Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9143
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sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
schlossen hat, finde ich schon seltsam. Ich gehe auch da-
von aus, dass Herr Neumann die Gelder nicht konzep-
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
Bätzing-Lichtenthäler,
Sabine
SPD 16.12.2010
Brunkhorst, Angelika FDP 16.12.2010
Bülow, Marco SPD 16.12.2010
Burchardt, Ulla SPD 16.12.2010
Friedhoff, Paul K. FDP 16.12.2010
Haibach, Holger CDU/CSU 16.12.2010*
Hempelmann, Rolf SPD 16.12.2010
Hintze, Peter CDU/CSU 16.12.2010
Lötzer, Ulla DIE LINKE 16.12.2010
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16.12.2010
Nord, Thomas DIE LINKE 16.12.2010
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16.12.2010
Özoğuz, Aydan SPD 16.12.2010
Pols, Eckhard CDU/CSU 16.12.2010
Rix, Sönke SPD 16.12.2010
Schlecht, Michael DIE LINKE 16.12.2010
Schmidt (Aachen), Ulla SPD 16.12.2010**
Scholz, Olaf SPD 16.12.2010
Schreiner, Ottmar SPD 16.12.2010
Dr. Schwanholz, Martin SPD 16.12.2010
Süßmair, Alexander DIE LINKE 16.12.2010
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 16.12.2010
Ziegler, Dagmar SPD 16.12.2010
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: 60 Jahre Charta der
deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung
vollenden (Tagesordnungspunkt 15)
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Ich verstehe
nicht, warum Sie diesen Antrag jetzt vorlegen. Der
60. Jahrestag der „Charta der Heimatvertriebenen“ war
im August. Mittlerweile ist Dezember. Sie hatten vier
Monate Zeit, einen ordentlichen Antrag zu verfassen.
Das hier ist ein unbedachter Schnellschuss – als hätte je-
mand festgestellt: Das Jahr geht plötzlich zu Ende. Sie
hätten den Antrag erst einmal in Ruhe in Ihren Fraktio-
nen beraten sollen, bevor Sie ihn auf die Tagesordnung
im Plenum setzen, wie es den normalen parlamentari-
schen Gepflogenheiten entspricht.
Ich verstehe auch nicht, warum Herr Neumann und
Herr Westerwelle in ihren Fraktionen nicht eingeschrit-
ten sind. Der Antrag wirkt, als hätten wir die letzten
Jahre nicht über das Thema debattiert, als hätte es keinen
Parlamentsbeschluss zur Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ gegeben, als wäre die Regierung untätig
geblieben.
Es ist eine bizarre Situation: Ich als Oppositionspoli-
tiker muss Ihnen erklären, was Ihre Regierung bisher un-
ternommen hat und welche Position Ihre Minister vertre-
ten. Aber da es in Ihren Fraktionen bisher niemand ge-
macht hat, übernehme ich das jetzt:
Erstens: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ muss nicht „vorangebracht“ werden, wie es in Ih-
rem Antrag heißt. Sie besteht bereits und hat in diesem
Jahr – endlich – konzeptionelle Eckpunkte für die Dau-
erausstellung vorgelegt. Die Stiftung erhält jährlich
2,5 Millionen Euro. Im nächsten Jahr wird es einen Ar-
chitektenwettbewerb zur baulichen Gestaltung des
Deutschlandhauses geben. Das hat der BKM im Septem-
ber dieses Jahres mitgeteilt. – Was die Stiftung wirklich
„voranbringen“ würde, wäre der Rückzug von Arnold
Tölg und Hartmut Saenger, also der beiden kritisierten
stellvertretenden Stiftungsratsmitglieder des BdV. So
ließe sich der Zentralrat der Juden vielleicht wieder für
eine Mitarbeit gewinnen.
Zweitens: Die Bundesregierung hat ein akademisches
Förderprogramm zur „Erhaltung und Auswertung deut-
scher Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ auf-
gelegt und dafür im nächsten Jahr 800 000 Euro zur Ver-
fugung gestellt. Bis 2014 sollen es 3,2 Millionen Euro
sein. – Ich halte das für übertrieben, weil ich den postu-
lierten Nachholbedarf in der Forschung nicht erkennen
kann. – Aber dass die Koalition die eigene Regierung
auffordert, mehr für die Forschung in diesem Bereich zu
tun, nachdem sie gerade erst ein Förderprogramm be-
9144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
tionslos vergeben wird, wie es ihm die eigene Fraktion
irgendwie unterstellt.
Drittens: Sowohl Bundestagspräsident Norbert
Lammert als auch Minister Thomas de Maizière haben
sich gegen den Vorschlag gewandt, den 5. August zum
bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung
zu erheben. Für den Bundestagspräsidenten gibt es in-
zwischen so viele routinemäßige Jahrestage, dass der
„eigentliche Zweck“ solcher Gedenktage damit „eher
versperrt als wirklich akzentuiert“ werde. Aus Sicht des
Innenministers bietet der Volkstrauertag gute Möglich-
keiten des Gedenkens. Ich stimme beidem ausdrücklich
zu und fordere Sie auf, werte Kollegen der Regierungs-
fraktion, es auch zu tun.
Ich möchte nun ein paar Anmerkungen zum Antrag
und zur Charta der Heimatvertriebenen machen.
Frau Steinbach hat am 5. August bei der Festveran-
staltung zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um
ein Zeitzeugnis handelt, das im historischen Kontext er-
läutert werden muss. Die Charta hat zur Integration von
Millionen von Vertriebenen beigetragen – auch und ge-
rade durch den Verzicht auf Rache und Vergeltung.
Mehrfach haben aber Historiker darauf hingewiesen,
dass man nur auf etwas verzichten kann, worauf man ei-
nen Anspruch hat. Die Deutschen hatten aber nach dem
von ihnen begonnenen Krieg keinen Anspruch, kein
Recht auf Rache – darin sind wir uns hoffentlich einig.
Der von Deutschland begonnene Weltkrieg mit all
dem Elend, das er über Europa gebracht hat, ist der Ver-
treibung der Deutschen vorausgegangen. – Dazu findet
sich in der Charta kein einziges Wort. Kein Wort dazu,
dass die Deutschen versucht haben, ein ganzes Volk aus-
zurotten. Stattdessen heißt es:
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung
am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp-
finden.
Als hätte es den Holocaust nicht gegeben!
Ralph Giordano, der Überlebende, bezeichnet die
Charta als „ein überzeugendes Dokument innerer Bezie-
hungslosigkeit zur Welt der Naziopfer, der unaufhebba-
ren unkaschierbaren Ferne zu ihrer Gefühls- und Lei-
densgeschichte“. Und Micha Brumlik sagt, dass in der
Charta „Verleugnung und Verdrängung des Nationalso-
zialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Aus-
druck kommen“.
Die Charta ist also gewiss und bestenfalls ein Zeit-
zeugnis, das übrigens von vielen ehemaligen Nazis ver-
fasst wurde. Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie diese
Charta jetzt zu einem gewissermaßen kanonischen Text
erheben wollen, der als Grundlage der Versöhnung die-
nen soll. Von Versöhnung ist in der Charta überhaupt
keine Rede.
Und – schlimmer noch – ich finde es erschreckend,
dass die Koalition auch 60 Jahre nach dem Verfassen der
Charta der Heimatvertriebenen noch nicht viel weiter zu
sein scheint. Ein einziger Satz findet sich im Antrag zur
Verantwortung der Deutschen am Zweiten Weltkrieg
und dessen Folgen – ein Alibisatz. Die historische Ein-
ordnung der Vertreibung der Deutschen fehlt völlig.
Bereits im ersten Absatz des Antrages heißt es:
Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb
mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in
ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen
waren.
Vielmehr müsste der Satz lauten: Die Deutschen neh-
men Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibi-
lität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte
massiv andere Völker vertrieben, unendliches Leid über
sie gebracht haben, andere Völker vernichteten und in-
folgedessen auch selbst von Vertreibungen betroffen wa-
ren.
Ich kann auch nicht nachvollziehen, warum Sie von
der Stigmatisierung der Vertriebenen sprechen. Es hat zu
Beginn der Bundesrepublik gewiss Diskriminierung von
Vertriebenen gegeben. Sie wurden von der ansässigen
Bevölkerung als Eindringlinge behandelt. Es war eben
eine „kalte Heimat“, in die sie gekommen sind. In der
DDR wurde ihr Schicksal völlig tabuisiert. Aber heute
noch davon zu sprechen, es sei längst überfällig, „die
Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung
sowie deren Nachkommen zu beenden“, missachtet die
große Integrationsleistung der alten Bundesrepublik und
die Anstrengungen der Vertriebenen, die nicht genug ge-
würdigt werden können.
Ja, zur Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik
gehört die Integration von Millionen Flüchtlingen und
Vertriebenen. An dieser Leistung haben die Vertriebenen
selbst den größten Anteil – dank ihres Fleißes, ihrer Inte-
grationsbereitschaft, ihres politischen Engagements. Von
Stigmatisierung sollte also vernünftigerweise keine Rede
mehr sein.
Das Problem heute ist eher die Selbststigmatisierung
der Vertriebenenpolitiker. Sie hatten mit ihren radikalen
Positionen und der Ablehnung der Ostpolitik selbst zu
ihrem schlechten Image beigetragen. Und einige der
heutigen Vertriebenenpolitiker pflegen mit ihren Äuße-
rungen dieses Image – erinnert sei an die Diskussion im
Sommer zum Thema Kriegsschuld. Der vorliegende An-
trag leistet wieder einen Anteil dazu. Das schadet dem
Anliegen, der Opfer von Flucht und Vertreibungen zu
gedenken und die Integrationsleistung der Vertriebenen
zu würdigen. Sie sollten den Antrag zurückziehen.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Freie und gleiche
Wahlen in Belarus einfordern – Menschen-
rechtslage verbessern (Tagesordnungspunkt 17)
Erika Steinbach (CDU/CSU): Am Sonntag wählen
die Bürger Weißrusslands den Präsidenten ihres Landes.
Nach den Berichten der Wahlbeobachter zu den letzten
Wahlen in Weißrussland und anlässlich der Notrufe der
NROs aus Weißrussland gibt es berechtigten Grund zur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9145
(A) (C)
(D)(B)
Sorge. Es scheint, dass auch diese Wahlen wieder zu ei-
ner Farce geraten.
Demokratische Wahlen legitimieren Herrschaft auf
Zeit. In den Blick genommen werden muss jedoch vor
allem die ungeheure Kraft der Legitimation, die freie,
geheime und unabhängige Wahlen entfalten. Sie sind es,
die den Gewählten des Volkes die Kraft zum Handeln
geben.
Alexander Lukaschenko hat 1994 in freien Wahlen
das Präsidentenamt erreicht. Er hat seinen Bürgern Si-
cherheit in den Zeiten des Aufbruchs versprochen und
begonnen, dieses Projekt in den notwendigen Reformen
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion umzuset-
zen. Das ist über 15 Jahre her.
Leider blieb die Möglichkeit zu positivem Handeln
weitgehend ungenutzt. In diesem Zeitraum veranlasste
Lukaschenko zwei Verfassungsreferenden. Mit dem Re-
ferendum von 2004 wurde dem amtierenden Präsidenten
eine lebenslange Amtszeit ermöglicht. Dazu war eine
Verfassungsänderung nötig, denn nach vormaliger Ver-
fassung konnte der Präsident wie in den Vereinigten
Staaten höchstens für zwei Amtszeiten als Staatsober-
haupt tätig sein. 86,2 Prozent der Wähler stimmten dem
Referendum der Verlängerung der Amtszeit den Anga-
ben belarussischer Behörden zufolge zu. Bei den gleich-
zeitig stattfindenden Parlamentswahlen wurde kein
Kandidat der Opposition gewählt. Die OSCE-Wahlbe-
obachtung sprach von umfangreichen Verletzungen de-
mokratischer Standards.
Ein starker Präsident, der in seinem Staate so etwas
duldet oder sogar zu verantworten hat, entwürdigt sich.
Bereits das Verfassungsreferendum von 1996, das
dem Präsidenten umfangreiche Rechte zugewiesen hat
und das Recht de facto außer Kraft setzte, damit der Prä-
sident regieren kann, war ein verkehrter Schritt des Prä-
sidenten. Überall, wo wir dies in anderen Staaten be-
obachten mussten, hat es den Staatschefs nicht gutgetan,
wenn sie zu solchen Mitteln greifen mussten, um sich an
der Macht zu halten. Demokratie und Menschenrechte
werden damit ausgehebelt.
Heute gibt es massive Restriktionen gegen die Presse.
Meinungs- und Pressefreiheit werden mit administrati-
ven Repressionsmaßnahmen gefügig gehalten. Unab-
hängige Medien verlieren schnell ihre Existenzgrund-
lage. Ausländischen Journalisten wird immer wieder die
Akkreditierung verweigert. Die Einbindung unabhängi-
ger Journalisten in einen Koordinationsrat für die Mas-
senmedien verbesserte die grundlegende Situation nicht.
Auch in anderen Bereichen zeigt sich die weißrussi-
sche Regierung hartleibig: Im März dieses Jahres wur-
den wieder zwei Hinrichtungen vollstreckt, es kam auch
in diesem Jahr wieder zu zwei neuen Verurteilungen. Die
auf Druck der Europäischen Union eingerichtete Ar-
beitsgruppe des belarussischen Parlaments zur Erarbei-
tung eines Moratoriums für die Todesstrafe hat nichts
oder nur sehr wenig vorzuweisen. Das ist bei den parla-
mentarischen Machtverhältnissen schließlich auch kein
Wunder.
Die Situation für kritische Onlinejournalisten und In-
ternetnutzer hat sich seit dem Sommer weiter ver-
schlechtert. Ein Erlass schränkt die Internetfreiheit noch
einmal erheblich ein. Der belarussische Staat sichert sich
damit den Zugriff und die weitreichende Kontrolle über
die ins Internet gestellten Inhalte. Wieder ein sicheres
Zeichen für Meinungsbegrenzung.
Mit der Unterdrückung unabhängiger Medien und ge-
steuerter Propaganda des Regimes wird die öffentliche
Meinung so gelenkt, dass die Bürger Weißrusslands vie-
les nicht erfahren. Das sind Maßnahmen, die auf den
simplen Machterhalt zielen.
In diese Reihe passen nun auch die Wahlen: Neun
Kandidaten treten gegen den amtierenden Präsidenten
an. Die schwache Opposition war aber nicht in der Lage,
einen Kandidaten mit wahrnehmbaren Chancen aufzu-
stellen. Alles macht den Eindruck einer Inszenierung,
bei der der Amtsinhaber sich eine Opposition hält. De-
mokratie verkommt so zu einer Inszenierung nach den
Spielregeln des Amtsinhabers.
Damit diese Präsidentschaftswahlen auch wie am
Schnürchen funktionieren, greift die Regierung selbst zu
polizeilichen, administrativen Druckmitteln gegen die
Opposition, die Zivilgesellschaft und unabhängige Me-
dien. Menschenrechtsorganisationen und demokratische
Gruppen werden behindert, ihre Arbeit in Teilen sogar
verhindert. Art. 193.1 des belarussischen Strafgesetzbu-
ches sieht Strafverfahren vor, wenn nichtregistrierte Or-
ganisationen aktiv werden. Sogar Haftstrafen drohen: bis
zu zwei Jahre Gefängnis. Fast unnötig zu erwähnen, dass
genau diese Registrierung den Organisationen seit Be-
ginn dieses Jahres zunehmend erschwert wird. Wenn
junge Oppositionelle entführt werden, um sie einzu-
schüchtern, müssen alle Alarmglocken läuten.
All diese Rahmenbedingungen lassen nichts Gutes er-
warten.
Wir sehen mit großer Sorge den Wahlen in Belarus
am Wochenende entgegen.
Uta Zapf (SPD): Der Antrag der Regierungskoalition
im Vorfeld der Wahlen ist eigentlich überflüssig. Natür-
lich ist es wichtig, genau hinzusehen, was bei den Wah-
len in Belarus geschieht, und inwieweit sich in den letz-
ten Jahren eine Entwicklung in eine positive Richtung
feststellen lässt oder nicht. Davon hängt auch die Mög-
lichkeit ab, ob wir die Kooperation zwischen der Euro-
päischen Union und Belarus zügig ausbauen können.
Diese Wahlen sind der Lackmustest, ob es wirkliche
Fortschritte in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaat-
lichkeit in Belarus gibt. Ich hoffe das, bin aber äußerst
skeptisch, wenn ich mir die Entwicklung in Belarus in
der letzten Zeit ansehe. Wichtig ist daher, nach den Wah-
len eine Beurteilung vorzunehmen. Wir werden uns bei
der Abstimmung deshalb enthalten.
Es gab seit dem Non-Paper der Europäischen Union
vom November 2006, in dem Belarus eine Zusammenar-
beit unter bestimmten Bedingungen angeboten wurde,
sichtbare Ereignisse, die eine gewisse, vorsichtige Hoff-
9146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
nung aufkommen ließen. Es wurden fast alle politischen
Gefangenen freigelassen; die Überarbeitung der Gesetze
für Medien und der Wahlgesetze sollte angegangen wer-
den.
Die Europäische Union hat darauf mit dem Angebot
der Östlichen Partnerschaft reagiert, in die auch Belarus
eingeschlossen werden sollte. Dieses Tauwetter ermög-
lichte auch, dass im Rahmen der Arbeit der Ad-hoc Wor-
king Group on Belarus der OSZEH-Parlamentarierver-
sammlung Seminare durchgeführt wurden, bei denen ein
Dialog zwischen Vertretern der Administration, der Par-
lamentarier, der belarussischen Zivilgesellschaft und der
Opposition ermöglicht wurde. Man hat gesehen, dass es
doch geht.
Allerdings stagniert diese Entwicklung inzwischen,
um nicht zu sagen, sie ist rückläufig. Die Entwicklung
der Zivilgesellschaft und die Möglichkeit zu unabhängi-
gem und pluralistischem politischem Engagement wird
seitens der Regierung wieder vermehrt verhindert.
Ich will nur einige Punkte aufzählen:
Die Möglichkeit der Registrierung von Nichtregie-
rungsorganisationen wird restriktiv gehandhabt.
Politischen Parteien wird zum Teil die Registrierung
verweigert.
Es finden willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsu-
chungen, Beschlagnahmungen von Arbeitsmitteln wie
Computern statt, und es werden Prozesse mit dubiosen
Anklagen initiiert, um Oppositionelle mundtot zu machen.
Ein weiterer wichtiger und für uns zentraler Punkt ist
die Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe.
Der Europarat hat die Gastmitgliedschaft von Belarus
deswegen ausgesetzt. Es ist notwendig, dass Belarus,
wenn es Mitglied des Europarates werden will, die To-
desstrafe abschafft. Ein unverzichtbares Signal wäre die
Erklärung eines sofortigen Moratoriums, die Zusage, die
Todesstrafe abzuschaffen und die sofortige Einleitung
eines entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens.
Auf die Bedeutung der Wahlen am kommenden Wo-
chenende habe ich schon hingewiesen. Auch wenn es im
Einzelnen einige Verbesserungen gegeben hat, so muss
man nach einer ersten Bewertung der Vorbereitungen
und des Wahlkampfes sagen, dass noch einiges im Argen
liegt.
Es gab bei der Vorbereitung der Wahlen und im Wahl-
kampf gegenüber dem letzten Mal Verbesserungen. Al-
lerdings kann man noch nicht von einem qualitativen
Sprung sprechen.
Besorgniserregend ist aus meiner Sicht, dass kaum
Vertreter oppositioneller Parteien in den Wahlkommis-
sionen vertreten sind.
Die Wahlgesetzgebung wurde verbessert, aber das
Problem des „early voting“ besteht noch immer. Wir alle
wissen, dass in dieser Phase, die zeitgleich zur Endphase
des Wahlkampfes läuft, in der Vergangenheit massive
Wahlfälschungen stattfanden. Die ungleichen Möglich-
keiten, die die Kandidaten bei den Wahlkampfmitteln im
Wahlkampf haben, stellen eine Benachteiligung opposi-
tioneller Kandidaten dar.
Sowohl in der Frage der Finanzierung wie auch in der
Präsenz in den Medien sind die Oppositionskandidaten
im Nachteil. Zwar hat sich die Situation etwas verbes-
sert. Es ist jedoch Fakt, dass der Präsident über ein höhe-
res Budget verfügt und mehr und direkten Zugang zu
den Medien hat. Das kann durch die jetzt spärlich ge-
währten Auftritte für Oppositionskandidaten in Fernse-
hen und Radio nicht ausgeglichen werden, zumal die
Moderation im Fernsehen nach meinen Informationen
nicht neutral sondern pro Lukaschenko ist.
Die Wahlbeobachter hatten in der Vergangenheit
keine Möglichkeiten, die Wahlergebnisse systematisch
zu überprüfen. Ich selbst habe seit 2001 an allen Wahlbe-
obachtungen teilgenommen und kann dies bezeugen.
Manipulationen, sei es aufgrund der Unkontrollierbar-
keit des Wahlvorganges, sei es aufgrund von Druck, der
zum Beispiel in Betrieben von der Betriebsleitung auf
die Wählerinnen und Wähler ausgeübt wird, sind üblich
gewesen.
Ich hoffe, dass die Wahlbeobachter alle Phasen des
Wahlvorgangs beobachten können, damit die Auswer-
tung der Wahlen auf einer realistischen Grundlage statt-
finden kann. Das heißt, dass sie vollen Zugang zu den
Wahlvorgängen selbst, zu den Auszählungen bekommen
und den gesamten Ablauf beobachten können. Ich selbst
kann aus meiner Erfahrung berichten, dass dies in der
Vergangenheit nicht der Fall war.
Es muss gesichert sein, dass die Wahlbeobachter und
Vertreter der Presse alle relevanten Dokumente und Auf-
zeichnungen erhalten, um auf einer soliden Basis die
Wahl beurteilen zu können.
