiere noch einmal den
Evaluationsbericht, der von den „gefundenen hohen
Mitnahmeeffekten“ spricht. Sie haben vor zwei Jahren
in Ihrem Gesetz darauf gepocht – zu Recht, wie ich
gerne betone –, dass die Betriebe die Ausbildung finan-
zieren müssen und niemand sonst. Offensichtlich ist das
beim Ausbildungsbonus überwiegend nicht der Fall.
Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen. Kein Wort
davon steht in Ihrem Antrag. Meine Fraktion hat schon
vor zwei Jahren eindringlich auf die große Gefahr der
Mitnahmeeffekte hingewiesen – zu Recht, wie wir heute
wissen. Das ist ein wichtiger, ja ein entscheidender
Punkt, gerade angesichts der Finanzierung aus Bei-
tragsmitteln.

Sie haben das Auslaufen des Ausbildungsbonus für
Ende 2010 geplant. Der erste Evaluationsbericht liefert
eindeutige Argumente dafür, dass dies auch so bleiben
sollte. Es ist ein bisschen so wie bei der Rente mit 67. Sie
haben an der Regierung etwas beschlossen und mit ei-
ner Evaluationsklausel versehen. Dann bringt die Eva-
luation eindeutige Ergebnisse, die Sie dann aber nicht
wahrhaben wollen. Das hat mit Seriosität wenig zu tun.

Deswegen müssen Sie mir auch nachsehen, wenn ich
Ihren Antrag vor allem als Dekor fürs oppositionelle
Schaufenster einstufe. So richtig ernst scheint Ihnen die
Sache ja nicht zu sein, sonst würden Sie sich nicht zu
solch haltlosen Vorwürfen versteigen: Das Handeln der
Bundesregierung ziele auf die Abschaffung erfolgrei-
cher Rechtsansprüche auf Qualifizierung und Bildung.
Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, einfach
Quatsch. Abgesehen davon handelt es sich um einen
Rechtsanspruch für Arbeitgeber auf einen Zuschuss. Ihr
eigenes Instrument sollten Sie besser kennen. Und Ihren
Hinweis auf den Erfolg des Ausbildungsbonus muss man
nach dem Evaluationsbericht als das ansehen, was er
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9115
gegebene Reden

Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

ist: Realitätsverweigerung. Schließlich widersprechen
Sie sich an dieser Stelle auch selbst. Einerseits soll der
vorliegende Evaluationsbericht kein Gradmesser sein,
weil er nur deskriptiv angelegt sei. Andererseits reichen
Ihnen rein deskriptive Befunde über die Inanspruch-
nahme des Ausbildungsbonus – die im Übrigen deutlich
unter den von Ihnen anvisierten Zielen liegt – aus, um
den Erfolg des Instruments festzustellen. Was denn nun?

Wenn Sie überzeugen wollen, brauchen Sie Argu-
mente. Ihr widersprüchlicher Antrag reicht dazu leider
nicht. Sie wollen im Grunde gegen alle Indizien und völ-
lig ohne Beweise ein Urteil fällen. Das wäre vor Gericht
Unsinn, und in der Arbeitsmarktpolitik wäre es das
auch. Die Regierungskoalition gründet ihre Politik hin-
gegen auf klare Analysen und fällt klare Entscheidun-
gen. Das ist das Gegenteil von Ihrer Zickzack-Politik.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708140000

Nach Angaben der Bundesregierung soll der Ausbil-

dungsbonus Arbeitgeber veranlassen, zusätzliche Aus-
bildungsplätze zu schaffen, die ohne Bonus nicht
zustande kommen würden. Was aber haben Ausbildungs-
pakt und Ausbildungsbonus an der Situation derjenigen
geändert, die jahrelang nach einem Ausbildungsplatz
suchen? Seit Bestehen des Ausbildungspaktes sind nicht,
wie versprochen, 90 000 zusätzliche Ausbildungsplätze
eingerichtet worden, vielmehr wurden 45 000 Ausbil-
dungsplätze abgebaut. Der Ausbildungsbonus hat kaum
zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Es wurden
Betriebe unterstützt, die auch ohne Bonus ausgebildet
hätten. Das sind 71 Prozent aller Unternehmen.
400 000 Altbewerber und Altbewerberinnen und 1,5 Mil-
lionen Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren
bleiben weiterhin ohne Ausbildung, sind oft arbeitslos
und ausgegrenzt.

Die Linke hat schon damals darauf aufmerksam ge-
macht, dass dieses Förderinstrument falsch angelegt ist.
Es belohnt Unternehmen für eine Aufgabe, die sowieso
eine ihrer Pflichten ist, schafft Mitnahmeeffekte und ist
kein Instrument, um Ausbildung für alle abzusichern.
Statt dieser wirkungslosen Hilfsmaßnahme für Betriebe
nachzuhängen, sollten sich die Kollegen und Kollegin-
nen von der SPD endlich wieder auf unseren ehemals
gemeinsamen Pfad einer Ausbildungsumlage begeben.
Das ist die Maßnahme, die alle an Ausbildung beteiligt
und vielfältige Lebensperspektiven eröffnet.

Wir dürfen ausbildende Unternehmen nicht belohnen,
wenn wir nicht gleichzeitig die Betriebe zahlen lassen,
die nicht ausbilden wollen. Deshalb fordert die Linke
hier die gesetzliche Ausbildungsumlage. Mit ihrer Hilfe
entsteht Ausbildung für alle.

Neben der Umlage wollen wir das Geld für den Bonus
aber sinnvoll einsetzen. Wir wollen kleine Betriebe un-
terstützen, sich umfänglich an Ausbildung zu beteiligen.

Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, endlich Aus-
bildungsplätze für alle einzurichten, für all die, die bis-
her ausgegrenzt werden, für die Zukunft der Betriebe
und der Gesellschaft.
Zu Protokoll
Und noch eine Notiz zu der im Ausbildungspakt veran-
kerten Selbstverpflichtung der Unternehmen. Ich frage
Sie als Abgeordnete, als Kleinunternehmer und Klein-
unternehmerinnen: Wie halten Sie es mit der Selbstver-
pflichtung? Ich, für meinen Teil, bilde in meinem Büro
eine Altbewerberin aus.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708140100

Im Oktober dieses Jahres waren immer noch

154 500 junge Menschen bei der Bundesagentur für Ar-
beit als sogenannte Altbewerberinnen oder Altbewerber
gemeldet – und das, obwohl die Anzahl der Schulabsol-
venten sinkt, obwohl sich der Konjunkturverlauf über-
aus positiv entwickelt und obwohl vom deutschen Job-
wunder die Rede ist. Die betroffenen Jugendlichen
warten vergeblich auf einen Ausbildungsplatz und lan-
den stattdessen im Übergangssystem. Dieses entpuppt
sich für sie meist als sinnlose Warteschleife, die nicht in
eine gute Berufsausbildung, sondern in Arbeitslosigkeit
oder Billigjobs für Geringqualifizierte mündet. Das ist
unverantwortlich – nicht nur mit Blick auf die jungen
Menschen, die damit ihre Berufsperspektive verlieren,
sondern auch mit Blick auf den zunehmenden Fachkräf-
temangel, der zur Bremse für die wirtschaftliche Ent-
wicklung der Unternehmen wird. Sowohl die Wirtschaft
als auch die Politik stehen daher in der Verantwortung,
Jugendlichen die besten Berufschancen zu eröffnen.

Vor diesem Hintergrund ist es geradezu fahrlässig,
dass die Bundesregierung sich aufs Nichtstun verlegt.
Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP,
glauben offensichtlich, dass sich schon alles fügen wird,
wenn die Zahl der Schulabgänger weiter zurückgeht und
der Druck des Fachkräftemangels größer wird. Sie hof-
fen auf einen Automatismus, aber Sie werden vergeblich
hoffen. Nichts und niemand garantiert, dass die Schulen
automatisch besser werden oder dass die Wirtschaft
automatisch auch für nicht so gute Schülerinnen und
Schüler oder Schulabbrecher Ausbildungsplätze bereit-
stellt. Statt die Hände in den Schoß zu legen, müsste die
Bundesregierung endlich für bessere Rahmenbedingun-
gen sorgen, damit alle jungen Menschen die Möglichkeit
erhalten, gut qualifiziert ins Berufsleben zu starten.

Aber wer glaubt mit einer Verlängerung des Ausbil-
dungsbonus die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt
lösen zu können, ist auf dem Holzweg. Schon bei der
Einführung des Bonus haben wir Grünen seine Ziel-
genauigkeit und Reichweite bezweifelt. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen aus der SPD-Fraktion, von Anfang an
gab es darüber hinaus sowohl vonseiten der Arbeitgeber
als auch vonseiten der Gewerkschaften erhebliche Zwei-
fel an der Wirksamkeit des Ausbildungsbonus; das hätte
Ihrem damaligen Arbeitsminister zu denken geben müs-
sen.

Mit der Vorlage des Zwischenberichts zur Evaluation
des Ausbildungsbonus sind alle Skeptiker bestätigt wor-
den. 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze sollten
durch die Gewährung des Bonus bis Ende 2010 geschaf-
fen werden. Insgesamt wurde der Ausbildungsbonus seit
seiner Einführung in 44 700 Fällen gewährt. Aber laut
Zwischenbericht hätten 82 Prozent der Betriebe auch
9116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9117

Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

ohne den Ausbildungsbonus eine Altbewerberin oder ei-
nen Altbewerber eingestellt. Unter dem Strich sind
durch die Förderung weniger als 9 000 zusätzliche Aus-
bildungschancen entstanden. Berücksichtigt man noch,
dass in mehreren Bundesländern mit der Einführung des
Ausbildungsbonus ähnliche, aber günstigere Förderpro-
gramme weggefallen sind, so wie beispielsweise in
Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt, dann fällt die Bi-
lanz noch verheerender aus. Zudem wurden den Bei-
tragszahlern für wenig Wirkung hohe Kosten aufgebür-
det. Bis zum September 2010 wurden bereits über
66 Millionen Euro für den Ausbildungsbonus ausgege-
ben. Die Summe wird noch erheblich steigen, weil die
zweite Hälfte der Bonuszahlung erst bei der Anmeldung
zur Abschlussprüfung ausgezahlt wird.

Wir Grünen waren dagegen, den Ausbildungsbonus
einzuführen und wir sind dagegen, dieses Programm,
bei dem Anspruch und Wirklichkeit meilenweit aus-
einanderliegen, fortzuführen. Mit unserem Konzept
DualPlus haben wir Vorschläge unterbreitet, bei deren
Umsetzung für alle Jugendlichen eine gute Berufsausbil-
dung über neue überbetriebliche Ausbildungsstätten
möglich wird, ohne dafür weitere Millionen zu verpul-
vern.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708140200

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4191. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU,
FDP und der Grünen gegen die Stimmen der SPD bei
Enthaltung der Linken abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Hubertus
Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Insolvenzgeld – Umlagekasse nicht im Bundes-
haushalt vereinnahmen

– Drucksache 17/4188 –

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen, und zwar folgender Kolle-
ginnen und Kollegen: Axel E. Fischer, Bartholomäus
Kalb, Gabriele Lösekrug-Möller, Claudia Winterstein,
Sabine Zimmermann, Brigitte Pothmer.

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU):
Ich wünschte, wir würden in diesem Hause mehr De-

batten zu so erfreulichen Anlässen führen wie zur Verbu-
chung der Insolvenzgeldumlage für das ablaufende Jahr
2010. Denn der Überschuss der Insolvenzgeldumlage
von mehr als 1 Milliarde Euro ist ein deutliches Zeichen
dafür, wie unerwartet positiv sich unsere Wirtschaft in
den letzten Monaten entwickelt hat:

Die Zahl der Arbeitslosen ist auf unter 3 Millionen
gesunken. Die Wirtschaftsleistung ist so stark gestiegen
wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und die Unternehmen
suchen neue Arbeitskräfte, entwickeln neue Produkte
und Dienstleistungen und stellen wieder Menschen ein.
Die Arbeitsverhältnisse sind sicherer geworden, die Ar-
beitnehmer können ruhiger schlafen, denn Insolvenz ist
– anders als im vergangenen Jahr – kein beherrschendes
Thema mehr.

Und weil das niemand so voraussehen konnte, weil
selbst die Bundesregierung bei ihrer Einschätzung der
wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch der Insol-
venzen diese überaus positive Entwicklung nicht vorher-
gesehen hat, deshalb sind rund 1,1 Milliarden Euro der
Insolvenzgeldumlage von der Bundesagentur nicht für
Insolvenzgelder an Arbeitnehmer ausgegeben worden.

Auf der anderen Seite ist die Entwicklung bei der Zahl
der Arbeitslosen zwar auch positiv, aber leider hat sie
sich nicht so schnell und deutlich auf die Ausgaben der
Bundesagentur für Arbeit ausgewirkt. Und so ist es ge-
kommen, dass die Bundesagentur für Arbeit das lau-
fende Jahr 2010 mit einem Zuschussbedarf des Bundes
von rund 6 Milliarden Euro abschließt. Der ursprüngli-
che Haushalt ging noch von 16 Milliarden Euro aus.

Diese Last müssen jedoch keineswegs Arbeitgeber
und Arbeitnehmer alleine schultern; nein, zur Sicherung
von Arbeitsplätzen, zur Entlastung der Unternehmen,
zur Belebung unserer Wirtschaft hat die christlich-libe-
rale Bundesregierung für das laufende Jahr 2010 be-
schlossen, das ansonsten übliche zinslose Darlehen an
die Bundesagentur für Arbeit in einen Zuschuss umzu-
wandeln. Trotz der Neuverschuldung des Bundes in
Höhe von rund 50 Milliarden Euro gewährt der Bund
ganz bewusst statt des üblichen, zurückzuzahlenden
Darlehens für dieses Jahr der Bundesagentur für Arbeit
ausnahmsweise einen Zuschuss, um deren Defizit auszu-
gleichen. Und 6 Milliarden Euro, das sind rund 5 Mil-
liarden Euro mehr als der Überschuss der Bundesagen-
tur für Arbeit aus der Insolvenzgeldumlage der
Arbeitgeber.

Die Gemeinschaft der Steuerzahler übernimmt damit
in solidarischer Weise und in erheblichem Umfang Las-
ten, die ansonsten auch durch die Beitragszahler hätten
getragen werden müssen. Denn die Belebung des Ar-
beitsmarktes, das Schicksal Tausender Arbeitnehmer
und die Gesundung unserer Wirtschaft als Quelle unse-
res Wohlstandes und Lebensstandards sind wesentliche
Ziele, die die gesamte Gesellschaft betreffen und die da-
mit auch ausnahmsweise große Anstrengungen rechtfer-
tigen.

Wer diese herausragende und vorbildliche gesamtge-
sellschaftliche Solidaritätsleistung der Menschen im
Lande kleinzureden versucht, wer im Angesicht dieses
Kraftaktes mit für alle Beteiligten erfolgreichem Aus-
gang jetzt versucht, egoistische Eigenziele umzusetzen
und mit Klein-Klein das Ganze zu zerstören, der ist nicht
gut beraten.

Dies umso weniger, als die Zahlungen zur Insolvenz-
geldumlage für die Arbeitgeber nicht etwa verloren sind,
sondern mit den Zahlungen der kommenden Jahre ver-
rechnet werden. Damit werden durch den Bundeszu-
schuss von rund 6 Milliarden Euro in diesem Jahr Un-
ternehmen und Arbeitnehmer entlastet – im kommenden

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)



(A) (C)



(D)(B)

Jahr werden darüber hinaus die Arbeitgeber entlastet,
die aufgrund der Zahlungsüberschüsse in 2011 und auch
später von Beitragszahlungen zur Insolvenzgeldumlage
entlastet werden. So wurde der Umlagesatz für das Jahr
2011 auf 0,0 Prozent festgelegt, im Jahr 2010 betrug er
noch 0,41 Prozent. Das wird unsere Wirtschaft im der-
zeitigen wirtschaftlichen Aufschwung weiter stärken und
die Entstehung neuer Arbeitsplätze fördern.

Es ist festzustellen, dass Deutschland aufgrund rich-
tiger politischer Entscheidungen die Krise gut bewältigt
und wieder der Wachstumsmotor in Europa ist. Das Kri-
senprogramm der Bundesregierung hat uns gut aus der
Krise geführt, und auch der milliardenschwere Bundes-
zuschuss an die Bundesagentur war vor diesem Hinter-
grund eine richtige Maßnahme.

Dass die Bundesagentur für Arbeit bei einem Zu-
schuss von rund 6 Milliarden Euro jedoch nach dem Wil-
len der SPD auch eigene Rücklagen für das Jahr 2011
auf Kosten des Steuerzahlers bilden soll, würde die Soli-
darität der Steuerzahler vor dem Hintergrund einer er-
heblichen Neuverschuldung des Bundes überstrapazie-
ren. Eine solche Rückverlagerung der Finanzlasten der
Bundesagentur für Arbeit vom Jahr 2011 auf das Jahr
2010, in dem die Steuerzahler die Defizite der Bundes-
agentur für Arbeit durch einen Zuschuss in einem ein-
maligen Solidarakt übernommen haben, kann und darf
es nicht geben. Denn Hilfe ist immer auch Hilfe zur
Selbsthilfe, und es erschiene unfair, wenn die Nothelfer,
das heißt die Steuerzahler, nachträglich auch noch für
Speckpolster zur Kasse gebeten werden sollten. Dass es
für eine solche Rücklagenbildung keine Rechtsgrund-
lage gibt, die Antragsteller somit ohne rechtliche Hand-
habe über Jahrzehnte bewährte Haushaltsgrundsätze
infrage stellen, sei hier nur der Vollständigkeit halber
erwähnt. Denn weder sind die Einnahmen der Bundes-
agentur für Arbeit aus der Insolvenzgeldumlage zweck-
gebunden, noch sehe ich einen vernünftigen Grund, sie
zulasten des Bundeshaushaltes in das Jahr 2011 umzu-
buchen.

Mit diesem Antrag reden Sie von der SPD nicht nur
die große solidarische Leistung der Gemeinschaft der
Steuerzahler klein, die mit ihren Steuergroschen Arbeit-
nehmern, Arbeitgebern und auch der Bundesagentur für
Arbeit in diesem schweren Jahr 2010 mit dem Ziel der
Belebung unserer Wirtschaft geholfen haben, die
schwere Krise gut zu überwinden, um kraftvoll in die Zu-
kunft zu starten. Nein – indem Sie darüber hinaus auch
noch fälschlicherweise suggerieren, diese große solida-
rische Leistung der Steuerzahler würde zu einem Anstieg
zukünftiger Beitragsleistungen von Arbeitnehmern und
Arbeitgebern führen, offenbaren Sie ein geradezu unge-
höriges Maß an Unehrlichkeit und Verantwortungslo-
sigkeit. Denn die 6 Milliarden Euro aus der Bundeskasse
für die Bundesagentur für Arbeit haben mit dazu beige-
tragen, die Beitragsbelastungen für Arbeitnehmer und
Arbeitgeber auf einem erträglichen Niveau zu bewah-
ren. Die gut 1 Milliarde Euro umfassende Insolvenzgeld-
umlage ist hiervon nur ein vergleichsweise kleiner Teil.

Da es uns allen um eine erfolgreiche Krisenbewälti-
gung geht, ist mir vor diesem Hintergrund unverständ-
Zu Protokoll
lich, warum sie von der SPD auf einmal diese Erfolge
schlechtreden, ohne Not mit Gaukeleien in Taschen-
spielertrickmanier richtige Entscheidungen rückgängig
machen und an vielfach und lange bewährte Regelungen
und Strukturen Hand anlegen wollen. Deshalb ist der
Antrag abzulehnen.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1708140300

Die SPD fordert mit ihrem Antrag zum Insolvenzgeld

die Bundesregierung auf, die zum Jahresende 2010 nicht
verausgabten Mittel aus der Insolvenzgeldumlage bei
der Bestimmung der Höhe des Bundeszuschusses an die
Bundesagentur für Arbeit nicht in Ansatz zu bringen,
sondern stattdessen auf das Jahr 2011 zu übertragen.
Eine Verrechnung des Bundeszuschusses mit der nicht
verausgabten Insolvenzgeldumlage hätte zur Folge,
dass in 2011 Arbeitgeber und Arbeitnehmer den infrage
stehenden Betrag erneut aufbringen müssten, um die für
Insolvenzfälle benötigten Gelder bereitstellen zu kön-
nen. Die Beitragszahler würden damit doppelt belastet.
Dies könne nach Ansicht der SPD nicht akzeptiert wer-
den. Diese Auffassung der SPD ist falsch.

Die christlich-liberale Koalition hat Deutschland er-
folgreich aus der weltweiten Wirtschafts- und Finanz-
krise geführt. Dank der unerwartet guten konjunkturel-
len Entwicklung wird die für das Jahr 2010 auf-
gebrachte Insolvenzgeldumlage nicht vollständig benö-
tigt werden. Die Insolvenzgeldumlage wird zur Finan-
zierung des Insolvenzgeldes erhoben. Arbeitnehmer ha-
ben Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie bei Eröffnung
des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Ar-
beitgebers für die vorausgehenden drei Monate des Ar-
beitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt
haben.

Die von der SPD im Antrag angestrebte Separierung
der Mittel für die Insolvenzgeldumlage entspricht
jedoch nicht der geltenden Rechtslage. Ein möglicher
Überschuss bei der Insolvenzgeldumlage ist vielmehr
zur Verringerung des Bundeszuschusses an die Bundes-
agentur für Arbeit zu verwenden. Dies führt auch nicht
zu unangemessenen Belastungen, weder der Arbeitge-
ber- noch der Arbeitnehmerseite. Die von der SPD be-
fürchtete Doppelbelastung der Arbeitgeber- als auch der
Arbeitnehmerseite ist auf Basis der geltenden gesetzli-
chen Reglungen zur Insolvenzgeldumlage ausgeschlos-
sen. Die Höhe des Umlagesatzes ist nämlich so zu be-
messen, dass die voraussichtliche Entwicklung der
Insolvenzereignisse unter Berücksichtigung der mögli-
chen Fehlbestände und Überschüsse aus Vorjahren
durch die Einnahmen abgedeckt ist. Dies wird jedes
Jahr durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
les exakt berechnet. Für die geschätzten Insolvenzgeld-
ausgaben im kommenden Jahr wird dementsprechend
aufgrund des aktuellen Überschusses keine Umlage er-
hoben. Darüber hinaus kann nach heutigen Erkenntnis-
sen damit gerechnet werden, dass auch im Jahre 2012
nicht der volle Beitragssatz erhoben werden muss.

