Protokoll:
17065

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 65

  • date_rangeDatum: 7. Oktober 2010

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:11 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/65 Tagesordnungspunkt 3: Unterrichtung durch die Beauftragte der Bun- desregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Achter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (Drucksache 17/2400) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Harald Wolf, Senator (Berlin) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Auswege aus der Krise: Steuerpolitische Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit des Staates wiederherstellen (Drucksache 17/2944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6792 D 6793 A 6795 D 6797 B 6798 C 6800 C 6813 D 6814 A 6816 A 6818 A 6820 C 6821 A 6822 A Deutscher B Stenografisc 65. Sit Berlin, Donnerstag, d I n h a Wahl des Abgeordneten Siegmund Ehrmann als ordentliches Mitglied im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundes- republik Deutschland“ . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse als ordentliches Mitglied und des Ab- geordneten Dietmar Nietan als stellvertreten- des Mitglied im Stiftungsrat der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 a, b und d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6791 A 6791 B 6791 B 6792 D Volker Bouffier, Ministerpräsident (Hessen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6802 A 6804 A undestag her Bericht zung en 7. Oktober 2010 l t : Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: 6806 A 6806 C 6808 A 6809 B 6810 C 6812 A 6812 C Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6824 A 6825 B II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Neuordnung des Arznei- mittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittel- marktneuordnungsgesetz – AMNOG) (Drucksachen 17/3116, 17/3211) . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Übereinkommen vom 24. Oktober 2008 zwischen der Regie- rung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Belgien, der Regierung der Französischen Repu- blik und der Regierung des Großher- zogtums Luxemburg zur Einrichtung und zum Betrieb eines Gemeinsamen Zentrums der Polizei- und Zollzusam- menarbeit im gemeinsamen Grenz- gebiet (Drucksache 17/3117) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Anpassung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesminis- teriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon (Drucksache 17/3118) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschafts- plans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2011 (ERP-Wirtschaftsplange- setz 2011) (Drucksache 17/3119) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Vereinbarung vom 20. April 6826 A 6826 B 6828 B 6828 C 6830 B 6832 A 6833 A 6833 C 6835 B 6836 C 6837 D 6837 D 6838 A 6838 A 2010 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Regierung von Quebec über Soziale Sicherheit (Drucksache 17/3120) . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Europa-Mittelmeer-Luftver- kehrsabkommen vom 12. Dezember 2006 zwischen der Europäischen Gemein- schaft und ihren Mitgliedstaaten einer- seits und dem Königreich Marokko an- dererseits (Vertragsgesetz Europa- Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen – Euromed-LuftvAbkG-Marok) (Drucksache 17/3121) . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Betroffene Kulturein- richtungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone angemessen entschädigen (Drucksache 17/3177) . . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendli- chen fördern (Drucksache 17/3178) . . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Holger Ortel, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Reform der Gemeinsamen Fische- reipolitik zum Erfolg führen (Drucksache 17/3179) . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth (Qued- linburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Chancen der EU-Fischereireform 2013 nutzen und Gemeinsame Fischereipoli- tik grundlegend reformieren (Drucksache 17/3209) . . . . . . . . . . . . . . . k) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucher- schutz auf Finanzmärkten nachholen (Drucksache 17/3210) . . . . . . . . . . . . . . . l) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung (TA) Innovationsreport Blockaden bei der Etablierung neuer Schlüsseltechnologien (Drucksache 17/2000) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 B 6838 B 6838 C 6838 C 6838 D 6838 D 6838 D 6839 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 III Tagesordnungspunkt 5: c) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schaffung von Rechtssicherheit für Carsharing-Stationen und Elektrofahr- zeug-Stellplätze (Drucksache 17/3208) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum be- günstigten Flächenerwerb nach § 3 Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung (Zweites Flächenerwerbsänderungsgesetz – 2. FlErwÄndG) (Drucksache 17/3183) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sanktio- nen aussetzen (Drucksache 17/3207) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Pakistan nach der Flut langfristig unterstützen und Schulden umwandeln (Drucksache 17/3206) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die weitere Bereini- gung von Bundesrecht (Drucksachen 17/2279, 17/3109) . . . . . . . b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 19. März 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Anguilla über den steuerlichen Infor- mationsaustausch (Drucksachen 17/3026, 17/3200) . . . . . . . 6839 B 6839 B 6839 B 6839 C 6840 A 6840 B c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor- schlag für eine Verordnung des Euro- päischen Parlaments und des Rates über Finanzbeiträge der Europäischen Union zum Internationalen Fonds für Irland (2007 bis 2010) (Drucksachen 17/2629, 17/3232) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu der Verordnung der Bun- desregierung: Zweite Verordnung zur Änderung der Mauthöheverordnung (2. ÄndMautHV) (Drucksachen 17/2891, 17/2971 Nr. 2.3, 17/3161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Um- setzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Vor- schriften (Drucksachen 17/2821, 17/2971 Nr. 2.1, 17/3170) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung: Grünbuch zur Corporate Governance in Finanzinstituten und Vergütungs- politik (inkl. 10823/10 ADD 1) KOM (2010) 284 endg.; Ratsdok. 10823/10 (Drucksachen 17/2408 Nr. A.8, 17/3112) g) Beratung der Zweiten Beschlussempfeh- lung des Wahlprüfungsausschusses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009 (Drucksache 17/3100) . . . . . . . . . . . . . . . h) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die Fußballwelt- meisterschaft – Eine Chance für Süd- afrika (Drucksachen 17/1959, 17/2493) . . . . . . . i)–q) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145 und 146 zu Petitio- nen (Drucksachen 17/3069, 17/3070, 17/3071, 17/3072, 17/3073, 17/3074, 17/3075, 17/3076, 17/3077) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6840 C 6840 D 6841 A 6841 B 6841 C 6841 C 6841 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- digungsausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), Peter Altmaier, Michael Brand, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Elke Hoff, Rainer Erdel, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ver- besserung der Regelungen zur Einsatzver- sorgung (Drucksachen 17/2433, 17/3229) . . . . . . . . . . Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Ein nationales Klimaschutzgesetz – Ver- bindlichkeit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der Vorreiterrolle gerecht werden (Drucksache 17/3172) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäi- sches Klimaschutzziel für 2020 anheben (Drucksache 17/2485) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die richtigen Lehren aus Kopenha- gen ziehen – zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Klimaschutzziele gesetzlich veran- kern – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans- Josef Fell, weiterer Abgeordneter und 6842 D 6843 A 6844 A 6844 B 6846 A 6846 D 6847 D 6848 D 6850 A 6850 B der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Klimaschutzgesetz vorlegen – Klimaziele verbindlich festschreiben (Drucksachen 17/522, 17/1475, 17/132, 17/2318) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- ausschusses zu der Unterrichtung: Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EU des Europäi- schen Parlaments und des Rates über Einla- gensicherungssysteme [Neufassung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Drucksachen 17/2994 Nr. A.23, 17/3239) . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Vorschlag für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme (Neufas- sung) KOM-Nr. (2010) 368 endg.; Rats- dok.-Nr. 1238610 hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Sicherungssysteme als Modell für Europa (Drucksache 17/3191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6850 C 6850 C 6852 D 6853 D 6854 C 6855 B 6856 D 6857 A 6858 D 6859 A 6859 B 6860 B 6861 B 6862 C 6863 C 6864 D 6865 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 V Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Verfahren zur Auswahl von Bundes- bankvorständen reformieren (Drucksachen 17/798, 17/1075) . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabi- litierungsgesetzes (Drucksachen 17/1215, 17/3233) . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski- Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer 6865 B 6866 A 6867 B 6868 B 6869 A 6870 A 6870 D 6872 A 6872 B 6874 A 6875 B 6876 C 6877 B 6879 A 6879 B 6880 B 6881 D 6884 B 6885 B 6886 A 6886 C Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mo- derne verbraucherbezogene Forschung ausbauen – Tatsächliche Auswirkungen ge- setzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen (Drucksache 17/2343) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (Drucksachen 16/13800, 17/591 Nr. 1.18, 17/3158) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Mindest- lohn für die Weiterbildungsbranche (Drucksache 17/3173) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6887 B 6887 C 6888 C 6889 D 6890 C 6891 D 6892 D 6894 B 6894 C 6895 C 6896 C 6897 C 6898 D 6900 A 6901 B 6901 C 6902 B 6903 C 6904 A 6905 A 6906 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: a) Antrag der Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Ausländi- sche Bildungsleistungen anerkennen – Fachkräftepotentiale ausschöpfen (Drucksache 17/3048) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Strategie statt Streit – Fachkräfteman- gel beseitigen (Drucksache 17/3198) . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein, Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sicherung und Bewahrung der Wandbilder von Prof. Ronald Paris und Prof. Walter Womacka in Berlin (Drucksache 17/2020) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Konzept für die Bewahrung kulturhistorisch bedeutsa- mer Kunst am Bau der jüngeren Zeit entwickeln (Drucksache 17/3186) . . . . . . . . . . . . . . . . 6907 B 6908 B 6909 B 6910 C 6910 C 6910 D 6911 B 6912 D 6914 C 6915 D 6916 D 6917 C 6918 D 6918 D Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen – zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Todesstrafe weltweit abschaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Abschaffung der Todesstrafe weltweit (Drucksachen 17/2331, 17/2114, 17/2131, 17/3181) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Folter bekämpfen und Folter- opfer unterstützen (Drucksachen 17/2115, 17/3180) . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6919 A 6919 D 6922 A 6923 C 6925 A 6926 A 6926 B 6926 C 6927 C 6929 C 6930 B 6931 A 6932 A 6933 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 VII Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Energiewirtschaftsgesetzes (Drucksache 17/3182) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bun- des-Immissionsschutzgesetzes (Drucksachen 17/2866, 17/3034, 17/3169) . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Biologi- sche Vielfalt für künftige Generationen be- wahren und die natürlichen Lebensgrund- lagen sichern (Drucksache 17/3199) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Ulrike Gottschalck, René Röspel, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die richtigen Lehren aus dem Aus- bruch des isländischen Vulkans Eyjafjalla- jökull ziehen – Klimaforschung und Geowissenschaften stärken und die Vo- raussetzungen für ein nationales und euro- päisches Krisenmanagement im Luftver- kehr schaffen (Drucksache 17/3174) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung: Ini- tiative für eine Richtlinie des Europäischen 6934 B 6934 C 6935 A 6935 A 6935 B 6937 C 6938 D 6939 C 6940 B 6941 A Parlaments und des Rates über die Euro- päische Ermittlungsanordnung in Straf- sachen Ratsdok. 9145/10 (Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234) . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Fraktion der SPD: Evaluierung der Neuorganisation der Bundespolizei durch einen wissenschaftlichen Sachver- ständigen (Drucksache 17/3068) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff (Rems- Murr), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich fortsetzen – Bundespolizistinnen und Bundespolizisten unterstützen (Drucksache 17/3187) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine Normalisierung der Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba (Drucksache 17/3188) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6942 C 6943 A 6943 A 6943 B 6944 A 6945 A 6947 B 6948 B 6948 D 6949 B 6949 C 6950 B 6951 B 6952 A 6953 A 6954 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Volker Beck (Köln), Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stif- tungszweck der Stiftung Flucht, Vertrei- bung, Versöhnung erfüllen (Drucksache 17/3064) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Die Friedens- und Konflikt- forschung stärken – Deutsche Stiftung Friedensforschung finanziell ausbauen (Drucksache 17/1051) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Stein- kohlevereinbarung gilt – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für einen 6955 B 6955 B 6956 A 6957 A 6957 D 6958 D 6959 A 6959 D 6960 A 6961 B 6962 C 6963 D 6964 C geordneten und sozialverträglichen Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau (Drucksachen 17/3043, 17/3044, 17/3231) b) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Fritz Kuhn, Markus Tressel, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Subventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich be- enden (Drucksache 17/3201) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen – Militärische Zusam- menarbeit beenden – Atomwaffenfreie Zone befördern (Drucksache 17/2481) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- trag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das „Parla- ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden (Drucksachen 17/1580, 17/3115) . . . . . . . . . . Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Poland (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6965 C 6965 C 6965 C 6967 C 6968 D 6969 D 6970 D 6972 A 6972 B 6973 D 6975 A 6975 B 6976 C 6977 A 6978 A 6978 B 6979 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 IX Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon- Taubadel, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kir- gisistan unterstützen – Den Frieden sichern (Drucksache 17/3202) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) zur Abstimmung über die Zweite Beschlussemp- fehlung des Wahlprüfungsausschusses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Sep- tember 2009 (Tagesordnungspunkt 34 g) . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu der Unterrich- tung: Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme [Neufas- sung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem An- trag: Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft geschützt wer- den (Tagesordnungspunkt 26) 6979 D 6980 C 6981 B 6981 D 6982 D 6983 C 6985 A 6985 D 6986 B Petra Merkel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes (Tagesord- nungspunkt 16) Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Än- derung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Biologische Vielfalt für künftige Generationen bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen sichern (Zusatztagesord- nungspunkt 4) Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: 6987 A 6987 A 6988 A 6989 A 6989 D 6990 C 6991 C 6992 C 6993 B 6994 B 6994 D 6995 B 6995 D 6996 B 6997 C 6998 B 6999 A 6999 C X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäi- sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen Ratsdok. 9145/10 (Zusatztagesordnungspunkt 5) Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Kirgisistan unterstützen – Den Frie- den sichern (Zusatztagesordnungspunkt 7) Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Franz Thönnes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7000 D 7001 C 7002 C 7003 B 7004 A 7005 B 7006 A 7007 A 7007 D 7009 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6791 (A) (C) (D)(B) 65. Sit Berlin, Donnerstag, d Beginn: 9
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    1) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6985 (A) (C) (D)(B) ler hinsichtlich der Auswahl und Einrichtung von barrie- refreiem Wahlraum nicht zweifelsfrei feststellbar. Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010 Bundestag im Rahmen der Prüfung der Wahleinsprüche nach seiner ständigen Praxis vorrangig die Einhaltung der bestehenden wahlrechtlichen Vorschriften prüft. Nach diesen bestehenden Regelungen war ein Wahlfeh- Rupprecht (Tuchenbach), Marlene SPD 07.10.2010* Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aigner, Ilse CDU/CSU 07.10.2010 Binder, Karin DIE LINKE 07.10.2010 Bleser, Peter CDU/CSU 07.10.2010 Bülow, Marco SPD 07.10.2010 Friedhoff, Paul K. FDP 07.10.2010 Fritz, Erich G. CDU/CSU 07.10.2010* Götz, Peter CDU/CSU 07.10.2010 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010 Groth, Annette DIE LINKE 07.10.2010* Heil, Hubertus SPD 07.10.2010 Höger, Inge DIE LINKE 07.10.2010** Hörster, Joachim CDU/CSU 07.10.2010* Krestel, Holger FDP 07.10.2010 Liebich, Stefan DIE LINKE 07.10.2010** Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 07.10.2010 Dr. Maizière de, Thomas CDU/CSU 07.10.2010 Marks, Caren SPD 07.10.2010 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.10.2010 Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 07.10.2010 Özoğuz, Aydan SPD 07.10.2010 Oswald, Eduard CDU/CSU 07.10.2010 Pflug, Johannes SPD 07.10.2010 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 07.10.2010 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneter Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) zur Abstimmung über die Zweite Be- schlussempfehlung des Wahlprüfungsausschus- ses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Sep- tember 2009 (Tagesordnungspunkt 34 g) Ich stimme der Annahme der aus der Anlage 9 er- sichtlichen Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus- schusses auf Bundestagsdrucksache 17/3100 zu, weil der Schreiner, Ottmar SPD 07.10.2010 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 07.10.2010 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 07.10.2010 Dr. Solms, Hermann Otto FDP 07.10.2010 Dr. Steinmeier, Frank- Walter SPD 07.10.2010 Strenz, Karin CDU/CSU 07.10.2010* Toncar, Florian FDP 07.10.2010 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 07.10.2010 Werner, Katrin DIE LINKE 07.10.2010* Widmann-Mauz, Annette CDU/CSU 07.10.2010 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 07.10.2010 Zöllmer, Manfred SPD 07.10.2010 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 6986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) Ich muss zu dieser Abstimmung Folgendes erklären: Die Gemeinden bemühen sich zwar, barrierefreie Wahlräume zur Verfügung zu stellen. Bei einem Anteil von beispielsweise etwa zwei Dritteln nichtbarrierefreier Wahllokale in der Stadt Dresden muss der Bundestag aus meiner Sicht aber die Schlussfolgerung ziehen, dass das gesetzliche Ziel der Gleichstellung behinderter Men- schen durch barrierefreie Wahlräume mit den bestehen- den Regelungen bisher nicht erreicht wurde. Die Rege- lungen müssen deshalb zwingender ausgestaltet werden. Es ist nach meiner Einschätzung – und diese Einschät- zung teilt meine Fraktion – für unsere Demokratie kein tragbarer Zustand, wenn ein so hoher Anteil der Wahllo- kale nicht barrierefrei ist. Es ist nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die wählen wollen, dies nur deshalb nicht tun, weil sie kein barriere- freies Wahllokal vorfinden. Zwar könnten diese Wahlbe- rechtigten mit Wahlschein in einem anderen, barriere- freien Wahllokal oder per Briefwahl wählen – das bedeutet aber zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Dies ist nicht zumutbar. Allen Wahlberechtigten muss – unabhängig von einer Mobilitätsbeeinträchtigung oder Behinderung – die Wahl vor Ort im Wahllokal ermög- licht werden. Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf barrierefreie Wahllokale und öffentliche Einrichtungen. Das VN-Übereinkommen über die Rechte von Men- schen mit Behinderungen verpflichtet dazu genauso wie das Grundgesetz. Hinzu kommt: Das Durchschnittsalter der Wahlberechtigten wird immer mehr zunehmen. Auch deshalb haben die Auswahl und die Einrichtung barriere- freier Wahllokale eine besondere Bedeutung für mich und meine Fraktion. Der Bundestag steht aus meiner Sicht in der Verant- wortung, die Wahlvorschriften nicht einfach nur im Rah- men der Wahlprüfung anzuwenden, sondern sie im Be- darfsfalle – in seiner Funktion als Gesetzgeber – zu ändern. Ich werde der Beschlussempfehlung zustimmen, weil dort auf der Grundlage der geltenden Wahlvorschriften vertretbar argumentiert wurde. Ich setze mich zugleich für meine Fraktion im Wahlprüfungsausschuss für eine Änderung der Wahlvorschriften ein. Ziel ist die Prüfung der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich barrierefreier Wahlräume durch die Bundesregierung und eine zügige Änderung der Vorschriften. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu der Unterrichtung: Vorschlag für eine Richt- linie .../.../EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme [Neufassung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10 ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesordnungs- punkt 7) Zur Abstimmung zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP für eine Subsidiaritätsstellung- nahme nach § 93 a Abs. 1 GO-BT zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra- tes über Einlagensicherungssysteme (Neufassung), KOM(2010) 368 endg. erkläre ich Folgendes: Der Binnenmarkt stellt eine der Hauptgesetzgebungs- kompetenzen der EU dar. Mit dem vorliegenden Richtli- nienvorschlag sollen mittels einer Harmonisierung die während der Finanzkrise zutage getreten Schwachstellen in den bestehenden Einlagensicherungssystemen besei- tigt werden. Mit der Schaffung eines europaweit hohen Niveaus des Einlagenschutzes wird Inhabern von Einla- gen ein schnellerer und effizienterer Schutz gewährt. Dies fördert das Vertrauen der Bürger in das Finanzsys- tem und ist damit auch für die Stabilität des nationalen und europäischen Finanzmarkts von besonderer Bedeu- tung. Dieses Ziel kann meines Erachtens nicht in glei- cher Weise auf nationaler Ebene erreicht werden. Nationalen Besonderheiten der Finanzmarktstruktur und der Gefahr einer Verzerrung des Wettbewerbs im EU-Binnenmarkt wird dadurch genügend Rechnung ge- tragen, dass lediglich die Rahmenbedingungen der je- weiligen Einlagensicherungssysteme – „Level Playing Field“ – harmonisiert werden. Die Europäische Kom- mission beabsichtigt keine Maximalharmonisierung und gewährt den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum bei der näheren Ausgestaltung. Selbst falls man die vorgetragenen Bedenken hin- sichtlich der inhaltlichen Detailausgestaltung der Richt- linie teilt, so wäre auch unter dieser Prämisse die Sub- sidiaritätsrüge das falsche Instrument. Die Subsidiaritätsrüge ist schon formal in ihren Er- folgsaussichten von dem Zustandekommen eines Mehr- heitsquorums unter den mitgliedstaatlichen Parlamenten abhängig. Dies verspricht jedoch geringe Aussicht auf Erfolg. Damit käme es auf die materielle Prüfung der Rüge schon gar nicht mehr an. Die Subsidiaritätsrüge stellt neben der Subsidiaritäts- klage das schärfste Schwert dar, welches dem Bundestag durch den Vertrag von Lissabon zur Überprüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips an die Hand gege- ben wurde. Ich halte es für europapolitisch nicht oppor- tun, für die erstmalige Ausübung eines so wichtigen Rechts einen Anwendungsfall zu wählen, der schon aus oben genannten Gründen wenig Aussicht auf Erfolg hat. Mit einer Stellungnahme gemäß Art. 23 Abs. 3 GG könnte man dagegen Bedenken hinsichtlich der inhaltli- chen Detailausgestaltung der Richtlinie ebenso äußern, und zwar unabhängig von einem vorliegenden Subsidia- ritätsverstoß. Mit einer solchen Stellungnahme könnte die Bundesregierung direkt aufgefordert werden, die vorliegenden Bedenken in ihre Verhandlungslinie mit zu übernehmen, und auch europapolitisch das richtige Signal gesendet werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6987 (A) (C) (D)(B) Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Das „Parlament der Bäume ge- gen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft ge- schützt werden (Tagesordnungspunkt 26) Petra Merkel (Berlin) (SPD): Hiermit erkläre ich, dass ich dem Antrag zustimme, da ich das Werk des Künstlers Ben Wagin für dauerhaft schützenswert halte. Der Deutsche Bundestag sollte die Nutzung des Gelän- des dauerhaft gewährleisten. Ebenso sollte die Landes- regierung Berlin aufgefordert werden, dieses Mahnmal gegen Krieg und Gewalt in die Landesdenkmalliste auf- zunehmen Monika Grütters (CDU/CSU): „Ja, Berlin ist eine Sandwüste, aber wo sonst findet man Oasen?“ – Passen- der als der von mir verehrte Dichter Jean Paul hätte man nicht beschreiben können, was der kleine Ort des „Parla- ments der Bäume“ ist: eine Oase der Erinnerung, der Kunst und der Selbstreflexion des Parlaments in der in- nerstädtischen Wüste Berlins und des Regierungsvier- tels. Hinter dem Bundespressehaus an der Ecke Schiffbau- erdamm/Reinhardtstraße, befindet sich dieses „Parla- ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“. Es entstand in der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich für das „Niemandsland“ des Grenzstreifens keiner verant- wortlich fühlte. Der Künstler Ben Wagin, seine Freunde, Künstler wie Tadeusz Kantor, Klaus Staeck, Otto Dressler und Mit- glieder des Baumpatenvereins verwendeten die einzel- nen Segmente der Hinterlandmauer – die Grenze verlief am westlichen Spreeufer –, um auf ihnen das Jahr und die Anzahl der Mauertoten aufzulisten. Auf dem Ge- lände lagern nun Steinplatten mit den eingravierten Na- men der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden. Ben Wagin ergänzte die Dokumentation durch Bilder und Gedichte. Ursprünglich gehörten zu dem Kunstwerk drei Berei- che: die 16 Bäume, die von den Ministerpräsidenten ge- pflanzt wurden und die 16 Bundesländer symbolisieren sollten, das grüne Denkmal „Europa Erde werde“, das dem Neubau des Bundespressehauses weichen musste, und das Ensemble der 400 Bäume. Diese wurden im Herbst 1990 von den Senatorinnen und Senatoren aus Ost- und West-Berlin zusammen mit dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der Parlamentspräsidentin des Deutschen Bundestags Rita Süßmuth, der Präsidentin des Berliner Abgeordneten- hauses Hanna-Renate Laurien und dem SPD-Vorsitzen- den Hans-Jochen Vogel sowie zahlreichen Bundestags- abgeordneten anlässlich der ersten Plenarsitzung im Reichstagsgebäude entlang dem Kolonnenweg ge- pflanzt. Engagiert haben sich ebenso Bundespräsident Johannes Rau, die Bundesminister Klaus Töpfer, Wolfgang Mischnick und Wolfgang Schäuble. Von die- sen 400 Bäumen stehen heute noch 100. Der Kolonnen- weg und 58 Mauersegmente sind an originaler Stelle noch erhalten. Der künstlerisch gestaltete Ort im Regierungsviertel erinnert zudem an die sowjetischen Soldaten, die im Mai 1945 hier aus dem Hinterhalt erschossen wurden, sowie an die ersten Mauertoten, die genau an dieser Stelle bei dem Versuch, über die Spree aus der DDR zu flüchten, ums Leben kamen. Ergänzt wird das heutige Kunstwerk durch den be- rühmten Spruch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow, den er anlässlich seines Besuches zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 1989 formulierte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ ist nach der East Side Gallery das längste noch im Ori- ginal erhaltene Stück Hinterlandmauer und der einzig noch an originaler Stelle verbliebene Mauerrest im Re- gierungsviertel. Es ist das Verbindungsglied zu den Mauerresten im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und zur Mauermarkierung im Bundespressehaus. Die sichtbar gemachte Erinnerung in diesen beiden Gebäuden wäre ohne das „Parlament der Bäume“ nicht erklärbar. Im November 2008 hat Bundestagspräsident Norbert Lammert, der sich mehr als seine Vorgänger für das Denkmal engagiert, entschieden, dass der Bundestag die gärtnerische Pflege der Anlage übernimmt und die Zu- gänglichkeit zum „Parlament der Bäume“ garantiert. Bernd Neumann, der Beauftragte für Kultur und Medien im Kanzleramt, BKM, hat Mittel bereitgestellt und so gemeinsam mit dem Senat von Berlin die Einzäunung, die Beleuchtung, die öffentliche Beschilderung und die Einbettung in das Mauerkonzept für das Denkmal am historischen Ort sichergestellt. Der Antrag, der heute zur Abstimmung steht, fordert die Bundesregierung nun auf, in Zusammenarbeit mit dem Senat von Berlin im gemeinsamen Ausschuss von Bund und Berlin nach § 247 BauGB den gültigen Be- bauungsplan für das Regierungsviertel – I-210 – so zu ändern, dass eine künftige Bebauung des Grundstücks, auf dem sich das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ von Ben Wagin befindet, verhindert wird und das Kunstwerk unter Denkmalschutz gestellt wird. Die Baukommission des Deutschen Bundestages hat dies im Hinblick auf den Wert des Grundstücks zunächst abgelehnt. Ich habe Respekt vor dieser Entscheidung, denn sie ist aus der Sicht der Baupolitiker sicher gut nachvoll- ziehbar. Auch die Haltung des Bundestagspräsidenten und des Staatsministers für Kultur und Medien, die beide darauf verweisen, dass das Gelände bis 2018 nicht ange- tastet wird, und die davon ausgehen, „dass es von Dauer ist“ – so Bernd Neumann bei der Einweihung des Doku- mentationsortes am 30. September 2010 –, ist nachvoll- ziehbar. Ich werde dem Antrag zur Änderung des Bebauungs- planes und zur Unterdenkmalschutzstellung des „Parla- ments der Bäume“ dennoch zustimmen, weil ich es für 6988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) ein schönes und bedeutendes Signal gehalten hätte, wenn sich der Deutsche Bundestag zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit und zum 80. Geburtstag des Künstlers Ben Wagin jetzt, im Jahr 2010, zu diesem Zu- geständnis an den Wert und die Würde des authentischen Gedenkortes, des Kunstwerkes auf seinem eigenen Ge- lände und des Parlaments der Bäume, hätte durchringen können. Anlage 5 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes Thomas Bareiß (CDU/CSU): Heute reden wir über den Antrag der Grünen-Fraktion zur Änderung des Ener- giewirtschaftsgesetzes vor dem Hintergrund auslaufen- der Konzessionsverträge im Strom- und Gasnetzbereich. Ausnahmsweise reden wir damit heute einmal über ei- nen energiepolitischen Oppositionsantrag, der nichts mit der Kernenergie zu tun, worüber ich mich sehr freue. Wie in anderen zahlreichen Anträgen im energiepoli- tischen Bereich sieht die Opposition die Thematik aller- dings zu kurzsichtig. Eine differenziertere Betrachtung ist hier vonnöten. Dazu gehört zunächst einmal die grundsätzliche Frage, was hinter dem Wunsch der Kommunen, Energie- politik zu machen, steckt. Es ist nämlich durchaus zu be- fürchten, dass hier weitreichende finanzielle Belastun- gen nicht in vollem Umfang gesehen werden. Es darf nicht zu der Situation kommen, dass sich die Kommunen mit dieser Aufgabe übernehmen. Grundsätzlich möchte ich davor warnen, dass den großen Herausforderungen im Bereich des Stromnetz- ausbaus nicht in ausreichendem Maße Genüge getan wird. Gerade im Verteilnetzbereich stehen wir vor wich- tigen Aufgaben. Dazu gehört zunächst einmal die Inte- gration der erneuerbaren Energien, deren Anteil stetig wächst. In diesem Jahr wird es Schätzungen zufolge al- lein im Bereich Photovoltaik zu einem Zubau in Höhe von rund 10 000 Megawatt kommen. Uns allen muss klar sein, dass wir unsere ambitionier- ten Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien nur erreichen können, wenn wir in Sachen Netzausbau mitziehen. Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang ist die Entwicklung von intelligenten Netzen, Smart Grid. Auf- grund des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwan- kenden Angebots an erneuerbaren Energien ist dieses In- strument dringend notwendig. Damit einher geht der Einsatz von intelligenten Zählern, Smart Meter. Ich will die Aufzählung an dieser Stelle beenden, aber es sollte klar sein, dass wir hier vor großen Herausforderungen stehen, die auch mit massiven Investitionskosten ver- bunden sind. Dieser Verantwortung müssen sich die Kommunen bewusst sein. Zudem ist der Netzkauf nicht die einzige Möglichkeit, um sich als Kommune einen größeren Einfluss auf die Netze zu sichern. Angesichts der hohen Kosten eines Er- werbs sind durchaus auch die kostengünstigeren Beteili- gungsmodelle oder im Einzelfall auch die Gründung von Kooperationen in Erwägung zu ziehen. Das Problem, das die Grünen schildern, wird mit dem Antrag meines Erachtens nicht gelöst, da andere Aspekte ausgeblendet werden. Die Grünen sagen in dem Antrag, dass in den nächsten Jahren Tausende Konzessionsver- träge zwischen Kommunen und Energieversorgungsun- ternehmen zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnet- zen auslaufen. Im derzeitigen EnWG sei nicht gewährleistet, dass ein einfacher Wechsel zu anderen Betreibern möglich ist. Die Hürden eines Wechsels seien zu groß, da zum Beispiel die bisherigen Netzbetreiber nicht verpflichtet seien, umfassend über den Wert des Netzes zu berichten. Es muss in dem Zusammenhang aber auch gesehen werden, dass viele der in den kommenden Jahren auslau- fenden Konzessionsverträge vor Inkrafttreten des EnWG 1998 geschlossen wurden. Diese Verträge enthalten so- genannte Endschaftsklauseln, die Details über die Aus- stiegsbedingungen regeln. Ich bin der Meinung, dass bestehende vertragliche Regelungen zu achten sind. Die Politik sollte nur ein- greifen, wenn es zwingend notwendig ist. Daher müssen wir sicherlich genau prüfen, in welcher Weise dies not- wendig sein wird. Dabei denke ich zum Beispiel an die Informationspflicht über Zustand und Wert der Netze – Stichwort Transparenz. Ohnehin haben wir in der Koalition vereinbart, im nächsten Jahr im Zuge der Umsetzung des dritten Bin- nenmarktpakets das Energiewirtschaftsgesetz zu novel- lieren. In diesem Zusammenhang werden wir in aller Ruhe über die Notwendigkeit gesetzgeberischen Han- deln entscheiden. Wirklich erforderliche Änderungen in § 46 EnWG werden dann vorgenommen. Mit der Über- weisung an den zuständigen Wirtschaftsausschuss wer- den wir die Möglichkeit haben, über diese Frage zu dis- kutieren. Dabei kann auch das berechtigte Anliegen der Kommunen aufgegriffen werden, im Rahmen einer Ver- änderung der Stromnetzentgeltverordnung den Kauf- preis zu prüfen, um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen. Abschließend möchte ich nochmals kurz auf das ein- gangs erwähnte energiepolitische Gesamtkonzept der Bundesregierung zu sprechen kommen. Darin haben wir in einem eigenständigen Kapitel die großen Herausfor- derungen beim Netzausbau dargestellt und aufgezeigt, welche Handlungen notwendig sind, wenn wir es ernst meinen mit dem Weg ins Zeitalter regenerativer Ener- gien. Neben dem enormen Ausbaubedarf bei den Übertra- gungsnetzen im Hochspannungsbereich gehört dazu vor allem auch die Notwendigkeit, massivst in die Verteil- netze im Niedrigspannungsbereich zu investieren. Mit jedem Megawatt an Photovoltaikzubau fallen entspre- chende zusätzliche Investitionen im Verteilnetzbereich an. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6989 (A) (C) (D)(B) Wenn wir über Ziele und Maßnahmen reden, müssen wir auch so ehrlich sein zu sagen, was uns das kostet, und zugleich dazu stehen, dass uns dies wert ist. Unsere ambitionierten Ausbauziele bei den erneuerbaren Ener- gien dürfen nicht daran scheitern, dass wir den Gesamt- rahmen aus den Augen verlieren, und dazu gehört der Ausbau der Verteilnetze. Diesen Punkt dürfen wir bei dieser Diskussion um das Energiewirtschaftsgesetz nicht vergessen. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Unsere Strom- und Gasnetze sind in der Tat ein wichtiges Thema. Ohne eine leistungsfähige Netzinfrastruktur werden wir unser Ziel, den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostrom- verbrauch bis 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen, nicht er- reichen. Deshalb haben wir dieses Thema auch in unse- rem Energiekonzept umfassend berücksichtigt, etwa indem wir planen, intelligente Netze zu schaffen oder ein „Zielnetz 2050“ zu entwickeln. Was nun den debattengegenständlichen Antrag der Grünen angeht, so ist zunächst richtig: Städte und Ge- meinden entscheiden im Rahmen eines Konzessionsver- trages, wer der örtliche Strom- bzw. Gasverteilnetzbe- treiber sein soll. Konzessionsverträge können für maximal 20 Jahre abgeschlossen und müssen öffentlich ausgeschrieben werden. In den nächsten Jahren laufen die Konzessionsver- träge bundesweit überwiegend aus. Das betrifft circa 2 000 Konzessionsverträge, die in den kommenden zwei Jahren neu abgeschlossen werden müssen. Entscheidend ist auch: Die auslaufenden Konzessions- verträge schaffen gute Voraussetzungen für Wettbewerb im Verteilnetzbetrieb. Die mit dem Auslaufen der Kon- zessionsverträge verbundenen Ausschreibungen beflü- geln diesen, ja sind Voraussetzung für einen Wettbewerb um den effizienten Verteilnetzbetrieb, der so in Stufen realisiert wird. Nun zur Kritik der Grünen an der bestehenden Geset- zeslage: Sie kritisieren die geltende Regelung des § 46 Abs. 2 EnWG als unzureichend, weil insbesondere zu unbestimmt. Im Gesetz heißt es nämlich, dass bei Nicht- verlängerung eines Konzessionsvertrags der bisherige Netzbetreiber verpflichtet ist, die Verteilungsanlagen im Gemeindegebiet dem neuen Energieversorger gegen Zahlung einer angemessenen Vergütung zu überlassen. Sie haben insofern Recht, als hier unter anderem un- bestimmte Rechtsbegriffe verwandt werden. Dies ist al- lerdings dem Umstand geschuldet, dass bewusst keine Einzelfallregelung getroffen, sondern ein weiter Anwen- dungsbereich eröffnet werden soll. Falsch ist die Schlussfolgerung, dass diese offene Regelung, die im Einzelfall verhandelt werden muss und darf, Gemeinden vom Wechsel des Konzessionärs abhalten würde. In der Praxis, die ich auch als aktiver Kommunalpolitiker kenne, entscheidet die Gemeinde über den Konzessionär. Die Verhandlungen auf Basis des § 46 Abs. 2 Satz 2 EnWG müssen anschließend Alt- und Neukonzessionär miteinander führen. Sie pflichten mir doch bei, dass dies zwischen den Energieversorgern im Regelfall auf Au- genhöhe geschehen dürfte. Ich kann nicht erkennen, dass es notwendig ist, in der im Antrag geschilderten Art und Weise den Gemeinden beizuspringen. Sie haben nämlich mit der Auslegung des § 46 Abs. 2 Satz 2 EnWG höchs- tens mittelbar insofern zu tun, als sich ein Rechtsstreit zwischen den Energieversorgern entfachen könnte. Demgegenüber behaupten die Grünen, dass der Wechsel nicht erfolgen würde, weil die Gemeinden angeblich „drohende juristische Auseinandersetzungen mit einem mächtigen und finanzkräftigen Energiekonzern“ fürch- ten. Meine Damen und Herren, im Gesetzgebungsverfah- ren hat der Gesetzgeber trotz entsprechender Vorschläge davon abgesehen, eine ausdrückliche Verpflichtung zur Eigentumsübertragung aufzunehmen. Eine Verpflich- tung zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeigne- tes, aber milderes Mittel, um dem neuen Netzbetreiber eine Verfügungsmacht über die für den Netzbetrieb not- wendigen Anlagen einzuräumen, was sich dann auch in der wirtschaftlich angemessenen Vergütung niederschla- gen wird. Soweit praktische Probleme bei einer Netz- überlassung ohne Eigentumsübertragung möglich sind – zum Beispiel die Pflicht zur Weiterübertragung des Netzes nach Ablauf des neuen Konzessionsvertrages –, können diese vertraglich bei der Gebrauchsüberlassung geregelt werden. Mit Festschreibung einer wirtschaftlich angemesse- nen Vergütung soll sichergestellt werden, dass der Ver- sorgerwechsel nicht an einer eben prohibitiv hohen Ver- gütung scheitert. Über die konkrete Höhe müssen sich die Parteien im Verhandlungswege einigen. Die Fest- schreibung eines konkreten Verfahrens zur Ermittlung der Vergütungshöhe würde einen Eingriff in die Ver- tragsfreiheit darstellen – und den wollen wir eben nicht. Wenn teilweise sogar eine Begrenzung der Vergütung auf den kalkulatorischen Restwert gefordert wird, wäre dies bei abgeschriebenen Netzen faktisch eine Verpflich- tung zur „Zwangsschenkung“. Auch das wollen wir nicht, deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Rolf Hempelmann (SPD): Der Antrag der Grünen geht im Kern um die Stärkung der kommunalen Energie- wirtschaft. Damit sprechen die Grünen ein Thema an, das auch der SPD-Fraktion am Herzen liegt. Die kom- munalen Unternehmen haben in der Vergangenheit be- wiesen, jedenfalls viele von ihnen haben das getan, dass sie kundenorientierte Energiedienstleistungen mit inno- vativen Konzepten voranbringen können. Damit schaf- fen sie die Voraussetzungen für mehr Energieeffizienz auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite, eine Ent- wicklung, die wir brauchen, um ohne Lebensqualitäts- verlust mit weniger Energie auskommen zu können. Konkret geht es dem Antragsteller um die Schaffung von Rechtssicherheit bei der Übertragung von Verteil- netzen von Strom und Gas. Im Antrag ist zutreffend be- schrieben, welche Schwierigkeiten in den letzten Jahren immer wieder beim Wechsel von Konzessionsverträgen aufgetreten sind. Wir teilen die Auffassung, dass eine wesentliche Ursache in den rechtlich unbestimmten Be- grifflichkeiten zum Konzessionswechsel in § 46 EnWG begründet sind. Dadurch begünstigt die jetzige Gesetzes- 6990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) lage die Fortsetzung des Status quo, führt also häufig dazu, dass Kommunen ihr Netz nicht rückerwerben, son- dern dem alten Konzessionär weiter überlassen. Neben den unklaren Wechselregelungen in § 46 spie- len auch andere vom Antragsteller angeführte Aspekte eine den Wechsel behindernde Rolle. So fehlen in der Tat kaufinteressierten Kommunen oft maßgebliche In- formationen über die technische und wirtschaftliche Si- tuation des Netzes, Informationen, die für die Bewertung eines Netzkaufs oder Netzrückkaufs aber unbedingt er- forderlich sind. Auch die in § 46 vorgegebene „wirt- schaftlich angemessene Vergütung“ als Grundlage zur Berechnung des Netzkaufpreises ist zu unbestimmt und unklar. Viel zu oft bestehen Meinungsverschiedenheiten zwischen Käufer und Verkäufer darüber, welches Entgelt für die Übernahme eines Netzes tatsächlich angemessen ist. Was ist die Folge dieser Unklarheiten und Regelungs- lücken? Eine der Folgen jedenfalls ist, dass eine Vielzahl von Fällen vor Gericht geklärt werden muss. Das führt zu jahrelanger Rechtsunsicherheit aufseiten der Kommu- nen und nährt die Befürchtung, dass notwendige Investi- tionen in die betroffenen Netzabschnitte ausbleiben. Wie ich eingangs dargestellt habe, unterstützt die SPD den Rekommunalisierungstrend im Bereich der Strom- und Gasverteilnetze und sympathisiert insofern auch grundsätzlich mit dem vorliegenden Antrag. Wir glau- ben allerdings, dass noch einige Ergänzungen notwendig und sinnvoll wären. Erstens. Zwar fordert der Antragsteller zu Recht, ge- stützt durch mehrere OLG-Urteile, dass zur Bestimmung des Kaufpreises das Ertragswertverfahren vorgegeben werden sollte. Dies wäre auch deshalb sinnvoll, weil auf diese Weise die Kostenanerkennung durch die Bundes- netzagentur weitgehend gesichert wäre. Um allerdings zu vermeiden, dass quasi schrottreife Netze zu überhöh- ten Preisen den Besitzer wechseln, muss gewissermaßen als Korrektiv – auch das schlagen die Oberlandesge- richte vor – aus unserer Sicht der Tagesneuwert berück- sichtigt werden, also der tagesaktuelle Zustand des Net- zes. Nur so wäre tatsächlich ein angemessener Kaufpreis sichergestellt und der bisherige Eigentümer auch bei ei- nem anstehenden Konzessionswechsel motiviert, weiter- hin notwendige Investitionen vorzunehmen. Zweitens. Ein weiterer Punkt, der unseres Erachtens einer pragmatischen Lösung bedarf, betrifft die zum Teil jahrelange Dauer und die hohen Kosten der gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten. Hier schlagen wir die Einführung einer Verpflichtung vor, spätestens ab einem halben Jahr Verfahrensdauer und ab- sehbaren erheblichen Zeitverzögerungen eine Schlich- tungsstelle anrufen zu müssen. Drittens. Auch wenn wir die Forderung nach einer umfassenden Informationsweitergabe frühzeitig vor Auslaufen einer Konzession unterstützen, legen wir auf- grund der Vielzahl betriebswirtschaftlich relevanter und sensibler Daten Wert darauf, dass die Informationen nicht quasi am Schwarzen Brett ausgehängt werden und anschließend frei vagabundieren können. Dies lässt sich zwischen den Beteiligten mit verpflichtenden Vertrau- lichkeitsvereinbarungen regeln, deren Verletzung aller- dings mit hohen Konventionalstrafen belegt sein muss. Mit diesen Ergänzungen findet der Gesetzentwurf un- sere Unterstützung. Allerdings gehen wir davon aus, dass die Initiative in den breiteren Kontext der Novellie- rung des Energiewirtschaftsgesetzes eingebettet werden sollte. Diese muss ohnehin zeitnah erfolgen. Sie bietet Gelegenheit, weitere, gerade die Verteilnetze betreffende Fragen zu klären, zum Beispiel die Anpassung der Netz- regulierung an neue Herausforderungen wie Smart Grids und horizontale Stadtwerkekooperationen. Wir werden entsprechende Vorlagen und Empfehlun- gen formulieren, die wir unsererseits kurzfristig in das parlamentarische Verfahren einspeisen. Klaus Breil (FDP): Der Gesetzentwurf der Grünen verfolgt zwei Ziele: Erstens soll die kommunale Energiewirtschaft ge- stärkt werden – das ist super. Zweitens soll Rechtssicherheit bei der Übertragung von Verteilnetzen für Strom und Gas geschaffen werden. Das ist auch super – so weit unterschreiben wir beides: Wettbewerb und Rechtssicherheit – toll! Auf Rechtssi- cherheit folgt nämlich Planungssicherheit. Genau das brauchen unsere Unternehmen. Und genau das haben wir ihnen durch unser Energiekonzept für die nächsten Jahre gegeben. Verwechseln Sie Planungssicherheit aber bitte nicht mit Planwirtschaft. In diese Richtung versuchen die Grü- nen uns nämlich ständig bei der Energiepolitik zu drän- gen. Dass das nur wenig bringt, zeigt der Zwischenbe- richt der „Ökohauptstadt Freiburg“. Dort wurde das Planziel einer regenerativen Stromerzeugung von 10 Prozent für 2010 mit 3,7 Prozent nur ganz knapp ver- fehlt. Aber zurück zum Anfang – Stichwort Wettbewerb: Mehr Wettbewerb bei der Energieerzeugung – das ist eine der Ur-Forderungen der FDP. Wie ich finde, bekom- men die Mittelständler der Energiewirtschaft das bis dato ganz gut hin. Sie denken fortschrittlich. Sie inves- tieren, zwar nicht ausschließlich – aber doch ganz be- achtlich – in klimaschonende Erzeugungskapazitäten. Und sie stellen sich breit auf, unter anderem mit Biogas- und Biomasseanlagen, Erdgas-BHKWs, Windkraftanla- gen, onshore wie offshore, und mit KWK-Anlagen. Damit tragen sie schon heute zu 8 Prozent – 50 TWh – zur deutschen Stromerzeugung bei. Und das wird nicht weniger werden. Im Gegenteil: Stadt- werke können über Beteiligungen an Offshore-Wind- parks durch das 10-Punkte-Sofortprogramm des Ener- giekonzeptes diesen Anteil noch weiter ausbauen. Gleiches kann die Förderung CCS-fähiger fossiler Kraftwerke für Akteure mit weniger als 5 Prozent Marktanteil schaffen. Ich glaube, dass wir den Stadtwer- ken damit mehr Rückenwind für ihre Entwicklung geben konnten. – So weit, so gut auf der Erzeugungsseite. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6991 (A) (C) (D)(B) Aber zwischen Erzeuger und Verbraucher steht noch der Verteiler – also das Netz. Mehr und mehr Kommu- nen haben in der Vergangenheit ihre Netze privatisiert. Das war für sie – in schweren Zeiten – ein probates Mit- tel gegen Geldnot. Man hat dann Energieunternehmen durch Konzessionsverträge den Aufbau und Betrieb der Versorgungsnetze erlaubt – sale and lease back. In den kommenden Jahren laufen viele dieser langfristig ange- legten Verträge aus. Manche Kommune sieht darin die Möglichkeit, politischen Einfluss auf die lokale Energie- versorgung zurückzugewinnen. Ist das die einzige Motivation zur Rekommunalisie- rung der Verteilnetze? Die Kommunen wollen trotz klammer Kassen ihre Netze zurückkaufen. Gleichzeitig kritisieren sie via Verbände die Netzentgelte als zu nied- rig. Da stellt sich mir die Frage: Weshalb möchte man ein Investment machen, das sich augenscheinlich nicht lohnt? Finanziell kann das so attraktiv doch nicht sein – erst recht nicht, wenn man die Mittel dafür nicht locker hat. Was ist es aber dann? Ein auslaufender Konzessions- vertrag, der nicht verlängert wird. Und eine Kommune, die ihr Netz selbst wieder betreiben kann. Beide ändern nichts an den Regeln für den Wettbewerb auf dem Ener- giemarkt. Jeder Kunde kann schon heute seinen Energie- lieferanten frei wählen. Ihm ist es also völlig egal, wer per Konzessionsvertrag für den Netzbetrieb verantwort- lich ist. Jetzt führen Sie bitte nicht an, Rekommunalisierung diene dem Klimaschutz. Die Kommunen haben auch so schon die Möglichkeit, in dezentrale Erzeugungslösun- gen und erneuerbare Energien zu investieren. Dafür brauchen sie keine eigenen Netze. Und „eigene“ meine ich im Sinne Ihres Gesetzesentwurfes. Sie möchten, dass die Kommunen wieder Eigentümer der Netze werden. Da sehen wir einiges anders als Sie: Wir wollen einen echten Wettbewerb um Konzessionen. Was wir aber nicht wollen, ist, das Energiewirtschaftsgesetz zu einem Schutzgesetz für die Kommunen zu machen. Das hat be- reits das OLG Düsseldorf in aller Klarheit festgestellt – ich zitiere –: Der Zweck des Energiewirtschaftsgesetzes besteht nicht in dem Schutz der Gemeinde, etwa um die Entscheidungsfreiheit der Gemeinde zu erweitern, sondern in der Ermöglichung des Wettbewerbs durch Dritte. Wir wollen keine Staatsnetze. Wir wollen, dass sich der effizienteste Netzbetreiber im Wettbewerb um die Konzessionen durchsetzt. Das bedeutet Transparenz und Gleichbehandlung für alle potenziellen Bewerber um die Netzkonzession. Die Kommune muss daher bei einer Neuausschreibung der Konzession alle Bewerber mit In- formationen versorgen. Sie darf nach dem Sinn des Ge- setzes sich selbst dabei nicht bevorzugen, wenn sie das Netz übernehmen will. Denn natürlich benötigt jeder Wettbewerber um die Konzession Informationen über das Netz, bevor er seine Entscheidung trifft. Statt zu klagen, sollten die Kommunen selbst etwas zur Besserung der Lage tun. Sie sind die Herren des Ver- fahrens. Jede Kommune kann die Konzessionsinhaber vertraglich verpflichten, bei Auslaufen der alten Konzes- sion die potenziellen Mitbewerber ausreichend mit In- formationen zu über das Netz zu versorgen. Beim Wech- sel des Betreibers eines „Netzes zur allgemeinen Versorgung“ gibt es im Energiewirtschaftsgesetz eine Überlassungspflicht. Entgegen Ihrer Argumentation gibt es darin sehr wohl eine eindeutige Regelung zur Übertra- gung der Anlagen an einen Neukonzessionär. Allerdings hat man damals davon abgesehen, eine ausdrückliche Verpflichtung zur Eigentumsübertragung aufzunehmen. Eine Verpflichtung zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeignetes, aber weitaus milderes Mittel. Auch so wird einem neuen Betreiber die Verfügungsmacht über die notwendigen Anlagen eingeräumt. Außerdem: Mit Festschreibung einer wirtschaftlich angemessenen Vergütung stellen wir sicher, dass der Versorgerwechsel nicht an einer verboten hohen Vergü- tung scheitert. Wir lehnen eine allgemeine Begrenzung der Vergütung auf den kalkulatorischen Restwert ab. Bei abgeschriebenen Netzen bedeutet das nämlich eine Ver- pflichtung zur Zwangsschenkung. An dieser Stelle sei an Art. 14 des Grundgesetzes erinnert – unzulässiger Ein- griff in die Eigentumsfreiheit. Daher lehnen wir Ihren Gesetzesentwurf ab. Dorothée Menzner (DIE LINKE): Die Koalition will – ich zitiere aus ihrem zweifelhaften Energiekon- zept – „den Wettbewerb und eine marktwirtschaftliche Orientierung auf den Energiemärkten stärken.“ Dass es ihr dabei ausschließlich um die Stärkung des Wettbe- werbs für die vier Atomkonzerne geht, ist im ganzen Land bekannt. Nicht umsonst spricht auch der Deutsche Städtetag im Zusammenhang mit der Laufzeitverlänge- rung von einer „Gefährdung der Wirtschaftlichkeit der Investitionen von Städten und ihrer Unternehmen in Er- neuerbare Energie“. Die Linke hat ein Gegenkonzept zu dieser Agenda für die Energiekonzerne – gegen das schwarz-gelbe Ener- giekonzept – mit der Forderung nach einer umfassenden Rekommunalisierung des Energiesektors. Der Energie- sektor muss als Bereich der öffentlichen Daseinsvor- sorge unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Wer sollte das besser bewerkstelligen als die Kommunen selbst? Viele Konzessionsverträge zwischen großen Energieunternehmen und den Kommunen laufen dem- nächst aus. Genau da setzt ein Hebel an, der den Umbau zu erneuerbaren Energien wesentlich antreiben kann, denn Gemeinden können in Konzessionsverträgen fest- schreiben, dass Gewinne in erneuerbare Energien inves- tiert werden können; sie können Vorgaben für den Stromeinkauf machen. Sie können mit dem Auslaufen der Konzessionen also auf vielfältige Weise bestimmen, wie der regionale Strommix aussehen soll. In vielen Städten wollen die örtlichen Stadtwerke die Netze selbst nutzen. Viele Stadtwerke mit mehrheitlich kommunaler Beteiligung haben den Wunsch, die Bürge- rinnen und Bürger mit regional erzeugtem erneuerbaren Strom zu versorgen. Es ist die Aufgabe von Bundespoli- tik, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, 6992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) um genau solchen Stadtwerken die Übereignung der Energienetze so einfach wie möglich zu gestalten – für einen nachhaltigen Klimaschutz, für Bürgerbeteiligung und für die Wertschöpfung in regionalen Wirtschafts- kreisläufen. Es kann deshalb nicht sein, dass sich Ener- giekonzerne hinstellen und bei Auslaufen der Konzes- sionsverträge horrende und völlig utopische Summen für die zum Teil völlig überalterten Netze verlangen. Dass das Ende von Konzessionen regelmäßig in Jahre andau- ernden Rechtsstreitigkeiten mündet, zeugt von der Dreistigkeit und der Profitgier der Konzerne gegenüber Kommunen. Ein Beispiel: Die Stadt Wolfhagen hat als erste Stadt in Nordhessen ihr Stromnetz von Eon zurück- gekauft. Sie will bis 2015 ihren gesamten Strombedarf aus erneuerbaren Energien decken. Die Kaufsumme für die Netze von 2,4 Millionen Euro lag nach Einschätzung der Stadtwerke 180 Prozent über dem tatsächlichen Wert. Dort hat erst der Gang vor das Bundesverwal- tungsgericht eine Lösung schaffen können. Noch ein Beispiel: RWE musste auf Drängen des Oberverwal- tungsgerichts 2,8 Millionen D-Mark an die Gemeinde Nürnbrecht in Nordrhein-Westfalen zurückzahlen. Solche Beispiele gibt es noch einige, und ohne eine klare Regelung zur Festsetzung des wirklichen Wertes regionaler Energienetze steht eine Flut von gerichtlichen Auseinandersetzungen bevor – allerdings nur, wenn Kommunen durch die Dreistigkeit der Konzerne nicht abgeschreckt werden und die Gerichtskosten vorstrecken können. Es ist ganz klar, dass hier massiver Handlungs- bedarf besteht, der die Kommunen bei ihrem Streben nach erneuerbaren Energien und Selbstbestimmung un- terstützt. Deshalb begrüßt die Linke den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen; wir halten ihn aber noch nicht für weitgehend genug. Kommunen, genossenschaftliche Bürgerinitiativen und auch andere regionale Energieanbieter oder Vereini- gungen müssen jederzeit in der Lage sein, sich gegen Atomkraft, gegen Kohlekraft, gegen überzogene Lei- tungsgebühren, gegen dubiose Strombörsenspekulatio- nen und für erneuerbare Energien, für Kraft-Wärme- Kopplung, für Energieeffizienz, für Klimaschutz und für demokratische Mitbestimmung zu entscheiden. In den Kommunen selbst müssen die Bürgerinnen und Bürger durch viel niedrigere Hürden bei Bürgerbegehren und Volksentscheiden selbst entscheiden können, ob sie wei- terhin Strom und Gas vom fossil-nuklearen Großanbieter beziehen wollen oder ob sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Dafür müssen sie Konzessionsverträge jeder- zeit kündigen können und die Energienetze zu Konditio- nen übereignet bekommen, die der Realität entsprechen. Wenn die Koalition es mit der Wettbewerbsfähigkeit ernst nimmt, dann erhört sie die Hilferufe aus den Ge- meinden und Städten und beendet endlich ihre unsägli- che Lobbypolitik für die Energiekonzerne. Denn was entgegen des Atom- und Kohlewahnsinns der Koalition tatsächlich verbraucherfreundlich und preisdämpfend wirkt, ist die Rekommunalisierung – wie in Ahrensburg, wo der rekommunalisierte Gasanbieter nach dem ersten Abrechnungsjahr 1,4 Millionen Euro an die Kunden zu- rückzahlen konnte. Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Deutschland laufen aktuell und in den kommenden Jah- ren Tausende sogenannter Konzessionsverträge zwi- schen Kommunen und Energieversorgungsunternehmen zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnetzen aus. Das bietet Kommunen die Chance, ihre Netze in Zukunft wieder in Eigenregie oder aber in Kooperation mit ande- ren Kommunen betreiben zu können oder einfach nur einen anderen Netzbetreiber zu wählen. Das ist Wettbe- werb um die Netze, das ist originärer Handlungsspiel- raum von Kommunen, den wir stärken sollten. Viele Kommunen wollen mit den Verteilnetzen als Rückgrat bei der Energiezeugung selbst aktiv werden: dezentral, mit erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme- Kopplung vor Ort. Dabei wollen wir sie unterstützen. Wir brauchen Kommunen mit Stadtwerken als Akteuren im Energiemarkt. Doch leider legt das Energiewirt- schaftsgesetz in seiner aktuellen Fassung den Kommu- nen einen großen Stein in Form von § 46 Abs. 2 EnWG in den Weg, wenn sie am Ende der Laufzeit von Konzes- sionsverträgen wieder an ihre Netze kommen wollen. So ist der aktuelle Netzbetreiber zum Beispiel nicht verpflichtet, der Kommune relevante Daten über das Netz und dessen Zustand zur Verfügung zu stellen. Wie ich aus vielen Kommunen höre, geschieht dies in den al- lermeisten Fällen auch nicht oder die Informationen kommen unvollständig und mitunter viel zu spät und müssen oft erst über das Gericht eingeklagt werden. Den Kommunen fehlt damit jegliche Grundlage, über die Zu- kunft ihrer Netze entscheiden zu können. Aber es gibt noch mehr Probleme. Bei der Feststel- lung eines Kaufpreises sieht das Energiewirtschaftsge- setz eine „angemessene wirtschaftliche Vergütung“ vor, den die Kommunen oder ein neuer Netzbetreiber an den bisherigen zu zahlen haben. Was ist denn bitte eine „an- gemessene wirtschaftliche Vergütung“? Die Forderun- gen liegen oft 100 Prozent auseinander, und ich kenne keinen Fall, wo die Sache nicht am Ende vor Gericht ge- landet wäre. Deshalb geschieht es leider nur all zu häu- fig, dass eine Kommune sich nur deshalb wieder für den gleichen Netzbetreiber entscheidet, weil sie die gerichtli- che Auseinandersetzung scheut. Das können wir nicht wollen; wir wollen kommunale Entscheidungsfreiheit und Wettbewerb um die Netze. Ich habe die Bundesregierung schriftlich gefragt, ob sie gedenkt, an der unbefriedigenden Formulierung des § 46 Abs. 2 EnWG etwas zu ändern. Die Antwort der Bundesregierung war so knapp wie unmissverständlich: Sie antwortete mit einem Wort: „Nein“. So grandios setzt sich die Bundesregierung für die Rechtssicherheit der Kommunen ein. Aber das passt genau ins Bild, denn es sind in der Regel RWE & Co., welche die Verteilnetze jetzt betreiben und diese natürlich nicht hergeben wol- len. Mit unserem Gesetzentwurf ließen sich diese Pro- bleme lösen. Wir schlagen vor, den § 46 EnWG dahin gehend zu konkretisieren, dass der Kaufpreis für die Netze nach dem Ertragswertverfahren definiert wird. Das ist sachgerecht und entspricht am ehesten dem Wert der Netze. Außerdem wollen wir klarstellen, dass der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6993 (A) (C) (D)(B) bisherige Nutzungsberechtige und Konzessionsnehmer das Netz dem neuen Konzessionsnehmer nicht nur wie im gültigen EnWG formuliert überlässt, sondern über- eignet und damit alle Rechte am Netz dauerhaft aufgibt. Damit die Kommune überhaupt mit ausreichendem zeit- lichen Vorlauf in die Lage versetzt wird, den Wert des Netzes und daraus resultierende wirtschaftliche Perspek- tiven des Netzbetriebes für sich selbst und für Dritte ein- zuschätzen, soll der bisherige Konzessionsnehmer ver- pflichtet werden, drei Jahre vor Vertragsende alle diesbezüglichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Nur mit einem solchen Vorlauf können seriöse Verhand- lungen auf einer soliden Grundlage an Daten und Infor- mationen geführt werden. Im Sinne der betroffenen Kommunen und für mehr Wettbewerb im Energiemarkt angesichts Tausender aus- laufender Konzessionsverträge brauchen wir eine Neufassung des § 46 EnWG. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir in den Ausschüssen im Unterschied zum kate- gorischen „Nein“ der Bundesregierung konstruktiv über das Thema sprechen und vielleicht sogar einen Konsens erreichen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebenen Reden zu Beratung des Entwurfs eines Neunten Geset- zes zur Änderung des Bundes-Immissions- schutzgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Michael Paul (CDU/CSU): 50 Millionen Kraft- fahrzeuge fahren auf den deutschen Straßen. Insgesamt beträgt der Energieverbrauch im Verkehrssektor 28 Prozent. Dieser Energiebedarf wird fast ausschließ- lich durch Mineralölprodukte gedeckt: durch Ottokraft- stoffe und Dieselkraftstoffe. Es ist an der Zeit, auch in diesem Bereich den Weg hin zu den erneuerbaren Ener- gien zu beschreiten, sowohl um knappe Ressourcen zu schonen als auch, um das Klima zu schützen. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, den wir heute beraten, wird nun die Möglichkeit flankiert, ab 2011 Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumenprozent Bio-Ethanol in Verkehr zu bringen. Anstatt wie bisher nur Kraftstoff mit der zulässigen Beimischungsgrenze für Bio-Ethanol von 5 Volumenprozent, werden die Au- tofahrer künftig Kraftstoff mit 10 Prozent Ethanolanteil an ihrer Tankstelle tanken können. Durch die Einführung von E10 wird der Biokraftstoff- anteil pro Liter Kraftstoff erhöht. Dies wird es überhaupt erst ermöglichen, dass die anspruchsvollen, durch das Biokraftstoffquotengesetz vorgeschriebenen Biokraft- stoffanteile erfüllt werden können. Das Biokraftstoff- quotengesetz schreibt seit dem 1. Januar 2007 eine Min- destbeimischung von Biokraftstoffen zu Motorenbenzin und Dieselkraftstoff vor. Es verpflichtet die Mineralöl- wirtschaft, einen jährlich festen und mit den Jahren an- wachsenden Mindestanteil von Biokraftstoffen in den Verkehr zu bringen. Dieser Anteil stieg jährlich an und beträgt in diesem Jahr 6,25 Prozent des Energiegehalts der gesamten in den Verkehr gebrachten Kraftstoffe (§ 37a Abs. 3 BImSchG). Mit E5 allein war diese Quote nicht erreichbar. Durch die Einführung von E10 ist es nun- mehr möglich, die durch das Biokraftstoffquotengesetz vorgeschriebenen Biokraftstoffanteile zu erfüllen. Bioethanol wird aus dem nachwachsenden Kohlen- stoffträger Biomasse oder den biologisch abbaubaren Anteilen von Abfällen hergestellt. Durch die zuneh- mende Beimischung von Bioethanol werden dement- sprechend weniger fossile Kraftstoffe verbrannt. Bei ent- sprechender umweltfreundlicher Herstellung, die durch entsprechende Zertifizierung des Bioethanols nachge- wiesen wird, verbessern wir dadurch die Klimabilanz nachhaltig. Die Bundesregierung hat am 28. September 2010 ein umfassendes Energiekonzept zur Sicherstellung einer zuverlässigen, wirtschaftlichen und umweltverträglichen Energieversorgung beschlossen. Damit liegt zum ersten Mal seit 20 Jahren ein ideologiefreies, technologieoffe- nes und marktorientiertes Energieprogramm vor, das alle energiewirtschaftlich relevanten Bereiche anspricht, auch den Verkehrsbereich. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die im Energie- konzept aufgeführten Ziele für die Verminderung von Treibhausgasen, für den Anteil erneuerbarer Energien und für Energieeffizienz. Die vorgegebenen Reduktions- ziele für den CO2-Ausstoß sind ehrgeizig: 40 Prozent weniger CO2-Ausstoß ab 1990 bis 2020 und 80 bis 95 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2050. Ferner ist für den Verkehrssektor im Energiekonzept ausdrücklich die Steigerung des Anteils von Biokomponenten in Kraft- stoffen festgeschrieben. Die Zielvorgaben für die Dekar- bonisierung werden schrittweise anspruchsvoller. Zu- dem ist die Treibhausgasbilanz des Kraftstoffs ein zentraler Bestandteil für die künftige Begünstigung be- sonders förderungswürdiger Biokraftstoffe. Mit der gesetzlichen Regelung soll zum einen dem Klimaschutz durch eine Verringerung der Verbrennung mineralischer Kraftstoffe Rechnung getragen werden. Zum anderen soll durch den Ausbau der Biokraftsstoff- industrie eine Basis für die Versorgungssicherheit mit Kraftstoffen geschaffen werden. Versorgungssicherheit ist neben Klimaverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit ebenfalls ein Ziel im Zieldreieck unserer Energieversor- gung. Wir können so unsere Abhängigkeit von impor- tiertem Öl senken. Zur Einführung von E10-Kraftstoff soll das Neunte Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzge- setzes die Verordnungsermächtigungen des BImSchG erweitern. Die Bundesregierung wird zum einen ermäch- tigt, sogenannte Bestandsschutzsorten bei Kraftstoffen zu regeln. Darüber hinaus wird die Bundesregierung er- mächtigt, die Datenerhebung bei Mineralölunternehmen zur Erstellung einer Ökobilanz der Treibstoffe zu regeln. Bei der Einführung von E10-Kraftstoffen muss dafür Sorge getragen werden, dass ältere Fahrzeuge, die mög- licherweise E10-Kraftstoff nicht vertragen, keinen Scha- den nehmen. Aus diesem Grund ist sicherzustellen, dass an jeder Tankstelle weiterhin eine Bestandschutzsorte 6994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) angeboten wird; also eine Sorte Kraftstoff, die problem- los von allen Fahrzeugen „vertragen“ wird. Die Rege- lung dieser Bestandsschutzsorten-E5, die wie bisher nur bis zu 5 Prozent Bioethanol enthalten, ist notwendig, um die kontinuierliche Versorgung aller auf dem Markt be- findlichen Fahrzeuge mit geeignetem Kraftstoff sicher- zustellen. Nach Angaben der Hersteller sind etwa drei Millionen Fahrzeuge E10-unverträglich, das heißt, sie können nur mit E5 betrieben werden. In der Hauptsache handelt es sich um ältere Fahrzeuge. Für den einzelnen Autofahrer muss leicht und schnell erkennbar sein, ob sein Auto E10 verträgt oder nicht verträgt. Dazu müssen die Hersteller, die Importeure und diesmal auch der ADAC einen Weg finden. Es kann nicht sein, dass hie- rüber erst im letzten Moment oder gar nicht Auskunft gegeben wird. Die Einführung von E10 war 2008 nicht zuletzt daran gescheitert; dies darf sich nicht wiederho- len. Der Gesetzentwurf dient im Wesentlichen der Umset- zung der EU-Kraftstoff-Richtlinie im Hinblick auf die Spezifikationen für Otto-, Diesel- und Gasölkraftstoffe und die Einführung eines Systems zur Überwachung und Verringerung der Treibhausgasemissionen. Darüber hi- naus erfolgt bei dieser Gelegenheit eine redaktionelle Anpassung von § 13 BImSchG an das neu nummerierte Wasserhaushaltsgesetz. Die EU-Kraftstoffrichtlinie verpflichtet die Mitglied- staaten, bis Ende des Jahres 2010, das Inverkehrbringen von Ottokraftstoff mit bis zu 10 Prozent Bioethanol zu ermöglichen. Darüber hinaus sieht die Richtlinie vor, dass für Fahrzeuge, deren Motoren einen Anteil von 10 Prozent Bioethanol im Kraftstoff nicht vertragen, si- cherzustellen ist, dass mindestens bis zum Jahr 2013 Kraftstoffe mit einem maximalen Sauerstoffgehalt von 2,7 Prozent und einem maximalen Ethanolgehalt von 5 Prozent in Verkehr gebracht werden. Zur Umsetzung der konkreten Anforderungen der Richtlinie soll in Deutschland die Kraftstoffqualitätsverordnung geändert werden. Die Regelung von Bestandsschutzsorten in ei- ner novellierten 10. BImSchV setzt eine Ergänzung der bereits in § 34 BImSchG vorhandenen Verordnungser- mächtigungen voraus, die mit diesem Gesetzentwurf ge- schaffen werden soll. Die Umsetzung der EU-Richtlinie bis zum Jahresende ist für die Mitgliedsländer Pflicht. Ich bitte Sie daher um die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesre- gierung. Ute Vogt (SPD): Der vorliegende Gesetzentwurf hat – unter anderem – die „Einführung eines Systems zur Überwachung und Verringerung von Treibhausgasemis- sionen“ zum Ziel, wie es die EU-Richtlinie 2009/30/EG vom 23. April 2009 vorsieht. Ein zentraler Punkt dabei ist die Einführung einer verpflichtenden Berichterstat- tung der Kraftstoffvertreiber über Menge, Art, Erwerbs- ort und Ursprung des Treibstoffes sowie die Mitteilung über die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Ener- gieeinheiten an den Bund. Die Informationspflicht, die damit neu geschaffen wird, ist eine notwendige Grund- lage für das Ziel der Verringerung der Treibhausgas- emissionen. Sicher ist der uns vorliegende Gesetzentwurf nur ein winziger Baustein in einer notwendigen Reihe von Maßnahmen, um dem Ziel der CO2-Reduktion näher zu kommen. Unter diesem Aspekt stellt sich deshalb auch die Frage, warum sich die Bundesregierung bis heute Zeit gelassen hat, einen Vorschlag einer Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht vorzulegen. Schließ- lich muss die Verordnung laut Vorgabe der EU bis zum 31. Dezember 2010 in allen Mitgliedstaaten umgesetzt sein. Es ist jedoch zu begrüßen, dass nun endlich eine Umsetzung der Richtlinie erfolgt und der Einführung von E10 nichts mehr im Wege steht. Außerdem wird der Bestandsschutz für ältere Fahrzeuge gewährleistet, in- dem auch weiterhin Kraftstoff mit einer geringeren Bei- mischung von Bioethanol im Umlauf bleibt. Die Grundlagen, die wir heute legen, können zu Ver- besserungen des Klimaschutzes beitragen. Wir sollten sie jedoch lediglich als kleinen Baustein auf dem Weg der Reduktion von CO2 sehen. Denn ernst zu nehmen ist die Kritik verschiedener Umweltverbände, dass Bioetha- nol nicht in letzter Konsequenz „Bio“ und klimaneutral ist. Der in Deutschland hergestellte Biokraftstoff ent- spricht ökologischen Standards – was bedauerlicher- weise in vielen anderen Ländern der Welt aber nicht der Fall ist. Wir brauchen deshalb als Konsequenz auf die Umsetzung der Verordnung rechtlich verbindliche Krite- rien für Kraftstoffe, die gewissen Nachhaltigkeitskrite- rien entsprechen. Ein Weg ist es, in Bioethanol nicht die Lösung der deutschen Treibhausgasemissionen zu sehen und alternativen Kraftstoffen ebenfalls eine Chance ein- zuräumen. Bei Einsatz eines Hektars an Ackerfläche zur Produktion von flüssigen bzw. gasförmigen, biogenen Kraftstoffen, kann beispielsweise ein mit Biomethan be- triebener Pkw eine bis zu rund dreimal so lange Strecke zurücklegen wie ein mit Bioethanol betriebener. Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die mit die- ser Gesetzesänderung geschaffene Berichtspflicht für Kraftstoffvertreiber nicht ein weiteres bürokratisches Monstrum wird, sondern dass die gewonnenen Erkennt- nisse zeitnah in aktuelle Politik einfließen. Die für sie neuen, sehr umfangreichen Berichtspflichten dürfen bei Kraftstoffvertreibern nicht den Eindruck hinterlassen, sie werden nur um des Datensammelns willen erfasst. Es müssen Taten folgen und entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden – und auch weiterhin alternative Me- thoden, die zur Verminderung von Treibhausgasemissio- nen beitragen können, verfolgt werden. Es ist ein erster Schritt, über die neu geschaffene Be- richtspflicht Fakten über Kriterien von Biokraftstoffen zu erhalten. Aber Datensammeln allein hilft noch nichts. Es muss in einem zweiten Schritt die gleiche Anforde- rung an fossile Kraftstoffe gelten. Denn nur so ist eine echte Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeit der verschie- denen Kraftstoffarten gegeben. Michael Kauch (FDP): Der vorliegende Gesetzent- wurf schafft die Ermächtigungsgrundlage zur Änderung der 10. Bundes-Immissionsschutzverordnung dahin ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6995 (A) (C) (D)(B) hend, dass insbesondere die Beimischungsgrenze für Etha- nol im Ottokraftstoff von bisher 5 Prozent auf 10 Prozent erhöht werden kann. Dies ist ein richtiger Schritt. Denn der Straßenverkehr trägt einen erheblichen Anteil zu den Treibhausgasemissionen in Deutschland und Europa bei. Durch das Gesetz wird die Möglichkeit eröffnet, einen höheren Anteil regenerativer Energien im Straßenverkehr einzusetzen. In der letzten Wahlperiode ist die Beimi- schung von 10 Prozent Ethanol im Benzin mit der Be- gründung abgelehnt worden, dass es zu Problemen mit der Motorentechnik kommen kann. Im Koalitionsvertrag haben Union und FDP daraufhin beschlossen, die Einfüh- rung von E10 als Option zu ermöglichen. Diese Möglich- keit wird eröffnet durch eine klare Kennzeichnung, so dass jeder Fahrer entscheiden kann, welchen Kraftstoff er tankt. Dies ist ein Schritt zu mehr Klimaschutz im Ver- kehr und schafft zugleich Sicherheit für die Autofahrer. Für mehr Umweltschutz im Verkehr beschreitet die Ko- alition drei Wege: mehr und bessere Biokraftstoffe, Elektromobilität und Weiterentwicklung der Brennstoff- zellentechnik. Als FDP wollen wir zudem nicht nur die Beimischung von Biokraftstoff erleichtern, sondern auch den Markt für reine Biokraftstoffe wiederbeleben. Damit meinen wir es ernst: Die von SPD-Finanzminister Peer Steinbrück ursprünglich zum 1. Januar 2010 vorgese- hene Steuererhöhung für reine Biokraftstoffe haben wir deshalb gestoppt. Mit dem Wachstumsbeschleunigungs- gesetz haben wir einen Beitrag zur Marktfähigkeit von reinen Biokraftstoffen geleistet. Mit der Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes schaffen wir nun die Grundlage für eine erweiterte optionale Beimischung von Ethanol. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Heute sprechen wir über legalen Alkohol im Auto. Es geht nicht um die Pro- mille beim Fahrer, sondern um den erzwungenen Alko- holkonsum für Motoren; denn Ethanol, aus nachwach- senden Pflanzen gewonnen, wird als CO2-neutraler Treibstoff eingestuft. Deshalb sollen ab 2011 zwangs- weise 10 Prozent Alkohol in die Kraftstoffe gemischt werden; das wäre ein Alkoholanteil im Benzin wie bei Wein. Damit hofft die Bundesrepublik die Klimaziele zu erreichen. Aber gerade beim Klimaschutz muss man komplex in globalen Maßstäben denken. Ein Problem der Zwangs- beimischung von Alkohol in diesen Mengen ist, dass dieser aus Biomasse gewonnen wird. Zuckerrohr wird angebaut, zu Alkohol destilliert, und dann wird alles ver- brannt. In Europa stehen wegen Biogasnutzung, Lebens- mittelproduktion und Agrarrohstoffversorgung bereits heute keine ausreichenden Flächen zur Verfügung. Also wird der Alkohol aus der Dritten Welt importiert. Da die Kraftstoffanbieter diesen Alkohol verpflichtend brau- chen, kaufen sie die notwendigen Agrarpflanzen auf. Dieses Gesetz führt in den Entwicklungsländern zur Umstellung der Nahrungsproduktion auf Energiepflan- zenanbau. Außerdem sind die großen Kraftstoffanbieter organisatorisch nicht in der Lage, mit Tausenden Klein- bauern einzelne Lieferverträge abzuschließen. Also ar- beiten sie mit Agrargroßunternehmen zusammen; diese verdrängen dann selbstständige Bauern. So werden so- ziale Gefüge zerstört, so haben 925 Millionen Men- schen nicht genug zu essen, und alle sechs Sekunden verhungert ein Kind, weil ausreichend Land für den Nahrungsmittelanbau fehlt. Der Druck, neues Ackerland auf bisher ungenutzte Flächen zu gewinnen, steigt – Ur- wälder werden gerodet, und Grünland wird zu Acker- land für Monokulturen. Die Artenvielfalt sinkt, und beim Pflanzenanbau für Alkohol im Tank gibt es kaum Be- schränkungen für den Einsatz von Chemikalien und gen- manipuliertem Saatgut. Damit zerstört dieses Gesetz die Lebensgrundlagen von Mensch und Tier. Auch Zertifi- zierungen helfen da nichts. Was nutzt es, wenn Alkohol für Europa aus zertifiziertem Anbau stammt und die ur- sprünglich dort angebauten Pflanzen für andere Ab- nehmer dann auf frischen Rodungsflächen wachsen müssen? Wir in der Bundesrepublik müssen die Beimi- schung von Import-Alkohol in Benzin verhindern, so- lange noch ein Mensch auf der Erde hungert. Ein Problem kommt auch auf die Nutzer älterer Pkw, die sich neue Autos nicht leisten können, zu. Ältere Mo- toren werden durch den hohen Alkoholanteil zerstört. Ab 2014 ist dies nach dem Auslaufen der Übergangsfrist unvermeidlich. Die Autohändler haben bereits Dollar- zeichen in den Augen. Auch der Benzinpreis steigt durch die Alkoholkosten und die Beimischungskosten an. Im Öko-Mäntelchen steigern Sie die Mehrwertsteuer- einnahmen für den Finanzminister. Durch dieses Gesetz wird Natur zerstört werden; viele Menschen werden ihre Existenz verlieren. Wer sich hohe Benzinpreise und neue Autos nicht leisten kann, verliert Mobilität. – Das alles ist nicht hinnehmbar. Von diesem Gesetz profitieren Agrarkonzerne, Genmanipulatoren aus der Chemiein- dustrie und Pkw-Hersteller. Wer dieses Gesetz so verab- schiedet, zeigt Herz für Konzerne und den Menschen die kalte Schulter. Daher sagt die Linke Nein zu diesem Ge- setz, zu diesem Öko-Kolonialismus. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die grüne Fraktion begrüßt, dass nun die Möglichkeit ge- schaffen wird, Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumen- prozent Ethanol – also E10 – in Verkehr zu bringen. Ebenfalls begrüßen wir, dass dabei Nachhaltigkeits- und Qualitätskriterien berücksichtigt werden. Der Bundesrat hat darauf hingewiesen, dass es Möglichkeiten gäbe, bei Sicherstellung der Nachhaltigkeit die Kontrolle dieser Kriterien mit weniger bürokratischem Aufwand zu be- werkstelligen. Hier sollte die Bundesregierung noch nacharbeiten. Wie wir alle wissen, handelt es sich hier nur um eine Pflichtaufgabe seitens der EU. Da, wo die Regierungs- parteien selbst handeln müssten, versagen sie; da wo sie handeln, machen sie alles schlimmer. Nichts ist geblie- ben von dem Versprechen des Koalitionsvertrages, die reinen Biokraftstoffe wieder wettbewerbsfähig zu ma- chen. Die Besteuerung ist aktuell immer noch zu hoch für eine Wirtschaftlichkeit; dies belegt selbst der Bio- kraftstoffbericht der Bundesregierung. Aber es kommt noch schlimmer: Immer noch ist geplant, die reinen Bio- kraftstoffe zukünftig so hoch wie Diesel und Benzin zu 6996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) besteuern. Wer soll hier noch auf die Politik vertrauen und investieren? Sie haben zwar die Wiederbelebung des realen Bio- kraftstoffmarktes in den Koalitionsvertrag geschrieben. Bisher ist keine Umsetzung erfolgt. Im Energiekonzept der Bundesregierung findet sich eben keine Aussage zu einer Steuererleichterung für die reinen Biokraftstoffe. Sind Sie endlich ehrlich: Eine Wiederbelebung des Marktes für reine Biokraftstoffe wird es unter Schwarz- Gelb nicht geben. Aber die Union und die FDP schauen nicht nur zu, wie der Reinkraftstoffmarkt für Biokraftstoffe vor die Hunde geht, sondern sie arbeiten auch im Quotenmarkt für die Konzerne. Wem außer den Mineralölkonzernen ist geholfen, wenn zukünftig die Hydrierung in der Quote erlaubt wird? 3 Prozent Hydrierungsanteil beim Diesel bedeuten, dass der Mittelstand aus diesem Markt- segment gedrängt wird. Statt Rapsöl aus deutschen Lan- den gibt es zukünftig Palmöl aus Indonesien. „Pack den Regenwald in den Tank“ ist wohl das Leitmotiv der Bio- kraftstoffstrategie von Röttgen und Aigner. Die Regie- rung ist wieder den Konzern-Lobbyisten auf den Leim gegangen. Das sogenannte Energiekonzept ist das passende Stichwort, Konzeptionslosigkeit ist das oberste Leitmo- tiv. In dem ganzen Papier gibt es dutzende Prüfaufträge, aber keine einzige Aussage dazu, wie reine Biokraft- stoffe wieder einen Markt bekommen sollen. Ebenfalls eine Fehlanzeige gibt es beim nationalen Aktionsplan der Bundesregierung für erneuerbare Energien, der im Sommer nach Brüssel geschickt wurde. Darin wird zwar von steigenden Anteilen von Biokraftstoffen berichtet, es gibt aber keine Maßnahme, die das unterlegen würde. Die einzig wirkungsvolle Maßnahme für den Ausbau der erneuerbaren Energien, die etwas Positives bewegen wird, ist ein schnellstmöglicher Regierungswechsel. Dies hat offenbar selbst die bayerische Staatsregierung verstanden. Diese hat einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der sich in den meisten Punkten gar nicht so schlecht liest. Leider dient der Antrag nur, in Bayern Ak- tivität vorzugaukeln. Die Unions-Abgeordneten sollten ihren Job tun und das umsetzen, was sie längst verspro- chen haben. An der FDP sollte es eigentlich nicht liegen. Die hatte noch bis zur letzten Bundestagswahl die glei- chen Versprechen abgegeben. Jetzt müssten Sie nur ihre eigenen Versprechen halten – und die Biokraftstoffe hät- ten in Deutschland wieder eine Zukunft. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Biologische Vielfalt für künftige Generationen bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen sichern (Zusatz- tagesordnungspunkt 4) Josef Göppel (CDU/CSU): „Wir müssen Klima- schutz und Biodiversität gemeinsam denken“, hat Frau Bundeskanzlerin Merkel gestern in ihrer Rede auf der Konferenz zu Klimaschutz und biologischer Vielfalt hier im Bundestag gesagt, und sie hat es mit einem ein- drucksvollen Beispiel belegt: Durch den klimawandelbe- dingten Anstieg der Meeresspiegel stehen die Korallen- riffe buchstäblich vor dem Untergang. Dieses Beispiel zeigt, wie die Dinge zusammenhängen. Frau Merkel hat zugleich deutlich gesagt: „Mit jedem Jahr, das wir ver- lieren, ist die Anstrengung nachher um so größer. Nichtstun wird sich bitterlich rächen.“ Wir alle wissen, die Ursachen und Folgen des Artenschwundes sind auf vielfache Weise mit den Ursachen und Folgen des Kli- mawandels verbunden. Ein im Aufbau befindlicher At- las der UNEP zeigt, wie Gebiete mit besonders hohem Artenreichtum und Gebiete mit überdurchschnittlicher CO2-Speicherung zusammenhängen. Es gilt deshalb, dem Verlust an biologischer Vielfalt mit gleicher Priori- tät entgegenzutreten wie den Ursachen für den Klima- wandel. Ich halte es, in Zeiten massiver Auseinandersetzun- gen und Konflikte in der Atom- und Energiepolitik, für äußerst bemerkenswert, dass es in kürzester Zeit gelun- gen ist, einen so umfassenden und fundierten gemeinsa- men Antrag zur Bewahrung der biologischen Vielfalt und zum Schutz unserer Lebensgrundlagen auf den Weg zu bringen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die konstruktiv zu diesem Erfolg beigetragen haben. Der gemeinsame Antrag ist nicht nur ein gutes Zeichen für das deutsche Parlament, er ist auch ein ein- deutiges Signal an unsere Partner im Kampf gegen den Klimawandel und den Artenschwund. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Erhalt der Artenvielfalt nicht nur eine ethische Verpflichtung zur Bewahrung der Schöp- fung ist, sondern auch eine existenzielle Bedeutung für das Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen hat. In wenigen Tagen wird die internationale Konferenz zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt in Nagoya, Japan, stattfinden. Der gemeinsame Antrag kommt somit genau zum richtigen Zeitpunkt. Lassen Sie mich drei Punkte herausgreifen, die zeigen, warum die- ser Antrag so bedeutend ist. Erstens, wir brauchen ein klares Biodiversitätsziel im strategischen Plan der Kon- vention. Der strategische Plan ist der Teil der Konven- tion, in dem verbindliche Ziele definiert werden. Zwei- tens, wir brauchen eine wirksame, gerechte und völkerrechtlich verbindliche Übereinkunft für den Zu- gang zu genetischen Ressourcen und den Vorteilsaus- gleich. Ein Großteil der natürlichen Vielfalt befindet sich in den Entwicklungsländern, die nicht über die notwen- digen Finanzmittel verfügen, um die Artenvielfalt mit all ihren Wohlfahrtsleistungen aus eigener Kraft zu schüt- zen. Zugleich ist die biologische Vielfalt der Regenwäl- der ein Schatz für die Forschung und Wirtschaft in vie- len Industrieländern. Drittens, wir brauchen einen langfristigen und verlässlichen Finanzierungsmechanis- mus für die Errichtung und dauerhafte Sicherung eines weltweiten Schutzgebietsnetzes. Dazu gehört elementar auch der Waldschutz. Deutschland hat 500 Millionen Euro bis 2012 und ab 2012 jährlich 500 Millionen für den Erhalt und die nachhaltige Entwicklung bedrohter Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6997 (A) (C) (D)(B) Ökosysteme, insbesondere Wälder, zugesagt. Diese Mit- tel müssen nun auch eingesetzt werden. Man kann die Frage stellen, warum sollen wir hier in Deutschland für den Erhalt der tropischen Urwälder be- zahlen. Die Antwort ist: So wie die europäischen Land- wirte erwarten, von der Allgemeinheit für Leistungen des Umweltschutzes entschädigt zu werden, genauso er- warten die Menschen in den Entwicklungsländern finan- ziellen Ausgleich für den Schutz der Artenvielfalt, deren wirtschaftliche Vorteile hauptsächlich den Industrielän- dern zugutekommen. Norwegen gibt für den Schutz der tropischen Wälder seit 2007 jährlich 500 Millionen US- Dollar und in diesem Jahr nochmals eine Milliarde US- Dollar zusätzlich aus. Der Biodiversitätsverlust trifft die wirtschaftlich schwächsten Regionen der Erde am stärksten. Die biolo- gische Vielfalt leistet besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern einen unverzichtbaren Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung, Armutsbekämpfung, Ernäh- rungssicherung, Trinkwasserschutz, Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel. Wer Leistungen für die Gesellschaft erbringt, muss dafür besser gestellt sein als derjenige, der nur die gesetzlichen Mindestanforderun- gen erfüllt oder zur Zerstörung der Artenvielfalt beiträgt. Auch in unserem Land gibt es Artenverluste. Nur ein Beispiel: Nach dem Auslaufen der EU-Flächenstille- gungsprogramme steht heutzutage eine der bekanntesten Vogelarten der offenen Kulturlandschaft, die Feldlerche, auf der Roten Liste. In Deutschland hat der Bestand zwi- schen 1980 und 2005 um etwa 30 Prozent abgenommen. Bei der Neuregelung der gemeinsamen Agrarpolitik muss deshalb der Schutz der biologischen Vielfalt be- rücksichtigt und honoriert werden. Mit dem kooperati- ven Naturschutz, wie er mit den Landschaftspflegever- bänden heute schon praktiziert wird, haben wir ein brauchbares Instrument, um die biologische Vielfalt in Deutschland zu stabilisieren. Ich möchte zum Schluss nochmals auf die Worte von Frau Merkel zurückkommen, des gesagt hat: „Wir müs- sen Klimaschutz und Biodiversität gemeinsam denken.“ Ich füge hinzu, wir müssen Biodiversität und Wald- schutz gemeinsam denken und wir müssen Biodiversität und Landwirtschaft gemeinsam denken. Das Thema bio- logische Vielfalt muss deshalb in allen Politik- und Wirt- schaftsbereichen wie zum Beispiel der Haushalts-, Wirt- schafts-, Agrar-, Fischerei-, Wald-, Klima-, Verkehrs- und Bau- sowie der Bildungs- und Forschungspolitik ko- operativ verankert werden. Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Anmerkung zur europäischen Wasserrahmenrichtlinie: Die Wasserrah- menrichtlinie ist ein Positivbeispiel, wie die nachhaltige Nutzung und der Erhalt der Fließgewässer kombiniert werden können. Die Wasserrahmenrichtlinie sollte des- halb in größerem Umfang für Artenschutzziele genutzt werden. Der Blick auf die weltweite Verantwortung darf nicht den Blick für das konkrete Verhalten im eigenen Lebens- bereich verdecken. Trotz der gigantischen globalen He- rausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass jeder seinen Beitrag zum Schutz des Klimas und der biologi- schen Vielfalt leisten kann. Auf die konkreten Maßnah- men kommt es an. Wir müssen jetzt handeln. Ich glaube, dass wir mit dem heutigen Antrag auf dem richtigen Weg sind. Wir erwarten deshalb von der Bundesregie- rung, dass den Worten Taten folgen. Ich wünsche Frau Merkel, Herrn Umweltminister Röttgen und der deut- schen Delegation viel Erfolg bei den Verhandlungen in Nagoya. Dr. Matthias Miersch (SPD): Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, gerade noch rechtzeitig einen interfrak- tionellen Antrag zur 10. Vertragsstaatenkonferenz über die biologische Vielfalt in den Deutschen Bundestag ein- zubringen. Dieser Antrag war zugegebenermaßen eine schwierige Geburt. Nichtsdestotrotz möchte ich betonen, dass ich froh über die Einigung innerhalb dieses Hauses bin, denn eine weitere Zeitverschwendung lässt die aktu- elle Situation nicht mehr zu. Es ist klar, dass die europäischen, aber auch die inter- national zugesagten Biodiversitätsziele nicht erreicht werden. Der Verlust biologischer Vielfalt schreitet dra- matisch voran, und je schneller wir dem Artensterben und dem Verlust von Lebensräumen entgegenwirken, desto besser wäre es. Bundeskanzlerin Merkel hat auf dem gestrigen Kongress der Unionsfraktionen zur Bio- diversität ebenfalls auf den bedenklichen Verlust von Le- bensräumen 20 Jahre nach der Rio-Konferenz hingewie- sen. Sie hat darauf hingewiesen, dass es bei der nach wie vor zu hohen Flächeninanspruchnahme noch viele Pro- bleme zu lösen gibt, dass wir ein Netzwerk von Meeres- schutzgebieten benötigen, dass wir ein Protokoll zum gerechten Vorteilsausgleich verabschieden müssen und vieles mehr. Viele Worte – und die Bundeskanzlerin hat die Lage ja auch richtig erkannt –, aber wo bleiben die Taten, Frau Merkel? Betrachtet man die Realität im Handeln der Bundes- regierung, fällt auf, dass die Entwürfe der Haushalts- pläne 2011 für das Bundesumweltministerium und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit die auf dem Kopenhagen-Gipfel zugesagten zusätzlichen Mittel in Höhe von jährlich 420 Millionen Euro nicht enthalten. Mit diesem Geld sollten unter anderem An- passungsmaßnahmen an den Klimawandel sowie der Waldschutz finanziert werden. Bereits im Haushaltsjahr 2010 wurden neu und zusätzlich nur 35 Millionen Euro jeweils im BMU- und BMZ-Haushalt für den internatio- nalen Klimaschutz eingestellt. Für die restlichen 350 Millionen Euro wurden bestehende Klimaschutz- projekte einfach umdeklariert. Diese Taschenspielerei muss ein Ende haben. Die Bundeskanzlerin ist gut bera- ten, dafür zu sorgen, dass die von ihr zugesagten Mittel in voller Höhe und vor allem als „frisches Geld“ in den Haushalt eingestellt werden. International versprechen, national brechen – damit setzt die Bundesregierung Deutschlands Glaubwürdig- keit bei internationalen Verhandlungen aufs Spiel. Deutschland läuft Gefahr, ein unzuverlässiger Vertrags- partner zu werden. Das sind denkbar schlechte Voraus- setzungen für die anstehenden Verhandlungen, nicht nur 6998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) in Nagoya, sondern auch bei den Klimaverhandlungen in Mexiko. Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: Bun- desminister Dirk Niebel hat in seinen Haushalt keine Mittel für das Gebiet ITT im Yasuni-Nationalpark in Ecuador eingestellt. Es soll mit finanziellen Zusagen der Industrieländer vor Beeinträchtigungen durch die Förde- rung von Öl geschützt werden. Mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Projekt brüskiert Minister Niebel nicht nur die ecuadorianische Regierung, die gu- ten Willens ist, das Projekt zu einem vernünftigen Ende zu führen, sondern auch die Parlamentarier von Union, SPD und Grünen, die sich in einem gemeinsamen An- trag für die Unterstützung des ITT-Projektes eingesetzt haben. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass die FDP-Politiker diesen Antrag nicht mittragen wollten. Und noch ein Beispiel: Ich hätte mir in unserem An- trag mehr Mut in der Agrarpolitik gewünscht. Aber das war mit den Agrarpolitikern aus den Koalitionsfraktio- nen nicht zu machen. Ich hätte mir einen wichtigen Schritt in der Fischereipolitik gewünscht, aber auch hier gab es keine Einigung. Natürlich muss sich die Bundes- regierung trotzdem für eine nachhaltige Agrar- und Fi- schereipolitik in Deutschland, aber auch auf europäi- scher Ebene einsetzen. Die Meere sind überfischt. Darunter leidet die Biodiversität, aber auch die indige- nen Völker und lokale Gruppen, die vom küstennahen Fischfang leben und denen die Lebensgrundlage durch die europäischen Trawler genommen wird. Doch auch in der Agrarpolitik geht dieser Bundesregierung die Bedie- nung von Lobbyinteressen vor den Interessen des Natur- und Umweltschutzes. Dennoch ist es wichtig, dass es diesen Antrag gibt; der Erhalt der Biodiversität und damit der Schutz unserer Lebensgrundlagen ist ein so bedeutendes Thema, dass das Parlament dazu Stellung beziehen muss. Es bleibt also viel zu tun. Ein wegweisender Schritt auf der Kon- ferenz in Nagoya wäre dazu ein wichtiges Signal. Taten statt Worte, Frau Bundeskanzlerin! Angelika Brunkhorst (FDP): Die Artenvielfalt auf der Erde ist immens – die Zahl der Arten, die täglich ausstirbt, jedoch auch. Flora und Fauna auf unserem Pla- neten werden in bedrohlichem Maße kleiner. Täglich sterben rund 150 Tier- und Pflanzenarten aus: Pflanzen, Vögel, Fische und andere Lebewesen, die wir für immer verlieren werden. Für das drastische Artensterben ist fast immer der Mensch verantwortlich. Durch den Raubbau an der Na- tur, die Zerstörung der Regenwälder, die Versiegelung der Landschaft, die Monokulturen und durch intensive Landwirtschaft wird vielen Arten der Lebensraum und damit die Lebensgrundlage entzogen. Sie verschwinden unwiederbringlich. Bislang führten alle Versuche, dieser Entwicklung entgegenzutreten, nicht zum gewünschten Erfolg. Mit dem globalen Biodiversitätsziel wollten wir bis 2010 eine spürbare Reduktion des weltweiten Artenrückgangs erreichen. Wie der 3. Bericht zur globalen Lage der bio- logischen Vielfalt jedoch belegt, ist dies bislang nicht gelungen. Tag für Tag verschwinden weitere fünf Arten von unserer Erde. Teilweise sind sie uns bekannt, teil- weise handelt es sich um noch unbekannt Arten. Einige sind ein Verlust aufgrund ihrer Attraktivität, andere auf- grund ihrer möglichen Heilkraft. Die Gründe für das Verfehlen des Biodiversitätsziels sind vielfältig. Ein großes Problem ist die mangelnde Verankerung der Biodiversität in allen Sektorpolitiken. Zudem mangelt es – vor allem in vielen Entwick- lungs- und Schwellenländern – an finanziellen Mitteln für den Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt. Unter der CBD-Präsidentschaft Deutschlands wur- den in den vergangenen Monaten einige zielführende Initiativen angestoßen. Vor allem mit der Initiierung der internationalen Studie zum ökonomischen Wert der Bio- diversität hat das Thema eine bislang nie da gewesene öffentliche wie auch politische Aufmerksamkeit erreicht. Mit dem von Deutschland auf den Weg gebrachten Grundsatzbeschluss zur Einrichtung eines internationa- len Wissenschaftsrates, IPBES, haben wir eine weitere wichtige Etappe erreicht. Vergleichbar dem IPCC, der den Klimawandel ins Bewusstsein der Menschen rückte, soll IPBES Politik und Bürger für das Artensterben sen- sibilisieren. Denn nur wer Zusammenhänge erkennt, ist auch bereit, Verantwortung zu übernehmen. Unter der deutschen Präsidentschaft haben wir uns weiter für die Einrichtung eines weltweiten Netzwerkes von Schutzgebieten starkgemacht. Diese Schutzgebiete sind eine zentrale Voraussetzungen zum Erhalt der glo- balen biologischen Vielfalt und damit zur Umsetzung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt, CBD. Zur Unterstützung des Schutzgebietsnetzwerkes wurde die globale Schutzgebietsinitiative „LifeWeb“ ins Leben gerufen. Auf internationaler Ebene haben wir uns massiv für die Regelung des Zugangs und des gerechten Vorteils- ausgleichs bei der Nutzung genetischer Ressourcen, ABS-Regime, eingesetzt. Unser Ziel ist es, jetzt konkret in Nagoya ein international verbindliches Abkommen zu verabschieden. Vom 18. bis 29. Oktober 2010 wird die 10. Vertrags- staatenkonferenz des Übereinkommens über die Biologi- sche Vielfalt in Nagoya tagen. Hier gilt es, greifende Maßnahmen für den Zeitraum bis 2020 festzuzurren. Im Zentrum der Verhandlungen stehen die Verabschiedung eines umsetzbaren Protokolls zum Zugang und gerech- ten Vorteilsausgleich bei der Nutzung genetischer Res- sourcen, das sogenannte Access und Benefit Sharing, ABS, die Frage der Finanzierung des globalen Biodiver- sitätsschutzes sowie die Festlegung eines neuen interna- tionalen Biodiversitätszieles einschließlich der Verab- schiedung einer aktionsorientierten internationalen Biodiversitätsstrategie von 2011 bis 2020. Die negativen Folgen für die Vielfalt des Lebens kön- nen nur abgewendet werden, wenn die Staatengemein- schaft rasch wirksame Maßnahmen zur Erhaltung und Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6999 (A) (C) (D)(B) nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt ergreift. Deshalb begrüße ich, dass es uns im Hinblick auf die an- stehende Konferenz in Nagoya gelungen ist, einen inter- fraktionellen Antrag zur 10. CBD gemeinsam abzustim- men und auf den Weg zu bringen. Es gilt, die Vielfalt des Lebens auf der Erde zu schüt- zen, zu sichern und deren nachhaltige Nutzung so zu or- ganisieren, dass möglichst viele Menschen heute und auch in Zukunft davon leben können. Im Bundestag ist es uns gelungen, mit diesem Antrag über die Parteigren- zen hinweg ein Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass wir in Nagoya im Kampf gegen den Verlust von Artenvielfalt umsetzbare Strategien finden, um kommenden Genera- tionen einen vielfältigen Planeten überlassen zu können. Sabine Stüber (DIE LINKE): Dass wir heute im Ple- num doch noch über die biologische Vielfalt beraten, lässt mich zumindest erst einmal hoffen. Allerdings spricht es Bände, dass der Antrag so kurzfristig – er liegt seit gestern vor – auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Über all dem Hin und Her, wie man die Laufzeitverlän- gerung für AKW am Bundesrat vorbeimogeln kann, hatte die Koalition die Vertragsstaatenkonferenz zur bio- logischen Vielfalt im Oktober in Japan wohl vergessen. Drei Punkte möchte ich ansprechen. Erstens, es ist zu spät, um der Bundesregierung noch einen parlamentari- schen Auftrag für Nagoya mitzugeben. Wir können nur hoffen, dass die Vorbereitung der Konferenz im Sinne des zu beratenden Antrages gelaufen ist. Wir haben in diesem Jahr schon oft über die biologische Vielfalt ge- sprochen, ob hier im Plenum oder auch in den Ausschüs- sen. Was Frau Merkel allerdings nun wirklich im Gepäck für Japan hat? Wir, die Abgeordneten, wissen es nicht. Der Bundesumweltminister, der sich angesichts des drit- ten globalen Berichts zur biologischen Vielfalt fragt, ob wir genug und ob wir das Richtige getan haben, weiß es diesmal hoffentlich. Meine zweite Anmerkung betrifft die Ignoranz. Ich möchte niemandem zu nahetreten, aber ich kann Ihnen ein Zitat des US-Amerikaners Luther Burbank an dieser Stelle einfach nicht ersparen: „Wer nicht gerne denkt, sollte wenigstens von Zeit zu Zeit seine Vorurteile um- gruppieren.“ Die Linke ist mit 76 Abgeordneten nicht mehr die kleinste Fraktion im Bundestag. Darüber sollten Sie ein- mal nachdenken. Denn es geht nicht mehr um das Tafel- silber, dass verspielt wird. Es geht längst um unser Haus, in dem wir wohnen; es geht um unsere Zukunft. Da ist Ausgrenzung nur noch kontraproduktiv. Die Linke wäre bei dem Antrag heute gerne eine der antragstellenden Fraktionen. Ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen des Bundestages wäre der Problematik angemessen ge- wesen. Nichtsdestotrotz begrüßen wir den Antrag, der auch durch die unterschiedlichen Handschriften weitge- hend unsere Zustimmung hat. Hätten wir mitwirken dür- fen, hätten wir gerne für einen Aspekt Ihren Blick ge- weitet. Damit sind wir beim dritten Punkt unserer inhaltli- chen Kritik. In der TEEB-Studie wird versucht, die bio- logische Vielfalt auf Geldwerte festzulegen. Das sind für uns die neuen Gefahren: die Ökonomisierung der Natur, die Betrachtung der biologischen Vielfalt als Dienstleis- tungscenter für den Menschen. Das passt zu dieser Ge- sellschaft, das ist ein urkapitalistischer Ansatz: Was nichts kostet, ist nichts wert. In Ihrem Antrag, klingt das dann so: „Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Bio- diversität und ihrer Leistungen für das menschliche Wohlergehen den Schutz der biologischen Vielfalt als Querschnittthema ihrer Politik im Sinne der Empfehlung der TEEB-Studie weiterzuentwickeln.“ Hier wird mit einer verblüffenden Ausschließlichkeit künftiges politisches Handeln der Bundesregierung pos- tuliert. Dem können wir nicht zustimmen. Die Naturgü- ter werden zu Geldwerten gemacht, so tickt Kapitalis- mus. Aber so werden wir die Probleme weder global noch im eigenen Land lösen. Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist ein gutes Zeichen, dass es gelungen ist, auf der Grundlage des von der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Mai in den Bundestag eingebrachten An- trages „Biodiversität national und international konse- quent schützen“, Bundestagsdrucksache 17/2005, einen interfraktionellen Antrag zum Thema biologische Viel- falt zu vereinbaren. Der Verlust an biologischer Vielfalt schreitet nahezu ungebremst voran. Ihr Schutz braucht das deutliche Engagement aller in diesem Haus vertrete- nen Parteien. Wir brauchen verstärkte Anstrengungen des Bundes, der Länder, der Kommunen, der Europäi- schen Union und auf internationaler Ebene. Auch wenn uns viele Zahlen präsent sind, war es doch erschreckend, in diesem Jahr den dritten Globalen Aus- blick der Biodiversitätskonvention CBD zu lesen. Von den im April 2002 von den Vertragsstaaten des UN- Übereinkommens über die biologische Vielfalt für das Jahr 2010 formulierten 21 Teilzielen wurde kein einziges erreicht. Hinter jeder Zielbewertung steht der Halbsatz: „Im globalen Maßstab nicht erreicht“. Das Jahr 2010 als internationales Jahr der biologi- schen Vielfalt steht so leider für die vielen verpassten Chancen der Vergangenheit, unsere eigenen Lebens- grundlagen zu schützen, Lebensräume zu erhalten, den Artenverlust zu stoppen und die genetische Vielfalt auf unserer Erde zu sichern. Ein aktuelles Beispiel: Die Öl- katastrophe im Golf von Mexico ist noch nicht einmal vollends verstanden, geschweige denn bewältigt, da sind die Überlegungen zu einem Moratorium gegen Tiefsee- bohrungen schon wieder vom Tisch. Die Öl-Konzerne machen einfach weiter und die Welt guckt hilflos zu. Es ist unfassbar. Von der globalen bis zur lokalen Ebene muss der Schutz der Leistungen von Ökosystemen stärker als ge- samtgesellschaftliche und ressortübergreifende Aufgabe verstanden werden. Also ist es gut, dass wir das heute noch einmal als Auftrag an die Bundesregierung formu- liert haben. Ich freue mich auch, dass wir – obwohl die- ses Ziel ja gesetzlich verankert ist – ein Bekenntnis der Koalitionsfraktionen zum 10-Prozent-Ziel bei der Ein- 7000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) richtung eines nationalen Biotopverbundes auf der Lan- desfläche haben. Noch schöner wäre es natürlich, wenn die Bundesregierung bei einer meiner nächsten Nachfra- gen auch in der Lage wäre, mir zu sagen, wie weit wir bei der Umsetzung dieses Zieles sind. Noch ist sie dazu ja nicht in der Lage. Ich denke, dass es überhaupt Zeit ist, ernsthaft über die Einrichtung eines nationalen Monitoringzentrums zu diskutieren. Wir brauchen die Erfassung der biologi- schen Vielfalt an zentraler Stelle, wir brauchen auch Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, die diese Daten interpretieren, die ökologischen, ökonomischen und so- zialen Folgen der Veränderungen untersuchen und Ge- genstrategien zu negativen Entwicklungen formulieren. Was wir auch dringend benötigen, ist eine Verbesserung der erschreckenden Situation bei der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Taxonominnen und Taxonomen. Wir Grünen erwarten hier eine Initiative der Forschungs- ministerin und kein tatenloses Zusehen, wie immer mehr Wissen über Arten verloren geht. Biologische Vielfalt steht für Nahrung, Baustoffe, Fa- sern, Energie, Arzneimittel, sauberes Wasser und sau- bere Luft. Sie liefert technische Vorbilder, stabilisiert das Klima, schützt vor Extremereignissen und dient sogar noch der Entsorgung vieler unserer Abfälle. Deshalb geht es nicht um das eine oder andere possierliche Tier- chen oder die eine oder andere exotisch-schöne Pflanze. Es geht um unsere Lebensgrundlagen und die der Gene- rationen nach uns. Die Studie über die Ökonomie von Ökosystemdienstleistungen und biologischer Vielfalt, TEEB, liefert uns dafür anschauliches Zahlenmaterial und Handlungsempfehlungen für die unterschiedlichen Zielgruppen. Dies ist auch ein Ergebnis der deutschen Präsidentschaft, unter der die Studie auf den Weg ge- bracht wurde. Die während der 9. Vertragsstaatenkonferenz 2008 in Bonn verabschiedete Agenda für die deutsche Präsident- schaft enthält allerdings auch noch mehrere bis heute of- fene Punkte. Die Bundesregierung wird der künftigen ja- panischen Präsidentschaft also Altlasten übergeben. Dies betrifft insbesondere die noch ausstehende Einigung auf einen strategischen Plan für die Zeit nach 2010, die Ver- abschiedung eines völkerrechtlich bindenden Abkom- mens über den Zugang und gerechten Vorteilsausgleich bei der Nutzung genetischer Ressourcen und schließlich die Mobilisierung zusätzlicher finanzieller Ressourcen, um die Konventionsziele erreichen zu können. So viel Zeit, wie es einige meinen, haben wir leider nicht mehr für die Erfüllung dieser Ziele. Die bevorstehende 10. Vertragsstaatenkonferenz im japanischen Nagoya muss von der Bundesregierung und der Europäischen Union energisch genutzt werden, wirklich voranzukom- men. Der heute vorgelegte fraktionsübergreifende An- trag richtet sich daher nicht nur an die Bundesregierung in ihrer Eigenschaft als noch amtierende Präsidentschaft der CBD, sondern auch als verantwortungsvolle Ver- handlungspartnerin in Nagoya. Der strategische Plan ist vor allem den Industrielän- dern wichtig. Die Entwicklungsländer werden dem aber nur zustimmen, wenn die Finanzierung verbindlich ge- klärt wird. Da ist es nicht hilfreich, wenn die Bundes- regierung zugesagte Mittel für Klimaschutz, Biodiversi- tätsschutz und Entwicklungshilfe sich immer wieder gegenseitig anrechnet und so das Kriterium der Zusätz- lichkeit umgeht. Mehr Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit an dieser Stelle sind zu wünschen. Bei ABS geht es um die Unterbindung von Biopirate- rie, ein für die Entwicklungsländer und indigene Grup- pen enorm wichtiges Anliegen. Dem stehen die wirt- schaftlichen Interessen der Industrieländer gegenüber, die die Ressourcen der Entwicklungsländer kommerziell nutzen. Es muss einen fairen Ausgleich geben. Nicht vergessen dürfen wir auch das Biosafety-Proto- koll. Beim Thema biologische Sicherheit haben wir uns leider nicht einigen können, so dass der interfraktionelle Antrag dieses Anliegen ausspart. Gentechnik gehört zwar noch nicht zu den Hauptursachen des Verlustes an biologischer Vielfalt, aber hier gilt es, den Anfängen prä- ventiv zu wehren. Gentechnisch veränderte Pflanzen sind ein Risiko, das geeignet ist, größte Schäden in unse- ren Ökosystemen anzurichten. Auf ihre Anwendung sollte verzichtet werden. Zumindest brauchen wir drin- gend eine verbindliche Regelung der Haftungsfragen. Wir Grünen unterstützen es, dass die UNEP, das Um- weltprogramm der Vereinten Nationen, ein internationa- les Wissenschaftlergremium für Biodiversität einrichten will. Damit würde für politische Entscheidungsträger ein zuverlässiges und glaubwürdiges Gremium eingerichtet. Wir Grünen können uns auch sehr gut mit dem Gedan- ken anfreunden, dass das IPBES, so der Name des neuen Gremiums, auf dem afrikanischen Kontinent angesiedelt wird. Aber ich betone: Entscheidend wird sein, wie wir alle uns verhalten. Wir haben heute keinen Mangel an Wissen, sondern uns fehlt die Bereitschaft entschieden zu handeln. Daher mahne ich mit Goethe: „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten se- hen.“ Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Initiative für eine Richtlinie des Euro- päischen Parlaments und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsa- chen Ratsdok. 9145/10 (Zusatztagesordnungs- punkt 5) Ansgar Heveling (CDU/CSU): „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Bö- ses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Mit diesen Worten beginnt Franz Kafkas „Der Prozess“. Die- ser Anfangssatz löst sicherlich bei jedem, der ihn liest, ein beklemmendes Gefühl aus. Mir geht es jedenfalls immer wieder so, wenn ich das Buch zur Hand nehme. Diese 19 Worte spielen auf die Urangst eines jeden an: die Sorge, in die Mühlen eines Verfahrens zu geraten, aus dem man sich, einmal darin verstrickt, nicht wieder herauslösen kann, eines Verfahrenes, das, weil seine Re- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7001 (A) (C) (D)(B) geln nicht bekannt sind, entgrenzt ist und deswegen im Gegenzug den Einzelnen klaustrophobisch einengt. Es ist eine der Errungenschaften des Rechtsstaates, dass uns dieses beklemmende Gefühl heutzutage nur li- terarisch begegnet und wir hier bei uns nicht die Sorge haben müssen, real in eine Verfahrensmühle zu geraten, wie Josef K. in Kafkas „Der Prozess“. Recht und Gesetz binden Polizei und Strafverfolgungsbehörden, sie gelten gegenüber jedermann gleichermaßen, jeder kann sich auf seine Rechte berufen, und bei Rechtsverletzungen besteht für jedermann die Möglichkeit, Rechtschutz in Anspruch zu nehmen. Bei uns können die Menschen mithin darauf vertrauen, dass die rechtsstaatlichen Re- geln eingehalten werden – bei uns und auch in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union insgesamt. So selbstverständlich, wie alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union Rechtsstaaten mit einem außeror- dentlich hohen Schutzniveau sind, so selbstverständlich ist aber auch, dass jedes Land seine eigene Rechtstradi- tion hat. Gerade das Strafrecht und das Strafverfahrens- recht gehören zum Kernbereich der einzelstaatlich gere- gelten Rechtsmaterien. Natürlich ist es richtig, im Zuge des europäischen Harmonisierungsprozesses auch zu einer Harmonisie- rung strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Re- gelungen in Europa zu kommen und das bisherige Sys- tem der Rechtshilfe durch neue Instrumente abzulösen. Als Kehrseite zur Freiheit, die wir in Europa genießen dürfen, machen Kriminalität und Straftaten an den Gren- zen der Einzelstaaten nicht halt. Hier müssen Polizei und Strafverfolgungsbehörden selbstverständlich in ganz Eu- ropa in die Lage versetzt werden, schnell, adäquat und effektiv handeln zu können. Weil Straf- und Strafverfahrensrecht aber zum Kern- bereich rechtsstaatlichen Handelns gehören, bedarf es bei der Harmonisierung in diesem Bereich der besonde- ren Sensibilität. So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil ausgeführt, dass „wegen der be- sonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnor- men … die vertraglichen Kompetenzgrundlagen … strikt – keinesfalls extensiv – auszulegen (sind) ... Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechts- technisches Instrument zur Effektuierung einer interna- tionalen Zusammenarbeit, sondern steht für die beson- ders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum“. Ein wesentlicher Faktor hier- bei ist, dass Vertrauen in die rechtsstaatlichen Gewähr- leistungen bestehen muss. Dieses Vertrauen in die rechtsstaatlichen Gewährleistungen in den Einzelstaaten ist über Jahrzehnte gewachsen. Und so muss es auch in Europa gehen: Das Vertrauen muss wachsen können. Es lässt sich nicht verordnen. So ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass der Europäi- sche Rat mit den Schlussfolgerungen von Tampere 1999 beschlossen hat, den Grundsatz der gegenseitigen Aner- kennung, der ursprünglich als Instrument zur Herstel- lung des Binnenmarkts entwickelt wurde, im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen einzuführen. Mit dem Rahmenbeschluss über den Euro- päischen Haftbefehl gibt es auch bereits einen ersten um- gesetzten Rechtsakt, der diesem Prinzip folgt. Erlassen wurde auch schon der Rahmenbeschluss zur Europäi- schen Beweisanordnung. Dieser wurde indessen in vie- len Mitgliedstaaten, so auch in der Bundesrepublik, noch nicht umgesetzt. Angesichts der Tatsache, dass Vertrauen Zeit braucht, um zu wachsen, erscheint es übereilt, wenn mit einer Ini- tiative zur Europäischen Ermittlungsanordnung jetzt schon der nächste Schritt begonnen werden soll. Sinn- voller ist es, zunächst die Umsetzung des vorhergehen- den Rahmenbeschlusses zur Europäischen Beweisanord- nung abzuwarten und die Erkenntnisse der Umsetzung und Anwendung dann in eine etwaige Initiative zur Eu- ropäischen Ermittlungsanordnung einfließen zu lassen. Auf diese Weise kann sich das notwendige Vertrauen mit der Zeit entwickeln. Wir unterstützen daher die gemeinsame Initiative für eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundge- setzes. Es ist gut, dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg eine gemeinsame Linie gefunden haben und auf diese Weise als Parlament wahrnehmbar unsere Stimme erheben können. Dr. Eva Högl (SPD): Wenn heute Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden in der EU für ihre Tätigkeit Beweismittel im europäischen Ausland beschaffen müs- sen, ist dies langwierig und aufwendig. Vor diesem Hin- tergrund hat Belgien eine Initiative für eine Richtlinie zur Europäischen Ermittlungsanordnung in Strafsachen gestartet. Bisher greifen die Strafverfolgungsbehörden auf das Instrument der Rechtshilfe zurück, das auf europäischer Ebene auf dem Rechtshilfeübereinkommen des Europa- rats von 1959 und dem der Europäischen Union von 2000 basiert. Daneben haben wir mit dem Rahmenbe- schluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln innerhalb der Europäischen Union von 2003 sowie dem Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung von 2008 Rechtsinstrumente auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung. Im Gegensatz zur Europäischen Beweisanordnung soll die geplante Euro- päische Ermittlungsanordnung nicht nur für bereits erho- bene Beweismittel, sondern auch zur Beschaffung neuer Beweise gelten und hat damit einen erweiterten Gel- tungsbereich. Bei der Europäischen Ermittlungsanordnung würde ein Standardformular ausreichen, mit dem die jeweiligen Behörden einander ersuchen könnten, bestimmte Ermitt- lungen durchzuführen oder Beweismaterial zu sammeln und auszutauschen. Die Veranlassung etwa von Zeugen- befragungen oder Hausdurchsuchungen könnte deutlich einfacher in die Wege geleitet werden. Entscheidend für die Verwertbarkeit der im Ausland angeforderten Beweise ist das Vertrauen auf ihre recht- mäßige Erhebung. Gerade wegen der besonderen Bedeu- tung von Beweisen im Strafverfahren sind konkrete An- forderungen an ihre Erhebung zu stellen. Nur wenn eine 7002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) Behörde sicher sein kann, dass die von Partnerbehörden anderer EU-Länder gewonnenen Beweise den rechtli- chen Anforderungen im eigenen Land genügen, ist es für sie sinnvoll, das Instrument der Europäischen Ermitt- lungsanordnung anzuwenden. Das hierfür notwendige gegenseitige Vertrauen speist sich aus vergleichbaren Standards. Schon 2004 hatte der Deutsche Bundestag zum Vor- schlag für die Europäische Beweisanordnung festge- stellt, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerken- nung im Bereich des Strafrechts an bestehenden Unterschieden der Rechte von Beschuldigten scheitert. Er hat seinerzeit darauf bestanden, dass bei Eingriffen in die Rechte von Beschuldigten jeweils gesondert festzu- stellen ist, ob und inwieweit die Voraussetzungen für den Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit bestehen. Dem hatte sich im Übrigen auch die Bundesre- gierung in einer Erklärung mit entsprechendem Vorbe- halt angeschlossen. Leider können wir heute noch nicht das notwendige Maß an Einheitlichkeit dieser Standards in Europa fest- stellen. Solange dieser Zustand besteht, bedarf es eines allgemeinen Versagungsgrundes, damit keine Verpflich- tung zur Anerkennung und Ausführung von Ermittlungs- anordnungen statuiert wird, deren Erlass und Vollstre- ckung nach nationalem Recht nicht zulässig wäre. Wir sind der Auffassung, dass vor Einführung eines neuen umfassenden Rechtsinstruments zur grenzüber- schreitenden strafrechtlichen Erhebung und Verwertung von Beweisen der Bedarf dafür gründlich geprüft und geklärt werden sollte. Erst wenn sichergestellt ist, dass eine Neuregelung Vorteile gegenüber den traditionellen Instrumenten der Rechtshilfe bringt, sollte diese einge- führt werden. Die notwendige Prüfung muss auch mögli- che Defizite der bisherigen Rahmenbeschlüsse und die Ergebnisse der Befragung der Mitgliedstaaten durch die Europäische Kommission zum Grünbuch zur Beweiser- langung in Strafsachen einschließen. Die Europäische Kommission selbst hat 2009 im Stockholmer Programm dargelegt, dass der Anerken- nung, Durchsetzung und Evaluierung der bestehenden Instrumente europäischer Zusammenarbeit im Straf- rechtsbereich besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Die Richtlinie zur Europäischen Beweisan- ordnung selbst trat erst Anfang 2009 in Kraft und ist in den Mitgliedstaaten bis Januar 2011 umzusetzen. Als überzeugte Europäerin liegt mir nicht daran, die rechtspolitische Integration bzw. vertiefte Zusammenar- beit in der Europäischen Union zu bremsen. Ich sehe je- doch die Gefahr, dass eine vorschnelle Ausdehnung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf die Be- weiserhebung noch vor Anerkennung und Einführung gemeinsamer Mindeststandards zum Verlust von bereits entstandenem Vertrauen und Akzeptanz führen und sich daher kontraproduktiv auswirken kann. Das für die ef- fektive Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung notwendige Vertrauen muss erst erworben und kann nicht vorausgesetzt werden. Es freut mich daher, dass es uns im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags gelungen ist, fraktionsüber- greifend und einstimmig eine Stellungnahme abzugeben, in der die kritische und gleichwohl konstruktive