Die Ergebnisse der Wahlen sollen auf jeder Ebene,
von den Wahllokalen bis zur Gesamtauszählung, nach-
vollziehbar und transparent sein und ohne Verzögerung
veröffentlicht werden. Nur so ist eine seriöse Beurtei-
lung der Wahl, ihres Verlaufs und ihres Ergebnisses
möglich. Wir sollten dies anhand der Berichte der Wahl-
beobachter und von ODIHR prüfen und dann diskutie-
ren.
Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg ziem-
lich einig über die Frage, wie wir mit Belarus umgehen.
Wir haben in der Vergangenheit die Hand zum Dialog
ausgestreckt. Dies war und ist richtig. Aber in Belarus
muss sich noch einiges grundsätzlich ändern, muss die
Missachtung von Menschenrechten aufhören und
Rechtsstaatlichkeit hergestellt werden, Medienfreiheit
und politische Pluralität möglich sein. Dann können die
Angebote der Europäischen Union auch umgesetzt wer-
den.
Marina Schuster (FDP): Wir sprechen heute über
die anstehenden Wahlen und die Menschenrechtslage in
Belarus. Es pfeift ein eisiger Wind durch Minsk und
ganz Belarus – und das hängt nicht nur mit der winterli-
chen Jahreszeit zusammen. Doch bevor ich auf die
schwierige Menschenrechtssituation zu sprechen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9147
(A) (C)
(D)(B)
komme, möchte ich eine Nachricht aufgreifen, die wir
ausdrücklich begrüßen.
Belarus will seine Vorräte an hochangereichertem
Uran bis zum Jahr 2012 beseitigen. Eine entsprechende
Einigung erreichten der belarussische Außenminister
Sergej Martynow und US-Außenministerin Hillary
Clinton am 1. Dezember am Rande des OSZE-Gipfels in
Kasachstan. Diese Selbstverpflichtung begrüßt die FDP-
Bundestagsfraktion sehr, jedoch nicht ohne deren tat-
sächliche Umsetzung mit gleichem Nachdruck einzufor-
dern. Denn wie immer gilt: Den Worten müssen auch Ta-
ten folgen.
Aus Belarus hörten wir hoffnungsvolle Signale. Die
Aufnahme des Landes in die Östliche Partnerschaft vor
über einem Jahr, die zunehmende Öffnung der belarussi-
schen Wirtschaft wie auch die Freilassung von politi-
schen Häftlingen gaben zunächst Anlass zur Hoffnung
auf eine Heranführung an die EU und die Stärkung de-
mokratischer Standards.
Doch spätestens nach den Kommunalwahlen im
April 2010 setzte breite Ernüchterung ein. Wenngleich
sich die Menschenrechtssituation für Angehörige der
Opposition im Vergleich zu den Kommunalwahlen im
Jahr 2010 und den letzten Präsidentenwahlen leicht ver-
bessert hat, beklagen oppositionelle Gruppen, Men-
schenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen
nach wie vor staatliche Behinderungen ihrer Arbeit.
Aufgrund fortbestehender schwerwiegender Defizite im
Menschenrechts- und Rechtsstaatsbereich hat sich am
faktischen Sonderstatus Belarus innerhalb der Östlichen
Partnerschaft daher nicht viel geändert. Die Parlamenta-
rische Versammlung des Europarats, der ich angehöre,
hat im April 2010 beschlossen, Kontakte zu Parlament
und Regierung von Belarus einzufrieren, weil spürbare
Fortschritte bei den Menschenrechten ausblieben. Es
müsste doch eigentlich das Ziel der belarussischen Re-
gierung sein, möglichst bald wieder als volles Mitglied
zurück in die Parlamentarische Versammlung zu kom-
men. Deswegen fordere ich die belarussische Regierung
auf, Menschenrechte zu achten und zu gewährleisten.
Dass die Menschenrechte nicht die ihnen gebührende
Aufmerksamkeit erhalten, zeigt sich bereits daran, dass
Belarus als einziges Land in Europa an der Todesstrafe
festhält. Laut Amnesty International wurde die Todes-
strafe seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991
in circa 400 Fällen vollstreckt. Am 14. Mai 2010 wurden
zwei Menschen wegen Mordes und Raubes zum Tode
verurteilt. Am 14. September 2010 erfolgte ein weiteres
Todesurteil. Dies verurteilen wir scharf.
Es gibt allerdings Hinweise, dass das Parlament nach
den kommenden Präsidentschaftswahlen ein Morato-
rium für die Vollstreckung der Todesstrafe beschließen
könnte. Diese Initiative, die auf Druck der EU zustande
gekommen ist, weist in die richtige Richtung. Denn die
Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche Be-
strafung und muss weltweit abgeschafft werden.
Aber auch bei anderen fundamentalen Grundfreihei-
ten weist Belarus noch immer Defizite auf. Freie Mei-
nungsäußerungen, Versammlungsfreiheit und freier
Zugang zu Informationen, die allesamt nach der belarus-
sischen Verfassung gewährt werden, existieren de facto
nicht. Dabei sind sie Kernelemente einer funktionieren-
den Demokratie.
Mit Blick auf die Präsidentenwahl greift das Regime
erneut auf das gesamte Repertoire polizeilicher, adminis-
trativer und gerichtlicher Druckmittel gegen die Opposi-
tion, die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien zu-
rück. Es reicht von der Nichtzulassung unabhängiger
Berichterstattungen, Durchsuchungen und Verboten von
NGOs unter fingierten Vorwänden über willkürliche Ge-
richtsverfahren gegen unbequeme Einzelpersonen oder
Organisationen. Besonders gravierend waren Einschüch-
terungsversuche durch Entführungen jüngerer oppositio-
neller Aktivisten Ende 2009. Im Vorfeld der Kommunal-
wahl 2010 ging die Polizei gegen harmlose, unan-
gemeldete Straßenaktionen der Opposition wiederholt
mit unverhältnismäßiger Härte vor. Es kommt immer
wieder landesweit zu kurzzeitigen Inhaftierungen und
Übergriffen der Polizei sowie der Sicherheitsorgane.
Teilnehmer an nicht genehmigten Demonstrationen müs-
sen mit Geld- und Arreststrafen rechnen. Einige regime-
kritisch gesinnte junge Männer wurden in die Armee re-
krutiert, um ihnen so ihr Betätigungsfeld zu nehmen.
Ich möchte an dieser Stelle Bundesaußenminister Dr.
Guido Westerwelle danken. Er hat bei seinem Besuch in
Belarus – als erster deutscher Außenminister seit 15 Jah-
ren – Anfang November dieses Jahres gemeinsam mit
seinem polnischen Amtskollegen Sikorski demokrati-
sche Wahlen bei Staatschef Lukaschenko eingefordert.
Wie der Außenminister sagen auch wir, dass es nur einen
Weg nach Europa gibt: Er führt über freie und faire Wah-
len sowie die Einhaltung von Menschenrechten und in-
ternationalen Rechtsstandards.
Diese Wahlen werden zeigen, wie weit die belarussi-
sche Bereitschaft zur Demokratie reicht. Erste Zeichen
deuten darauf hin, dass diese Bereitschaft nur gering
ausgeprägt ist. Es ist zu beobachten, dass die Opposition
wie auch bei allen Wahlen der vergangenen Jahre keinen
freien Zugang zu den Medien hat. Die Opposition hat
kaum Möglichkeiten, Vertreter in die Wahlkommission
zu entsenden. Deswegen ist es wichtig und erforderlich,
dass unabhängige Wahlbeobachter den gesamten Wahl-
prozess verfolgen können.
Dass die EU im Rahmen der Östlichen Partnerschaft
gemeinsame Werte einfordert, wobei Freiheit und De-
mokratie unabdingbare Voraussetzungen sind, wird von
belarussischer Seite gerne vergessen.
Daher ist es nur konsequent, dass Außenminister
Westerwelle bei seinem Gespräch mit Lukaschenko als
auch wir mit unserem Antrag immer wieder daran erin-
nern, dass wir einen Dialog mit messbaren Ergebnissen
anstreben.
Die Bundesregierung wird die Menschenrechtslage in
Belarus genau beobachten und Missstände gegenüber
der belarussischen Staatsführung ansprechen. Die klaren
und zielgerichteten Forderungen unseres Antrags richten
sich an die belarussische Regierung:
9148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
Wir fordern demokratische Standards für diese und
zukünftige Wahlen, wir fordern die Abschaffung der To-
desstrafe und die Gewährleistung von Menschen- und
Freiheitsrechten, und wir fordern ein unabhängiges Jus-
tizwesen, das sich ausschließlich an rechtsstaatlichen
Grundsätzen orientiert und nicht wie bisher an politi-
schen Weisungen.
Das belarussische Volk sehnt sich nach demokrati-
schen Freiheiten. Diesen Wunsch sollten wir unterstüt-
zen und gemeinsam nach Kräften fördern, damit so bald
wie möglich nur noch der Winter Schuld an dem eisigen
Wind hat, der durchs Land pfeift.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Selbstverständ-
lich sollte der Bundestag sich für die Verbesserung der
Menschenrechtslage einsetzen – unabhängig davon, in
welchem Land und welchem Teil der Welt wir es zu tun
haben, auch im eigenen Land. Die Lage vieler Menschen
in unserem Land könnte erheblich verbessert werden,
wenn man die Allgemeine Charta der Menschenrechte
als Maßstab heranzieht. Je vorbildlicher die Menschen-
rechte im eigenen Land verwirklicht und gesichert wer-
den, desto freier kann man über die Menschenrechtslage
in anderen Ländern reden. Ohne Abstriche wünsche ich
den Menschen in Belarus, dass die Präsidentschaftswah-
len frei, geheim und gleich vonstatten gehen, dass die
Todesstrafe aufgehoben wird, dass Presse- und Mei-
nungsfreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit überall verwirk-
licht werden.
Wenn dies tatsächlich das Anliegen des Antrages
wäre, hätte man ihm zustimmen können. Dem ist aber
eben nicht so. Von oben herab wird über Belarus gerich-
tet. Der Antrag sprüht vor Antikommunismus, wobei die
Verfasserinnen und Verfasser es offensichtlich noch gar
nicht mitbekommen haben, dass auch in Belarus kein
Kommunismus mehr herrscht. Unsensibel wird ein gan-
zes Land über einen ideologischen Leisten geschlagen.
Diese Art von Ideologie ist antiaufklärerisch und verstellt
den Blick auf mögliche Entwicklungen. Die Linke hat
sich mit der Entwicklung in Belarus immer wieder und
kritisch auseinandergesetzt, aber diese Art der Rechtha-
berei ist uns fremd und die wollen wir auch nicht mitma-
chen.
Es hätte sich in der Tat gelohnt, den gesellschaftlichen
Entwicklungen in Belarus wie auch in anderen Ländern,
denen die von der EU ins Leben gerufene „östliche Part-
nerschaft“ angeboten wurde, gründlich und differenziert
nachzugehen. Ein intensiver Dialog, bi- und multilateral,
setzt voraus, das Leben in den betroffenen Staaten ge-
nauer zu kennen. Wenn die „östliche Partnerschaft“ sich
wirklich zu den Grundsätzen des Völkerrechts und der
Grundfreiheiten bekennt, dann gehört doch wohl auch
dazu, dass diese Grundsätze und die Grundfreiheiten, die
man meint, präzise beschrieben werden. Zu den Grund-
sätzen des Völkerrechts gehört auch, dass die Souveräni-
tät des jeweiligen Staates anerkannt und geachtet wird.
Ich habe mir immer das Recht herausgenommen, mich
mit der Entwicklung in anderen Ländern im eigenen
Land kritisch auseinanderzusetzen. Eine solche Aus-
einandersetzung, der Wunsch nach tatsächlichem Dialog
wird aus dem Text des Antrages nicht sichtbar. Im Ge-
genteil: Man will nicht beurteilen, sondern verurteilen.
Werte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
der FDP, kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross, re-
den Sie mit anderen Ländern und Völkern nicht in die-
sem Ton. Das steht Ihnen nicht zu. Sie schaden den Men-
schenrechten, wenn Sie sie ideologisieren und nach
eigenem Gutdünken in Anwendung bringen.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Wir beraten heute einen Antrag der Koalition, der
freie und gleiche Wahlen in Belarus und die Verbesse-
rung der Menschenrechtslage fordert. Diese Forderun-
gen sind richtig, und meine Fraktion unterstützt deshalb
den Koalitionsantrag.
Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die
Wahl leider nicht demokratischen Standards genügen
wird. Sicher gab es im Vorfeld der Wahl eine liberalere
Atmosphäre, als dies bei vorhergehenden Wahlen der
Fall war. So wurde eine Reihe von Oppositionskandida-
ten nach weitestgehend ungehinderter Unterschriften-
sammlung registriert. Auch wurde den Kandidaten ein
unzensierter Auftritt im Fernsehen und Radio zugestan-
den. Spontane Demonstrationen in Minsk wurden nicht
wie üblich niedergeknüppelt. Und wie bei vorangegan-
genen Wahlen wurde auch dieses Mal die OSZE zur
Wahlbeobachtung eingeladen. Aber diese Liberalisierun-
gen bedeuten keine Demokratisierung, weil sie nicht auf
einklagbaren Rechten fußen und taktisch ausgewählt
wurden. Für westliche Beobachter wird auf diese Weise
der Schein demokratischer Wahlen erweckt, ohne die be-
stehende Machtbasis infrage zu stellen. Wir alle wissen,
dass der Grund hierfür der enorme Druck des einstigen
Verbündeten Russland ist.
Tatsächlich ist auch diese Wahl von schweren demo-
kratischen Defiziten gekennzeichnet. So befinden sich
Radio, Fernsehen und nahezu alle Zeitungen in Staats-
hand und werden ausgiebig als Propagandainstrumente
des Präsidenten eingesetzt. Die Website des Staatsfernse-
hens erinnert an eine Kampagnenseite des Präsidenten.
Das Portrait Lukaschenkos ist allgegenwärtig. In den
Wahlkommissionen sind kaum Vertreter der Opposition
vertreten. Die vorfristige Stimmenabgabe, die seit Montag
läuft, bietet enorme Manipulationsmöglichkeiten, und die
Wahlbeobachter der OSZE werden wohl wieder in einem
gebotenen Abstand der stummen Stimmenauszählung
beiwohnen, der eine Kontrolle unmöglich macht.
Ich möchte hier auch darauf hinweisen, dass erneut
Visa für Mitarbeiter von NGOs aus Deutschland, aber
auch aus Norwegen verweigert wurden. Offensichtlich
möchte man keine regimekritischen Gäste am Wahltag
und bei den zu erwartenden Protesten am Wahlabend in
Belarus haben. Auch das spricht Bände über den demo-
kratischen Charakter dieser Wahlen.
Ich hoffe sehr, dass die EU und Deutschland den un-
demokratischen Charakter dieser Wahlen ganz klar und
die absehbare Wiederwahl Lukaschenkos deutlich als
unrechtmäßig benennen. Dies ist auch eine Frage der
Glaubwürdigkeit gegenüber dem Regime in Minsk, dass
nicht darauf rechnen können soll, dass wir sein Spiel ei-
ner Scheindemokratisierung mitspielen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9149
(A) (C)
(D)(B)
Gleichwohl ist der eingeschlagene Weg des Dialogs
mit dem Regime richtig. Aber dieser Dialog sollte in den
nächsten Monaten genutzt werden, um dem Regime
echte demokratische Reformen abzufordern. Denn ist
wenig gewonnen, wenn eine kritische Zeitung gnädiger-
weise zugelassen wird, aber jederzeit wieder geschlos-
sen werden kann. Belarus braucht ein Mediengesetz, das
eine unabhängige Presse ermöglicht. Belarus braucht
eine unabhängige Justiz, die sich nicht für politische
Prozesse instrumentalisieren lässt. Belarus braucht ein-
klagbare demokratische Grundrechte wie Versamm-
lungs- und Meinungsfreiheit und ein Moratorium für die
Todesstrafe. Und Belarus braucht ein demokratisches
Parlament statt Dekrete des Präsidenten und seine Huldi-
gung durch die Allbelarussische Versammlung.
Bei dem Dialog mit dem Regime dürfen wir nicht die
Zivilgesellschaft in Belarus aus den Augen verlieren. Ich
begrüße sehr, dass bei der Östlichen Partnerschaft, an
der auch Belarus teilnimmt, die NGOs über das Zivilge-
sellschaftsforum seit Beginn eingebunden sind. Und ich
begrüße sehr, dass die Vertreter der EU bei ihren Besu-
chen in Minsk immer auch Vertreter der Opposition und
Zivilgesellschaft treffen. Ihr Rat sollte uns Richtschnur
für unser Handeln gegenüber Belarus sein.
Die Zivilgesellschaft in Belarus bedarf unserer stärke-
ren Unterstützung. Wir brauchen einen intensiveren Aus-
tausch mit den Ländern der EU. Entsprechende Pro-
gramme für Schüler, Studenten, Auszubildende und
NGOs wären hilfreich. Aber – und ich werde nicht müde,
dies immer wieder zu betonen – das Wichtigste ist die
längst überfällige Einführung von Visumserleichterun-
gen für Belarus. Die derzeitigen Prozeduren und Gebüh-
ren sind eine enorme Bürde für den Austausch. Wir haben
aber ein großes Interesse, dass die jungen Menschen und
künftigen Eliten demokratische Gesellschaften kennen-
lernen und mit dem Wunsch nach Veränderung in ihr
Land zurückkehren. Richtigerweise ist Reisefreiheit eine
wichtige Säule der Östlichen Partnerschaft. Erste Ver-
handlungen mit Belarus über Visumserleichterungen sind
auf dem Weg. Ich hoffe sehr, dass diese bald zum Ab-
schluss gebracht werden und nicht erneut als Verhand-
lungsmasse mit dem Regime missbraucht werden.
Für Sonntag hoffe ich, dass möglichst viele Menschen
in Belarus den Mut finden, ihre Unzufriedenheit mit den
undemokratischen Wahlen mit ihrer Stimmabgabe deut-
lich zum Ausdruck zu bringen. Für den Wahlabend
selbst hoffe ich, dass die zu erwartenden Proteste wie in
den letzten Jahren friedlich verlaufen und vielleicht den
Anfangspunkt eines echten demokratischen Wandels in
Belarus markieren.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag: Durchsetzung und Evaluation des
Reiserechts verbessern
– Beschlussempfehlung und Bericht: Rei-
sende besser schützen
(Tagesordnungspunkt 18 a und b)
Peter Wichtel (CDU/CSU): Die Bundesregierung
begleitet die Bürgerinnen und Bürger nicht erst seit Be-
ginn der gegenwärtigen Legislaturperiode mit einer
verantwortungsbewussten und nachhaltigen Verbrau-
cherpolitik. Das deutsche Recht gewährt insbesondere
Reisenden ein Maß an Schutz, das in schwierigen Ver-
handlungen für die Verkehrsträger erarbeitet wurde und
über den europäischen Standard hinausreicht. Das hohe
Niveau unseres Verbraucherschutzes und die verbrau-
cherfreundlichen Strukturen wollen wir halten und nach
Bedarf auch weiter punktuell ausbauen.
Vor diesem Hintergrund ist es überaus verwunderlich,
dass mit den heute vorliegenden Anträgen die Verbrau-
cherpolitik kritisiert wird. Insbesondere der Ruf nach ei-
ner Verbesserung der Durchsetzung und Evaluation des
Reiserechts im Hinblick auf die Fluggastrechteverord-
nung (EG) Nr. 261/2004 kann nur als unsachgemäß cha-
rakterisiert werden. Der Antrag verlangt nach einer Er-
hebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs,
obwohl ein Sachzusammenhang mit der Überprüfung
der Rechtsdurchsetzung nicht gegeben ist.
Zunächst gilt es deutlich hervorzuheben, dass es keine
gesetzliche Grundlage gibt, die aufgezeigten Kontrollpa-
rameter zu erheben. Das Verkehrsstatistikgesetz statuiert
in § 12 die Pflicht zur Erhebung der angebotenen Plätze
und die Zahl der ein- oder aussteigenden sowie der
durchreisenden Fluggäste. Einzig die für die Arbeit des
Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, notwendigen Daten wer-
den gesammelt und ausgewertet. Eine Registrierung der
tatsächlich durchgeführten, verspäteten oder annullier-
ten Flüge wird dagegen nicht im Verkehrsstatistikgesetz
vorgeschrieben. Das Luftfahrt-Bundesamt erlangt nur
aufgrund eingehender Anzeigen Kenntnis von Verspä-
tungen, Annullierungen, Nichtbeförderungen oder He-
rabstufungen im Sinne der Fluggastrechteverordnung
(EG) Nr. 261/2004.
Ein näherer Blick auf die Aufgaben des LBA macht
zudem deutlich, warum die gegenwärtige Aufgaben-
struktur als überaus plausibel und beständig zu betrach-
ten ist. Die Bundesbehörde unter Dienst- und Fachauf-
sicht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung trägt Sorge dafür, dass Luftfahrtunter-
nehmen die Fluggastrechteverordnung einhalten. Sollten
Verstöße gegen die Verordnung festgestellt werden, leitet
das Luftfahrtbundesamt Ordnungswidrigkeitsverfahren
gegen die betroffenen Akteure ein. Das LBA fungiert als
Aufsichtsbehörde über die Luftfahrtunternehmen und übt
diese Tätigkeit im öffentlichen Interesse aus.
Das LBA ist dagegen kein rechtsdurchsetzendes Or-
gan für Fluggäste und ist auch nicht im zivilrechtlichen
Interesse tätig. Die Geltendmachung und Durchsetzung
zivilrechtlicher Ausgleichsansprüche gegenüber der
Luftfahrtindustrie im Interesse der betroffenen Fluggäste
ist keinesfalls Aufgabe der Behörde. Dieser Eindruck
scheint bei der Lektüre des vorliegenden Antrages und
der Forderung nach einer statistischen Datenerfassung
allerdings zu entstehen. Es gilt daher erneut klar zu ver-
deutlichen, dass ein Sachzusammenhang zwischen der
Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhebung
9150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs nicht gege-
ben ist.
