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        sammlung des Europarates
        ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung der NATO
        schlossen hat, finde ich schon seltsam. Ich gehe auch da-
        von aus, dass Herr Neumann die Gelder nicht konzep-
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        Bätzing-Lichtenthäler,
        Sabine
        SPD 16.12.2010
        Brunkhorst, Angelika FDP 16.12.2010
        Bülow, Marco SPD 16.12.2010
        Burchardt, Ulla SPD 16.12.2010
        Friedhoff, Paul K. FDP 16.12.2010
        Haibach, Holger CDU/CSU 16.12.2010*
        Hempelmann, Rolf SPD 16.12.2010
        Hintze, Peter CDU/CSU 16.12.2010
        Lötzer, Ulla DIE LINKE 16.12.2010
        Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16.12.2010
        Nord, Thomas DIE LINKE 16.12.2010
        Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16.12.2010
        Özoğuz, Aydan SPD 16.12.2010
        Pols, Eckhard CDU/CSU 16.12.2010
        Rix, Sönke SPD 16.12.2010
        Schlecht, Michael DIE LINKE 16.12.2010
        Schmidt (Aachen), Ulla SPD 16.12.2010**
        Scholz, Olaf SPD 16.12.2010
        Schreiner, Ottmar SPD 16.12.2010
        Dr. Schwanholz, Martin SPD 16.12.2010
        Süßmair, Alexander DIE LINKE 16.12.2010
        Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 16.12.2010
        Ziegler, Dagmar SPD 16.12.2010
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Antrags: 60 Jahre Charta der
        deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung
        vollenden (Tagesordnungspunkt 15)
        Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Ich verstehe
        nicht, warum Sie diesen Antrag jetzt vorlegen. Der
        60. Jahrestag der „Charta der Heimatvertriebenen“ war
        im August. Mittlerweile ist Dezember. Sie hatten vier
        Monate Zeit, einen ordentlichen Antrag zu verfassen.
        Das hier ist ein unbedachter Schnellschuss – als hätte je-
        mand festgestellt: Das Jahr geht plötzlich zu Ende. Sie
        hätten den Antrag erst einmal in Ruhe in Ihren Fraktio-
        nen beraten sollen, bevor Sie ihn auf die Tagesordnung
        im Plenum setzen, wie es den normalen parlamentari-
        schen Gepflogenheiten entspricht.
        Ich verstehe auch nicht, warum Herr Neumann und
        Herr Westerwelle in ihren Fraktionen nicht eingeschrit-
        ten sind. Der Antrag wirkt, als hätten wir die letzten
        Jahre nicht über das Thema debattiert, als hätte es keinen
        Parlamentsbeschluss zur Stiftung „Flucht, Vertreibung,
        Versöhnung“ gegeben, als wäre die Regierung untätig
        geblieben.
        Es ist eine bizarre Situation: Ich als Oppositionspoli-
        tiker muss Ihnen erklären, was Ihre Regierung bisher un-
        ternommen hat und welche Position Ihre Minister vertre-
        ten. Aber da es in Ihren Fraktionen bisher niemand ge-
        macht hat, übernehme ich das jetzt:
        Erstens: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
        nung“ muss nicht „vorangebracht“ werden, wie es in Ih-
        rem Antrag heißt. Sie besteht bereits und hat in diesem
        Jahr – endlich – konzeptionelle Eckpunkte für die Dau-
        erausstellung vorgelegt. Die Stiftung erhält jährlich
        2,5 Millionen Euro. Im nächsten Jahr wird es einen Ar-
        chitektenwettbewerb zur baulichen Gestaltung des
        Deutschlandhauses geben. Das hat der BKM im Septem-
        ber dieses Jahres mitgeteilt. – Was die Stiftung wirklich
        „voranbringen“ würde, wäre der Rückzug von Arnold
        Tölg und Hartmut Saenger, also der beiden kritisierten
        stellvertretenden Stiftungsratsmitglieder des BdV. So
        ließe sich der Zentralrat der Juden vielleicht wieder für
        eine Mitarbeit gewinnen.
        Zweitens: Die Bundesregierung hat ein akademisches
        Förderprogramm zur „Erhaltung und Auswertung deut-
        scher Kultur und Geschichte im östlichen Europa“ auf-
        gelegt und dafür im nächsten Jahr 800 000 Euro zur Ver-
        fugung gestellt. Bis 2014 sollen es 3,2 Millionen Euro
        sein. – Ich halte das für übertrieben, weil ich den postu-
        lierten Nachholbedarf in der Forschung nicht erkennen
        kann. – Aber dass die Koalition die eigene Regierung
        auffordert, mehr für die Forschung in diesem Bereich zu
        tun, nachdem sie gerade erst ein Förderprogramm be-
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        tionslos vergeben wird, wie es ihm die eigene Fraktion
        irgendwie unterstellt.
        Drittens: Sowohl Bundestagspräsident Norbert
        Lammert als auch Minister Thomas de Maizière haben
        sich gegen den Vorschlag gewandt, den 5. August zum
        bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung
        zu erheben. Für den Bundestagspräsidenten gibt es in-
        zwischen so viele routinemäßige Jahrestage, dass der
        „eigentliche Zweck“ solcher Gedenktage damit „eher
        versperrt als wirklich akzentuiert“ werde. Aus Sicht des
        Innenministers bietet der Volkstrauertag gute Möglich-
        keiten des Gedenkens. Ich stimme beidem ausdrücklich
        zu und fordere Sie auf, werte Kollegen der Regierungs-
        fraktion, es auch zu tun.
        Ich möchte nun ein paar Anmerkungen zum Antrag
        und zur Charta der Heimatvertriebenen machen.
        Frau Steinbach hat am 5. August bei der Festveran-
        staltung zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um
        ein Zeitzeugnis handelt, das im historischen Kontext er-
        läutert werden muss. Die Charta hat zur Integration von
        Millionen von Vertriebenen beigetragen – auch und ge-
        rade durch den Verzicht auf Rache und Vergeltung.
        Mehrfach haben aber Historiker darauf hingewiesen,
        dass man nur auf etwas verzichten kann, worauf man ei-
        nen Anspruch hat. Die Deutschen hatten aber nach dem
        von ihnen begonnenen Krieg keinen Anspruch, kein
        Recht auf Rache – darin sind wir uns hoffentlich einig.
        Der von Deutschland begonnene Weltkrieg mit all
        dem Elend, das er über Europa gebracht hat, ist der Ver-
        treibung der Deutschen vorausgegangen. – Dazu findet
        sich in der Charta kein einziges Wort. Kein Wort dazu,
        dass die Deutschen versucht haben, ein ganzes Volk aus-
        zurotten. Stattdessen heißt es:
        Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung
        am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom
        Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen emp-
        finden.
        Als hätte es den Holocaust nicht gegeben!
        Ralph Giordano, der Überlebende, bezeichnet die
        Charta als „ein überzeugendes Dokument innerer Bezie-
        hungslosigkeit zur Welt der Naziopfer, der unaufhebba-
        ren unkaschierbaren Ferne zu ihrer Gefühls- und Lei-
        densgeschichte“. Und Micha Brumlik sagt, dass in der
        Charta „Verleugnung und Verdrängung des Nationalso-
        zialismus in geradezu idealtypischer Weise zum Aus-
        druck kommen“.
        Die Charta ist also gewiss und bestenfalls ein Zeit-
        zeugnis, das übrigens von vielen ehemaligen Nazis ver-
        fasst wurde. Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie diese
        Charta jetzt zu einem gewissermaßen kanonischen Text
        erheben wollen, der als Grundlage der Versöhnung die-
        nen soll. Von Versöhnung ist in der Charta überhaupt
        keine Rede.
        Und – schlimmer noch – ich finde es erschreckend,
        dass die Koalition auch 60 Jahre nach dem Verfassen der
        Charta der Heimatvertriebenen noch nicht viel weiter zu
        sein scheint. Ein einziger Satz findet sich im Antrag zur
        Verantwortung der Deutschen am Zweiten Weltkrieg
        und dessen Folgen – ein Alibisatz. Die historische Ein-
        ordnung der Vertreibung der Deutschen fehlt völlig.
        Bereits im ersten Absatz des Antrages heißt es:
        Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb
        mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in
        ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen
        waren.
        Vielmehr müsste der Satz lauten: Die Deutschen neh-
        men Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibi-
        lität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte
        massiv andere Völker vertrieben, unendliches Leid über
        sie gebracht haben, andere Völker vernichteten und in-
        folgedessen auch selbst von Vertreibungen betroffen wa-
        ren.
        Ich kann auch nicht nachvollziehen, warum Sie von
        der Stigmatisierung der Vertriebenen sprechen. Es hat zu
        Beginn der Bundesrepublik gewiss Diskriminierung von
        Vertriebenen gegeben. Sie wurden von der ansässigen
        Bevölkerung als Eindringlinge behandelt. Es war eben
        eine „kalte Heimat“, in die sie gekommen sind. In der
        DDR wurde ihr Schicksal völlig tabuisiert. Aber heute
        noch davon zu sprechen, es sei längst überfällig, „die
        Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung
        sowie deren Nachkommen zu beenden“, missachtet die
        große Integrationsleistung der alten Bundesrepublik und
        die Anstrengungen der Vertriebenen, die nicht genug ge-
        würdigt werden können.
        Ja, zur Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik
        gehört die Integration von Millionen Flüchtlingen und
        Vertriebenen. An dieser Leistung haben die Vertriebenen
        selbst den größten Anteil – dank ihres Fleißes, ihrer Inte-
        grationsbereitschaft, ihres politischen Engagements. Von
        Stigmatisierung sollte also vernünftigerweise keine Rede
        mehr sein.
        Das Problem heute ist eher die Selbststigmatisierung
        der Vertriebenenpolitiker. Sie hatten mit ihren radikalen
        Positionen und der Ablehnung der Ostpolitik selbst zu
        ihrem schlechten Image beigetragen. Und einige der
        heutigen Vertriebenenpolitiker pflegen mit ihren Äuße-
        rungen dieses Image – erinnert sei an die Diskussion im
        Sommer zum Thema Kriegsschuld. Der vorliegende An-
        trag leistet wieder einen Anteil dazu. Das schadet dem
        Anliegen, der Opfer von Flucht und Vertreibungen zu
        gedenken und die Integrationsleistung der Vertriebenen
        zu würdigen. Sie sollten den Antrag zurückziehen.
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Freie und gleiche
        Wahlen in Belarus einfordern – Menschen-
        rechtslage verbessern (Tagesordnungspunkt 17)
        Erika Steinbach (CDU/CSU): Am Sonntag wählen
        die Bürger Weißrusslands den Präsidenten ihres Landes.
        Nach den Berichten der Wahlbeobachter zu den letzten
        Wahlen in Weißrussland und anlässlich der Notrufe der
        NROs aus Weißrussland gibt es berechtigten Grund zur
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        Sorge. Es scheint, dass auch diese Wahlen wieder zu ei-
        ner Farce geraten.
        Demokratische Wahlen legitimieren Herrschaft auf
        Zeit. In den Blick genommen werden muss jedoch vor
        allem die ungeheure Kraft der Legitimation, die freie,
        geheime und unabhängige Wahlen entfalten. Sie sind es,
        die den Gewählten des Volkes die Kraft zum Handeln
        geben.
        Alexander Lukaschenko hat 1994 in freien Wahlen
        das Präsidentenamt erreicht. Er hat seinen Bürgern Si-
        cherheit in den Zeiten des Aufbruchs versprochen und
        begonnen, dieses Projekt in den notwendigen Reformen
        nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion umzuset-
        zen. Das ist über 15 Jahre her.
        Leider blieb die Möglichkeit zu positivem Handeln
        weitgehend ungenutzt. In diesem Zeitraum veranlasste
        Lukaschenko zwei Verfassungsreferenden. Mit dem Re-
        ferendum von 2004 wurde dem amtierenden Präsidenten
        eine lebenslange Amtszeit ermöglicht. Dazu war eine
        Verfassungsänderung nötig, denn nach vormaliger Ver-
        fassung konnte der Präsident wie in den Vereinigten
        Staaten höchstens für zwei Amtszeiten als Staatsober-
        haupt tätig sein. 86,2 Prozent der Wähler stimmten dem
        Referendum der Verlängerung der Amtszeit den Anga-
        ben belarussischer Behörden zufolge zu. Bei den gleich-
        zeitig stattfindenden Parlamentswahlen wurde kein
        Kandidat der Opposition gewählt. Die OSCE-Wahlbe-
        obachtung sprach von umfangreichen Verletzungen de-
        mokratischer Standards.
        Ein starker Präsident, der in seinem Staate so etwas
        duldet oder sogar zu verantworten hat, entwürdigt sich.
        Bereits das Verfassungsreferendum von 1996, das
        dem Präsidenten umfangreiche Rechte zugewiesen hat
        und das Recht de facto außer Kraft setzte, damit der Prä-
        sident regieren kann, war ein verkehrter Schritt des Prä-
        sidenten. Überall, wo wir dies in anderen Staaten be-
        obachten mussten, hat es den Staatschefs nicht gutgetan,
        wenn sie zu solchen Mitteln greifen mussten, um sich an
        der Macht zu halten. Demokratie und Menschenrechte
        werden damit ausgehebelt.
        Heute gibt es massive Restriktionen gegen die Presse.
        Meinungs- und Pressefreiheit werden mit administrati-
        ven Repressionsmaßnahmen gefügig gehalten. Unab-
        hängige Medien verlieren schnell ihre Existenzgrund-
        lage. Ausländischen Journalisten wird immer wieder die
        Akkreditierung verweigert. Die Einbindung unabhängi-
        ger Journalisten in einen Koordinationsrat für die Mas-
        senmedien verbesserte die grundlegende Situation nicht.
        Auch in anderen Bereichen zeigt sich die weißrussi-
        sche Regierung hartleibig: Im März dieses Jahres wur-
        den wieder zwei Hinrichtungen vollstreckt, es kam auch
        in diesem Jahr wieder zu zwei neuen Verurteilungen. Die
        auf Druck der Europäischen Union eingerichtete Ar-
        beitsgruppe des belarussischen Parlaments zur Erarbei-
        tung eines Moratoriums für die Todesstrafe hat nichts
        oder nur sehr wenig vorzuweisen. Das ist bei den parla-
        mentarischen Machtverhältnissen schließlich auch kein
        Wunder.
        Die Situation für kritische Onlinejournalisten und In-
        ternetnutzer hat sich seit dem Sommer weiter ver-
        schlechtert. Ein Erlass schränkt die Internetfreiheit noch
        einmal erheblich ein. Der belarussische Staat sichert sich
        damit den Zugriff und die weitreichende Kontrolle über
        die ins Internet gestellten Inhalte. Wieder ein sicheres
        Zeichen für Meinungsbegrenzung.
        Mit der Unterdrückung unabhängiger Medien und ge-
        steuerter Propaganda des Regimes wird die öffentliche
        Meinung so gelenkt, dass die Bürger Weißrusslands vie-
        les nicht erfahren. Das sind Maßnahmen, die auf den
        simplen Machterhalt zielen.
        In diese Reihe passen nun auch die Wahlen: Neun
        Kandidaten treten gegen den amtierenden Präsidenten
        an. Die schwache Opposition war aber nicht in der Lage,
        einen Kandidaten mit wahrnehmbaren Chancen aufzu-
        stellen. Alles macht den Eindruck einer Inszenierung,
        bei der der Amtsinhaber sich eine Opposition hält. De-
        mokratie verkommt so zu einer Inszenierung nach den
        Spielregeln des Amtsinhabers.
        Damit diese Präsidentschaftswahlen auch wie am
        Schnürchen funktionieren, greift die Regierung selbst zu
        polizeilichen, administrativen Druckmitteln gegen die
        Opposition, die Zivilgesellschaft und unabhängige Me-
        dien. Menschenrechtsorganisationen und demokratische
        Gruppen werden behindert, ihre Arbeit in Teilen sogar
        verhindert. Art. 193.1 des belarussischen Strafgesetzbu-
        ches sieht Strafverfahren vor, wenn nichtregistrierte Or-
        ganisationen aktiv werden. Sogar Haftstrafen drohen: bis
        zu zwei Jahre Gefängnis. Fast unnötig zu erwähnen, dass
        genau diese Registrierung den Organisationen seit Be-
        ginn dieses Jahres zunehmend erschwert wird. Wenn
        junge Oppositionelle entführt werden, um sie einzu-
        schüchtern, müssen alle Alarmglocken läuten.
        All diese Rahmenbedingungen lassen nichts Gutes er-
        warten.
        Wir sehen mit großer Sorge den Wahlen in Belarus
        am Wochenende entgegen.
        Uta Zapf (SPD): Der Antrag der Regierungskoalition
        im Vorfeld der Wahlen ist eigentlich überflüssig. Natür-
        lich ist es wichtig, genau hinzusehen, was bei den Wah-
        len in Belarus geschieht, und inwieweit sich in den letz-
        ten Jahren eine Entwicklung in eine positive Richtung
        feststellen lässt oder nicht. Davon hängt auch die Mög-
        lichkeit ab, ob wir die Kooperation zwischen der Euro-
        päischen Union und Belarus zügig ausbauen können.
        Diese Wahlen sind der Lackmustest, ob es wirkliche
        Fortschritte in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaat-
        lichkeit in Belarus gibt. Ich hoffe das, bin aber äußerst
        skeptisch, wenn ich mir die Entwicklung in Belarus in
        der letzten Zeit ansehe. Wichtig ist daher, nach den Wah-
        len eine Beurteilung vorzunehmen. Wir werden uns bei
        der Abstimmung deshalb enthalten.
        Es gab seit dem Non-Paper der Europäischen Union
        vom November 2006, in dem Belarus eine Zusammenar-
        beit unter bestimmten Bedingungen angeboten wurde,
        sichtbare Ereignisse, die eine gewisse, vorsichtige Hoff-
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        nung aufkommen ließen. Es wurden fast alle politischen
        Gefangenen freigelassen; die Überarbeitung der Gesetze
        für Medien und der Wahlgesetze sollte angegangen wer-
        den.
        Die Europäische Union hat darauf mit dem Angebot
        der Östlichen Partnerschaft reagiert, in die auch Belarus
        eingeschlossen werden sollte. Dieses Tauwetter ermög-
        lichte auch, dass im Rahmen der Arbeit der Ad-hoc Wor-
        king Group on Belarus der OSZEH-Parlamentarierver-
        sammlung Seminare durchgeführt wurden, bei denen ein
        Dialog zwischen Vertretern der Administration, der Par-
        lamentarier, der belarussischen Zivilgesellschaft und der
        Opposition ermöglicht wurde. Man hat gesehen, dass es
        doch geht.
        Allerdings stagniert diese Entwicklung inzwischen,
        um nicht zu sagen, sie ist rückläufig. Die Entwicklung
        der Zivilgesellschaft und die Möglichkeit zu unabhängi-
        gem und pluralistischem politischem Engagement wird
        seitens der Regierung wieder vermehrt verhindert.
        Ich will nur einige Punkte aufzählen:
        Die Möglichkeit der Registrierung von Nichtregie-
        rungsorganisationen wird restriktiv gehandhabt.
        Politischen Parteien wird zum Teil die Registrierung
        verweigert.
        Es finden willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsu-
        chungen, Beschlagnahmungen von Arbeitsmitteln wie
        Computern statt, und es werden Prozesse mit dubiosen
        Anklagen initiiert, um Oppositionelle mundtot zu machen.
        Ein weiterer wichtiger und für uns zentraler Punkt ist
        die Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe.
        Der Europarat hat die Gastmitgliedschaft von Belarus
        deswegen ausgesetzt. Es ist notwendig, dass Belarus,
        wenn es Mitglied des Europarates werden will, die To-
        desstrafe abschafft. Ein unverzichtbares Signal wäre die
        Erklärung eines sofortigen Moratoriums, die Zusage, die
        Todesstrafe abzuschaffen und die sofortige Einleitung
        eines entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens.
        Auf die Bedeutung der Wahlen am kommenden Wo-
        chenende habe ich schon hingewiesen. Auch wenn es im
        Einzelnen einige Verbesserungen gegeben hat, so muss
        man nach einer ersten Bewertung der Vorbereitungen
        und des Wahlkampfes sagen, dass noch einiges im Argen
        liegt.
        Es gab bei der Vorbereitung der Wahlen und im Wahl-
        kampf gegenüber dem letzten Mal Verbesserungen. Al-
        lerdings kann man noch nicht von einem qualitativen
        Sprung sprechen.
        Besorgniserregend ist aus meiner Sicht, dass kaum
        Vertreter oppositioneller Parteien in den Wahlkommis-
        sionen vertreten sind.
        Die Wahlgesetzgebung wurde verbessert, aber das
        Problem des „early voting“ besteht noch immer. Wir alle
        wissen, dass in dieser Phase, die zeitgleich zur Endphase
        des Wahlkampfes läuft, in der Vergangenheit massive
        Wahlfälschungen stattfanden. Die ungleichen Möglich-
        keiten, die die Kandidaten bei den Wahlkampfmitteln im
        Wahlkampf haben, stellen eine Benachteiligung opposi-
        tioneller Kandidaten dar.
        Sowohl in der Frage der Finanzierung wie auch in der
        Präsenz in den Medien sind die Oppositionskandidaten
        im Nachteil. Zwar hat sich die Situation etwas verbes-
        sert. Es ist jedoch Fakt, dass der Präsident über ein höhe-
        res Budget verfügt und mehr und direkten Zugang zu
        den Medien hat. Das kann durch die jetzt spärlich ge-
        währten Auftritte für Oppositionskandidaten in Fernse-
        hen und Radio nicht ausgeglichen werden, zumal die
        Moderation im Fernsehen nach meinen Informationen
        nicht neutral sondern pro Lukaschenko ist.
        Die Wahlbeobachter hatten in der Vergangenheit
        keine Möglichkeiten, die Wahlergebnisse systematisch
        zu überprüfen. Ich selbst habe seit 2001 an allen Wahlbe-
        obachtungen teilgenommen und kann dies bezeugen.
        Manipulationen, sei es aufgrund der Unkontrollierbar-
        keit des Wahlvorganges, sei es aufgrund von Druck, der
        zum Beispiel in Betrieben von der Betriebsleitung auf
        die Wählerinnen und Wähler ausgeübt wird, sind üblich
        gewesen.
        Ich hoffe, dass die Wahlbeobachter alle Phasen des
        Wahlvorgangs beobachten können, damit die Auswer-
        tung der Wahlen auf einer realistischen Grundlage statt-
        finden kann. Das heißt, dass sie vollen Zugang zu den
        Wahlvorgängen selbst, zu den Auszählungen bekommen
        und den gesamten Ablauf beobachten können. Ich selbst
        kann aus meiner Erfahrung berichten, dass dies in der
        Vergangenheit nicht der Fall war.
        Es muss gesichert sein, dass die Wahlbeobachter und
        Vertreter der Presse alle relevanten Dokumente und Auf-
        zeichnungen erhalten, um auf einer soliden Basis die
        Wahl beurteilen zu können.