Soweit im nächsten Jahr Insolvenzgeld von der Bun-
desagentur für Arbeit geleistet werden muss, erhöht sich
zwar das Defizit der Bundesagentur und damit das vom
9118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)

Bund zu leistende Darlehen. Eine unbillige Belastung
der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber ist darin jedoch
nicht zu sehen. Trotz einer Neuverschuldung des Bundes
in diesem Jahr in Höhe von circa 50 Milliarden Euro
wird – abweichend von der üblichen Darlehnsgewäh-
rung – ein Bundeszuschuss in Höhe von circa 6 Milliar-
den Euro an die Bundesagentur bezahlt. Durch den
Bundeszuschuss werden die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler entlastet. Dies ist ein Vielfaches der
Summe, die von der SPD in ihrem Antrag als „Doppel-
belastung“ angesehen wird.

Zudem darf auch eines nicht vergessen werden: Hätte
die Insolvenzgeldumlage 2010 nicht ausgereicht, um
alle Ansprüche auf Insolvenzgeld abzudecken, hätten die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dies durch einen er-
höhten Bundeszuschuss ausgleichen müssen.


Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1708140400

„Plündern“ ist das richtige Wort für den Vorgang,

über den ich hier spreche. Und geplündert wird die In-
solvenzgeldumlagekasse bei der Bundesagentur für Ar-
beit. Nicht von denen, die eingezahlt haben, das sind die
Arbeitgeber, auch nicht von jenen, denen sie im Notfall
zugutekommen soll, das sind Arbeitnehmer und Arbeit-
nehmerinnen, die durch die Insolvenz ihres Arbeitgebers
keinen Lohn erhalten würden.

Der Plünderer sitzt im Finanzministerium und heißt
Wolfgang Schäuble, unser Bundesfinanzminister. Für
das Jahr 2010 reden wir über eine Summe von circa
1,1 Milliarden Euro, so prall gefüllt ist die Umlage-
kasse. Indem sie in den allgemeinen – defizitären – Etat
der Bundesagentur für Arbeit einbezogen wird, ist der
Bestand von jetzt auf gleich weg, das Defizit der BA um
1,1 Milliarden Euro kleiner; da freut sich unser Finanz-
minister. Doch beim Plündern erwischt zu werden, das
ist schon mehr als ein Kavaliersdelikt.

Dieser Vorgang ereignete sich während der letzten
Wochen, parallel zu den Haushaltsberatungen im Bun-
destag. Zeitgleich wurde den Arbeitgebern für das kom-
mende Jahr auf dem Verordnungswege, quasi als Weih-
nachtsgeschenk, Beitragsfreiheit für die Insolvenzkasse
in Aussicht gestellt. Also, erst die Kasse leeren und dann
die Kasse leer lassen. Damit will sich die SPD nicht ab-
finden. Daher unser Antrag!

Wir fordern darin, die bis zum Jahresende nicht ver-
ausgabten Mittel aus der Insolvenzgeldumlage auf das
Jahr 2011 zu übertragen und damit diesen Betrag bei
der Bestimmung der Höhe des Zuschusses an die BA
nicht zu berücksichtigen.

Dies ist sachgerecht und notwendig. Alleinige Ein-
zahler in die Insolvenzgeldumlagekasse sind die Arbeit-
geber, die für die Gehaltsfortzahlungen ihrer Mitarbei-
ter solidarisch vorsorgen. Jetzt sollen die Arbeitgeber
mit ihrer Umlagekasse mit mehr als 1 Milliarde Euro
herhalten, um den steuerfinanzierten Zuschuss zu min-
dern. Wurden sie gefragt? Wurde die Zweckgebunden-
heit aufgehoben? Ist der Kassenbestand mit Einwilli-
gung der Einzahler zur Spende mutiert? Wohl kaum. Ist
Zu Protokoll
das Vertrauensschutz der beitragsleistenden Unterneh-
men?

Wohl eher Raubrittertum und Wegelagerei des Fi-
nanzministeriums, und das Fachministerium ist zu
schwach, sich zu wehren! Bleibt die Insolvenzgeldumla-
gekasse leer, muss Insolvenzgeld gemäß § 183 SGB III
in den kommenden Jahren aus den allgemeinen Mitteln
der Bundesagentur bestritten werden, also paritätisch
beitragsfinanziert von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Wir Sozialdemokraten halten das für unverantwortlich.
Maßlose Kürzungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik
belasten ohnehin diesen Einzelplan. Nun kommt ein wei-
teres Risiko hinzu. Sollten die Turbulenzen im europäi-
schen Währungs- und Wirtschaftsraum deutsche Unter-
nehmen und Arbeitsplätze gefährden und Insolvenzen in
größerem Ausmaß eintreten, trifft das eine geplünderte
Bundesagentur. Sie können es drehen und wenden, wie
Sie wollen. Ihr Coup ist aufgeflogen und der Streit über
die Übertragbarkeit der Mittel in das kommende Haus-
haltsjahr Spiegelfechterei. Nun war in den letzten Tagen
zu hören, dass es im Ministerium für Arbeit und Soziales
auch keinen Stolz auf dieses Vorgehen mehr gibt. Wir So-
zialdemokraten begrüßen es, wenn Einsicht einkehrt und
Besserung angekündigt wird. Sie hätten es sich leicht
machen können. Eine einfache Gesetzgebung im ver-
kürzten Verfahren hätte noch in diesem Jahr Abhilfe
schaffen können. Doch dazu fehlte dem Haus von der
Leyen offenkundig die Kraft. Das ist sehr bedauerlich.
Wir Sozialdemokraten helfen da gern! Nutzen sie unse-
ren Vorschlag und stimmen Sie unserem Antrag zu!


Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Rede ID: ID1708140500

Thema dieser Debatte ist eine an sich erfreuliche Tat-

sache. Die Insolvenzgeldumlage, die die umlagepflichti-
gen Arbeitgeber 2010 gezahlt haben, wurde nicht in vol-
ler Höhe gebraucht. Die Befürchtung, es werde im Zuge
der Wirtschaftskrise zu einer größeren Zahl von Insol-
venzen kommen und entsprechend mehr Mittel aus der
Insolvenzgeldumlage benötigt, hat sich nicht bestätigt.
Das hat dazu geführt, dass am Jahresende 2010 eine
Summe von rund 1,1 Milliarden Euro nicht ausgegeben
wurde. Die logische Folgerung daraus ist: Wenn die Ar-
beitgeber dieses Jahr zu viel bezahlt haben, müssen sie
im nächsten Jahr weniger zahlen.

Genauso wird es auch gemacht. Der Umlagesatz wird
für 2010 auf null gesetzt. Im nächsten Jahr müssen die
umlagepflichtigen Arbeitgeber keine Insolvenzgeldum-
lage zahlen. Voraussichtlich wird auch 2012 der Umla-
gesatz geringer ausfallen als er ohne diesen Überschuss
sein müsste. Daneben stellt sich die Frage, wie der vor-
handene Überschuss von 1,1 Milliarden Euro buchhalte-
risch zu behandeln ist. Die SPD greift eine Anregung der
Bundesagentur für Arbeit auf und schlägt vor, diese
Summe ins Jahr 2011 zu übertragen. Leider hat dieser
Vorschlag einen Schönheitsfehler. Er ist rechtlich nicht
zulässig.

Rechtlich ist es vielmehr so, dass der Haushalt der
Bundesagentur für Arbeit als Ganzes betrachtet werden
muss. Die Bundesagentur weist für 2010 ein Defizit von
etwa 9,9 Milliarden Euro aus. Dem stehen angesam-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9119
gegebene Reden

Dr. Claudia Winterstein


(A) (C)



(D)(B)

melte Mittel aus der Insolvenzgeldumlage in Höhe von
1,1 Milliarden Euro gegenüber. Im Saldo beträgt das
Defizit der Bundesagentur 2010 also 8,8 Milliarden
Euro. Davon werden 2,9 Milliarden Euro aus der noch
vorhandenen Rücklage gedeckt, der Rest wird durch ei-
nen Bundeszuschuss ausgeglichen.

Auch 2011 wird der Bund ein Defizit der Bundesagen-
tur ausgleichen, allerdings nicht durch einen Zuschuss,
sondern durch ein Darlehen. Die Bundesagentur hat in
ihrem Haushaltplan für 2011 ein erwartetes Defizit von
4,3 Milliarden Euro ausgewiesen. Sie ist dabei aller-
dings davon ausgegangen, dass die in Rede stehenden
1,1 Milliarden Euro aus der Insolvenzgeldumlage auf
2011 übertragen werden. Da das – wie dargestellt –
nicht möglich ist, ändern sich die Zahlen, und das für
2011 anzusetzende Defizit beläuft sich auf vermutlich
5,4 Milliarden Euro. Diese Lücke wird der Bund dann in
Form von Darlehen abzudecken haben. Deshalb haben
wir das so im Bundeshaushalt auch bereits verankert.

Woran sich die Interessen in diesem Fall so heftig ent-
zünden, ist der Unterschied von Zuschuss heute und
Darlehen morgen. Es ist ja nachzuvollziehen, dass die
BA ein Interesse daran hat, eher Zuschuss als Darlehen
zu bekommen. Ebenso sollte aber nachzuvollziehen sein,
dass das Interesse des Bundes an einem solchen Ge-
schäft deutlich geringer ausgeprägt ist. Die Position des
Bundes ist dabei vom Haushaltsrecht gedeckt.

Nun gibt es die Anregung, das Haushaltsrecht so zu
ändern, dass die Mittel der Insolvenzgeldrücklage ge-
trennt vom Haushalt der Bundesagentur geführt werden
können. Das würde dann auch eine Übertragbarkeit er-
möglichen. Das wäre insofern günstig, als dann inner-
halb des Insolvenzgeldumlagetopfes Vorsorge für
schlechte Zeiten getroffen werden könnte. Bisher ist das
nicht möglich. Vielmehr wirkt die Insolvenzgeldumlage
bisher prozyklisch. Das heißt, in Krisenzeiten sind die
Umlagesätze besonders hoch. Das zu ändern, dafür sehe
ich durchaus Bereitschaft. Eine Gesetzesänderung im
Galopp noch für 2010, wie die SPD das vorschlägt,
halte ich aber nicht für sinnvoll.

Ich halte also fest: Die Bundesagentur bekommt, was
sie braucht, in diesem Jahr per Zuschuss, im nächsten
Jahr per Darlehen. Für die Handhabung der Über-
schüsse aus der Insolvenzgeldumlage in diesem Jahr
sind die Rechtsregeln klar und werden angewendet. Für
die künftige Handhabung der Insolvenzgeldumlage sind
aber Änderungen der Rechtsregeln durchaus möglich
und auch sinnvoll, damit wir das Thema nicht noch ein-
mal so streitig behandeln müssen.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708140600

Wer zahlt die Kosten für die Krise? Diese Frage treibt

Millionen Menschen in Deutschland um. Die schwarz-
gelbe Bundesregierung hat die Frage bisher klar beant-
wortet: Sie will die Banken und Großunternehmen unge-
schoren davonkommen lassen, die Krisenlasten auf die
breite Mehrheit der Bevölkerung abwälzen. Nach dem
Sparpaket wird das nun auch am Umgang mit der Insol-
venzkasse deutlich. Schwarz-Gelb will die Unterstüt-
zungsgelder für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Zu Protokoll
von pleitegegangen Unternehmen in den Bundeshaus-
halt umleiten, kurz: die Insolvenzkasse plündern.

Worum geht es? Gehen Unternehmen pleite, können
deren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für nichtge-
zahlte Löhne ein sogenanntes Insolvenzgeld beantragen,
maximal für die letzten drei Monate vor Eröffnung des
Insolvenzverfahrens. Die Gelder der Insolvenzkasse
werden durch eine Umlagezahlung der Arbeitgeber er-
bracht, die Kasse selbst von der Bundesagentur für Ar-
beit verwaltet. Das Insolvenzgeld ist damit eine wichtige
Unterstützungsleistung für Beschäftigte, um ausste-
hende Löhne zumindest zum Teil zu begleichen. Allein
2009 wurden rund 350 000 Anträge auf Insolvenzgeld
bewilligt, in diesem Jahr – trotz sich erholender Wirt-
schaft – monatlich immerhin noch 20 000 bis 25 000.

Angesichts der unerwartet schnellen wirtschaftlichen
Erholung wurden die Gelder der Insolvenzkasse nicht in
vollem Ausmaß in Anspruch genommen. Es werden vo-
raussichtlich 1,2 Milliarden Euro ungenutzt bleiben. Die
Bundesregierung will nun diese Gelder, die eigentlich
für die Beschäftigten vorgesehen sind, zweckentfremdet
in den Bundeshaushalt umleiten. Sie will den Zuschuss
für die Bundesagentur für Arbeit um diesen genannten
Betrag auf 5,8 Milliarden Euro kürzen. Das ist ein Skan-
dal und nicht hinzunehmen. Offensichtlich will die Bun-
desregierung hier Gelder der Arbeitnehmer benutzen,
um die Löcher im Haushalt zu stopfen, die die Banken-
rettung und Steuersenkungen für Unternehmen gerissen
haben.

Zu Recht spricht der DGB von einem „Taschenspie-
lertrick“ und will zusammen mit den Arbeitgebervertre-
tern im Verwaltungsrat der Bundesagentur dagegen sein
Veto einlegen. Die Linke unterstützt dies und fordert die
Bundesregierung auf, rechtliche Änderungen vorzuneh-
men, die sicherstellen, dass derzeitige und zukünftig un-
genutzte Insolvenzgelder in der Insolvenzkasse verblei-
ben, um sie zu einem späteren Zeitpunkt für ihren
eigentlichen Zweck zu nutzen. Das ist auch wichtig, weil
die Regierung beschlossen hat, die Insolvenzumlage für
das Jahr 2011 zu streichen. Insolvenzgeldzahlungen
müssten dann aus dem regulären Haushalt der Bundes-
agentur geleistet werden, deren Etat bereits empfindlich
gekürzt wurde.

Die Linke unterstützt deshalb den vorliegenden An-
trag der SPD, die wie die Linke entsprechende Maßnah-
men von der Regierung einfordert. Abschließend sollte
festgehalten werden: Es geht hier nicht allein um das In-
solvenzgeld. Es geht um die nachhaltige Finanzierung
der Arbeitslosenversicherung.

Mit dem sogenannten Eingliederungsbeitrag, den die
Bundesagentur für Arbeit als Strafsteuer an den Bund
abführen muss, sollen dieses und nächstes Jahr dem
Haushalt der Bundesagentur weitere 10 Milliarden Euro
zweckentfremdet entwendet werden, Geld, das für eine
solide und krisenfeste Finanzierung der Arbeitsmarkt-
politik fehlt, Geld, das für eine nachhaltige Qualifizie-
rung und Weiterbildung der Beschäftigten fehlt, um den
Abstieg in die Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern.
9120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9121

Sabine Zimmermann


(A) (C)



(D)(B)

Wenn es nun Gerüchte gibt, der Finanzminister über-
lege, der Bundesagentur den sogenannten Mehrwert-
steuerpunkt zu streichen, mit der die politisch gewollten
niedrigen Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung
ausgeglichen werden, dann ist klar: Die Bundesregie-
rung ist mit ihrer Sparpolitik noch nicht am Ende. Die
Befürworter einer guten Arbeitsmarktpolitik müssen
sich gemeinsam gegen diese Politik wehren und dabei
einen langen Atem haben.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708140700

Der Bundesfinanzminister nimmt die Bundesagentur

für Arbeit aus wie eine Weihnachtsgans, und was macht
die Arbeitsministerin? Sie jammert, will in Zukunft alles
besser machen, aber kurzfristig nicht daran rütteln.
Nachdem schon der Haushalt des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales drastisch zusammengestrichen
wurde, sind jetzt die Beitragszahler dran. Über 1 Mil-
liarde Euro soll aus dem Haushalt der Agentur in den
Bundeshaushalt umgeleitet werden. Dabei handelt es
sich um den diesjährigen Überschuss aus der Insolvenz-
geldumlage, die von den Arbeitgebern zweckgebunden
gezahlt wird.

Das Abkassieren dieses Überschusses ist ein Affront
gegen den Verwaltungsrat der Bundesagentur für Ar-
beit, gegen die Arbeitnehmer, die dann auch indirekt für
das Insolvenzgeld aufkommen müssen und gegen die Ar-
beitgeber, die mehrfach zur Kasse gebeten werden. Be-
reits im November hat der Verwaltungsrat einen gehar-
nischten Brief an den Finanzminister geschrieben und
darin ankündigt, sich mit rechtlichen Mitteln zu wehren,
„… wenn zweckgebunden aufgebrachte Arbeitgebermit-
tel tatsächlich im Bundeshaushalt verschwänden und die
Beitragszahler zusätzlich belasten“. Und weiter hat der
Verwaltungsrat geschrieben: „Würde im Genehmi-
gungsverfahren für den Haushalt der BA durch die Bun-
desregierung eine Auflage erlassen, die im Ergebnis ein
Verschwinden bereits gezahlter zweckgebundener Ar-
beitgeberumlagen im Bundeshaushalt zur Folge hätte,
würde der BA-Verwaltungsrat einer solchen Auflage
nicht folgen, weil er sich zu rechtswidrigem Verhalten
nicht zwingen lässt.“ Trotz der Bedenken und des Pro-
testes des Verwaltungsrates hat das Bundeskabinett ges-
tern genau so eine Auflage im Rahmen der Genehmi-
gung des Haushalts 2011 der Bundesagentur für Arbeit
beschlossen. Völlig zu Recht weigert sich die Bundes-
agentur jetzt, diesen mit Auflagen versehenen Haushalt
in Kraft zu setzen.

Frau Ministerin von der Leyen, ich appelliere an Sie:
Lassen Sie sich von Herrn Schäuble nicht länger über
den Tisch ziehen. Lassen Sie es nicht auf einen Rechts-
streit mit der BA ankommen. Überdenken Sie entweder
schleunigst Ihre Rechtsauffassung – denn der Verwal-
tungsrat hat offensichtlich eine andere – oder sorgen Sie
unverzüglich dafür, dass eine Rechtsgrundlage geschaf-
fen wird, die es ermöglicht, den diesjährigen Überschuss
aus der Insolvenzgeldumlage bei der BA zu belassen und
ins kommende Haushaltsjahr zu übertragen. Dazu hat
die SPD-Fraktion einen Vorschlag unterbreitet, dem
auch wir Grünen zustimmen. Erst abkassieren und für
die kommenden Jahre, in denen die BA nach der Haus-
haltsplanung von Union und FDP sowieso keinen Zu-
schuss mehr erhält, eine neue Rechtslage schaffen zu
wollen, ist ganz schön dreist.

Aber damit nicht genug. Nach Pressemeldungen plant
das Finanzministerium weitere Griffe in die Kasse der
Bundesagentur für Arbeit. Mitte November war in eini-
gen Zeitungen zu lesen, dass der Bundesfinanzminister
überlegt, künftig keine Mehrwertsteuereinnahmen mehr
an die BA zu überweisen, die der Bund für die Beteili-
gung an den Kosten der Arbeitsförderung zahlt. Ange-
dacht ist, diese acht Milliarden Euro irgendwie zu nut-
zen, um im Rahmen der Gemeindefinanzreform die
Kommunen zu entlasten. Auch hier gab es auf meine An-
frage nur ein ziemlich laues Dementi.

Meine Damen und Herren von Union und FDP, las-
sen Sie endlich die Finger vom BA-Haushalt, sonst müs-
sen Sie am Ende entweder den Beitragssatz für die
Arbeitslosenversicherung anheben, oder die Arbeits-
agentur muss die Unterstützung der Arbeitslosen zusam-
menstreichen. Beides ist schlecht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708140800

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der

Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4188. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Opposi-
tionsfraktionen abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander
Ulrich, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

zu dem Vorschlag der Europäischen Kommis-
sion für eine Richtlinie des Europäischen Par-
laments und des Rates über die Bedingungen
für die Einreise und den Aufenthalt von Dritt-
staatsangehörigen im Rahmen einer konzern-

(KOM Ratsdok. 12211/10)


hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bun-
destag in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union

Vorschlag der Europäischen Kommis-
sion zur Konzernentsenderichtlinie zu-
rückweisen

– Drucksache 17/4039 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re-
den folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll
genommen: Stephan Mayer, Daniela Kolbe, Hartfrid
Wolff, Alexander Ulrich, Memet Kilic.

(A) (C)



(D)(B)


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708140900

Die EU-Kommission hat am 13. Juli dieses Jahres ei-

nen seit langem erwarteten Vorschlag zur erleichterten
Zuwanderung von Arbeitskräften in die Europäische
Union vorgelegt. Der Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedin-
gungen für die Einreise und den Aufenthalt von Dritt-
staatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen
Entsendung ist Bestandteil des „Strategischen Plans zur
legalen Zuwanderung“ der Kommission aus dem Jahr
2005. Der strategische Plan war durch die Aufnahme in
das Stockholmer Programm für die Jahre 2010 und 2014
nochmals durch den Rat bestätigt worden.

Ziel der Richtlinie ist es, die befristete konzerninterne
Entsendung von Führungs- und Fachkräften sowie Trai-
nees aus Drittstaaten in die EU zu erleichtern und die
Mobilität der entsandten Arbeitnehmer innerhalb der
EU zu verbessern. Zu diesem Zweck soll auf der Grund-
lage harmonisierter Kriterien ein unionsweit einheitli-
ches Zulassungsverfahren sowie ein spezieller Aufent-
haltstitel für konzernintern entsandte Arbeitnehmer
geschaffen werden, der seinen Inhabern bestimmte Mo-
bilitäts- und Gleichbehandlungsrechte verleiht. Ferner
sieht der Richtlinienvorschlag Erleichterungen bei den
Bedingungen für den Familiennachzug zu konzernintern
Entsandten vor.

Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich bei dem
Dokument um einen „Entwurf“ und somit noch nicht um
eine abschließende Richtlinie. Dementsprechend haben
auf europäischer Ebene bisher auch nur erste Gesprä-
che und noch keine abschließenden Verhandlungen über
die einzelnen Vorgaben der Richtlinie stattgefunden.

Die mit dem vorliegenden Antrag der Linken be-
zweckte vollständige Ablehnung des Entwurfs der Richt-
linie ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur verfrüht,
sondern sie ist auch inhaltlich unbegründet. Im Gegen-
teil, grundsätzlich sollte man dem Vorschlag der EU-
Kommission durchaus wohlwollend gegenüberstehen,
so wie dies im Übrigen auch der Bundesrat in seiner
Stellungnahme vom 24. September dieses Jahres und die
Bundesregierung in einer ersten Einschätzung getan ha-
ben.