Die Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes ist nicht nur
ein Beispiel für die verbraucherfreundliche Struktur der
Bundesrepublik, sie verdeutlicht gleichzeitig die Effi-
zienz und Nachhaltigkeit des Verbraucherschutzes. Lässt
man die Anzeigen im Zusammenhang mit dem Vulkan-
ausbruch auf Island außen vor, ist in den vergangenen
Jahren ein rückläufiges Anzeigeaufkommen zu vermel-
den. Das kann als Indikator dafür betrachtet werden,
dass die Luftfahrtunternehmen nicht zuletzt durch die
Aufsicht des LBA den Verpflichtungen der Fluggast-
rechteverordnung in stärkerem Umfang nachkommen.
Die bereits 2009 erfolgte Straffung der Arbeitsprozesse
innerhalb der Behörde und der regelmäßige Kontakt mit
den Luftverkehrsunternehmen, um die Kernpunkte der
Verordnung und deren Umsetzung zu verdeutlichen,
wird auch zukünftig zu einer verbesserten Einhaltung
des Gesetzes und somit dem Verbraucherschutz beitra-
gen.
Mit der seit Dezember 2009 arbeitenden Schlich-
tungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, SÖP,
wird zudem das im Koalitionsvertrag verankerte Ziel ei-
ner verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung realisiert.
Zur Erleichterung der Durchsetzung der Fluggastrechte
wird derzeit geprüft, wie auch eine Einbeziehung der
Luftverkehrsträger in eine Schlichtung erreicht werden
kann. Hierzu werden gegenwärtig überaus konstruktive
Gespräche mit der Luftverkehrsindustrie geführt.
Zusammenfassend betrachtet kommt die Bundesre-
gierung ihrer Verantwortung für den Verbraucher auch
und insbesondere im Bereich des Reisens nach. Nicht
zuletzt die Fluggastrechteverordnung und die Arbeit des
Luftfahrtbundesamtes als für die Durchsetzung der Ver-
ordnung verantwortliche Behörde verdeutlichen das
hohe Niveau unseres Verbraucherschutzes und unsere
verbraucherfreundliche Strukturen. Eine Erhebung von
Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs und eine dem-
entsprechende Überarbeitung des Verkehrsstatistikgeset-
zes lehnen wir daher ab.
Marlene Mortler (CDU/CSU): Das deutsche Reise-
recht sichert ein hohes Verbraucherschutzniveau für un-
sere Bürger. Deutsche Reisende genießen dabei einen
Schutz, der über den geltenden europäischen Standard
hinausgeht. Das soll auch so bleiben.
Die meisten der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen „Reisende besser schützen“ enthaltenen For-
derungen sind weder sachgerecht noch durchführbar,
und sie werden den bisherigen hohen deutschen Stan-
dards nicht gerecht.
Ein Kernpunkt des Antrages ist die Forderung, auf eu-
ropäischer Ebene die derzeit geltenden Regelungen für
Pauschalreisen und die Passagierrechte bei den einzel-
nen Verkehrsträgern zusammenzufassen und zu einem
Rechtsakt weiterzuentwickeln. Eine solche Zusammen-
führung würde aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass
die Regelungen übersichtlicher und einfacher wären und
damit ein höherer Verbraucherschutz erreicht würde. Da-
gegen sprechen außerdem gewichtige organisatorische
Gründe: Richtlinien und Verordnungen sind nun einmal
unterschiedliche Rechtsakte. Während es bei EU-Richt-
linien einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung in
nationales Recht gibt, sind EU-Verordnungen in den
Mitgliedstaaten unmittelbar wirksam und verbindlich.
Außerdem sind die angesprochenen EU-Verordnun-
gen in einem höchst unterschiedlichen Stadium. Die
Rechte von Passagieren, die mit der Bahn oder per Flug-
zeug reisen, sind bereits in geltenden Verordnungen ge-
regelt. Die Verordnung für die Rechte von Passagieren
im See- und Binnenschiffsverkehr ist zwar beschlossen,
aber noch nicht in Kraft getreten. Und die Verordnung
für die Rechte von Passagieren im Busverkehr ist noch
nicht einmal beschlossen.
Für die schon 2005 in Kraft getretene Fluggastrechte-
Verordnung hat die Europäische Kommission bereits
eine Überarbeitung angekündigt. Mit den anderen neuen
Verordnungen müssen dagegen erst einmal Erfahrungen
gesammelt werden, bevor eine Überarbeitung überhaupt
in Betracht gezogen werden bzw. beurteilt werden kann,
ob das Sinn macht. Schließlich sind diese Verordnungen
mit großem Aufwand und in schwierigen Verhandlungen
ausgearbeitet worden.
Grundsätzlich müssen bei der Ausgestaltung der Fahr-
gastrechte die Besonderheiten der jeweiligen Verkehrs-
träger beachtet werden, vor allem für Verspätungsregeln.
Hier gibt es einfach unterschiedliche Ausgangsbedin-
gungen und andere naturbedingte Voraussetzungen. So
ist etwa beim Schiff die Wahrscheinlichkeit, in einen
Stau zu geraten, deutlich geringer als beim Bus. Insofern
ist die im Antrag geforderte intermodale Anpassung
nicht sachgerecht und könnte sogar zur Kürzung bisheri-
ger Ansprüche führen.
Auf europäischer Ebene untersucht derzeit auch be-
reits die Europäische Kommission, ob die Pauschalreise-
Richtlinie überarbeitet werden soll. Dies darf aber nicht
dazu führen, dass Deutschland sein hohes Verbraucher-
schutzniveau absenken müsste. Viele der von der Kom-
mission angesprochenen Probleme bestehen im deu-
tschen Recht im übrigen auf Grund unseres höheren
Schutzniveaus eben nicht.
Die Notwendigkeit für die geforderte Insolvenzabsi-
cherung für Fluggesellschaften und alle anderen Ver-
kehrsträger ist ebenfalls nicht zu erkennen. So sind der
Bundesregierung keine Fälle bekannt, bei denen Rei-
sende im Luftfahrtbereich, bei der Bahn oder im Busbe-
reich durch eine Insolvenz nicht reisen konnten oder von
finanziellen Schäden betroffen gewesen wären.
Geradezu absurd ist auch die geforderte Hinweis-
pflicht für Reiseveranstalter und Reisevermittler aller
EU-Mitgliedstaaten für eine verbindliche Unterrichtung
vor Vertragsabschluss über Pass- und Visumserforder-
nisse. Demnach müssten Reiseveranstalter und Reise-
büros die Bürger aller 27 EU-Mitgliedstaaten über die
aktuellen jeweiligen Einreisebestimmungen von circa
200 Ländern weltweit informieren, also über etwa
5 400 verschiedene Einreisebestimmungen – und dies
womöglich noch in der jeweiligen Landessprache des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9151
(A) (C)
(D)(B)
EU-Bürgers. Dies ist nicht nur Bürokratie, dies ist
schlichtweg nicht zu leisten.
Etwas weltfremd erscheint uns auch, dass an allen
Reiseverkehrsknotenpunkten in Zusammenarbeit mit
Schlichtungsstellen und Verbraucherzentralen Informa-
tions- und Vermittlungszentren eingerichtet werden sol-
len. Soll jetzt in jedem Bahnhof und jedem Flughafen
ein solches Informationsbüro geschaffen werden? Die
Kosten wären unüberschaubar und unvertretbar, der Nut-
zen dagegen gering. Die Unternehmen sind bereits heute
verpflichtet, ihre Kunden über deren Rechte zu informie-
ren.
Wir haben im Koalitionsvertrag die Einrichtung einer
unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die
Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff festgelegt.
Diese Einrichtung ist mit der Schlichtungsstelle für den
öffentlichen Personenverkehr, SÖP, zum 1. Dezember
2009 erfolgt. Bisher sind dort über 3 300 Fälle zur
Schlichtung eingegangen, die meisten aus dem Bahnbe-
reich. Die Arbeit der SÖP zur Durchsetzung der Rechte
von Reisenden ist eine weitere wichtige Stärkung des
Verbraucherschutzes im Tourismusbereich.
Die deutschen Fluggesellschaften sind jetzt nach eini-
gem Zögern auch zu einer Teilnahme an Schlichtungs-
verfahren bereit. Dies muss aber nicht unbedingt durch
eine Mitgliedschaft in der SÖP erfolgen, sondern ist
durchaus in einer separaten Schlichtungsstelle für den
Luftverkehr möglich. Eine solche Einrichtung wird ge-
genwärtig in Zusammenarbeit mit mehreren Bundes-
ministerien geprüft. Wir müssen dabei beachten, dass es
im Gegensatz zur Bahn im Luftverkehr einen intensiven
Wettbewerb gibt. Deshalb muss sichergestellt sein, dass
alle in Deutschland tätigen Fluggesellschaften einbezo-
gen werden. Nur so vermeiden wir Wettbewerbsverzer-
rungen, nur so erreichen wir einen wirklich höheren Ver-
braucherschutz für alle Fluggäste.
Für den angeblich umfassenden Handlungsbedarf,
den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem vorlie-
genden Antrag versucht aufzuzeigen, gibt es, wie
gezeigt, keine tragfähige Grundlage. Wir lehnen ihn des-
halb ab und stimmen der entsprechenden Beschlussemp-
fehlung des Tourismusausschusses zu.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Man sollte eine Rede
nicht mit dem Namen eines isländischen Vulkans begin-
nen, wenn man sich nicht verhaspeln möchte.
Ich tue es trotzdem, denn der Ausbruch des isländi-
schen Vulkans Eyjafjallajökull mit seinen schwerwie-
genden Folgen für den internationalen Flugverkehr hat
einmal mehr gezeigt, dass unsere Regierung zu einem
vernünftigen Krisenmanagement nicht in der Lage ist.
Wir alle haben noch Tausende gestrandete und desori-
entierte Reisende auf den Flughäfen vor Augen, die we-
der wussten, wie sie nach Hause kommen sollten, noch
wer für die ihnen entstandenen Kosten aufkommt.
Diese extreme Situation hat offenbart:
Erstens: Die Hilfs- und Informationsangebote an den
Flughäfen sind generell unzureichend.
Zweitens: Das nationale und europäische Reiserecht
ist zu undurchsichtig und nicht verbraucherfreundlich
genug. Die Initiative der Grünen, das Reiserecht verbes-
sern zu wollen, ist deshalb richtig. Der Verbraucher-
schutz für Reisende muss verstärkt werden.
Ein erster Schritt wäre die konsequente Umsetzung
der schon bestehenden Verbraucherrechte. Das ist für die
Bunderegierung aber ganz offensichtlich kein Thema.
Dabei bietet das europäische Reiserecht zum Beispiel
mit der Fluggastrechteverordnung bereits gute Grundla-
gen, die leider in Deutschland versickern.
Durch massenhafte Verspätungen, Nichtbeförderun-
gen und Flugannullierungen erwerben täglich Hunderte
Flugreisende einen Anspruch auf Entschädigung nach
der europäischen Fluggastrechteverordnung. Für die
Durchsetzung dieser Verordnung ist in Deutschland das
Luftfahrtbundesamt zuständig. Es muss die Einhaltung
der Verordnung durch die Fluggesellschaften gewähr-
leisten.
Dennoch sind die Flugreisenden ganz offensichtlich
über ihre Rechte nicht ausreichend informiert. Die Luft-
fahrtunternehmen nehmen also ihre Informationspflicht,
die sie laut der Verordnung haben, nicht wahr.
Die von der Verordnung vorgeschriebenen Entschädi-
gungen werden auch lange nicht in dem Maße gezahlt,
wie es die vielen Verspätungen und Annullierungen ver-
muten lassen müssten. Trotzdem leitet das Luftfahrbun-
desamt nur eine kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsver-
fahren ein.
Dieses Missverhältnis zeigt: Unsere Regierung
klemmt sich nicht dahinter. Es werden, das fordern die
Grünen zu Recht ein, die ganzen Verspätungen, Annul-
lierungen und Nichtbeförderungen noch nicht einmal in
der Verkehrsstatistik erfasst.
Die kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsverfahren ist
eine der wenigen Informationen, die man dem mageren
„Bericht der Bundesregierung zur Durchsetzung der
Fluggastrechteverordnung“ entnehmen kann. Der ist so
schwach, weil es eben kaum Aktivitäten zur Durchset-
zung der Fluggastrechte gibt.
Das Luftfahrtbundesamt ist ebenso für die Durchset-
zung der Rechte mobilitätseingeschränkter Fluggäste zu-
ständig. Die Grünen behandeln diesen Punkt in ihren
Anträgen leider nicht.
Meiner Fraktion und mir ist wichtig, dass Menschen
mit Behinderung reisen können wie jeder andere auch.
Sie haben seit der Unterzeichnung der UN-Behinderten-
rechtskonvention das einklagbare Recht dazu. Und im
Zuge des demografischen Wandels werden zukünftig
nicht weniger Menschen betroffen sein, sondern mehr.
Trotzdem ist mir leider nicht bekannt, dass das zu-
ständige Luftfahrtbundesamt sich bisher für bessere Hil-
festellungen für behinderte Fluggäste an Bord und auf
dem Flughafen, für mehr Bordrollstühle und ein geeig-
netes Innendesign der Flugzeuge eingesetzt hätte.
9152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Un-
terstützen Sie uns an dieser Stelle, und machen Sie Ihren
Regierungsmitgliedern Dampf!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Ihre
Ansätze zur Weiterentwicklung des Reiserechts sind, vor
allem was die nationale Ebene angeht, gut.
Es gibt keinen Grund, weshalb die Fluggesellschaften
nicht in die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per-
sonenverkehr einbezogen werden.
Richtig ist, die Kommunikation zwischen allen Ak-
teuren zu stärken. Reiseindustrie, Behörden, Schlich-
tungsstellen und Verbraucherverbände können natürlich
gemeinsam besser auf die Probleme der Reisenden re-
agieren.
Kostenlose Info-Hotlines der Fluggesellschaften wä-
ren sinnvoll.
Auch einige ihrer Forderungen, die auf die europäi-
sche Ebene abzielen, unterstütze ich: Eine Insolvenzab-
sicherung von Reiseunternehmen, die Präzisierung des
Begriffs der „außerordentlichen Umstände“ und die Er-
höhung der Haftungshöchstgrenzen beim Reisegepäck
wären begrüßenswert.
Mit einigen Ihrer Forderungen das europäische Recht
betreffend schießen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Grünen, allerdings über das Ziel hinaus:
Die von Ihnen geforderte verschärfte Haftung für Rei-
sebüros – vergleichbar mit der von Reiseveranstaltern
bei Pauschalangeboten – ist insbesondere für kleine Rei-
sebüros nicht leistbar, weder finanziell, noch in Form or-
ganisatorischer Unterstützung. Sie müssten sich dann
eng an die Veranstalter binden, damit diese das Haf-
tungsrisiko tragen, und könnten nicht mehr wirklich un-
abhängig beraten. Auch würden kleine Veranstalter dann
nur noch sehr schwer Reisebüros finden, die ihre Leis-
tungen vermitteln. Das kann nicht im Interesse der Rei-
senden sein! Auch die von Ihnen geforderte Ausweitung
des Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie geht zu
weit.
Es stimmt, dass diese europäische Richtlinie an das
Buchungsverhalten und Angebot im Internet angepasst
werden muss.
Aber alle verlinkten Einzelleistungen im Internet,
zum Beispiel für Flug, Ferienwohnung und Mietwagen –
das sogenannte „Dynamic Packaging“ – wie ein Pau-
schalangebot eines Veranstalters zu behandeln, das ist
unrealistisch. Hier wäre es besser, unsere deutsche Rege-
lung in die europäische Richtlinie aufzunehmen: Wer et-
was wie eine Pauschalreise verkauft, wer beim Verbrau-
cher den Eindruck erweckt, er kaufe eine Pauschalreise,
der muss auch wie für eine Pauschalreise haften.
Etwas zu einfach machen Sie es sich mit der Forde-
rung nach der Zusammenlegung der reiserechtlichen Re-
gelungen. Für die einzelnen Verkehrsträger Bahn, Flug-
zeug, Schiff oder Bus wurde mühsam auf spezielle – und
teilweise sehr unterschiedliche – Notwendigkeiten abge-
zielt. Auch hier muss stärker, als Sie es tun, ins Detail
geschaut werden, welchen rechtlichen Spielraum es für
mögliche Angleichungen und Standards überhaupt gibt.
Unnötige Bürokratie muss dabei vermieden werden. An
allen Verkehrsknotenpunkten noch extra Reisezentren
einzurichten, die die Kundinnen und Kunden informie-
ren sollen, halte ich für unnötige Bürokratie. Es würden
auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher teure
Doppelstrukturen geschaffen. Die Informationspflicht
liegt ja schon bei den Verkehrsträgern. Die müssen sich
eben besser vernetzen, um effektiv informieren zu kön-
nen.
Die Abstimmung untereinander – nicht nur auf natio-
naler, sondern auch auf europäischer Ebene – ist beson-
ders in Notfällen wichtig und wäre die Grundlage für ein
kluges Krisenmanagement in dem Chaos nach dem Vul-
kanausbruch gewesen. In unserem Antrag „Die richtigen
Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans
Eyjafjallajökull ziehen“ haben wir beschrieben, wie die
Voraussetzungen für ein nationales und europäisches
Krisenmanagement im Luftverkehr geschaffen werden
können.
Wir werden uns, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Grünen, bei Ihrem Antrag „Reisende besser schützen“
aus den genannten Gründen enthalten und im nächsten
Jahr zur Durchsetzung der Fluggastrechte einen eigenen
ausgereiften Vorschlag vorlegen.
Jens Ackermann (FDP): Die Tourismusbranche ist
ein bedeutender Wirtschaftsbereich, von dem Menschen
und Unternehmen profitieren. Dabei gilt – und das ist, so
glaube ich, unstrittig –, dass die Reisenden in gesicher-
ten Verhältnissen mit Planungssicherheit, soweit dies bei
Reisen möglich ist, geschützt sind.
Doch Reiseschutz muss dabei das Notwendige im
Blick haben, muss maßvoll und ausgewogen sein. Aktio-
nismus ohne Grundlagen, politische Forderungen ohne
Bedarf und Anträge ohne den Abgleich mit der Realität
möchte meine die christlich-liberale Koalition nicht. Wir
können und werden nichts zustimmen, was die Verhält-
nisse für die Menschen vor Ort nicht verbessert. Und das
gilt selbstverständlich auch und gerade für den Touris-
musbereich.
In jenem Sektor, wo sich Menschen tagtäglich in Rei-
sebüros oder im Internet Träume erfüllen, wo Familien
in ferne Länder fliegen und Individualtouristen mit dem
Rucksack durch die Lande ziehen^, ist es natürlich wich-
tig, das die Ziele, das die Wünsche, die sich mit Reisen
verbinden, geschützt sind – da, wo es möglich ist, wo es
sinnvoll erscheint. Der uns vorliegende Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen schießt dabei – wieder einmal –
über das Ziel hinaus und verkehrt gute Absichten in
zahnlose Bürokratietiger. Mehr Sicherheit für die Rei-
senden kann so aber nicht erzielt werden.
Doch der Reihe nach: Unser Reiserecht ist – wen
wundert es – sektoral untergliedert und passt sich so den
unterschiedlichen Ausgangssituationen des Reisens an.
Denn Flug-, Bahn-, Bus- oder Schiffsgesellschaften sind
auch schwer unter einheitliche Rechtsvorschriften sub-
sumierbar. Kurzum: Unser Reiserecht betrifft die unter-
schiedliche Situation der Verkehrsträger, die Nachfrage-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9153
(A) (C)
(D)(B)
struktur und die Produkte. Trotz aller Eigenheiten
gewährt das deutsche Reiserecht den Reisenden schon
heute einen Schutz, der über den europäischen Standard
teilweise weit hinausreicht. Gerade die Regelungen für
die Passagierrechte sind mit großem Aufwand und in
langen und schwierigen Verhandlungen für die einzelnen
Verkehrsträger erst verabschiedet worden. Ich glaube,
dass eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Be-
reiche das Reiserecht nur unnötig verkomplizieren
würde.
Ebenso lassen sich die geltenden Verordnungen über
die Passagierrechte nicht einfach mit dem Pauschalreise-
recht zusammenführen, da letzteres zum Vertragsrecht
gehört, die Passagierrechtsverordnungen hingegen nicht.
So finden wir im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auch die Forderung nach einer Ausweitung des
Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und eine
Anpassung des Begriffs der Pauschalreise.
Ich kann Ihnen nur sagen, dass der Geltungsbereich
der Pauschalreiserichtlinie auf den Pauschalreisevertrag
beschränkt bleiben muss und nicht auf Einzelleistungen
ausgeweitet werden darf. Denn das widerspricht doch je-
der Logik. Warum sollte ein Verbraucher, der mehrere
Einzelverträge über Reiseleistungen abschließt und sich
damit selbst eine Reise individuell zusammenstellt, den
gleichen Schutz erhalten wie ein Verbraucher, der eine
durch einen Veranstalter zusammengestellte Reise kauft?
Dass es überhaupt eine Pauschalreiserichtlinie gibt, liegt
an der möglichen Differenzierung nach Paket und Ein-
zelleistung. Als ausschlaggebendes Kriterium dafür,
welche verlinkten Angebote von Reiseleistungen als
Pauschalreise zu bewerten sind und welche nicht, kann
meiner Meinung nach das subjektive Empfinden des
Verbrauchers herangezogen werden, so wie es bereits im
deutschen Recht der Fall ist.