        Die Ergebnisse der Wahlen sollen auf jeder Ebene,
        von den Wahllokalen bis zur Gesamtauszählung, nach-
        vollziehbar und transparent sein und ohne Verzögerung
        veröffentlicht werden. Nur so ist eine seriöse Beurtei-
        lung der Wahl, ihres Verlaufs und ihres Ergebnisses
        möglich. Wir sollten dies anhand der Berichte der Wahl-
        beobachter und von ODIHR prüfen und dann diskutie-
        ren.
        Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg ziem-
        lich einig über die Frage, wie wir mit Belarus umgehen.
        Wir haben in der Vergangenheit die Hand zum Dialog
        ausgestreckt. Dies war und ist richtig. Aber in Belarus
        muss sich noch einiges grundsätzlich ändern, muss die
        Missachtung von Menschenrechten aufhören und
        Rechtsstaatlichkeit hergestellt werden, Medienfreiheit
        und politische Pluralität möglich sein. Dann können die
        Angebote der Europäischen Union auch umgesetzt wer-
        den.
        Marina Schuster (FDP): Wir sprechen heute über
        die anstehenden Wahlen und die Menschenrechtslage in
        Belarus. Es pfeift ein eisiger Wind durch Minsk und
        ganz Belarus – und das hängt nicht nur mit der winterli-
        chen Jahreszeit zusammen. Doch bevor ich auf die
        schwierige Menschenrechtssituation zu sprechen
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9147
        (A) (C)
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        komme, möchte ich eine Nachricht aufgreifen, die wir
        ausdrücklich begrüßen.
        Belarus will seine Vorräte an hochangereichertem
        Uran bis zum Jahr 2012 beseitigen. Eine entsprechende
        Einigung erreichten der belarussische Außenminister
        Sergej Martynow und US-Außenministerin Hillary
        Clinton am 1. Dezember am Rande des OSZE-Gipfels in
        Kasachstan. Diese Selbstverpflichtung begrüßt die FDP-
        Bundestagsfraktion sehr, jedoch nicht ohne deren tat-
        sächliche Umsetzung mit gleichem Nachdruck einzufor-
        dern. Denn wie immer gilt: Den Worten müssen auch Ta-
        ten folgen.
        Aus Belarus hörten wir hoffnungsvolle Signale. Die
        Aufnahme des Landes in die Östliche Partnerschaft vor
        über einem Jahr, die zunehmende Öffnung der belarussi-
        schen Wirtschaft wie auch die Freilassung von politi-
        schen Häftlingen gaben zunächst Anlass zur Hoffnung
        auf eine Heranführung an die EU und die Stärkung de-
        mokratischer Standards.
        Doch spätestens nach den Kommunalwahlen im
        April 2010 setzte breite Ernüchterung ein. Wenngleich
        sich die Menschenrechtssituation für Angehörige der
        Opposition im Vergleich zu den Kommunalwahlen im
        Jahr 2010 und den letzten Präsidentenwahlen leicht ver-
        bessert hat, beklagen oppositionelle Gruppen, Men-
        schenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen
        nach wie vor staatliche Behinderungen ihrer Arbeit.
        Aufgrund fortbestehender schwerwiegender Defizite im
        Menschenrechts- und Rechtsstaatsbereich hat sich am
        faktischen Sonderstatus Belarus innerhalb der Östlichen
        Partnerschaft daher nicht viel geändert. Die Parlamenta-
        rische Versammlung des Europarats, der ich angehöre,
        hat im April 2010 beschlossen, Kontakte zu Parlament
        und Regierung von Belarus einzufrieren, weil spürbare
        Fortschritte bei den Menschenrechten ausblieben. Es
        müsste doch eigentlich das Ziel der belarussischen Re-
        gierung sein, möglichst bald wieder als volles Mitglied
        zurück in die Parlamentarische Versammlung zu kom-
        men. Deswegen fordere ich die belarussische Regierung
        auf, Menschenrechte zu achten und zu gewährleisten.
        Dass die Menschenrechte nicht die ihnen gebührende
        Aufmerksamkeit erhalten, zeigt sich bereits daran, dass
        Belarus als einziges Land in Europa an der Todesstrafe
        festhält. Laut Amnesty International wurde die Todes-
        strafe seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991
        in circa 400 Fällen vollstreckt. Am 14. Mai 2010 wurden
        zwei Menschen wegen Mordes und Raubes zum Tode
        verurteilt. Am 14. September 2010 erfolgte ein weiteres
        Todesurteil. Dies verurteilen wir scharf.
        Es gibt allerdings Hinweise, dass das Parlament nach
        den kommenden Präsidentschaftswahlen ein Morato-
        rium für die Vollstreckung der Todesstrafe beschließen
        könnte. Diese Initiative, die auf Druck der EU zustande
        gekommen ist, weist in die richtige Richtung. Denn die
        Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche Be-
        strafung und muss weltweit abgeschafft werden.
        Aber auch bei anderen fundamentalen Grundfreihei-
        ten weist Belarus noch immer Defizite auf. Freie Mei-
        nungsäußerungen, Versammlungsfreiheit und freier
        Zugang zu Informationen, die allesamt nach der belarus-
        sischen Verfassung gewährt werden, existieren de facto
        nicht. Dabei sind sie Kernelemente einer funktionieren-
        den Demokratie.
        Mit Blick auf die Präsidentenwahl greift das Regime
        erneut auf das gesamte Repertoire polizeilicher, adminis-
        trativer und gerichtlicher Druckmittel gegen die Opposi-
        tion, die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien zu-
        rück. Es reicht von der Nichtzulassung unabhängiger
        Berichterstattungen, Durchsuchungen und Verboten von
        NGOs unter fingierten Vorwänden über willkürliche Ge-
        richtsverfahren gegen unbequeme Einzelpersonen oder
        Organisationen. Besonders gravierend waren Einschüch-
        terungsversuche durch Entführungen jüngerer oppositio-
        neller Aktivisten Ende 2009. Im Vorfeld der Kommunal-
        wahl 2010 ging die Polizei gegen harmlose, unan-
        gemeldete Straßenaktionen der Opposition wiederholt
        mit unverhältnismäßiger Härte vor. Es kommt immer
        wieder landesweit zu kurzzeitigen Inhaftierungen und
        Übergriffen der Polizei sowie der Sicherheitsorgane.
        Teilnehmer an nicht genehmigten Demonstrationen müs-
        sen mit Geld- und Arreststrafen rechnen. Einige regime-
        kritisch gesinnte junge Männer wurden in die Armee re-
        krutiert, um ihnen so ihr Betätigungsfeld zu nehmen.
        Ich möchte an dieser Stelle Bundesaußenminister Dr.
        Guido Westerwelle danken. Er hat bei seinem Besuch in
        Belarus – als erster deutscher Außenminister seit 15 Jah-
        ren – Anfang November dieses Jahres gemeinsam mit
        seinem polnischen Amtskollegen Sikorski demokrati-
        sche Wahlen bei Staatschef Lukaschenko eingefordert.
        Wie der Außenminister sagen auch wir, dass es nur einen
        Weg nach Europa gibt: Er führt über freie und faire Wah-
        len sowie die Einhaltung von Menschenrechten und in-
        ternationalen Rechtsstandards.
        Diese Wahlen werden zeigen, wie weit die belarussi-
        sche Bereitschaft zur Demokratie reicht. Erste Zeichen
        deuten darauf hin, dass diese Bereitschaft nur gering
        ausgeprägt ist. Es ist zu beobachten, dass die Opposition
        wie auch bei allen Wahlen der vergangenen Jahre keinen
        freien Zugang zu den Medien hat. Die Opposition hat
        kaum Möglichkeiten, Vertreter in die Wahlkommission
        zu entsenden. Deswegen ist es wichtig und erforderlich,
        dass unabhängige Wahlbeobachter den gesamten Wahl-
        prozess verfolgen können.
        Dass die EU im Rahmen der Östlichen Partnerschaft
        gemeinsame Werte einfordert, wobei Freiheit und De-
        mokratie unabdingbare Voraussetzungen sind, wird von
        belarussischer Seite gerne vergessen.
        Daher ist es nur konsequent, dass Außenminister
        Westerwelle bei seinem Gespräch mit Lukaschenko als
        auch wir mit unserem Antrag immer wieder daran erin-
        nern, dass wir einen Dialog mit messbaren Ergebnissen
        anstreben.
        Die Bundesregierung wird die Menschenrechtslage in
        Belarus genau beobachten und Missstände gegenüber
        der belarussischen Staatsführung ansprechen. Die klaren
        und zielgerichteten Forderungen unseres Antrags richten
        sich an die belarussische Regierung:
        9148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
        (A) (C)
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        Wir fordern demokratische Standards für diese und
        zukünftige Wahlen, wir fordern die Abschaffung der To-
        desstrafe und die Gewährleistung von Menschen- und
        Freiheitsrechten, und wir fordern ein unabhängiges Jus-
        tizwesen, das sich ausschließlich an rechtsstaatlichen
        Grundsätzen orientiert und nicht wie bisher an politi-
        schen Weisungen.
        Das belarussische Volk sehnt sich nach demokrati-
        schen Freiheiten. Diesen Wunsch sollten wir unterstüt-
        zen und gemeinsam nach Kräften fördern, damit so bald
        wie möglich nur noch der Winter Schuld an dem eisigen
        Wind hat, der durchs Land pfeift.
        Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Selbstverständ-
        lich sollte der Bundestag sich für die Verbesserung der
        Menschenrechtslage einsetzen – unabhängig davon, in
        welchem Land und welchem Teil der Welt wir es zu tun
        haben, auch im eigenen Land. Die Lage vieler Menschen
        in unserem Land könnte erheblich verbessert werden,
        wenn man die Allgemeine Charta der Menschenrechte
        als Maßstab heranzieht. Je vorbildlicher die Menschen-
        rechte im eigenen Land verwirklicht und gesichert wer-
        den, desto freier kann man über die Menschenrechtslage
        in anderen Ländern reden. Ohne Abstriche wünsche ich
        den Menschen in Belarus, dass die Präsidentschaftswah-
        len frei, geheim und gleich vonstatten gehen, dass die
        Todesstrafe aufgehoben wird, dass Presse- und Mei-
        nungsfreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit überall verwirk-
        licht werden.
        Wenn dies tatsächlich das Anliegen des Antrages
        wäre, hätte man ihm zustimmen können. Dem ist aber
        eben nicht so. Von oben herab wird über Belarus gerich-
        tet. Der Antrag sprüht vor Antikommunismus, wobei die
        Verfasserinnen und Verfasser es offensichtlich noch gar
        nicht mitbekommen haben, dass auch in Belarus kein
        Kommunismus mehr herrscht. Unsensibel wird ein gan-
        zes Land über einen ideologischen Leisten geschlagen.
        Diese Art von Ideologie ist antiaufklärerisch und verstellt
        den Blick auf mögliche Entwicklungen. Die Linke hat
        sich mit der Entwicklung in Belarus immer wieder und
        kritisch auseinandergesetzt, aber diese Art der Rechtha-
        berei ist uns fremd und die wollen wir auch nicht mitma-
        chen.
        Es hätte sich in der Tat gelohnt, den gesellschaftlichen
        Entwicklungen in Belarus wie auch in anderen Ländern,
        denen die von der EU ins Leben gerufene „östliche Part-
        nerschaft“ angeboten wurde, gründlich und differenziert
        nachzugehen. Ein intensiver Dialog, bi- und multilateral,
        setzt voraus, das Leben in den betroffenen Staaten ge-
        nauer zu kennen. Wenn die „östliche Partnerschaft“ sich
        wirklich zu den Grundsätzen des Völkerrechts und der
        Grundfreiheiten bekennt, dann gehört doch wohl auch
        dazu, dass diese Grundsätze und die Grundfreiheiten, die
        man meint, präzise beschrieben werden. Zu den Grund-
        sätzen des Völkerrechts gehört auch, dass die Souveräni-
        tät des jeweiligen Staates anerkannt und geachtet wird.
        Ich habe mir immer das Recht herausgenommen, mich
        mit der Entwicklung in anderen Ländern im eigenen
        Land kritisch auseinanderzusetzen. Eine solche Aus-
        einandersetzung, der Wunsch nach tatsächlichem Dialog
        wird aus dem Text des Antrages nicht sichtbar. Im Ge-
        genteil: Man will nicht beurteilen, sondern verurteilen.
        Werte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
        der FDP, kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross, re-
        den Sie mit anderen Ländern und Völkern nicht in die-
        sem Ton. Das steht Ihnen nicht zu. Sie schaden den Men-
        schenrechten, wenn Sie sie ideologisieren und nach
        eigenem Gutdünken in Anwendung bringen.
        Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Wir beraten heute einen Antrag der Koalition, der
        freie und gleiche Wahlen in Belarus und die Verbesse-
        rung der Menschenrechtslage fordert. Diese Forderun-
        gen sind richtig, und meine Fraktion unterstützt deshalb
        den Koalitionsantrag.
        Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die
        Wahl leider nicht demokratischen Standards genügen
        wird. Sicher gab es im Vorfeld der Wahl eine liberalere
        Atmosphäre, als dies bei vorhergehenden Wahlen der
        Fall war. So wurde eine Reihe von Oppositionskandida-
        ten nach weitestgehend ungehinderter Unterschriften-
        sammlung registriert. Auch wurde den Kandidaten ein
        unzensierter Auftritt im Fernsehen und Radio zugestan-
        den. Spontane Demonstrationen in Minsk wurden nicht
        wie üblich niedergeknüppelt. Und wie bei vorangegan-
        genen Wahlen wurde auch dieses Mal die OSZE zur
        Wahlbeobachtung eingeladen. Aber diese Liberalisierun-
        gen bedeuten keine Demokratisierung, weil sie nicht auf
        einklagbaren Rechten fußen und taktisch ausgewählt
        wurden. Für westliche Beobachter wird auf diese Weise
        der Schein demokratischer Wahlen erweckt, ohne die be-
        stehende Machtbasis infrage zu stellen. Wir alle wissen,
        dass der Grund hierfür der enorme Druck des einstigen
        Verbündeten Russland ist.
        Tatsächlich ist auch diese Wahl von schweren demo-
        kratischen Defiziten gekennzeichnet. So befinden sich
        Radio, Fernsehen und nahezu alle Zeitungen in Staats-
        hand und werden ausgiebig als Propagandainstrumente
        des Präsidenten eingesetzt. Die Website des Staatsfernse-
        hens erinnert an eine Kampagnenseite des Präsidenten.
        Das Portrait Lukaschenkos ist allgegenwärtig. In den
        Wahlkommissionen sind kaum Vertreter der Opposition
        vertreten. Die vorfristige Stimmenabgabe, die seit Montag
        läuft, bietet enorme Manipulationsmöglichkeiten, und die
        Wahlbeobachter der OSZE werden wohl wieder in einem
        gebotenen Abstand der stummen Stimmenauszählung
        beiwohnen, der eine Kontrolle unmöglich macht.
        Ich möchte hier auch darauf hinweisen, dass erneut
        Visa für Mitarbeiter von NGOs aus Deutschland, aber
        auch aus Norwegen verweigert wurden. Offensichtlich
        möchte man keine regimekritischen Gäste am Wahltag
        und bei den zu erwartenden Protesten am Wahlabend in
        Belarus haben. Auch das spricht Bände über den demo-
        kratischen Charakter dieser Wahlen.
        Ich hoffe sehr, dass die EU und Deutschland den un-
        demokratischen Charakter dieser Wahlen ganz klar und
        die absehbare Wiederwahl Lukaschenkos deutlich als
        unrechtmäßig benennen. Dies ist auch eine Frage der
        Glaubwürdigkeit gegenüber dem Regime in Minsk, dass
        nicht darauf rechnen können soll, dass wir sein Spiel ei-
        ner Scheindemokratisierung mitspielen.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9149
        (A) (C)
        (D)(B)
        Gleichwohl ist der eingeschlagene Weg des Dialogs
        mit dem Regime richtig. Aber dieser Dialog sollte in den
        nächsten Monaten genutzt werden, um dem Regime
        echte demokratische Reformen abzufordern. Denn ist
        wenig gewonnen, wenn eine kritische Zeitung gnädiger-
        weise zugelassen wird, aber jederzeit wieder geschlos-
        sen werden kann. Belarus braucht ein Mediengesetz, das
        eine unabhängige Presse ermöglicht. Belarus braucht
        eine unabhängige Justiz, die sich nicht für politische
        Prozesse instrumentalisieren lässt. Belarus braucht ein-
        klagbare demokratische Grundrechte wie Versamm-
        lungs- und Meinungsfreiheit und ein Moratorium für die
        Todesstrafe. Und Belarus braucht ein demokratisches
        Parlament statt Dekrete des Präsidenten und seine Huldi-
        gung durch die Allbelarussische Versammlung.
        Bei dem Dialog mit dem Regime dürfen wir nicht die
        Zivilgesellschaft in Belarus aus den Augen verlieren. Ich
        begrüße sehr, dass bei der Östlichen Partnerschaft, an
        der auch Belarus teilnimmt, die NGOs über das Zivilge-
        sellschaftsforum seit Beginn eingebunden sind. Und ich
        begrüße sehr, dass die Vertreter der EU bei ihren Besu-
        chen in Minsk immer auch Vertreter der Opposition und
        Zivilgesellschaft treffen. Ihr Rat sollte uns Richtschnur
        für unser Handeln gegenüber Belarus sein.
        Die Zivilgesellschaft in Belarus bedarf unserer stärke-
        ren Unterstützung. Wir brauchen einen intensiveren Aus-
        tausch mit den Ländern der EU. Entsprechende Pro-
        gramme für Schüler, Studenten, Auszubildende und
        NGOs wären hilfreich. Aber – und ich werde nicht müde,
        dies immer wieder zu betonen – das Wichtigste ist die
        längst überfällige Einführung von Visumserleichterun-
        gen für Belarus. Die derzeitigen Prozeduren und Gebüh-
        ren sind eine enorme Bürde für den Austausch. Wir haben
        aber ein großes Interesse, dass die jungen Menschen und
        künftigen Eliten demokratische Gesellschaften kennen-
        lernen und mit dem Wunsch nach Veränderung in ihr
        Land zurückkehren. Richtigerweise ist Reisefreiheit eine
        wichtige Säule der Östlichen Partnerschaft. Erste Ver-
        handlungen mit Belarus über Visumserleichterungen sind
        auf dem Weg. Ich hoffe sehr, dass diese bald zum Ab-
        schluss gebracht werden und nicht erneut als Verhand-
        lungsmasse mit dem Regime missbraucht werden.
        Für Sonntag hoffe ich, dass möglichst viele Menschen
        in Belarus den Mut finden, ihre Unzufriedenheit mit den
        undemokratischen Wahlen mit ihrer Stimmabgabe deut-
        lich zum Ausdruck zu bringen. Für den Wahlabend
        selbst hoffe ich, dass die zu erwartenden Proteste wie in
        den letzten Jahren friedlich verlaufen und vielleicht den
        Anfangspunkt eines echten demokratischen Wandels in
        Belarus markieren.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Antrag: Durchsetzung und Evaluation des
        Reiserechts verbessern
        – Beschlussempfehlung und Bericht: Rei-
        sende besser schützen
        (Tagesordnungspunkt 18 a und b)
        Peter Wichtel (CDU/CSU): Die Bundesregierung
        begleitet die Bürgerinnen und Bürger nicht erst seit Be-
        ginn der gegenwärtigen Legislaturperiode mit einer
        verantwortungsbewussten und nachhaltigen Verbrau-
        cherpolitik. Das deutsche Recht gewährt insbesondere
        Reisenden ein Maß an Schutz, das in schwierigen Ver-
        handlungen für die Verkehrsträger erarbeitet wurde und
        über den europäischen Standard hinausreicht. Das hohe
        Niveau unseres Verbraucherschutzes und die verbrau-
        cherfreundlichen Strukturen wollen wir halten und nach
        Bedarf auch weiter punktuell ausbauen.
        Vor diesem Hintergrund ist es überaus verwunderlich,
        dass mit den heute vorliegenden Anträgen die Verbrau-
        cherpolitik kritisiert wird. Insbesondere der Ruf nach ei-
        ner Verbesserung der Durchsetzung und Evaluation des
        Reiserechts im Hinblick auf die Fluggastrechteverord-
        nung (EG) Nr. 261/2004 kann nur als unsachgemäß cha-
        rakterisiert werden. Der Antrag verlangt nach einer Er-
        hebung von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs,
        obwohl ein Sachzusammenhang mit der Überprüfung
        der Rechtsdurchsetzung nicht gegeben ist.
        Zunächst gilt es deutlich hervorzuheben, dass es keine
        gesetzliche Grundlage gibt, die aufgezeigten Kontrollpa-
        rameter zu erheben. Das Verkehrsstatistikgesetz statuiert
        in § 12 die Pflicht zur Erhebung der angebotenen Plätze
        und die Zahl der ein- oder aussteigenden sowie der
        durchreisenden Fluggäste. Einzig die für die Arbeit des
        Luftfahrt-Bundesamtes, LBA, notwendigen Daten wer-
        den gesammelt und ausgewertet. Eine Registrierung der
        tatsächlich durchgeführten, verspäteten oder annullier-
        ten Flüge wird dagegen nicht im Verkehrsstatistikgesetz
        vorgeschrieben. Das Luftfahrt-Bundesamt erlangt nur
        aufgrund eingehender Anzeigen Kenntnis von Verspä-
        tungen, Annullierungen, Nichtbeförderungen oder He-
        rabstufungen im Sinne der Fluggastrechteverordnung
        (EG) Nr. 261/2004.
        Ein näherer Blick auf die Aufgaben des LBA macht
        zudem deutlich, warum die gegenwärtige Aufgaben-
        struktur als überaus plausibel und beständig zu betrach-
        ten ist. Die Bundesbehörde unter Dienst- und Fachauf-
        sicht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und
        Stadtentwicklung trägt Sorge dafür, dass Luftfahrtunter-
        nehmen die Fluggastrechteverordnung einhalten. Sollten
        Verstöße gegen die Verordnung festgestellt werden, leitet
        das Luftfahrtbundesamt Ordnungswidrigkeitsverfahren
        gegen die betroffenen Akteure ein. Das LBA fungiert als
        Aufsichtsbehörde über die Luftfahrtunternehmen und übt
        diese Tätigkeit im öffentlichen Interesse aus.
        Das LBA ist dagegen kein rechtsdurchsetzendes Or-
        gan für Fluggäste und ist auch nicht im zivilrechtlichen
        Interesse tätig. Die Geltendmachung und Durchsetzung
        zivilrechtlicher Ausgleichsansprüche gegenüber der
        Luftfahrtindustrie im Interesse der betroffenen Fluggäste
        ist keinesfalls Aufgabe der Behörde. Dieser Eindruck
        scheint bei der Lektüre des vorliegenden Antrages und
        der Forderung nach einer statistischen Datenerfassung
        allerdings zu entstehen. Es gilt daher erneut klar zu ver-
        deutlichen, dass ein Sachzusammenhang zwischen der
        Überprüfung der Rechtsdurchsetzung und der Erhebung
        9150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        von Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs nicht gege-
        ben ist.