Ich teile die Einschätzung, dass es sich bei dem vor-
gelegten Entwurf um anerkennenswerte Bemühungen
der EU-Kommission handelt, der Nachfrage multinatio-
naler Unternehmen nach Führungs- und Fachkräften
sowie Trainees aus Drittstaaten für ihre Zweigniederlas-
sungen und Tochtergesellschaften Rechnung zu tragen,
um den innerbetrieblichen Transfer dieses Personen-
kreises in die EU zu erleichtern und somit die Attraktivi-
tät der EU als Standort für multinationale Unternehmen
zu erhöhen. Hiervon würde mit Sicherheit auch die Bun-
desrepublik Deutschland profitieren.

Es steht auch außer Frage, dass das Ziel, den Perso-
nalaustausch innerhalb von verbundenen Unternehmen
mit Drittstaaten zu erleichtern, nicht von den Mitglied-
staaten alleine verwirklicht werden kann. Insbesondere
können die vorgesehenen Mobilitätsrechte für konzern-
intern Versandte nur durch eine unionsweite Regelung
realisiert werden.
Zu Protokoll
Die Einführung eines einheitlichen Verfahrens und
die Anwendung einheitlicher Kriterien für die Zulassung
dieses Personenkreises stellen somit ein geeignetes Mit-
tel einer kontrollierten und bedarfsorientierten Zuwan-
derung angesichts ökonomischer und demografischer
Entwicklungen dar.

Nichtsdestotrotz müssen an der derzeitigen Entwurfs-
fassung der Richtlinie noch erhebliche Veränderungen
vorgenommen werden, damit Deutschland ihr zustim-
men kann und damit auch das von der EU-Kommission
selbst verfolgte Ziel einer Erleichterung der konzernin-
ternen Entsendung von Mitarbeitern in der EU effizient
erreicht wird.

Nachfolgend möchte ich einige wesentliche Punkte
aufzählen, bei denen auch ich noch einen Verbesse-
rungsbedarf bei dem derzeit vorliegenden Entwurf der
Richtlinie sehe:

Die Gleichbehandlungsrechte im Bereich der sozia-
len Sicherheit, insbesondere im Hinblick auf Familien-
leistungen und Rentenansprüche, sind in der derzeitigen
Entwurfsfassung der Richtlinie sehr weitgehend.

Eine Gleichbehandlung von konzernintern Entsende-
ten und Unionsbürgern im Hinblick auf Familienleistun-
gen, wie zum Beispiel Kindergeld, Elterngeld, Kinderzu-
schlag, kann jedoch aus meiner Sicht nicht mit den
bisher im deutschen Recht geltenden Prinzipien für
Drittstaatsangehörige in Einklang gebracht werden.

Bisher erhalten nur solche Drittstaatsangehörige
Familienleistungen, die voraussichtlich dauerhaft in
Deutschland sind. Dies trifft auf konzernintern Entsen-
dete jedoch gerade nicht zu. Die in dem Entwurf der
Richtlinie verankerte Gleichstellung muss daher aus
meiner Sicht kritisch hinterfragt werden. Dies sollte Ge-
genstand zukünftiger Verhandlungen auf europäischer
Ebene sein.

Der Entwurf der Richtlinie ermöglicht in Art. 10
Abs. 7 eine vereinfachte Antragstellung für einzelne Un-
ternehmensgruppen. In der Begründung der Richtlinie
wird hierzu ausgeführt, dass diese zumindest befristet
über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren gewährt wer-
den kann. Die Notwendigkeit für eine solche Regelung
ist aus meiner Sicht nicht offensichtlich.

Wesentliche Zielsetzung des Richtlinienvorschlags ist
es, ein schnelles und unbürokratisches Verfahren für alle
konzernintern entsandten Drittstaatsangehörigen zu in-
stallieren. Die notwendigen staatlichen Kontrollmecha-
nismen zur Vermeidung von Missbrauch und Umgehung
der Vorschriften müssen aber trotzdem gewährleistet
bleiben. Daher ist die von der EU-Kommission vorgese-
hene Verfahrenserleichterung durchaus kritisch zu se-
hen. Selbst wenn Deutschland diese Option bei der Um-
setzung in nationales Recht nicht übernehmen würde,
könnten dadurch, dass andere Mitgliedstaaten hiervon
Gebrauch machen würden und eine Weiterentsendung
nach Deutschland nach der Richtlinie ohne eine erneute
Prüfung zulässig sein soll, bisherige und vor allem be-
währte Kontrollmechanismen ausgehebelt werden. Da-
her sollte die Bundesregierung auch dieses Thema zum
9122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Gegenstand der Verhandlungen mit den anderen Mit-
gliedstaaten und der EU-Kommission machen.

Ebenfalls Gegenstand von weiteren Verhandlungen
sollte auch Art. 12 des Entwurfs der Richtlinie sein. Die
mit „Verfahrensgarantien“ überschriebene Vorschrift
vermittelt auf den ersten Blick durchaus einen missver-
ständlichen Eindruck. Es sollte daher klargestellt wer-
den, dass der in Art. 12 Abs. 3 Satz 2 versteckte Hinweis,
dass bei Ablehnung eines Antrages das nationale Recht
und die nationalen Rechtsbehelfe zur Anwendung kom-
men, noch einmal herausgestellt und gegebenenfalls
auch durch eine Veränderung der Überschrift verdeut-
licht werden.

So könnte wirksam ausgeschlossen werden, dass et-
waige Fristversäumnisse nach Art. 12 Abs. 1 unmittel-
bar zu schadensersatzrechtlichen Folgen führen können.

Schwierigkeiten sehe ich auch bei dem bisherigen Re-
gelungsansatz des Entwurfs in Art. 16, der Mobilität
zwischen den Mitgliedstaaten. Es ist aus meiner Sicht
nicht ausreichend, dass eine erneute Antragstellung bei
einer Entsendung, die über zwölf Monate hinausgeht,
nur verlangt werden kann, vergleiche Art. 16 Abs. 2.
Vielmehr müsste hier der Regelfall eine Pflicht zur er-
neuten Antragstellung sein. Schließlich gilt nach dem
bisherigen Aufenthaltsrecht in Deutschland, dass, so-
bald ein veränderter bzw. neuer Zweck für einen Aufent-
halt vorliegt, eine erneute Überprüfung der Aufenthalts-
erlaubnis erforderlich ist.

Auch die Frage, was nach Ablauf der konzerninter-
nen Entsendung nach Europa mit dem Drittstaatsange-
hörigen passiert, ist aus meiner Sicht im Entwurf der
Richtlinie nur unzureichend geregelt. Schließlich lassen
die bisherigen Regelungen durchaus eine Kettenentsen-
dung über den in Art. 16 Abs. 3 des Entwurfs angegebe-
benen Zeitraum von drei Jahren zu. Dieses kann jedoch
gerade nicht das Ziel der Richtlinie sein. Schließlich legt
die Richtlinie Wert auf eine vorübergehende Entsendung
und nicht auf einen dauerhaften Transfer. Hierfür gibt es
im Übrigen auch bereits ausreichende nationale Rege-
lungen sowie die noch von den Mitgliedstaaten umzuset-
zende Richtlinie zur EU-Blue-Card, 2009/50/EG, vom
25. Mai 2009.

Die christlich-liberale Koalition setzt sich äußerst
kritisch mit den Vorschlägen der EU-Kommission zu
möglichen Veränderungen für die nationalen Arbeits-
märkte auseinander. Der Entwurf der EU-Kommission
ist zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs zustimmungsreif,
da noch erhebliche Veränderungen vorgenommen wer-
den müssen.

Diese Veränderungen können aber durch die Bundes-
regierung im Wege eines kooperativen und konstruktiven
Austauschs mit den anderen Mitgliedstaaten und der
EU-Kommission erreicht werden. Eine vollständige Ab-
lehnung des Entwurfs halte ich daher derzeit für nicht
angezeigt.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1708141000

Die Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaa-

ten befassen sich seit geraumer Zeit mit den von der EU
Zu Protokoll
dargelegten Richtlinienvorschlägen über Bedingungen
für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsange-
hörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung.

Auch wir im Innenausschuss als federführendem Aus-
schuss befassen uns seit Wochen intensiv mit diesem
Richtlinienentwurf. Die vorliegende Richtlinie der EU
geht – dies ist sicherlich unstrittig – auf das Haager
Programm vom November 2004 zurück. Bereits 2004
wurde festgestellt, dass „legale Zuwanderung … eine
wichtige Rolle beim Ausbau der wissensbestimmten
Wirtschaft in Europa und bei der Förderung der wirt-
schaftlichen Entwicklung spielen“ wird. Dadurch wurde
die Kommission aufgefordert, ein Konzept zur legalen
Zuwanderung zu entwickeln. Ein Teilergebnis dieser
Aufforderung ist die uns vorliegende Richtlinie für die
konzerninterne Entsendung aus Drittstaaten. Von der
EU werden weitreichende Änderungen für die Arbeits-
migration in den Ländern der Europäischen Union an-
gestrebt. Die Richtlinie, die zusammen mit der Richtlinie
über die Ausübung der saisonalen Beschäftigung ge-
nannt werden sollte, wurde im Juli 2010 von der Kom-
mission verabschiedet und ist Teil des strategischen
Plans zur legalen Zuwanderung in der EU.

Der vorliegende Richtlinienentwurf der EU weist je-
doch noch gravierende Mängel auf, die für Deutschland
und andere EU-Staaten zu negativen Konsequenzen füh-
ren können. Lohndumping, Entrechtung von entsendeten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und der Verlust
der staatlichen Kontrolle über Zuwanderung sind die
drei entscheidenden Punkte für uns Sozialdemokraten.

Das sieht auch die Linke so; die Konsequenz, die
Richtlinie komplett abzulehnen, teilen wir jedoch nicht.
Richtig ist aber, dass es an der einen oder anderen we-
sentlichen Stelle dringend Nachbesserungen und Klä-
rungen geben muss.

Ziel des Kommissionsvorschlags ist es ja, legale Im-
migranten in verschiedenen Bereichen in der gesamten
EU gleich zu behandeln und gleiche Regelungen zu
schaffen. Das Problem liegt jedoch im Detail.

Die Richtlinie sieht für die Arbeitsverhältnisse eine
Entsendung vor und nicht, wie beispielsweise die Richt-
linie zur Blue Card, eine Versetzung. Kritisch zu be-
trachten ist auch die Abweichung der EU vom strategi-
schen Plan mit der in der Richtlinie enthaltenen
Entsendung von Arbeitskräften aus Drittstaaten in die
EU. Richtig kritisch wird es aber dann, wenn, wie man
in der Richtlinie nachlesen kann, der Einsatz von Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern ohne ausreichende Ab-
sicherung von Arbeitnehmerrechten und einer entspre-
chend für den Betrieb geltenden Tarifentlohnung
stattfindet. Hier werden Arbeitnehmerrechte mit Füßen
getreten. Wir erwarten hier ein energisches Eintreten
der Bundesregierung, das zu ändern. Unklar sind auch
einige Begriffe in der Richtlinie; was genau Führungs-
kräfte, Fachkräfte und Trainees sind, ist nicht klar defi-
niert. Hier muss auch im Sinne deutscher Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer nachgebessert werden.

Interessant ist aber auch die Frage der Weiterentsen-
dungsmöglichkeiten. Denn mit dem Richtlinienvor-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9123
gegebene Reden

Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

schlag wird den Mitgliedstaaten jegliche Steuerungs-
möglichkeit in Bezug auf die Zuwanderung genommen.
Die Quotenregelungen, die den Mitgliedstaaten zuge-
standen werden, gelten nämlich nur für Entsendungen
aus Drittstaaten und nicht für Weiterversendungen in-
nerhalb der EU. Auch hier muss dringend nachgebessert
werden, sonst wird Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Der größte und gefährlichste Knackpunkt – und hier
fordere ich die Bundesregierung im Sinne der deutschen
Unternehmen und vor allem im Sinne unserer Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer auf, bei der EU tätig zu
werden – ist die Regelung über die Entlohnung. Denn
die in der Richtlinie getroffene Regelung heißt für
Deutschland nichts anderes als eine eklatante Auswei-
tung von Niedriglöhnen. Für die Bezahlung bindend
sind lediglich allgemeinverbindliche Tarifverträge. Wir
verlangen von der Bundesregierung deshalb zweierlei.
Ich fordere Sie auf: Treffen Sie schon jetzt Vorkehrun-
gen, und führen Sie endlich einen gesetzlichen Mindest-
lohn ein! Nehmen Sie alle Branchen in das Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz auf!

Ebenso ist es dringend notwendig, dass Leiharbeits-
konzerne von der Geltung der Richtline zur konzern-
internen Entsendung ausgenommen werden. Und sorgen
Sie dafür, dass auch regionale Tarifverträge und Haus-
tarifverträge für entsandte Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bindend sind!

Wie bereits angedeutet, werden wir als SPD-Fraktion
einen Antrag in den Bundestag einbringen, der die von
mir genannten Knackpunkte aufnimmt und genau dort
mit dienlichen Nachbesserungen des Richtlinienvor-
schlages der EU ansetzt. Pure Ablehnung, wie sie die
Linksfraktion hier wieder betreibt, allein genügt nicht.
Wir wollen den Vorschlag konstruktiv begleiten und im
Sinne und Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sowie unserer Unternehmen verbessern.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Deutschland hat sich in der weltwirtschaftlichen

Krise der vergangenen Jahre relativ gut behauptet. Das
kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch
zahlreiche hausgemachte Probleme gibt, die gelöst wer-
den müssen, um Deutschland im internationalen Wettbe-
werb besser aufzustellen. In vielen Branchen stockt der
wirtschaftliche Aufschwung. Einer der Gründe ist darin
zu sehen, dass bereits seit längerer Zeit ein akuter Fach-
kräftemangel in Deutschland herrscht. Gerade jetzt wer-
den aber Fachkräfte benötigt, die innovative Ideen in
Produkte einbringen.

Ein wichtiger Baustein zur Lösung der bestehenden
Probleme im Bereich der fehlenden internationalen
Fachkräfte ist eine grundlegende Änderung und Verein-
fachung der Zuwanderung von international tätigen
Fachkräften aus dem Ausland im unternehmensinternen
Bereich.

Dazu kommt, dass wir immer mehr eine internatio-
nale Flexibilität brauchen.

Zahlreiche Unternehmen sind inzwischen internatio-
nal tätig. Durch diese globale Vernetzung sichern die
Zu Protokoll
Unternehmen auch Arbeitsplätze am Standort Deutsch-
land. Die internationale Vernetzung bedingt aber auch
ein hohes Maß an Mobilität für die Beschäftigten der
Unternehmen. Die Unternehmen entsenden ihre Mitar-
beiter meistens für einen begrenzten Zeitraum, um die
weltweite Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens
zu optimieren.

Die Entsendungen haben die unterschiedlichsten
Gründe: So werden beispielsweise durch unternehmens-
interne Entsendungen Schlüsselpositionen besetzt, wenn
an einem Standort ein Fachkräftemangel herrscht, wie
dies zum Beispiel in Deutschland der Fall ist. Andere
Gründe können die gewollte Zusammensetzung interna-
tionaler Projektteams, die Ausbildung von Mitarbeitern
oder der Austausch von Know-how sein. Teilweise wer-
den für einen bestimmten Zeitraum eingearbeitete Spe-
zialisten benötigt, die den Arbeitsprozess wesentlich be-
schleunigen und so dem in Deutschland ansässigen Un-
ternehmen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Mitbe-
werbern aus anderen Ländern verschaffen können.

Gerade in dieser schwierigen Phase für unsere Un-
ternehmen müssen diese die Möglichkeit haben, Mitar-
beiter flexibel zu einsetzen. Diese Mobilität von Mitar-
beitern trägt auch dazu bei, dem drohenden Arbeits-
platzabbau entgegenzuwirken. Die innerbetrieblich ent-
sandten Mitarbeiter haben für die Unternehmen auch
den entscheidenden Vorteil, dass diese eingearbeitet
sind, sich in der Unternehmensstruktur auskennen und
so ohne Reibungsverluste dem betreffenden Unterneh-
men und der deutschen Wirtschaft von Nutzen sein kön-
nen.

Die Sorge einer Zuwanderung „in die Sozialsysteme“
ist bei der unternehmensinternen Entsendung keinesfalls
gerechtfertigt, da diese Zuwanderer alle bereits über ei-
nen Arbeitsplatz verfügen und in der Regel auch nur für
einen begrenzten Zeitraum in Deutschland bleiben. Aus
diesem Grund ist es gängige Praxis, dass für Entsandte
die Sozialversicherung im Heimatland fortgeführt wird.
Die unternehmensinterne Zuwanderung besonders qua-
lifizierter Arbeitnehmer erhält nicht nur Arbeitsplätze,
sondern schafft dabei auch neue Arbeitsplätze für wei-
tere Arbeitnehmer unterschiedlicher Qualifikation in
Deutschland. Es liegt also auch im wirtschaftlichen In-
teresse der Bundesrepublik Deutschland, die Zuwande-
rung im unternehmensinternen Bereich grundlegend zu
erleichtern.

Viele andere europäische Länder sind hier wesentlich
besser aufgestellt als Deutschland. Sie holen im Gegen-
satz zu Deutschland hochqualifizierte Fachkräfte und
Führungskräfte beispielsweise mit steuerlichen Anrei-
zen ins Land. Deutschland muss hier im internationalen
Wettbewerb nachziehen und dringend Korrekturen vor-
nehmen. Hierin liegt ein bislang nicht ausgeschöpftes
Potenzial der Schaffung von Arbeitsplätzen am Standort
Deutschland.

Inwieweit der Vorschlag der EU dazu hilfreich ist, ist
sicherlich diskussionswürdig. Es ist darauf zu achten,
dass keine überbordende Bürokratie oder zu weitge-
hende Bindungen, zum Beispiel hinsichtlich einer Ver-
9124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

längerung oder einer anschließenden, möglicherweise
dauerhaften Einreise, entstehen.

Die sozialistische Stimmungsmache der Linken vom
bösen internationalen Kapital in „multinationalen Kon-
zernen“ und deren „ökonomischen Verwertungsinteres-
sen“ an „billigen Arbeitskräften“ ist dagegen ein
Schauerstück aus dem 19. Jahrhundert. Der antikapita-
listische Kampfgeist ist über das intellektuell Zuträgli-
che hinausgeschossen. Der Linken geht es darum, Ideo-
logie zu verkaufen, statt sich um die Zukunft zur
Sicherung des Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandorts
Deutschland zu kümmern.


Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708141100

Ich bedauere es außerordentlich, dass die Debatte zu

diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll geht und damit
die Chance einer offenen und öffentlichen Aussprache
vergeben wird.

Zugegeben: Das Thema klingt beim ersten Hören
recht trocken. Die Europäische Kommission schlägt eine
Richtlinie vor, welche die konzerninterne Entsendung
von Drittstaatsangehörigen regelt. Betrachtet man den
Vorschlag jedoch genauer, kommen Erinnerungen an die
Diskussionen um die Dienstleistungsrichtlinie auf – Dis-
kussionen, die keinesfalls lautlos und unbemerkt von der
Öffentlichkeit stattgefunden haben.

Die Hauptkritik von Gewerkschaften und Linken an
der Dienstleistungsrichtlinie war, dass sich durch die
Entsendung von Beschäftigten innerhalb der Europäi-
schen Union die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen
für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ver-
schlechtern. Das Herkunftslandprinzip – für die ent-
sandten Beschäftigten gelten die Arbeitsbedingungen ih-
rer Heimatländer – war bei den damaligen Diskussionen
in aller Munde. Auch die skandalösen, arbeitnehmer-
feindlichen Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu
Laval, Rüffert und Luxemburg haben noch einmal deut-
lich gemacht, dass die Mitgliedstaaten für entsandte Be-
schäftigte das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit
am gleichen Ort“ nicht durchsetzen dürfen. Einfordern
können sie nur Mindeststandards, die in der Entsende-
richtlinie festgelegt sind.

Was bedeutet das konkret? Wenn ein portugiesisches
Bauunternehmen seine Beschäftigten nach Frankreich
schickt, um dort eine Schule zu renovieren, dann darf
Frankreich nicht verlangen, dass für die portugiesischen
Bauarbeiter der gleiche Lohn, der gleiche Urlaubsan-
spruch, die gleichen Ruhezeiten etc. gelten wie für ihre
französischen Kollegen. Das macht die portugiesischen
Bauunternehmen besonders billig – und setzt die franzö-
sischen Standards unter Druck. Die Folge sind Lohn-
und Sozialdumping, schlechtere Löhne und Arbeitsbe-
dingungen in allen Ländern der EU.

All dies passiert schon seit Jahren – politisch gewollt
oder zumindest ohne effektive Gegenwehr durch die ver-
antwortlichen Regierungen, auch die deutsche Bundes-
regierung!

Die Konzernentsenderichtlinie ist nun eine weitere
Stufe in diesem Prozess des organisierten Lohn- und So-
Zu Protokoll
zialdumpings. Es geht hierbei ebenfalls um die Entsen-
dung von Beschäftigten, allerdings nicht von Bürgerin-
nen und Bürgern aus EU-Mitgliedstaaten, sondern von
außerhalb der EU, aus sogenannten Drittstaaten.

International tätige Konzerne sollen nach dem Willen
der Europäischen Kommission in Zukunft ihre Beschäf-
tigten für einige Jahre in ihre Niederlassungen inner-
halb der EU entsenden können. Auf diese Weise soll die
Wettbewerbsfähigkeit der Konzerne steigen – auf Kosten
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer!

Genau wie bei der Entsendung von EU-Beschäftigten
dürfen die Mitgliedstaaten, in welche die Drittstaats-
angehörigen entsandt werden, in Bezug auf Entlohnung
und Arbeitsbedingungen nur die eben genannten Min-
deststandards einfordern. Und es kommt sogar noch
schlimmer: Wenn die Drittstaatsangehörigen innerhalb
der EU weitergesandt werden, gelten an den weiteren
Beschäftigungsorten nur die Bedingungen des Erstauf-
nahmestaates.

Was bedeutet das konkret? Ein europaweit tätiger
Baukonzern mit einer Niederlassung – Hauptsitz ist
nicht notwendig – in Bangladesch beschäftigt dort Men-
schen, die eine einjährige Ausbildung mit einem Zeugnis
abgeschlossen haben, dann gelten sie der Richtlinie
nach als Fachkräfte. Er entsendet sie in seine slowaki-
sche Niederlassung. Dort sind sie ihren slowakischen
Kolleginnen und Kollegen nur in Bezug auf die Mindest-
standards gleichgestellt, bei den Löhnen auch nur dann,
wenn es einen gesetzlichen Mindestlohn oder einen für
allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag gibt. Damit
nicht genug: Der Konzern kann diese Beschäftigten von
der Slowakei aus in seine Niederlassungen in allen an-
deren Mitgliedstaaten entsenden, wo sie dann zu den in
der Slowakei geltenden Mindestarbeitsbedingungen ar-
beiten dürfen. Das ist nichts anderes als das Herkunfts-
landprinzip. Die Auswirkungen auf Arbeitsplätze und
Einkommenschancen werden verheerend sein.