In dem Antrag, der uns vorliegt, wird eine klare Tren-
nung zwischen Reisevermittler und -veranstalter gefor-
dert. Einer Ausweitung der Reisebürohaftung steht die
FDP-Bundestagsfraktion ausgesprochen kritisch gegen-
über. Denn erklären Sie uns doch, welche Haftung von
Bündnis 90/Die Grünen gemeint ist. Schließlich wird ge-
genwärtig auf europäischer Ebene diskutiert, eine ge-
meinsame Haftung von Veranstalter und Reisebüro im
Vertrieb von Pauschalreisen einzuführen. Insofern legt
die Formulierung im Antrag nahe, dass auf diese Debatte
abgestellt wird.
Dabei ist zu beachten, dass bei einer gemeinsamen
Haftung für Pauschalreisen das Reisebüro allein für die
Absicherung der Kundengelder gegen eine Insolvenz des
Veranstalters mehr als seine gesamte Provision aufwen-
den müsste. Der Einbezug des Reisebüros in die Haftung
der Reiseveranstalter würde damit das deutsche Markt-
modell von Grund auf erschüttern, da Reisebüros keine
Wahl bliebe, als sich an einen einzelnen Veranstalter zu
binden, um dem Risiko, in Haftung genommen zu wer-
den, zu entgehen. Damit müsste das Reisebüro seine
Rolle als unabhängiger Berater des Kunden aufgeben –
letztlich zum Schaden des Verbrauchers selbst. Das wol-
len wir nicht.
Doch damit nicht genug. Es ist auch aus unserer Per-
spektive heraus zu bezweifeln, dass kleine Reisebüros
vor Ort in der Konkurrenz zum Internetvertrieb erfolg-
reich bestehen könnten, wenn sie aufgrund einer ausge-
weiteten Haftung – welcher Art auch immer – höhere
Preise verlangen müssten.
Wir wissen es doch selbst: Deutsche Kunden sind
ausgesprochen preissensibel, und schon heute lassen
sich viele Verbraucher zwar im Reisebüro beraten, bu-
chen ihre Reise dann jedoch online, um Geld zu sparen.
Insofern spricht die Realität gegen diese Annahme.
Wahrscheinlicher ist, dass eine Verteuerung des stationä-
ren Vertriebs den bestehenden Trend zur „Ausnutzung“
der Beratungskompetenz des Reisebüros weiter verstär-
ken würde.
Wir sind im Übrigen auch nicht der Auffassung, dass
es eines Ausbaus der Haftung von Reiseunternehmen be-
darf. Unserer Ansicht nach sind Reisebüros nicht in der
Lage, Druck auf die Veranstalter und deren Angebot re-
spektive Qualität auszuüben. Dies ist alleine der Tatsa-
che geschuldet, dass Reisebüros Handelsvertreter des
Veranstalters sind. Sie leben von dessen Provision. Wäh-
rend es den Veranstalter nicht sonderlich schmerzt, auf
ein einzelnes „rebellisches“ Reisebüro zu verzichten,
kann der Verlust eines bestimmten Reiseveranstalters in
seinem Angebot für das Reisebüro gravierende wirt-
schaftliche Auswirkungen haben. Die Forderung von
Bündnis 90/Die Grünen trägt daher nicht der bestehen-
den Verteilung von Verhandlungsmacht zwischen Veran-
staltern und Reisebüros Rechnung.
Reisebüros brauchen Angebotsvielfalt, sie leben da-
von. Denn der Vorteil und die Fähigkeit, die das Reise-
büro im Moment noch hat, sind die, dem Verbraucher
aus einer Vielzahl von Angeboten das individuell pas-
sende zu empfehlen. Dies geht aber nur so lange, wie das
Reisebüro nicht gezwungen wird, sich unter den Schirm
eines einzelnen Veranstalters zu begeben. Dies wäre je-
doch das Resultat einer ausgeweiteten Reisebürohaftung
und widerspricht daher dem Ziel eines besseren Verbrau-
cherschutzes Wir wollen weiterhin den Wettbewerb hier
sichern – im Interesse der Kunden, der Reisenden und
vor allem im Interesse der kleinen Reisebüros in unseren
Wahlkreisen. Denn das sind auch Arbeitsplätze, und die
wären dank der Ideen von Bündnis 90/Die Grünen mal
wieder gefährdet. Wer hilft denn der älteren Dame eine
günstige Fernreise zu ihren Enkeln zu buchen? – Das
Reisebüro vor Ort.
Kommen wir zu den vorvertraglichen Informations-
pflichten. Auch hier lehnen wir einen Ausbau entschie-
den ab. Wozu auch? Unserer Ansicht nach sind die Infor-
mationspflichten des Veranstalters bereits umfassend
wie ausreichend geregelt. In der Realität ist doch eher
eine Überforderung des Verbrauchers zu beobachten.
Darüber hinaus ist es ganz grundsätzlich nicht erlaubt,
Falschaussagen in Katalogen zu treffen. Dem sei unbe-
nommen, dass Reiseprospekte in einer ihnen eigenen
Sprache abgefasst sind. Wer jedoch dazu Fragen hat oder
genauere Informationen wünscht, hat jederzeit die Mög-
lichkeit, sich im Reisebüro rückzuversichern und beraten
zu lassen. Außerdem gibt es schon jetzt bei gravierender
9154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
Abweichung der Werbung für ein Hotel oder eine Leis-
tung für den Gast die Möglichkeit der Minderung.
Unabhängig davon sind wir Liberale der Überzeu-
gung, dass sich dieses Thema insbesondere über die zu-
nehmende Nutzung von Hotelbewertungsportalen zu-
künftig von selbst beruhigt.
Weiter fordern Bündnis 90/Die Grünen eine Novellie-
rung der Reisegepäcksregelung. Auch das halte ich un-
nötig, da dieser Betrag erst 2009 um 130 Euro angeho-
ben wurde – von vorher 1 170 Euro. Außerdem ist dieser
Betrag nicht national geregelt ist, sondern Gegenstand
des internationalen Abkommens von Montreal der Inter-
nationalen Zivilluftfahrt-Organisation ICAO ist. Eine
Anhebung der Entschädigungsgrenze im deutschen oder
europäischen Alleingang wäre somit auch in hohem
Maße wettbewerbsverzerrend für deutsche bzw. europäi-
sche Fluggesellschaften.
Die Forderung nach einer Schlichtungsstelle im öf-
fentlichen Personenverkehr, die verpflichtend für alle
Reiseverkehrsunternehmen wird, ist ja nicht neu. Des-
halb weise ich darauf hin, dass im Bundesjustizministe-
rium bereits eine Projektgruppe ins Leben gerufen wor-
den ist, der auch Vertreter der Fluggesellschaften
angehören. Ziel dieser Gruppe ist es, gemäß der Koali-
tionsvereinbarung eine Schlichtungsstelle für Passagiere
von Fluglinien einzurichten.
So könnte ich meine Rede noch unendlich lange wei-
terführen, um den mehr als 20 Forderungen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen im Einzelnen entgegenzutreten,
aber das würde meine Redezeit sprengen. Alles in allem
sind nahezu alle Forderungen weder zielführend in der
Verbesserung des Schutzes der Reisenden noch sind
diese umsetzbar. Wollen wir denn wirklich den Bürokra-
tiedschungel für den Verbraucher noch undurchsichtiger
machen, als er bisher schon ist?
Kornelia Möller (DIE LINKE): Die heutige Welt ist
durch eine erhöhte Mobilität und von einer ständig
wachsenden Zahl von Reisen geprägt. Das erhöhte Rei-
seaufkommen führt aber auch unweigerlich zu einer Zu-
nahme der Probleme rund um das Reisen, wie Ausfälle,
Verspätungen, Überbuchungen und Annullierungen.
Leidtragende sind immer die Reisenden! Deshalb ist es
sehr begrüßenswert, dass heute, nachdem wir im Juni
über unseren Antrag „Fluggastrechte stärken“ debattiert
haben, das Thema „Schutz von Reisenden“ wieder auf
der Tagesordnung steht.
Generell kann den Anträgen der Grünen zugestimmt
werden, auch wenn an manchen Stellen nachgebessert
werden muss. So fehlt in dem recht ausführlichen und
umfangreichen Antrag „Reisende besser schützen“ die
Einbeziehung des mobilen Reiseverkäufers. Bei dieser
Art der Reisebuchung, die weder einem stationären Ver-
trieb wie im Reisebüro, noch dem Onlinevertrieb, ge-
schweige denn einem Haustürgeschäft gleichzusetzen
ist, wird die Reise beim Verbraucher zu Hause abge-
schlossen. Hier besteht keine Versicherungspflicht gegen
falsche Beratung oder Insolvenz.
Es fehlt leider auch die Forderung, die Beschränkung
der Versicherungssumme pro Versicherungsgesellschaft
aufzuheben. Sie liegt derzeit bei 200 Millionen Euro pro
Jahr, wohlgemerkt nicht pro Reiseveranstalter, sondern
pro Versicherungsunternehmen. In Deutschland gibt es
circa 1 000 Reiseveranstalter, wobei in jedem Reisebüro
Reisen von mehr als 100 Veranstaltern angeboten wer-
den. Den Reiseversicherungsmarkt teilen hauptsächlich
fünf große Versicherungen unter sich auf. Diese mono-
polartige Stellung muss dringend aufgehoben werden.
Außerdem müssen die Verbraucherin und der Verbrau-
cher die sofortige Auszahlung seiner gemeldeten An-
sprüche geltend machen können – bisher haben sie nur
am Jahresende hierauf einen Rechtsanspruch.
Bedauerlich ist auch, dass der Antrag der Grünen
vage bleibt hinsichtlich der auch von uns geforderten
Einführung einer wirklich wirksamen und unabhängigen
Schlichtungsstelle. So ist an keiner Stelle ausgeführt,
welche Kompetenzen die Schlichtungsstelle erhalten
soll.
Und noch etwas haben die Grünen vergessen: In
Deutschland gibt es kein Lizenzsystem für Reiseveran-
stalter und Reisebüros. Derzeit gibt es in Deutschland
circa 12 000 registrierte Reisebüros und circa 1 000 Rei-
severanstalter. Jede beliebige Person kann als Reisever-
anstalter oder Reisebüro fungieren, Anforderungen und
Kontrollen gibt es nicht. Die Einführung einer europäi-
schen Linzenz für Reiseveranstalter gesetzlich einzufüh-
ren, die an eine Insolvenzabsicherung gekoppelt ist,
wäre ein richtiger Schritt.
Hier bin ich nun bei einem für uns ganz wesentlichen
Punkt angekommen: einer wirklichen Absicherung der
Reisenden gegen die Insolvenz von Fluggesellschaften.
Besonders betroffen von einer uneinheitlichen Regelung
sind jene Verbraucherinnen und Verbraucher, die eine In-
dividualreise machen, da derzeit nur Pauschalreisende
abgesichert sind. Diese Ungleichbehandlung ist nicht
nachvollziehbar und muss dringend geändert werden.
Alle Reisenden und Fluggäste müssen wirksam gegen
eine Insolvenz abgesichert werden. Hier besteht dringen-
der Handlungsbedarf!
Um im Falle einer Insolvenz eine Absicherung finan-
ziell auch wirklich gewährleisten zu können, befürwor-
ten wir – so wie die Grünen auch – die Einführung eines
Fonds, um im Notfall ungedeckte Ansprüche bedienen
zu können.
Um aber seine Rechte wahrnehmen zu können, muss
man überhaupt erst einmal wissen, welche Rechte einem
zustehen. Hier zeigt die Praxis immer wieder, dass Flug-
gesellschaften gesetzlich verankerte Rechte, die Flug-
gäste zum Beispiel bei Verspätungen oder Flugausfall
haben, verschweigen und missachten. Eine Untersu-
chung der „Stiftung Warentest“ ergab schon im Mai
2009, dass 86 Prozent der Passagiere von den Fluglinien
keinerlei Informationen über ihre Rechtsansprüche er-
hielten, wie sie in der EU-Verordnung 261/2004 defi-
niert sind. Auch eine Umfrage, die am 15. November
2010 vom Bundesverband der Verbraucherzentralen ver-
öffentlicht wurde, belegt die mangelhafte Umsetzung
von Fluggastrechten durch die Airlines:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9155
(A) (C)
(D)(B)
Bestehende Ansprüche auf Betreuungsleistungen so-
wie Ausgleichszahlungen wurden in den allermeisten
Fällen von den Fluggesellschaften ignoriert. Nur jedem
Vierten boten die Airlines Entschädigungen an, und auch
das überwiegend erst auf Nachfrage.
Auch ihrer Verpflichtung, die Fluggäste aktiv auf ihre
Rechte hinzuweisen, kamen die Fluggesellschaften in
über der Hälfte der Fälle nicht nach.
Darauf folgende Beschwerden bearbeiteten sie sehr
zögerlich, 22 Prozent der betroffenen Fluggäste erhielten
gar keine Antwort. Nur in 3 Prozent der Fälle verlief die
Rechtsdurchsetzung der Fluggäste reibungslos.
Darüber hinaus nutzen Fluggesellschaften vermeintli-
che Rechtsunklarheiten etwa bei Ansprüchen auf Scha-
denersatz und Ausgleichzahlungen – Letztere fallen
auch bei Naturkatastrophen wie dem isländischen Vul-
kanausbruch an – einseitig zu ihren Gunsten. Ich frage
Sie, meine Damen und Herrn Koalitionäre, sehen Sie
denn nicht auch, dass hier dringender Handlungsbedarf
besteht und nicht alleine die Luftfahrtunternehmen in der
Pflicht stehen, sondern auch der Gesetzgeber?
Hilfreicher für die Durchsetzung der Fluggastrechte
wäre sicherlich die Erfassung und Evaluierung von be-
stimmten Daten, wie sie die Grünen in Ihrem Antrag auf
Drucksache 17/4041 fordern. Gesichertes, öffentlich-
rechtliches Datenmaterial ist laut Bundesregierung ja
Voraussetzung für die Einleitung von Ordnungswidrig-
keitsverfahren, somit ist die Forderung der Grünen ge-
rechtfertigt und unterstützenswert.
Allerdings müssten über das Verkehrsstatistikgesetz
auch die Gründe für Verspätungen, Annullierungen,
Nichtbeförderung oder Herabstufung im Sinne der EG-
Verordnung Nr. 261/2004 aufgeführt werden. Diese Da-
ten könnten dann von den betroffenen Fluggästen zur
einfacheren Einforderung ihrer Rechte verwendet wer-
den. Eine weitere Maßnahme im Sinne der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher wäre eine öffentliche Darlegung
der Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Fluggesell-
schaften, um über die Zuverlässigkeit der einzelnen
Fluggesellschaften zu informieren und so eine höhere
Transparenz zu erzielen.
Zum Schluss möchte ich doch noch kurz auf einen an-
dern aber dennoch wichtigen Aspekt eingehen. Es sollte
unbestreitbar sein, dass denjenigen, die Unannehmlich-
keiten bei ihrer Reise ausgesetzt waren, zu ihrem Recht
und zu einer adäquaten Entschädigung verholfen wird.
Genauso unbestreitbar sollte aber sein, dass Reisen für
alle möglich ist. So kann es beispielsweise nicht sein,
dass EU-Verordnungen zum barrierefreien Reisen – Ver-
ordnung Nr. 1107/2006 –, die seit 2008 schon geltendes
Recht in Deutschland sind, immer noch nicht vollständig
umgesetzt sind. Ein Bespiel ist die kostenlose Mitnahme
eines zweiten Rollstuhls, die aber immer noch Kosten
verursacht. Zudem können Rollstuhlfahrerinnen und
Rollstuhlfahrer die Bordtoiletten nur mit Bordrollstühlen
erreichen, die jedoch nur in wenigen Flugzeugen vorge-
halten werden. Das ist ein nicht hinnehmbarer Miss-
stand.
Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Rechte der
Fluggäste durch die Bundesregierung gestärkt und die
Voraussetzungen zur Durchsetzung dieser Rechte auch
geschaffen werden. Wir brauchen ein einheitliches, kla-
res und freundliches Reiserecht für Verbraucherinnen
und Verbraucher!
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wissen Sie wie viele verschiedene Rechtsakte den Ver-
braucherschutz bei Verspätungen, Annullierungen,
Nichtbeförderung etc. bei Reisen regeln? Nein? Kein
Wunder! Denn es ist ein Dschungel. Und lassen sie mich
eines sagen: Wir sind die Fachpolitiker, die das wissen
sollten. Es sind mehr als ein halbes Dutzend verschie-
dene Regelungen, die hier eigentlich Klarheit schaffen
sollen und uns allen sofort einfallen sollten – schließlich
sind wir ja alle mündige Verbraucher. Aber dazu kom-
men noch viele weitere Regelungen, die ebenfalls das
Reiserecht tangieren. Was ich Ihnen damit deutlich ma-
chen möchte? Der Theorie nach ist das Verbraucher-
schutzniveau damit sehr gut. Aber eben nur der Theorie
nach – wie sich immer wieder herausstellt.
Eine Feststellung gilt es gleich zu Beginn zu treffen:
Die meisten Reisenden wissen wenig bis gar nichts von
ihren Rechten. Und viele Unternehmen tun auch aktiv
sehr wenig, um dies zu ändern. Im Gegenteil: Selbst von
renommierten Unternehmen wird dies zuweilen ausge-
nutzt. Woher diese Erkenntnis? Klingt sie doch zunächst
furchtbar plakativ. Das bestätigt – mitunter – die Euro-
päische Kommission, beispielsweise mit ihrem Euroba-
rometer zu den Fluggastrechten. Tenor dieser Untersu-
chung: Die Reisenden sind der Auffassung, dass die
Informationen, die sie im Falle von Unannehmlichkeiten
erhalten, unzureichend sind, und besonders unzufrieden
sind sie mit der Entschädigung in derartigen Fällen.
Damit kommen wir zum zentralen Problem. Denn das
liegt in der Rechtsdurchsetzung. Sprich: Was ist, wenn
Reisende ihren theoretischen Anspruch tatsächlich
durchsetzen wollen? Da gilt es weite Wege zurückzule-
gen. Das wollen wir ändern – deshalb dieser Antrag, den
wir heute debattieren.
Aus zahlreichen Bürgerzuschriften wissen wir, dass
einige Unternehmen die Unwissenheit der Reisenden für
sich ausnutzen und sie bei Widerspruch mit standardi-
sierten Schreiben zu besänftigen – man könnte auch sa-
gen: abzuwimmeln – versuchen. Die Schlichtungsstellen
und Verbraucherverbände können sich vor Anfragen
kaum retten. Trotzdem ist die Zahl derjenigen, die sich
an diese Institutionen wenden, gemessen am Beschwer-
depotenzial sehr gering. Wir wissen alle, wie in vielen
Fällen dann der weitere Verfahrensgang ist. Nur Ver-
braucher mit Rechtsschutz zeigen weiteren, gegebenen-
falls auch juristischen Widerstand. Doch lassen Sie mich
das hier einmal ausdrücklich festhalten: Nicht jeder Bun-
desbürger hat eine Rechtsschutzversicherung.
Die nach Verordnung legitimierten Durchsetzungs-
stellen kümmern sich sehr wenig um die Rechte der Rei-
senden. Ordnungswidrigkeitsverfahren – bei Flugreisen
zwischen 3 000 und 4 000 pro Jahr – stehen in keinerlei
Verhältnis zum Beschwerdepotenzial. Gemessen an an-
9156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
deren europäischen Staaten dürfte das täglich mehrere
Hundert Fälle betragen. Einige deutsche Amtsgerichte
beklagen hingegen schon heute Überlastungen.
Die derzeitigen Bußgelder sind weder abschreckend
noch wirksam. Das zeigt uns der Bereich der Fluggast-
rechteverordnung. Dort liegen Bußgelder bei durch-
schnittlich 3 000 Euro, Tendenz fallend. Und dann der
Gipfel: Für die Evaluation benötigte Parameter liegen
den deutschen Behörden nicht einmal vor.
So weit die Beschreibung des Ist-Zustandes. Niemand
kann sich mit dieser Situation abfinden. Ich bin der Auf-
fassung, dass dies auch für die betroffenen Reise- und
Verkehrsunternehmen kein Zustand ist, der besonders er-
strebenswert ist. Kunden erwarten heute auch in diesem
Bereich sehr viel. Eine konsequente Neuregelung wäre
meines Erachtens auch ein Fortschritt für die Unterneh-
men.
Derzeit wird das Herzstück des Reiserechts mit der
Pauschalreiserichtlinie und der Fluggastrechteverord-
nung von der Europäischen Kommission überarbeitet. In
den bisherigen Anhörungen und Beratungen auf Rats-
ebene zeigte die Bundesregierung überhaupt kein Ge-
sicht, äußerte sich zuweilen sogar gar nicht, wie Herr
Ramsauer in der Sondersitzung Ende April 2010 bewie-
sen hat, als die Fluggastrechte als prioritäres Thema auf-
gerufen waren.
Aufgrund der zögerlichen Haltung der Bundesregie-
rung auf europäischer Ebene und bei der Durchsetzung
des Gemeinschaftsrechts haben wir einen Antrag formu-
liert, der das Ziel hat, einerseits das in Deutschland gute
Verbraucherschutzniveau auf EU-Ebene zu übertragen
und andererseits die Schwachstellen bei der Rechts-
durchsetzung zu beheben. Wir wollen eine einheitliche
Regelung zum Reiserecht, wie es Mitte September auch
die Verbraucherschutzminister der Länder einstimmig
beschlossen haben. Wir wollen, dass die Rechte von
Flug-, Bahn-, Schiffs-, Pauschal- und wie auch immer
sonst Reisenden in einem Rechtsakt gebündelt werden.
In diesem Zusammenhang muss man wirklich betonen,
dass diese Forderung nicht nur von uns, sondern auch
von allen Bundesländern erhoben wird, gleichwohl von
welchen Parteien sie regiert werden. Diese Vereinheitli-
chung des Reiserechts bedeutet nicht nur Entbürokrati-
sierung, sondern auch ein Mehr an Verbraucherschutz.
Denn nur das, was der Verbraucher weiß und versteht,
weiß er zu nutzen.