        Die Arbeit des Luftfahrt-Bundesamtes ist nicht nur
        ein Beispiel für die verbraucherfreundliche Struktur der
        Bundesrepublik, sie verdeutlicht gleichzeitig die Effi-
        zienz und Nachhaltigkeit des Verbraucherschutzes. Lässt
        man die Anzeigen im Zusammenhang mit dem Vulkan-
        ausbruch auf Island außen vor, ist in den vergangenen
        Jahren ein rückläufiges Anzeigeaufkommen zu vermel-
        den. Das kann als Indikator dafür betrachtet werden,
        dass die Luftfahrtunternehmen nicht zuletzt durch die
        Aufsicht des LBA den Verpflichtungen der Fluggast-
        rechteverordnung in stärkerem Umfang nachkommen.
        Die bereits 2009 erfolgte Straffung der Arbeitsprozesse
        innerhalb der Behörde und der regelmäßige Kontakt mit
        den Luftverkehrsunternehmen, um die Kernpunkte der
        Verordnung und deren Umsetzung zu verdeutlichen,
        wird auch zukünftig zu einer verbesserten Einhaltung
        des Gesetzes und somit dem Verbraucherschutz beitra-
        gen.
        Mit der seit Dezember 2009 arbeitenden Schlich-
        tungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, SÖP,
        wird zudem das im Koalitionsvertrag verankerte Ziel ei-
        ner verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung realisiert.
        Zur Erleichterung der Durchsetzung der Fluggastrechte
        wird derzeit geprüft, wie auch eine Einbeziehung der
        Luftverkehrsträger in eine Schlichtung erreicht werden
        kann. Hierzu werden gegenwärtig überaus konstruktive
        Gespräche mit der Luftverkehrsindustrie geführt.
        Zusammenfassend betrachtet kommt die Bundesre-
        gierung ihrer Verantwortung für den Verbraucher auch
        und insbesondere im Bereich des Reisens nach. Nicht
        zuletzt die Fluggastrechteverordnung und die Arbeit des
        Luftfahrtbundesamtes als für die Durchsetzung der Ver-
        ordnung verantwortliche Behörde verdeutlichen das
        hohe Niveau unseres Verbraucherschutzes und unsere
        verbraucherfreundliche Strukturen. Eine Erhebung von
        Daten zur Entwicklung des Luftverkehrs und eine dem-
        entsprechende Überarbeitung des Verkehrsstatistikgeset-
        zes lehnen wir daher ab.
        Marlene Mortler (CDU/CSU): Das deutsche Reise-
        recht sichert ein hohes Verbraucherschutzniveau für un-
        sere Bürger. Deutsche Reisende genießen dabei einen
        Schutz, der über den geltenden europäischen Standard
        hinausgeht. Das soll auch so bleiben.
        Die meisten der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/
        Die Grünen „Reisende besser schützen“ enthaltenen For-
        derungen sind weder sachgerecht noch durchführbar,
        und sie werden den bisherigen hohen deutschen Stan-
        dards nicht gerecht.
        Ein Kernpunkt des Antrages ist die Forderung, auf eu-
        ropäischer Ebene die derzeit geltenden Regelungen für
        Pauschalreisen und die Passagierrechte bei den einzel-
        nen Verkehrsträgern zusammenzufassen und zu einem
        Rechtsakt weiterzuentwickeln. Eine solche Zusammen-
        führung würde aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass
        die Regelungen übersichtlicher und einfacher wären und
        damit ein höherer Verbraucherschutz erreicht würde. Da-
        gegen sprechen außerdem gewichtige organisatorische
        Gründe: Richtlinien und Verordnungen sind nun einmal
        unterschiedliche Rechtsakte. Während es bei EU-Richt-
        linien einen gewissen Spielraum bei der Umsetzung in
        nationales Recht gibt, sind EU-Verordnungen in den
        Mitgliedstaaten unmittelbar wirksam und verbindlich.
        Außerdem sind die angesprochenen EU-Verordnun-
        gen in einem höchst unterschiedlichen Stadium. Die
        Rechte von Passagieren, die mit der Bahn oder per Flug-
        zeug reisen, sind bereits in geltenden Verordnungen ge-
        regelt. Die Verordnung für die Rechte von Passagieren
        im See- und Binnenschiffsverkehr ist zwar beschlossen,
        aber noch nicht in Kraft getreten. Und die Verordnung
        für die Rechte von Passagieren im Busverkehr ist noch
        nicht einmal beschlossen.
        Für die schon 2005 in Kraft getretene Fluggastrechte-
        Verordnung hat die Europäische Kommission bereits
        eine Überarbeitung angekündigt. Mit den anderen neuen
        Verordnungen müssen dagegen erst einmal Erfahrungen
        gesammelt werden, bevor eine Überarbeitung überhaupt
        in Betracht gezogen werden bzw. beurteilt werden kann,
        ob das Sinn macht. Schließlich sind diese Verordnungen
        mit großem Aufwand und in schwierigen Verhandlungen
        ausgearbeitet worden.
        Grundsätzlich müssen bei der Ausgestaltung der Fahr-
        gastrechte die Besonderheiten der jeweiligen Verkehrs-
        träger beachtet werden, vor allem für Verspätungsregeln.
        Hier gibt es einfach unterschiedliche Ausgangsbedin-
        gungen und andere naturbedingte Voraussetzungen. So
        ist etwa beim Schiff die Wahrscheinlichkeit, in einen
        Stau zu geraten, deutlich geringer als beim Bus. Insofern
        ist die im Antrag geforderte intermodale Anpassung
        nicht sachgerecht und könnte sogar zur Kürzung bisheri-
        ger Ansprüche führen.
        Auf europäischer Ebene untersucht derzeit auch be-
        reits die Europäische Kommission, ob die Pauschalreise-
        Richtlinie überarbeitet werden soll. Dies darf aber nicht
        dazu führen, dass Deutschland sein hohes Verbraucher-
        schutzniveau absenken müsste. Viele der von der Kom-
        mission angesprochenen Probleme bestehen im deu-
        tschen Recht im übrigen auf Grund unseres höheren
        Schutzniveaus eben nicht.
        Die Notwendigkeit für die geforderte Insolvenzabsi-
        cherung für Fluggesellschaften und alle anderen Ver-
        kehrsträger ist ebenfalls nicht zu erkennen. So sind der
        Bundesregierung keine Fälle bekannt, bei denen Rei-
        sende im Luftfahrtbereich, bei der Bahn oder im Busbe-
        reich durch eine Insolvenz nicht reisen konnten oder von
        finanziellen Schäden betroffen gewesen wären.
        Geradezu absurd ist auch die geforderte Hinweis-
        pflicht für Reiseveranstalter und Reisevermittler aller
        EU-Mitgliedstaaten für eine verbindliche Unterrichtung
        vor Vertragsabschluss über Pass- und Visumserforder-
        nisse. Demnach müssten Reiseveranstalter und Reise-
        büros die Bürger aller 27 EU-Mitgliedstaaten über die
        aktuellen jeweiligen Einreisebestimmungen von circa
        200 Ländern weltweit informieren, also über etwa
        5 400 verschiedene Einreisebestimmungen – und dies
        womöglich noch in der jeweiligen Landessprache des
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9151
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        EU-Bürgers. Dies ist nicht nur Bürokratie, dies ist
        schlichtweg nicht zu leisten.
        Etwas weltfremd erscheint uns auch, dass an allen
        Reiseverkehrsknotenpunkten in Zusammenarbeit mit
        Schlichtungsstellen und Verbraucherzentralen Informa-
        tions- und Vermittlungszentren eingerichtet werden sol-
        len. Soll jetzt in jedem Bahnhof und jedem Flughafen
        ein solches Informationsbüro geschaffen werden? Die
        Kosten wären unüberschaubar und unvertretbar, der Nut-
        zen dagegen gering. Die Unternehmen sind bereits heute
        verpflichtet, ihre Kunden über deren Rechte zu informie-
        ren.
        Wir haben im Koalitionsvertrag die Einrichtung einer
        unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die
        Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff festgelegt.
        Diese Einrichtung ist mit der Schlichtungsstelle für den
        öffentlichen Personenverkehr, SÖP, zum 1. Dezember
        2009 erfolgt. Bisher sind dort über 3 300 Fälle zur
        Schlichtung eingegangen, die meisten aus dem Bahnbe-
        reich. Die Arbeit der SÖP zur Durchsetzung der Rechte
        von Reisenden ist eine weitere wichtige Stärkung des
        Verbraucherschutzes im Tourismusbereich.
        Die deutschen Fluggesellschaften sind jetzt nach eini-
        gem Zögern auch zu einer Teilnahme an Schlichtungs-
        verfahren bereit. Dies muss aber nicht unbedingt durch
        eine Mitgliedschaft in der SÖP erfolgen, sondern ist
        durchaus in einer separaten Schlichtungsstelle für den
        Luftverkehr möglich. Eine solche Einrichtung wird ge-
        genwärtig in Zusammenarbeit mit mehreren Bundes-
        ministerien geprüft. Wir müssen dabei beachten, dass es
        im Gegensatz zur Bahn im Luftverkehr einen intensiven
        Wettbewerb gibt. Deshalb muss sichergestellt sein, dass
        alle in Deutschland tätigen Fluggesellschaften einbezo-
        gen werden. Nur so vermeiden wir Wettbewerbsverzer-
        rungen, nur so erreichen wir einen wirklich höheren Ver-
        braucherschutz für alle Fluggäste.
        Für den angeblich umfassenden Handlungsbedarf,
        den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem vorlie-
        genden Antrag versucht aufzuzeigen, gibt es, wie
        gezeigt, keine tragfähige Grundlage. Wir lehnen ihn des-
        halb ab und stimmen der entsprechenden Beschlussemp-
        fehlung des Tourismusausschusses zu.
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Man sollte eine Rede
        nicht mit dem Namen eines isländischen Vulkans begin-
        nen, wenn man sich nicht verhaspeln möchte.
        Ich tue es trotzdem, denn der Ausbruch des isländi-
        schen Vulkans Eyjafjallajökull mit seinen schwerwie-
        genden Folgen für den internationalen Flugverkehr hat
        einmal mehr gezeigt, dass unsere Regierung zu einem
        vernünftigen Krisenmanagement nicht in der Lage ist.
        Wir alle haben noch Tausende gestrandete und desori-
        entierte Reisende auf den Flughäfen vor Augen, die we-
        der wussten, wie sie nach Hause kommen sollten, noch
        wer für die ihnen entstandenen Kosten aufkommt.
        Diese extreme Situation hat offenbart:
        Erstens: Die Hilfs- und Informationsangebote an den
        Flughäfen sind generell unzureichend.
        Zweitens: Das nationale und europäische Reiserecht
        ist zu undurchsichtig und nicht verbraucherfreundlich
        genug. Die Initiative der Grünen, das Reiserecht verbes-
        sern zu wollen, ist deshalb richtig. Der Verbraucher-
        schutz für Reisende muss verstärkt werden.
        Ein erster Schritt wäre die konsequente Umsetzung
        der schon bestehenden Verbraucherrechte. Das ist für die
        Bunderegierung aber ganz offensichtlich kein Thema.
        Dabei bietet das europäische Reiserecht zum Beispiel
        mit der Fluggastrechteverordnung bereits gute Grundla-
        gen, die leider in Deutschland versickern.
        Durch massenhafte Verspätungen, Nichtbeförderun-
        gen und Flugannullierungen erwerben täglich Hunderte
        Flugreisende einen Anspruch auf Entschädigung nach
        der europäischen Fluggastrechteverordnung. Für die
        Durchsetzung dieser Verordnung ist in Deutschland das
        Luftfahrtbundesamt zuständig. Es muss die Einhaltung
        der Verordnung durch die Fluggesellschaften gewähr-
        leisten.
        Dennoch sind die Flugreisenden ganz offensichtlich
        über ihre Rechte nicht ausreichend informiert. Die Luft-
        fahrtunternehmen nehmen also ihre Informationspflicht,
        die sie laut der Verordnung haben, nicht wahr.
        Die von der Verordnung vorgeschriebenen Entschädi-
        gungen werden auch lange nicht in dem Maße gezahlt,
        wie es die vielen Verspätungen und Annullierungen ver-
        muten lassen müssten. Trotzdem leitet das Luftfahrbun-
        desamt nur eine kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsver-
        fahren ein.
        Dieses Missverhältnis zeigt: Unsere Regierung
        klemmt sich nicht dahinter. Es werden, das fordern die
        Grünen zu Recht ein, die ganzen Verspätungen, Annul-
        lierungen und Nichtbeförderungen noch nicht einmal in
        der Verkehrsstatistik erfasst.
        Die kleine Zahl an Ordnungswidrigkeitsverfahren ist
        eine der wenigen Informationen, die man dem mageren
        „Bericht der Bundesregierung zur Durchsetzung der
        Fluggastrechteverordnung“ entnehmen kann. Der ist so
        schwach, weil es eben kaum Aktivitäten zur Durchset-
        zung der Fluggastrechte gibt.
        Das Luftfahrtbundesamt ist ebenso für die Durchset-
        zung der Rechte mobilitätseingeschränkter Fluggäste zu-
        ständig. Die Grünen behandeln diesen Punkt in ihren
        Anträgen leider nicht.
        Meiner Fraktion und mir ist wichtig, dass Menschen
        mit Behinderung reisen können wie jeder andere auch.
        Sie haben seit der Unterzeichnung der UN-Behinderten-
        rechtskonvention das einklagbare Recht dazu. Und im
        Zuge des demografischen Wandels werden zukünftig
        nicht weniger Menschen betroffen sein, sondern mehr.
        Trotzdem ist mir leider nicht bekannt, dass das zu-
        ständige Luftfahrtbundesamt sich bisher für bessere Hil-
        festellungen für behinderte Fluggäste an Bord und auf
        dem Flughafen, für mehr Bordrollstühle und ein geeig-
        netes Innendesign der Flugzeuge eingesetzt hätte.
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        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition: Un-
        terstützen Sie uns an dieser Stelle, und machen Sie Ihren
        Regierungsmitgliedern Dampf!
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Ihre
        Ansätze zur Weiterentwicklung des Reiserechts sind, vor
        allem was die nationale Ebene angeht, gut.
        Es gibt keinen Grund, weshalb die Fluggesellschaften
        nicht in die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Per-
        sonenverkehr einbezogen werden.
        Richtig ist, die Kommunikation zwischen allen Ak-
        teuren zu stärken. Reiseindustrie, Behörden, Schlich-
        tungsstellen und Verbraucherverbände können natürlich
        gemeinsam besser auf die Probleme der Reisenden re-
        agieren.
        Kostenlose Info-Hotlines der Fluggesellschaften wä-
        ren sinnvoll.
        Auch einige ihrer Forderungen, die auf die europäi-
        sche Ebene abzielen, unterstütze ich: Eine Insolvenzab-
        sicherung von Reiseunternehmen, die Präzisierung des
        Begriffs der „außerordentlichen Umstände“ und die Er-
        höhung der Haftungshöchstgrenzen beim Reisegepäck
        wären begrüßenswert.
        Mit einigen Ihrer Forderungen das europäische Recht
        betreffend schießen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
        der Grünen, allerdings über das Ziel hinaus:
        Die von Ihnen geforderte verschärfte Haftung für Rei-
        sebüros – vergleichbar mit der von Reiseveranstaltern
        bei Pauschalangeboten – ist insbesondere für kleine Rei-
        sebüros nicht leistbar, weder finanziell, noch in Form or-
        ganisatorischer Unterstützung. Sie müssten sich dann
        eng an die Veranstalter binden, damit diese das Haf-
        tungsrisiko tragen, und könnten nicht mehr wirklich un-
        abhängig beraten. Auch würden kleine Veranstalter dann
        nur noch sehr schwer Reisebüros finden, die ihre Leis-
        tungen vermitteln. Das kann nicht im Interesse der Rei-
        senden sein! Auch die von Ihnen geforderte Ausweitung
        des Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie geht zu
        weit.
        Es stimmt, dass diese europäische Richtlinie an das
        Buchungsverhalten und Angebot im Internet angepasst
        werden muss.
        Aber alle verlinkten Einzelleistungen im Internet,
        zum Beispiel für Flug, Ferienwohnung und Mietwagen –
        das sogenannte „Dynamic Packaging“ – wie ein Pau-
        schalangebot eines Veranstalters zu behandeln, das ist
        unrealistisch. Hier wäre es besser, unsere deutsche Rege-
        lung in die europäische Richtlinie aufzunehmen: Wer et-
        was wie eine Pauschalreise verkauft, wer beim Verbrau-
        cher den Eindruck erweckt, er kaufe eine Pauschalreise,
        der muss auch wie für eine Pauschalreise haften.
        Etwas zu einfach machen Sie es sich mit der Forde-
        rung nach der Zusammenlegung der reiserechtlichen Re-
        gelungen. Für die einzelnen Verkehrsträger Bahn, Flug-
        zeug, Schiff oder Bus wurde mühsam auf spezielle – und
        teilweise sehr unterschiedliche – Notwendigkeiten abge-
        zielt. Auch hier muss stärker, als Sie es tun, ins Detail
        geschaut werden, welchen rechtlichen Spielraum es für
        mögliche Angleichungen und Standards überhaupt gibt.
        Unnötige Bürokratie muss dabei vermieden werden. An
        allen Verkehrsknotenpunkten noch extra Reisezentren
        einzurichten, die die Kundinnen und Kunden informie-
        ren sollen, halte ich für unnötige Bürokratie. Es würden
        auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher teure
        Doppelstrukturen geschaffen. Die Informationspflicht
        liegt ja schon bei den Verkehrsträgern. Die müssen sich
        eben besser vernetzen, um effektiv informieren zu kön-
        nen.
        Die Abstimmung untereinander – nicht nur auf natio-
        naler, sondern auch auf europäischer Ebene – ist beson-
        ders in Notfällen wichtig und wäre die Grundlage für ein
        kluges Krisenmanagement in dem Chaos nach dem Vul-
        kanausbruch gewesen. In unserem Antrag „Die richtigen
        Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans
        Eyjafjallajökull ziehen“ haben wir beschrieben, wie die
        Voraussetzungen für ein nationales und europäisches
        Krisenmanagement im Luftverkehr geschaffen werden
        können.
        Wir werden uns, liebe Kolleginnen und Kollegen der
        Grünen, bei Ihrem Antrag „Reisende besser schützen“
        aus den genannten Gründen enthalten und im nächsten
        Jahr zur Durchsetzung der Fluggastrechte einen eigenen
        ausgereiften Vorschlag vorlegen.
        Jens Ackermann (FDP): Die Tourismusbranche ist
        ein bedeutender Wirtschaftsbereich, von dem Menschen
        und Unternehmen profitieren. Dabei gilt – und das ist, so
        glaube ich, unstrittig –, dass die Reisenden in gesicher-
        ten Verhältnissen mit Planungssicherheit, soweit dies bei
        Reisen möglich ist, geschützt sind.
        Doch Reiseschutz muss dabei das Notwendige im
        Blick haben, muss maßvoll und ausgewogen sein. Aktio-
        nismus ohne Grundlagen, politische Forderungen ohne
        Bedarf und Anträge ohne den Abgleich mit der Realität
        möchte meine die christlich-liberale Koalition nicht. Wir
        können und werden nichts zustimmen, was die Verhält-
        nisse für die Menschen vor Ort nicht verbessert. Und das
        gilt selbstverständlich auch und gerade für den Touris-
        musbereich.
        In jenem Sektor, wo sich Menschen tagtäglich in Rei-
        sebüros oder im Internet Träume erfüllen, wo Familien
        in ferne Länder fliegen und Individualtouristen mit dem
        Rucksack durch die Lande ziehen^, ist es natürlich wich-
        tig, das die Ziele, das die Wünsche, die sich mit Reisen
        verbinden, geschützt sind – da, wo es möglich ist, wo es
        sinnvoll erscheint. Der uns vorliegende Antrag von
        Bündnis 90/Die Grünen schießt dabei – wieder einmal –
        über das Ziel hinaus und verkehrt gute Absichten in
        zahnlose Bürokratietiger. Mehr Sicherheit für die Rei-
        senden kann so aber nicht erzielt werden.
        Doch der Reihe nach: Unser Reiserecht ist – wen
        wundert es – sektoral untergliedert und passt sich so den
        unterschiedlichen Ausgangssituationen des Reisens an.
        Denn Flug-, Bahn-, Bus- oder Schiffsgesellschaften sind
        auch schwer unter einheitliche Rechtsvorschriften sub-
        sumierbar. Kurzum: Unser Reiserecht betrifft die unter-
        schiedliche Situation der Verkehrsträger, die Nachfrage-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9153
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        struktur und die Produkte. Trotz aller Eigenheiten
        gewährt das deutsche Reiserecht den Reisenden schon
        heute einen Schutz, der über den europäischen Standard
        teilweise weit hinausreicht. Gerade die Regelungen für
        die Passagierrechte sind mit großem Aufwand und in
        langen und schwierigen Verhandlungen für die einzelnen
        Verkehrsträger erst verabschiedet worden. Ich glaube,
        dass eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Be-
        reiche das Reiserecht nur unnötig verkomplizieren
        würde.
        Ebenso lassen sich die geltenden Verordnungen über
        die Passagierrechte nicht einfach mit dem Pauschalreise-
        recht zusammenführen, da letzteres zum Vertragsrecht
        gehört, die Passagierrechtsverordnungen hingegen nicht.
        So finden wir im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
        Grünen auch die Forderung nach einer Ausweitung des
        Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und eine
        Anpassung des Begriffs der Pauschalreise.
        Ich kann Ihnen nur sagen, dass der Geltungsbereich
        der Pauschalreiserichtlinie auf den Pauschalreisevertrag
        beschränkt bleiben muss und nicht auf Einzelleistungen
        ausgeweitet werden darf. Denn das widerspricht doch je-
        der Logik. Warum sollte ein Verbraucher, der mehrere
        Einzelverträge über Reiseleistungen abschließt und sich
        damit selbst eine Reise individuell zusammenstellt, den
        gleichen Schutz erhalten wie ein Verbraucher, der eine
        durch einen Veranstalter zusammengestellte Reise kauft?
        Dass es überhaupt eine Pauschalreiserichtlinie gibt, liegt
        an der möglichen Differenzierung nach Paket und Ein-
        zelleistung. Als ausschlaggebendes Kriterium dafür,
        welche verlinkten Angebote von Reiseleistungen als
        Pauschalreise zu bewerten sind und welche nicht, kann
        meiner Meinung nach das subjektive Empfinden des
        Verbrauchers herangezogen werden, so wie es bereits im
        deutschen Recht der Fall ist.