Haltung deutscher Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu- sammengefasst ist. Wir begleiten damit den Prozess der Richtlinienentstehung mit konkreten Vorschlägen und geben der Bundesregierung inhaltliche Empfehlungen an die Hand. Mit der Verabschiedung der Stellungnahme haben wir als Deutscher Bundestag die Chance, als starke Stimme in Europa Gehör zu finden. Ich bin sicher, dass unsere Vorschläge und Anregungen in zukünftige Verhandlun- gen ebenso einfließen werden wie in den angekündigten Entwurf einer Richtlinie von Justizkommissarin Viviane Reding. Wir können der engeren justiziellen Zusammen- arbeit in Strafsachen in Europa optimistisch entgegenbli- cken und werden uns weiterhin engagiert in die Debatte auf nationaler und europäischer Ebene einbringen. Marco Buschmann (FDP): Vorliegend befassen wir uns mit der Initiative für eine Richtlinie des Europäi- schen Parlaments und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen. Es geht hier im Kern um die Frage, wann und unter welchen Vorausset- zungen ein Mitgliedstaat die Anordnung zu einer straf- prozessualen Ermittlungsmaßnahme eines anderen Mit- gliedstaates exekutieren muss. Bei Fragen strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen ist höchste Wachsamkeit geboten. Denn es handelt sich mitunter um tiefe Grundrechtseingriffe. Nicht umsonst sprechen wir in Deutschland stets davon, dass es sich beim Strafprozessrecht um konkretisiertes Verfassungs- recht handelt. Wir sind in Deutschland stolz auf das hohe rechtsstaatliche Niveau, das wir im Strafprozess prakti- zieren. Dieses hohe Niveau schlägt sich insbesondere in der Rechtsstellung des Beschuldigten sowie in der Syste- matik der Beweiserhebungs- und Beweisverwertungs- verbote nieder. Gerade als überzeugte Europäer sagen wir Liberale: Auch im Bereich der Strafverfolgung muss es eine bes- sere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten geben. Aber es darf keine Harmonisierung um jeden Preis geben, jeden- falls dann nicht, wenn die Errungenschaften unseres li- beralen Rechtsstaates in Deutschland in Gefahr geraten könnten. Denn dies würde nicht nur dem deutschen Rechtsstaat, sondern auch der europäischen Idee scha- den. Die Europäische Union gründet auf Vertrauen, und solches Vertrauen könnte in Gefahr geraten, wenn die Mitgliedstaaten um ihre Identität fürchten müssen. Dass der Bereich des Straf- und des Strafprozessrechts für diese Identität besonders wichtig ist, hat das Bundesver- fassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil unterstri- chen. Mit diese Sorge sind wir nicht allein: Das kann schon deshalb jedermann erkennen, da wir diese Sorge in ei- nem gemeinsamen Antrag der Fraktion der CDU/CSU, FDP, SPD und Bündsnis 90/Die Grünen zum Ausdruck gebracht haben. Auch die Fraktion der Linken teilt diese Sorge, wie wir aus den vorangegangenen Beratungen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7003 (A) (C) (D)(B) wissen. Das Haus ist sich hier einig. Einig sind wir uns auch mit dem Bundesrat, der bereits dieser Sorge mit ei- ner eigenen Stellungnahme Ausdruck verliehen hat. Auch außerhalb der obersten Staatsorgane besteht diese Sorge. Das lässt sich beispielsweise den Stellungnahmen des Deutschen Richterbundes, des Deutschen Anwalt- vereins und der Bundesrechtsanwaltskammer entneh- men. Vor diesem Hintergrund empfiehlt Ihnen der Rechts- ausschuss des Deutschen Bundestages, zu der Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes abzugeben, in der wir Wege aufzeigen, diese Sorgen auszuräumen. Wichtig sind aus meiner Sicht dabei insbesondere fol- gende Punkte. Wichtig ist, dass Mindeststandards für Beschuldigte oder Drittbetroffene eingehalten werden. Nur so können wir das bereits geschaffene Vertrauen der Bürger in Europa stärken. Solche einheitlichen Mindest- standards existieren jedoch noch nicht für alle Mitglied- staaten. Unser Ziel muss es sein, erst die Mindeststan- dards zu verwirklichen, bevor wir den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ausdehnen. Ein zweites wichtiges Anliegen ist meiner Ansicht nach die Schaffung eines allgemeinen Versagungsgrun- des, wonach die Vollstreckung der angeordneten Maß- nahmen versagt werden kann, wenn diese nach nationa- lem Recht unzulässig wäre. Ein Strafverfahren, in das wir Vertrauen haben können, kann nur dann gewährleis- tet sein, wenn etwa der bei uns verfassungsrechtlich be- gründete Richtervorbehalt nicht unterlaufen werden kann. Ein drittes wichtiges Anliegen ist der Datenschutz. Im Rahmen der Europäischen Ermittlungsanordnung sollen besonders sensible Daten ausgetauscht werden. Bei- spiele dafür sind etwa DNA-Daten, Fingerabdrücke, In- formationen über Vermögensverhältnisse oder – wie im Fall der Wohnraumüberwachung – Daten aus dem höchstpersönlichen Umfeld der betroffenen Personen. Der Schutz dieser Daten muss auf hohem Niveau erfol- gen. Lassen Sie uns heute einen Schritt gehen, um das Ver- trauen in Europa zu stärken. Lassen Sie uns unsere Sor- gen für die Standards unseres Strafverfahrensrechts kon- struktiv in Richtung der Europäischen Institutionen artikulieren – nicht weil wir gegen jede Harmonisierung in diesem Bereich sind, sondern weil wir uns für Rechts- staatlichkeit und Grundrechtsschutz einsetzen. Raju Sharma (DIE LINKE): Uns wird ja immer wie- der nachgesagt, wir würden Europa boykottieren. Das ist natürlich völliger Unsinn. Im Gegenteil: Wir Linken sind ausgesprochene Europa-Fans. Wie sollten wir als Frie- denspartei auch etwas Schlechtes darin sehen, wenn Völker, die sich vor siebzig Jahren noch erbittert be- kämpft haben, heute friedlich miteinander leben? Wie könnten wir, die wir für internationale Solidarität eintre- ten, das Verblassen nationaler Grenzen und Egoismen verurteilen? Wenn der Weltbürger ein Ideal ist, so gilt das selbstverständlich auch für den Europäer. Unsere Kritik richtet sich also nicht gegen das Zusammenwach- sen der Staaten an sich, sondern lediglich gegen manche Regel, die für diesen Verbund aufgestellt wird. Wir hal- ten es für undemokratisch, wenn das einzige von den EU-Bürgern direkt gewählte Organ kein Recht auf Ge- setzesinitiative hat. Wir wenden uns dagegen, dass wirt- schaftliche Freiheiten über soziale Rechte gestellt wer- den, und statt einer Militarisierung der EU wünschen wir uns eine Verpflichtung zur Abrüstung. Für Regelungen im Detail gilt dasselbe. Manche Richtlinie, welche die Harmonisierung in Europa voran- treiben soll, ist gut gemeint, im Ergebnis aber kein Ge- winn. So ist es auch mit der Ermittlungsanordnung in Strafsachen, deren Ziel die gegenseitige Anerkennung von strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen ist. Das ist für Strafverfolgungsbehörden natürlich eine verführeri- sche Vorstellung: Das Amtsgericht Hohenschönhausen ordnet in Palermo eine Hausdurchsuchung an und keinen Tag später ist sie in vollem Gange. Das Ganze hat aller- dings einen Haken: Was in einem Land übliche Ermitt- lungspraxis ist, kann im anderen ein schwerer Verstoß gegen Verfahrensgrundsätze sein. Diesen Unterschieden aber schenkt die Initiative, wie sie jetzt vorliegt, kaum Beachtung. Versagungsgründe für den Vollstreckungs- staat bestehen so gut wie keine, verfahrensrechtliche Mindeststandards existieren nicht. Zu befürchten wäre im Ergebnis ein Absinken des Strafverfahrensrechts auf den niedrigsten Level. Das aber ist gerade im grund- rechtsrelevanten Bereich des Strafrechts nicht hinnehm- bar. Denn hier geht es nicht um den freien Austausch von Gurken oder Glühbirnen, hier geht es um die Frage, ob am Ende eines Verfahrens ein Mensch seine Freiheit verliert. Nicht ohne Grund hat die Bundesrepublik des- halb ein hohes Maß an Beschuldigtenrechten und strenge Regeln zur Erhebung und Verwertung von Beweisen ge- schaffen. Erfreulicherweise gab es in der Hochschätzung unse- res Strafverfolgungsrechts eine ungewohnte Überein- stimmung mit den Koalitionsfraktionen. Denn die Rechte von Beschuldigten und verurteilten Straftätern stehen bei der Union ja nicht immer so hoch im Kurs. Ich erinnere nur an die Sicherungsverwahrung. Da kann schon mal der Eindruck entstehen, einige der Hardliner in der CDU setzen das Strafrecht mit einem hohen Straf- rahmen gleich und kennen den Resozialisierungsgedan- ken nur vom Hörensagen. Bei den interfraktionellen Verhandlungen über die Ermittlungsanordnung war hiervon jedoch nichts zu spüren. Stattdessen wurde konstruktiv und mit überein- stimmender Zielrichtung diskutiert, die Vorschläge aller Fraktionen wurden ernsthaft erwogen und flossen in den Antrag ein. Genau so stelle ich mir gelungene parlamen- tarische Arbeit vor: getragen vom Interesse an der Sache, vom Willen, die bestmögliche Lösung zu finden, offen für Argumente des politischen Gegners und selbst- bewusst genug, um eigene Irrtümer einzuräumen. Schade ist nur, dass dieser positive Geist nicht bis zum Ende anhielt. Bei dem von allen erarbeiteten Antrag 7004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) durfte die Linke als Urheber wieder nicht erscheinen, ideologische Vorbehalte der Union überwogen den Wil- len, der gemeinsamen Arbeit Rechnung zu tragen und geschlossen gegenüber Brüssel aufzutreten – was der Sa- che nicht gerade zuträglich ist. Dabei haben die gemein- samen Verhandlungen doch gezeigt, dass es anders geht. Es wäre schön, wenn die CDU das zum Anlass nähme, ihre Haltung gegenüber der Linken endlich zu überden- ken. Dann wäre der Antrag zur Ermittlungsanordnung nicht nur seinem Inhalt nach, sondern auch in seinem Entstehen Anstoß zu mehr Demokratie – hier und in Europa. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten sind gefallen. Das ist gut für die Bürgerinnen und Bürger in der Union, aber leider profitieren davon auch Straftäter, die sich ungehindert zwischen den Mitgliedstaaten bewegen kön- nen. Die Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten wollen deshalb – und das ist nachvollziehbar – besser und effizienter zusammenarbeiten. Strafverfolgung durch Polizei und Justiz erfolgt jedoch nicht gegen über- führte Straftäter, sondern gegen – mehr oder weniger – Verdächtige. Ein Verdacht kann grundsätzlich gegen jede und jeden entstehen. Deshalb gilt für alle Verdächti- gen die Unschuldsvermutung; deshalb haben Verdäch- tige grundrechtlich und menschenrechtlich gesicherte Rechte, die von den Ermittlungsbehörden zu achten sind. Die Initiative von sieben Mitgliedstaaten zur Schaf- fung einer Europäischen Ermittlungsanordnung will ein umfassendes Instrument zur Beweisgewinnung über Staatengrenzen hinweg schaffen, um die Zusammenar- beit der Strafverfolgungsbehörden innerhalb der Euro- päischen Union effizienter zu gestalten. Der Richtli- nienentwurf sieht eine sehr weitgehende Anerkennung und Beachtung von Beweisgewinnungsersuchen von ei- nem Mitgliedstaat zum anderen vor. Voraussetzung der Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger in der Europäi- schen Union für ein solches Vorgehen ist ein grundsätzli- ches Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der jeweiligen Strafrechtsordnungen. Dieses Vertrauen ist von essen- zieller Bedeutung für das Gelingen der Europäischen Union als Ganzer und für den äußerst sensiblen Bereich der Justiz- und Innenpolitik im Besonderen. Ich meine nicht nur das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die jeweils anderen Mitgliedstaaten und ihre Rechtsordnungen, son- dern auch und insbesondere das Vertrauen der Bürgerin- nen und Bürger der Europäischen Union in die Rechts- staatlichkeit der jeweiligen anderen Staaten und in die Europäische Union als Ganzes. Nur durch ein solches Vertrauen können die teils gro- ßen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und den Traditionen der Mitgliedstaaten überbrückt werden. Aber dieses Vertrauen muss erworben werden, es kann nicht einfach vorausgesetzt werden. Der vorliegende Richtlinienentwurf wird aber gerade das nicht leisten können. Ganz im Gegenteil: Dieses Instrument greift zwar nicht in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ein, aber es kann im Einzelfall empfindlich in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Denn wir haben leider noch keine gemeinsamen Standards im Strafver- fahren. Die mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen sind noch sehr unterschiedlich, dadurch kann es im Ein- zelfall zu empfindlichen Rechtslücken kommen. Gerade das dürfen wir nicht zulassen, denn es wird dem europäi- schen Projekt schaden und die Entfremdung der Bürge- rinnen und Bürger gegenüber der Europäischen Union weiter vergrößern. Wir müssen ein faires Strafverfahren gewährleisten können. Dafür ist es unerlässlich, dass nationale Beweis- erhebungs- und Beweisverwertungsverbote sowie natio- nale Verfahrensbestimmungen nicht durch Ermittlungs- anordnungen unterlaufen werden können und dem Be- troffenen so im Einzelfall Rechte vorenthalten werden. In Deutschland wären dies zum Beispiel der verfas- sungsrechtlich begründete Richtervorbehalt, die Beleh- rungspflichten gegenüber Beschuldigten und Zeugen so- wie deren Aussageverweigerungsrechte. Es darf auch nicht sein, dass deutsche Behörden verpflichtet werden, eine Ermittlungsanordnung gegen einen nach deutschem Recht noch nicht strafmündigen Beschuldigten zu voll- strecken. Für solche Fälle ist es unerlässlich, einen allge- meinen Versagensgrund vorzusehen, wenn die Vollstre- ckung der Ermittlungsanordnung nach nationalem Recht unzulässig wäre. Es ist derzeit auch noch nicht möglich, völlig auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten. Die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten weisen nach wie vor große Unterschiede auf. Daher sollte auch weiterhin nur bezüglich der Deliktsgruppen auf die Prü- fung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet werden, auf die man sich in den bisherigen Instrumenten der ge- genseitigen Anerkennung geeinigt hat. Des Weiteren sollten diese Deliktsgruppen näher präzisiert werden, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Da im Bereich der Ermittlungsanordnung besonders sensible Daten ausgetauscht werden, ist es wichtig, einen hohen Datenschutzstandard zu garantieren. Der derzei- tige Schutz, der noch auf der Europaratskonvention Nr. 108, Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Da- ten, aus dem Jahre 1981 beruht bzw. auf dem Rahmenbe- schluss des Rates 2008/977/JI des Rates vom 27. No- vember 2008 über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusam- menarbeit in Strafsachen verarbeitet werden und dessen Umsetzungsfrist im November 2010 endet, ist nicht aus- reichend. Der vorgenannte Rahmenbeschluss stellt nur einen absoluten Minimalkonsens dar, der Ausdruck der Prä-Lissabon-Regelungen – Einstimmigkeit im Rat und lediglich Anhörung des Europäischen Parlaments – war. Auch darf die Praxis mitgliedstaatlicher Initiativen nicht dazu führen, dass Vorschläge mit nicht ausreichend qualifizierten und substanziellen Begründungen zur Ver- einbarkeit der Vorhaben mit den Grundsätzen der Subsi- diarität und der Verhältnismäßigkeit vorgelegt werden. Zwar ist das Initiativrecht einer Gruppe von Mitglied- staaten in diesem Bereich sinnvoll und richtig. Die An- forderungen an gute Gesetzgebung inklusive Folgenab- schätzung und umfassender Begründung dürfen dabei aber nicht vernachlässigt werden. Schließlich sollten erst Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7005 (A) (C) (D)(B) einmal die Umsetzung der bereits beschlossenen Euro- päischen Beweisanordnung – die Frist endet im Januar 2011 – und die Erfahrungen mit diesem Instrument ab- gewartet werden, bevor ein neues, wesentlich weiterrei- chendes Instrument geschaffen wird. Aus allen diesen Gründen wenden wir – alle Fraktio- nen des Deutschen Bundestages – uns gegen diese Initia- tive einiger Mitgliedstaaten über die Europäische Ermitt- lungsanordnung in Strafsachen. Wir fordern die Bundesregierung auf, im Sinne dieser Stellungnahme an den weiteren Verhandlungen teilzunehmen und die Auf- fassung des Bundestages zu achten. Zum Schluss möchte ich allen Berichterstattern für die konstruktive Zusammenarbeit danken. Ich möchte aber auch noch einmal darauf hinweisen, dass ich es ge- rade in europäischen Angelegenheiten für sinnvoll er- achte, dass bei einem interfraktionellen Antrag des Deut- schen Bundestages auch alle im Bundestag vertretenen Fraktionen beteiligt werden, wenn sie sich denn auf eine Position einigen können. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Kirgisistan unter- stützen – Den Frieden sichern (Zusatztagesord- nungspunkt 7) Manfred Grund (CDU/CSU): Seit seiner Unabhän- gigkeit im Jahr 1991 haben sich in Kirgistan, mehr als in anderen Ländern der Region, immer wieder demokrati- sche Bestrebungen behauptet. Aber die Folge war auch eine Instabilität, die die Entwicklung des Landes ge- hemmt hat. Autoritäre Tendenzen wurden wiederholt durch politische Umstürze beendet, auf die demokrati- sche Reformen folgten. Aber die Begleiterscheinung dieser Entwicklungen liegt in der fortdauernden Schwä- che der staatlichen Institutionen. Korruption und organi- sierte Kriminalität konnten sich entfalten, die wirtschaft- liche Entwicklung war enttäuschend. Viele Kirgisen sind arm geblieben. Mit der Frustration der Bevölkerung ha- ben die ethnischen Spannungen zugenommen. Nach dem Sturz Präsident Bakijews im April hat die neue Regierung unter Übergangspräsidentin Otunbajewa eine ambitionierte Verfassungsreform begonnen, die ein parlamentarisches Regierungssystem etablieren soll. In dem Referendum vom 27. Juni konnte sie sich dafür eine breite Unterstützung der Bevölkerung sichern. Die Re- gierung konnte sich so eine demokratische Legitimation verschaffen. Die Tatsache, dass eine erneute Kandidatur von Rosa Otunbajewa bei den für Dezember 2011 ange- setzten Wahlen ausgeschlossen wurde, war ein wichtiger Schritt zur Vertrauensbildung. Die vergleichsweise lange Zeit ihrer Übergangspräsidentschaft ist angesichts der politischen Instabilität im Lande gerechtfertigt. Die für das kommende Wochenende angesetzten Parlaments- wahlen sollen bereits zuvor für eine demokratisch ge- wählte Regierung sorgen. Dadurch allein wird sich jedoch die Schwäche der Regierungsinstitutionen nicht überwinden lassen. Schwach ist die Kontrolle der Regierung insbesondere über den Süden des Landes, wo Anhänger Bakijews nach wie vor über Rückhalt verfügen, wo das organi- sierte Verbrechen – vor allem durch den Drogenhandel – stark ausgeprägt ist und wo das Zusammenleben zwi- schen Kirgisen und Usbeken spannungsvoll ist. Wie es- kalationsträchtig die Lage ist, zeigte sich an den massi- ven Ausschreitungen gegen die usbekische Minderheit in Osch und anderen Orten des Südens, die im Juni zu Hunderten von Toten und Zehntausenden von Flüchtlin- gen führten. Wie ohnmächtig die Regierung diesen Ge- waltausbrüchen gegenüberstand, zeigten ihre Bitten um internationale militärische Unterstützung, vor allem an die Adresse Russlands. Dieser Mangel an Autorität und Durchsetzungskraft der staatlichen Institutionen stellt das größte Risiko für den politischen Fortschritt in Kirgistan dar. Deshalb kommt es jetzt in erster Linie auf die Stabilisierung und Konsolidierung der Staatsmacht sowie auf den Ausbau und die Stärkung ihrer Organe an. Gelingt dies nicht, be- steht die sehr reale Gefahr, dass über kurz oder lang die Vertreter korrupter und krimineller Interessen die Macht übernehmen oder eine andauernde politische Instabilität Kirgisistan zum Einfallstor für islamistische Kämpfer macht. Kirgistan wird internationale Unterstützung brauchen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre eine deutli- che Verbesserung der regionalen Kooperation zwischen den Staaten Zentralasiens, die unter anderem zum Abbau ethnischer Spannungen zwischen den Volksgruppen bei- tragen könnte. Vor allem von Kasachstan sind bislang Initiativen für eine Intensivierung der regionalen Koope- ration ausgegangen. Jedoch versuchen die Staaten Zen- tralasiens nach wie vor eher, sich gegenüber negativen Entwicklungen bei ihren Nachbarn abzuschotten, als die Probleme gemeinsam zu lösen. Kirgistan wird neben zivilen Hilfen auch polizeiliche und gegebenenfalls militärische Unterstützung zur Stabi- lisierung der Lage brauchen. Der kasachische Vorsitz ist dabei in der Verantwortung, die Hilfen der OSZE zu ko- ordinieren. Wenn es zur Entsendung einer Friedens- truppe kommt, müsste sie durch den der Sicherheitsrat der VN legitimiert werden. Doch je kritischer sich die Lage entwickeln mag, desto mehr würde es darauf an- kommen, dass eine Friedensmission entsprechend robust ist. Dafür müsste ein solcher Einsatz von einem Mit- gliedsland getragen und geführt werden, das die erfor- derlichen Fähigkeiten zur Verfügung stellen kann. Das könnte nach Lage der Dinge nur Russland sein. Ein konzertiertes Vorgehen der internationalen Ge- meinschaft ist in dieser Situation besonders wichtig. Die Wirksamkeit unserer Strategie wird entscheidend von ei- ner engen Abstimmung mit Russland abhängen. Je mehr die USA und die EU, Russland – und auch China – mit unterschiedlichen Ansätzen gegeneinander konkurrie- ren, desto stärker werden wir unsere konstruktiven Ein- flussmöglichkeiten auch gegenseitig beschneiden. 