Es kann einfach nicht sein, dass von der europäischen
Ebene ständig versucht wird, die nationale Sozialstaat-
lichkeit zu untergraben. Der vorliegende Richtlinienent-
wurf ist auch deshalb besonders perfide, weil er Be-
schäftigte aus Drittstaaten für dieses Ziel missbraucht.
Es geht der Kommission mit ihrem Vorschlag keines-
wegs darum, diesen Menschen hier Beschäftigungs-
chancen oder gar eine Lebensperspektive zu schaffen.
Im Gegenteil: Sie dürfen nur einreisen, wenn sie für ein
Unternehmen nützlich sind, und müssen immer wieder in
ihre Heimatländer zurückkehren, euphemistisch spricht
man hier von zirkulärer Migration. Sollten die Beschäf-
tigten es wagen, sich gegen ihre miserablen Arbeitsbe-
dingungen in der EU zu wehren, so können sie dies nur
vor Gerichten ihres Heimatstaates tun. Die Kündigung
und damit Abschiebung in ihr Heimatland, wo sie dann
arbeitslos sind, wäre ihnen gewiss. Auf diese Weise ent-
steht – wie die IG BAU in ihrer Kritik am Richtlinienent-
wurf treffend schreibt – eine „neue Klasse von völlig un-
ternehmensabhängigen Lohnsklaven“.

Lassen Sie es mich zusammenfassen: Die Konzern-
entsenderichtlinie würde nach ihrer Verabschiedung
eine neue Runde im europaweiten Lohn- und Sozialdum-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9125
gegebene Reden

9126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Alexander Ulrich


(A) (C)



(D)(B)

ping einläuten, auf dem Rücken wehrloser Drittstaats-
angehöriger. Dies würde dem Sozialen Europa – sofern
man überhaupt noch davon sprechen kann – den Todes-
stoß versetzen.

Die Linke fordert die Bundesregierung daher in ihrem
Antrag auf, den Richtlinienentwurf im Ministerrat abzu-
lehnen. Stattdessen soll sich die Bundesregierung end-
lich auf wirksame Schritte in Richtung eines sozialen
Europa einsetzen. Dazu gehört an erster Stelle die Ein-
führung einer Sozialen Fortschrittsklausel!


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708141200

Meine Fraktion begrüßt die grundsätzliche Bestre-

bung der Europäischen Kommission, die Rechte von
Migrantinnen und Migranten in Europa einheitlich zu
gestalten und die Antragsverfahren transparent und
leichter zugänglich zu machen.

Dazu gehört die Blue Card, der Richtlinienentwurf
zur saisonalen Beschäftigung und nun hier auch die ge-
plante Richtlinie zur konzerninternen Entsendung.

Leider geht es im vorliegenden Entwurf aber offen-
sichtlich nicht primär darum, den Menschen aus Dritt-
ländern bessere Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen in
Europa einzuräumen. Stattdessen befriedigt der Richt-
linienentwurf bislang in erster Linie einseitig die Be-
dürfnisse der Konzerne.

Multinationale Konzerne würden durch sie ganz er-
heblich beim Transfer ihrer Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter in die und innerhalb der EU begünstigt. Hiesige
Unternehmen könnten die scheunentorgroßen Lücken
dieser Richtlinie nutzen, um unter schlechtester Bezah-
lung Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu be-
schäftigen. Eine signifikante EU-weite Verbesserung der
Rechte der betroffenen Menschen gibt es dagegen leider
nicht.

Es ist die Mischung aus Regelungslücken in Verbin-
dung mit fehlenden deutschen Sozialstandards, die diese
Richtlinie so brisant macht.

Erstens: In Ausweitung der bisherigen Regelung der
Beschäftigungsverordnung wird die konzerninterne Ent-
sendung durch diese Richtlinie geöffnet für sogenannte
„Fachkräfte“, für die aber keine einheitlichen Mindest-
standards definiert sind. Daher fallen hierunter auch
alle angelernten Arbeitskräfte.

Zweitens gibt es leider in Deutschland im Gegensatz
zu den meisten anderen EU-Ländern in einem Großteil
der Branchen weder einen allgemeinverbindlichen Min-
destlohn noch allgemeinverbindliche Tarifverträge.

Drittens können sich die nicht weiter präzisierten Be-
stimmungen hinsichtlich der Weiterentsendung in ein
anderes Mitgliedsland und insbesondere die internatio-
nale Kundenbetreuung als Einfallstor für Dumpinglöhne
entpuppen.

Und zuletzt werden die Migrantinnen und Migranten
hier ganz allgemein nur sehr unzureichend gegen Aus-
beutung geschützt. Zeigen sie ihren Arbeitgeber an, weil
ihnen beispielsweise nicht der zugesagte Lohn ausge-
zahlt wird, droht ihnen der sofortige Entzug der Aufent-
haltserlaubnis. Das macht die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im höchsten Maße erpressbar.

Kommt eine geringe Qualifikation und generelle Er-
pressbarkeit zusammen mit Löhnen, die nur durch die
Sittenwidrigkeit nach unten begrenzt sind, ist der Weg
bereitet für menschenunwürdige Arbeitsbedingungen.

Wir müssen sicherstellen, dass die konzerninterne
Entsendung nicht zum Lohn- und Sozialdumping miss-
braucht wird. Für die Lohnhöhe muss das Prinzip „Glei-
cher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort“ gelten, in
jedem Mitgliedsland, in dem die Beschäftigten einge-
setzt werden. Die Beteiligung von Leiharbeitsfirmen und
der Einsatz der Entsendeten als Streikbrecherinnen und
Streikbrecher muss kategorisch ausgeschlossen sein.

Sehr zu begrüßen sind dagegen die Verbesserungen
beim Familiennachzug. Dass die Migrantinnen und Mi-
granten die deutsche Sprache hier in Deutschland und
nicht wie bisher vor der Einreise lernen dürften, wäre
ein sehr großer Schritt nach vorne. Wir wollen, dass
diese ausgesprochen sinnvolle Regelung grundsätzlich
beim Familiennachzug angewandt wird.

Leider wird nachziehenden Kindern auch ausdrück-
lich kein europaweiter Rechtsanspruch auf Schulbesuch
zuerkannt; das ist für uns ein unhaltbarer Zustand.

Zusammenfassend lehnen wir die Richtlinie in der
vorliegenden Fassung entschieden ab. Ohne einen
grundsätzlich überarbeiteten Ansatz und ganz erhebli-
chen Nachbesserungen, insbesondere bezogen auf die
Rechte der Migrantinnen und Migranten, darf die Bun-
desregierung ihr nicht zustimmen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708141300

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/4039 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehö-
riger für Kurzaufenthalte ermöglichen

– Drucksache 17/3686 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Reinhard Grindel, Rüdiger
Veit, Serkan Tören, Sevim Dağdelen, Memet Kilic.

(A) (C)



(D)(B)


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708141400

Der Antrag der Grünen für eine visumfreie Einreise

türkischer Staatsangehöriger zeigt erneut die fundamen-
talen Unterschiede in der Integrationspolitik zwischen
CDU/CSU und den Grünen.

Wir stellen die Integration der bei uns lebenden Aus-
länder in den Mittelpunkt. Wir wollen fördern und for-
dern. Das gilt gerade für die zum Teil seit vielen Jahren
bei uns lebenden Ausländer, die bisher zu wenig von un-
seren Integrationsangeboten Gebrauch gemacht haben.
Um die Integrationsprobleme nicht ständig zu verschär-
fen, sorgen wir gleichzeitig für die Steuerung der Neuzu-
wanderung unter Integrationsgesichtspunkten. Ich erin-
nere in diesem Zusammenhang nur an die Pflicht, dass
Ausländer deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müs-
sen, bevor sie zuwandern dürfen.

Die Grünen verfolgen dagegen das Konzept der völ-
lig ungesteuerten Zuwanderung. Sie sind für Multikulti,
ein Nebeneinander ohne Miteinander, bei dem nicht da-
rauf geachtet wird, ob Integrationsangebote auch tat-
sächlich angenommen werden. Visafreiheit für türkische
Staatsangehörige heißt Verzicht auf jegliche Kontrolle,
wer zu uns kommt, warum jemand nach Deutschland
will und ob die betreffenden Personen auch wieder un-
ser Land verlassen. Visafreiheit für türkische Staatsan-
gehörige kann zu einer völlig unkontrollierten Zuwande-
rung nach Deutschland führen. Im Ergebnis bedeutet
dies: Visafreiheit für türkische Staatsangehörige ver-
schärft die Integrationsprobleme. Das lehnen wir ab.

Dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen
Visafreiheit und unkontrollierter Zuwanderung gibt,
lässt sich am Beispiel Serbiens und Mazedoniens nach-
weisen. Kaum hat die EU hier die Visafreiheit durchge-
drückt, sind die Asylbewerberzahlen aus diesen Ländern
hochgeschnellt: Im August kamen 255 Asylantragsteller
aus Serbien, im Oktober waren es schon 1 083. Aus Ma-
zedonien kamen im August 162, im Oktober waren es
schon 746. Serbien und Mazedonien führen jetzt die
Liste der Herkunftsländer der Asylbewerber an. Es zeigt
sich, dass auf derartige Entscheidungen der EU seitens
der Betroffenen sofort reagiert wird. Es wäre deshalb an
der Zeit, die Visafreiheit für diese Länder zu überprüfen.

Es wird niemand ernsthaft behaupten, dass der Mi-
grationsdruck in der Türkei geringer wäre als in Ser-
bien. Insofern ist absehbar, dass wir eine dramatische
Zunahme von Asylbewerbern aus der Türkei hätten,
wenn wir die Visafreiheit einführen würden. Das kann
gerade auch unter integrationspolitischen Gesichts-
punkten niemand wollen.

Gelungene Integration setzt nämlich nicht nur die In-
tegrationsbereitschaft der Ausländer voraus, sondern
auch die der Aufnahmegesellschaft. Diese wird natür-
lich auf die Probe gestellt, wenn wir ansatzweise wieder
Probleme bekommen, wie wir sie Anfang der 90er-Jahre
mit der Unterbringung der großen Zahl von Asylbewer-
bern hatten.

Der Deutsche Städtetag schlägt bereits heute Alarm,
weil etwa in Baden-Württemberg und Bayern die Unter-
bringung der Asylbewerber aus Serbien und Montene-
Zu Protokoll
gro ausgesprochen schwierig sei. Es seien Engpässe bei
der Unterbringung zu befürchten. Teilweise werden jetzt
schon leerstehende Kasernen für die Unterbringung ge-
nutzt.

Wer glaubt, dass es der Integrationsbereitschaft der
Aufnahmegesellschaft förderlich ist, wenn im Zuge der
Bundeswehrreform Soldaten die Kasernen verlassen
und diese dann mit Asylbewerbern belegt werden, der ist
von der gesellschaftlichen Realität unseres Landes weit
entfernt und – ich wiederhole das – schadet der Integra-
tion ganz gewaltig.

Zu einer glaubwürdigen Integrationspolitik gehört
auch, dass wir uns von denen, die sich in einem erhebli-
chen Umfang integrationsfeindlich verhalten, trennen
können. Es ist aber gerade die Türkei, die in gar keiner
Weise mit unseren Behörden so zusammenarbeitet, wie
es das Völkerrecht verlangt und wie es grundlegende Vo-
raussetzung wäre, wenn man zu Visaerleichterungen
kommen wollte, die dann auch zu Visamissbrauch führen
können, wodurch sich eine umgehende Rückführung der
betroffenen türkischen Staatsbürger ergeben würde. Es
passiert regelmäßig, dass Rückführungen in die Türkei
an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der dorti-
gen Behörden scheitern. Bevor man also über Visa-
erleichterungen auch nur nachdenkt, ist der Abschluss
eines Rückübernahmeabkommens, das auch penibel ein-
gehalten wird, Grundvoraussetzung.

Das Soysal-Urteil des EuGH zwingt uns auch über-
haupt nicht zu einer Korrektur unserer Visapolitik. Nach
diesem Urteil ist Deutschland verpflichtet, türkischen
Lastkraftwagenfahrern im grenzüberschreitenden Gü-
terverkehr eine visumfreie Einreise in die Bundesrepu-
blik zu gewähren, nicht mehr und nicht weniger.
Deutschland ist weder verpflichtet, auch anderen Bran-
chen des Dienstleistungsgewerbes die visafreie Einreise
zu gestatten, noch – eine völlig absurde Vorstellung –,
türkischen Staatsangehörigen Visafreiheit zu gewähren,
die in Deutschland eine Dienstleistung in Anspruch neh-
men wollen. Bei der Vereinbarung des Assoziierungsab-
kommens Anfang der 70er-Jahre hat niemand an die
Frage der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit
gedacht.

Dann sorgen sich die Grünen um die Wirtschaftskon-
takte zwischen der Türkei und Deutschland. Dazu kann
ich nur darauf verweisen, dass wir schon im jetzigen
Schengen-Recht Instrumente haben, die hier zu einer
leichteren Abwicklung von Geschäftsvisa beitragen kön-
nen. Es gibt das Bona-fide-Verfahren, bei dem sich Un-
ternehmen in der deutschen Visastelle registrieren las-
sen und dann ohne persönliche Vorsprache Personen für
die Visavergabe anmelden können.

Sollten wir endlich eine Visawarndatei haben, mit der
wir möglichen Visamissbrauch schneller feststellen kön-
nen, ist auch nichts dagegen einzuwenden, etwa bei sol-
chen türkischen Bürgern auf eine persönliche Vorspra-
che in der Visastelle zu verzichten, die sich bereits
zweimal rechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben.
Für einen regen Wirtschaftsaustausch und Besuchskon-
takte zwischen der Türkei und Deutschland kann also
auch ohne die Visafreiheit gesorgt werden. Man muss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9127
gegebene Reden

Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

nur von den bestehenden rechtlichen Möglichkeiten Ge-
brauch machen und neue Sicherheitsnetze, wie die Visa-
warndatei, knüpfen und kann dann für eine Entbürokra-
tisierung des Visumverfahrens sorgen.

Ich halte es aber für nicht hinnehmbar, wenn unseren
Visastellen in der Türkei eine restriktive und undurch-
sichtige Visavergabepraxis vorgeworfen wird, die den
wirtschaftlichen und kulturellen Austausch beeinträch-
tigt. Ich kenne die Praxis in den Visastellen in Istanbul
und Ankara von zahlreichen Besuchen sehr gut. Die Mit-
arbeiter machen dort einen hervorragenden Job und
verdienen unseren Dank und unsere Anerkennung für
eine Arbeit, die nun nicht gerade zu den Traumposten im
Auswärtigen Dienst gehört.

Dass es nun gerade die Grünen sind, die der jetzigen
Bundesregierung eine restriktive Visapolitik vorwerfen,
ist ja wohl auch politisch pikant. Es war der grüne Au-
ßenminister Fischer, der die Verantwortung für die Visa-
affäre, einen der größten politischen Skandale der
Nachkriegszeit, trägt. Es sind die Grünen gewesen, die
durch den ideologisch motivierten Visaerlass Rahmen-
bedingungen geschaffen haben, die dazu führten, dass
Zigtausende von Schwarzarbeitern, Prostituierten und
Kriminellen bis hin zu Terrorgefährdern nach Deutsch-
land kommen konnten. Sie haben die innere Sicherheit
unseres Landes durch ihre Visapolitik gefährdet, und sie
tragen die Verantwortung für das Leid vieler Frauen, die
Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Sie haben
ein für allemal das Recht verwirkt, anderen irgendwel-
che Vorschriften oder gar Vorwürfe in Sachen Visapoli-
tik zu machen.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1708141500

Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist

uneingeschränkt zuzustimmen.

An dieser Stelle möchte ich nur noch mein ausdrück-
liches Bedauern darüber äußern, dass die Bundesregie-
rung ganz offensichtlich erst dazu aufgefordert werden
muss, sich für die Umsetzung der EuGH-Rechtspre-
chung innerhalb der Europäischen Union, aber vor al-
lem auch bei uns in Deutschland, einzusetzen und diese
vorzunehmen.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1708141600

Die Soysal-Entscheidung des EuGH hatte einen Fall

der aktiven Dienstleistungsfreiheit zum Gegenstand.
Nun ist es ist kein Geheimnis, dass in der deutschen Dis-
kussion häufig Uneinigkeit darüber besteht, welche Fol-
gerungen aus der Entscheidung für die passive Dienst-
leistungsfreiheit zu ziehen sind.

Für die Grünen ist die Sache aber offensichtlich klar.
Die Ausführungen im Antrag suggerieren, aus dem Soy-
sal-Urteil erfolge ein Recht auf visumfreie Einreise aller
türkischen Staatsangehörigen zum Zweck des Empfangs
von Dienstleistungen im Sinne der sogenannten passiven
Dienstleistungsfreiheit. Darunter falle dann auch die
Gruppe der Touristen. Diese generelle und eindeutige
Schlussfolgerung ist aus dem Urteil allerdings nicht zu
ziehen. Und es sollte den Betroffenen auch nicht so ver-
kauft werden. Die bisherige verwaltungsgerichtliche
Zu Protokoll
Rechtsprechung greift die Soysal-Entscheidung in erster
Linie dahin gehend auf, dass sie die für die visumfreie
Einreise angegebenen jeweiligen Aufenthaltszwecke von
der aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit ab-
grenzt. Auch die Bundesregierung hat hier ihre Haltung
klargemacht.

Ich persönlich maße mir allerdings nicht an, hier
Recht zu sprechen. Klar ist, wir Liberale haben uns stets
dafür eingesetzt, das Urteil zügig und sauber umzuset-
zen. Sorge bereitet mir daher, dass auch für denjenigen
Personenkreis, der klar definiert wurde, in der Praxis
häufig Schwierigkeiten bestehen. Darunter fallen Perso-
nen, die rechtmäßig durch Arbeitgeber mit Sitz in der
Türkei mit Montage- und Instandhaltungsarbeiten sowie
Reparaturen an gelieferten Anlagen und Maschinen be-
schäftigt werden, durch Arbeitgeber mit Sitz in der Tür-
kei als fahrendes Personal im grenzüberschreitenden
Personen- bzw. Güterverkehr eingesetzt werden oder in
Vorträgen oder Darbietungen von besonderem wissen-
schaftlichen oder künstlerischen Wert oder bei Darbie-
tungen sportlichen Charakters in kommerzieller Absicht
tätig werden wollen. Diese Schwierigkeiten im Umgang
mit der visumfreien Einreise müssen untersucht und be-
hoben werden.

Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen
kommen. Unser Außenminister Guido Westerwelle be-
tont mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei stets: pacta sunt servanda. Wir Liberale stehen
dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei er-
gebnisoffen und fokussiert weiterzuführen. Die Kollegen
der Grünen fordern in ihrem Antrag, dem Stand der Bei-
trittsverhandlungen gemäß mit türkischen Staatsange-
hörigen umzugehen. Dieser Aussage kann ich mich nur
anschließen. Aber es heißt zu Recht „dem Stand der Bei-
trittsverhandlungen“ angemessen. Und so sehr ich das
persönlich bedaure, aber eine Visumfreiheit wäre derzeit
eben nicht dem Stand der Verhandlungen angemessen.
Denn richtigerweise drängt die Kommission zunächst
auf Fortschritte beim Rückübernahmeabkommen mit
der Türkei. Mit Blick auf diesen kritischen Punkt freue
ich mich, dass es seit dem Frühjahr 2010 eine neue Dy-
namik in den Verhandlungen gibt. Es gilt, die Ergebnisse
nun abzuwarten.

Gleichwohl möchte ich auf bestehende Missstände in
diesem Zusammenhang hinweisen. Denn eines steht
doch fest: Die derzeitige Visavergabe muss praktikabler
ausgestaltet werden. Mit dieser Herausforderung befas-
sen sich die Kolleginnen und Kollegen der Grünen übri-
gens nicht.

Die aktuelle Praxis der Visavergabe ist häufig in-
transparent und für den Antragsteller mit hohen Warte-
zeiten verbunden. Zudem kennzeichnet ein immenser bü-
rokratischer Aufwand das gesamte Verfahren. Das gilt
für Antragsteller und das Personal in den Auslandsver-
tretungen gleichermaßen. Das verunsichert die Men-
schen und hat zunehmend Auswirkungen auf die wirt-
schaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und
der Türkei. Dabei ist die Türkei ein stets an Bedeutung
wachsender Handels- und Geschäftspartner für
Deutschland und die EU.
9128 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

Mit Blick auf die Verfahren wäre es durchaus denk-
bar, den rein technischen Teil der Visumverfahren an
kommerzielle, externe Dienstleister auszulagern. Die
frei werdenden Kapazitäten könnten für eine intensi-
vierte Antragsprüfung verwendet werden. Auch von der
persönlichen Vorsprache sollte für bestimmte Personen
abgesehen werden. Eine Vorsprache bei bewährten Rei-
senden bringt keine zusätzlichen Erkenntnisse. Darüber
hinaus halte ich es auch für sinnvoll, über eine Ausdeh-
nung der Vielreisendenregelung nachzudenken.

Ziel muss sein, die Visavergabe effizienter zu gestal-
ten und gleichzeitig die Ressourcen für die maßgebliche
Tätigkeit, nämlich der Antragsprüfung, frei zu machen.
Das ist insbesondere mit Blick auf die Qualität der Prü-
fungsergebnisse und somit für die Sicherheit von grund-
legender Bedeutung.

Gemeinsam mit der Union werden wir Möglichkeiten
einer praktikablen und effizienteren Umsetzung der
Visavergabe eruieren.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708141700

Die Linke teilt die Grundintention des Antrags der

Grünen. Allerdings halten wir die Erfolgschancen aus
Erfahrung für sehr gering, besonders angesichts der
sturen Antworten der letzten Bundesregierung aus CDU,
CSU und SPD auf die Anfragen der Linksfraktion zu den
Konsequenzen aus dem Soysal-Urteil.