        In dem Antrag, der uns vorliegt, wird eine klare Tren-
        nung zwischen Reisevermittler und -veranstalter gefor-
        dert. Einer Ausweitung der Reisebürohaftung steht die
        FDP-Bundestagsfraktion ausgesprochen kritisch gegen-
        über. Denn erklären Sie uns doch, welche Haftung von
        Bündnis 90/Die Grünen gemeint ist. Schließlich wird ge-
        genwärtig auf europäischer Ebene diskutiert, eine ge-
        meinsame Haftung von Veranstalter und Reisebüro im
        Vertrieb von Pauschalreisen einzuführen. Insofern legt
        die Formulierung im Antrag nahe, dass auf diese Debatte
        abgestellt wird.
        Dabei ist zu beachten, dass bei einer gemeinsamen
        Haftung für Pauschalreisen das Reisebüro allein für die
        Absicherung der Kundengelder gegen eine Insolvenz des
        Veranstalters mehr als seine gesamte Provision aufwen-
        den müsste. Der Einbezug des Reisebüros in die Haftung
        der Reiseveranstalter würde damit das deutsche Markt-
        modell von Grund auf erschüttern, da Reisebüros keine
        Wahl bliebe, als sich an einen einzelnen Veranstalter zu
        binden, um dem Risiko, in Haftung genommen zu wer-
        den, zu entgehen. Damit müsste das Reisebüro seine
        Rolle als unabhängiger Berater des Kunden aufgeben –
        letztlich zum Schaden des Verbrauchers selbst. Das wol-
        len wir nicht.
        Doch damit nicht genug. Es ist auch aus unserer Per-
        spektive heraus zu bezweifeln, dass kleine Reisebüros
        vor Ort in der Konkurrenz zum Internetvertrieb erfolg-
        reich bestehen könnten, wenn sie aufgrund einer ausge-
        weiteten Haftung – welcher Art auch immer – höhere
        Preise verlangen müssten.
        Wir wissen es doch selbst: Deutsche Kunden sind
        ausgesprochen preissensibel, und schon heute lassen
        sich viele Verbraucher zwar im Reisebüro beraten, bu-
        chen ihre Reise dann jedoch online, um Geld zu sparen.
        Insofern spricht die Realität gegen diese Annahme.
        Wahrscheinlicher ist, dass eine Verteuerung des stationä-
        ren Vertriebs den bestehenden Trend zur „Ausnutzung“
        der Beratungskompetenz des Reisebüros weiter verstär-
        ken würde.
        Wir sind im Übrigen auch nicht der Auffassung, dass
        es eines Ausbaus der Haftung von Reiseunternehmen be-
        darf. Unserer Ansicht nach sind Reisebüros nicht in der
        Lage, Druck auf die Veranstalter und deren Angebot re-
        spektive Qualität auszuüben. Dies ist alleine der Tatsa-
        che geschuldet, dass Reisebüros Handelsvertreter des
        Veranstalters sind. Sie leben von dessen Provision. Wäh-
        rend es den Veranstalter nicht sonderlich schmerzt, auf
        ein einzelnes „rebellisches“ Reisebüro zu verzichten,
        kann der Verlust eines bestimmten Reiseveranstalters in
        seinem Angebot für das Reisebüro gravierende wirt-
        schaftliche Auswirkungen haben. Die Forderung von
        Bündnis 90/Die Grünen trägt daher nicht der bestehen-
        den Verteilung von Verhandlungsmacht zwischen Veran-
        staltern und Reisebüros Rechnung.
        Reisebüros brauchen Angebotsvielfalt, sie leben da-
        von. Denn der Vorteil und die Fähigkeit, die das Reise-
        büro im Moment noch hat, sind die, dem Verbraucher
        aus einer Vielzahl von Angeboten das individuell pas-
        sende zu empfehlen. Dies geht aber nur so lange, wie das
        Reisebüro nicht gezwungen wird, sich unter den Schirm
        eines einzelnen Veranstalters zu begeben. Dies wäre je-
        doch das Resultat einer ausgeweiteten Reisebürohaftung
        und widerspricht daher dem Ziel eines besseren Verbrau-
        cherschutzes Wir wollen weiterhin den Wettbewerb hier
        sichern – im Interesse der Kunden, der Reisenden und
        vor allem im Interesse der kleinen Reisebüros in unseren
        Wahlkreisen. Denn das sind auch Arbeitsplätze, und die
        wären dank der Ideen von Bündnis 90/Die Grünen mal
        wieder gefährdet. Wer hilft denn der älteren Dame eine
        günstige Fernreise zu ihren Enkeln zu buchen? – Das
        Reisebüro vor Ort.
        Kommen wir zu den vorvertraglichen Informations-
        pflichten. Auch hier lehnen wir einen Ausbau entschie-
        den ab. Wozu auch? Unserer Ansicht nach sind die Infor-
        mationspflichten des Veranstalters bereits umfassend
        wie ausreichend geregelt. In der Realität ist doch eher
        eine Überforderung des Verbrauchers zu beobachten.
        Darüber hinaus ist es ganz grundsätzlich nicht erlaubt,
        Falschaussagen in Katalogen zu treffen. Dem sei unbe-
        nommen, dass Reiseprospekte in einer ihnen eigenen
        Sprache abgefasst sind. Wer jedoch dazu Fragen hat oder
        genauere Informationen wünscht, hat jederzeit die Mög-
        lichkeit, sich im Reisebüro rückzuversichern und beraten
        zu lassen. Außerdem gibt es schon jetzt bei gravierender
        9154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
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        Abweichung der Werbung für ein Hotel oder eine Leis-
        tung für den Gast die Möglichkeit der Minderung.
        Unabhängig davon sind wir Liberale der Überzeu-
        gung, dass sich dieses Thema insbesondere über die zu-
        nehmende Nutzung von Hotelbewertungsportalen zu-
        künftig von selbst beruhigt.
        Weiter fordern Bündnis 90/Die Grünen eine Novellie-
        rung der Reisegepäcksregelung. Auch das halte ich un-
        nötig, da dieser Betrag erst 2009 um 130 Euro angeho-
        ben wurde – von vorher 1 170 Euro. Außerdem ist dieser
        Betrag nicht national geregelt ist, sondern Gegenstand
        des internationalen Abkommens von Montreal der Inter-
        nationalen Zivilluftfahrt-Organisation ICAO ist. Eine
        Anhebung der Entschädigungsgrenze im deutschen oder
        europäischen Alleingang wäre somit auch in hohem
        Maße wettbewerbsverzerrend für deutsche bzw. europäi-
        sche Fluggesellschaften.
        Die Forderung nach einer Schlichtungsstelle im öf-
        fentlichen Personenverkehr, die verpflichtend für alle
        Reiseverkehrsunternehmen wird, ist ja nicht neu. Des-
        halb weise ich darauf hin, dass im Bundesjustizministe-
        rium bereits eine Projektgruppe ins Leben gerufen wor-
        den ist, der auch Vertreter der Fluggesellschaften
        angehören. Ziel dieser Gruppe ist es, gemäß der Koali-
        tionsvereinbarung eine Schlichtungsstelle für Passagiere
        von Fluglinien einzurichten.
        So könnte ich meine Rede noch unendlich lange wei-
        terführen, um den mehr als 20 Forderungen der Fraktion
        Bündnis 90/Die Grünen im Einzelnen entgegenzutreten,
        aber das würde meine Redezeit sprengen. Alles in allem
        sind nahezu alle Forderungen weder zielführend in der
        Verbesserung des Schutzes der Reisenden noch sind
        diese umsetzbar. Wollen wir denn wirklich den Bürokra-
        tiedschungel für den Verbraucher noch undurchsichtiger
        machen, als er bisher schon ist?
        Kornelia Möller (DIE LINKE): Die heutige Welt ist
        durch eine erhöhte Mobilität und von einer ständig
        wachsenden Zahl von Reisen geprägt. Das erhöhte Rei-
        seaufkommen führt aber auch unweigerlich zu einer Zu-
        nahme der Probleme rund um das Reisen, wie Ausfälle,
        Verspätungen, Überbuchungen und Annullierungen.
        Leidtragende sind immer die Reisenden! Deshalb ist es
        sehr begrüßenswert, dass heute, nachdem wir im Juni
        über unseren Antrag „Fluggastrechte stärken“ debattiert
        haben, das Thema „Schutz von Reisenden“ wieder auf
        der Tagesordnung steht.
        Generell kann den Anträgen der Grünen zugestimmt
        werden, auch wenn an manchen Stellen nachgebessert
        werden muss. So fehlt in dem recht ausführlichen und
        umfangreichen Antrag „Reisende besser schützen“ die
        Einbeziehung des mobilen Reiseverkäufers. Bei dieser
        Art der Reisebuchung, die weder einem stationären Ver-
        trieb wie im Reisebüro, noch dem Onlinevertrieb, ge-
        schweige denn einem Haustürgeschäft gleichzusetzen
        ist, wird die Reise beim Verbraucher zu Hause abge-
        schlossen. Hier besteht keine Versicherungspflicht gegen
        falsche Beratung oder Insolvenz.
        Es fehlt leider auch die Forderung, die Beschränkung
        der Versicherungssumme pro Versicherungsgesellschaft
        aufzuheben. Sie liegt derzeit bei 200 Millionen Euro pro
        Jahr, wohlgemerkt nicht pro Reiseveranstalter, sondern
        pro Versicherungsunternehmen. In Deutschland gibt es
        circa 1 000 Reiseveranstalter, wobei in jedem Reisebüro
        Reisen von mehr als 100 Veranstaltern angeboten wer-
        den. Den Reiseversicherungsmarkt teilen hauptsächlich
        fünf große Versicherungen unter sich auf. Diese mono-
        polartige Stellung muss dringend aufgehoben werden.
        Außerdem müssen die Verbraucherin und der Verbrau-
        cher die sofortige Auszahlung seiner gemeldeten An-
        sprüche geltend machen können – bisher haben sie nur
        am Jahresende hierauf einen Rechtsanspruch.
        Bedauerlich ist auch, dass der Antrag der Grünen
        vage bleibt hinsichtlich der auch von uns geforderten
        Einführung einer wirklich wirksamen und unabhängigen
        Schlichtungsstelle. So ist an keiner Stelle ausgeführt,
        welche Kompetenzen die Schlichtungsstelle erhalten
        soll.
        Und noch etwas haben die Grünen vergessen: In
        Deutschland gibt es kein Lizenzsystem für Reiseveran-
        stalter und Reisebüros. Derzeit gibt es in Deutschland
        circa 12 000 registrierte Reisebüros und circa 1 000 Rei-
        severanstalter. Jede beliebige Person kann als Reisever-
        anstalter oder Reisebüro fungieren, Anforderungen und
        Kontrollen gibt es nicht. Die Einführung einer europäi-
        schen Linzenz für Reiseveranstalter gesetzlich einzufüh-
        ren, die an eine Insolvenzabsicherung gekoppelt ist,
        wäre ein richtiger Schritt.
        Hier bin ich nun bei einem für uns ganz wesentlichen
        Punkt angekommen: einer wirklichen Absicherung der
        Reisenden gegen die Insolvenz von Fluggesellschaften.
        Besonders betroffen von einer uneinheitlichen Regelung
        sind jene Verbraucherinnen und Verbraucher, die eine In-
        dividualreise machen, da derzeit nur Pauschalreisende
        abgesichert sind. Diese Ungleichbehandlung ist nicht
        nachvollziehbar und muss dringend geändert werden.
        Alle Reisenden und Fluggäste müssen wirksam gegen
        eine Insolvenz abgesichert werden. Hier besteht dringen-
        der Handlungsbedarf!
        Um im Falle einer Insolvenz eine Absicherung finan-
        ziell auch wirklich gewährleisten zu können, befürwor-
        ten wir – so wie die Grünen auch – die Einführung eines
        Fonds, um im Notfall ungedeckte Ansprüche bedienen
        zu können.
        Um aber seine Rechte wahrnehmen zu können, muss
        man überhaupt erst einmal wissen, welche Rechte einem
        zustehen. Hier zeigt die Praxis immer wieder, dass Flug-
        gesellschaften gesetzlich verankerte Rechte, die Flug-
        gäste zum Beispiel bei Verspätungen oder Flugausfall
        haben, verschweigen und missachten. Eine Untersu-
        chung der „Stiftung Warentest“ ergab schon im Mai
        2009, dass 86 Prozent der Passagiere von den Fluglinien
        keinerlei Informationen über ihre Rechtsansprüche er-
        hielten, wie sie in der EU-Verordnung 261/2004 defi-
        niert sind. Auch eine Umfrage, die am 15. November
        2010 vom Bundesverband der Verbraucherzentralen ver-
        öffentlicht wurde, belegt die mangelhafte Umsetzung
        von Fluggastrechten durch die Airlines:
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9155
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        Bestehende Ansprüche auf Betreuungsleistungen so-
        wie Ausgleichszahlungen wurden in den allermeisten
        Fällen von den Fluggesellschaften ignoriert. Nur jedem
        Vierten boten die Airlines Entschädigungen an, und auch
        das überwiegend erst auf Nachfrage.
        Auch ihrer Verpflichtung, die Fluggäste aktiv auf ihre
        Rechte hinzuweisen, kamen die Fluggesellschaften in
        über der Hälfte der Fälle nicht nach.
        Darauf folgende Beschwerden bearbeiteten sie sehr
        zögerlich, 22 Prozent der betroffenen Fluggäste erhielten
        gar keine Antwort. Nur in 3 Prozent der Fälle verlief die
        Rechtsdurchsetzung der Fluggäste reibungslos.
        Darüber hinaus nutzen Fluggesellschaften vermeintli-
        che Rechtsunklarheiten etwa bei Ansprüchen auf Scha-
        denersatz und Ausgleichzahlungen – Letztere fallen
        auch bei Naturkatastrophen wie dem isländischen Vul-
        kanausbruch an – einseitig zu ihren Gunsten. Ich frage
        Sie, meine Damen und Herrn Koalitionäre, sehen Sie
        denn nicht auch, dass hier dringender Handlungsbedarf
        besteht und nicht alleine die Luftfahrtunternehmen in der
        Pflicht stehen, sondern auch der Gesetzgeber?
        Hilfreicher für die Durchsetzung der Fluggastrechte
        wäre sicherlich die Erfassung und Evaluierung von be-
        stimmten Daten, wie sie die Grünen in Ihrem Antrag auf
        Drucksache 17/4041 fordern. Gesichertes, öffentlich-
        rechtliches Datenmaterial ist laut Bundesregierung ja
        Voraussetzung für die Einleitung von Ordnungswidrig-
        keitsverfahren, somit ist die Forderung der Grünen ge-
        rechtfertigt und unterstützenswert.
        Allerdings müssten über das Verkehrsstatistikgesetz
        auch die Gründe für Verspätungen, Annullierungen,
        Nichtbeförderung oder Herabstufung im Sinne der EG-
        Verordnung Nr. 261/2004 aufgeführt werden. Diese Da-
        ten könnten dann von den betroffenen Fluggästen zur
        einfacheren Einforderung ihrer Rechte verwendet wer-
        den. Eine weitere Maßnahme im Sinne der Verbrauche-
        rinnen und Verbraucher wäre eine öffentliche Darlegung
        der Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Fluggesell-
        schaften, um über die Zuverlässigkeit der einzelnen
        Fluggesellschaften zu informieren und so eine höhere
        Transparenz zu erzielen.
        Zum Schluss möchte ich doch noch kurz auf einen an-
        dern aber dennoch wichtigen Aspekt eingehen. Es sollte
        unbestreitbar sein, dass denjenigen, die Unannehmlich-
        keiten bei ihrer Reise ausgesetzt waren, zu ihrem Recht
        und zu einer adäquaten Entschädigung verholfen wird.
        Genauso unbestreitbar sollte aber sein, dass Reisen für
        alle möglich ist. So kann es beispielsweise nicht sein,
        dass EU-Verordnungen zum barrierefreien Reisen – Ver-
        ordnung Nr. 1107/2006 –, die seit 2008 schon geltendes
        Recht in Deutschland sind, immer noch nicht vollständig
        umgesetzt sind. Ein Bespiel ist die kostenlose Mitnahme
        eines zweiten Rollstuhls, die aber immer noch Kosten
        verursacht. Zudem können Rollstuhlfahrerinnen und
        Rollstuhlfahrer die Bordtoiletten nur mit Bordrollstühlen
        erreichen, die jedoch nur in wenigen Flugzeugen vorge-
        halten werden. Das ist ein nicht hinnehmbarer Miss-
        stand.
        Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Rechte der
        Fluggäste durch die Bundesregierung gestärkt und die
        Voraussetzungen zur Durchsetzung dieser Rechte auch
        geschaffen werden. Wir brauchen ein einheitliches, kla-
        res und freundliches Reiserecht für Verbraucherinnen
        und Verbraucher!
        Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wissen Sie wie viele verschiedene Rechtsakte den Ver-
        braucherschutz bei Verspätungen, Annullierungen,
        Nichtbeförderung etc. bei Reisen regeln? Nein? Kein
        Wunder! Denn es ist ein Dschungel. Und lassen sie mich
        eines sagen: Wir sind die Fachpolitiker, die das wissen
        sollten. Es sind mehr als ein halbes Dutzend verschie-
        dene Regelungen, die hier eigentlich Klarheit schaffen
        sollen und uns allen sofort einfallen sollten – schließlich
        sind wir ja alle mündige Verbraucher. Aber dazu kom-
        men noch viele weitere Regelungen, die ebenfalls das
        Reiserecht tangieren. Was ich Ihnen damit deutlich ma-
        chen möchte? Der Theorie nach ist das Verbraucher-
        schutzniveau damit sehr gut. Aber eben nur der Theorie
        nach – wie sich immer wieder herausstellt.
        Eine Feststellung gilt es gleich zu Beginn zu treffen:
        Die meisten Reisenden wissen wenig bis gar nichts von
        ihren Rechten. Und viele Unternehmen tun auch aktiv
        sehr wenig, um dies zu ändern. Im Gegenteil: Selbst von
        renommierten Unternehmen wird dies zuweilen ausge-
        nutzt. Woher diese Erkenntnis? Klingt sie doch zunächst
        furchtbar plakativ. Das bestätigt – mitunter – die Euro-
        päische Kommission, beispielsweise mit ihrem Euroba-
        rometer zu den Fluggastrechten. Tenor dieser Untersu-
        chung: Die Reisenden sind der Auffassung, dass die
        Informationen, die sie im Falle von Unannehmlichkeiten
        erhalten, unzureichend sind, und besonders unzufrieden
        sind sie mit der Entschädigung in derartigen Fällen.
        Damit kommen wir zum zentralen Problem. Denn das
        liegt in der Rechtsdurchsetzung. Sprich: Was ist, wenn
        Reisende ihren theoretischen Anspruch tatsächlich
        durchsetzen wollen? Da gilt es weite Wege zurückzule-
        gen. Das wollen wir ändern – deshalb dieser Antrag, den
        wir heute debattieren.
        Aus zahlreichen Bürgerzuschriften wissen wir, dass
        einige Unternehmen die Unwissenheit der Reisenden für
        sich ausnutzen und sie bei Widerspruch mit standardi-
        sierten Schreiben zu besänftigen – man könnte auch sa-
        gen: abzuwimmeln – versuchen. Die Schlichtungsstellen
        und Verbraucherverbände können sich vor Anfragen
        kaum retten. Trotzdem ist die Zahl derjenigen, die sich
        an diese Institutionen wenden, gemessen am Beschwer-
        depotenzial sehr gering. Wir wissen alle, wie in vielen
        Fällen dann der weitere Verfahrensgang ist. Nur Ver-
        braucher mit Rechtsschutz zeigen weiteren, gegebenen-
        falls auch juristischen Widerstand. Doch lassen Sie mich
        das hier einmal ausdrücklich festhalten: Nicht jeder Bun-
        desbürger hat eine Rechtsschutzversicherung.
        Die nach Verordnung legitimierten Durchsetzungs-
        stellen kümmern sich sehr wenig um die Rechte der Rei-
        senden. Ordnungswidrigkeitsverfahren – bei Flugreisen
        zwischen 3 000 und 4 000 pro Jahr – stehen in keinerlei
        Verhältnis zum Beschwerdepotenzial. Gemessen an an-
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        deren europäischen Staaten dürfte das täglich mehrere
        Hundert Fälle betragen. Einige deutsche Amtsgerichte
        beklagen hingegen schon heute Überlastungen.
        Die derzeitigen Bußgelder sind weder abschreckend
        noch wirksam. Das zeigt uns der Bereich der Fluggast-
        rechteverordnung. Dort liegen Bußgelder bei durch-
        schnittlich 3 000 Euro, Tendenz fallend. Und dann der
        Gipfel: Für die Evaluation benötigte Parameter liegen
        den deutschen Behörden nicht einmal vor.
        So weit die Beschreibung des Ist-Zustandes. Niemand
        kann sich mit dieser Situation abfinden. Ich bin der Auf-
        fassung, dass dies auch für die betroffenen Reise- und
        Verkehrsunternehmen kein Zustand ist, der besonders er-
        strebenswert ist. Kunden erwarten heute auch in diesem
        Bereich sehr viel. Eine konsequente Neuregelung wäre
        meines Erachtens auch ein Fortschritt für die Unterneh-
        men.
        Derzeit wird das Herzstück des Reiserechts mit der
        Pauschalreiserichtlinie und der Fluggastrechteverord-
        nung von der Europäischen Kommission überarbeitet. In
        den bisherigen Anhörungen und Beratungen auf Rats-
        ebene zeigte die Bundesregierung überhaupt kein Ge-
        sicht, äußerte sich zuweilen sogar gar nicht, wie Herr
        Ramsauer in der Sondersitzung Ende April 2010 bewie-
        sen hat, als die Fluggastrechte als prioritäres Thema auf-
        gerufen waren.
        Aufgrund der zögerlichen Haltung der Bundesregie-
        rung auf europäischer Ebene und bei der Durchsetzung
        des Gemeinschaftsrechts haben wir einen Antrag formu-
        liert, der das Ziel hat, einerseits das in Deutschland gute
        Verbraucherschutzniveau auf EU-Ebene zu übertragen
        und andererseits die Schwachstellen bei der Rechts-
        durchsetzung zu beheben. Wir wollen eine einheitliche
        Regelung zum Reiserecht, wie es Mitte September auch
        die Verbraucherschutzminister der Länder einstimmig
        beschlossen haben. Wir wollen, dass die Rechte von
        Flug-, Bahn-, Schiffs-, Pauschal- und wie auch immer
        sonst Reisenden in einem Rechtsakt gebündelt werden.
        In diesem Zusammenhang muss man wirklich betonen,
        dass diese Forderung nicht nur von uns, sondern auch
        von allen Bundesländern erhoben wird, gleichwohl von
        welchen Parteien sie regiert werden. Diese Vereinheitli-
        chung des Reiserechts bedeutet nicht nur Entbürokrati-
        sierung, sondern auch ein Mehr an Verbraucherschutz.
        Denn nur das, was der Verbraucher weiß und versteht,
        weiß er zu nutzen.