Welche Elemente sollte diese neue europäische Rege-
lung also im Interesse der Reisenden umfassen? Wir
wollen eine Integration des Beförderungssektors in das
Reiserecht. Wir müssen reden über die Ausweitung des
Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und des Be-
griffs der Pauschalreise. Da bedarf es einer Anpassung
an das moderne Buchungsverhalten und -angebot über
das Internet, das sogenannte Dynamic Packaging. Wir
wollen eine klare Trennung zwischen Reisevermittler
und -veranstalter und eine längst überfällige Präzisie-
rung, wer wann was ist. Eine verschärfte Haftungspflicht
sollte auch für Vermittler in der EU und nicht nur in
Deutschland gelten. Ein Nebeneffekt könnte sein, dass
es auf diese Weise leichter gelingt, adäquate, einheitliche
Qualitätsstandards zusammen mit der Reiseindustrie
durchzusetzen. Außerdem sollte eine intermodale An-
passung der Schadenersatzansprüche – also entlang der
Verkehrsträger – geprüft werden.
Die meisten Probleme haben sich bislang aufgrund
der unzureichenden Definition von außerordentlichen
Umständen ergeben. Deshalb muss hier eine Klarstel-
lung erfolgen. Die Bundesregierung wäre gut beraten,
hier in den Debatten die genannten Punkte im Interesse
der Verbraucher einzubringen. Soweit die europäische
Dimension des Antrags.
Es gibt aber selbstverständlich auch Dinge, die wir
national regeln und verbessern können. Wichtigste und
zugleich einfachste Maßnahme: Wir brauchen eine kon-
sequentere Nutzung von Sanktionen bei Verstößen durch
die Durchsetzungsstellen, beispielsweise das Luftfahrt-
bundesamt. Da liegt viel im Argen. Die eingangs vorge-
stellten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Zugleich muss Privatpersonen die Beschwerdehürde
und somit der Anspruch im Hinblick auf Schadensersatz
erleichtert werden. Bislang hilft, wie eingangs bereits
dargestellt, häufig nur der Rechtsweg. In nahezu jedem
Fall müssen zusätzliche Kosten – trotz entsprechender
Verordnung – vorgestreckt werden. Das muss vermieden
werden. Wichtigster Punkt für uns ist dabei die Einbin-
dung der Fluggesellschaften in die Schlichtungsstelle öf-
fentlicher Personenverkehr, SÖP, wie es Mitte Septem-
ber im Übrigen auch die Verbraucherschutzminister der
Länder – ebenfalls – einstimmig beschlossen haben.
Auch das Eurobarometer der EU-Kommission sieht hier
Handlungsbedarf. Eine gut zugängliche Behörde auf na-
tionaler Ebene, die sich um die Probleme der Reisenden
kümmert, könne die Lösung der Probleme sein, so die
Schlussfolgerung der Untersuchung.
Unser Ziel sind ein hohes Verbraucherschutzniveau
und zufriedene Reisende. Darin sind wir uns alle einig.
Zufriedene Kunden sind gut für die Reisewirtschaft und
deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie unseren An-
trag folgen könnten – im Interesse der Reisenden und der
Wirtschaft.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Einsetzung ei-
nes Nationalen Normenkontrollrates (Tagesord-
nungspunkt 19)
Kai Wegner (CDU/CSU): Ich will heute mit einem
Beispiel beginnen, das uns allen schnell verdeutlichen
wird, worüber wir bei diesem Tagesordnungspunkt re-
den: Die Zehn Gebote Gottes haben 279 Wörter, die
amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat 300 Wör-
ter, aber die EU-Verordnung zur Einfuhr von Karamell-
bonbons hat 25 911 Wörter!
Nun, es ist ja erfreulich, dass in Deutschland so viele
Dinge genauestens und bis ins letzte Detail geregelt sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9157
(A) (C)
(D)(B)
– dafür werden wir ja auch gelegentlich bewundert –,
aber diese, fast schon zwanghafte Regelungswut wird
für uns mehr und mehr zu einer großen Last. Wenn man
die Bürger befragt, was für sie Bürokratie bedeutet, dann
bekommt man schon mal als Antwort zu hören: Von der
Wiege bis zur Bahre Formulare, Formulare.
Wir haben zwar inzwischen schon an der ein oder an-
deren Stelle Ordnung in den Wust an Verordnungen,
Regelungen und Gesetzen gebracht und mit über
300 Entlastungsmaßnahmen so manchen Papierstapel
beiseite geräumt. Aber dennoch ist die Belastung, insbe-
sondere für die Wirtschaft, unverhältnismäßig hoch. Und
auch das Problem der Spürbarkeit der Entlastung bleibt
weiterhin bestehen.
Dies bestätigt uns auch eine aktuelle Umfrage unter
den Unternehmern. Nur eine kleine Zahl – 3 Prozent –
der befragten Unternehmen registrierten eine Verringe-
rung administrativer Lasten, 36 Prozent merkten keine
Veränderung, und 44 Prozent spürten sogar eine Zu-
nahme von bürokratischen Aufgaben.
Das ist zugegebener maßen ein eher unerfreuliches
und enttäuschendes Ergebnis. Denn tatsächlich konnten
insgesamt mehr als 6,7 Milliarden Euro an unnötiger Bü-
rokratie eingespart werden. Damit wurden mehr als
22 Prozent an Bürokratiekosten im Vergleich zum Jahr
2006 abgebaut.
Aber Bürokratieabbau ist kein Kurzstreckenlauf.
Nein – Bürokratieabbau ist wie ein Marathonlauf! Die
ersten Kilometer gehen relativ einfach, den größten Teil
der Strecke schafft man unter den zu erwartenden An-
strengungen. Aber irgendwann fängt es dann an wehzu-
tun. Um das Ziel zu erreichen, muss man alle Kräfte und
Reserven anzapfen. Umso schöner ist es, wenn man die
Ziellinie erreicht hat und die Anstrengung spürbar nach-
lässt.
Man könnte sagen: Die Bundesregierung ist mit ih-
rem Beschluss „Eckpunkte zum Bürokratieabbau und
bessere Rechtsetzung“ Anfang des Jahres auf der Zielge-
raden des Marathons Bürokratieabbau eingelaufen. Das
Ziel, 25 Prozent der Bürokratiekosten bis Ende nächsten
Jahres zu senken, liegt nicht mehr in allzu weiter Ferne.
Wenn wir es erreichen wollen, heißt es jetzt: Alle vor-
handenen Kräfte und Reserven aktivieren, damit die
noch knapp fehlenden 3 Prozentpunkte abgebaut werden
können.
Ich bin zuversichtlich, dass wir diesen Marathonlauf
schaffen werden. Denn mit der klaren Selbstverpflich-
tung zum Nettoabbauziel und mit dem Ausbau der Kom-
petenzen des Nationalen Normenkontrollrats machen
wir einen großen Schritt hin zu mehr Entlastung für die
Bürger, die Verwaltung und vor allem für die Wirtschaft.
Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist es von
essenzieller Bedeutung, den begonnenen Lauf weiter
fortzusetzen. Denn nach wie vor ist der Mittelstand und
sind die kleinen Unternehmen von staatlicher Regulie-
rung besonders stark betroffen. Ausgehend von einer
Gesamtbelastung der Wirtschaft von rund 50 Milliarden
Euro müssen noch Abbaumaßnahmen von etwa
1,5 Milliarden Euro auf den Weg gebracht werden, um
bis Ende nächsten Jahres das Ziel zu erreichen. Das er-
fordert Kondition und, was fast noch wichtiger ist, politi-
sche Willensstärke.
Zudem haben sich die Rahmenbedingungen durch die
Wirtschafts- und Finanzkrise verändert und erfordern in
einigen Fällen mehr Regelungen. Die Verunsicherung ist
groß und fördert die Versuchung, das Erreichte durch
neue Bürokratiebelastungen wieder zu gefährden. Büro-
kratie zu reduzieren und gleichzeitig wichtigen Bedürf-
nissen anderer politischer Themenfelder gerecht zu wer-
den, wurde immer mehr zum Balanceakt. Deshalb ist es
eine große Errungenschaft der christlich-liberalen Bun-
desregierung, dass zum ersten Mal „Bürokratieabbau“
und „bessere Rechtsetzung“ als eigenständige Politik-
ziele, gleichrangig und vollwertig, neben anderen Poli-
tikzielen stehen. Mit unserem Staatsminister für Büro-
kratieabbau, Eckart von Klaeden, und seiner Ge-
schäftsstelle haben wir in diesen Fragen unermüdliche
und engagierte Streiter im Bundeskanzleramt. Dafür
möchte ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen.
Um auch weiterhin positive Ergebnisse sicherzustel-
len, werden wir unsere Anstrengungen verstärken müs-
sen. Denn die Akzeptanz von politischen Großprojekten
dürfte entscheidend von ihrer möglichst alltagstaugli-
chen Ausgestaltung abhängen. Zudem müssen wir tun-
lichst darauf achten, dass wir die bereits erzielten Entlas-
tungen von rund 7 Milliarden Euro pro Jahr nicht durch
neue Belastungen an anderer Stelle wieder erhöhen. Der
berühmte Jojo-Effekt wäre an dieser Stelle mindestens
genauso ärgerlich.
Damit das nicht passiert, wird uns der Nationale Nor-
menkontrollrat genau beobachten. Und das wollen wir
auch!
Mit der Änderung des Normenkontrollratsgesetzes,
das heute zur Abstimmung steht, bezieht die Koalition
den Normenkontrollrat umfassender in die Rechtsetzung
mit ein. Er wird erheblich gestärkt, und sein Mandat und
die Kompetenzen werden ausgeweitet. Der unabhängige
Normenkontrollrat bleibt die zentrale Institution des Bü-
rokratieabbaus.
Bisher prüft der Normenkontrollrat bei allen Gesetz-
entwürfen der Bundesregierung die Darstellung des bü-
rokratischen Aufwands, der durch die Befolgung soge-
nannter Informationspflichten bei Bürgern, Wirtschaft
und öffentlicher Verwaltung entsteht – und regt gegebe-
nenfalls die Erarbeitung kostengünstigerer Alternativen
an. Künftig soll diese Begutachtung auf den gesamten
Aufwand ausgedehnt werden, der für die Betroffenen bei
der Erfüllung bundesrechtlicher Vorschriften anfällt. Das
ist unter dem sogenannten Erfüllungsaufwand in § 2 zu
verstehen. Dies bedeutet, dass in Zukunft alle Belastun-
gen, die sich aus der Umsetzung eines Gesetzes ergeben,
in den Blick genommen werden. Ein mutiger und be-
wusster politischer Schritt zu einem ganzheitlichen An-
satz, wie ich finde.
Das entscheidend neue Element des Regierungspro-
gramms ist die Betrachtung des gesamten Aufwands, der
zur Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung notwen-
dig ist. Diese Ausweitung des Programms auf den ge-
9158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
samten Erfüllungsaufwand bringt einen Perspektivwech-
sel mit sich: Das Recht wird aus der Sicht aller
Betroffenen untersucht und weiterentwickelt. Damit be-
tritt die Bundesregierung – auch im internationalen Ver-
gleich – methodisches Neuland. Wenn wir jetzt ein ähn-
lich objektives Messverfahren für den Erfüllungs-
aufwand für Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und
die Verwaltung erarbeiten, wie es das Standard-Kosten-
Modell leistet, dann sind wir an der Spitze der internatio-
nalen Entwicklung.
Ich begrüße es deshalb sehr, dass das Prüfungsrecht
des Normenkontrollrats entsprechend erweitert wird.
Die geplante Mandatserweiterung ist auch Ausdruck der
hohen Wertschätzung für die Arbeit des Normenkont-
rollrats. Und an dieser Stelle möchte ich mich deshalb
ganz herzlich bei allen bedanken, die im Normenkon-
trollrat mitarbeiten – sowohl bei denen, die den Normen-
kontrollrat selbst bilden, als auch bei den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern.
Neben den Regelungsentwürfen der Bundesministe-
rien soll der NKR künftig außerdem Gesetzesentwürfe
des Bundesrates, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet
werden, und Regelungsvorhaben aus der Mitte des Bun-
destages, soweit die einbringende Fraktion bzw. die ein-
bringenden Abgeordneten dies beantragen, prüfen kön-
nen. An dieser Stelle hat die Anhörung zum
Normenkontrollratsgesetz einige politische und verfas-
sungsrechtliche Fragen aufgeworfen. Die in unserem
Änderungsantrag vorgesehene Regelung stellt nun klar,
dass jedes Verfassungsorgan seine Initiativen dem Nor-
menkontrollrat eigenständig zuleiten kann.
An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, dass ich
mich sehr darüber freue, dass alle Fraktionen dieses
Hauses den grundsätzlichen Kurs der Regierungskoali-
tion in Sachen Bürokratieabbau unterstützen. Es mag an
der ein oder anderen Stelle unterschiedliche Herange-
hensweisen geben, wie die Abbauziele zu erreichen sind.
Auch gibt es gewisse Wünsche und Begehrlichkeiten,
die in diesem Zusammenhang gesehen werden. Aber im
Großen und Ganzen sind wir uns alle einig, dass wir den
eingeschlagenen Weg weiterhin zusammen gehen müs-
sen.
Allerdings haben wir noch eine schwierige Strecke
vor uns. Denn auch wenn wir einen wichtigen Etappen-
erfolg erzielt haben – und der Jahresbericht der Bundes-
regierung zum Bürokratieabbau, der gestern vorgestellt
wurde, zeigt uns dies –, darf jetzt der Siegeswille nicht
nachlassen.
Für das Jahr 2011 sind zahlreiche weitere Maßnah-
men vorgesehen, die die Wirtschaft trotz notwendiger
neuer Belastungen zusätzlich um 4,6 Milliarden Euro
entlasten werden. Die Maßnahmen reichen von der zu-
künftigen Möglichkeit der papierlosen Kommunikation
mit den Finanzämtern über die Bereitstellung vorausge-
füllter Steuererklärungen bis hin zur Vereinfachung des
Unternehmensteuerrechts.
Insbesondere die Verkürzung und Harmonisierung
der Aufbewahrungsfristen im Steuer-, Handels- und
Sozialrecht werden wir mit Nachdruck begleiten. Denn
mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen verbinde
ich die große Hoffnung, dass wir zu einer für die Unter-
nehmen wirklich sichtbaren und spürbaren Entlastung
kommen. Wenn die Betriebe nur noch halb so viel Platz
für ihre Akten und Steuerunterlagen vorhalten müssen
als jetzt, dann können sie die frei werdenden Räumlich-
keiten sinnvoller nutzen, und es schmälert zugleich die
Kosten für die Archivierung.
Unser Ziel muss doch immer eines bleiben, nämlich:
Umfang und Nebenwirkungen der Regelungen so gering
wie möglich zu halten!
Denn nur wenn die Menschen in unserem Land das
Gefühl haben, dass es den tatsächlichen Willen gibt, Bü-
rokratie auf ein Minimum zu reduzieren, dann wächst
auch die Akzeptanz staatlichen Handelns, und zwar auf
allen Ebenen.
Andrea Wicklein (SPD): Der Nationale Normen-
kontrollrat wurde vor vier Jahren durch die Große Koali-
tion ins Leben gerufen und hat bereits viel erreicht. Bis-
her konnte die Bürokratiebelastung der Wirtschaft um
über 7 Milliarden Euro pro Jahr reduziert werden.
Besonders wichtig ist auch die Arbeit des Normenkon-
trollrates an Modellprojekten zum Abbau des Voll-
zugsaufwandes. So wurde zum Beispiel das BAfög-An-
tragsverfahren durchleuchtet. Der Normenkontrollrat
wächst da auch in eine Beratungsfunktion für die unteren
politischen Ebenen hinein.
Für uns als Parlamentarier hat der Normenkontrollrat
eine wichtige Funktion: Bürokratiekosten, die aus Infor-
mationspflichten entstehen, werden transparent gemacht
und damit wird uns eine wichtige Entscheidungsgrund-
lage für die Beratung von Gesetzen an die Hand gege-
ben.
Schon bei der Formulierung von Gesetzen sorgt die
Überprüfung durch den Normenkontrollrat dafür, dass
unnötige Belastungen der Wirtschaft und der Bürgerin-
nen und Bürger vermieden werden. Es geht darum, Ge-
setze besser zu machen. Es geht um bessere Regeln,
mehr Transparenz und eine bessere Rechtsetzung. Ich
begrüße daher, dass bei dieser Reform ein weitgehender
Konsens erzielt werden konnte.
Doch Bürokratieabbau ist leider bei einigen zu einem
Schlagwort für Staatsabbau geworden. Daraus resultie-
ren auch die Befürchtungen, die vor allem Gewerkschaf-
ten gegen das Programm zum Bürokratieabbau haben.
Ich möchte deshalb für die SPD noch einmal ausdrück-
lich betonen: Uns geht es beim Bürokratieabbau darum,
Verwaltungsabläufe zu überprüfen und zu modernisie-
ren, wenn möglich zu vereinfachen. Für uns bedeutet
Bürokratieabbau aber nicht, bewährte soziale oder ge-
sellschaftliche Standards zu reduzieren oder notwendige
Aufgaben des Staates infrage zu stellen. Ob im Umwelt-
schutz, beim Steuerrecht oder beim Arbeitsrecht: Eine
effiziente Verwaltung ist notwendig, um die Interessen
der Bürgerinnen und Bürger und der Gemeinschaft zu si-
chern. Uns geht es um ein besseres Verhältnis der Bürge-
rinnen und Bürger zu den staatlichen Stellen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9159
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(D)(B)
Gleichzeitig möchte ich denjenigen, die jede Bürokra-
tie gleich als unbeherrschbares Monster darstellen, an
dieser Stelle sagen: Staatliche Regeln sorgen für Bere-
chenbarkeit, Rechtsschutz und Gleichbehandlung. Erst
die Erhebung von Informationen durch den Staat sorgt
für Steuereinnahmen oder sinnvolle Regulierung. Erst
die nötigen Informationen sichern dem Hartz-IV- oder
BAfög-Empfänger seine Leistungen. Trotzdem muss das
Ausfüllen eines BAfög-Antrages nicht 335 Minuten
dauern, wie der Normenkontrollrat herausgefunden hat.
Der Bürokratieabbau sollte daher nicht ideologisiert
werden – seine Instrumente auch nicht. Wir bestehen da-
rauf, dass der Nationale Normenkontrollrat nicht als
politisches Instrument missbraucht wird.
Wir werden mit dem Abbau bürokratischer Lasten
dann Erfolg haben, wenn Unternehmen und Bürgerinnen
und Bürger durch effizientere Prozesse und einen redu-
zierten Aufwand für das Ausfüllen von Formularen die
Entlastungen tatsächlich spüren. Das wird auch die Ak-
zeptanz für unvermeidbare Bürokratie erhöhen. Wir se-
hen es als SPD daher positiv, dass die Befugnisse des
Normenkontrollrates ausgedehnt werden sollen, dass in
Zukunft der gesamte Erfüllungsaufwand dargestellt wer-
den muss. Das resultiert auch aus den gesammelten Er-
fahrungen, die der Normenkontrollrat seit seiner Einset-
zung im Jahr 2006 machen konnte.
Bis jetzt hat sich der Normenkontrollrat auf die Büro-
kratiekosten beschränkt, die aus bundesrechtlichen In-
formationspflichten entstehen. Zukünftig soll der Rat er-
mitteln, ob der gesamte Aufwand der Unternehmen und
der Bürger zur Erfüllung einer gesetzlichen Norm ord-
nungsgemäß durch den Einbringer eines Gesetzes darge-
stellt wurde. Es soll auch möglich sein, Gesetzentwürfe
auf Antrag des Bundesrates oder der Fraktionen des
Bundestages zu überprüfen.
Im federführenden Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie hatten wir einen Änderungsantrag einge-
bracht. Kritisch sahen und sehen wir zwei Punkte, die
ich kurz erläutern möchte. Zum einen war es uns wichtig
zu betonen, dass der Normenkontrollrat nicht politisch
instrumentalisiert werden darf – weder von der Regie-
rung noch von der Opposition. Bei der Anhörung wurde
sogar die Frage der Verfassungswidrigkeit aufgeworfen.
Wir haben daher vorgeschlagen, dass Gesetzentwürfe
aus dem Parlament nur auf Wunsch der einbringenden
Fraktion überprüft werden sollten. Ich freue mich, dass
die Regierungsfraktionen unserem Vorschlag gefolgt
sind und ihn übernommen haben.
Zum anderen wollten wir klarstellen, dass über die
politische Zielsetzung von Gesetzentwürfen allein das
Parlament entscheidet, nicht der Normenkontrollrat. Wir
wollten daher deutlicher formulieren, was unter „Erfül-
lungsaufwand“ zu verstehen ist. Er sollte unserer Mei-
nung nach nur den direkten zeitlichen und monetären
Aufwand umfassen. Wir wollten ihn vom Vollzugsauf-
wand der Behörden unterscheiden und die indirekten
Auswirkungen von Gesetzen, wie zum Beispiel auf
Wachstum, Beschäftigung oder Investitionsentscheidun-
gen von der Prüfung durch den Normenkontrollrat aus-
nehmen. Leider hat die Regierungskoalition diesen Än-
derungsvorschlag abgelehnt. Eine Klarstellung an dieser
Stelle ist dringend geboten. Nun muss der Normenkon-
trollrat selbst in seiner täglichen Arbeit für Klärung sor-
gen.
Wir setzen natürlich darauf, dass der Nationale Nor-
menkontrollrat so wie in der Vergangenheit Bescheiden-
heit übt. Wir werden aber als Opposition sehr genau da-
rauf achten, dass der Normenkontrollrat von einigen
nicht als Einfallstor missbraucht wird, um soziale oder
ökologische Standards oder Rechte von Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern abzubauen. Die übergeordneten
Ziele des Bürokratieabbaus sind – so glaube ich – kon-
sensfähig. Dazu zählt, Gesetze besser zu machen,
Regeln zu vereinfachen und den Vollzug von Gesetzen
kostengünstiger hinzubekommen. Der Nationale Nor-
menkontrollrat ist dafür auch das entscheidende Instru-
ment. Mir ist kein besseres bekannt.