Die Linke hat bereits in der vorangegangenen
16. Wahlperiode die Bundesregierung mehrfach auf-
gefordert, das so genannte Soysal-Urteil – Rechtssache
C-228/06 – des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Fe-
bruar 2009 umzusetzen. Nach diesem Urteil dürfen in-
folge eines Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkom-
men zwischen der Europäischen Union und der Türkei
keine strengeren Visumregelungen im Bereich der Nie-
derlassungs- und Dienstleistungsfreiheit für türkische
Staatsangehörige gelten als zum Zeitpunkt des Inkraft-
tretens dieses Protokolls, das heißt zum 1. Januar 1973.
Während eine weitestgehende Mehrheitsmeinung in der
Fachliteratur und in der Rechtsprechung aus dem Urteil
schlussfolgert, dass zum Beispiel auch türkische Touris-
tinnen und Touristen im Rahmen der passiven Dienst-
leistungsfreiheit visumsfrei nach Deutschland einreisen
können müssten, begrenzt die Bundesregierung die Aus-
wirkungen des Urteils auf die aktive Dienstleistungs-
erbringung. Die zentrale Argumentation der Bundes-
regierung, wonach der Dienstleistungsbegriff des EG-
Vertrages nicht auf das Assoziierungsabkommen der
Europäischen Union mit der Türkei übertragen werden
könne, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Denn die
Bundesregierung musste in einer Antwort auf eine der
zahlreichen Kleinen Anfragen der Linksfraktion zum
Soysal-Urteil einräumen, dass sich aus einer Entschei-
dung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1984
„ein Indiz“ dafür ergibt, dass der Begriff der Dienstleis-
tungsfreiheit im Kontext der Europäischen Union bereits
zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls
1973 die passive Dienstleistungsfreiheit mit umschloss

(Bundestagsdrucksache 16/13931). Dass das Asso-

ziierungsabkommen und der Gerichtshof keine „voll-
Zu Protokoll
kommen deckungsgleiche“ Auslegung des Dienstleis-
tungsbegriffs forderten, wie die Bundesregierung zur
Rechtfertigung weiter vorbringt, ändert nichts daran,
dass nach der ganz überwiegenden Rechtsprechung und
Kommentierung der Dienstleistungsbegriff im Assozia-
tionsrecht aus dem Begriff des EG-Vertrags und der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abzulei-
ten ist und damit auch die passive Dienstleistungsfrei-
heit mit umfasst.

Ich will Ihnen diese nur schwer nachvollziehbaren ju-
ristischen Sachverhalte einmal in Klartext übersetzen:
Der Eindruck ist doch, dass die Bundesregierung das
Soysal-Urteil nicht umsetzen will, weil es ihr politisch
nicht in den Kram passt. Denn das Ergebnis wäre eine
weitgehende Visumfreiheit für türkische Staatsangehö-
rige in Bezug auf Deutschland.

So hat auch der CSU-Europaabgeordnete Markus
Weber in der Zeitung „Die Welt“ am 24. April 2009 be-
reits offen ausgesprochen, was hinter dem juristischen
Herumgeeiere der Bundesregierung steckt: Es geht um
das Schüren von sogenannten Überfremdungsängsten.
Die Rechten sind getrieben von der – absurden – Vor-
stellung, das Soysal-Urteil könne ein Beleg für den
„EU-Beitritt der Türkei durch die Hintertür“ sein. Als
vermeintlicher Retter des christlichen Abendlandes
fühlte sich die letzte schwarz-rote Bundesregierung ent-
sprechend auch nicht an Recht und Gesetz gebunden.

Zum anhaltenden widerspenstigen Umgang der Bun-
desregierungen mit Urteilen des Europäischen Gerichts-
hofs passt, dass mir die Bundesregierung erst gestern
eine Stellungnahme zum aktuellen Urteil des Gerichts-
hofs vom 9. Dezember 2010 (C-300/1/09) verweigerte.
Die von der Koalition im Rahmen eines aktuellen
Gesetzentwurfs geplante Verlängerung der Mindestbe-
standszeit einer Ehe für die Erlangung eines eigenstän-
digen Aufenthaltsrechts von nachgezogenen Ehegatten
verstößt nach den Maßgaben dieses Urteils eindeutig
gegen Europarecht. Das Assoziationsrecht sieht ein so-
genanntes Verschlechterungsverbot für türkische Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer vor; das heißt, dass un-
ter anderem die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen
nicht erschwert werden darf. Auch zwischenzeitlich ge-
währte Erleichterungen dürfen nicht mehr zurückge-
nommen werden, hat der Gerichtshof nunmehr klar
entschieden. Das träfe aber auf die von der Bundes-
regierung beabsichtigte Verlängerung der Mindestehe-
bestandszeit zu. Die Bundesregierung muss deshalb ihr
Gesetzesvorhaben stoppen, wenn schon nicht aus Inte-
resse an den betroffenen Frauen, dann aus europarecht-
lichen Gründen. Doch auch hier prüft die Bundes-
regierung wahrscheinlich das Urteil bis zum Sankt-
Nimmerleins-Tag. Ich bin doch immer wieder über-
rascht, wie lange ein Bundesministerium braucht, um
ein überschaubares, achtseitiges Urteil auszuwerten.
Beim Soysal-Urteil war das ja ähnlich – aber ehrlich ge-
sagt: Das jetzige Urteil vom 9. Dezember 2010 ist un-
gleich einfacher zu verstehen, zumal sich diese Ent-
scheidung angesichts der bisherigen Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs bereits angedeutet hat.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9129
gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
Die Bundeskanzlerin hat erst gestern hier im Plenum
die Verantwortung Deutschlands „für eine gute Zukunft
der Europäischen Union“ beschworen. Doch meint sie
damit offenkundig nur die Verantwortung für die Inte-
ressen der Wirtschaft und des Finanzkapitals. Für die
Linke stehen jedoch die Menschen und ihre Rechte im
Mittelpunkt. Deshalb lehnen wir die Diskriminierung
von Menschen generell und in diesem Fall türkischer
Staatsangehöriger ab. Die Bundesregierung muss end-
lich das Soysal-Urteil umfassend umsetzen und ihre Dis-
kriminierungspraxis gegenüber türkischen Staatsange-
hörigen einstellen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708141800

Deutschland und die Türkei verbinden seit den

1960er-Jahren außerordentlich vielfältige und intensive
Beziehungen:

Heute leben fast 3 Millionen türkischstämmige Men-
schen in Deutschland, was einen großen Einfluss auf
Politik, Kultur und Wirtschaft hat. 700 000 Menschen
mit Wurzeln in der Türkei besitzen die deutsche Staats-
bürgerschaft. Andererseits leben circa 100 000 Deut-
sche dauerhaft in der Türkei.

Deutschland ist seit langem wichtigster Handelspart-
ner der Türkei. Exporte aus Deutschland in die Türkei
wuchsen von Januar bis September dieses Jahres auf
9,2 Milliarden Euro. Die Türkei exportierte im selben
Zeitraum Waren im Wert von 6,2 Milliarden Euro nach
Deutschland. Nichtsdestotrotz ist Deutschland nicht
mehr Hauptexporteur. Die Zahl deutscher Unternehmen
bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbe-
teiligung in der Türkei ist inzwischen auf 4 335 gestie-
gen. Hinzu kommt die starke Anziehungskraft der Türkei
als Reise- und Urlaubsland. Im Jahr 2008 haben über
4 Millionen Menschen aus Deutschland die Türkei be-
sucht. Auch im Bereich der Hochschulzusammenarbeit
gehört die Türkei zu unseren wichtigsten Kooperations-
ländern. Mit der Gründung der ersten deutsch-türki-
schen Universität in Istanbul wird die Kooperation noch
verstärkt.

Seit dem Assoziationsabkommen zwischen der EWG
und der Türkei 1963 ist die Türkei potenzieller Beitritts-
kandidat der EU, und seit führt Jahren führt die Euro-
päische Union Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

Vor dem Hintergrund der langen und intensiven Be-
ziehungen zwischen Deutschland und der Türkei lässt
sich die bestehende Visumpflicht für türkische Staats-
angehörige während eines Kurzaufenthaltes nicht recht-
fertigen. Nach geltender Praxis können nur bestimmte
türkische Personengruppen und auch nur zur Erbrin-
gung bestimmter Dienstleistungen visumfrei nach
Deutschland einreisen. Wie der EuGH in seiner Soysal-
Entscheidung im Februar 2009 festgestellt hat, verstößt
diese Praxis gegen das Gemeinschaftsrecht. Danach ha-
ben türkische Staatsangehörige das Recht, zur Aus-
übung ihrer Dienstleistungsfreiheit während eines Kurz-
aufenthalts visumfrei nach Deutschland einzureisen.

Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, die Vorgaben des EuGH richtig umzusetzen und sich
Zu Protokoll
dafür einzusetzen, dass auf EU-Ebene die Visumpflicht
für türkische Staatsangehörige bei einem Kurzaufenthalt
aufgehoben wird.

Die Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten
der EU sind gehalten, mit türkischen Staatsangehörigen
und der Türkei dem Stand der Beitrittsverhandlungen
gemäß umzugehen. Die Türkei verdient insbesondere
angesichts der Aufhebung der Visumpflicht für Staats-
angehörige aus den EU-Bewerberstaaten Serbien,
Mazedonien und Montenegro gleiches Recht auch für
ihre Staatsangehörige.

Die vorgeschlagene Visumfreiheit ist umso dringli-
cher, als die restriktive und undurchsichtige Visaverga-
bepraxis der Deutschen Botschaft den wirtschaftlichen
und kulturellen Austausch mit der Türkei erheblich be-
einträchtigt. Betroffene monieren wochen- oder sogar
monatelange Wartezeiten, zu viel Bürokratie, nicht
nachvollziehbare Begründungen für Ablehnungen und
zu hohe Kosten. Es kommt nicht selten vor, dass sich die
Antragstellenden nach langwierigen erfolglosen Verfah-
ren vor der Deutschen Botschaft ihr Einreiserecht
schließlich einklagen müssen.

Aber auch im privaten Leben verursacht die Vorge-
hensweise der deutschen Botschaft viel unnötiges Leid.
Sie verhindert, dass Großeltern an der Hochzeitsfeier
ihrer Enkel teilnehmen können, dass ein Mann mit eige-
nen Augen sehen kann, was für ein Leben sein Bruder in
Deutschland führt oder dass eine Mutter ihr krankes
Kind besucht. Menschen mit geringem Einkommen und
solche ohne Familie in der Türkei haben so gut wie
keine Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinn-
losen und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende
setzen.

Selbst bei Personen, die sogar nach der geltenden Re-
gelung offensichtlich visumfrei nach Deutschland ein-
reisen dürfen, verlangt die Deutsche Botschaft eine Viel-
zahl von Dokumenten und lässt die Betroffenen zeit- und
kostenintensive Verfahren durchlaufen. So wird etwa
türkischen Musikern und Künstlern, die in den USA stu-
diert oder in Japan Ausstellungen eröffnet haben, die
Einreise nach Deutschland durch die Deutsche Bot-
schaft erschwert oder sogar verhindert. Ebenso schei-
tern Begegnungen von Städtepartnerschaften zwischen
deutschen und türkischen Städten an abgelehnten Visa-
anträgen.

Auch türkische und deutsche Unternehmen fordern
eine Lockerung der Regelungen für die Visavergabe, wie
sie Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, am 30. März
2010 bei ihrem letzten Besuch in der Türkei angekündigt
hat. Anderenfalls drohe nach Angaben des Präsidenten
der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer
ein Schaden für die Geschäfte mit der Türkei. Schon jetzt
sei der deutsche Anteil an den Importen in die Türkei
von 9,9 Prozent auf 9,1 Prozent gefallen. Von seinem
ersten Platz als Lieferant ist Deutschland mittlerweile
von Russland und China verdrängt worden. Einige türki-
sche Unternehmer meiden mittlerweile die Deutsche
Botschaft und beantragen ihre Visa bei Botschaften an-
derer Mitgliedstaaten der EU, da sie dort schneller und
einfacher das begehrte Visum erhalten.
9130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9131

Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)

Nächstes Jahr feiern wir 50 Jahre Anwerbeabkom-
men. Das ist eine gute Gelegenheit, um mit der Visum-
freiheit den Weg für noch offenere und intensivere
deutsch-türkische Beziehungen frei zu machen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708141900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3686 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

zum Vorschlag der Europäischen Kommission
für eine Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates über die Bedingungen für
die Einreise und den Aufenthalt von Dritt-
staatsangehörigen zwecks Ausübung einer sai-

(KOM Ratsdok. 12208/10)


hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bun-
destag in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union

Vorschlag der Europäischen Kommis-
sion zur Saisonarbeiterrichtlinie zu-
rückweisen

– Drucksache 17/4045 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben, und zwar folgender Kol-
leginnen und Kollegen: Stephan Mayer, Daniela Kolbe,
Hartfrid Wolff, Sevim Dağdelen, Beate Müller-
Gemmeke.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708142000

Die EU-Kommission hat am 13. Juli dieses Jahres ei-

nen seit langem erwarteten Vorschlag zur erleichterten
Zuwanderung von Arbeitskräften in die Europäische
Union vorgelegt. Der Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlamentes und des Rates über die Be-
dingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Dritt-
staatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen
Beschäftigung ist Bestandteil des „Strategischen Plans
zur legalen Zuwanderung“ der Kommission aus dem
Jahr 2005. Der strategische Plan war durch die Auf-
nahme in das Stockholmer Programm für die Jahre 2010
und 2014 nochmals durch den Rat bestätigt worden.
Die vorgeschlagene Richtlinie verfolgt das Ziel, den
Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten der EU saisonal
benötigte Arbeitskräfte aus Drittstaaten zuzuführen.
Gleichzeitig will sie den rechtlichen Status von Saison-
arbeitnehmern sichern, um sie vor Ausbeutung zu schüt-
zen. Zu diesem Zweck schlägt die EU-Kommission vor,
ein EU-weit einheitliches Verfahren und einheitliche
Kriterien für die Zulassung von Saisonarbeitnehmern
aus Drittstaaten einzuführen.

Darüber hinaus soll ein spezieller Aufenthaltstitel ge-
schaffen werden, der den Saisonarbeitnehmern gegen-
über Unionsbürgern bestimmte Gleichbehandlungs-
rechte verleiht.

Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich jedoch bei
dem Dokument um einen „Entwurf“ und somit noch
nicht um eine abschließende Richtlinie. Dementspre-
chend haben auf europäischer Ebene bisher auch nur
erste Gespräche und noch keine abschließenden Ver-
handlungen über die einzelnen Vorgaben der Richtlinie
stattgefunden.

Die mit dem vorliegenden Antrag der Linken be-
zweckte vollständige Ablehnung des Entwurfs der Richt-
linie ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur verfrüht,
sondern sie ist auch inhaltlich unbegründet. Im Gegen-
teil, grundsätzlich sollte man dem Vorschlag der EU-
Kommission durchaus wohlwollend gegenüberstehen,
so wie dies im Übrigen auch der Bundesrat in seiner
Stellungnahme vom 24. September dieses Jahres und die
Bundesregierung in einer ersten Einschätzung getan ha-
ben.

Die Einführung eines einheitlichen Verfahrens und
die Anwendung einheitlicher Kriterien für den Aufent-
halt von saisonal in den Mitgliedstaaten beschäftigten
Drittstaatsangehörigen stellen ein geeignetes Mittel ei-
ner kontrollierten und bedarfsorientierten Zuwanderung
angesichts ökonomischer und demografischer Entwick-
lungen dar.

Nichtsdestotrotz müssen an der derzeitigen Entwurfs-
fassung der Richtlinie noch Veränderungen vorgenom-
men werden, damit Deutschland ihr zustimmen kann und
damit auch dem von der EU-Kommission selbst verfolg-
ten Ziel einer europaweiten Vereinheitlichung in Bezug
auf die Saisonarbeitnehmer Rechnung getragen wird.

Nachfolgend möchte ich einige wesentliche Punkte
aufzählen, bei denen auch ich noch einen Verbesse-
rungsbedarf bei dem derzeit vorliegenden Entwurf der
Richtlinie sehe:

Von besonderer Bedeutung ist, dass die Kompatibili-
tät des Verfahrens zur Zulassung von Saisonarbeitneh-
mern mit dem bisher von Deutschland praktizierten
Verfahren sichergestellt ist. Die nationale Verfahrensau-
tonomie zur Steuerung der Zuwanderung im Allgemei-
nen und im Hinblick auf einzelne Drittstaaten und Bran-
chen muss daher auch nach Inkrafttreten einer
Richtlinie gewahrt bleiben. An einzelnen Stellen sind da-
her Korrekturen und Veränderungen am Wortlaut der
Richtlinie vorzunehmen, um auch eine Stringenz in der
verwendeten Fachterminologie beizubehalten, zum Bei-
spiel Verwendung des Begriffs der Saisonarbeitserlaub-

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

nis in den Art. 3 d und Art. 10, 11 und 15 des Entwurfs.
Aber auch das bisher nicht ausdrücklich ausgespro-
chene Verbot eines Familiennachzugs für Saisonarbeit-
nehmer sollte noch im Text ergänzt werden.

Auch die in Art. 9 Abs. 4 enthaltene Regelung, wo-
nach der betreffende Mitgliedstaat den Drittstaatsange-
hörigen, deren Zulassungsantrag angenommen wurde,
jede denkbare Erleichterung zur Erlangung der benötig-
ten Visa gewährt, ist sehr unbestimmt und sollte sprach-
lich und inhaltlich noch einmal präzisiert werden.

Überlegenswert ist aus meiner Sicht ebenfalls eine
weitere Klarstellung in der Richtlinie, dass die Vor-
schriften über die Einholung von Visa vor der Erteilung
eines Aufenthaltstitels für Saisonarbeitnehmer auch in
Zukunft unberührt bleiben.

Die Gleichbehandlungsrechte im Bereich der sozia-
len Sicherheit, insbesondere im Hinblick auf Familien-
leistungen und Rentenansprüche, sind in der derzeitigen
Entwurfsfassung der Richtlinie sehr weitgehend.

Eine Gleichbehandlung von Saisonarbeitnehmern
und Unionsbürgern im Hinblick auf Familienleistungen,
wie zum Beispiel Kindergeld, Elterngeld, Kinderzu-
schlag, kann jedoch aus meiner Sicht nicht mit den bis-
her im deutschen Recht geltenden Prinzipien für Dritt-
staatsangehörige in Einklang gebracht werden.

Bisher erhalten nur solche Drittstaatsangehörige
Familienleistungen, die voraussichtlich dauerhaft in
Deutschland sind. Dies trifft auf Saisonarbeitnehmer je-
doch gerade nicht zu. Gemäß Art. 11 Nr. 1 des Entwurfs
müssen sie zwingend nach Ablauf der Saisonarbeits-
erlaubnis wieder in ihr Drittland zurückkehren. Die in
dem Entwurf der Richtlinie verankerte Gleichstellung
muss daher aus meiner Sicht kritisch hinterfragt werden.
Dies sollte unbedingt Gegenstand zukünftiger Verhand-
lungen auf europäischer Ebene sein.

Ebenfalls Gegenstand von weiteren Verhandlungen
sollte auch Art. 13 des Entwurfs der Richtlinie sein. Die
mit „Verfahrensgarantien“ überschriebene Vorschrift
vermittelt auf den ersten Blick durchaus einen missver-
ständlichen Eindruck. Es sollte daher klargestellt wer-
den, dass der in Art. 13 Abs. 3 Satz 2 versteckte Hinweis,
dass bei Ablehnung eines Antrages das nationale Recht
und die nationalen Rechtsbehelfe zur Anwendung kom-
men, noch einmal herausgestellt und gegebenenfalls
auch durch eine Veränderung der Überschrift verdeut-
licht werden. So könnte wirksam ausgeschlossen wer-
den, dass etwaige Fristversäumnisse nach Art. 13 Abs. 1
unmittelbar zu schadensersatzrechtlichen Folgen führen
können.

Auch erscheint mir die Diskussion um die Erteilung
einer grenzüberschreitenden Erlaubnis für Saisonar-
beitnehmer zumindest noch nicht endgültig abgeschlos-
sen zu sein. Für die in der Richtlinie getroffene Regelung
in Art. 15 spricht der allgemeine Konsens unter den Mit-
gliedstaaten, eine unkontrollierte Migration zu vermei-
den. Der Aufenthaltstitel sollte demnach auch nur für ei-
nen Mitgliedstaat ausgestellt werden dürfen und nicht in
mehreren Mitgliedstaaten gelten. Dies hat auch der
Bundesrat in seinem Beschluss vom 24. September 2010
Zu Protokoll
herausgestellt. Allerdings gibt es durchaus auch saiso-
nale Berufe, die einen grenzüberschreitenden Bezug
haben können. Insbesondere im Hotel- und Gaststätten-
gewerbe ist dies möglich. Aber auch viele Landwirte be-
wirtschaften ihre Flächen in mehreren Mitgliedstaaten,
insbesondere dann, wenn sie ihren Betrieb im grenzna-
hen Bereich führen. Enge Ausnahmen für solche grenz-
nahen Betriebe erscheinen daher zumindest überlegens-
wert.

Neue Bürokratiekosten, zum Beispiel durch die Ein-
führung eines neuen Aufenthaltstitels oder die Übermitt-
lung detaillierter Statistiken, dürfen nicht eine der Fol-
gen der Richtlinie für die Mitgliedstaaten sein. Die in
den Art. 18 ff. des Entwurfs festgelegten statistischen
Pflichten und Anforderungen an die Berichterstattung
durch die Mitgliedstaaten sollten daher noch einmal
überprüft und gegebenenfalls reduziert werden.

Der in Deutschland bereits geltende rechtliche Rah-
men für die saisonale Beschäftigung von Drittstaatsan-
gehörigen darf zu Recht als gut austariert und angemes-
sen flexibel angesehen werden. Wenn überhaupt, bedarf
es im nationalen Recht lediglich geringfügiger Berichti-
gungen. Die christlich-liberale Koalition setzt sich da-
her auch kritisch mit den Vorschlägen der EU-Kommis-
sion zu möglichen Veränderungen für die nationalen
Arbeitsmärkte auseinander. Der Entwurf der EU-Kom-
mission ist zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs zustim-
mungsreif, da noch wesentliche Veränderungen vorge-
nommen werden müssen.

Diese Veränderungen können aber durch die christ-
lich-liberale Bundesregierung im Wege eines kooperati-
ven und konstruktiven Austauschs mit den anderen Mit-
gliedstaaten und der EU-Kommission erreicht werden.
Eine vollständige Ablehnung des Entwurfs halte ich da-
her derzeit für nicht angezeigt.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1708142100

Die Europäische Kommission hat in Erfüllung des

Stockholmer Programms einen Vorschlag zur effizienten
Steuerung der Einreise und des Aufenthalts von dritt-
staatsangehörigen Saisonarbeitnehmern vorgelegt.

Der Richtlinienvorschlag sieht die Einführung eines
einheitlichen Verfahrens sowie die Anwendung einheitli-
cher Kriterien für die Zulassung von Saisonarbeitneh-
mern vor, um, so die Begründung, den ökonomischen
und demografischen Entwicklungen kontrolliert Rech-
nung zu tragen.