        Welche Elemente sollte diese neue europäische Rege-
        lung also im Interesse der Reisenden umfassen? Wir
        wollen eine Integration des Beförderungssektors in das
        Reiserecht. Wir müssen reden über die Ausweitung des
        Geltungsbereichs der Pauschalreiserichtlinie und des Be-
        griffs der Pauschalreise. Da bedarf es einer Anpassung
        an das moderne Buchungsverhalten und -angebot über
        das Internet, das sogenannte Dynamic Packaging. Wir
        wollen eine klare Trennung zwischen Reisevermittler
        und -veranstalter und eine längst überfällige Präzisie-
        rung, wer wann was ist. Eine verschärfte Haftungspflicht
        sollte auch für Vermittler in der EU und nicht nur in
        Deutschland gelten. Ein Nebeneffekt könnte sein, dass
        es auf diese Weise leichter gelingt, adäquate, einheitliche
        Qualitätsstandards zusammen mit der Reiseindustrie
        durchzusetzen. Außerdem sollte eine intermodale An-
        passung der Schadenersatzansprüche – also entlang der
        Verkehrsträger – geprüft werden.
        Die meisten Probleme haben sich bislang aufgrund
        der unzureichenden Definition von außerordentlichen
        Umständen ergeben. Deshalb muss hier eine Klarstel-
        lung erfolgen. Die Bundesregierung wäre gut beraten,
        hier in den Debatten die genannten Punkte im Interesse
        der Verbraucher einzubringen. Soweit die europäische
        Dimension des Antrags.
        Es gibt aber selbstverständlich auch Dinge, die wir
        national regeln und verbessern können. Wichtigste und
        zugleich einfachste Maßnahme: Wir brauchen eine kon-
        sequentere Nutzung von Sanktionen bei Verstößen durch
        die Durchsetzungsstellen, beispielsweise das Luftfahrt-
        bundesamt. Da liegt viel im Argen. Die eingangs vorge-
        stellten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
        Zugleich muss Privatpersonen die Beschwerdehürde
        und somit der Anspruch im Hinblick auf Schadensersatz
        erleichtert werden. Bislang hilft, wie eingangs bereits
        dargestellt, häufig nur der Rechtsweg. In nahezu jedem
        Fall müssen zusätzliche Kosten – trotz entsprechender
        Verordnung – vorgestreckt werden. Das muss vermieden
        werden. Wichtigster Punkt für uns ist dabei die Einbin-
        dung der Fluggesellschaften in die Schlichtungsstelle öf-
        fentlicher Personenverkehr, SÖP, wie es Mitte Septem-
        ber im Übrigen auch die Verbraucherschutzminister der
        Länder – ebenfalls – einstimmig beschlossen haben.
        Auch das Eurobarometer der EU-Kommission sieht hier
        Handlungsbedarf. Eine gut zugängliche Behörde auf na-
        tionaler Ebene, die sich um die Probleme der Reisenden
        kümmert, könne die Lösung der Probleme sein, so die
        Schlussfolgerung der Untersuchung.
        Unser Ziel sind ein hohes Verbraucherschutzniveau
        und zufriedene Reisende. Darin sind wir uns alle einig.
        Zufriedene Kunden sind gut für die Reisewirtschaft und
        deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie unseren An-
        trag folgen könnten – im Interesse der Reisenden und der
        Wirtschaft.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Gesetzes über die Einsetzung ei-
        nes Nationalen Normenkontrollrates (Tagesord-
        nungspunkt 19)
        Kai Wegner (CDU/CSU): Ich will heute mit einem
        Beispiel beginnen, das uns allen schnell verdeutlichen
        wird, worüber wir bei diesem Tagesordnungspunkt re-
        den: Die Zehn Gebote Gottes haben 279 Wörter, die
        amerikanische Unabhängigkeitserklärung hat 300 Wör-
        ter, aber die EU-Verordnung zur Einfuhr von Karamell-
        bonbons hat 25 911 Wörter!
        Nun, es ist ja erfreulich, dass in Deutschland so viele
        Dinge genauestens und bis ins letzte Detail geregelt sind
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9157
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        – dafür werden wir ja auch gelegentlich bewundert –,
        aber diese, fast schon zwanghafte Regelungswut wird
        für uns mehr und mehr zu einer großen Last. Wenn man
        die Bürger befragt, was für sie Bürokratie bedeutet, dann
        bekommt man schon mal als Antwort zu hören: Von der
        Wiege bis zur Bahre Formulare, Formulare.
        Wir haben zwar inzwischen schon an der ein oder an-
        deren Stelle Ordnung in den Wust an Verordnungen,
        Regelungen und Gesetzen gebracht und mit über
        300 Entlastungsmaßnahmen so manchen Papierstapel
        beiseite geräumt. Aber dennoch ist die Belastung, insbe-
        sondere für die Wirtschaft, unverhältnismäßig hoch. Und
        auch das Problem der Spürbarkeit der Entlastung bleibt
        weiterhin bestehen.
        Dies bestätigt uns auch eine aktuelle Umfrage unter
        den Unternehmern. Nur eine kleine Zahl – 3 Prozent –
        der befragten Unternehmen registrierten eine Verringe-
        rung administrativer Lasten, 36 Prozent merkten keine
        Veränderung, und 44 Prozent spürten sogar eine Zu-
        nahme von bürokratischen Aufgaben.
        Das ist zugegebener maßen ein eher unerfreuliches
        und enttäuschendes Ergebnis. Denn tatsächlich konnten
        insgesamt mehr als 6,7 Milliarden Euro an unnötiger Bü-
        rokratie eingespart werden. Damit wurden mehr als
        22 Prozent an Bürokratiekosten im Vergleich zum Jahr
        2006 abgebaut.
        Aber Bürokratieabbau ist kein Kurzstreckenlauf.
        Nein – Bürokratieabbau ist wie ein Marathonlauf! Die
        ersten Kilometer gehen relativ einfach, den größten Teil
        der Strecke schafft man unter den zu erwartenden An-
        strengungen. Aber irgendwann fängt es dann an wehzu-
        tun. Um das Ziel zu erreichen, muss man alle Kräfte und
        Reserven anzapfen. Umso schöner ist es, wenn man die
        Ziellinie erreicht hat und die Anstrengung spürbar nach-
        lässt.
        Man könnte sagen: Die Bundesregierung ist mit ih-
        rem Beschluss „Eckpunkte zum Bürokratieabbau und
        bessere Rechtsetzung“ Anfang des Jahres auf der Zielge-
        raden des Marathons Bürokratieabbau eingelaufen. Das
        Ziel, 25 Prozent der Bürokratiekosten bis Ende nächsten
        Jahres zu senken, liegt nicht mehr in allzu weiter Ferne.
        Wenn wir es erreichen wollen, heißt es jetzt: Alle vor-
        handenen Kräfte und Reserven aktivieren, damit die
        noch knapp fehlenden 3 Prozentpunkte abgebaut werden
        können.
        Ich bin zuversichtlich, dass wir diesen Marathonlauf
        schaffen werden. Denn mit der klaren Selbstverpflich-
        tung zum Nettoabbauziel und mit dem Ausbau der Kom-
        petenzen des Nationalen Normenkontrollrats machen
        wir einen großen Schritt hin zu mehr Entlastung für die
        Bürger, die Verwaltung und vor allem für die Wirtschaft.
        Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist es von
        essenzieller Bedeutung, den begonnenen Lauf weiter
        fortzusetzen. Denn nach wie vor ist der Mittelstand und
        sind die kleinen Unternehmen von staatlicher Regulie-
        rung besonders stark betroffen. Ausgehend von einer
        Gesamtbelastung der Wirtschaft von rund 50 Milliarden
        Euro müssen noch Abbaumaßnahmen von etwa
        1,5 Milliarden Euro auf den Weg gebracht werden, um
        bis Ende nächsten Jahres das Ziel zu erreichen. Das er-
        fordert Kondition und, was fast noch wichtiger ist, politi-
        sche Willensstärke.
        Zudem haben sich die Rahmenbedingungen durch die
        Wirtschafts- und Finanzkrise verändert und erfordern in
        einigen Fällen mehr Regelungen. Die Verunsicherung ist
        groß und fördert die Versuchung, das Erreichte durch
        neue Bürokratiebelastungen wieder zu gefährden. Büro-
        kratie zu reduzieren und gleichzeitig wichtigen Bedürf-
        nissen anderer politischer Themenfelder gerecht zu wer-
        den, wurde immer mehr zum Balanceakt. Deshalb ist es
        eine große Errungenschaft der christlich-liberalen Bun-
        desregierung, dass zum ersten Mal „Bürokratieabbau“
        und „bessere Rechtsetzung“ als eigenständige Politik-
        ziele, gleichrangig und vollwertig, neben anderen Poli-
        tikzielen stehen. Mit unserem Staatsminister für Büro-
        kratieabbau, Eckart von Klaeden, und seiner Ge-
        schäftsstelle haben wir in diesen Fragen unermüdliche
        und engagierte Streiter im Bundeskanzleramt. Dafür
        möchte ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen.
        Um auch weiterhin positive Ergebnisse sicherzustel-
        len, werden wir unsere Anstrengungen verstärken müs-
        sen. Denn die Akzeptanz von politischen Großprojekten
        dürfte entscheidend von ihrer möglichst alltagstaugli-
        chen Ausgestaltung abhängen. Zudem müssen wir tun-
        lichst darauf achten, dass wir die bereits erzielten Entlas-
        tungen von rund 7 Milliarden Euro pro Jahr nicht durch
        neue Belastungen an anderer Stelle wieder erhöhen. Der
        berühmte Jojo-Effekt wäre an dieser Stelle mindestens
        genauso ärgerlich.
        Damit das nicht passiert, wird uns der Nationale Nor-
        menkontrollrat genau beobachten. Und das wollen wir
        auch!
        Mit der Änderung des Normenkontrollratsgesetzes,
        das heute zur Abstimmung steht, bezieht die Koalition
        den Normenkontrollrat umfassender in die Rechtsetzung
        mit ein. Er wird erheblich gestärkt, und sein Mandat und
        die Kompetenzen werden ausgeweitet. Der unabhängige
        Normenkontrollrat bleibt die zentrale Institution des Bü-
        rokratieabbaus.
        Bisher prüft der Normenkontrollrat bei allen Gesetz-
        entwürfen der Bundesregierung die Darstellung des bü-
        rokratischen Aufwands, der durch die Befolgung soge-
        nannter Informationspflichten bei Bürgern, Wirtschaft
        und öffentlicher Verwaltung entsteht – und regt gegebe-
        nenfalls die Erarbeitung kostengünstigerer Alternativen
        an. Künftig soll diese Begutachtung auf den gesamten
        Aufwand ausgedehnt werden, der für die Betroffenen bei
        der Erfüllung bundesrechtlicher Vorschriften anfällt. Das
        ist unter dem sogenannten Erfüllungsaufwand in § 2 zu
        verstehen. Dies bedeutet, dass in Zukunft alle Belastun-
        gen, die sich aus der Umsetzung eines Gesetzes ergeben,
        in den Blick genommen werden. Ein mutiger und be-
        wusster politischer Schritt zu einem ganzheitlichen An-
        satz, wie ich finde.
        Das entscheidend neue Element des Regierungspro-
        gramms ist die Betrachtung des gesamten Aufwands, der
        zur Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung notwen-
        dig ist. Diese Ausweitung des Programms auf den ge-
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        samten Erfüllungsaufwand bringt einen Perspektivwech-
        sel mit sich: Das Recht wird aus der Sicht aller
        Betroffenen untersucht und weiterentwickelt. Damit be-
        tritt die Bundesregierung – auch im internationalen Ver-
        gleich – methodisches Neuland. Wenn wir jetzt ein ähn-
        lich objektives Messverfahren für den Erfüllungs-
        aufwand für Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft und
        die Verwaltung erarbeiten, wie es das Standard-Kosten-
        Modell leistet, dann sind wir an der Spitze der internatio-
        nalen Entwicklung.
        Ich begrüße es deshalb sehr, dass das Prüfungsrecht
        des Normenkontrollrats entsprechend erweitert wird.
        Die geplante Mandatserweiterung ist auch Ausdruck der
        hohen Wertschätzung für die Arbeit des Normenkont-
        rollrats. Und an dieser Stelle möchte ich mich deshalb
        ganz herzlich bei allen bedanken, die im Normenkon-
        trollrat mitarbeiten – sowohl bei denen, die den Normen-
        kontrollrat selbst bilden, als auch bei den Mitarbeiterin-
        nen und Mitarbeitern.
        Neben den Regelungsentwürfen der Bundesministe-
        rien soll der NKR künftig außerdem Gesetzesentwürfe
        des Bundesrates, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet
        werden, und Regelungsvorhaben aus der Mitte des Bun-
        destages, soweit die einbringende Fraktion bzw. die ein-
        bringenden Abgeordneten dies beantragen, prüfen kön-
        nen. An dieser Stelle hat die Anhörung zum
        Normenkontrollratsgesetz einige politische und verfas-
        sungsrechtliche Fragen aufgeworfen. Die in unserem
        Änderungsantrag vorgesehene Regelung stellt nun klar,
        dass jedes Verfassungsorgan seine Initiativen dem Nor-
        menkontrollrat eigenständig zuleiten kann.
        An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, dass ich
        mich sehr darüber freue, dass alle Fraktionen dieses
        Hauses den grundsätzlichen Kurs der Regierungskoali-
        tion in Sachen Bürokratieabbau unterstützen. Es mag an
        der ein oder anderen Stelle unterschiedliche Herange-
        hensweisen geben, wie die Abbauziele zu erreichen sind.
        Auch gibt es gewisse Wünsche und Begehrlichkeiten,
        die in diesem Zusammenhang gesehen werden. Aber im
        Großen und Ganzen sind wir uns alle einig, dass wir den
        eingeschlagenen Weg weiterhin zusammen gehen müs-
        sen.
        Allerdings haben wir noch eine schwierige Strecke
        vor uns. Denn auch wenn wir einen wichtigen Etappen-
        erfolg erzielt haben – und der Jahresbericht der Bundes-
        regierung zum Bürokratieabbau, der gestern vorgestellt
        wurde, zeigt uns dies –, darf jetzt der Siegeswille nicht
        nachlassen.
        Für das Jahr 2011 sind zahlreiche weitere Maßnah-
        men vorgesehen, die die Wirtschaft trotz notwendiger
        neuer Belastungen zusätzlich um 4,6 Milliarden Euro
        entlasten werden. Die Maßnahmen reichen von der zu-
        künftigen Möglichkeit der papierlosen Kommunikation
        mit den Finanzämtern über die Bereitstellung vorausge-
        füllter Steuererklärungen bis hin zur Vereinfachung des
        Unternehmensteuerrechts.
        Insbesondere die Verkürzung und Harmonisierung
        der Aufbewahrungsfristen im Steuer-, Handels- und
        Sozialrecht werden wir mit Nachdruck begleiten. Denn
        mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen verbinde
        ich die große Hoffnung, dass wir zu einer für die Unter-
        nehmen wirklich sichtbaren und spürbaren Entlastung
        kommen. Wenn die Betriebe nur noch halb so viel Platz
        für ihre Akten und Steuerunterlagen vorhalten müssen
        als jetzt, dann können sie die frei werdenden Räumlich-
        keiten sinnvoller nutzen, und es schmälert zugleich die
        Kosten für die Archivierung.
        Unser Ziel muss doch immer eines bleiben, nämlich:
        Umfang und Nebenwirkungen der Regelungen so gering
        wie möglich zu halten!
        Denn nur wenn die Menschen in unserem Land das
        Gefühl haben, dass es den tatsächlichen Willen gibt, Bü-
        rokratie auf ein Minimum zu reduzieren, dann wächst
        auch die Akzeptanz staatlichen Handelns, und zwar auf
        allen Ebenen.
        Andrea Wicklein (SPD): Der Nationale Normen-
        kontrollrat wurde vor vier Jahren durch die Große Koali-
        tion ins Leben gerufen und hat bereits viel erreicht. Bis-
        her konnte die Bürokratiebelastung der Wirtschaft um
        über 7 Milliarden Euro pro Jahr reduziert werden.
        Besonders wichtig ist auch die Arbeit des Normenkon-
        trollrates an Modellprojekten zum Abbau des Voll-
        zugsaufwandes. So wurde zum Beispiel das BAfög-An-
        tragsverfahren durchleuchtet. Der Normenkontrollrat
        wächst da auch in eine Beratungsfunktion für die unteren
        politischen Ebenen hinein.
        Für uns als Parlamentarier hat der Normenkontrollrat
        eine wichtige Funktion: Bürokratiekosten, die aus Infor-
        mationspflichten entstehen, werden transparent gemacht
        und damit wird uns eine wichtige Entscheidungsgrund-
        lage für die Beratung von Gesetzen an die Hand gege-
        ben.
        Schon bei der Formulierung von Gesetzen sorgt die
        Überprüfung durch den Normenkontrollrat dafür, dass
        unnötige Belastungen der Wirtschaft und der Bürgerin-
        nen und Bürger vermieden werden. Es geht darum, Ge-
        setze besser zu machen. Es geht um bessere Regeln,
        mehr Transparenz und eine bessere Rechtsetzung. Ich
        begrüße daher, dass bei dieser Reform ein weitgehender
        Konsens erzielt werden konnte.
        Doch Bürokratieabbau ist leider bei einigen zu einem
        Schlagwort für Staatsabbau geworden. Daraus resultie-
        ren auch die Befürchtungen, die vor allem Gewerkschaf-
        ten gegen das Programm zum Bürokratieabbau haben.
        Ich möchte deshalb für die SPD noch einmal ausdrück-
        lich betonen: Uns geht es beim Bürokratieabbau darum,
        Verwaltungsabläufe zu überprüfen und zu modernisie-
        ren, wenn möglich zu vereinfachen. Für uns bedeutet
        Bürokratieabbau aber nicht, bewährte soziale oder ge-
        sellschaftliche Standards zu reduzieren oder notwendige
        Aufgaben des Staates infrage zu stellen. Ob im Umwelt-
        schutz, beim Steuerrecht oder beim Arbeitsrecht: Eine
        effiziente Verwaltung ist notwendig, um die Interessen
        der Bürgerinnen und Bürger und der Gemeinschaft zu si-
        chern. Uns geht es um ein besseres Verhältnis der Bürge-
        rinnen und Bürger zu den staatlichen Stellen.
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        Gleichzeitig möchte ich denjenigen, die jede Bürokra-
        tie gleich als unbeherrschbares Monster darstellen, an
        dieser Stelle sagen: Staatliche Regeln sorgen für Bere-
        chenbarkeit, Rechtsschutz und Gleichbehandlung. Erst
        die Erhebung von Informationen durch den Staat sorgt
        für Steuereinnahmen oder sinnvolle Regulierung. Erst
        die nötigen Informationen sichern dem Hartz-IV- oder
        BAfög-Empfänger seine Leistungen. Trotzdem muss das
        Ausfüllen eines BAfög-Antrages nicht 335 Minuten
        dauern, wie der Normenkontrollrat herausgefunden hat.
        Der Bürokratieabbau sollte daher nicht ideologisiert
        werden – seine Instrumente auch nicht. Wir bestehen da-
        rauf, dass der Nationale Normenkontrollrat nicht als
        politisches Instrument missbraucht wird.
        Wir werden mit dem Abbau bürokratischer Lasten
        dann Erfolg haben, wenn Unternehmen und Bürgerinnen
        und Bürger durch effizientere Prozesse und einen redu-
        zierten Aufwand für das Ausfüllen von Formularen die
        Entlastungen tatsächlich spüren. Das wird auch die Ak-
        zeptanz für unvermeidbare Bürokratie erhöhen. Wir se-
        hen es als SPD daher positiv, dass die Befugnisse des
        Normenkontrollrates ausgedehnt werden sollen, dass in
        Zukunft der gesamte Erfüllungsaufwand dargestellt wer-
        den muss. Das resultiert auch aus den gesammelten Er-
        fahrungen, die der Normenkontrollrat seit seiner Einset-
        zung im Jahr 2006 machen konnte.
        Bis jetzt hat sich der Normenkontrollrat auf die Büro-
        kratiekosten beschränkt, die aus bundesrechtlichen In-
        formationspflichten entstehen. Zukünftig soll der Rat er-
        mitteln, ob der gesamte Aufwand der Unternehmen und
        der Bürger zur Erfüllung einer gesetzlichen Norm ord-
        nungsgemäß durch den Einbringer eines Gesetzes darge-
        stellt wurde. Es soll auch möglich sein, Gesetzentwürfe
        auf Antrag des Bundesrates oder der Fraktionen des
        Bundestages zu überprüfen.
        Im federführenden Ausschuss für Wirtschaft und
        Technologie hatten wir einen Änderungsantrag einge-
        bracht. Kritisch sahen und sehen wir zwei Punkte, die
        ich kurz erläutern möchte. Zum einen war es uns wichtig
        zu betonen, dass der Normenkontrollrat nicht politisch
        instrumentalisiert werden darf – weder von der Regie-
        rung noch von der Opposition. Bei der Anhörung wurde
        sogar die Frage der Verfassungswidrigkeit aufgeworfen.
        Wir haben daher vorgeschlagen, dass Gesetzentwürfe
        aus dem Parlament nur auf Wunsch der einbringenden
        Fraktion überprüft werden sollten. Ich freue mich, dass
        die Regierungsfraktionen unserem Vorschlag gefolgt
        sind und ihn übernommen haben.
        Zum anderen wollten wir klarstellen, dass über die
        politische Zielsetzung von Gesetzentwürfen allein das
        Parlament entscheidet, nicht der Normenkontrollrat. Wir
        wollten daher deutlicher formulieren, was unter „Erfül-
        lungsaufwand“ zu verstehen ist. Er sollte unserer Mei-
        nung nach nur den direkten zeitlichen und monetären
        Aufwand umfassen. Wir wollten ihn vom Vollzugsauf-
        wand der Behörden unterscheiden und die indirekten
        Auswirkungen von Gesetzen, wie zum Beispiel auf
        Wachstum, Beschäftigung oder Investitionsentscheidun-
        gen von der Prüfung durch den Normenkontrollrat aus-
        nehmen. Leider hat die Regierungskoalition diesen Än-
        derungsvorschlag abgelehnt. Eine Klarstellung an dieser
        Stelle ist dringend geboten. Nun muss der Normenkon-
        trollrat selbst in seiner täglichen Arbeit für Klärung sor-
        gen.
        Wir setzen natürlich darauf, dass der Nationale Nor-
        menkontrollrat so wie in der Vergangenheit Bescheiden-
        heit übt. Wir werden aber als Opposition sehr genau da-
        rauf achten, dass der Normenkontrollrat von einigen
        nicht als Einfallstor missbraucht wird, um soziale oder
        ökologische Standards oder Rechte von Arbeitnehmerin-
        nen und Arbeitnehmern abzubauen. Die übergeordneten
        Ziele des Bürokratieabbaus sind – so glaube ich – kon-
        sensfähig. Dazu zählt, Gesetze besser zu machen,
        Regeln zu vereinfachen und den Vollzug von Gesetzen
        kostengünstiger hinzubekommen. Der Nationale Nor-
        menkontrollrat ist dafür auch das entscheidende Instru-
        ment. Mir ist kein besseres bekannt.