Deutschland hat dabei eine Vorbildwirkung. Das
Standardkostenmodell wird in vielen europäischen Staa-
ten angewandt. Den gesamten Erfüllungsaufwand zu
messen ist jedoch Neuland. Das hat auch die Anhörung
im Deutschen Bundestag ergeben. Wir wissen, dass es
sich dabei um einen laufenden Prozess handelt, der die
weitere Begleitung durch den Bundestag, aber auch
durch die Öffentlichkeit und Fachexperten bedarf. Sicher
erleben wir heute nicht die letzte Reform des Nationalen
Normenkontrollrates. Die SPD wird sich auch in Zu-
kunft dafür einsetzen, dass der zu überprüfende Erfül-
lungsaufwand von Gesetzen deutlicher formuliert wird.
Vielleicht übernimmt die Regierungskoalition dann auch
diesen Vorschlag der SPD.
Denn es bleiben offene Fragen: Wie wird der Nor-
menkontrollrat in Zukunft mit seinen neuen Befugnissen
umgehen? Die Regierungskoalition hat ja auf einen kla-
ren Rahmen jetzt weitgehend verzichtet. Werden wir in
Zukunft darüber diskutieren, was der Normenkontrollrat
überhaupt kontrolliert? Ich denke nicht, dass solche offe-
nen Fragen der Arbeit des Normenkontrollrates gut tun.
Sie werden sicher in näherer Zukunft bei weiteren Refor-
men zu beantworten sein.
Frank Schäffler (FDP): Ludwig Erhard hat einmal
gesagt: „Was sind das für Reformen, die uns Wände voll
neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsverordnun-
gen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht.
Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form
Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen
bringen, wenn nicht sogar zwingen.“
Die Themen „Bürokratieabbau“ und „bessere Recht-
setzung“ sind für die christlich-liberale Koalition zen-
trale Themen. In unserem Koalitionsvertrag haben wir
uns der Maxime verpflichtet: „Der freiheitliche Staat soll
nicht bevormunden, sondern den Gestaltungsraum von
Bürgern und Unternehmen respektieren.“
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Meilenstein
auf dem Weg zur konsequenten Fortsetzung des Büro-
kratieabbaus und der besseren Rechtsetzung. Mit ihm
werden wir den Nationalen Normenkontrollrat, NKR,
stärken. Als unabhängige und kompetente Institution
9160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
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wird er zukünftig nicht nur die Gesetzentwürfe der Bun-
desregierung prüfen, sondern die Vorlagen aller Gesetz-
gebungsorgane: Der NKR überprüft die Regelungsent-
würfe der Bundesministerien vor deren Vorlage an das
Bundeskabinett. Regelungsvorlagen des Bundesrates
prüft er, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet werden.
Gesetzesvorlagen des Bundestages prüft der NKR auf
Antrag der einbringenden Fraktion oder der einbringen-
den Abgeordneten. Damit wird die Qualität der Recht-
setzung aller Gesetzgebungsorgane erhöht. Das Statisti-
sche Bundesamt steht Bundesregierung, Bundestag und
Bundesrat bei Bedarf unterstützend zur Verfügung.
Der durch Informationspflichten ausgelöste Aufwand,
auf den sich der Bürokratieabbau bisher beschränkte,
macht nur einen geringen Teil der Gesamtbelastung
durch eine rechtliche Regelung aus. Deshalb haben wir
den engen Begriff der Bürokratiekosten ausgedehnt: Mit
dem Erfüllungsaufwand werden der gesamte messbare
Zeitaufwand und die Kosten, die durch bundesrechtliche
Vorschriften bei Bürgerinnen und Bürgern, bei Unter-
nehmen sowie bei der öffentlichen Verwaltung entste-
hen, dargestellt.
Ein entscheidender Faktor für den bisherigen Erfolg
der Tätigkeit des NKR war der „depolitisierte Ansatz“:
Der Normenkontrollrat hat nur zu prüfen, ob die zu er-
wartenden Bürokratiekosten nachvollziehbar und metho-
dengerecht dargestellt werden. Nach wie vor wird die
Kompetenz des NKR hierauf beschränkt bleiben. Ziele
und Zwecke einer Regelung sind nicht Gegenstand einer
Kontrolle durch den NKR, sondern unterliegen weiter-
hin der politischen Entscheidung der Gesetzgebungs-
organe. Wir wollen den NKR in seiner beratenden Rolle
stärken, aber seine politische Neutralität und Unabhän-
gigkeit erhalten!
Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung wirken
wie ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Wir halten
deshalb an dem bestehenden Ziel fest, die Informations-
pflichten der Wirtschaft bis 2011 im Vergleich zu 2006
um netto 25 Prozent zu reduzieren. Dass wir dieses Ziel
erreichen werden, zeigen die gestern von der Bundes-
regierung veröffentlichten Zahlen: So beträgt die Ge-
samtabbaubilanz momentan 22,6 Prozent gegenüber der
Belastung im Jahr 2006. Bis Ende 2010 wurden Verein-
fachungsmaßnahmen mit einem Entlastungsvolumen
von rund 6,7 Milliarden Euro pro Jahr umgesetzt. 2011
werden wir weitere Maßnahmen umsetzen, dazu hat die
Bundesregierung bereits am 29. Juni 2010 den Umset-
zungsplan zur Realisierung des 25-Prozent-Nettoabbau-
ziels vorgelegt. Der Bürokratieabbau wird für die FDP
aber nicht mit dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels Ende
2011 abgeschlossen sein – insbesondere auch mit Blick
auf den Erfüllungsaufwand werden wir im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft bürokrati-
sche Hemmnisse konsequent weiter abbauen und die
Rechtsetzung verbessern.
Michael Schlecht (DIE LINKE): Die Linke hat die
Einsetzung des Normenkontrollrates von Anfang an ab-
gelehnt, weil sein Auftrag in doppelter Weise falsch ist.
Erstens prüft der Kontrollrat nur die Kosten des Voll-
zugs, nicht aber den Nutzen von Gesetzen. Wenn aber
die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalb der Betrach-
tung bleibt, sind auch vernünftige Abwägungen von
Kosten und Nutzen unmöglich. Zweitens konzentriert
sich der Kontrollrat auf die Entlastung der Unternehmen
und dabei insbesondere auf die Vermeidung von Infor-
mationspflichten. Diese beiden Schwerpunkte sind zu ei-
genständigen Politikzielen geworden. Statt auf bessere
Regulierung zielt der NKR auf Deregulierung.
Die nun beabsichtigte Erweiterung des NKR-Mandats
ist angesichts der Krisenerfahrungen der vergangenen
Jahre abzulehnen. Bessere, zielgenauere Regulierung
sollte im Mittelpunkt stehen und nicht noch mehr einsei-
tige Deregulierung. Einem falsch konstruierten und
falsch mandatierten Gremium noch mehr Befugnisse zu
geben, lehnen wir entschieden ab. Den Handlungsbe-
reich des NKR auch auf die Gesetzesinitiativen der Frak-
tionen, also auch der Opposition, ausdehnen zu wollen,
haben wir von Anfang an abgelehnt. Das zumindest hat
jetzt auch die Koalition eingesehen und darauf mit einem
eigenen Änderungsantrag reagiert.
Aber an der falschen Ausrichtung des NKR ändert
sich nichts. Zu Recht stellte der Sachverständige des
DGB während der Anhörung zum Gesetzentwurf die
Frage, warum Bürokratie unbedingt billiger und nicht
hauptsächlich besser werden sollte. Wer Gesetzesfolgen
richtig abschätzen will, muss zunächst die Ziele und den
Nutzen von Gesetzen im Blick haben. Erst danach lässt
sich abwägen, ob es an der einen oder anderen Stelle ei-
nen unverhältnismäßigen Erfüllungsaufwand gibt. Und
das sollte nicht nur für Unternehmen, sondern auch für
Beschäftigte und Bürgerinnen und Bürger gelten.
Besser ist es deshalb, in Gesetzgebungsverfahren oder
bei der Verabschiedung von Vorschriften von vornherein
die Praxistauglichkeit und nicht zuletzt auch die Ver-
ständlichkeit als wesentliche Kriterien zu berücksichti-
gen. Zu diesem Zweck sollten mehr als bisher die Inte-
ressen von Beschäftigten und von Bürgerinnen und
Bürgern in die Anhörungen und generell in die Mei-
nungsbildung von Legislative und Exekutive einfließen.
Eine bessere Staatlichkeit in diesem Sinne fördert der
NKR bislang kaum, wie seine Jahresberichte zeigen.
Sein eindeutiger Fokus ist die Entlastung von Unterneh-
men. Im letzten Jahresbericht sind die dort genannten
365 Vereinfachungsmaßnahmen nahezu ausschließlich
unternehmensbezogen. Interessant ist dabei, dass die
großen Posten der Kostenersparnis mit Bürokratieabbau
gar nichts zu tun haben. Sie ergeben sich daraus, dass
Papier durch elektronische Mitteilungen ersetzt wird.
Summiert man diese technologisch bedingten Entlas-
tungsbeiträge, kommt man auf über 90 Prozent der Ge-
samtersparnis. Mit anderen Worten: Der von der Bun-
desregierung behauptete Bürokratieabbau ist im Kern
eine technische Neuerung. Soweit Bürgerrechte jeweils
gewahrt bleiben, ist diese Innovation zu begrüßen. Zu-
gleich zeigen die Größenverhältnisse, dass der Bürokra-
tieabbau im engeren Sinne offensichtlich nur sehr be-
grenzte Wirkungen hat.
Zum Teil werden aber auch Informationspflichten in
Gänze gestrichen. In diesem Zusammenhang mahnt der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9161
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Beirat des Statistischen Bundesamtes zu Recht, „beim
Abbau von Statistikpflichten neben den Bürokratiekos-
ten und Entlastungspotenzialen auch die damit einher-
gehenden Informationsverluste systematisch zu berück-
sichtigen. Die Streichung von Merkmalen oder ganzen
Erhebungen kann zu einem Verlust an Informationen
führen, der sich auch nachteilig auf die Qualität von Ge-
setzen auswirken kann. Informationsverluste müssen in
den statistikrelevanten Gesetzentwürfen deutlicher als
bisher aufgezeigt werden. Dadurch können Kosten und
Nutzen von amtlichen Statistiken besser abgewogen
werden.“
Bisweilen hat man den Eindruck, dass – neben Steu-
erreformen – der Bürokratieabbau das letzte wirtschafts-
politische Aufgebot der Regierung ist. Dabei ist häufig
noch nicht einmal nachvollziehbar, wie die Bundesregie-
rung und der Normenkontrollrat ihre Entscheidungen ab-
wägen. Wir halten es für falsch, den Normenkontrollrat,
ein eher intransparentes und einseitig auf Kostensenkung
orientiertes Gremium, zu stärken. Das geht dann so weit,
dass die FDP zur Finanzierung ihrer Steuergeschenke an
Besserverdiener geringere Sicherheitsstandards im Au-
tobahnbau fordert. Das nützt Bauunternehmen, aber wird
für die Gesellschaft teuer. Einstürzende U-Bahn-Schächte
in Köln lassen grüßen.
Bürokratieabbau muss mit Verstand erfolgen und
mehr Demokratie wagen. Wir brauchen keine Gesetze
und Verwaltungsvorschriften, die nicht sachgerecht sind,
die einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern oder
die in Gänze widersinnig sind. Wir brauchen keinen Ob-
rigkeitsstaat, der die Bürgerinnen und Bürger gängelt
und bevormundet. Einen Bürokratieabbau in diesem
Sinne begrüßen wir.
Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir begrüßen den Gesetzentwurf grundsätzlich. Unsere
soziale Marktwirtschaft braucht einen geeigneten Rah-
men aus guten Regeln, Standards und Normen, der von
den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert wird. In
vielen Fällen sind Regelungen und Regulierungen, wie
auch Informationspflichten, wichtig und notwendig. In
vielen Fällen sind sie aber auch unnötig kompliziert und
aufwendig. Solche überbürokratischen Regeln und Ver-
fahren werden – seitens der Unternehmen wie auch sei-
tens der Bürgerinnen und Bürger – zunehmend kritisiert
und sorgen für Unverständnis. Unnötige Bürokratie ab-
zubauen entfaltet deshalb eine hohe Wirkung, gibt posi-
tive konjunkturelle Impulse und stärkt den Wirtschafts-
standort Deutschland. Dies gelingt aber nur dann, wenn
dieses Weniger an Bürokratie für Unternehmen, Bürge-
rinnen und Bürger und für die Verwaltung auch tatsäch-
lich spürbar ist. Es ist deshalb sinnvoll, dass der Nor-
menkontrollrat zukünftig den gesamten bürokratischen
Erfüllungsaufwand prüfen soll, der durch Bundesgesetze
ausgelöst wird und nicht nur die Informationspflichten.
Denn um unnötige Bürokratie zu vermeiden, brauchen
wir ein realistischeres Bild der tatsächlichen Belastun-
gen.
Wir erweitern mit dem Gesetz das Mandat des
Normenkontrollrates. Zukünftig sollen auf Antrag der
einreichenden Fraktion bzw. des einreichenden Abge-
ordneten auch Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Bun-
destages geprüft werden. Das führt zu mehr Klarheit und
ist unbestritten ein Fortschritt. Allerdings ging der ur-
sprüngliche Gesetzentwurf weiter. Geplant war, dass
zum Beispiel auch Koalitionsentwürfe auf Antrag einer
Fraktion dem Normenkontrollrat zur Prüfung zugeleitet
werden können. Damit wäre ein Schlupfloch für beson-
ders bürokratielastige Gesetzentwürfe der Regierungs-
fraktionen geschlossen worden. Die Koalitionsfrak-
tionen und auch die SPD-Fraktion hatten hier nun
Bedenken, sodass jetzt die Prüfung nur auf Antrag der
einbringenden Fraktion möglich sein wird. Wir finden
das etwas bedauerlich. Allerdings sehen auch wir hier
noch Klärungsbedarf zu den verfassungsrechtlichen Ein-
wänden. Meine Fraktion wird sich deshalb bei der Ab-
stimmung über den Gesetzentwurf enthalten.
Der Aufwand, die bürokratische Belastungen zu er-
fassen, darf nicht bei den Fraktionen abgeladen werden.
Das Initiativrecht der Fraktionen darf nicht beschädigt
werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Aus-
weitung des Mandats des Normenkontrollrates. Dieser
Forderung von uns kommt die Koalition zumindest zum
Teil nach, weil das Statistische Bundesamt nun auch uns
Abgeordnete bei der Bürokratiekostenermittlung unter-
stützen kann. Es wird sich im Verfahren zeigen, ob dies
so praktikabel gelöst ist. Gegebenenfalls müssen wir
aber hier nachsteuern. Ein weiterer Punkt auf unserer
Reformagenda bleibt die größere Unabhängigkeit des
Normenkontrollrates von der Regierung. Wir schlagen
hier vor, die Auswahl der Mitglieder des Normenkon-
trollrates nicht mehr ausschließlich in die Hand der Bun-
desregierung zu legen, sondern über die Besetzung des
Rates auch im Bundestag abzustimmen. Last but not
least kommen komplizierte und aufwendige Regelungen
mitunter auch erst im parlamentarischen Verfahren über
Änderungsanträge in die Gesetzentwürfe hinein. Der
Normenkontrollrat sollte deshalb auch vor Abschluss ei-
nes Gesetzgebungsverfahrens eine abschließende Stel-
lungnahme abgeben. Dies wäre notwendig, damit die
Expertise in der parlamentarischen Beratung noch ange-
messen berücksichtigt werden kann.
Bürokratische Belastungen für Bürgerinnen und Bür-
ger und Unternehmen entstehen nicht nur durch die Ge-
setzgebung, sondern vor allem durch den Vollzug der
Gesetze. Eine Verringerung überzogener Bürokratielas-
ten kann deshalb nicht allein auf Bundesebene gelingen,
sondern braucht eine gemeinsame Anstrengung aller
staatlichen Ebenen. Die Bundesregierung sollte hier ak-
tiv werden und eine gemeinsame Initiative mit Ländern
und Kommunen anstoßen. Auch müssen zu starke büro-
kratische Belastungen aus bereits vorhandenen Gesetzen
viel mehr in den Blick genommen werden. Diese Mam-
mutaufgabe kann der Normenkontrollrat allein nicht
leisten. Hier ist die Regierung gefordert, ein umfassen-
des Bürokratieabbauprogramm zu entwerfen, das unnö-
tige bürokratische Belastungen aus allen geltenden ge-
setzlichen Regelungen zusammenstellt, und bis zur
Mitte dieser Wahlperiode eine umfassende Gesetzesini-
tiative zum Abbau dieser Bürokratielasten vorzubereiten
9162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
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(D)(B)
und im Deutschen Bundestag zur Abstimmung zu stel-
len.
Unnötige bürokratische Belastungen zu vermeiden
und abzubauen, muss auch viel stärker in das alltägliche
Regierungsdenken und -handeln integriert werden. Die
Ministerien sollten für jedes Jahr verbindliche Bürokra-
tieabbauziele für ihr Haus formulieren und bei den jähr-
lichen Haushaltsberatungen über deren Einhaltung be-
richten.
Die Bundesregierung hat in ihrem Jahresbericht 2009
zum Stand des Bürokratieabbaus erstmals klargestellt,
dass sie eine „Netto-Entlastung der Wirtschaft um
25 Prozent bis Ende 2011“ anstrebt. Trotzdem hat sie auf
eine transparente Gegenüberstellung der belastenden
und entlastenden Maßnahmen verzichtet. Diese wäre
aber zwingend notwendig, um die Erfüllung des Netto-
ziels nachprüfbar zu machen. Auch der Normenkontroll-
rat hatte diese unklare Darstellung bereits kritisiert. Es
ist deshalb notwendig, dass die Bundesregierung zu-
künftig bei ihrer Berichterstattung zum Stand des Büro-
kratieabbaus auch über belastende Maßnahmen transpa-
rent und nachvollziehbar berichtet.
Anlage 6
Zu Protokolll gegebenen Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Energiesteuer- und des Strom-
steuergesetzes (Tagesordnungspunkt 20)
Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir beschließen
heute in zweiter und dritter Beratung den Gesetzentwurf
zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge-
setzes, in dem es um verschiedene Themenbereiche geht.
Schwerpunkt dieses Änderungsgesetzes ist der Aus-
gleich steuerlicher Unterschiede, die in der Vergangen-
heit immer wieder für Ärger sorgten. Auch sollen hier-
mit im Rahmen des Vollzuges dieser Gesetze bisher
aufgetretene Umsetzungsschwierigkeiten eliminiert wer-
den.
Es geht aber auch darum, klarzustellen, dass steuerli-
che Unterschiede wie bei Fern- und Nahwärme nivelliert
werden, wie auch, dass die von der Großen Koalition be-
schlossene Abschaffung der Steuerbefreiung von Kohle
zum Verheizen in Privathaushalten nun tatsächlich – ins-
besondere aus Umweltgesichtspunkten – zementiert
wird.
Ein Hauptpunkt dieses Gesetzentwurfes, der gerne von
der Opposition angegriffen wird, weil er natürlich auch
der mit der größten haushalterischen Auswirkung ist, ist
die Verstetigung der Agrardieselvergünstigung. Trotz der
hier zu beschließenden Reduzierung ist dieser im Ver-
gleich zu anderen Ländern der EU – ja, ich sage weltweit
– immer noch der höchste Steuersatz für den Einsatz von
Treibstoff in der Landwirtschaft. Diese Sonderbelastung
ausschließlich der deutschen Landwirtschaft konterka-
riert das Ziel der gleichen Wettbewerbschancen innerhalb
der Europäischen Union. Die Minderung des Steuersatzes
auf 25,5 Cent, die von der Großen Koalition am 9. Fe-
bruar 2009 beschlossen wurde, ist nach meiner Auffas-
sung immer noch zu wenig, vor allem, wenn ich an unsere
unmittelbaren Nachbarn Frankreich und Österreich denke.
Aber ich werbe bei diesem Punkt auch bei meinen
Bauern um Verständnis für die derzeitige Haushaltslage
unseres Staates. Auch muss man der deutschen Land-
wirtschaft insgesamt sagen, dass in den Bereichen der
Agrarförderung bis hin zum Berufsgenossenschaftsbei-
trag heute vieles an finanzieller Erleichterung durchge-
setzt ist, was vor Jahren noch unvorstellbar war.
Deshalb sage ich der Opposition in aller Deutlichkeit:
Auch Sie reden immer von gleichen Wettbewerbsbedin-
gungen, beschimpfen uns aber für diesen Schritt, der
EU-weit gesehen für die deutsche Landwirtschaft drin-
gend nötig ist. Dieser Steuersatz ist immer noch nur die
Hälfte des Ziels, das wir eigentlich erreichen wollten.
Ich bleibe dabei: Mittelfristig müssen wir die europäi-
schen Energiesteuern dringend angleichen, um in einem
Wirtschaftsraum gleiche Voraussetzungen für die ge-
samte Industrie und Landwirtschaft zu schaffen.
Die anderen vom Finanzausschusses empfohlenen
Änderungen im Gesetzentwurf möchte ich hier kurz
skizzieren: Das Inkrafttreten des Gesetzes zur Vermei-
dung einer echten Rückwirkung wird, auch aus verfas-
sungsrechtlichen Gründen, auf den 1. April 2011 verlegt.
Gleichzeitig werden Maßnahmen mit begünstigender
Wirkung für Bürger und Unternehmen schon zum
1. Januar 2011 in Kraft treten.
Für feste Sekundär- und Ersatzbrennstoffe, die nicht
entsprechend ihrem Energiegehalt einer Besteuerung un-
terworfen sind und verheizt werden, wird ein niedriger
Auffangsteuersatz eingeführt, der sich an der Höhe des
Steuersatzes für Kohle und Petrolkoks orientiert.