7006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) In Zentralasien verfügt Russland aus geografischen wie historischen Gründen über politische Möglichkeiten, die die EU nicht besitzt. Weder die Europäer noch die Amerikaner werden in Zentralasien entschieden und mit der notwendigen Nachhaltigkeit als Ordnungsmacht auf- treten können, wenn Krisen in der Region ein Eingreifen internationaler Partner erfordern. Russland hat eine Schlüsselrolle. Nur im engen Zusammenwirken mit Russland werden wir – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – einen wichtigen konstruktiven Bei- trag zur Stabilisierung Kirgistans leisten können. Franz Thönnes (SPD): Am 10. Oktober 2010 wird in Kirgisistan gewählt. Damit steht dieses Land nach ei- ner spannungsgeladenen Entwicklung vor einer erneuten Bewährungsprobe. Denn nach dem Sturz des autokrati- schen Präsidenten Kurmanbek Bakijew im April dieses Jahres durch die Opposition, wurde eine Übergangsre- gierung mit Rosa Otunbajewa an der Spitze gebildet, die das Parlament für aufgelöst erklärte und baldige Neu- wahlen versprach. Im Juni 2010 erschütterten schwere ethnische Unru- hen zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit den armen Süden des Landes. Es starben Hunderte Men- schen, überwiegend Usbeken, und Tausende mussten fliehen. Berichte informierten uns darüber, dass es durch die Unruhen des Junis 2010 in Dschalalabad – der Heimatre- gion des gestürzten Präsidenten Bakijew, über 370 Tote und gut 2 300 Verletzte gegeben habe. 30 000 Menschen ergriffen die Flucht. Für die Ursachen des Konflikts gibt es die unterschiedlichsten Mutmaßungen. So werden Anstachelungen durch entmachtete Regierungsvertreter ebenso vermutet wie die Planung einer gezielten Vertrei- bung der wohlhabenderen usbekischen Minderheit durch die land- und arbeitslose kirgisische jüngere Generation. Davon blieb natürlich auch die Übergangsregierung nicht verschont. Kritiker warfen ihr vor, nicht ausrei- chend für Stabilität gesorgt zu haben. Am 27. Juni 2010 haben bei dem erfolgreich und rela- tiv friedlich verlaufenden Verfassungsreferendum über 90 Prozent der Wähler, bei einer Wahlbeteiligung von rund 70 Prozent, für den Verfassungstext gestimmt. Die- ser sieht die Stärkung der parlamentarischen Kontroll- rechte und die Beschränkung der Befugnisse des Präsi- denten vor. Rosa Otunbajewa wurde mit diesem Referendum als Präsidentin bis Dezember 2011 bestä- tigt. Damit hat die Übergangsregierung eine gute Grund- lage, einen glaubwürdigen Prozess der Reformen und der Demokratisierung anzustoßen. Aber die politische Lage in Kirgisistan bleibt kritisch. Im Süden gibt es weiterhin Spannungen zwischen Kirgi- sen und Usbeken. Die genauen Hintergründe der Unru- hen zu ermitteln, insbesondere ob kirgisische Politiker und Ordnungskräfte darin verwickelt waren, bleibt schwierig. Hinzu kommt das große Wirtschaftsgefälle zwischen Norden und Süden und das Ausmaß organi- sierter Kriminalität im Süden Kirgisistans. Es wird ange- zweifelt, ob und inwieweit die neue Regierung die Kon- trolle über alle Sicherheitskräfte im Land hat. Auch war sie bislang nicht in der Lage, die vollständige Sicherheit im Süden zu erreichen. Für die Tage um die Wahlen he- rum kann nicht ausgeschlossen werden, dass es erneut zu einer Verschlechterung kommt. Bislang ist dies den Be- richten nach aber Gott sei Dank noch nicht so. Es ist gut, dass die Übergangsregierung ihre Zusage eingehalten hat, dass nun am kommenden Sonntag Neu- wahlen des kirgisischen Parlamentes stattfinden. Hoffen wir, dass diese Wahlen ungestört vonstattengehen und auch in der Zeit eine ruhige Atmosphäre bestehen wird. Gleichwohl gilt – egal welches Resultat das Wahler- gebnis erbringt –, dass die Staatengemeinschaft, die Eu- ropäische Union und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gefordert sind, Aktivitäten und Maßnah- men zu ergreifen, die zur Stabilität Kirgisistans beitra- gen. Bisher eingeleitete Unterstützungen sind da sehr wohl noch ausbaufähig. Ja, ausbaunotwendig. Zwar ist umfangreiche humanitäre und finanzielle Hilfe geleistet worden, die Bundesregierung zum Bei- spiel hat 500 000 Euro für die Versorgung der Flücht- linge zur Verfügung gestellt und die Zentralasienbeauf- tragte in die Region entsandt. Insgesamt aber müssen im Rahmen eines langfristigen Prozesses gemeinsame Ini- tiativen ergriffen werden, um neue Eskalationen der Ge- walt zu verhindern. So gehört natürlich die Situation in Kirgisistan auf die Tagesordnung der Vereinten Nationen. Stabilität und Si- cherheit in diesem Land bedürfen mit geeigneten Maß- nahmen zur Friedenssicherung dem verstärkten Engage- ment der Staatengemeinschaft. Dabei tragen auch die Länder der Region im Sinne einer stabilisierenden Mit- wirkung eine wesentliche Mitverantwortung. Und es ist unumstritten, dass eine zu entsendende OSZE-Mission abzusichern ist. Die EU ist selbstverständlich aufgefordert, ihrer Ver- antwortung im Sinne der eigenen EU-Zentralasienstrate- gie gerecht zu werden. Zur Aufarbeitung der Unruhen im Juni und zur Gewährleistung der Stabilität wird es auch notwendig sein, eine internationale Untersuchung durch die Beauftragten für Menschrechte bzw. nationale Minderheiten der Vereinten Nationen oder der OSZE einzuleiten. Wir alle wissen, dass nach derartigen Entwicklungen, wie sie die Menschen und die Gesellschaft in Kirgisistan erfahren haben und wie wir sie von außen beobachten konnten, eine lange Wegstrecke eines Prozesses des Dis- kurses und der Versöhnung bis zu einem neuen, bis zu einem friedlichen Miteinander vor uns liegt. Dafür ist natürlich ein politischer Prozess erforderlich, der alle an den Konflikten beteiligten Parteien, die friedens- und stabilitätswillig sind, mit einbezieht. Die Vereinten Na- tionen, die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland haben das Know-how für eine konstruktive Begleitung und Absicherung dieser Wegstrecke. Sie soll- ten dies anbieten und sich dementsprechend einbringen. Auch ist der Forderung zuzustimmen, dass sowohl OSZE wie auch EU helfen müssen bei einer Politik der Good Governance und der Herstellung von Rechtsstaat- lichkeit. Dem Recht des Stärkeren gilt es die Stärke des Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7007 (A) (C) (D)(B) Rechts entgegenzusetzen. Dazu ist einerseits eine refor- mierte und durchsetzungsfähige Polizei erforderlich wie ebenso auch der organisierte und wirkungsvolle Schutz der Rechte von Minderheiten. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht nun in den Ausschuss. Die SPD-Bundestagfraktion sieht in vielen Bereichen eine Übereinstimmung mit den darin wiedergegebenen Inhalten und wird sich mit ihren Posi- tionen an den Beratungen im Ausschuss mit dem Ziel, zu einer breiten Übereinstimmung zu kommen, beteiligen. Noch viel wichtiger aber sind jetzt bereits konkrete ver- stärkte internationale Aktivitäten der Bundesregierung für Stabilität und Sicherheit in der Region, die über das bisherige Maß hinausgehen. Kirgisistan kann aber nur dann eine demokratische und in Frieden lebende Republik werden, in der vor al- lem die Menschen im Süden eine bessere Zukunft haben und in der die usbekische Minderheit in Sicherheit leben kann, wenn mit der Kraft der ganzen internationaler So- lidarität hieran verantwortungsvoll gearbeitet und damit auch die Stabilität in der ganzen Region gewährleistet wird. Michael Link (Heilbronn) (FDP): Meiner Rede möchte ich voranstellen, dass die FDP-Bundestagsfrak- tion den Grundgedanken des Antrags der Grünen-Frak- tion teilt, einen für die noch sehr junge und gebrechliche kirgisische Demokratie unterstützenden Antrag zu ver- abschieden. Vieles, was in dem Antrag steht, können wir unterschreiben. Einige Passagen erfordern Redebedarf, gleichwohl bietet der Ausschuss noch Gelegenheit dazu. Kirgistan benötigt in seiner aktuellen Situation Unter- stützung, aber man sollte ebenfalls zur Kenntnis neh- men, dass das jüngst abgehaltene Referendum durchaus als ein Erfolg zu werten ist. Zwar ist die Lage noch nicht im ganzen Land stabil, aber die Verfassung schafft mehr Demokratie als im jeden anderen Land der Region, wenn auch ihre Implementierung mit schmerzhaften und wi- dersprüchlichen Prozessen verbunden ist. Das Land hat in den letzten Monaten eine Phase in- tensiver politischer Auseinandersetzung und Debatten erlebt. Es wurde dabei – neben der Personalisierung – auch über politische Konzepte und Alternativen disku- tiert. Der Ausgang der Wahlen am Sonntag ist ungewiss. Und – wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben – schon dies ist eine für diese Region ungewöhnlich erfreuliche Situation. Eine ebenfalls positive Nachricht – lassen Sie mich dies noch hinzufügen – ist die Verhaftung zweier Ver- dächtiger, die im Zusammenhang mit der brutalen Er- mordung des kirgisischen Journalisten Gennadi Pawliuk stehen sollen. In Kirgistan wird der Versuch einer parlamentari- schen Demokratie gemacht – zum ersten Mal in dieser Region in dieser Konsequenz. Es gibt eine Chance, dass Kirgistan beweisen kann, dass präsidentielle Systeme in autoritärer Ausprägung nicht die einzige Option für die Länder Zentralasiens sind und dass mehr Demokratie möglich ist. Letztlich können ethnische, religiöse und andere Spannungen, welche die Region immer wieder erschüttern, nur durch Demokratie und Interessenaus- gleich entschärft werden. Dies liegt ebenfalls im Inte- resse Deutschlands und der Europäischen Union. Jedoch steht der Demokratisierungsprozess sowie der Aufbau funktionierender Institutionen in Kirgistan erst am An- fang. Deshalb sollte Deutschland gemeinsam mit den euro- päischen Partnern alles Mögliche tun, um das neu ge- wählte Parlament und die neue Regierung zu unterstüt- zen. Die Erfahrung hat leider gezeigt, dass dazu vor allem Geduld erforderlich ist. Für eine nachhaltige Sta- bilisierung des Landes müssen alle Ethnien in den Pro- zess der Nationswerdung einbezogen werden. Wir müs- sen gleichwohl darauf vorbereitet sein, dass nach den Wahlen abermals unruhigere Zeiten anbrechen können. Daraus ergibt sich für mich auch die Notwendigkeit die- ses Antrags. Und daraus ergibt sich auch die Wichtigkeit einer erfolgreichen Umsetzung der Zentralasienstrategie der Europäischen Union. Das Ziel der EU sollte es vor allem sein, in den zen- tralasiatischen Staaten Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und ein friedliches Miteinander zu fördern. Es ist noch nicht lange her, dass Kirgistan am Rande eines Staatszer- falls stand. Die schrecklichen Nachrichten, die uns jüngst in diesem Jahr aus Kirgistan erreichten, belegen auf bedrückende Weise, wie schnell die Situation in die- sem Land blutig eskalieren kann. Bis heute sind die ge- nauen Hintergründe der Juni-Unruhen nicht geklärt. Zahlreiche Indizien sprechen für eine Verwicklung der organisierten Kriminalität in die damaligen, pogromähn- lichen Zustände. Glücklicherweise ist es Rosa Otunbajewa und ihrer Übergangsregierung zumindest teilweise gelungen das damalige Chaos zu begrenzen und nicht wieder aufflam- men zu lassen. Jedoch muss es das Ziel sein, dass die neue Regierung die Kontrolle über das gesamte Land, also auch über den Süden, und den kompletten Verwal- tungsapparat gewinnt. Nun steht Europa gegenüber Kirgistan in der Verant- wortung zu beweisen, dass es Zentralasien nicht ledig- lich aus energiepolitischer Perspektive sieht. Es muss al- les unternommen werden, dass der eingeschlagene, kirgisische Weg in Richtung Stabilität und Demokratie fortgesetzt werden kann. Hierfür bedarf es eines kohä- renten und entschlossenen Auftretens der EU, damit sich nicht nur in Kirgistan, sondern mittelfristig in der ge- samten Region stabile und gerechte Gesellschaften ent- wickeln können. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): In Zentralasien ver- sinkt ein Staat im Chaos, und die Welt ist ratlos. Wir alle wissen, dass sich die Minderheitenkonflikte in Kirgisien schnell zu einem Flächenbrand ausweiten können. Vie- len ist auch klar, dass wir es in Zentralasien längst mit ei- nem Flächenbrand zu tun haben. In dessen Zentrum und dessen Auslöser ist der NATO-Krieg in Afghanistan. Die wenigsten aber wollen die Destabilisierung, die vom Af- ghanistankrieg auch für Usbekistan und Kirgisien aus- geht, wahrhaben. Die Destabilisierung hingegen, die für 7008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 (A) (C) (D)(B) Pakistan ausgeht, ist mittlerweile unumstritten, wie in der Rede von der „AfPak-Region“ deutlich wird. Die beiden offensichtlichen und weithin bekannten Ursachen für diese Destabilisierung sind die Tatsache, dass Pakis- tan als Rückzugsgebiet islamistischer Kämpfer und als Hauptversorgungsroute der US-amerikanischen Streit- kräfte dient. Die völkerrechtswidrigen Angriffe der US- Armee auf pakistanischem Boden mit unbemannten Drohnen und zuletzt auch bemannten Waffensystemen haben mittlerweile dazu geführt, dass Pakistan seine Grenzen für die NATO-Transporte geschlossen hat. Die wartenden Lkw wurden von militanten Islamisten mehr- fach angegriffen. Fast kann man von einem gemeinsa- men Vorgehen der pakistanischen Sicherheitskräfte mit den Guerilla-Kämpfern ausgehen. Die Islamisten finden breiten Rückhalt in der Bevölkerung und auch in Teilen der Armee, weil Pakistan und die pakistanische Regie- rung von der NATO in einen Krieg gezwungen werden, den Armee und Bevölkerung nicht unterstützen. Dasselbe ist in Kirgisien und Usbekistan der Fall. Beide sind Rückzugs- und Rekrutierungsbasis für die Gegner der NATO in Afghanistan, und über beide wi- ckelt die NATO ihren militärischen Nachschub ab, wäh- rend gleichzeitig die Gegenseite ihre Drogen über diese Länder exportiert und damit die organisierte Kriminalität in diesen Ländern zu einer politischen Macht gedeihen lässt. Da die NATO ihren fatalen Krieg in Afghanistan aber auf Gedeih und Verderb fortsetzen will und dazu die Militärbasen in Termez und Manas aufgrund der jüngs- ten Spannungen mit und Angriffe in Pakistan noch dringlicher denn je braucht, kann sie in der Region keine deeskalierende, unabhängige Politik verfolgen. Die Staa- ten, die am Afghanistan-Krieg beteiligt sind, müssen auf Biegen und Brechen mit jeder Regierung in Taschkent und Bischkek zusammenarbeiten, egal wie korrupt diese ist, egal ob sie sich an die Macht geputscht hat und egal wie sehr sie ihre eigene Bevölkerung unterdrückt. Es ist ein Wunder, dass es in diesem Kontext zu Span- nungen kommt. Die Herrschercliquen bereichern sich maßlos an den Einnahmen, die sich aus der Kriegslogis- tik ergeben, die Familie des gestürzten Präsidenten Bakijew soll alleine 2009 Aufträge in Höhe von bis zu 80 Millionen US-Dollar für das Pentagon übernommen haben. Gleichzeitig machte das organisierte Verbrechen Millionengewinne mit dem Opiumhandel. Für die einfa- che Bevölkerung hingegen gibt es keinerlei Perspekti- ven, um der Armut zu entfliehen – außer der Emigration. 2008, vor Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanz- krise, bestand ein Viertel des kirgisischen Nationalein- kommens aus Auslandsüberweisungen junger Kirgisen, die überwiegend in Russland und Kasachstan beschäftigt waren. Die Arbeitsmigranten aus den zentralasiatischen Staaten waren diejenigen, die als erste und am härtesten von der Wirtschaftskrise betroffen waren. Millionen von ihnen kehrten mit der Wirtschaftskrise zurück, ge- schätzte 500 000 alleine nach Kirgisien. Beobachter warnten bereits Ende 2009, dass die kirgisische Wirt- schaft diesen überhaupt keine Perspektive biete. Da jeg- liche politische Opposition unterdrückt werde, sei abzu- sehen, dass sich viele Arbeitslose entweder den militanten Islamisten oder der organisierten Kriminalität anschließen würden und es bald zu Aufständen kommen würde. So ist es auch gekommen. Die Pogrome im Juni 2010 trafen vor allem die usbekische Minderheit und fanden in unmittelbarer Nähe zur usbekischen Grenze statt. Viele befürchteten damals, der unberechenbare usbeki- sche Präsident Karimow könnte seine Truppen mobili- sieren und über die Grenze marschieren lassen. Diese Eskalationsstufe wurde zum Glück vorerst noch nicht er- reicht. Die Frage ist aber: Wie hätte die Bundesregierung sich hierzu verhalten können, die für ihren Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan auf den Stützpunkt im usbe- kischen Termez angewiesen ist und hierfür selbst zu den schwersten Menschenrechtsverletzungen der usbeki- schen Regierung schweigt? Eine Schockstarre hat die internationale Gemein- schaft nach dem Umsturz im April in Kirgisien ergriffen, und reflexartig – wie im vorliegenden Antrag der Grü- nen – werden altbekannte Rezepte hervorgekramt: die Forderungen nach internationalen Polizei- und Militär- einsätzen. Doch bislang ist kein Land bereit, sich in die- ser Form in Kirgisien zu engagieren. Weil alle wissen, dass sie die Lage nicht in den Griff bekommen werden, so lange die NATO in Afghanistan ist. Keiner will die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat: nicht die NATO, nicht die USA, die sich mit Osterweiterung, Af- ghanistankrieg und der sogenannten Tulpenrevolution tief in den Einflussbereich Russlands eingegraben und Zentralasien zum Austragungsort eines „neuen Kalten Krieges“ mit Russland gemacht hat, und auch nicht Russland selbst. Doch die altbekannten Rezepte werden den Flächen- brand nur beschleunigen. Die International Crisis Group, die bereits der militärischen Zerschlagung Jugoslawiens das Wort geredet hat, schreibt: „Unglücklicherweise könnte es schon zu spät sein für alle Bemühungen, dem gespaltenen Land die Einheit wiederzugeben. Zu weit sind die Desintegrationsprozesse fortgeschritten, zu viel ist geschehen. Deshalb muss der Sicherheitsrat der Ver- einten Nationen eine Krisenintervention planen, sodass die Staatengemeinschaft in der Lage ist, kurzfristig und effizient auf alle Wellen der Gewalt und Flüchtlings- ströme in der Region zu reagieren.“ Hier wird einer Tei- lung Kirgisiens unter internationaler militärischer Bei- hilfe entlang ethnischer Linien das Wort geredet. Ein Experiment, welches die NATO mit tatkräftiger Unter- stützung der Crisis Group bereits auf dem Balkan durch- geführt hat und mit dem sie bereits dort grandios ge- scheitert ist. In Zentralasien, wo instabile Regime eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen umfassen, große Rohstoffvorkommen existieren und das durch die NATO zum Schauplatz eines „neuen Kalten Krieges“ mit Russ- land gemacht wurde, ist das Eskalationspotenzial noch ungleich höher. Die verfahrene Lage in Kirgisien und Zentralasien muss zu einem wirklichen Umdenken führen. Die NATO muss ihre Niederlage in Afghanistan eingestehen und das Konfliktpotenzial, das von diesem Krieg für die ge- samte Region ausgeht, anerkennen. Der Abzug der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7009 (A) (C) (D)(B) NATO aus Afghanistan muss einhergehen mit der Fest- stellung, dass dieses Militärbündnis seine Grenzen über- schritten hat, im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefähr- dung des Weltfriedens darstellt und deshalb aufgelöst gehört. Der Westen muss aufhören, seinen Einflussbe- reich auch militärisch immer weiter in den Osten auszu- dehnen – dies überfordert auch seine Kräfte –, und muss die legitimen Interessen Russlands anerkennen. Grund- lage hierfür kann der von Russland vorgeschlagene euro- atlantische Sicherheitsvertrag sein. Nur wenn die militä- rische Konfrontation beendet wird, kann kooperativ die wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung Zen- tralasiens unterstützt werden und sich diese Region sta- bilisieren. Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kirgisistan steht kurz vor dem Staatszerfall: ethnische Spannungen, eine handlungsunfähige Regie- rung und eine zusammengebrochene Wirtschaft – dies sind die klassischen Symptome eines versagenden Staa- tes. Das Land wird durch einen ethnischen und sozialen Konflikt förmlich zerrissen. Eine machtlose Präsidentin ohne nennenswerte Unterstützung verliert zunehmend die Kontrolle über den Süden des Landes. Die Verliere- rin in diesem Konflikt ist die usbekische Minderheit, die zunehmend marginalisiert und verfolgt wird. Im Juni dieses Jahres erschütterten Berichte über Hunderte Tote und Tausende Flüchtlinge die Weltöffentlichkeit. Wie kommt es zu dieser Verschärfung des Konflikts? Kirgisistan ist eines der ärmsten Länder der Erde. Ein Drittel der 5,3 Millionen Einwohner Kirgisistans lebt un- ter der Armutsgrenze. Eine Verdopplung der Strompreise zu Beginn des Jahres und eine extrem hohe Arbeitslosig- keit führte im April dieses Jahres zur Erhebung der Be- völkerung gegen den autokratisch regierenden Präsiden- ten Kurmanbek Bakijew. Am 7. April floh Bakijew zunächst in den Süden des Landes. Dort genießt er noch immer einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. Schließlich verließ Bakijew das Land, nicht ohne seinen Anspruch auf das Amt des Präsidenten nochmals zu be- kräftigen. Die im April gebildete Übergangsregierung ist sehr heterogen und damit konfliktanfällig. Präsidentin Otunbajewa ist es zudem nicht gelungen, ehemalige Un- terstützer des gestürzten Präsidenten Bakijew mit in die Regierung zu holen. Dies wäre notwendig gewesen, um die Macht im Süden des Landes zu etablieren. Dort lebt der Großteil der usbekischen Minderheit, die etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Im Süden ist ihr Anteil jedoch weitaus höher. Die usbekische Min- derheit ist wirtschaftlich besser gestellt als die Mehrheit der Bevölkerung, politisch ist sie jedoch schwach. Füh- rungspositionen in Verwaltung, Politik und Wirtschaft sind hauptsächlich von ethnischen Kirgisinnen und Kir- gisen besetzt. Politische und soziale Spannungen sind die Folge. Diesen Konflikt machten sich Bakijew und sein Umfeld im Juni zu nutze, um die Übergangsregie- rung durch gezielte Aufwiegelung der ethnischen Grup- pen schachmatt zu setzen. Die UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay berichtete, dass die ersten Angriffe abgestimmt, gezielt und gut geplant stattfanden. Es ist offensichtlich, dass vorhandene ethnische Spannungen systematisch poli- tisch instrumentalisiert wurden. Die Folge war, dass der Süden Kirgisistans im Chaos versank und die Über- gangsregierung nicht in der Lage war, die usbekische Minderheit vor Angriffen zu schützen. Weit über 1 000 Tote, eine Massenflucht und die Zerstörung ganzer Stadtviertel waren zu beklagen. Rosa Otunbajewa rief Russland und die USA um militärische Unterstützung an. Doch niemand wollte sich in den Konflikt hineinzie- hen lassen. Obwohl das Referendum, bei dem am 27. Juni über die neue demokratische Verfassung und über die Präsi- dentschaft Otunbajewas abgestimmt wurde, ruhig ver- lief, konnte die Übergangsregierung bis heute ihre Macht im Süden des Landes nicht konsolidieren. So scheiterte etwa die Absetzung des nationalistischen und Bakijew-treuen Bürgermeisters von Osch am Wider- stand der Kirgisinnen und Kirgisen im Süden. Die usbe- kische Minderheit lebt in ihren zum größten Teil zerstör- ten Wohnvierteln in Angst vor einem erneuten Übergriff und ist politisch kaltgestellt. Human Rights Watch infor- mierte in einem Bericht vom 18. August über die ethni- sche Gewalt in Kirgisistan. Die mehrheitlich kirgisi- schen Sicherheitskräfte haben sich danach an den Übergriffen auf Usbekinnen und Usbeken aktiv beteiligt. Auch vormals gemäßigte Politikerinnen und Politiker nehmen kaum noch Partei für die usbekische Minder- heit, Medien verbreiten nationalistische, antiusbekische Parolen. Am 22. Juli beschloss die OSZE, 52 Polizistinnen und Polizisten in den Süden Kirgisistans zu entsenden. Deren Präsenz sollte Übergriffe auf die usbekische Minderheit unterbinden. Dies lehnte Rosa Otunbajewa ab, da sie für die Sicherheit der Polizistinnen und Polizisten nicht ga- rantieren konnte. Es hatte unmissverständliche Drohun- gen gegen ein OSZE-Polizeikontingent aus dem Süden des Landes gegeben – ein weiteres Zeichen der Schwä- che der Zentralregierung. Der Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden des Landes bleibt bestehen, die usbekische Minderheit lebt weiter in Angst und eine Es- kalation der Lage scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Am kommenden Sonntag stehen Parlamentswahlen bevor. Der Wahlkampf trägt seit Wochen zur Eskalation der Lage bei. Es ist mehr als fraglich, ob diese Wahlen eine stabile Regierung hervorbringen, da die Wahlbe- rechtigten unter 29 Parteien wählen können, von denen keine ihre Vorstellungen von der wirtschaftlichen und politischen Zukunft des Landes klar und deutlich formu- liert. Weniger politische Programme als der Machtan- spruch konkurrierender Clans prägen die Parteienland- schaft. Die usbekische Minderheit fühlt sich von keiner Partei vertreten. Viele Beobachter erwarten neuerliche Gewaltausbrü- che. Das Fergana-Tal, willkürlich aufgeteilt zwischen drei Staaten, ist der geografische Krisenherd. Nicht nur der Staat Kirgisistan, sondern die ganze Region ist be- (A) (C) (D)(B) droht. Autoritäre Staaten mit ethnischen und sozialen Konflikten, latente Spannungen zwischen ihnen und die Bedrohung durch Drogenhandel und den terroristischen Islamismus aus den südlichen Nachbarn Afghanistan und Pakistan machen diesen Teil Zentralasiens zu einer Gefahr für sich selbst und uns alle. Es ist unerlässlich, besonders Kirgisistan bei seinem wirtschaftlichen Aufbau zu unterstützen, da nur so den Nationalisten der Boden entzogen werden kann. Auslän- dische Polizistinnen und Polizisten können das Problem nicht lösen. Es bedarf eines komplexen Instrumentari- ums der Krisenprävention und der Friedenssicherung. Dazu sind nur die Vereinten Nationen in der Lage. Des- halb ist die Befassung des UN-Sicherheitsrates mit der Situation in Kirgisistan notwendig. Welche Maßnahmen sinnvoll und angemessen sind, bedarf einer genaueren Analyse. Auf deren Grundlage muss über ein Paket aus wirtschaftlicher Hilfe, politischen Verhandlungen und der Herstellung und Wahrung von Sicherheit für die Menschen nachgedacht werden. Dessen Umsetzung ist Aufgabe der Vereinten Nationen. Die maßgebliche Be- teiligung der Europäischen Union ist dabei sicher unum- gänglich. Vor allem aber liegt sie in unserem eigenen In- teresse. Kirgisistan braucht die Hilfe der internationalen Gemeinschaft jetzt und nicht erst dann, wenn der Kon- flikt eskaliert ist. Offsetdruc sellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Kö 7010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 kerei, Bessemerstraße 83–91, 1 ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de 22 65. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706500000