Ebenso wie bei dem Richtlinienvorschlag der EU-
Kommission über die konzerninterne Entsendung liegt
auch zu diesem Richtlinienvorschlag ein Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Vorschlag der Euro-
päischen Kommission zur Saisonarbeiterrichtlinie zu-
rückweisen“ vor, den wir heute hier an dieser Stelle de-
battieren.

Wie der Titel des Antrages es erahnen lässt: Die
Linksfraktion ist wieder gegen etwas und in diesem
Falle gegen diesen EU-Richtlinienvorschlag. Aber eine
pauschale Dagegenpolitik ist mit uns auch bei diesem
Richtlinienvorschlag nicht zu machen.
9132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

Aus diesem Grund lehnen wir den von Ihnen hier vor-
gelegten Antrag ab und werden einen eigenen Antrag
einbringen, der sowohl Gestaltungsvorschläge und
Nachbesserungen für die Richtlinie zur konzerninternen
Endsendung als auch zu der hier debattierten Saison-
arbeit beinhalten wird. Denn aus unserer sozialdemo-
kratischen Sicht weist der vorliegende EU-Richtlinien-
vorschlag noch erhebliche Mängel auf. Er gefährdet
Rechte und Errungenschaften von Gewerkschaften und
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und führt zu
Lohn- und Sozialdumping, und zwar europaweit.

Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns lange
Zeit mit der Thematik auseinandergesetzt, haben uns mit
Experten, Expertinnen und Gewerkschaften beraten und
Kritikpunkte ernst genommen. Aber wir wissen auch,
dass wir im Sinne Europas zu einer für alle Mitglied-
staaten einheitlichen und tragfähigen Lösung kommen
müssen, die auch den in Deutschland geltenden Rechts-
rahmen für die saisonale Beschäftigung von Drittstaats-
angehörigen berücksichtigen muss. Grundsätzlich rich-
tig und wichtig ist es in unseren Augen, illegaler
Beschäftigung und irregulärer Arbeitsmigration entge-
genzutreten.

Daher fordern wir in unserem Antrag die Bundes-
regierung auf, sich bei den weiteren Beratungen im
Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass bei der Richt-
linie über die Bedingungen für die Einreise und den Auf-
enthalt von Drittstaatsangehörigen unsere Kritikpunkte
im Sinne der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen be-
rücksichtigt werden. Die Öffnung von Saisonarbeit in
der EU für Drittstaaten darf in unseren Augen nämlich
nicht dazu führen, dass das innereuropäische und das
deutsche Lohnniveau in der Saisonarbeit niedrig gehal-
ten oder gesenkt wird.

EU-weit müssen wir – das ist eine unserer Grundfor-
derungen – die Regel „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
am gleichen Ort“ durchsetzen. Besieht man sich die jet-
zige Situation, so sind in Deutschland Saisonarbeitneh-
mer und -arbeitnehmerinnen in der Land- und Forst-
wirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie als
Schaustellergehilfen tätig. Laut der sehr allgemein ge-
haltenen Formulierung im Richtlinienvorschlag – da-
nach ist Saisonarbeit „eine Tätigkeit, die aufgrund eines
Ereignisses oder einer Struktur an eine Jahreszeit ge-
bunden ist“ – ließen sich sicherlich in allen Branchen
Tätigkeiten finden, die als saisonabhängig gelten könn-
ten, vermutlich auch die Standbetreuung auf einem
Weihnachtsmarkt. Aus unserer Sicht ist es deshalb mehr
als wichtig, dass die Richtlinie eine klare Definition auf-
weisen muss, welche Branchen unter die Saisonarbeit
fallen. Darunter fallen nicht Branchen, wie es die Richt-
linie bislang vorsieht, die saisonal höhere Aufkommen
haben und deswegen auf Saisonarbeitnehmer zugreifen
sollen.

Für uns ist es daher notwendig, dass möglichst schon
in der EU-Richtlinie eine Begrenzung auf die bisherigen
Branchen durchgesetzt wird und dies nicht erst auf na-
tionaler Ebene geschieht. Damit korrespondiert auch
unsere Forderung zur Nachbesserung, dass im Richt-
Zu Protokoll
linientext das Recht der Mitgliedstaaten verankert wird,
auch Branchen zu benennen.

Ein anderer Punkt, den wir für wichtig erachten, ist,
dass es zusätzlich notwendig werden wird, in den Ziel-
ländern Beratungsstellen aufzubauen, die passgenau
und gezielt Missbrauch entgegenwirken und bekämpfen,
die aber auch für Saisonarbeitnehmer und Saisonarbeit-
nehmerinnen ansprechbar sind. Damit einhergehend
wäre es aus unserer Sicht von Vorteil, ein System zur
Qualitätskontrolle von privaten Vermittlern einzuführen,
und zwar dann, wenn die Vermittlung nicht von staatli-
chen Stellen übernommen werden kann. Auch halten wir
es für mehr als geboten, schärfere Sanktionen gegen
Vermittler und Arbeitgeber einzuführen, die sich eben
nicht an rechtliche Vorschriften halten.

Positiv ist zwar zu verzeichnen, dass der Kommis-
sionsvorschlag davon spricht, dass in Bezug auf Saison-
arbeiter und Saisonarbeiterinnen „Ausbeutung und
nicht den Normen entsprechende Arbeitsbedingungen“
überwunden werden müssen. Schaut man aber genauer
hin, stellt man fest, dass die Gefahr auf der Hand liegt.
Einer der Hauptmängel des Kommissionsvorschlags ist
aus unserer Sicht nämlich – hier fordere ich die Bundesre-
gierung eindringlich auf, für eine Änderung zu sorgen –,
dass durch diesen Vorschlag die Gefahr besteht, dass ein
Einfallstor für Lohndumping eröffnet wird. Denn in
Deutschland gibt es leider keinen Mindestlohn und nicht
in allen Branchen Tarifverträge, wodurch es für viele
Saisonarbeiter eben auch keine Lohnuntergrenze gäbe.
Nicht nur, dass diese dann zu Hungerlöhnen arbeiten
müssten, nein, sie würden dadurch das Lohnniveau in
Deutschland weiter absenken. Von daher wäre es nur
richtig und wichtig, im Vorfeld, bevor die Regelung in
Kraft tritt, dafür zu sorgen, dass in allen betroffenen
Branchen Mindestlöhne ausgehandelt und für allgemein
verbindlich erklärt werden oder dass ein gesetzlicher
Mindestlohn verabschiedet wird. Nur so ließen sich
Hungerlöhne für Saisonbeschäftigte verhindern.

Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich fordere die Bun-
desregierung auf, unsere Kritikpunkte ernst zu nehmen.
Gleichzeitig appelliere ich an die Fraktion Die Linke,
nicht immer alles gleich komplett abzulehnen, sondern
an einer besseren Lösung mitzuarbeiten.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Der Antrag der Linken lag bis zum Vortag dieser De-

batte nicht vor. Da die Linke offenbar Anträge auf die
Tagesordnung setzen lässt, die sie noch gar nicht fertig-
geschrieben hat, macht deutlich, dass es hier nicht um
substanzielle inhaltliche Arbeit geht.

Deutschland hat sich in der weltwirtschaftlichen
Krise der vergangenen Jahre relativ gut behauptet. Das
kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch
zahlreiche hausgemachte Probleme gibt, die gelöst wer-
den müssen, um Deutschland im internationalen Wettbe-
werb besser aufzustellen. Gerade für die klein- und mit-
telständischen Unternehmen ist Flexibilität bedeutsam.

Durch den Aufschub des Inkraftsetzens der EU-Frei-
zügigkeitsregelung haben in der jüngsten Vergangenheit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9133
gegebene Reden

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

die auf Saisonarbeitskräfte angewiesenen Arbeitgeber
in Deutschland teilweise Nachteile gegenüber ihren
europäischen Nachbarn in Kauf nehmen müssen. Diese
Nachteile halten noch an, da inzwischen viele Arbeits-
kräfte schon längst in anderen Ländern sind. Gerade in
der Landwirtschaft und in Hotellerie und Gastronomie
sind die Betriebe auf ein schnelles und unbürokratisches
Verfahren angewiesen, um ihre saisonale Arbeit bewälti-
gen zu können. Es ist gut, dass die Freizügigkeit der Ar-
beitnehmer in der EU im Agrarbereich wie auch in der
Gastronomie und Hotellerie im kommenden Jahr end-
lich in Kraft tritt. Wir freuen uns, dass dieser Wettbe-
werbsnachteil im kommenden Jahr nun wegfällt. Hier
wurden in den vergangenen Jahren durch populistisches
Agieren vor allem der SPD noch Hürden beibehalten,
die längst nicht mehr zeitgemäß waren.

In der trotz aller positiver Trends immer noch, global-
wirtschaftlich gesehen, schwierigen Phase für unsere
Unternehmen müssen diese die Möglichkeit haben,
Saisonkräfte flexibel einsetzen zu können. Das trägt
auch dazu bei, dem drohenden Arbeitsplatzabbau entge-
genzuwirken. Auch eine neue EU-Regelung darf nicht
dazu beitragen, dass hier weitere Hürden entstehen.

Deutschland muss im internationalen Wettbewerb
nachziehen und dringend Korrekturen vornehmen.
Hierin liegt ein bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial
der Schaffung von Arbeitsplätzen am Standort Deutsch-
land. Inwieweit der Vorschlag der EU dazu hilfreich ist,
ist sicherlich diskussionswürdig. Es ist darauf zu achten,
dass keine überbordende Bürokratie oder zu weitge-
hende Bindungen entstehen. Zudem wäre es hilfreich,
wenn Regelungen folgen, die sich auch auf das Verhält-
nis von saisonaler Arbeit zwischen Mitgliedstaaten be-
ziehen.

Die sozialistische Schauermär der Linken von den In-
karnationen des Bösen, „Wirtschaft und Kapital“ und
deren „ökonomischen Verwertungsinteressen“ an „billi-
gen Arbeitskräften“ ist dagegen ein Schauerstück aus
dem 19. Jahrhundert. Der antikapitalistische Kampf-
geist ist über das intellektuell Zuträgliche hinausge-
schossen. Der Linken geht es darum, Ideologie zu ver-
kaufen, statt sich um die Zukunft zur Sicherung des
Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland
zu kümmern.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708142200

Im Jahr 2009 waren in Deutschland 1 835 Saisonbe-

schäftigte in den Bereichen Landwirtschaft/Gartenbau
und Gastgewerbe aus den Beitrittsländern Bulgarien,
Rumänien, Polen, Slowenien, Ungarn, der Slowakischen
und Tschechischen Republik tätig. Aus dem Nicht-EU-
Land Kroatien waren es im selben Jahr 4 248 Saison-
beschäftigte, also mehr als doppelt so viele. Insgesamt
waren es circa 6 000. Jedes Jahr arbeiten über
100 000 Saisonbeschäftigte aus Drittstaaten in der EU.
Um sie geht es in dem Vorschlag für eine Richtlinie zur
saisonalen Beschäftigung – der Saisonarbeiterrichtli-
nie, den die Kommission am 13. Juli 2010 vorgelegt hat.
Sie ist Teil der 2005 initiierten „Strategie zur legalen
Zu Protokoll
Zuwanderung“, die auch im Stockholmer Programm
aufgegriffen wird.

Diese Strategie umfasst eine allgemeine Rahmen-
richtlinie. Diese Rahmenrichtlinie besteht aus vier
Richtlinien. Alle vier sollen die Einreise und den Aufent-
halt bestimmter Kategorien von Drittstaatsangehörigen
regeln. Eine der vier Richtlinien beschäftigt sich mit den
Saisonbeschäftigten, eine andere mit konzernintern Ent-
sandten. Beide Richtlinien wurden gleichzeitig vorge-
legt. Eine dritte Richtlinie befasst sich im Rahmen der
EU-Blue-Card mit Hochqualifizierten. Sie wurde 2009
angenommen. Die vierte Richtlinie ist mit bezahlten
Auszubildenden befasst, wurde aber noch nicht als Vor-
schlag vorgelegt.

Da Saisonbeschäftigte von der allgemeinen Rahmen-
richtlinie und der Blue Card ausgenommen sind, soll die
saisonale Beschäftigung in einer eigenen Richtlinie ge-
regelt werden. Der Entwurf zur Saisonarbeiterrichtlinie
sollte eigentlich schon Ende 2008 vorgelegt werden,
wurde aber wegen berechtigter Proteste von Gewerk-
schaften verschoben. Doch anstelle substanzieller Ver-
besserungen für Saisonbeschäftigte bleibt der vor-
liegende Richtlinienentwurf bei seiner einseitigen
Konzentration auf die Interessenlage der Wirtschaft.

Allen vier Richtlinien gemein ist, dass sie ein und der-
selben Grundlogik folgen, „nützliche Migration“ in die
EU zu befördern, und das in mehrfacher Hinsicht. Mit
dem im Richtlinienentwurf diskutierten Arbeitskräfte-
mangel und der damit verbundenen Forderung nach ei-
ner „zirkulären Migration“ werden einseitig Interessen
und Bedürfnisse der Wirtschaft und des Kapitals be-
dient. Dabei ist die Bereitschaft von Unionsbürgerinnen
und -bürgern zur Saisonarbeit bei gerechter Bezahlung
groß, und der Bedarf könnte wegen der hohen Erwerbs-
losigkeit in der Europäischen Union so auch gedeckt
werden. Doch darum geht es offensichtlich nicht. Es
geht hier vielmehr um die Möglichkeit, die Forderungen
nach gerechter Bezahlung zu unterlaufen. Der Arbeits-
markt soll ein Nachfragemarkt sein. Denn je mehr po-
tenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, desto weni-
ger müssen sich die Unternehmen hinsichtlich ihrer
Lohnpolitik und der Arbeitsrechte bewegen. Zudem kön-
nen die Beschäftigten besser gegeneinander ausgespielt
werden.

Die Linke will mit der Unterstützung der Gewerk-
schaften eine Lohnspirale nach unten im Interesse der
ausländischen wie der inländischen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer verhindern. Die Linke ist für Mindest-
standards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob
sie nun aus Deutschland kommen oder aus Europa oder
aus Drittstaaten. Es muss endlich dafür gesorgt werden,
dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen
Ort und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn ge-
zahlt wird. Deshalb wollen wir einen gesetzlichen Min-
destlohn, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinander
ausgespielt werden können.

Denn besonders gravierend wird sich die Richtlinie in
der Bundesrepublik Deutschland und anderen Ländern
auswirken, die keinen gesetzlichen Mindestlohn oder
kein System der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
9134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
Tarifverträgen besitzen. So kann für Saisonbeschäftigte
die Einhaltung von Tarifbestimmungen nur vorgeschrie-
ben werden, wenn es sich um gesetzliche Mindestlöhne
oder bundesweit allgemeinverbindliche Tarifverträge
handelt. Für Branchen ohne bundesweit allgemeinver-
bindliche Tarifverträge oder gesetzliche Mindestlöhne
– in Deutschland zum Beispiel die Landwirtschaft – kön-
nen so keine Lohnuntergrenzen für Saisonbeschäftigte
mehr festgesetzt werden. Damit drohen Hungerlöhne
und massive Verwerfungen auf den EU-Arbeitsmärkten.
Dass bei den Rechten für Saisonbeschäftigte weder das
Streik- noch das Versammlungsrecht oder das Recht auf
Meinungsfreiheit genannt wird, schließt diese zwar nicht
aus, lässt aber tief blicken – schließlich haben in den
letzten Jahren immer wieder Saisonbeschäftigte gegen
besonders ausbeuterische Arbeitgeberinnen und Arbeit-
geber gekämpft.

Der Richtlinienentwurf beruht auf dem Konzept „zir-
kulärer Migration“, nach dem die Beschäftigten immer
wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen.
Eine Aufenthaltsverfestigung ist ausgeschlossen. Für
die maximal sechs Monate Aufenthaltsdauer bleibt den
Beschäftigten das Recht auf Mitnahme oder Besuch von
Familienangehörigen versagt. Eine Integration der Ar-
beitskräfte ist ausdrücklich nicht erwünscht. Wer der
Verpflichtung zur Rückkehr nicht nachkommt, wird für
eine gewisse Zeit von der Zulassung als Saisonarbeits-
kraft ausgeschlossen. Die Rechte von Saisonbeschäftig-
ten aus Drittstaaten sind mangelhaft ausgestaltet,
sodass nahezu kein Schutz gegenüber dem durchschla-
genden Profitinteresse von Unternehmen entsteht, die
Saisonarbeitskräfte beschäftigen. Doch das ist der Bun-
desregierung egal, wie ihre Antwort auf die Kleine An-
frage meines Kollegen Alexander Ulrich – Bundestags-
drucksache 17/3561 – deutlich gezeigt hat. Eine
Verankerung des Rechts auf Streik, Meinungs- und Ver-
sammlungsfreiheit in der Richtlinie hält die Bundes-
regierung ebenso für entbehrlich wie das Recht auf
Familiennachzug. Bezüglich der Einbeziehung in die
Sozialversicherungen möchte die Bundesregierung
– laut ihrer Antwort – eine „unangemessene Belastung
der sozialen Sicherungssysteme“ vermeiden, wenn-
gleich die „Belange der Saisonarbeitnehmer angemes-
sen“ zu wahren seien.

Die Linke lehnt das Konzept „zirkulärer Migration“
ab, die nun unter europäischer Flagge die falsche deut-
sche Gastarbeiterpolitik der 50er-Jahre europaweit eta-
bliert. Denn in 20 Jahren wird man dann wieder Kroko-
dilstränen vergießen, dass man Arbeitskräfte rief, aber
Menschen kamen, wo doch alle Erfahrungen zeigen,
dass das Gastarbeitermodell die Integration geradezu
verhindert und den Nützlichkeitsrassismus befördert.
Wir dagegen setzen auf den Schutz von Menschen in Not
und auf die Etablierung einer sozialen Integrationspoli-
tik sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf der euro-
päischen Ebene.

Die Unternehmen dagegen müssen laut Entwurf
kaum etwas befürchten. Bei Verstößen des Arbeitgebers
oder der Arbeitgeberin gegen die Rechte der Saisonbe-
schäftigten sind die Mitgliedstaaten nicht berechtigt,
Sanktionen zu verhängen. Bei Verstößen gegen den Ar-
Zu Protokoll
beitsvertrag ist lediglich ein befristeter Ausschluss von
Genehmigungen vorgesehen. Im Falle einer Täuschung
der Behörden durch die Arbeitgeberinnen und Arbeitge-
ber sieht der Entwurf nicht einmal vor, dass diese die
Reisekosten für die Saisonbeschäftigten tragen. Dieses
Eldorado für Unternehmen lehnt die Linke entschieden
ab.

Die Saisonarbeiterrichtlinie wird getragen vom Nütz-
lichkeitsrassismus, der nicht die Rechte von Migrantin-
nen und Migranten stärkt, sondern lediglich den Nütz-
lichkeitswert von Migrantinnen und Migranten für
Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Gleichzeitig wird
die Situation aller Beschäftigten in den betroffenen
Branchen deutlich verschlechtert, und die Migrantinnen
und Migranten werden als Sündenböcke für Sozial- und
Lohndumping instrumentalisiert. Dadurch, dass beson-
ders restriktive Regelungen auch noch Gesetzeskraft in
Deutschland erlangen sollen und die Bereiche der Sai-
sonarbeit auch noch ausgeweitet werden können, be-
steht die Gefahr einer weiteren Absenkung von rechtli-
chen Standards für Migrantinnen und Migranten. Das
ist im Lichte der Thesen des Hobbygenetikers und SPD-
Mitglieds Thilo Sarrazin nichts weiter als die Fortfüh-
rung einer neoliberalen Politik, deren Kern es ist, Men-
schen nach ihrem ökonomischen Wert zu bemessen.
Wenn das nicht menschenverachtend ist, was dann?

Die Linke fordert die Bundesregierung deshalb auf,
den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates
über die Bedingungen für die Einreise und den Aufent-
halt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer
saisonalen Beschäftigung – KOM(2010) 379 – abzuleh-
nen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich stattdes-
sen aktiv für einen rechtlichen Rahmen einzusetzen, der
den sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz für Saisonbe-
schäftigte stärkt, indem er soziale Mindeststandards für
die Saisonbeschäftigten in der EU festlegt. In diesem Zu-
sammenhang ist die Einführung eines flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlohns unerlässlich. Es muss endlich
dafür gesorgt werden, dass unter gleichen Arbeitsbedin-
gungen am gleichen Ort und für die gleiche Arbeit auch
der gleiche Lohn gezahlt wird. Dieser Mindestlohn muss
die allgemeine Untergrenze der Entlohnung für alle Be-
schäftigten, auch im Rahmen von Entsendearbeit, sein.
Anstelle von Sozial- und Lohndumping will die Linke,
dass sich die Bundesregierung im Rat der EU dafür ein-
setzt, dass entsprechend der Entschließung des Europäi-
schen Parlaments vom 9. Oktober 2008 – 2008/
2034(INI) – die Europäische Union eine Zielvorgabe
zum Niveau von Mindestlöhnen in Höhe von mindestens
60 Prozent des nationalen Durchschnittslohns verein-
bart, nebst einem verbindlichen Zeitplan zur Einhaltung
dieser Vorgabe in allen Mitgliedstaaten.

Um dies noch einmal ganz deutlich zu sagen: Die
Linke befürwortet sehr wohl, dass Menschen in die Bun-
desrepublik kommen können, auch, um hier zu arbeiten.
Wir lassen aber nicht zu, dass hochqualifizierte gegen
geringqualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migran-
ten, Arbeitsmigrantinnen und -migranten gegen Flücht-
linge, Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge
gegen „Deutsche“, Sozialhilfeempfängerinnen und -emp-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9135
gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
fänger gegen Arbeitslose, Frauen gegen Männer, Ossis
gegen Wessis, Kinderlose gegen Eltern bzw. Familien,
Alt gegen Jung ausgespielt werden.

Wir wollen jedoch verhindern, dass im Interesse der
deutschen Wirtschaft billige, flexible und vor allem füg-
same Arbeitsmigrantinnen und -migranten gesichert, die
Niedriglohnjobs ausgeweitet und die Konkurrenz zwi-
schen Migrantinnen und Migranten mit den ansässigen
Einwohnerinnen und Einwohnern verschärft werden.
Die Linke ist für die Solidarität unter den Beschäftigten
unterschiedlicher Länder, die von denselben Konzernen
und vom gleichen Kapital ausgebeutet und ausgeplün-
dert werden. Deshalb fordert die Linke für die Menschen
Arbeit, die ein Auskommen garantiert, und gleiche
Rechte für alle.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Europäische Kommission hat zum 13. Juli dieses
Jahres einen Richtlinienentwurf vorgelegt, mit dem sie
die Regelungen für Einreise und Aufenthalt von Dritt-
staatsangehörigen zum Zweck der Saisonarbeit europa-
weit vereinheitlichen will. Der Regelungsentwurf steht
im Zusammenhang mit weiteren Legislativvorschlägen,
die die Migration von Arbeitskräften in die Europäische
Union nach dem Willen der Union „gerecht, wirksam
und kohärent“ gestalten sollen.