        Deutschland hat dabei eine Vorbildwirkung. Das
        Standardkostenmodell wird in vielen europäischen Staa-
        ten angewandt. Den gesamten Erfüllungsaufwand zu
        messen ist jedoch Neuland. Das hat auch die Anhörung
        im Deutschen Bundestag ergeben. Wir wissen, dass es
        sich dabei um einen laufenden Prozess handelt, der die
        weitere Begleitung durch den Bundestag, aber auch
        durch die Öffentlichkeit und Fachexperten bedarf. Sicher
        erleben wir heute nicht die letzte Reform des Nationalen
        Normenkontrollrates. Die SPD wird sich auch in Zu-
        kunft dafür einsetzen, dass der zu überprüfende Erfül-
        lungsaufwand von Gesetzen deutlicher formuliert wird.
        Vielleicht übernimmt die Regierungskoalition dann auch
        diesen Vorschlag der SPD.
        Denn es bleiben offene Fragen: Wie wird der Nor-
        menkontrollrat in Zukunft mit seinen neuen Befugnissen
        umgehen? Die Regierungskoalition hat ja auf einen kla-
        ren Rahmen jetzt weitgehend verzichtet. Werden wir in
        Zukunft darüber diskutieren, was der Normenkontrollrat
        überhaupt kontrolliert? Ich denke nicht, dass solche offe-
        nen Fragen der Arbeit des Normenkontrollrates gut tun.
        Sie werden sicher in näherer Zukunft bei weiteren Refor-
        men zu beantworten sein.
        Frank Schäffler (FDP): Ludwig Erhard hat einmal
        gesagt: „Was sind das für Reformen, die uns Wände voll
        neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsverordnun-
        gen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht.
        Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form
        Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen
        bringen, wenn nicht sogar zwingen.“
        Die Themen „Bürokratieabbau“ und „bessere Recht-
        setzung“ sind für die christlich-liberale Koalition zen-
        trale Themen. In unserem Koalitionsvertrag haben wir
        uns der Maxime verpflichtet: „Der freiheitliche Staat soll
        nicht bevormunden, sondern den Gestaltungsraum von
        Bürgern und Unternehmen respektieren.“
        Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Meilenstein
        auf dem Weg zur konsequenten Fortsetzung des Büro-
        kratieabbaus und der besseren Rechtsetzung. Mit ihm
        werden wir den Nationalen Normenkontrollrat, NKR,
        stärken. Als unabhängige und kompetente Institution
        9160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
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        wird er zukünftig nicht nur die Gesetzentwürfe der Bun-
        desregierung prüfen, sondern die Vorlagen aller Gesetz-
        gebungsorgane: Der NKR überprüft die Regelungsent-
        würfe der Bundesministerien vor deren Vorlage an das
        Bundeskabinett. Regelungsvorlagen des Bundesrates
        prüft er, wenn sie ihm vom Bundesrat zugeleitet werden.
        Gesetzesvorlagen des Bundestages prüft der NKR auf
        Antrag der einbringenden Fraktion oder der einbringen-
        den Abgeordneten. Damit wird die Qualität der Recht-
        setzung aller Gesetzgebungsorgane erhöht. Das Statisti-
        sche Bundesamt steht Bundesregierung, Bundestag und
        Bundesrat bei Bedarf unterstützend zur Verfügung.
        Der durch Informationspflichten ausgelöste Aufwand,
        auf den sich der Bürokratieabbau bisher beschränkte,
        macht nur einen geringen Teil der Gesamtbelastung
        durch eine rechtliche Regelung aus. Deshalb haben wir
        den engen Begriff der Bürokratiekosten ausgedehnt: Mit
        dem Erfüllungsaufwand werden der gesamte messbare
        Zeitaufwand und die Kosten, die durch bundesrechtliche
        Vorschriften bei Bürgerinnen und Bürgern, bei Unter-
        nehmen sowie bei der öffentlichen Verwaltung entste-
        hen, dargestellt.
        Ein entscheidender Faktor für den bisherigen Erfolg
        der Tätigkeit des NKR war der „depolitisierte Ansatz“:
        Der Normenkontrollrat hat nur zu prüfen, ob die zu er-
        wartenden Bürokratiekosten nachvollziehbar und metho-
        dengerecht dargestellt werden. Nach wie vor wird die
        Kompetenz des NKR hierauf beschränkt bleiben. Ziele
        und Zwecke einer Regelung sind nicht Gegenstand einer
        Kontrolle durch den NKR, sondern unterliegen weiter-
        hin der politischen Entscheidung der Gesetzgebungs-
        organe. Wir wollen den NKR in seiner beratenden Rolle
        stärken, aber seine politische Neutralität und Unabhän-
        gigkeit erhalten!
        Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung wirken
        wie ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Wir halten
        deshalb an dem bestehenden Ziel fest, die Informations-
        pflichten der Wirtschaft bis 2011 im Vergleich zu 2006
        um netto 25 Prozent zu reduzieren. Dass wir dieses Ziel
        erreichen werden, zeigen die gestern von der Bundes-
        regierung veröffentlichten Zahlen: So beträgt die Ge-
        samtabbaubilanz momentan 22,6 Prozent gegenüber der
        Belastung im Jahr 2006. Bis Ende 2010 wurden Verein-
        fachungsmaßnahmen mit einem Entlastungsvolumen
        von rund 6,7 Milliarden Euro pro Jahr umgesetzt. 2011
        werden wir weitere Maßnahmen umsetzen, dazu hat die
        Bundesregierung bereits am 29. Juni 2010 den Umset-
        zungsplan zur Realisierung des 25-Prozent-Nettoabbau-
        ziels vorgelegt. Der Bürokratieabbau wird für die FDP
        aber nicht mit dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels Ende
        2011 abgeschlossen sein – insbesondere auch mit Blick
        auf den Erfüllungsaufwand werden wir im Interesse der
        Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft bürokrati-
        sche Hemmnisse konsequent weiter abbauen und die
        Rechtsetzung verbessern.
        Michael Schlecht (DIE LINKE): Die Linke hat die
        Einsetzung des Normenkontrollrates von Anfang an ab-
        gelehnt, weil sein Auftrag in doppelter Weise falsch ist.
        Erstens prüft der Kontrollrat nur die Kosten des Voll-
        zugs, nicht aber den Nutzen von Gesetzen. Wenn aber
        die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalb der Betrach-
        tung bleibt, sind auch vernünftige Abwägungen von
        Kosten und Nutzen unmöglich. Zweitens konzentriert
        sich der Kontrollrat auf die Entlastung der Unternehmen
        und dabei insbesondere auf die Vermeidung von Infor-
        mationspflichten. Diese beiden Schwerpunkte sind zu ei-
        genständigen Politikzielen geworden. Statt auf bessere
        Regulierung zielt der NKR auf Deregulierung.
        Die nun beabsichtigte Erweiterung des NKR-Mandats
        ist angesichts der Krisenerfahrungen der vergangenen
        Jahre abzulehnen. Bessere, zielgenauere Regulierung
        sollte im Mittelpunkt stehen und nicht noch mehr einsei-
        tige Deregulierung. Einem falsch konstruierten und
        falsch mandatierten Gremium noch mehr Befugnisse zu
        geben, lehnen wir entschieden ab. Den Handlungsbe-
        reich des NKR auch auf die Gesetzesinitiativen der Frak-
        tionen, also auch der Opposition, ausdehnen zu wollen,
        haben wir von Anfang an abgelehnt. Das zumindest hat
        jetzt auch die Koalition eingesehen und darauf mit einem
        eigenen Änderungsantrag reagiert.
        Aber an der falschen Ausrichtung des NKR ändert
        sich nichts. Zu Recht stellte der Sachverständige des
        DGB während der Anhörung zum Gesetzentwurf die
        Frage, warum Bürokratie unbedingt billiger und nicht
        hauptsächlich besser werden sollte. Wer Gesetzesfolgen
        richtig abschätzen will, muss zunächst die Ziele und den
        Nutzen von Gesetzen im Blick haben. Erst danach lässt
        sich abwägen, ob es an der einen oder anderen Stelle ei-
        nen unverhältnismäßigen Erfüllungsaufwand gibt. Und
        das sollte nicht nur für Unternehmen, sondern auch für
        Beschäftigte und Bürgerinnen und Bürger gelten.
        Besser ist es deshalb, in Gesetzgebungsverfahren oder
        bei der Verabschiedung von Vorschriften von vornherein
        die Praxistauglichkeit und nicht zuletzt auch die Ver-
        ständlichkeit als wesentliche Kriterien zu berücksichti-
        gen. Zu diesem Zweck sollten mehr als bisher die Inte-
        ressen von Beschäftigten und von Bürgerinnen und
        Bürgern in die Anhörungen und generell in die Mei-
        nungsbildung von Legislative und Exekutive einfließen.
        Eine bessere Staatlichkeit in diesem Sinne fördert der
        NKR bislang kaum, wie seine Jahresberichte zeigen.
        Sein eindeutiger Fokus ist die Entlastung von Unterneh-
        men. Im letzten Jahresbericht sind die dort genannten
        365 Vereinfachungsmaßnahmen nahezu ausschließlich
        unternehmensbezogen. Interessant ist dabei, dass die
        großen Posten der Kostenersparnis mit Bürokratieabbau
        gar nichts zu tun haben. Sie ergeben sich daraus, dass
        Papier durch elektronische Mitteilungen ersetzt wird.
        Summiert man diese technologisch bedingten Entlas-
        tungsbeiträge, kommt man auf über 90 Prozent der Ge-
        samtersparnis. Mit anderen Worten: Der von der Bun-
        desregierung behauptete Bürokratieabbau ist im Kern
        eine technische Neuerung. Soweit Bürgerrechte jeweils
        gewahrt bleiben, ist diese Innovation zu begrüßen. Zu-
        gleich zeigen die Größenverhältnisse, dass der Bürokra-
        tieabbau im engeren Sinne offensichtlich nur sehr be-
        grenzte Wirkungen hat.
        Zum Teil werden aber auch Informationspflichten in
        Gänze gestrichen. In diesem Zusammenhang mahnt der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9161
        (A) (C)
        (D)(B)
        Beirat des Statistischen Bundesamtes zu Recht, „beim
        Abbau von Statistikpflichten neben den Bürokratiekos-
        ten und Entlastungspotenzialen auch die damit einher-
        gehenden Informationsverluste systematisch zu berück-
        sichtigen. Die Streichung von Merkmalen oder ganzen
        Erhebungen kann zu einem Verlust an Informationen
        führen, der sich auch nachteilig auf die Qualität von Ge-
        setzen auswirken kann. Informationsverluste müssen in
        den statistikrelevanten Gesetzentwürfen deutlicher als
        bisher aufgezeigt werden. Dadurch können Kosten und
        Nutzen von amtlichen Statistiken besser abgewogen
        werden.“
        Bisweilen hat man den Eindruck, dass – neben Steu-
        erreformen – der Bürokratieabbau das letzte wirtschafts-
        politische Aufgebot der Regierung ist. Dabei ist häufig
        noch nicht einmal nachvollziehbar, wie die Bundesregie-
        rung und der Normenkontrollrat ihre Entscheidungen ab-
        wägen. Wir halten es für falsch, den Normenkontrollrat,
        ein eher intransparentes und einseitig auf Kostensenkung
        orientiertes Gremium, zu stärken. Das geht dann so weit,
        dass die FDP zur Finanzierung ihrer Steuergeschenke an
        Besserverdiener geringere Sicherheitsstandards im Au-
        tobahnbau fordert. Das nützt Bauunternehmen, aber wird
        für die Gesellschaft teuer. Einstürzende U-Bahn-Schächte
        in Köln lassen grüßen.
        Bürokratieabbau muss mit Verstand erfolgen und
        mehr Demokratie wagen. Wir brauchen keine Gesetze
        und Verwaltungsvorschriften, die nicht sachgerecht sind,
        die einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern oder
        die in Gänze widersinnig sind. Wir brauchen keinen Ob-
        rigkeitsstaat, der die Bürgerinnen und Bürger gängelt
        und bevormundet. Einen Bürokratieabbau in diesem
        Sinne begrüßen wir.
        Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wir begrüßen den Gesetzentwurf grundsätzlich. Unsere
        soziale Marktwirtschaft braucht einen geeigneten Rah-
        men aus guten Regeln, Standards und Normen, der von
        den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert wird. In
        vielen Fällen sind Regelungen und Regulierungen, wie
        auch Informationspflichten, wichtig und notwendig. In
        vielen Fällen sind sie aber auch unnötig kompliziert und
        aufwendig. Solche überbürokratischen Regeln und Ver-
        fahren werden – seitens der Unternehmen wie auch sei-
        tens der Bürgerinnen und Bürger – zunehmend kritisiert
        und sorgen für Unverständnis. Unnötige Bürokratie ab-
        zubauen entfaltet deshalb eine hohe Wirkung, gibt posi-
        tive konjunkturelle Impulse und stärkt den Wirtschafts-
        standort Deutschland. Dies gelingt aber nur dann, wenn
        dieses Weniger an Bürokratie für Unternehmen, Bürge-
        rinnen und Bürger und für die Verwaltung auch tatsäch-
        lich spürbar ist. Es ist deshalb sinnvoll, dass der Nor-
        menkontrollrat zukünftig den gesamten bürokratischen
        Erfüllungsaufwand prüfen soll, der durch Bundesgesetze
        ausgelöst wird und nicht nur die Informationspflichten.
        Denn um unnötige Bürokratie zu vermeiden, brauchen
        wir ein realistischeres Bild der tatsächlichen Belastun-
        gen.
        Wir erweitern mit dem Gesetz das Mandat des
        Normenkontrollrates. Zukünftig sollen auf Antrag der
        einreichenden Fraktion bzw. des einreichenden Abge-
        ordneten auch Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Bun-
        destages geprüft werden. Das führt zu mehr Klarheit und
        ist unbestritten ein Fortschritt. Allerdings ging der ur-
        sprüngliche Gesetzentwurf weiter. Geplant war, dass
        zum Beispiel auch Koalitionsentwürfe auf Antrag einer
        Fraktion dem Normenkontrollrat zur Prüfung zugeleitet
        werden können. Damit wäre ein Schlupfloch für beson-
        ders bürokratielastige Gesetzentwürfe der Regierungs-
        fraktionen geschlossen worden. Die Koalitionsfrak-
        tionen und auch die SPD-Fraktion hatten hier nun
        Bedenken, sodass jetzt die Prüfung nur auf Antrag der
        einbringenden Fraktion möglich sein wird. Wir finden
        das etwas bedauerlich. Allerdings sehen auch wir hier
        noch Klärungsbedarf zu den verfassungsrechtlichen Ein-
        wänden. Meine Fraktion wird sich deshalb bei der Ab-
        stimmung über den Gesetzentwurf enthalten.
        Der Aufwand, die bürokratische Belastungen zu er-
        fassen, darf nicht bei den Fraktionen abgeladen werden.
        Das Initiativrecht der Fraktionen darf nicht beschädigt
        werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Aus-
        weitung des Mandats des Normenkontrollrates. Dieser
        Forderung von uns kommt die Koalition zumindest zum
        Teil nach, weil das Statistische Bundesamt nun auch uns
        Abgeordnete bei der Bürokratiekostenermittlung unter-
        stützen kann. Es wird sich im Verfahren zeigen, ob dies
        so praktikabel gelöst ist. Gegebenenfalls müssen wir
        aber hier nachsteuern. Ein weiterer Punkt auf unserer
        Reformagenda bleibt die größere Unabhängigkeit des
        Normenkontrollrates von der Regierung. Wir schlagen
        hier vor, die Auswahl der Mitglieder des Normenkon-
        trollrates nicht mehr ausschließlich in die Hand der Bun-
        desregierung zu legen, sondern über die Besetzung des
        Rates auch im Bundestag abzustimmen. Last but not
        least kommen komplizierte und aufwendige Regelungen
        mitunter auch erst im parlamentarischen Verfahren über
        Änderungsanträge in die Gesetzentwürfe hinein. Der
        Normenkontrollrat sollte deshalb auch vor Abschluss ei-
        nes Gesetzgebungsverfahrens eine abschließende Stel-
        lungnahme abgeben. Dies wäre notwendig, damit die
        Expertise in der parlamentarischen Beratung noch ange-
        messen berücksichtigt werden kann.
        Bürokratische Belastungen für Bürgerinnen und Bür-
        ger und Unternehmen entstehen nicht nur durch die Ge-
        setzgebung, sondern vor allem durch den Vollzug der
        Gesetze. Eine Verringerung überzogener Bürokratielas-
        ten kann deshalb nicht allein auf Bundesebene gelingen,
        sondern braucht eine gemeinsame Anstrengung aller
        staatlichen Ebenen. Die Bundesregierung sollte hier ak-
        tiv werden und eine gemeinsame Initiative mit Ländern
        und Kommunen anstoßen. Auch müssen zu starke büro-
        kratische Belastungen aus bereits vorhandenen Gesetzen
        viel mehr in den Blick genommen werden. Diese Mam-
        mutaufgabe kann der Normenkontrollrat allein nicht
        leisten. Hier ist die Regierung gefordert, ein umfassen-
        des Bürokratieabbauprogramm zu entwerfen, das unnö-
        tige bürokratische Belastungen aus allen geltenden ge-
        setzlichen Regelungen zusammenstellt, und bis zur
        Mitte dieser Wahlperiode eine umfassende Gesetzesini-
        tiative zum Abbau dieser Bürokratielasten vorzubereiten
        9162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        und im Deutschen Bundestag zur Abstimmung zu stel-
        len.
        Unnötige bürokratische Belastungen zu vermeiden
        und abzubauen, muss auch viel stärker in das alltägliche
        Regierungsdenken und -handeln integriert werden. Die
        Ministerien sollten für jedes Jahr verbindliche Bürokra-
        tieabbauziele für ihr Haus formulieren und bei den jähr-
        lichen Haushaltsberatungen über deren Einhaltung be-
        richten.
        Die Bundesregierung hat in ihrem Jahresbericht 2009
        zum Stand des Bürokratieabbaus erstmals klargestellt,
        dass sie eine „Netto-Entlastung der Wirtschaft um
        25 Prozent bis Ende 2011“ anstrebt. Trotzdem hat sie auf
        eine transparente Gegenüberstellung der belastenden
        und entlastenden Maßnahmen verzichtet. Diese wäre
        aber zwingend notwendig, um die Erfüllung des Netto-
        ziels nachprüfbar zu machen. Auch der Normenkontroll-
        rat hatte diese unklare Darstellung bereits kritisiert. Es
        ist deshalb notwendig, dass die Bundesregierung zu-
        künftig bei ihrer Berichterstattung zum Stand des Büro-
        kratieabbaus auch über belastende Maßnahmen transpa-
        rent und nachvollziehbar berichtet.
        Anlage 6
        Zu Protokolll gegebenen Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Energiesteuer- und des Strom-
        steuergesetzes (Tagesordnungspunkt 20)
        Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir beschließen
        heute in zweiter und dritter Beratung den Gesetzentwurf
        zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge-
        setzes, in dem es um verschiedene Themenbereiche geht.
        Schwerpunkt dieses Änderungsgesetzes ist der Aus-
        gleich steuerlicher Unterschiede, die in der Vergangen-
        heit immer wieder für Ärger sorgten. Auch sollen hier-
        mit im Rahmen des Vollzuges dieser Gesetze bisher
        aufgetretene Umsetzungsschwierigkeiten eliminiert wer-
        den.
        Es geht aber auch darum, klarzustellen, dass steuerli-
        che Unterschiede wie bei Fern- und Nahwärme nivelliert
        werden, wie auch, dass die von der Großen Koalition be-
        schlossene Abschaffung der Steuerbefreiung von Kohle
        zum Verheizen in Privathaushalten nun tatsächlich – ins-
        besondere aus Umweltgesichtspunkten – zementiert
        wird.
        Ein Hauptpunkt dieses Gesetzentwurfes, der gerne von
        der Opposition angegriffen wird, weil er natürlich auch
        der mit der größten haushalterischen Auswirkung ist, ist
        die Verstetigung der Agrardieselvergünstigung. Trotz der
        hier zu beschließenden Reduzierung ist dieser im Ver-
        gleich zu anderen Ländern der EU – ja, ich sage weltweit
        – immer noch der höchste Steuersatz für den Einsatz von
        Treibstoff in der Landwirtschaft. Diese Sonderbelastung
        ausschließlich der deutschen Landwirtschaft konterka-
        riert das Ziel der gleichen Wettbewerbschancen innerhalb
        der Europäischen Union. Die Minderung des Steuersatzes
        auf 25,5 Cent, die von der Großen Koalition am 9. Fe-
        bruar 2009 beschlossen wurde, ist nach meiner Auffas-
        sung immer noch zu wenig, vor allem, wenn ich an unsere
        unmittelbaren Nachbarn Frankreich und Österreich denke.
        Aber ich werbe bei diesem Punkt auch bei meinen
        Bauern um Verständnis für die derzeitige Haushaltslage
        unseres Staates. Auch muss man der deutschen Land-
        wirtschaft insgesamt sagen, dass in den Bereichen der
        Agrarförderung bis hin zum Berufsgenossenschaftsbei-
        trag heute vieles an finanzieller Erleichterung durchge-
        setzt ist, was vor Jahren noch unvorstellbar war.
        Deshalb sage ich der Opposition in aller Deutlichkeit:
        Auch Sie reden immer von gleichen Wettbewerbsbedin-
        gungen, beschimpfen uns aber für diesen Schritt, der
        EU-weit gesehen für die deutsche Landwirtschaft drin-
        gend nötig ist. Dieser Steuersatz ist immer noch nur die
        Hälfte des Ziels, das wir eigentlich erreichen wollten.
        Ich bleibe dabei: Mittelfristig müssen wir die europäi-
        schen Energiesteuern dringend angleichen, um in einem
        Wirtschaftsraum gleiche Voraussetzungen für die ge-
        samte Industrie und Landwirtschaft zu schaffen.
        Die anderen vom Finanzausschusses empfohlenen
        Änderungen im Gesetzentwurf möchte ich hier kurz
        skizzieren: Das Inkrafttreten des Gesetzes zur Vermei-
        dung einer echten Rückwirkung wird, auch aus verfas-
        sungsrechtlichen Gründen, auf den 1. April 2011 verlegt.
        Gleichzeitig werden Maßnahmen mit begünstigender
        Wirkung für Bürger und Unternehmen schon zum
        1. Januar 2011 in Kraft treten.
        Für feste Sekundär- und Ersatzbrennstoffe, die nicht
        entsprechend ihrem Energiegehalt einer Besteuerung un-
        terworfen sind und verheizt werden, wird ein niedriger
        Auffangsteuersatz eingeführt, der sich an der Höhe des
        Steuersatzes für Kohle und Petrolkoks orientiert.