Die im Ursprungsentwurf vorgesehene Streichung der
Steuerbefreiung für Klär- und Deponiegase, die durch
eine Definitionsänderung bei gasförmigen Biokraft- und
Bioheizstoffen sozusagen durch die Hintertür erfolgt ist,
konnten wir zurücknehmen. Durch die unter EU-Vorbe-
halt stehende dezidierte Aufnahme der Klär- und Depo-
niegase in den Befreiungstatbestand schaffen wir steuer-
rechtliche Gleichheit aller gasförmigen Energieträger bei
umweltschonender Verwendung. Dieses Thema wurde ja
auch deutlich im Fachgespräch des Finanzausschusses
am 10. November 2010 von den Sachverständigen vor-
getragen, genau wie das Thema Steuerbefreiung von In-
dustriegasen, dem auch Sie seitens der Opposition in den
Einzelanträgen zugestimmt haben.
Bei Industriegasen haben wir uns auf eine eng be-
grenzte Definition geeinigt; die zukünftige Stromsteuer-
befreiung bei der Herstellung von Industriegasen ist, wie
vorhin schon angesprochen, eigentlich nur eine Korrek-
tur des Energiesteuergesetzes, das am 1. August 2006 in
Kraft getreten ist. Ich weise aber hier in aller Deutlich-
keit darauf hin, dass dieser Sachverhalt noch unter dem
Vorbehalt einer Prüfung durch die EU steht, unterstelle
aber, dass Brüssel dies genehmigen wird.
Wovon reden wir hier? In vielen thermischen Prozes-
sen werden hochwertige Gase wie Edelgase und Reinst-
gase eingesetzt, die mit hohem Stromeinsatz durch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9163
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Elektrolyse oder in kryogenen Luftzerlegungsanlagen
hergestellt werden. Die Gasgewinnung erfolgt in der Re-
gel nahe am Verbrauch der Industriegase; sie können je-
doch auch standortfern produziert werden, müssen dann
aber mit Straßen- und Schienentankwagen in Druckgas-
behältern transportiert werden. Um – bei einem Abwan-
dern der Herstellung ins benachbarte Ausland – einen
hohen logistischen Aufwand zu vermeiden, galt es den
Standortnachteile im deutschen steuerlichen Einzugsbe-
reich auszumerzen.
Bei der Fernwärme, bei der wir als Koalition nicht
den Anträgen der Opposition folgen, gibt es aus unserer
Sicht große Probleme bei der Unterscheidung von Fern-
und Nahwärme, die auch im Fachgespräch nicht ausge-
räumt werden konnten. Wenn dies für die betroffenen
4 Millionen Haushalte, wie von Ihnen vorgetragen, zu
einer Belastung von 1 Euro/Monat führen könnte, ist
das, übers Jahr gerechnet, der Gegenwert von zwei
Schachteln Zigaretten. Aber wie erkläre ich einem
Heizöl- oder Gasbezieher, dass er die steuerliche Belas-
tung tragen muss? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit
den ökologischen Vorteilen der Fernwärme: Alte KWK-
Anlagen sind auch nicht nur rein! Wenn wir von Gleich-
heit vor dem Grundgesetz reden, müssen wir Gleiches
auch gleich behandeln!
Dass die Verlängerung der Subvention von Heizkohle
in Privathaushalten nun endlich „abgefrühstückt“ ist,
sollte, an die SPD gerichtet, mit Hinweis auf ihre eige-
nen Beschlüsse hier nicht vertieft werden.
Mit der Gesetzesvorlage durch die Bundesregierung,
den Beschlüssen, die wir im Rahmen des Haushaltsbe-
gleitgesetzes für den Bereich der Energiesteuerentlas-
tung für Unternehmen schon getroffen haben und den
Änderungen an diesem Gesetz im Zuge der Beratungen
im Finanzausschuss haben wir eine ausgewogene Be-
und Entlastung der Unternehmen in Industrie und Land-
wirtschaft, der Verbraucher und des Bundeshaushaltes
erreicht.
Peter Aumer (CDU/CSU): Die Weltklimakonferenz
in Cancún war ein Erfolg. Erstmalig ist das 2-Grad-Ziel
von der Weltgemeinschaft offiziell anerkannt worden.
Die Weltklimakonferenz hat sich zudem nach schwieri-
gen Verhandlungen und in letzter Minute auf ein umfas-
sendes Maßnahmenpaket verständigt, das einen wesent-
lichen Schritt darstellt, um dieses Ziel zu erreichen. Die
dabei getroffenen Entscheidungen sind ein Meilenstein
auf dem Weg zu einem Klimaabkommen. Das Paket von
Cancún umfasst Minderungsmaßnahmen von Industrie-
und Entwicklungsländern, die Errichtung eines globalen
Klimafonds, Verabredungen zur Anpassung an die Fol-
gen des Klimawandels, zum Waldschutz, zur Technolo-
giekooperation und zum Kapazitätsaufbau in Entwick-
lungsländern. Es wurde ein Verfahren zur Überprüfung
vereinbart, welche zusätzlichen Maßnahmen zur Einhal-
tung des 2-Grad-Ziels erforderlich sind.
Anhand der klimapolitischen Ziele der Bundesregie-
rung wollen wir die Energie- und Stromsteuer verbes-
sern sowie die bestehen Vorschriften an das sich ständig
ändernde Marktumfeld für Energieerzeugnisse anpassen.
Im Einzelnen enthält das Gesetz folgende wesentliche
Maßnahmen:
Erstens. Die Steuerbegünstigung für die Herstellung
von Energieerzeugnissen wird in sich schlüssiger ausge-
staltet, indem wesentliche Herstellungsprozesse mit ein-
bezogen werden und die Steuerbegünstigung den ver-
stärkten Einsatz umweltfreundlicheren Erdgases zulässt.
Zweitens. Auf die Entstehung eines Marktes für Se-
kundär- und Ersatzbrennstoffe wird reagiert, indem ein
am Energiegehalt orientierter Steuertarif eingeführt
wird. Die Regelung verhält sich steuerlich neutral und
vereinfacht für Unternehmen und Verwaltung das Be-
steuerungsverfahren.
Drittens. Mit einer Ausweitung der Möglichkeiten zur
Steuerentlastung auf leicht- und mittelschwere Öle wird
Bedürfnissen von Unternehmen Rechnung getragen, die
aus technischen Gründen für bestimmte Verfahren nur
Leichtöl verheizen können. Bisher konnten diese Öle
und die ihnen von der Beschaffenheit her ähnlichen En-
ergieerzeugnisse nur zu den Steuersätzen für Kraftstoffe
verheizt werden.
Viertens. Die Betriebe der Forst- und Landwirtschaft
werden unterstützt, indem der mit dem Haushaltsbegleit-
gesetz 2005 eingeführte Selbstbehalt von 350 Euro und
die Obergrenze von 10 000 Liter je Betrieb gestrichen
werden. Damit wird der forst- und landwirtschaftliche
Sektor vor dem Hintergrund der weiterhin ungleichen
Besteuerung von Agrardiesel im EU-Vergleich verstärkt
entlastet. Dies ist vor allem für die CSU eine wichtige
Reform.
Durch die allgemeine Verunsicherung der Verbrau-
cher und den Druck bei den Erzeugerpreisen sind die
deutschen und bayerischen Landwirte unmittelbar von
der derzeitigen Wirtschaftskrise betroffen. Deshalb ist es
immens wichtig, der Land- und Forstwirtschaft jetzt ein
unterstützendes Signal zu geben. Der Abbau von Wett-
bewerbsverzerrungen im europäischen Binnenmarkt
steht dabei an erster Stelle. Spitzenreiter bei der Besteue-
rung des wichtigsten Energieträgers der Land- und
Forstwirtschaft, beim Agrardiesel, ist Deutschland. Hier
findet eine massive Benachteiligung im europäischen
Wettbewerb statt. Ein 25 Hektar großer Betrieb wird ge-
genüber gleich großen Betrieben im europäischen Aus-
land um bis zu 1 100 Euro pro Jahr benachteiligt.
Durch den jetzigen Wegfall des Selbstbehaltes und
der Obergrenze werden die Betriebe in einem schwieri-
gen wirtschaftlichen Umfeld spürbar entlastet. Dass
diese Erleichterung für unsere Bauern heute in abschlie-
ßender Lesung behandelt wird, ist ausschließlich auf die
unnachgiebige Haltung der CSU-Landesgruppe im
Deutschen Bundestag zurückzuführen. Keine andere
Partei vertritt die Interessen der Land- und Forstwirte so
konsequent und standhaft.
Auch bei energieintensiven Unternehmen fällt zu-
künftig die zusätzliche Belastung weniger stark aus. So
wären zum Beispiel die Kosten für die Strom- und Ener-
giesteuer eines großen Walzwerkes mit über 2 100 Mit-
arbeitern nach dem Kabinettsbeschluss von 878 000 auf
2 720 000 Euro angestiegen. Durch die von uns gefor-
9164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
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derten Änderungen reduziert sich die Belastung um
1 342 000 Euro pro Jahr. Sie liegt gegenüber dem Kabi-
nettsentwurf nun bei 1 378 000 Euro pro Jahr. Gerade
für die Wettbewerbsfähigkeit unserer mittelständischen
Wirtschaft sind diese Maßnahmen wichtig.
Die ermäßigten Steuersätze sind keine Steuerge-
schenke oder Steuersubventionen. Sie waren mit der
Einführung der ökologischen Steuerreform im Jahr 1999
eingeführt worden, um die Chancengleichheit deutscher
Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht zu
beeinträchtigen. An diesem Sachverhalt hat sich nichts
geändert. Im Gegenteil: Die Energiepreise werden mehr
und mehr zu einem Standortnachteil für Deutschland.
Nach Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums lie-
gen allein die Industriestrompreise in Deutschland inklu-
sive Steuern um 30 bis 35 Prozent höher als in Frank-
reich, Spanien oder Schweden. Die ständig steigenden
Energiekosten bilden bei den Unternehmen einen immer
größeren Kostenblock.
Es ist die Herausforderung unserer Zeit, der sich die
CSU stellt, die Dynamik Deutschlands zu erhalten, den
Fortschritt zu fördern und den Wohlstand des Landes zu
sichern. Mit den Änderungen des Energie- und Strom-
steuergesetzes entlasten wir unsere Unternehmen und
bringen Deutschland weiter voran. Gleichzeitig setzen
wir aber auch auf Nachhaltigkeit und leisten einen Bei-
trag zum Klimaschutz. Gerade das ist das Ziel der
christlich-liberalen Koalition. Nachhaltigkeit und wirt-
schaftliche Vernunft sind konkreter Handlungsauftrag,
der sich aus unserer sozialen Marktwirtschaft ergibt.
Zum Schluss meiner Rede wünsche ich uns allen ge-
segnete Weihnachten, besinnliche Tage sowie alles er-
denklich Gute für das neue Jahr 2011.
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Der Gesetzentwurf zur
Änderung der Energie- und Stromsteuer, den wir heute
beraten, reiht sich in dreierlei Hinsicht nahtlos in die
Liste der Gesetze ein, die Sie in den letzten Wochen hier
im Parlament beschlossen haben. Dabei gilt: Es gibt kein
geordnetes systematisches Vorgehen, Lobbygruppen wer-
den begünstigt und die Verbraucherinnen und Verbraucher
werden belastet.
Wie bei der Tabaksteuer – gerade mal zwei Wochen
ist das her – sind auch die von ihnen geplanten Änderun-
gen bei der Energie- und Strombesteuerung rein haus-
haltspolitischer Natur. Es gilt, möglichst viel Geld einzu-
treiben, um die Haushaltslöcher zu stopfen, die Ihr
verfehltes und sozial unausgewogenes Sparpaket und die
Anfang dieses Jahres verteilten Steuergeschenke an Ho-
tels und Erben verursacht haben. Das ist die unbequeme
und nicht zu leugnende Wahrheit. Der zu erwartende Wi-
derstand der Industrie ließ nicht lange auf sich warten –
und das sogar zu Recht. Ich erinnere in diesem Zusam-
menhang noch einmal an das Haushaltsbegleitgesetz
2011: Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten uns schon
bei den Beratungen hier im Bundestag dafür ausgespro-
chen, auf die von Ihnen geplanten massiven Steuermehr-
belastungen der energieintensiven Unternehmen zu ver-
zichten, da diese insbesondere mittelständische Betriebe
treffen. Die Auswirkungen auf das produzierende Ge-
werbe in Deutschland sind zudem überhaupt nicht ab-
sehbar. Was wir brauchen, ist eine längerfristige Pla-
nungssicherheit für die betroffenen Unternehmen, ins-
besondere für die Energiebesteuerung der Industrie nach
2012, wenn die beihilferechtliche Befristung der Euro-
päischen Kommission endet.
Sie als Bundesregierung sind aufgefordert, zügig eine
Analyse der realen Wettbewerbswirkungen der heutigen
Steuervergünstigungen und ein darauf fußendes schlüs-
siges Energiekonzept vorzulegen. Zurzeit kann ich kein
Konzept erkennen. Auch wenn Sie sich jetzt für ein ge-
mäßigteres Modell beim Abbau der Steuervergünstigun-
gen für energieintensive Betriebe entschieden haben,
entbinden Sie diese einzelnen unsystematischen Maß-
nahmen nicht aus der Verantwortung, eine fundierte und
berechenbare Politik zu machen. Bislang existiert an-
stelle eines durchdachten Energiekonzeptes nur ein va-
ger Prüfauftrag für die Ausgestaltung von Gegenleistun-
gen für Ökosteuervergünstigungen der deutschen Wirt-
schaft ab 2013. Das ist schlichtweg zu dürftig.
Ganz konkret hingegen ist die Begünstigung be-
stimmter Lobbygruppen. Beim Agrardiesel werden
Selbstbehalt und Mengenbegrenzung gestrichen. Sie ma-
chen sich zum Erfüllungsgehilfen der Landwirtschafts-
lobbyisten. Immerhin führt diese Maßnahme, die der
Deutsche Bauernverband seit Jahren und fast schon ge-
betsmühlenartig wiederholt immer wieder fordert, zu zu-
sätzlichen Steuermindereinnahmen des Bundes in Höhe
von rund 260 Millionen Euro pro Jahr. Durch diese Steu-
erausfälle kann es zu Kürzungen bei Förderprogrammen
wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küs-
tenschutz kommen. Darunter leiden dann Leistungsfä-
higkeit und Umweltverträglichkeit der Landwirtschaft.
Da die Obergrenze von 10 000 Litern in der Regel erst
von Betrieben mit mehr als 70 Hektar überschritten
wird, profitieren vor allem Großbetriebe überdurch-
schnittlich vom Wegfall der Obergrenze. Während ein
100-Hektar-Betrieb in den Genuss von Steuerermäßi-
gung in Höhe von knapp 1 000 Euro kommt, sind es bei
einem 1 000-Hektar-Betrieb 30 000 Euro.
Wie Sie mit einer solchen Politik zudem Ihr selbstge-
setztes Ziel – eine Harmonisierung der Besteuerung des
Agrardiesels auf europäischer Ebene – erreichen wollen
und können, ist und bleibt mir vollkommen schleierhaft.
Eher ist diese Art von Steuerpolitik geeignet, unsere
Nachbarn in Europa dazu zu bewegen, ihre Subventio-
nen bei der Landwirtschaft beizubehalten und schlimms-
tenfalls sogar zu erhöhen. Doch was wir in Europa am
wenigsten brauchen, ist ein Subventions- oder Steuer-
senkungswettbewerb.
Die Zeche für die Agrarsubventionen zahlen – wie
eingangs erwähnt – schon wieder die Verbraucherinnen
und Verbraucher. Bei der Tabaksteuer waren es die Rau-
cher, jetzt trifft es diejenigen, die mit Fernwärme heizen.
Mit Streichung der energiesteuerlichen Begünstigung für
die Fernwärmeversorgung werden circa 4 Millionen
Haushalte mehr Heizkosten bezahlen müssen; allein in
Berlin werden ungefähr 600 000 Haushalte tiefer in die
Tasche greifen müssen. Selbst der Bundesrat – ein-
schließlich der von Ihnen geführten Regierungen – hat
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9165
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sich dafür ausgesprochen, die Steuervergünstigung für
die Fernwärme zu erhalten – aber offenbar ohne Erfolg.
Die Menschen werden sich auch von Ihren geplanten
Steuervereinfachungen keinen Sand in die Augen
streuen lassen. Die von Ihnen diskutierte Anhebung des
Arbeitnehmerpauschbetrages bringt ihnen nicht allzu
viel. Vielmehr als eine Tasse Kaffee im Monat wird die
Anhebung von 920 auf 1 000 Euro pro Jahr für die meis-
ten Steuerzahler nicht bringen. Die Option, nur noch alle
zwei Jahre eine Lohnsteuererklärung abzugeben – so sie
dieses überhaupt dürfen –, wäre für die meisten Lohn-
steuerpflichtigen sogar von Nachteil: 18 Millionen von
20 Millionen Steuerzahlern, die eine Erklärung abgeben
müssen, bekommen vom Finanzamt zu viel gezahlte
Steuern erstattet. Machen sie ihre Erklärung nur alle
zwei Jahre, gewähren sie dem Finanzminister einen zins-
losen Kredit und verlieren selbst Zinseinnahmen. Un-
term Strich bleibt es also dabei: Die Verbraucher
schauen in die Röhre, das können Sie nicht kaschieren.
Neben den schon erwähnten Belastungen für viele
private Haushalte ist die Streichung der Steuervergünsti-
gung klimapolitisch kontraproduktiv und verfehlt. Wir
alle wissen: Die Fernwärme leistet einen wesentlichen
Beitrag zur Erfüllung der Klima- und Umweltziele
Deutschlands. Insbesondere in Verbindung mit Kraft-
Wärme-Kopplung sowie bei der Nutzung von Abwärme
bietet sie eine hocheffiziente Verwendung regenerativer
und fossiler Energieträger. Das gilt auch für die Nutzung
erneuerbarer Energien in Ballungsräumen, die ein relativ
begrenztes Dachpotenzial und eingeschränkte Möglich-
keiten für die Nutzung von Wärmepumpen auf der Basis
von Erd- oder Umweltwärme aufweisen. Darüber hinaus
reduzieren moderne, hocheffiziente Fernwärmeanlagen
im Vergleich zu Einzelheizungen die Bildung von Fein-
staub und luftgetragenen Schadstoffen und tragen somit
zu einer Verbesserung der Luftqualität in städtischen
Verdichtungsräumen bei.
Wir alle wissen: Eine steuerliche Entlastung der Fern-
wärme im Energiesteuergesetz ist wichtig und notwen-
dig, um das von der Bundesregierung gesetzte Ziel, den
KWK-Anteil an der gesamten Stromerzeugung bis 2020
auf 25 Prozent zu erhöhen, nicht zu gefährden. Neben
den angesprochenen KWK-Anlagen sind Heizwerke ein
bedeutsamer und unverzichtbarer Bestandteil in den
meisten Fernwärmenetzen. Sie gewährleisten nicht nur
die umweltfreundliche, weil effiziente Abdeckung von
Bedarfsspitzen, sondern auch den ökologisch und öko-
nomisch sinnvollen Ausbau von Wärmenetzen.
Wir alle wissen: Die an die Fernwärmenetze ange-
schlossenen Heizsysteme unterliegen in der Regel dem
Emissionshandel und treten in Konkurrenz mit anderen
Heizlösungen, die nicht am Emissionshandel teilneh-
men. Es gibt also keine vergleichbaren Ausgangsbedin-
gungen auf dem Wärmemarkt. Eine Fortführung der
steuerlichen Begünstigung der Fernwärme hätte dem
Abbau bestehender Wettbewerbsnachteile der Fernwär-
meversorgung gedient. Ihre Politik ist daher wettbe-
werbsschädlich. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir als
SPD-Fraktion aus den genannten Gründen ausdrücklich
ab.
Dr. Birgit Reinemund (FDP): Ich wundere mich
über die Haltung der Grünen: Sie nutzen die heutigen
eher technischen Änderungen des Energiesteuergesetzes,
um die Koalition schon heute für etwas zu kritisieren,
was erstens bereits beschlossen ist und was zweitens Sie
in eigener Regierungsverantwortung gesetzlich so gere-
gelt haben. Es war schließlich Rot-Grün, die bei Einfüh-
rung der Ökosteuer – volkswirtschaftlich richtig – er-
kannt hatten, dass die Belastung für energieintensive
produzierende Unternehmen zu groß geworden wäre,
um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Rot-
Grün hatte damals aus innerer Überzeugung – so hoffe
ich doch – diese Industriebereiche größtenteils von der
Besteuerung ausgenommen, um Wettbewerbsfähigkeit
herzustellen und Verlust von Arbeitsplätzen zu verhin-
dern. Gleichzeitig wurde ein Vertrag mit der Wirtschaft
geschlossen, im Gegenzug bis 2012 die Energieeffizienz
zu steigern. Das haben die Unternehmen eingehalten.
Wir haben vor kurzem im Rahmen des Haushaltsbe-
gleitgesetzes eine moderate Erhöhung beschlossen; das
Bundesfinanzministerium wollte ursprünglich weit hö-
here Mehreinnahmen aus rein haushälterischen Grün-
den. Heute beschweren sich die Grünen in ihrem Antrag,
dass die Belastungen für die Industrie nicht hoch genug
seien, und werfen dieser Regierung vor, vor der Industrie
einzuknicken. Nein, das war kein Einknicken vor der In-
dustrie; das war volkswirtschaftliche Vernunft, die Sie
1999 auch noch hatten, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen. Das heute ist schon ein Stück weit Heu-
chelei. Denn es ist doch eine einfache Wahrheit: Steuer-
aufkommen zur Haushaltskonsolidierung kann die Wirt-
schaft nur beisteuern, wenn die Betriebe überlebensfähig
bleiben und wenn Gewinne versteuert werden können,
aber nicht wenn Produktionen verlagert und Arbeits-
plätze abgebaut werden. Der alte Kampf Ökologie gegen
Ökonomie ist überholt; es geht nur gemeinsam. Die
enormen Fortschritte in der Effizienzsteigerung sind der
beste Beweis, auch wenn das die Grünen durch ihre
ideologisch gefärbte Brille heute nicht mehr wahrhaben
wollen.