Gerechtigkeit, Wirksamkeit und Kohärenz – in dieser
Reihenfolge und Gewichtung – liegen auch der Bundes-
tagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen am Herzen.
Gerade deshalb muss genau geprüft werden, ob der
Richtlinienvorschlag die Ansprüche auch erfüllt. Aber
dazu sind einige kritische Anmerkungen notwendig.

Zunächst einmal ist zu diskutieren, ob das Vorgehen
der Kommission, mit einer Vielzahl an einzelnen Richtli-
nien – heute wurde ja auch der Richtlinienentwurf zur
konzerninternen Entsendung debattiert – im Grundsatz
sinnvoll ist. Eine Segmentierung der Rechte und Rege-
lungen für Beschäftigte innerhalb der Europäischen
Union nach verschiedenen Kategorien mit jeweils unter-
schiedlichen Schutzniveaus und Sicherungsmodellen für
Saisonarbeiter, Hochqualifizierte, für Flüchtlinge, für
Selbstständige und so fort kann von uns nicht gewünscht
sein. Hier wäre ein Regelungsansatz zielführender, der
sich klarer und direkter am Grundsatz gleicher Behand-
lung und gleicher Bezahlung für EU-Angehörige und für
Beschäftigte aus Drittstaaten orientiert, ein Ansatz, der
von den Arbeitnehmerrechten her beginnt zu denken und
nicht von der realen oder vermeintlichen Nachfrage
nach Arbeitskräften.

Unabhängig von diesen Einwänden im Grundsatz
steht gleichwohl fest: Gerade Saisonarbeitnehmende
haben ein besonderes Schutzbedürfnis. Sie haben nur
zeitlich begrenzte Aufenthaltsrechte und arbeiten vor-
nehmlich in körperlich höchst anstrengenden Tätigkeits-
feldern der Landwirtschaft oder im Gastgewerbe. Fra-
gen der Unterkunft, der Ernährung, vor allem auch der
gerechten Entlohnung spielen für sie eine zentrale Rolle.
Die Missbrauchsgefahr ist weit höher als bei anderen
Formen der Beschäftigung.
Zu Protokoll
Machen wir uns nichts vor: Bereits heute leben Ange-
hörige aus Drittstaaten zu Hunderttausenden als Sai-
sonarbeitende in Mitgliedstaaten der Europäischen
Union. Viele von ihnen, auch das muss uns klar sein, ha-
ben keinen legalen Aufenthalt. Und zu viele von ihnen
sind in der aktuellen Situation Opfer von Missbrauch,
Opfer von krassen Formen der Ausbeutung, Opfer einer
unwürdigen und nicht hinnehmbaren Rechtlosigkeit.

Falls ein Regelungsentwurf dazu geeignet und in der
Lage ist, die Rechte der Saisonarbeiterinnen und Sai-
sonarbeiter aus Drittstaaten angemessen zu schützen,
werden wir uns dem im Grundsatz daher nicht versper-
ren. Falls ein solcher Entwurf allerdings zu einer Viel-
zahl neuer Schlupflöcher, neuer Möglichkeiten von
Lohndumping und Ungleichbehandlung führt, dann
werden wir ihm ohne weitreichende Korrekturen nicht
zustimmen können. In wesentlichen Punkten sehen wir
beim vorliegenden Entwurf noch deutlichen Korrektur-
bedarf.

Die Unklarheiten fangen bei der Höhe der Bezahlung
an. Die vorgeschlagenen Formulierungen zum zulässi-
gen Mindestentgelt zeigen wieder einmal auf: Deutsch-
land hat aufgrund fehlender Mindestlöhne einen blinden
Fleck im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten. Wir ha-
ben zwar ein System der Allgemeinverbindlicherklärung
von Tarifverträgen und der Festlegung von branchen-
spezifischen Mindestlöhnen, nur leider kommt es wegen
der Blockadehaltung der schwarz-gelben Bundesregie-
rung nicht zur Anwendung. Das ist kein europäisches
Problem, das ist ein deutsches Problem. Ich kann nur ein
weiteres Mal betonen, wie wichtig es ist, dass sich beim
Thema Mindestlöhne endlich etwas bewegt in unserem
Land.

Der Richtlinienentwurf hat aber auch viele interne
Mängel und Unklarheiten, die dringend korrigiert wer-
den müssen. Die Frage ist ungeklärt, welche Branchen
überhaupt für Saisonbeschäftigung infrage kommen.
Der Schutz der Saisonbeschäftigten vor zu hohen Reise-
und Visumkosten, überzogenen Forderungen für ge-
stellte Verpflegung und horrenden Vermittlungsgebüh-
ren muss gestärkt werden. Viele Fragen der sozialen Si-
cherung der Beschäftigten sind nur unzureichend gelöst.
Auch für Saisonarbeitnehmende muss das Verhältnis von
Einzahlung und Auszahlung bei der Sozialversicherung
fair und transparent sein. An vielen weiteren Stellen ist
noch gänzlich unklar, wie die Richtlinie im Detail umge-
setzt werden kann, um den Anspruch auf mehr Gerech-
tigkeit, Wirksamkeit und Kohärenz auch wirklich zu er-
füllen.

Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich in
den weiteren Verhandlungen im Europäischen Rat für
eine Verbesserung des Richtlinienentwurfes im Sinne der
Rechte der Beschäftigten einzusetzen. Die Bundesregie-
rung trägt hier eine hohe Verantwortung sowohl den
Menschen aus Ländern außerhalb der EU als auch den
Beschäftigten aus den Mitgliedstaaten gegenüber. Bitte
nehmen Sie diese Verantwortung entsprechend wahr und
nehmen Sie die genannten Probleme und den Hand-
lungsbedarf ernst!
9136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9137


(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708142300

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/4045 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Überprüfung und Neuordnung der Forschungs-
finanzierung – Transparente und verbindliche
Verfahren sicherstellen – Wissenschaftsge-
rechte Strukturen weiterentwickeln

– Drucksache 17/3864 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Folgende Reden sind zu Protokoll gegeben worden:
Tankred Schipanski, René Röspel, Peter Röhlinger, Petra
Sitte, Krista Sager.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1708142400

Die Dagegen-Strategie der Grünen hat nun auch den

Bildungsausschuss erreicht. Die Grünen stemmen sich
gegen die Forschungsfinanzierung der christlich-libera-
len Koalition. Dies überrascht, stellt der Bund doch
mannigfach Forschungsgelder in transparenten, be-
währten Verfahren zur Verfügung.

Die Grünen verkennen wieder einmal die Realität,
was die Verantwortung von Bund und Ländern in der
Hochschul- und Forschungsfinanzierung und die Wahr-
nehmung dieser Aufgaben betrifft. Die Länder haben
ihren Einfluss an den Hochschulen bei der Föderalis-
musreform zwar vehement verteidigt, verweigern sich
jetzt jedoch einer adäquaten Finanzierung.

Der Bund erhöht seine Ausgaben im Forschungsbe-
reich massiv. Wir haben den Haushalt drastisch zuguns-
ten von Bildungs- und Innovationsausgaben umgewich-
tet, was natürlich eine Frage der Prioritätensetzung ist,
der die meisten Länder in dieser Form aber nicht folgen.
Dies leistet der Bund trotz Finanz- und Wirtschaftskrise
sowie Schuldenbremse. Die Behauptung, die Länder
könnten dies nicht auch tun, ist falsch. Wir sparen nicht
an der Zukunft, sondern für die Zukunft. Unseres Erach-
tens ist es zwingend notwendig, die Ausgaben in Bildung
und Forschung auf einem hohen Niveau zu halten bzw.
zu steigern, um Deutschland als rohstoffarmes Land zu-
kunftsfähig zu halten. Viele Länder ignorieren diese Not-
wendigkeit bisher aber fahrlässigerweise. Das überge-
ordnete Ziel der Bildungsrepublik Deutschland wird auf
die Art und Weise gefährdet, obwohl der Bund sein Bes-
tes tut.

Die Behauptung, die Ursache für die falsche Priori-
tätensetzung der Länder liege in der Steuerpolitik des
Bundes, entbehrt jeder Grundlage. Vielmehr greift der
Bund den Ländern im Bildungs- und Forschungsbereich
ständig unter die Arme.

Um Ihnen nur einige Fakten in Erinnerung zu rufen,
möchte ich auf den Hochschulpakt 2020, den Qualitäts-
pakt für gute Lehre, den Pakt für Forschung und Innova-
tion, die Exzellenzinitiative, das Deutschlandstipendium
und nicht zuletzt die letzte BAföG-Erhöhung verweisen.
Für die zweite Laufzeit des Hochschulpaktes, der auf
den Ausbau von Studienplätzen und die Unterstützung
der Forschung durch Programmpauschalen zielt, inves-
tiert der Bund über 5 Milliarden Euro. Für den Quali-
tätspakt Lehre, der die dritte Säule im Hochschulpakt
2020 bildet, gibt der Bund rund 2 Milliarden Euro aus,
um die Studienbedingungen und die Lehrqualität an den
Hochschulen zu verbessern. So unterstützt der Bund
massiv die Grundfinanzierung der Hochschulen und
übernimmt damit eine Aufgabe der Länder.

Ebenso hanebüchen ist die Behauptung, die Ver-
pflichtungen der Länder in der Hochschul- und For-
schungsfinanzierung würden wachsen. Stattdessen ist
der Trend genau gegenläufig, denn der Bund entlastet
die Länder bei diesen Ausgaben immer stärker – und
übernimmt damit auch ureigene Länderaufgaben.

In einem Punkt muss ich Ihnen allerdings Recht ge-
ben: Die sogenannten Drittmittel können und sollen von
ihrer Anlage her keinesfalls die Grundfinanzierung der
Hochschulen ersetzen.

Bei Drittmitteln handelt es sich zumeist um pro-
grammgebundene, zeitlich befristete und kompetitiv ver-
gebene Mittel, für die die Universitäten sich bewerben
können, sodass nicht eine flächendeckende, gleiche För-
derung erfolgt. Damit sind sie also als leistungsorien-
tierte Ergänzung gedacht, die aber zusätzlich zu einer
stabilen, verlässlichen und vor allem ausreichenden
Grundfinanzierung erfolgen muss.

Damit sind wir wiederum im Verantwortungsbereich
der Länder angekommen. Der Bildungs- und For-
schungslandschaft in Deutschland ist es insgesamt ganz
und gar nicht zuträglich, wenn die Länder dort, wo der
Bund seine Finanzierungsanstrengungen im Wissen-
schaftssystem ausbaut, die gewonnenen Spielräume
nicht für das Wissenschaftssystem, sondern – auch – zur
Haushaltskonsolidierung nutzen. Doch dafür kann man
wiederum den Bund nicht verantwortlich machen, der
seiner finanziellen Verantwortung zuverlässig nach-
kommt. Forschungspolitisch ist dieses Handeln der Län-
der natürlich zu verurteilen, erst recht, wenn im gleichen
Atemzug der Ruf nach einem Mehr an Bundesunterstüt-
zung laut wird. Verhindern kann der Bund diese Haus-
haltspolitik einzelner Länder allerdings natürlich nicht.

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Ihrem Antrag
letztlich gar nicht das allgemeine Ansinnen zugrunde
liegt, die Forschungsfinanzierung in Deutschland neu zu
ordnen, sondern dass Sie eigentlich von einem konkreten
Anlass ausgehen. Sie leiten Ihre Aussagen ganz wesent-
lich von einem Einzelbeispiel ab, nämlich dem Wechsel
des Forschungsinstituts für Meereswissenschaften,
IFM-GEOMAR, von der Leibniz- zur Helmholtz-Ge-

Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)

meinschaft. Die Behauptungen, die Sie in diesem Zu-
sammenhang aufstellen, sind mehr als fraglich.

Mit dem Wechsel des IFM-GEOMAR soll die Meeres-
forschung in Deutschland entscheidend neu strukturiert
werden: Die damit einhergehende Zusammenlegung des
Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresfor-
schung in Bremerhaven mit dem IFM-GEOMAR wird zu
guten Synergien und Strukturverbesserungen führen.

Aktuell läuft der Prozess der Zusammenlegung. Be-
stimmte organisatorische und strukturelle Fragen müs-
sen noch geklärt werden, aber nach Abschluss der Um-
setzung wird ein gutes Ergebnis entstehen; davon bin ich
überzeugt.

Es ist festzuhalten, dass es sich hier um eine for-
schungspolitisch motivierte Zusammenlegung handelte,
die sich für die deutsche Meeresforschung als vorteilhaft
erweisen wird. Eine gewisse Beschleunigung im Verfah-
ren lässt sich natürlich nicht verleugnen; aber das Er-
gebnis ist durchweg positiv.

Dass sich das Land Schleswig-Holstein – möglicher-
weise auch infolge des Transfers – entschlossen hat, die
Medizinerausbildung an der Universität Lübeck fortzu-
führen, ist ein gutes und erfreuliches Ergebnis. Doch da-
bei handelt es sich um eine reine Länderangelegenheit;
der Bund hat damit nichts zu tun. Auch hier ist das Er-
gebnis also positiv – und ich frage mich, worüber Sie
sich überhaupt beschweren!

Dass Sie aus diesem Einzelbeispiel eine negative Dy-
namik ableiten, ist nicht nachvollziehbar. Der Bund
kann nicht verhindern, dass Begehrlichkeiten an ihn he-
rangetragen werden. Aber entscheidend ist, wie damit
umgegangen wird. Prinzipiell stehen die Länder in der
Finanzierungsverantwortung für ihre Hochschulen. Es
führt kein Weg daran vorbei, dass sie endlich ihre Prio-
ritäten im Haushalt verlagern und, wie der Bund, einen
Schwerpunkt auf die Finanzierung der schulischen und
universitären Bildung sowie in der Forschung setzen.

Der Bund wird auch in Zukunft nicht den Rettungsan-
ker für eine verfehlte Bildungs- und Forschungspolitik
einzelner Länder spielen. Es gibt also überhaupt keinen
Anlass, eine „Aushöhlung“ der Bund-Länder-Finanzie-
rung der deutschen Forschung zu befürchten. Ich darf
Sie somit beruhigen!

Darüber hinaus bin ich erstaunt, wie ideenlos Ihr Lö-
sungsvorschlag für ein Problem, das Sie in Ihrem Antrag
relativ dramatisch beschreiben, ist. Eine Strategie-
gruppe möchten Sie gründen, die dann Vorgaben erar-
beiten soll. Als hätten wir nicht genug Beratungsgre-
mien! Bedenken Sie, dass die Gemeinsame Wissen-
schaftskonferenz und damit auch die Länder an wichti-
gen Entscheidungen beteiligt sind. Dies ist eine transpa-
rente, offene und verbindliche Verfahrensweise.

Da die finanzielle Ausstattung der Wissenschaft
durch den Bund so gut wie nie zuvor ist, kann ich nur
nochmals betonen: Die Länder sind endlich am Zug, ih-
ren Teil der gemeinsamen Verpflichtungen einzuhalten.
Da nützt auch keine Strategiegruppe etwas, die schöne
Konzepte entwickelt, wenn es schon an der praktischen
Zu Protokoll
Umsetzung bei den für die Finanzierung Verantwortli-
chen scheitert.

Wenn Sie also mehr Verlässlichkeit für die Hochschu-
len fordern, kann ich das vom Grundsatz her verstehen;
doch im Adressaten irren Sie sich gewaltig. Diese For-
derung sollte nicht an den Bund gerichtet werden, der
sich durch Verlässlichkeit auszeichnet, sondern an die
Länder, die ihrer Bildungsverantwortung immer weni-
ger nachkommen.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1708142500

Die deutsche Wissenschafts- und Forschungsland-

schaft befindet sich in einer schwierigen Situation. Der
internationale Wettbewerb um die besten Köpfe ist hart
und wird in den nächsten Jahren nach Ende der Finanz-
und Wirtschaftskrise eher noch intensiver werden. Neue
Länder rücken in die Gruppe der Staaten mit einer inter-
national wettbewerbsfähigen Innovationslandschaft auf.
Durch die Fortschritte insbesondere in der Informa-
tions- und Kommunikationstechnologie hat der wissen-
schaftliche Fortschritt eine neue Dynamik erreicht. Von
der nationalen Politik ist in einer solchen Situation ein
klares Handeln und das Schaffen von Planungssicher-
heit, von sicheren – mittel- und langfristigen – Finanzie-
rungsperspektiven sowie von wissenschafts- und for-
schungsfreundlichen Rahmenbedingungen zu fordern.

Mit dem Pakt für Forschung und Innovation, der Ex-
zellenzinitiative sowie dem Hochschulpakt ist Deutsch-
land in vielen Aspekten gut aufgestellt. Während die ers-
ten beiden Pakte noch unter der Federführung von
Edelgard Bulmahn auf den Weg gebracht wurden, wurde
der Hochschulpakt im Rahmen der Großen Koalition
von SPD und CDU/CSU vereinbart. Wir als SPD-Frak-
tion können somit mit gutem Recht einen wesentlichen
Beitrag zur Stärkung des Wissenschaftsstandortes
Deutschland für uns reklamieren.

Vergleicht man nun die wissenschaftsgeleitete Entste-
hung und Umsetzung der drei Pakte mit den forschungs-
politischen Bemühungen der Regierung von FDP und
CDU/CSU, so fällt das Resümee nüchtern aus. Der An-
trag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen be-
schreibt die Aneinanderreihung von Pleiten, Pech und
Pannen der jetzigen Regierung zutreffend. So warten wir
als Parlament bis heute auf die Vorlage eines umfassen-
den Konzepts zur Wissenschaftsstärkung – meist voll-
mundig als „Wissenschaftsfreiheitsinitiative“ bezeich-
net. Auch die steuerliche Förderung von Forschung und
Entwicklung wurde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag ver-
schoben.

Stattdessen hat sich Bundesforschungsministerin
Schavan wiederholt als „Ministerin für Ad-hoc-Be-
schlüsse“ hervorgetan. Zwei Beispiele aus der jüngeren
Vergangenheit machen dies deutlich: Nachdem das
unionsgeführte Bundesland Schleswig-Holstein ankün-
digte, die renommierte Universität Lübeck de facto ka-
putt zu sparen, indem man die Mediziner-Ausbildung ab-
wickeln wollte, begann ein hektisches Treiben aufseiten
des BMBF. Die Bundesregierung verweigerte in zwei
Fragestunden des Bundestages den Abgeordneten jed-
wede Auskunft über die Pläne der Bundesministerin,
9138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

René Röspel


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welchen Beitrag der Bund zur Rettung der Uni Lübeck
leisten könnte. Umso überraschender war der nur einen
Tag nach der zweiten Fragestunde auf einer Pressekon-
ferenz angekündigte Wechsel des IFM-GEOMAR von
der Leibniz- zur Helmholtz-Gemeinschaft. Es gab für
diesen Wechsel keine wissenschaftspolitischen Gründe.
Es gab keine Befassung des Wissenschaftsrates mit die-
sem Vorstoß. Es gab keine Beteiligung der betroffenen
Einrichtungen. Frau Schavan musste verhindern, dass
das angedrohte Streichkonzert von Ministerpräsident
Carstensen auch ihre Reputation als „Innovationsminis-
terin“ beschädigt. Der Schaden dieses Winkelzuges für
die Wissenschafts- und Forschungslandschaft ist bis
heute nicht abzusehen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion
haben daher eine ausführliche Große Anfrage an die
Bundesregierung gerichtet. Dass die Bundesregierung
bis Ende Februar 2011 benötigt, um diese Anfrage zu
beantworten, zeigt, wie intensiv das Bundesministerium
nach Formulierungen suchen muss, um den parteitakti-
schen Winkelzügen von Frau Schavan einen wissen-
schaftspolitischen Anstrich zu verpassen. Wir freuen uns
auf die Debatte über die Große Anfrage. Das zweite Bei-
spiel für die forschungspolitische Irrfahrt von Frau
Schavan ist die Ankündigung der Einführung von Pro-
grammkostenpauschalen für BMBF-geförderte Pro-
jekte. Um eines klarzustellen: Wir unterstützen die Ein-
führung von Programmkostenpauschalen. Aber wir als
SPD-Bundestagsfraktion haben auch den Anspruch,
dass die Ausgestaltung der Programmkostenpauschalen
wissenschaftsorientiert erfolgt. Frau Schavan hingegen
hat die Programmkostenpauschalen in den Verhandlun-
gen zur BAföG-Erhöhung genutzt, um die Bundesländer
mittelbar zu „entschädigen“. Wenn nun das Bundesfor-
schungsministerium behauptet, dass es sich bei der Ein-
führung der Programmkostenpauschale von zunächst
10 und später 20 Prozent nicht um ein „Tauschgeschäft“
in den BAföG-Verhandlungen handelte, so kann man
hierüber – das aber nur wegen der Adventszeit – nur
milde lächeln. Nicht lächeln werden hingegen die Bun-
desländer. Denn es ist – auch dies beschreibt der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen richtig – absehbar, dass die
forschungsstarken Bundesländer durch die Programm-
kostenpauschalen überdurchschnittlich profitieren, wo-
hingegen die weniger forschungsstarken, aber etwa in
der Lehre hervorragenden Universitäten negative Aus-
wirkungen zu befürchten haben.

In beiden Beispielen waren wahl- und/oder parteitak-
tische Erwägungen Antrieb für wissenschaftspolitische
Entscheidungen. Dies kann und darf nicht so weiter-
gehen. Man mag Frau Schavan anrechnen, dass sie
versucht, die unterirdische Wissenschafts- und For-
schungspolitik des Landes Schleswig-Holstein zumin-
dest teilweise kompensieren zu wollen. Sie tut dies
jedoch auf eine Art und Weise, die mit einer wissen-
schaftsgetriebenen und transparenten Gestaltung der
Forschungslandschaft bestenfalls nur noch wenig zu tun
hat.

Aus diesen Gründen begrüßen wir den Vorstoß der
Grünen und den vorliegenden Antrag. Ob die Einrich-
tung einer „Strategiearbeitsgruppe“ der beste Weg ist,
um die Wissenschafts- und Forschungspolitik des Bun-
Zu Protokoll
des endlich wieder auf eine solide und transparente Ba-
sis zu stellen, werden wir in den Ausschussberatungen
noch einmal intensiver zu diskutieren haben. In einem
Punkt aber sind wir uns sofort einig: Der wissenschafts-
politische Irrflug des Bundes in den letzten Monaten
muss ein Ende haben.


Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1708142600

Forschung, Innovationen und neue Technologien sind

die Grundlagen für künftigen Wohlstand. Sie sind die
Quellen von wirtschaftlichem Erfolg, von Wachstum und
Beschäftigung. Hier werden Antworten auf die Heraus-
forderungen unserer Zeit gesucht und manchmal auch
gefunden – für Klima- und Umweltschutz, beim Kampf
gegen Krankheiten, gegen Hunger und Armut zum Bei-
spiel. Deshalb ist es wichtig, dass in Deutschland, dem
„Land der Ideen“, neue Technologien entwickelt und
zur Anwendung gebracht werden. Deshalb ist es wichtig,
dass wir eine technik- und innovationsfreundliche Ge-
sellschaft bleiben oder wieder werden.

Der Deutsche Bundestag kann dazu beitragen, indem
er die rechtlichen Rahmenbedingungen innovations-
freundlich ausgestaltet und zum Beispiel für finanzielle
Verlässlichkeit und für Gestaltungsfreiheit sorgt. Ich bin
davon überzeugt, dass Wissenschaft und Forschung
mehr Flexibilität und Gestaltungsspielraum brauchen.
Sie müssen die Möglichkeit haben, exzellentes Personal
zu gewinnen. Sie müssen bei Bedarf national und inter-
national kooperieren können. Die Möglichkeiten für
Unternehmensbeteiligungen und Ausgründungen sind
durchaus verbesserungsfähig. Wissenschaft und Wirt-
schaft könnten noch enger vernetzt und verzahnt wer-
den.

Wie Sie wissen, komme ich aus Jena. In dieser Stadt
haben nach der Wende alle Fraktionen gemeinsam ver-
sucht, die vorhandenen Kompetenzen für die aktuelle
Situation zu nutzen. Das ist gelungen, auch mit Unter-
stützung der Landes- und der Bundesregierung. Die gu-
ten Ergebnisse sind auf verschiedenen Feldern zu be-
sichtigen – bei den Arbeitsmarktdaten, aber auch bei der
Anzahl von Patenten und von Auszeichnungen für Wis-
senschaftler an universitären oder außeruniversitären
Forschungseinrichtungen.

Die Forschungsfinanzierung ist ein wichtiges Thema,
und auf die Weiterentwicklung wissenschaftsgerechter
Strukturen, wie es in der Überschrift Ihres Antrages
heißt, kommt es genau an. Ihr Antrag zielt allerdings in
eine ganz andere Richtung. Sie beklagen, dass wettbe-
werblich vergebene Drittmittel sich ungleichmäßig und
diskontinuierlich auf die Disziplinen, die Regionen und
die Einrichtungen verteilen. Die gleichmäßige Vertei-
lung – man nennt das auch das Gießkannenprinzip – ist
jedoch nach meiner Überzeugung eben nicht wissen-
schaftsgerecht.

Die Entscheidung, das Kieler Institut für Meeresfor-
schung, IFM-GEOMAR, in die Helmholtz-Gemeinschaft
zu überführen, führt zur Stärkung der Meeresforschung
in der Helmholtz-Gemeinschaft und verspricht Syner-
gien zwischen dem Alfred-Wegener-Institut für Polar-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9139
gegebene Reden

Dr. Peter Röhlinger


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und Meeresforschung, AWI, in Bremerhaven, dem IFM-
GEOMAR und der Kieler Universität.

Die vom Bund und von den Ländern gemeinsam ge-
tragene Forschungsfinanzierung wird von unserer Seite
nicht nur nicht infrage gestellt, sondern auch vorbildlich
ausgefüllt. Noch in keiner Legislaturperiode wurden so
viele Mittel für Forschung und Entwicklung bereitge-
stellt wie in dieser Legislaturperiode.

Die von Ihnen geforderte Strategiearbeitsgruppe
werden wir sicher nicht einrichten. Wir brauchen keine
zusätzlichen Gremien. Wir sind der Meinung, dass die
Gemeinsame Wissenschaftskonferenz sich bewährt hat
und im Hinblick auf die gemeinsame Forschungsförde-
rung von Bund und Ländern gute Arbeit leistet. Gesprä-
che mit Führungskräften zum Beispiel der Max-Planck-
Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft bestätigen
dies.

Meine Damen und Herren von den Grünen, wir küm-
mern uns um die Weiterentwicklung wissenschaftsge-
rechter Strukturen. Das hat etwas mit Wettbewerb und
Leistungsorientierung zu tun, aber sicher nicht mit wei-
teren Gremien und gleichmäßiger Verteilung. Deshalb
können wir Ihrem Antrag nicht unsere Zustimmung ge-
ben.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708142700

Wir reden heute über sachfremde Koppelgeschäfte

dieser schwarz-gelben Bundesregierung mit einem oder
mehreren Bundesländern – Koppelgeschäfte, die not-
wendig werden, weil falsche politische Grundentschei-
dungen gesellschaftlich gewünschte Anliegen wie eine
Erhöhung der Ausbildungsförderung oder den Betrieb
einer traditionsreichen Universitätsklinik unmöglich
machen.

Die erste falsche Grundentscheidung der letzten Bun-
desregierungen war die Idee, mit Steuersenkungen ein
selbstfinanzierendes Perpetuum mobile zu schaffen. Un-
bändiges Wirtschaftswachstum sollte die Einnahmeaus-
fälle mehr als ausgleichen, sodass für alle Bereiche eine
Win-win-Situation entstehen würde. Dieser quasireli-
giösen Glaubenslehre hängt inzwischen nur noch die
FDP an, aber in den vergangenen zehn Regierungsjah-
ren haben alle regierenden Parteien diese Idee mit ver-
heerenden Folgen für die Bildungs- und Wissenschafts-
landschaft verfolgt. Da bilden leider auch die Grünen
keine Ausnahme, die das Problem jetzt hier lautstark be-
klagen.

Nach Berechnungen des DGB haben die Steuerrefor-
men der rot-grünen, der schwarz-roten und jetzt der
schwarz-gelben Koalition die Bundesländer jedes Jahr
zwischen 10 und 20 Milliarden Euro Einnahmen gekos-
tet, der Bund ist mit Ausfällen in Höhe von 4 bis 21 Mil-
liarden Euro betroffen. Es verwundert kaum, dass
Deutschland sich in den Rankings bezüglich der Bil-
dungs- und Forschungsausgaben kaum verbessert – es
fehlt schlicht das Geld in den öffentlichen Kassen.

Die zweite verheerende Weichenstellung war die Ab-
gabe fast aller Kompetenzen in Bildung und Wissen-
schaft an die Bundesländer und die gleichzeitige Fest-
Zu Protokoll
schreibung einer Schuldenbremse für Bund und Länder
im Grundgesetz. Auch diese Vorgaben haben mindestens
FDP, Union und SPD mitgetragen. Die Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen und der SPD unterstützen der-
zeit sogar die Verankerung einer Schuldenbremse in der
hessischen Landesverfassung.

Dieses Entscheidungsgefüge hat das deutsche Hoch-
schul- und Wissenschaftssystem in eine Sackgasse ma-
növriert. Als Symbol für diese Sackgasse stehen die ge-
scheiterten Bildungsgipfel des vergangenen Jahres. Die
Länderausgaben für Bildung und Forschung stagnieren,
viele Bundesländer kündigen Sparprogramme in diesen
Bereichen an. Unterfinanzierte Länderhaushalte sind
der Mammutaufgabe einer notwendigen Bildungsexpan-
sion nicht gewachsen. Man kann einem Gewichtheber,
der einen Weltrekord reißen soll, vor diesem Kraftakt
nicht die Luft abdrücken und die Nahrung verweigern!

Nun beobachten wir die hilflosen Reparaturversuche
des Bundes: Manche sind langfristiger Natur wie die
Ausweitung der Projektförderung, der Zuweisungen
über die DFG oder der zweiten Runde der Exzellenzini-
tiative. Manchmal muss die Ministerin ganz kurzfristig
einspringen – etwa wenn die unionsgeführte Landes-
regierung in Schleswig-Holstein entscheidet, dass nur
noch eine Universität im Land, nämlich die in Kiel, gut
genug für den Exzellenzwettbewerb sein soll, weil man
sich nur noch eine solche Uni leisten kann. Im Gegenzug
soll eine traditionsreiche Universitätsklinik aufgegeben
werden. Der Philosoph Walter Benjamin prägte den Be-
griff der Monade, eines Zeitpunkts, an dem verschiedene
Entwicklungen sich zu einem klaren Bild kristallisieren.
Eine solche Situation liegt hier vor: das offensichtliche
Eingeständnis eines Bundeslandes, dass es im Rennen
um Exzellenz und Elite kraft seiner Haushaltslage nicht
mehr mithalten kann, ohne Schnitte in die wissenschaft-
liche Substanz vorzunehmen. Damit droht die ganze
Ideologie des Wettbewerbsföderalismus und der Dritt-
mittelexpansion zu kippen.

Die Bundesministerin verhandelte daraufhin mit ih-
rem Parteikollegen Ministerpräsident Carstensen, was
sie bis zum Tag der Ergebnisverkündung leugnete. Die
Ministerin nutzte die unterschiedlichen Finanzierungs-
schlüssel der Forschungsorganisationen, um dem Land
Schleswig-Holstein die benötigten 25 Millionen Euro
jährlich aus der Bundeskasse zukommen zu lassen. Aber
um welchen Preis? Der Prozess der Profilierung der
vier Forschungsorganisationen, die jede für sich in ih-
rem eigenen Profil größten Wert auf Autonomie und Re-
putation legen, wurde per Handstreich delegitimiert.
Bisher ging der Aufnahme eines Instituts in die überwie-
gend bundesfinanzierte Helmholtz-Gemeinschaft ein
jahrelanger wissenschaftsgeleiteter Prozess der Eva-
luierung und Qualitätssicherung voraus. Nun ist klar:
Alles Gerede von Wissenschaftsfreiheit und Autonomie
ist Makulatur, wenn die Hütte brennt. Dann übernimmt
der Bund schon einmal ein Institut – auch gegen den
Willen der Institutsleitung, der betreffenden For-
schungsorganisation und der benachbarten Universität
und ohne Empfehlung des Wissenschaftsrates.
9140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
gegebene Reden

Dr. Petra Sitte


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Natürlich ist es richtig, die Uniklinik in Lübeck zu er-
halten. Aber was Ministerin Schavan da betrieben hat,
löst keine Probleme, sondern zog weitere nach sich.
Denn es wird zu ähnlich gelagerten strukturellen Ein-
schnitten in anderen Ländern kommen; das deutet sich
schon an. Was dann? Wird die Ministerin auch einem
SPD-geführten Land helfen?

Mit einer ähnlichen Feuerwehraktion wurde die drin-
gend notwendige BAföG-Erhöhung durchgesetzt. Die
Länder konnten diese nicht gegenfinanzieren und for-
derten die komplette Kostenübernahme vom Bund. Die-
ser bot hingegen ein Koppelgeschäft an: Der Bund ver-
sprach 136 Millionen Euro Forschungszuschüsse für
eine Zustimmung der Länder, die 173 Millionen Euro
Mehrkosten durch die BAföG-Erhöhung zu tragen. Das
Problem: Das Geld kommt nicht in den Länderhaushal-
ten, sondern an den Hochschulen an, und es wird nach
dem Anteil der eingeworbenen BMBF-Drittmittel ver-
teilt. Nur ein Land hat wirklich per Saldo ein nennens-
wertes Plus bei diesem Deal: Baden-Württemberg, das
Heimatland der Ministerin selbst.

Die Situation der Ministerin gleicht einem Menschen,
der sich im Moor verirrt hat. Jedes hektische Rudern
lässt einen noch tiefer in den Schlamassel sinken. Statt-
dessen müssen die Grundübel angepackt werden. Wir
brauchen eine Stabilisierung der Grundfinanzierung der
Hochschulen, damit diese eine nachhaltige Entwick-
lungsplanung betreiben können. Dies dient nicht nur der
echten grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfrei-
heit, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, mittels Per-
sonalentwicklung dem wissenschaftlichen Nachwuchs
verlässliche Karrierewege anbieten zu können. Zudem
wird die Lehre gestärkt, denn Studierende haben von
Drittmittelboom und Exzellenzhype vor allem Nachteile.

Schaffen Sie das Kooperationsverbot ab und verein-
baren Sie eine dauerhafte und verlässliche Gemein-
schaftsfinanzierung für wichtige Bildungsaufgaben!
Und nicht zuletzt: Verzichten Sie auf das geplante
Steuersenkungspaket! Vielmehr muss über eine effektive
Vermögensbesteuerung und einer Erhöhung des Spitzen-
steuersatzes nachgedacht werden, wie das DIW gerade
in einer aktuellen Studie empfohlen hat.

Bei der Steuerung der außeruniversitären Wissen-
schaftsorganisationen kommt es auf Verlässlichkeit und
eine transparente Positionierung der Zuwendungsgeber
aus Bund und Ländern an. Die Politik sollte klare Ziel-
vereinbarungen mit den Einrichtungen treffen, deren Ef-
fektivität ohne Sanktionen wohl nicht gewährleistet wer-
den kann. Der Pakt für Innovation und Forschung muss
noch viel klarer herausstellen, was die Gesellschaft von
der Forschung erwartet und welchen Grad an finanziel-
ler Sicherheit und Autonomie sie der Wissenschaft ge-
währt.

Der vorliegende Antrag der Grünen beschreibt die
Problemlagen sehr treffend, bietet als Lösung aber le-
diglich die Einrichtung einer Strategiearbeitsgruppe an.
Das finde ich unnötig: Wir haben den Wissenschaftsrat,
in dem Wissenschaft, Wissenschaftsforschung und Poli-
tik vertreten sind. Die Probleme liegen auf dem Tisch.
Zu Protokoll
Lassen Sie uns lieber konsequent an deren Lösung ar-
beiten.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708142800

Es ist höchste Zeit, einen kritischen Blick auf die Ent-

wicklung der Forschungsfinanzierung in Deutschland
zu werfen.

Die Finanzierungsbedingungen für öffentlich geför-
derte Forschung klaffen immer stärker auseinander, mit
negativen Folgen für das gesamte Wissenschaftssystem.
Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen und
die Deutsche Forschungsgemeinschaft erhielten im Rah-
men der von Bund und Ländern gemeinsam getragenen
Forschungsfinanzierung durch den Pakt für Forschung
und Innovation garantierte jährliche Aufwüchse und
langfristige Planungssicherheit. Dies ist durchaus eine
begrüßenswerte Entwicklung.

Dagegen steht die von den Ländern zu leistende
Grundfinanzierung der Hochschulen für Forschung und
Lehre seit Jahren unter dem Druck klammer Länder-
haushalte. Von garantierten Aufwüchsen kann da keine
Rede sein. Im Gegenteil, aktuell kürzen viele Länder, wie
zum Beispiel Bayern, Hessen oder Thüringen, gerade
wieder bei der Grundfinanzierung für ihre Hochschulen.
Nicht nur die Folgen der Wirtschaftskrise auf die öffent-
lichen Haushalte und die Schuldenbremse sorgen für ei-
nen erheblichen Spardruck; die Steuerpolitik der Bun-
desregierung hat den Druck auf die Länderfinanzen
noch zusätzlich erhöht.

Die Länder stehen also vor dem Problem, dass sie
ihre eigenen Hochschulen nicht mehr aufgabengerecht
ausstatten können, aber ihre Mitfinanzierungsverpflich-
tungen für den Pakt für Forschung und Innovation er-
heblich ansteigen und der Bund ihnen gleichzeitig das
Geld aus der Tasche zieht, zum Beispiel für Hotelsub-
ventionen.

Allein 2011 bis 2015 müssen die Länder mindestens
1,6 Milliarden Euro für zusätzliche Komplementärmittel
für die gemeinsame Forschungsfinanzierung aufbrin-
gen. Zwar fließen über die Deutsche Forschungsge-
meinschaft erhebliche zusätzliche Drittmittel an die Uni-
versitäten; nur können diese Drittmittel die fehlenden
Grundmittel der Hochschulen beileibe nicht kompensie-
ren. Drittmittel werden wettbewerblich vergeben und
verteilen sich naturgemäß ungleichmäßig auf die Fä-
cher, Hochschulen und Regionen. Fachhochschulen pro-
fitieren zum Beispiel so gut wie gar nicht. Mit steigen-
dem Anteil der Drittmittel an der Gesamtfinanzierung
wachsen nicht nur der Verwaltungsaufwand und die
Transaktionskosten, sondern vor allem der Anteil des
wissenschaftlichen Personals, das nur noch befristet be-
schäftigt wird. Drittmittel sind eine sinnvolle Ergänzung
zu Grundmitteln; aber sie taugen nicht dazu, die solide
Finanzierung der Daueraufgaben in Forschung und
Lehre zu ersetzen.

Die von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten
Forschungseinrichtungen sind sehr ungleichmäßig über
die Republik verteilt, und der Bundesanteil variiert je
nach Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen For-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9141
gegebene Reden

9142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010

Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


schungsgemeinschaften von 50 bis 90 Prozent. Entspre-
chend profitieren die Länder sehr unterschiedlich von
der gemeinsamen Forschungsfinanzierung. Dabei spielt
nicht nur die Leistung, sondern oft auch der historische
Zufall eine Rolle. So gibt es in Ostdeutschland sehr we-

eine gewaltige Inspirationsquelle für die Bundesländer,
die anfangen könnten zu überlegen, wie sie ihre Pro-
bleme bei der Grundfinanzierung der Hochschulen kom-
pensieren können. So formuliert der stellvertretende Ge-
neralsekretär des Stifterverbandes in der FAZ bereits:
nig mit 90 Prozent Bundesmitteln finanzierte Einrich-
tungen der Helmholtz-Gemeinschaft und der Fraunho-
fer-Gesellschaft, aber viele Leibniz-Institute, was eine
höhere Belastung für das Sitzland und eine geringere
Bundesfinanzierung bedeutet. Auch große Sammlungen
und Museen werden in einigen Bundesländern nach dem
Leibniz-Mechanismus finanziert. Schon jetzt haben ei-
nige Bundesländer erklärt, dass sie nicht in der Lage
sind, die Aufwüchse für ihre Leibniz-Einrichtungen zu fi-
nanzieren. Es kann aber nicht sein, dass die Entwick-
lungsmöglichkeit hervorragend evaluierter Institute da-
von abhängig ist, ob sie sich in einem armen oder einem
reichen Bundesland befinden.

Es kann nicht verwundern, dass vor diesem Hinter-
grund in vielen Ländern inzwischen rein finanzpolitisch
motivierte Überlegungen die Oberhand gewinnen, wie
und mit welchen Kniffen das jeweilige Land mehr von
den gemeinsam finanzierten Forschungsmitteln profitie-
ren kann. Im Sog dieser Überlegungen werden For-
schungseinrichtungen und Forschungspolitik zum
Spielball rein fiskalischer Interessen, und wissen-
schaftsgeleitete Strukturen und Verfahren treten in den
Hintergrund.

Schlimmerweise forciert die Bundesregierung diese
Entwicklung durch eigene manipulative Eingriffe, wie
durch die Verschiebung des Leibniz-Instituts IFM-GEO-
MAR in Kiel zur Helmholtz-Gemeinschaft. Ziel der Ope-
ration war es, den Finanzanteil des Bundes von 50 auf
90 Prozent zu erhöhen, um offensichtlich die Zustim-
mung Schleswig-Holsteins zum Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz zu vergolden und die in diesem Bundesland
selbst entstehenden Steuerausfälle ein wenig auszuglei-
chen. Dabei wurden weder der Wissenschaftsrat noch
das betroffene Institut vorher beteiligt. Dem GEOMAR
drohen jetzt Einnahmeausfälle von 10 bis 11 Millionen
Euro jährlich, die es bisher zum Beispiel für Sonderfor-
schungsbereiche von der DFG eingeworben hat. Solche
finanz- und machtpolitischen Manöver sind brandge-
fährlich für die Legitimation der Bund-Länder-For-
schungsfinanzierung. Denn sie bringen die wissenschafts-
geleiteten Strukturen der Forschungsfinanzierung immer
weiter ins Trudeln, zum Schaden des gesamten Wissen-
schafts- und Forschungssystems.

Ebenfalls von unterschätzter Sprengkraft für die Zu-
kunft der gemeinsamen Forschungsfinanzierung sind
aber auch Projekte wie die Verschmelzung der Uni
Karlsruhe mit dem außeruniversitären Forschungszen-
trum Karlsruhe zum KIT, das als Helmholtz-Einrichtung
zu 90 Prozent vom Bund finanziert wird. Solche Modelle
der Einverleibung von Forschungseinrichtungen sind
„Bundesuniversitäten? Gibt es längst!“ Welches Bun-
desland würde sich seine Unis oder Teile davon nicht
auch gerne vom Bund finanzieren lassen?

Rein finanz- und machtpolitisch motivierten Geschäf-
ten zwischen Bund und Ländern muss konsequent der
Riegel vorgeschoben werden. Bund und Länder müssen
wieder zu transparenten, verbindlichen und wissen-
schaftsgeleiteten Verfahren finden. Gleichzeitig muss
dringend überprüft werden, inwieweit die bisherigen
Modalitäten der Forschungsfinanzierung noch ziel- und
aufgabengerecht sind und wo das System systematisch
Fehlanreize produziert.

Wir fordern in unserem Antrag daher die Einrichtung
einer zeitlich befristeten Strategiearbeitsgruppe unter
Beteiligung von Wissenschaft und Politik, Bund und
Ländern. Diese Arbeitsgruppe soll Vorschläge ent-
wickeln, wie Fehlanreize und Schieflagen verhindert
werden können und wie die bisherigen Strukturen der
Forschungsfinanzierung aufgabenadäquat und wissen-
schaftsgeleitet weiterentwickelt werden sollen. Ziel muss
sein, zu einer aufgabenadäquaten, wissenschaftsgeleite-
ten und nachhaltigen Finanzierung der außeruniversitä-
ren und der universitären Forschung zu kommen.

Ich hoffe, dass Sie unsere Initiative aufgreifen. Wir
sollten uns im Ausschuss sehr ernsthaft mit diesen Pro-
blemen auseinandersetzen. Die Gefahren für das deut-
sche Wissenschaftssystem, die entstehen, wenn man den
Dingen einfach ihren Lauf lässt, halte ich für sträflich
unterschätzt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708142900

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3864 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Es ist geschafft.


(Beifall)


Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 17. Dezember 2010,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

Kommen Sie gut durch die Winternacht!