        Die im Ursprungsentwurf vorgesehene Streichung der
        Steuerbefreiung für Klär- und Deponiegase, die durch
        eine Definitionsänderung bei gasförmigen Biokraft- und
        Bioheizstoffen sozusagen durch die Hintertür erfolgt ist,
        konnten wir zurücknehmen. Durch die unter EU-Vorbe-
        halt stehende dezidierte Aufnahme der Klär- und Depo-
        niegase in den Befreiungstatbestand schaffen wir steuer-
        rechtliche Gleichheit aller gasförmigen Energieträger bei
        umweltschonender Verwendung. Dieses Thema wurde ja
        auch deutlich im Fachgespräch des Finanzausschusses
        am 10. November 2010 von den Sachverständigen vor-
        getragen, genau wie das Thema Steuerbefreiung von In-
        dustriegasen, dem auch Sie seitens der Opposition in den
        Einzelanträgen zugestimmt haben.
        Bei Industriegasen haben wir uns auf eine eng be-
        grenzte Definition geeinigt; die zukünftige Stromsteuer-
        befreiung bei der Herstellung von Industriegasen ist, wie
        vorhin schon angesprochen, eigentlich nur eine Korrek-
        tur des Energiesteuergesetzes, das am 1. August 2006 in
        Kraft getreten ist. Ich weise aber hier in aller Deutlich-
        keit darauf hin, dass dieser Sachverhalt noch unter dem
        Vorbehalt einer Prüfung durch die EU steht, unterstelle
        aber, dass Brüssel dies genehmigen wird.
        Wovon reden wir hier? In vielen thermischen Prozes-
        sen werden hochwertige Gase wie Edelgase und Reinst-
        gase eingesetzt, die mit hohem Stromeinsatz durch
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9163
        (A) (C)
        (D)(B)
        Elektrolyse oder in kryogenen Luftzerlegungsanlagen
        hergestellt werden. Die Gasgewinnung erfolgt in der Re-
        gel nahe am Verbrauch der Industriegase; sie können je-
        doch auch standortfern produziert werden, müssen dann
        aber mit Straßen- und Schienentankwagen in Druckgas-
        behältern transportiert werden. Um – bei einem Abwan-
        dern der Herstellung ins benachbarte Ausland – einen
        hohen logistischen Aufwand zu vermeiden, galt es den
        Standortnachteile im deutschen steuerlichen Einzugsbe-
        reich auszumerzen.
        Bei der Fernwärme, bei der wir als Koalition nicht
        den Anträgen der Opposition folgen, gibt es aus unserer
        Sicht große Probleme bei der Unterscheidung von Fern-
        und Nahwärme, die auch im Fachgespräch nicht ausge-
        räumt werden konnten. Wenn dies für die betroffenen
        4 Millionen Haushalte, wie von Ihnen vorgetragen, zu
        einer Belastung von 1 Euro/Monat führen könnte, ist
        das, übers Jahr gerechnet, der Gegenwert von zwei
        Schachteln Zigaretten. Aber wie erkläre ich einem
        Heizöl- oder Gasbezieher, dass er die steuerliche Belas-
        tung tragen muss? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit
        den ökologischen Vorteilen der Fernwärme: Alte KWK-
        Anlagen sind auch nicht nur rein! Wenn wir von Gleich-
        heit vor dem Grundgesetz reden, müssen wir Gleiches
        auch gleich behandeln!
        Dass die Verlängerung der Subvention von Heizkohle
        in Privathaushalten nun endlich „abgefrühstückt“ ist,
        sollte, an die SPD gerichtet, mit Hinweis auf ihre eige-
        nen Beschlüsse hier nicht vertieft werden.
        Mit der Gesetzesvorlage durch die Bundesregierung,
        den Beschlüssen, die wir im Rahmen des Haushaltsbe-
        gleitgesetzes für den Bereich der Energiesteuerentlas-
        tung für Unternehmen schon getroffen haben und den
        Änderungen an diesem Gesetz im Zuge der Beratungen
        im Finanzausschuss haben wir eine ausgewogene Be-
        und Entlastung der Unternehmen in Industrie und Land-
        wirtschaft, der Verbraucher und des Bundeshaushaltes
        erreicht.
        Peter Aumer (CDU/CSU): Die Weltklimakonferenz
        in Cancún war ein Erfolg. Erstmalig ist das 2-Grad-Ziel
        von der Weltgemeinschaft offiziell anerkannt worden.
        Die Weltklimakonferenz hat sich zudem nach schwieri-
        gen Verhandlungen und in letzter Minute auf ein umfas-
        sendes Maßnahmenpaket verständigt, das einen wesent-
        lichen Schritt darstellt, um dieses Ziel zu erreichen. Die
        dabei getroffenen Entscheidungen sind ein Meilenstein
        auf dem Weg zu einem Klimaabkommen. Das Paket von
        Cancún umfasst Minderungsmaßnahmen von Industrie-
        und Entwicklungsländern, die Errichtung eines globalen
        Klimafonds, Verabredungen zur Anpassung an die Fol-
        gen des Klimawandels, zum Waldschutz, zur Technolo-
        giekooperation und zum Kapazitätsaufbau in Entwick-
        lungsländern. Es wurde ein Verfahren zur Überprüfung
        vereinbart, welche zusätzlichen Maßnahmen zur Einhal-
        tung des 2-Grad-Ziels erforderlich sind.
        Anhand der klimapolitischen Ziele der Bundesregie-
        rung wollen wir die Energie- und Stromsteuer verbes-
        sern sowie die bestehen Vorschriften an das sich ständig
        ändernde Marktumfeld für Energieerzeugnisse anpassen.
        Im Einzelnen enthält das Gesetz folgende wesentliche
        Maßnahmen:
        Erstens. Die Steuerbegünstigung für die Herstellung
        von Energieerzeugnissen wird in sich schlüssiger ausge-
        staltet, indem wesentliche Herstellungsprozesse mit ein-
        bezogen werden und die Steuerbegünstigung den ver-
        stärkten Einsatz umweltfreundlicheren Erdgases zulässt.
        Zweitens. Auf die Entstehung eines Marktes für Se-
        kundär- und Ersatzbrennstoffe wird reagiert, indem ein
        am Energiegehalt orientierter Steuertarif eingeführt
        wird. Die Regelung verhält sich steuerlich neutral und
        vereinfacht für Unternehmen und Verwaltung das Be-
        steuerungsverfahren.
        Drittens. Mit einer Ausweitung der Möglichkeiten zur
        Steuerentlastung auf leicht- und mittelschwere Öle wird
        Bedürfnissen von Unternehmen Rechnung getragen, die
        aus technischen Gründen für bestimmte Verfahren nur
        Leichtöl verheizen können. Bisher konnten diese Öle
        und die ihnen von der Beschaffenheit her ähnlichen En-
        ergieerzeugnisse nur zu den Steuersätzen für Kraftstoffe
        verheizt werden.
        Viertens. Die Betriebe der Forst- und Landwirtschaft
        werden unterstützt, indem der mit dem Haushaltsbegleit-
        gesetz 2005 eingeführte Selbstbehalt von 350 Euro und
        die Obergrenze von 10 000 Liter je Betrieb gestrichen
        werden. Damit wird der forst- und landwirtschaftliche
        Sektor vor dem Hintergrund der weiterhin ungleichen
        Besteuerung von Agrardiesel im EU-Vergleich verstärkt
        entlastet. Dies ist vor allem für die CSU eine wichtige
        Reform.
        Durch die allgemeine Verunsicherung der Verbrau-
        cher und den Druck bei den Erzeugerpreisen sind die
        deutschen und bayerischen Landwirte unmittelbar von
        der derzeitigen Wirtschaftskrise betroffen. Deshalb ist es
        immens wichtig, der Land- und Forstwirtschaft jetzt ein
        unterstützendes Signal zu geben. Der Abbau von Wett-
        bewerbsverzerrungen im europäischen Binnenmarkt
        steht dabei an erster Stelle. Spitzenreiter bei der Besteue-
        rung des wichtigsten Energieträgers der Land- und
        Forstwirtschaft, beim Agrardiesel, ist Deutschland. Hier
        findet eine massive Benachteiligung im europäischen
        Wettbewerb statt. Ein 25 Hektar großer Betrieb wird ge-
        genüber gleich großen Betrieben im europäischen Aus-
        land um bis zu 1 100 Euro pro Jahr benachteiligt.
        Durch den jetzigen Wegfall des Selbstbehaltes und
        der Obergrenze werden die Betriebe in einem schwieri-
        gen wirtschaftlichen Umfeld spürbar entlastet. Dass
        diese Erleichterung für unsere Bauern heute in abschlie-
        ßender Lesung behandelt wird, ist ausschließlich auf die
        unnachgiebige Haltung der CSU-Landesgruppe im
        Deutschen Bundestag zurückzuführen. Keine andere
        Partei vertritt die Interessen der Land- und Forstwirte so
        konsequent und standhaft.
        Auch bei energieintensiven Unternehmen fällt zu-
        künftig die zusätzliche Belastung weniger stark aus. So
        wären zum Beispiel die Kosten für die Strom- und Ener-
        giesteuer eines großen Walzwerkes mit über 2 100 Mit-
        arbeitern nach dem Kabinettsbeschluss von 878 000 auf
        2 720 000 Euro angestiegen. Durch die von uns gefor-
        9164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
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        derten Änderungen reduziert sich die Belastung um
        1 342 000 Euro pro Jahr. Sie liegt gegenüber dem Kabi-
        nettsentwurf nun bei 1 378 000 Euro pro Jahr. Gerade
        für die Wettbewerbsfähigkeit unserer mittelständischen
        Wirtschaft sind diese Maßnahmen wichtig.
        Die ermäßigten Steuersätze sind keine Steuerge-
        schenke oder Steuersubventionen. Sie waren mit der
        Einführung der ökologischen Steuerreform im Jahr 1999
        eingeführt worden, um die Chancengleichheit deutscher
        Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht zu
        beeinträchtigen. An diesem Sachverhalt hat sich nichts
        geändert. Im Gegenteil: Die Energiepreise werden mehr
        und mehr zu einem Standortnachteil für Deutschland.
        Nach Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums lie-
        gen allein die Industriestrompreise in Deutschland inklu-
        sive Steuern um 30 bis 35 Prozent höher als in Frank-
        reich, Spanien oder Schweden. Die ständig steigenden
        Energiekosten bilden bei den Unternehmen einen immer
        größeren Kostenblock.
        Es ist die Herausforderung unserer Zeit, der sich die
        CSU stellt, die Dynamik Deutschlands zu erhalten, den
        Fortschritt zu fördern und den Wohlstand des Landes zu
        sichern. Mit den Änderungen des Energie- und Strom-
        steuergesetzes entlasten wir unsere Unternehmen und
        bringen Deutschland weiter voran. Gleichzeitig setzen
        wir aber auch auf Nachhaltigkeit und leisten einen Bei-
        trag zum Klimaschutz. Gerade das ist das Ziel der
        christlich-liberalen Koalition. Nachhaltigkeit und wirt-
        schaftliche Vernunft sind konkreter Handlungsauftrag,
        der sich aus unserer sozialen Marktwirtschaft ergibt.
        Zum Schluss meiner Rede wünsche ich uns allen ge-
        segnete Weihnachten, besinnliche Tage sowie alles er-
        denklich Gute für das neue Jahr 2011.
        Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Der Gesetzentwurf zur
        Änderung der Energie- und Stromsteuer, den wir heute
        beraten, reiht sich in dreierlei Hinsicht nahtlos in die
        Liste der Gesetze ein, die Sie in den letzten Wochen hier
        im Parlament beschlossen haben. Dabei gilt: Es gibt kein
        geordnetes systematisches Vorgehen, Lobbygruppen wer-
        den begünstigt und die Verbraucherinnen und Verbraucher
        werden belastet.
        Wie bei der Tabaksteuer – gerade mal zwei Wochen
        ist das her – sind auch die von ihnen geplanten Änderun-
        gen bei der Energie- und Strombesteuerung rein haus-
        haltspolitischer Natur. Es gilt, möglichst viel Geld einzu-
        treiben, um die Haushaltslöcher zu stopfen, die Ihr
        verfehltes und sozial unausgewogenes Sparpaket und die
        Anfang dieses Jahres verteilten Steuergeschenke an Ho-
        tels und Erben verursacht haben. Das ist die unbequeme
        und nicht zu leugnende Wahrheit. Der zu erwartende Wi-
        derstand der Industrie ließ nicht lange auf sich warten –
        und das sogar zu Recht. Ich erinnere in diesem Zusam-
        menhang noch einmal an das Haushaltsbegleitgesetz
        2011: Wir als SPD-Bundestagsfraktion hatten uns schon
        bei den Beratungen hier im Bundestag dafür ausgespro-
        chen, auf die von Ihnen geplanten massiven Steuermehr-
        belastungen der energieintensiven Unternehmen zu ver-
        zichten, da diese insbesondere mittelständische Betriebe
        treffen. Die Auswirkungen auf das produzierende Ge-
        werbe in Deutschland sind zudem überhaupt nicht ab-
        sehbar. Was wir brauchen, ist eine längerfristige Pla-
        nungssicherheit für die betroffenen Unternehmen, ins-
        besondere für die Energiebesteuerung der Industrie nach
        2012, wenn die beihilferechtliche Befristung der Euro-
        päischen Kommission endet.
        Sie als Bundesregierung sind aufgefordert, zügig eine
        Analyse der realen Wettbewerbswirkungen der heutigen
        Steuervergünstigungen und ein darauf fußendes schlüs-
        siges Energiekonzept vorzulegen. Zurzeit kann ich kein
        Konzept erkennen. Auch wenn Sie sich jetzt für ein ge-
        mäßigteres Modell beim Abbau der Steuervergünstigun-
        gen für energieintensive Betriebe entschieden haben,
        entbinden Sie diese einzelnen unsystematischen Maß-
        nahmen nicht aus der Verantwortung, eine fundierte und
        berechenbare Politik zu machen. Bislang existiert an-
        stelle eines durchdachten Energiekonzeptes nur ein va-
        ger Prüfauftrag für die Ausgestaltung von Gegenleistun-
        gen für Ökosteuervergünstigungen der deutschen Wirt-
        schaft ab 2013. Das ist schlichtweg zu dürftig.
        Ganz konkret hingegen ist die Begünstigung be-
        stimmter Lobbygruppen. Beim Agrardiesel werden
        Selbstbehalt und Mengenbegrenzung gestrichen. Sie ma-
        chen sich zum Erfüllungsgehilfen der Landwirtschafts-
        lobbyisten. Immerhin führt diese Maßnahme, die der
        Deutsche Bauernverband seit Jahren und fast schon ge-
        betsmühlenartig wiederholt immer wieder fordert, zu zu-
        sätzlichen Steuermindereinnahmen des Bundes in Höhe
        von rund 260 Millionen Euro pro Jahr. Durch diese Steu-
        erausfälle kann es zu Kürzungen bei Förderprogrammen
        wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küs-
        tenschutz kommen. Darunter leiden dann Leistungsfä-
        higkeit und Umweltverträglichkeit der Landwirtschaft.
        Da die Obergrenze von 10 000 Litern in der Regel erst
        von Betrieben mit mehr als 70 Hektar überschritten
        wird, profitieren vor allem Großbetriebe überdurch-
        schnittlich vom Wegfall der Obergrenze. Während ein
        100-Hektar-Betrieb in den Genuss von Steuerermäßi-
        gung in Höhe von knapp 1 000 Euro kommt, sind es bei
        einem 1 000-Hektar-Betrieb 30 000 Euro.
        Wie Sie mit einer solchen Politik zudem Ihr selbstge-
        setztes Ziel – eine Harmonisierung der Besteuerung des
        Agrardiesels auf europäischer Ebene – erreichen wollen
        und können, ist und bleibt mir vollkommen schleierhaft.
        Eher ist diese Art von Steuerpolitik geeignet, unsere
        Nachbarn in Europa dazu zu bewegen, ihre Subventio-
        nen bei der Landwirtschaft beizubehalten und schlimms-
        tenfalls sogar zu erhöhen. Doch was wir in Europa am
        wenigsten brauchen, ist ein Subventions- oder Steuer-
        senkungswettbewerb.
        Die Zeche für die Agrarsubventionen zahlen – wie
        eingangs erwähnt – schon wieder die Verbraucherinnen
        und Verbraucher. Bei der Tabaksteuer waren es die Rau-
        cher, jetzt trifft es diejenigen, die mit Fernwärme heizen.
        Mit Streichung der energiesteuerlichen Begünstigung für
        die Fernwärmeversorgung werden circa 4 Millionen
        Haushalte mehr Heizkosten bezahlen müssen; allein in
        Berlin werden ungefähr 600 000 Haushalte tiefer in die
        Tasche greifen müssen. Selbst der Bundesrat – ein-
        schließlich der von Ihnen geführten Regierungen – hat
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9165
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        sich dafür ausgesprochen, die Steuervergünstigung für
        die Fernwärme zu erhalten – aber offenbar ohne Erfolg.
        Die Menschen werden sich auch von Ihren geplanten
        Steuervereinfachungen keinen Sand in die Augen
        streuen lassen. Die von Ihnen diskutierte Anhebung des
        Arbeitnehmerpauschbetrages bringt ihnen nicht allzu
        viel. Vielmehr als eine Tasse Kaffee im Monat wird die
        Anhebung von 920 auf 1 000 Euro pro Jahr für die meis-
        ten Steuerzahler nicht bringen. Die Option, nur noch alle
        zwei Jahre eine Lohnsteuererklärung abzugeben – so sie
        dieses überhaupt dürfen –, wäre für die meisten Lohn-
        steuerpflichtigen sogar von Nachteil: 18 Millionen von
        20 Millionen Steuerzahlern, die eine Erklärung abgeben
        müssen, bekommen vom Finanzamt zu viel gezahlte
        Steuern erstattet. Machen sie ihre Erklärung nur alle
        zwei Jahre, gewähren sie dem Finanzminister einen zins-
        losen Kredit und verlieren selbst Zinseinnahmen. Un-
        term Strich bleibt es also dabei: Die Verbraucher
        schauen in die Röhre, das können Sie nicht kaschieren.
        Neben den schon erwähnten Belastungen für viele
        private Haushalte ist die Streichung der Steuervergünsti-
        gung klimapolitisch kontraproduktiv und verfehlt. Wir
        alle wissen: Die Fernwärme leistet einen wesentlichen
        Beitrag zur Erfüllung der Klima- und Umweltziele
        Deutschlands. Insbesondere in Verbindung mit Kraft-
        Wärme-Kopplung sowie bei der Nutzung von Abwärme
        bietet sie eine hocheffiziente Verwendung regenerativer
        und fossiler Energieträger. Das gilt auch für die Nutzung
        erneuerbarer Energien in Ballungsräumen, die ein relativ
        begrenztes Dachpotenzial und eingeschränkte Möglich-
        keiten für die Nutzung von Wärmepumpen auf der Basis
        von Erd- oder Umweltwärme aufweisen. Darüber hinaus
        reduzieren moderne, hocheffiziente Fernwärmeanlagen
        im Vergleich zu Einzelheizungen die Bildung von Fein-
        staub und luftgetragenen Schadstoffen und tragen somit
        zu einer Verbesserung der Luftqualität in städtischen
        Verdichtungsräumen bei.
        Wir alle wissen: Eine steuerliche Entlastung der Fern-
        wärme im Energiesteuergesetz ist wichtig und notwen-
        dig, um das von der Bundesregierung gesetzte Ziel, den
        KWK-Anteil an der gesamten Stromerzeugung bis 2020
        auf 25 Prozent zu erhöhen, nicht zu gefährden. Neben
        den angesprochenen KWK-Anlagen sind Heizwerke ein
        bedeutsamer und unverzichtbarer Bestandteil in den
        meisten Fernwärmenetzen. Sie gewährleisten nicht nur
        die umweltfreundliche, weil effiziente Abdeckung von
        Bedarfsspitzen, sondern auch den ökologisch und öko-
        nomisch sinnvollen Ausbau von Wärmenetzen.
        Wir alle wissen: Die an die Fernwärmenetze ange-
        schlossenen Heizsysteme unterliegen in der Regel dem
        Emissionshandel und treten in Konkurrenz mit anderen
        Heizlösungen, die nicht am Emissionshandel teilneh-
        men. Es gibt also keine vergleichbaren Ausgangsbedin-
        gungen auf dem Wärmemarkt. Eine Fortführung der
        steuerlichen Begünstigung der Fernwärme hätte dem
        Abbau bestehender Wettbewerbsnachteile der Fernwär-
        meversorgung gedient. Ihre Politik ist daher wettbe-
        werbsschädlich. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir als
        SPD-Fraktion aus den genannten Gründen ausdrücklich
        ab.
        Dr. Birgit Reinemund (FDP): Ich wundere mich
        über die Haltung der Grünen: Sie nutzen die heutigen
        eher technischen Änderungen des Energiesteuergesetzes,
        um die Koalition schon heute für etwas zu kritisieren,
        was erstens bereits beschlossen ist und was zweitens Sie
        in eigener Regierungsverantwortung gesetzlich so gere-
        gelt haben. Es war schließlich Rot-Grün, die bei Einfüh-
        rung der Ökosteuer – volkswirtschaftlich richtig – er-
        kannt hatten, dass die Belastung für energieintensive
        produzierende Unternehmen zu groß geworden wäre,
        um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Rot-
        Grün hatte damals aus innerer Überzeugung – so hoffe
        ich doch – diese Industriebereiche größtenteils von der
        Besteuerung ausgenommen, um Wettbewerbsfähigkeit
        herzustellen und Verlust von Arbeitsplätzen zu verhin-
        dern. Gleichzeitig wurde ein Vertrag mit der Wirtschaft
        geschlossen, im Gegenzug bis 2012 die Energieeffizienz
        zu steigern. Das haben die Unternehmen eingehalten.
        Wir haben vor kurzem im Rahmen des Haushaltsbe-
        gleitgesetzes eine moderate Erhöhung beschlossen; das
        Bundesfinanzministerium wollte ursprünglich weit hö-
        here Mehreinnahmen aus rein haushälterischen Grün-
        den. Heute beschweren sich die Grünen in ihrem Antrag,
        dass die Belastungen für die Industrie nicht hoch genug
        seien, und werfen dieser Regierung vor, vor der Industrie
        einzuknicken. Nein, das war kein Einknicken vor der In-
        dustrie; das war volkswirtschaftliche Vernunft, die Sie
        1999 auch noch hatten, liebe Kolleginnen und Kollegen
        von den Grünen. Das heute ist schon ein Stück weit Heu-
        chelei. Denn es ist doch eine einfache Wahrheit: Steuer-
        aufkommen zur Haushaltskonsolidierung kann die Wirt-
        schaft nur beisteuern, wenn die Betriebe überlebensfähig
        bleiben und wenn Gewinne versteuert werden können,
        aber nicht wenn Produktionen verlagert und Arbeits-
        plätze abgebaut werden. Der alte Kampf Ökologie gegen
        Ökonomie ist überholt; es geht nur gemeinsam. Die
        enormen Fortschritte in der Effizienzsteigerung sind der
        beste Beweis, auch wenn das die Grünen durch ihre
        ideologisch gefärbte Brille heute nicht mehr wahrhaben
        wollen.