Die Koalitionsfraktionen dagegen nehmen mit diesem
Gesetzentwurf sowohl einzelne umwelt- und klimapoli-
tisch relevante Themen auf – zum Beispiel bei der Nut-
zung von Erdgas für die Stromerzeugung, bei Klär- und
Deponiegasen oder der Hafenproblematik. Gleichzeitig
werden Wettbewerbsnachteile in abgegrenzten Berei-
chen ausgeglichen – zum Beispiel bei der Herstellung
von Industriegasen, der energieintensivsten Branche
überhaupt, oder bei der Landwirtschaft. Bisherige Zwei-
felsfälle im Gesetzestext werden jetzt klar definiert.
Lassen Sie sich mich einige Beispiele erläutern. Zu-
nächst zum Beispiel Agrardiesel. Die Forst- und Land-
wirtschaft ist kein funktionierender freier Markt, son-
dern innerhalb der EU stark reglementiert und sub-
ventioniert. Aus zwei Gründen tritt die FDP seit Jahren
für die Steuerermäßigung von Agrardiesel ein, und die
Koalitionsparteien haben dies auch so im Koalitionsver-
trag festgeschrieben. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens
zu wettbewerblichen Gründen: Deutschland hat europa-
weit nach wie vor die mit Abstand höchsten Steuersätze
auf Agrardiesel. Bei uns sind es 27 Cent/l, in Frankreich
9166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
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dagegen nur 0,6 Cent/l. Seit 1998 haben sich die Steuern
auf den Kraftstoff für die Landwirtschaft in Deutschland
fast vervierfacht, während sie in Nachbarländern wie
Österreich und Frankreich sogar gesunken sind. Die
deutschen Landwirte haben deshalb einen Wettbewerbs-
nachteil von bis zu 50 Euro pro Hektar Land. Diese
Wettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischen
Wirtschaftsraums ist zu beseitigen. Unser mittelfristiges
Ziel ist die einheitliche Besteuerung von Agrardiesel in
Europa – so wie es selbst die Grünen fordern. Zweitens
zu den steuersystematischen Gründen: Die Mineralöl-
steuer dient vorrangig für den Erhalt und Ausbau des
Straßennetzes. Die Traktoren fahren überwiegend auf ei-
genem Land der Landwirte, nicht auf den Straßen.
Nun zum Beispiel Ersatz- und Sekundärbrennstoff
und der Abfallverbrennung. Nach EU-Recht müssen alle
Kohlenwasserstoffverbindungen, wenn sie der Strom-
erzeugung dienen, besteuert werden. Bei hochkalori-
schen sortenreinen Abfallprodukten – wie Öl – ist dies
nach Brennwert bereits heute üblich. Bei gemischten
Abfällen muss eine Definition gefunden werden, um
eine hoch bürokratische Brennwertermittlung zu vermei-
den. In der Anhörung war der Hauptkritikpunkt die
Höhe des Brennwerts auf dem Niveau von Öl. Als realis-
tisch angesehen wurde die Festlegung auf den Brennwert
von Kohle; das heißt 0,33 Euro statt 1,73 Euro. Da die
betroffenen Betriebe in der Regel die Steuerbegünsti-
gung über den Spitzenausgleich nutzen, ist diese Ände-
rung kostenneutral.
Zum Beispiel Klär- und Deponiegas. Diese Gase sind
nach heutiger Gesetzeslage steuerbefreit. Diese Befrei-
ung sollte nach Gesetzesentwurf des BMF gestrichen
werden, angeblich aus EU-rechtlichen Gründen. Wir
wollen die Befreiung beibehalten, um vor allem kommu-
nale Stadtwerke nicht zusätzlich zu belasten und um
keine Anreize zu schaffen, die Gase abzulassen statt zu
verbrennen, was nicht zulässig ist und ökologisch fatal
wäre. Methan ist sehr energiereich, aber auch extrem kli-
maschädlich und zwar 21-mal klimaschädlicher als CO2.
Die Verbrennung von Klär- und Deponiegas ist also auch
aus ökologischer Sicht sinnvoll. Beide sind von der De-
finition für gasförmige Biokraft- und Bioheizstoffe aus
förderpolitischen Gesichtspunkten nicht erfasst. Daher
ist diese Konkretisierung hilfreich.
Zum Beispiel Industriegase. Die Zerlegung von Luft
zur Herstellung technischer Gase wie Sauerstoff oder
Stickstoff oder von Edelgasen ist der stromintensivste
Produktionsprozesse überhaupt. 50 bis 70 Prozent der
Kosten des Produkts sind Stromkosten. Laut EU-Richtli-
nie können Prozesse mit mehr als 50 Prozent Stromkos-
tenanteil steuerbefreit werden. Dies trifft für die Luftzer-
legung zu. Weitere Prozesse, die diese Bedingung
erfüllen, sind bisher nicht bekannt. Befreit wird aus-
schließlich der Produktionsprozess selbst, nicht das Ge-
samtunternehmen. Die Industriegase waren bereits 2006
im Gesetzentwurf enthalten und wurden damals aus poli-
tischen Rangeleien herausgenommen. Betroffen sind
nicht nur die bekannten großen Hersteller mit guten Bi-
lanzen, sondern viele Industriebereiche der chemischen
Industrie wie zum Beispiel BASF usw. Wir wollen mit
dem Änderungsantrag der Koalitionsparteien diese
Branche – und explizit nur diese – wieder aufnehmen,
um Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und Arbeitsplätze
in Deutschland zu halten.
Unter Berücksichtigung der klimapolitischen Ziele
der Bundesregierung schaffen wir mit diesem Gesetz
weitere Rechts- und Planungssicherheit für die betroffe-
nen Branchen – und bessere Chancen im internationalen
Wettbewerb.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Um eine sichere und
bezahlbare, vor allem unabhängige Energieversorgung
für diese und die folgenden Generationen sicherzustel-
len, ist es nötig, heute die Weichen dementsprechend zu
stellen. Sie aber stellen die Weichen falsch.
Sie verlängern gegen alle Proteste die Laufzeiten der
Atomkraftwerke. Damit schaffen Sie weiteren radio-
aktiven Abfall. Zudem bescheren Sie den Atomkon-
zernen massive Gewinne. Vor allem behindern Sie somit
den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das wissen Sie.
Auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Energie-
und Stromsteuergesetzes führt in die falsche Fahrtrich-
tung. Denn Sie verabschieden heute weitere Steuerver-
günstigungen und Steuerbefreiungen für den Einsatz fos-
siler Energieträger. Die Kosten werden dann wieder die
Bürgerinnen und Bürger tragen müssen. Ich will kurz auf
die wichtigsten Punkte eingehen.
Positiv hervorzuheben ist die steuerliche Begünsti-
gung von Schiffen, die ihren Strom von Land beziehen
und somit weniger Schadstoffe in die Luft pusten. Aber
das war es dann fast schon. Kurz zu drei Punkten:
Erstens: Fernwärme. Die Fernwärmeversorgung, ins-
besondere durch Kraft-Wärme-Kopplung, ist eine be-
sonders effiziente Nutzung von Brennstoffen; sie macht
insbesondere in städtischen Gebieten Sinn. Diese An-
sicht teilten Sie, zumindest kurzzeitig. Denn im Entwurf
des Haushaltbegleitgesetzes 2011 war eine Steuerent-
lastung für den Bereich der Fernwärmeversorgung
verankert. Auch der Bundesrat forderte mit Beschluss
vom 26. November 2010 eine steuerliche Entlastung.
Umso unverständlicher ist, dass dieser Passus in der ab-
schließenden Bereinigungssitzung des Haushaltsaus-
schusses gestrichen wurde, und jetzt wollen Sie das in
Gesetzesform gießen. Die Fernwärme ist ein wichtiges
Element, um die Klima- und umweltpolitischen Ziele zu
erreichen. Wir empfehlen Ihnen, wie auch die Sach-
verständigen aus der Anhörung zum Energie- und
Stromsteuergesetz, die ursprüngliche Absicht umzuset-
zen und Fernwärme steuerlich zu begünstigen. Wir un-
terstützen daher den Änderungsantrag von SPD und
Grünen.
Zweitens: Zu den Ökosteuerausnahmen. Seit
Einführung der Ökosteuer sind gerade jene Firmen weit-
gehend von Zahlungen befreit, die viel Strom verbrau-
chen. Die Bundesregierung wollte diesen Missstand mit
dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 endlich teilweise be-
seitigen. Aber daraus wurde nichts, wie wir wissen. Die
Ökosteuerprivilegierung soll beibehalten werden; zah-
len dafür dürfen Raucherinnen und Raucher durch
Erhöhung der Tabaksteuer. Das heißt, Sie hoffen, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9167
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Raucherinnen und Raucher weiterhin ihre Gesundheit
gefährden, sodass Ihre energieintensiven Unternehmen
weiter von der Ökosteuerbelastung verschont werden
und Sie trotzdem zu Ihren geplanten Mehreinnahmen
kommen.
Ich komme zum dritten Punkt, zum Agrardiesel: Ich
erinnere noch einmal daran, dass im Rahmen der
Konjunkturpakete beim Agrardiesel für land- und
forstwirtschaftliche Betriebe eine steuerliche Entlastung
erfolgte, indem die Deckelung auf 10 000 Liter und der
Selbstbehalt von 350 Euro entfiel. Diese Maßnahme sollte
befristet sein. Doch jetzt wollen Sie diese unbefristet
verstetigen. Wie aber die Anhörung zeigte, profitieren in
erster Linie flächenstarke Ackerbaubetriebe. Diese
werden jedoch bereits durch Direktzahlungen der Euro-
päischen Union in Höhe von 5,5 Milliarden Euro jährlich
begünstigt. Außerdem wird der Anreiz genommen, vom
Mineralöl wegzukommen. Dadurch schwächen Sie ge-
rade die mittelständische Wirtschaft vor Ort, die sich auf
Pflanzenöltreibstoffe spezialisiert hat.
Ich fasse also zusammen: Mit diesem Gesetzentwurf
schaffen Sie weitere Steuervergünstigungen für den Ein-
satz fossiler Energieträger und fahren umweltpolitisch
weiter in die falsche Richtung. Wir werden ihn daher
ablehnen.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erst kün-
digt Schwarz-Gelb an, dass die energieintensiven Unter-
nehmen einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leis-
ten sollen und schreibt das ins Haushaltsbegleitgesetz
2011. Dann knickt Kanzlerin Merkel vor der Industrie
ein, schrumpft den Subventionsabbau um 600 Millionen
Euro und bittet stattdessen die Raucher zur Kasse. Sie
spielt ein doppeltes Spiel. Und jetzt will Schwarz-Gelb
sogar neue klimaschädliche Subventionen für Industrie
und Landwirtschaft in das Energiesteuergesetz schrei-
ben. Die geplanten Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden
sind damit auf nicht einmal 550 Millionen Euro für den
Bund zusammengeschmolzen. Erst hü, dann hott, und
am Ende weiß niemand mehr, wo die Regierung in der
Energiebesteuerung eigentlich steht oder mal hinwollte.
Auf so eine billige Verwirrungstaktik fallen wir nicht he-
rein. Die Wahrheit ist: Sie haben das grüne Mäntelchen,
in das Sie Ihre ohnehin rein haushalterisch motivierten
Maßnahmen gehüllt haben, nun wie einen kratzenden
Pulli abgeworfen und entblößen wieder den wahren Cha-
rakter Ihres Tuns. Nämlich die Ausrichtung des Regie-
rungshandelns an den Interessen der Starken, in diesem
Fall der Industrielobbies.
Das passt ins Gesamtbild der pseudo-ökologischen
Energiepolitik der Bundesregierung. Zuvor gab es eine
ähnliche Nummer bei der Brennelementesteuer. Sie ha-
ben den angekündigten Gesetzentwurf zur Einführung
der Brennelementesteuer im September kurzfristig von
der Tagesordnung genommen. Warum? Um zunächst in
Hinterzimmern mit der Energiewirtschaft darüber zu
verhandeln, welche Weihnachtsgeschenke die Damen
und Herren von der Atomlobby denn gern hätten. Die
Atomwirtschaft konnte nicht nur eine deutliche Absen-
kung des Steuersatzes erreichen, sondern auch eine zeit-
liche Befristung der Steuer bis zum Jahr 2016. Mit dem
letztlich verabschiedeten Gesetz werden selbst in diesem
Zeitraum die vom Bund geplanten Einnahmen von jähr-
lich 2,3 Milliarden Euro niemals zu erreichen sein. Legt
man den ursprünglichen Rechenansatz des Bundes-
finanzministeriums zugrunde, ergibt sich ein „Brutto“-
Aufkommen von nur 1,5 Milliarden Euro. Wenn man be-
rücksichtigt, dass es infolge der Brennelementesteuer
weitere steuerliche Mindereinnahmen geben wird, bei-
spielsweise bei der Körperschaftsteuer; bleiben letztlich
netto nur rund 1 Milliarde Euro für den Staatshaushalt
übrig.
Ohne Not wird die soziale und die ökologische Ver-
schuldung in die Höhe getrieben. Schwarz-Gelb schont
die Atomwirtschaft, die energieintensive Industrie und
die industrielle Landwirtschaft bei den Energiesteuern
zulasten von Geringverdienenden und ALG-II-Empfän-
gern und -Empfängerinnen, die ihren Beitrag zur Haus-
haltssanierung uneingeschränkt erbringen müssen.
Diese klientelistische Politik ist sozial ungerecht und
lediglich an kurzfristigen Interessen ausgerichtet. Dabei
gelingt nicht mal die angekündigte Sanierung des Staats-
haushaltes. Die Kollateralschäden dieses Tuns sind dafür
umso größer. Weder das Haushaltsbegleitgesetz 2011
noch der heute zu beratende Gesetzentwurf lassen ein
klares Konzept für eine klimaschutzorientierte Energie-
besteuerung erkennen. Die Bundesregierung kann keine
Auskunft darüber geben, welchen Belastungen Unter-
nehmen durch die Energiebesteuerung unterliegen und
wie sich diese auf deren Wettbewerbsfähigkeit auswir-
ken. Kein Wunder, dass die Wirtschaft es so leicht hatte,
die schwarz-gelben Vorschläge aufzuweichen, wenn die
politische Diskussion mit Behauptungen statt mit Fakten
geführt wird.
Wir leisten uns im Bereich Energie zahlreiche milliar-
denschwere Vergünstigungen und Subventionen, die
nicht nur überflüssig sind, sondern die notwendige Um-
stellung der Wirtschaft verzögern und das Klima schädi-
gen. Fast 4,5 Milliarden Euro bei den Strom- und Ener-
giesteuern werden jährlich allein den energieintensiven
Unternehmen selbst nach dem vollmundig angekündig-
ten Subventionsabbau geschenkt. Mineralölhersteller
sind sogar komplett von der Energiesteuer für ihren eige-
nen Energieverbrauch befreit. Kohleverstromung wird
mit insgesamt rund 2 Milliarden Euro gefördert. Auch
andere klimaschädliche Energieträger wie Öl und Uran
erhalten über direkte oder indirekte Wege seit Jahrzehn-
ten Milliarden aus öffentlichen Fördertöpfen.
Es ist an der Zeit, diese Politik der Energiesubventio-
nierung grundsätzlich zu überdenken und zu reformie-
ren. Was wir jetzt brauchen, ist eine Reform der Energie-
steuer, die sich vorrangig am Klimaschutz orientiert.
Dabei müssen berechtigte wirtschaftliche Interessen der
Unternehmen nicht übergangen werden. Klimapolitik ist
nicht wirtschaftsfeindlich. Im Gegenteil. In einer Welt,
in der Energie ein knappes Gut ist, das absehbar teuer
wird, können nur diejenigen Unternehmen im Wettbe-
werb bestehen, die jetzt in Energiemanagementsysteme
investieren, ihre Produktionsprozesse jetzt verändern
und alle Möglichkeiten zur Einsparung von Energien
9168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
(A) (C)
(D)(B)
nutzen. Die Energiebesteuerung kann dazu beitragen, die
notwendige Umstellung der Wirtschaft zu beschleuni-
gen. Mit dem heute vorgelegten Gesetz wird diese
Chance vertan.
Wir hätten erwartet, dass im Bereich der Energiebe-
steuerung wenigstens mal ein Anfang gemacht würde,
um vorhandenen Reformpotenziale anzupacken. Wie das
geht, haben wir in unserem Entschließungsantrag darge-
stellt. Sie hätten sich auf eine Härtefallregelung für Un-
ternehmen verständigen können, die nachweislich im in-
ternationalen Wettbewerb stehen und unzumutbare
entsprechende Änderungsantrag in letzter Minute im
Haushaltsausschuss eingebracht worden war. Doch ei-
nen Vorschlag des Finanzministeriums, der eine
Schlechterstellung der Fernwärme verhindert hätte, lehnt
die Koalition jetzt mit Scheinargumenten ab. Wir haben
gemeinsam mit der SPD einen Änderungsantrag gestellt,
der genau diesen Punkt aufgreift. Aber auch hier verwei-
gert die Koalition die Zustimmung. Damit nehmen Sie
bewusst in Kauf, dass diejenigen, die mit dieser klima-
freundlichen Energie heizen, demnächst mehr zahlen
müssen.
Nachteile durch höhere Energiesteuern erfahren. Sie hät-
ten mögliche Steuererleichterungen an die Bedingung
knüpfen können, dass die Unternehmen Energiemanage-
mentsysteme einführen.
Stattdessen setzen Sie weiter auf pauschale Vergünsti-
gungen für alle Unternehmen des produzierenden Ge-
werbes und machen keine Vorschläge, wie sichergestellt
werden kann, dass diese ihre Potenziale zur Steigerung
der Energieeffizienz nutzen.
Wir fordern, klimaschädliche Subventionen zielge-
richtet abzubauen und Steuervergünstigungen nur dort
zu gewähren, wo wirtschaftliche Verwerfungen verhin-
dert werden müssen oder umweltverträglichere Energie-
nutzung gefördert werden soll. Ihr Gesetzentwurf tut ge-
rade das Umgekehrte, und das in einer ganzen Reihe von
Punkten. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläu-
tern.
Erstens: Die Obergrenze für die Subventionierung des
Agrardiesels wird mit diesem Gesetzentwurf abge-
schafft. Damit werden in erster Linie flächenstarke land-
wirtschaftliche Großbetriebe gefördert. Das schwächt
die Anreize, verstärkt Pflanzentreibstoffe einzusetzen
und Energie einzusparen. Zusätzlich müssen im Gegen-
zug im Agrarhaushalt Einsparungen bei Förderprogram-
men wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und
Küstenschutz vorgenommen werden. Förderung von
Großbetrieben statt zielgerichteter Maßnahmen zur Ver-
besserung der Agrarstruktur und des Umweltschutzes:
Das ist kein Klimaschutz, das ist Klimaschädigung. Mit
einer Zustimmung zu unserem Änderungsantrag hätten
Sie das vermeiden können. Zweitens: Im Rahmen des
Haushaltsbegleitgesetzes wollte Schwarz-Gelb das soge-
nannte Scheincontracting unterbinden – eine durchaus
sinnvolle Maßnahme. Als Kollateralschaden wurde aber
in Kauf genommen, dass die ökologisch sinnvolle Fern-
wärme steuerlich schlechtergestellt wird. Wir dachten
zuerst, dass dies aus Unkenntnis geschehen ist, da der
Davon sind besonders die Menschen in Ostdeutsch-
land betroffen, wo fast jeder dritte Haushalt mit Fern-
wärme versorgt wird. Allein in Berlin sind es über
600 000 Haushalte. Deren Vertrauensschutz spielt offen-
bar keine Rolle. Schwarz-Gelb gibt dem Begriff „soziale
Kälte“ damit eine besonders geschmackvolle neue Fa-
cette. Gleichzeitig wird aber auch dem Ausbau der ener-
gieeffizienten und klimafreundlichen Kraft-Wärme-
Kopplung massiv geschadet.
Wenn im gleichen Atemzug Subventionen für fossile
Brennstoffe und energieintensive Prozesse – zum Bei-
spiel für einen der rentabelsten Zweige der chemischen
Industrie, der Herstellung von Industriegasen – ausbaut
werden, wird deutlichen: Trotz grünem Deckmäntelchen
spielt der Umwelt- und Klimaschutz bei den schwarz-
gelben Plänen keine wesentliche Rolle. Im Gegenteil. Ihr
praktisches Handeln konterkariert die ambitionierten
Klimaziele Deutschlands. Diese Schizophrenie kostet
Milliarden – heute im Bundeshaushalt und morgen bei
der Bekämpfung der negativen Folgen des Klimawan-
dels.
Die Idee einer ökologischen Finanzreform wird mit
der pseudo-ökologischen Politik der Bundesregierung
gründlich diskreditiert. Wer sich als Nächstes an das
schwierige Unterfangen macht, dem Prinzip „tax bads,
not goods“ zum Durchbruch zu verhelfen, hat es nach
der Verabschiedung dieses missratenen Gesetzes nicht
gerade leichter. Der Gesellschaft, aber auch der Wirt-
schaft selbst erweisen Sie von Schwarz-Gelb damit ei-
nen Bärendienst.
Man kann sich darüber streiten, ob nun ökologische
Blindheit oder Klientelismus die schwarz-gelbe Finanz-
und Haushaltspolitik bestimmt. Eins ist klar: der Preis,
den wir als Gesellschaft für die unsozialen und ökolo-
gisch schädlichen Entscheidungen der Regierung Merkel
zu zahlen haben, steigt.
81. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6