        Die Koalitionsfraktionen dagegen nehmen mit diesem
        Gesetzentwurf sowohl einzelne umwelt- und klimapoli-
        tisch relevante Themen auf – zum Beispiel bei der Nut-
        zung von Erdgas für die Stromerzeugung, bei Klär- und
        Deponiegasen oder der Hafenproblematik. Gleichzeitig
        werden Wettbewerbsnachteile in abgegrenzten Berei-
        chen ausgeglichen – zum Beispiel bei der Herstellung
        von Industriegasen, der energieintensivsten Branche
        überhaupt, oder bei der Landwirtschaft. Bisherige Zwei-
        felsfälle im Gesetzestext werden jetzt klar definiert.
        Lassen Sie sich mich einige Beispiele erläutern. Zu-
        nächst zum Beispiel Agrardiesel. Die Forst- und Land-
        wirtschaft ist kein funktionierender freier Markt, son-
        dern innerhalb der EU stark reglementiert und sub-
        ventioniert. Aus zwei Gründen tritt die FDP seit Jahren
        für die Steuerermäßigung von Agrardiesel ein, und die
        Koalitionsparteien haben dies auch so im Koalitionsver-
        trag festgeschrieben. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens
        zu wettbewerblichen Gründen: Deutschland hat europa-
        weit nach wie vor die mit Abstand höchsten Steuersätze
        auf Agrardiesel. Bei uns sind es 27 Cent/l, in Frankreich
        9166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
        (A) (C)
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        dagegen nur 0,6 Cent/l. Seit 1998 haben sich die Steuern
        auf den Kraftstoff für die Landwirtschaft in Deutschland
        fast vervierfacht, während sie in Nachbarländern wie
        Österreich und Frankreich sogar gesunken sind. Die
        deutschen Landwirte haben deshalb einen Wettbewerbs-
        nachteil von bis zu 50 Euro pro Hektar Land. Diese
        Wettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischen
        Wirtschaftsraums ist zu beseitigen. Unser mittelfristiges
        Ziel ist die einheitliche Besteuerung von Agrardiesel in
        Europa – so wie es selbst die Grünen fordern. Zweitens
        zu den steuersystematischen Gründen: Die Mineralöl-
        steuer dient vorrangig für den Erhalt und Ausbau des
        Straßennetzes. Die Traktoren fahren überwiegend auf ei-
        genem Land der Landwirte, nicht auf den Straßen.
        Nun zum Beispiel Ersatz- und Sekundärbrennstoff
        und der Abfallverbrennung. Nach EU-Recht müssen alle
        Kohlenwasserstoffverbindungen, wenn sie der Strom-
        erzeugung dienen, besteuert werden. Bei hochkalori-
        schen sortenreinen Abfallprodukten – wie Öl – ist dies
        nach Brennwert bereits heute üblich. Bei gemischten
        Abfällen muss eine Definition gefunden werden, um
        eine hoch bürokratische Brennwertermittlung zu vermei-
        den. In der Anhörung war der Hauptkritikpunkt die
        Höhe des Brennwerts auf dem Niveau von Öl. Als realis-
        tisch angesehen wurde die Festlegung auf den Brennwert
        von Kohle; das heißt 0,33 Euro statt 1,73 Euro. Da die
        betroffenen Betriebe in der Regel die Steuerbegünsti-
        gung über den Spitzenausgleich nutzen, ist diese Ände-
        rung kostenneutral.
        Zum Beispiel Klär- und Deponiegas. Diese Gase sind
        nach heutiger Gesetzeslage steuerbefreit. Diese Befrei-
        ung sollte nach Gesetzesentwurf des BMF gestrichen
        werden, angeblich aus EU-rechtlichen Gründen. Wir
        wollen die Befreiung beibehalten, um vor allem kommu-
        nale Stadtwerke nicht zusätzlich zu belasten und um
        keine Anreize zu schaffen, die Gase abzulassen statt zu
        verbrennen, was nicht zulässig ist und ökologisch fatal
        wäre. Methan ist sehr energiereich, aber auch extrem kli-
        maschädlich und zwar 21-mal klimaschädlicher als CO2.
        Die Verbrennung von Klär- und Deponiegas ist also auch
        aus ökologischer Sicht sinnvoll. Beide sind von der De-
        finition für gasförmige Biokraft- und Bioheizstoffe aus
        förderpolitischen Gesichtspunkten nicht erfasst. Daher
        ist diese Konkretisierung hilfreich.
        Zum Beispiel Industriegase. Die Zerlegung von Luft
        zur Herstellung technischer Gase wie Sauerstoff oder
        Stickstoff oder von Edelgasen ist der stromintensivste
        Produktionsprozesse überhaupt. 50 bis 70 Prozent der
        Kosten des Produkts sind Stromkosten. Laut EU-Richtli-
        nie können Prozesse mit mehr als 50 Prozent Stromkos-
        tenanteil steuerbefreit werden. Dies trifft für die Luftzer-
        legung zu. Weitere Prozesse, die diese Bedingung
        erfüllen, sind bisher nicht bekannt. Befreit wird aus-
        schließlich der Produktionsprozess selbst, nicht das Ge-
        samtunternehmen. Die Industriegase waren bereits 2006
        im Gesetzentwurf enthalten und wurden damals aus poli-
        tischen Rangeleien herausgenommen. Betroffen sind
        nicht nur die bekannten großen Hersteller mit guten Bi-
        lanzen, sondern viele Industriebereiche der chemischen
        Industrie wie zum Beispiel BASF usw. Wir wollen mit
        dem Änderungsantrag der Koalitionsparteien diese
        Branche – und explizit nur diese – wieder aufnehmen,
        um Wettbewerbsfähigkeit herzustellen und Arbeitsplätze
        in Deutschland zu halten.
        Unter Berücksichtigung der klimapolitischen Ziele
        der Bundesregierung schaffen wir mit diesem Gesetz
        weitere Rechts- und Planungssicherheit für die betroffe-
        nen Branchen – und bessere Chancen im internationalen
        Wettbewerb.
        Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Um eine sichere und
        bezahlbare, vor allem unabhängige Energieversorgung
        für diese und die folgenden Generationen sicherzustel-
        len, ist es nötig, heute die Weichen dementsprechend zu
        stellen. Sie aber stellen die Weichen falsch.
        Sie verlängern gegen alle Proteste die Laufzeiten der
        Atomkraftwerke. Damit schaffen Sie weiteren radio-
        aktiven Abfall. Zudem bescheren Sie den Atomkon-
        zernen massive Gewinne. Vor allem behindern Sie somit
        den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das wissen Sie.
        Auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Energie-
        und Stromsteuergesetzes führt in die falsche Fahrtrich-
        tung. Denn Sie verabschieden heute weitere Steuerver-
        günstigungen und Steuerbefreiungen für den Einsatz fos-
        siler Energieträger. Die Kosten werden dann wieder die
        Bürgerinnen und Bürger tragen müssen. Ich will kurz auf
        die wichtigsten Punkte eingehen.
        Positiv hervorzuheben ist die steuerliche Begünsti-
        gung von Schiffen, die ihren Strom von Land beziehen
        und somit weniger Schadstoffe in die Luft pusten. Aber
        das war es dann fast schon. Kurz zu drei Punkten:
        Erstens: Fernwärme. Die Fernwärmeversorgung, ins-
        besondere durch Kraft-Wärme-Kopplung, ist eine be-
        sonders effiziente Nutzung von Brennstoffen; sie macht
        insbesondere in städtischen Gebieten Sinn. Diese An-
        sicht teilten Sie, zumindest kurzzeitig. Denn im Entwurf
        des Haushaltbegleitgesetzes 2011 war eine Steuerent-
        lastung für den Bereich der Fernwärmeversorgung
        verankert. Auch der Bundesrat forderte mit Beschluss
        vom 26. November 2010 eine steuerliche Entlastung.
        Umso unverständlicher ist, dass dieser Passus in der ab-
        schließenden Bereinigungssitzung des Haushaltsaus-
        schusses gestrichen wurde, und jetzt wollen Sie das in
        Gesetzesform gießen. Die Fernwärme ist ein wichtiges
        Element, um die Klima- und umweltpolitischen Ziele zu
        erreichen. Wir empfehlen Ihnen, wie auch die Sach-
        verständigen aus der Anhörung zum Energie- und
        Stromsteuergesetz, die ursprüngliche Absicht umzuset-
        zen und Fernwärme steuerlich zu begünstigen. Wir un-
        terstützen daher den Änderungsantrag von SPD und
        Grünen.
        Zweitens: Zu den Ökosteuerausnahmen. Seit
        Einführung der Ökosteuer sind gerade jene Firmen weit-
        gehend von Zahlungen befreit, die viel Strom verbrau-
        chen. Die Bundesregierung wollte diesen Missstand mit
        dem Haushaltsbegleitgesetz 2011 endlich teilweise be-
        seitigen. Aber daraus wurde nichts, wie wir wissen. Die
        Ökosteuerprivilegierung soll beibehalten werden; zah-
        len dafür dürfen Raucherinnen und Raucher durch
        Erhöhung der Tabaksteuer. Das heißt, Sie hoffen, dass
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010 9167
        (A) (C)
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        Raucherinnen und Raucher weiterhin ihre Gesundheit
        gefährden, sodass Ihre energieintensiven Unternehmen
        weiter von der Ökosteuerbelastung verschont werden
        und Sie trotzdem zu Ihren geplanten Mehreinnahmen
        kommen.
        Ich komme zum dritten Punkt, zum Agrardiesel: Ich
        erinnere noch einmal daran, dass im Rahmen der
        Konjunkturpakete beim Agrardiesel für land- und
        forstwirtschaftliche Betriebe eine steuerliche Entlastung
        erfolgte, indem die Deckelung auf 10 000 Liter und der
        Selbstbehalt von 350 Euro entfiel. Diese Maßnahme sollte
        befristet sein. Doch jetzt wollen Sie diese unbefristet
        verstetigen. Wie aber die Anhörung zeigte, profitieren in
        erster Linie flächenstarke Ackerbaubetriebe. Diese
        werden jedoch bereits durch Direktzahlungen der Euro-
        päischen Union in Höhe von 5,5 Milliarden Euro jährlich
        begünstigt. Außerdem wird der Anreiz genommen, vom
        Mineralöl wegzukommen. Dadurch schwächen Sie ge-
        rade die mittelständische Wirtschaft vor Ort, die sich auf
        Pflanzenöltreibstoffe spezialisiert hat.
        Ich fasse also zusammen: Mit diesem Gesetzentwurf
        schaffen Sie weitere Steuervergünstigungen für den Ein-
        satz fossiler Energieträger und fahren umweltpolitisch
        weiter in die falsche Richtung. Wir werden ihn daher
        ablehnen.
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erst kün-
        digt Schwarz-Gelb an, dass die energieintensiven Unter-
        nehmen einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leis-
        ten sollen und schreibt das ins Haushaltsbegleitgesetz
        2011. Dann knickt Kanzlerin Merkel vor der Industrie
        ein, schrumpft den Subventionsabbau um 600 Millionen
        Euro und bittet stattdessen die Raucher zur Kasse. Sie
        spielt ein doppeltes Spiel. Und jetzt will Schwarz-Gelb
        sogar neue klimaschädliche Subventionen für Industrie
        und Landwirtschaft in das Energiesteuergesetz schrei-
        ben. Die geplanten Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden
        sind damit auf nicht einmal 550 Millionen Euro für den
        Bund zusammengeschmolzen. Erst hü, dann hott, und
        am Ende weiß niemand mehr, wo die Regierung in der
        Energiebesteuerung eigentlich steht oder mal hinwollte.
        Auf so eine billige Verwirrungstaktik fallen wir nicht he-
        rein. Die Wahrheit ist: Sie haben das grüne Mäntelchen,
        in das Sie Ihre ohnehin rein haushalterisch motivierten
        Maßnahmen gehüllt haben, nun wie einen kratzenden
        Pulli abgeworfen und entblößen wieder den wahren Cha-
        rakter Ihres Tuns. Nämlich die Ausrichtung des Regie-
        rungshandelns an den Interessen der Starken, in diesem
        Fall der Industrielobbies.
        Das passt ins Gesamtbild der pseudo-ökologischen
        Energiepolitik der Bundesregierung. Zuvor gab es eine
        ähnliche Nummer bei der Brennelementesteuer. Sie ha-
        ben den angekündigten Gesetzentwurf zur Einführung
        der Brennelementesteuer im September kurzfristig von
        der Tagesordnung genommen. Warum? Um zunächst in
        Hinterzimmern mit der Energiewirtschaft darüber zu
        verhandeln, welche Weihnachtsgeschenke die Damen
        und Herren von der Atomlobby denn gern hätten. Die
        Atomwirtschaft konnte nicht nur eine deutliche Absen-
        kung des Steuersatzes erreichen, sondern auch eine zeit-
        liche Befristung der Steuer bis zum Jahr 2016. Mit dem
        letztlich verabschiedeten Gesetz werden selbst in diesem
        Zeitraum die vom Bund geplanten Einnahmen von jähr-
        lich 2,3 Milliarden Euro niemals zu erreichen sein. Legt
        man den ursprünglichen Rechenansatz des Bundes-
        finanzministeriums zugrunde, ergibt sich ein „Brutto“-
        Aufkommen von nur 1,5 Milliarden Euro. Wenn man be-
        rücksichtigt, dass es infolge der Brennelementesteuer
        weitere steuerliche Mindereinnahmen geben wird, bei-
        spielsweise bei der Körperschaftsteuer; bleiben letztlich
        netto nur rund 1 Milliarde Euro für den Staatshaushalt
        übrig.
        Ohne Not wird die soziale und die ökologische Ver-
        schuldung in die Höhe getrieben. Schwarz-Gelb schont
        die Atomwirtschaft, die energieintensive Industrie und
        die industrielle Landwirtschaft bei den Energiesteuern
        zulasten von Geringverdienenden und ALG-II-Empfän-
        gern und -Empfängerinnen, die ihren Beitrag zur Haus-
        haltssanierung uneingeschränkt erbringen müssen.
        Diese klientelistische Politik ist sozial ungerecht und
        lediglich an kurzfristigen Interessen ausgerichtet. Dabei
        gelingt nicht mal die angekündigte Sanierung des Staats-
        haushaltes. Die Kollateralschäden dieses Tuns sind dafür
        umso größer. Weder das Haushaltsbegleitgesetz 2011
        noch der heute zu beratende Gesetzentwurf lassen ein
        klares Konzept für eine klimaschutzorientierte Energie-
        besteuerung erkennen. Die Bundesregierung kann keine
        Auskunft darüber geben, welchen Belastungen Unter-
        nehmen durch die Energiebesteuerung unterliegen und
        wie sich diese auf deren Wettbewerbsfähigkeit auswir-
        ken. Kein Wunder, dass die Wirtschaft es so leicht hatte,
        die schwarz-gelben Vorschläge aufzuweichen, wenn die
        politische Diskussion mit Behauptungen statt mit Fakten
        geführt wird.
        Wir leisten uns im Bereich Energie zahlreiche milliar-
        denschwere Vergünstigungen und Subventionen, die
        nicht nur überflüssig sind, sondern die notwendige Um-
        stellung der Wirtschaft verzögern und das Klima schädi-
        gen. Fast 4,5 Milliarden Euro bei den Strom- und Ener-
        giesteuern werden jährlich allein den energieintensiven
        Unternehmen selbst nach dem vollmundig angekündig-
        ten Subventionsabbau geschenkt. Mineralölhersteller
        sind sogar komplett von der Energiesteuer für ihren eige-
        nen Energieverbrauch befreit. Kohleverstromung wird
        mit insgesamt rund 2 Milliarden Euro gefördert. Auch
        andere klimaschädliche Energieträger wie Öl und Uran
        erhalten über direkte oder indirekte Wege seit Jahrzehn-
        ten Milliarden aus öffentlichen Fördertöpfen.
        Es ist an der Zeit, diese Politik der Energiesubventio-
        nierung grundsätzlich zu überdenken und zu reformie-
        ren. Was wir jetzt brauchen, ist eine Reform der Energie-
        steuer, die sich vorrangig am Klimaschutz orientiert.
        Dabei müssen berechtigte wirtschaftliche Interessen der
        Unternehmen nicht übergangen werden. Klimapolitik ist
        nicht wirtschaftsfeindlich. Im Gegenteil. In einer Welt,
        in der Energie ein knappes Gut ist, das absehbar teuer
        wird, können nur diejenigen Unternehmen im Wettbe-
        werb bestehen, die jetzt in Energiemanagementsysteme
        investieren, ihre Produktionsprozesse jetzt verändern
        und alle Möglichkeiten zur Einsparung von Energien
        9168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 81. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
        (A) (C)
        (D)(B)
        nutzen. Die Energiebesteuerung kann dazu beitragen, die
        notwendige Umstellung der Wirtschaft zu beschleuni-
        gen. Mit dem heute vorgelegten Gesetz wird diese
        Chance vertan.
        Wir hätten erwartet, dass im Bereich der Energiebe-
        steuerung wenigstens mal ein Anfang gemacht würde,
        um vorhandenen Reformpotenziale anzupacken. Wie das
        geht, haben wir in unserem Entschließungsantrag darge-
        stellt. Sie hätten sich auf eine Härtefallregelung für Un-
        ternehmen verständigen können, die nachweislich im in-
        ternationalen Wettbewerb stehen und unzumutbare
        entsprechende Änderungsantrag in letzter Minute im
        Haushaltsausschuss eingebracht worden war. Doch ei-
        nen Vorschlag des Finanzministeriums, der eine
        Schlechterstellung der Fernwärme verhindert hätte, lehnt
        die Koalition jetzt mit Scheinargumenten ab. Wir haben
        gemeinsam mit der SPD einen Änderungsantrag gestellt,
        der genau diesen Punkt aufgreift. Aber auch hier verwei-
        gert die Koalition die Zustimmung. Damit nehmen Sie
        bewusst in Kauf, dass diejenigen, die mit dieser klima-
        freundlichen Energie heizen, demnächst mehr zahlen
        müssen.
        Nachteile durch höhere Energiesteuern erfahren. Sie hät-
        ten mögliche Steuererleichterungen an die Bedingung
        knüpfen können, dass die Unternehmen Energiemanage-
        mentsysteme einführen.
        Stattdessen setzen Sie weiter auf pauschale Vergünsti-
        gungen für alle Unternehmen des produzierenden Ge-
        werbes und machen keine Vorschläge, wie sichergestellt
        werden kann, dass diese ihre Potenziale zur Steigerung
        der Energieeffizienz nutzen.
        Wir fordern, klimaschädliche Subventionen zielge-
        richtet abzubauen und Steuervergünstigungen nur dort
        zu gewähren, wo wirtschaftliche Verwerfungen verhin-
        dert werden müssen oder umweltverträglichere Energie-
        nutzung gefördert werden soll. Ihr Gesetzentwurf tut ge-
        rade das Umgekehrte, und das in einer ganzen Reihe von
        Punkten. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläu-
        tern.
        Erstens: Die Obergrenze für die Subventionierung des
        Agrardiesels wird mit diesem Gesetzentwurf abge-
        schafft. Damit werden in erster Linie flächenstarke land-
        wirtschaftliche Großbetriebe gefördert. Das schwächt
        die Anreize, verstärkt Pflanzentreibstoffe einzusetzen
        und Energie einzusparen. Zusätzlich müssen im Gegen-
        zug im Agrarhaushalt Einsparungen bei Förderprogram-
        men wie der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und
        Küstenschutz vorgenommen werden. Förderung von
        Großbetrieben statt zielgerichteter Maßnahmen zur Ver-
        besserung der Agrarstruktur und des Umweltschutzes:
        Das ist kein Klimaschutz, das ist Klimaschädigung. Mit
        einer Zustimmung zu unserem Änderungsantrag hätten
        Sie das vermeiden können. Zweitens: Im Rahmen des
        Haushaltsbegleitgesetzes wollte Schwarz-Gelb das soge-
        nannte Scheincontracting unterbinden – eine durchaus
        sinnvolle Maßnahme. Als Kollateralschaden wurde aber
        in Kauf genommen, dass die ökologisch sinnvolle Fern-
        wärme steuerlich schlechtergestellt wird. Wir dachten
        zuerst, dass dies aus Unkenntnis geschehen ist, da der
        Davon sind besonders die Menschen in Ostdeutsch-
        land betroffen, wo fast jeder dritte Haushalt mit Fern-
        wärme versorgt wird. Allein in Berlin sind es über
        600 000 Haushalte. Deren Vertrauensschutz spielt offen-
        bar keine Rolle. Schwarz-Gelb gibt dem Begriff „soziale
        Kälte“ damit eine besonders geschmackvolle neue Fa-
        cette. Gleichzeitig wird aber auch dem Ausbau der ener-
        gieeffizienten und klimafreundlichen Kraft-Wärme-
        Kopplung massiv geschadet.
        Wenn im gleichen Atemzug Subventionen für fossile
        Brennstoffe und energieintensive Prozesse – zum Bei-
        spiel für einen der rentabelsten Zweige der chemischen
        Industrie, der Herstellung von Industriegasen – ausbaut
        werden, wird deutlichen: Trotz grünem Deckmäntelchen
        spielt der Umwelt- und Klimaschutz bei den schwarz-
        gelben Plänen keine wesentliche Rolle. Im Gegenteil. Ihr
        praktisches Handeln konterkariert die ambitionierten
        Klimaziele Deutschlands. Diese Schizophrenie kostet
        Milliarden – heute im Bundeshaushalt und morgen bei
        der Bekämpfung der negativen Folgen des Klimawan-
        dels.
        Die Idee einer ökologischen Finanzreform wird mit
        der pseudo-ökologischen Politik der Bundesregierung
        gründlich diskreditiert. Wer sich als Nächstes an das
        schwierige Unterfangen macht, dem Prinzip „tax bads,
        not goods“ zum Durchbruch zu verhelfen, hat es nach
        der Verabschiedung dieses missratenen Gesetzes nicht
        gerade leichter. Der Gesellschaft, aber auch der Wirt-
        schaft selbst erweisen Sie von Schwarz-Gelb damit ei-
        nen Bärendienst.
        Man kann sich darüber streiten, ob nun ökologische
        Blindheit oder Klientelismus die schwarz-gelbe Finanz-
        und Haushaltspolitik bestimmt. Eins ist klar: der Preis,
        den wir als Gesellschaft für die unsozialen und ökolo-
        gisch schädlichen Entscheidungen der Regierung Merkel
        zu zahlen haben, steigt.
        81. Sitzung
        Berlin, Donnerstag, den 16. Dezember 2010
        Inhalt:
        Redetext
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6