Die Sitzung ist eröffnet.

Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.

Wir haben zwei Nachbesetzungen vorzunehmen, be-
vor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Auf Vorschlag
der SPD-Fraktion soll der Kollege Siegmund Ehrmann
den Platz der ausgeschiedenen Abgeordneten
Dr. Angelica Schwall-Düren als ordentliches Mitglied
im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland“ einnehmen. Im
Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ soll ihr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang
Thierse als ordentliches Mitglied nachfolgen. Als neues
stellvertretendes Mitglied ist der Kollege Dietmar
Nietan vorgesehen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen, und die genannten Kollegen sind damit gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde

Rede
Projekt Stuttgart 21

(siehe 64. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 33

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschrif-
ten zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3
Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächener-

(Zweites Flächenerwerbsänderungsgesetz – 2. FlErwÄndG)


– Drucksache 17/3183 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
zung

en 7. Oktober 2010

.01 Uhr

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sank-
tionen aussetzen

– Drucksache 17/3207 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Pakistan nach der Flut langfristig unterstüt-
zen und Schulden umwandeln

– Drucksache 17/3206 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

text
Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über Einlagensi-
cherungssysteme (Neufassung) KOM-Nr. (2010)
368 endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-
rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-

esetzes

en bei Finanzinstituten: Dezentrale Si-
ngssysteme als Modell für Europa
g

Einlag
cheru
– Drucksache 17/3191 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Biologische Vielfalt für künftige Generationen
bewahren und die natürlichen Lebensgrundla-
gen sichern

– Drucksache 17/3199 –

ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung

Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Europäi-
sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen
Ratsdok. 9145/10

– Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela

(RemsMurr)

der FDP

Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich
fortsetzen – Bundespolizistinnen und Bundes-
polizisten unterstützen

– Drucksache 17/3187 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola

(Bremen)

und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kirgisistan unterstützen – Den Frieden si-
chern

– Drucksache 17/3202 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

„Kinder, Küche und Karriere“ – Vereinbar-
keit für Frauen und Männer besser möglich
machen

– Drucksache 17/3203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Günter Gloser, Dietmar Nietan, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Glaubhafte Unterstützung für Serbiens Bei-
trittsantrag zur Europäischen Union

– Drucksache 17/3175 –

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Serbiens Beitrittsgesuch an die Europäische
Kommission weiterleiten – Gesamte Region im
Blick behalten

– Drucksache 17/3204 –

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 „Frauen,
Frieden und Sicherheit“ einhalten – Auf Ge-
walt in internationalen Konflikten verzichten

– Drucksache 17/3205 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen beim
Ablauf der heutigen Tagesordnung: Die Tagesordnungs-
punkte 5 a, b und d sollen abgesetzt und der Tagesord-
nungspunkt 5 c ohne Debatte überwiesen werden. An
dieser Stelle ist nunmehr die Beratung des Tagesord-
nungspunktes 9 vorgesehen. Die nachfolgenden Tages-
ordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken dem-
entsprechend vor. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarun-
gen einverstanden? – Das ist der Fall; ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte
der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge
und Integration

Achter Bericht über die Lage der Auslände-
rinnen und Ausländer in Deutschland

– Drucksache 17/2400 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Staatsministerin Frau Professor Maria
Böhmer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


D
Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1706500100


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass das Thema Integration endlich
wieder da steht, wo es angesichts der drängenden Pro-
bleme und Aufgaben hingehört: ganz oben auf der Ta-
gesordnung. Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar,
dass er sich des Themas Integration mit so großer Inten-
sität angenommen hat.


(Thomas Oppermann [SPD]: Nur der Bundespräsident?)


Wir dürfen das Feld nicht Sarrazin mit seinen Halb-
wahrheiten und seinen kruden Vererbungstheorien über-
lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als Finanzsenator in Berlin hatte er sieben Jahre lang
Zeit, etwas für die Integration zu tun. Er hat nichts getan.
Das waren sieben verlorene Jahre für die Integration in
Berlin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Und wann haben Sie etwas getan?)


Viele Migranten, die längst in Deutschland heimisch
sind, fühlten sich in den letzten Wochen unter General-
verdacht gestellt und ausgegrenzt. Viele Einheimische
haben Ängste und Sorgen angesichts der Veränderungen
in unserem Land. Manche haben auch Angst vor Gewalt.
Manche Schülerinnen und Schüler und manche Lehrer
müssen sich deutschfeindliche Äußerungen anhören.
Wenn sich ein Schüler nicht mehr auf den Pausenhof
traut, wenn Lehrer eingeschüchtert werden oder wenn
Lehrerinnen beschimpft werden, können wir das nicht
hinnehmen und müssen dagegen angehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jedem, der zu uns kommt, muss von Anfang an klar
sein: Wer hier leben will, muss selbstverständlich das
Grundgesetz und unsere Rechtsordnung respektieren.
Wer hier leben will, muss sich auch auf unser Land ein-
lassen.

Ich war sehr beeindruckt von dem Gespräch, das ich
mit den Migrantenorganisationen am Dienstag geführt
habe. Genau das war der Tenor auch dort: sich auf dieses
Land einzulassen, hier zu Hause zu sein, das Gespräch
führen zu wollen und dafür zu sorgen, dass wir gemein-
sam in eine gute Zukunft gehen. Das zeigt: Was wir in
der letzten Legislaturperiode begonnen haben, hat sich
bewährt. Wir reden nicht übereinander, sondern wir re-
den miteinander. Das ist der entscheidende Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mann
und Frau, Religions- und Meinungsfreiheit dürfen nicht
nur auf dem Papier stehen, sondern sie müssen gelebt
werden – zuallererst in den Familien. Die Eltern stehen
hier in der Verantwortung. Wir wollen sie dabei auch un-
terstützen, damit Kinder aus Zuwandererfamilien die
Chance haben, in unserer Gesellschaft wirklich anzu-
kommen.

„Fördern und Fordern“ ist der zentrale Grundsatz
unserer Integrationspolitik. Er hat sich bewährt. Wir las-
sen niemanden allein. Wir kümmern uns. Aber ich er-
warte auch, dass die Integrationsangebote angenommen
werden,


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Wo ist das Geld dafür?)


seien es die Teilnahme an Integrationskursen, die Sprach-
förderung im Kindergarten, der regelmäßige Schulbesuch
oder der Abschluss einer Ausbildung.

Ich habe viele kennengelernt, die sich angestrengt ha-
ben und die erfolgreich sind. Ich erwähne den Enkel ei-
nes, wie wir früher gesagt haben, Gastarbeiters. Sein
Großvater ist aus der Türkei zu uns gekommen und war
Hilfsarbeiter in einem großen deutschen Unternehmen.
Sein Vater wurde Arbeiter. Er selbst hat studiert und ge-
hört heute zur Führungsmannschaft in diesem Unterneh-
men. Er ist einer der großen Brückenbauer zwischen Mi-
granten und Einheimischen in unserem Land. Solche
Vorbilder brauchen wir, und solche Vorbilder müssen wir
stärken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


2005 standen wir bei der Integration vor einem Berg
von Versäumnissen und Fehlentwicklungen.


(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Na, na!)


Die Integrationspolitik steckte damals noch in den Kin-
derschuhen.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wir haben unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
massiv umgesteuert. Denn mit Beliebigkeit und dem
Ausblenden der Wirklichkeit sind die Probleme nicht zu
meistern. Multikulti ist gescheitert. Das ist die Wahr-
heit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben viele Weichen neu gestellt: mit dem Inte-
grationsgipfel, der Islamkonferenz und dem Nationalen
Integrationsplan als dem ersten Gesamtkonzept mit
mehr als 400 Selbstverpflichtungen, die zu einem großen





Staatsministerin Dr. Maria Böhmer


(A) (C)



(D)(B)

Teil erfüllt sind. Wir können heute mit Fug und Recht sa-
gen: Deutschland steht im europäischen Vergleich gut
da. Ich denke in diesem Zusammenhang an die brennen-
den Vorstädte in Frankreich und an die Probleme in den
Niederlanden. Rechtspopulisten vergiften dort das Klima
und belasten das Zusammenleben. All das haben wir
nicht. Das soll auch so bleiben. Dafür setzen wir uns ein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sind so manchen unbequemen Weg gegangen. Ich
denke dabei an den Streit um Deutsch auf dem Schulhof.
Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Deutsch
die Schulsprache sein muss. Ich denke an die Verpflich-
tung zum Spracherwerb für Ehegatten im Herkunftsland.
Auch hierüber haben wir uns heftig gestritten, aber wir
haben diesen Vorschlag dann gemeinsam nach vorne ge-
bracht. Heute ist die Skepsis der Erkenntnis gewichen,
dass Spracherwerb ein Gewinn ist und dass so Zwangs-
verheiratungen verhindert werden können.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber noch nicht das Gesetz!)


Als es um die Einbürgerungstests ging, gab es auch
Streit in unserem Land. Aber heute ist klar – das sagen
mir auch viele Migrantinnen und Migranten, die deut-
sche Staatsbürger werden wollen –: Es ist von Vorteil,
wenn man über unser Land Bescheid weiß, denn man
will hier leben und die Rechte und Pflichten voll wahr-
nehmen. Dann gehört es auch dazu, dass man sich aus-
kennt.

Die Anstrengungen für die Integration haben sich ge-
lohnt. Das wird durch den Lagebericht belegt, den ich
dem Bundestagspräsidenten im Juli übergeben habe. Das
zentrale Ergebnis in diesem Bericht ist: Die Integration
in Deutschland gewinnt an Fahrt, aber wir müssen noch
an Tempo und an Intensität zulegen. Wir brauchen dazu
auch eine breite Diskussion in der Bevölkerung, damit
das, was wir in Gang gesetzt haben, auch entsprechend
mitgetragen wird.

Wir haben Fortschritte bei der Sprache, der Bildung
und der Ausbildung zu verzeichnen. Das Bildungsniveau
hat sich erhöht. Ich sage aber auch, dass es alarmierend
ist, dass die Zahl der Schulabbrecher nach wie vor zu
hoch ist: 13 Prozent bei den Migrantenjugendlichen im
Vergleich zu 7 Prozent bei den Jugendlichen ohne Mi-
grationshintergrund. – Das ist noch weit von der Zusage
entfernt, die die Länder uns im Nationalen Integrations-
plan gegeben haben, wonach die Quoten bis 2012 ange-
glichen sein sollen.

Deshalb brauchen wir mehr individuelle Förderung
in den Schulen. Wir brauchen mehr Lehrkräfte, wir brau-
chen mehr Schulsozialarbeiter, und wir brauchen mehr
Zeit. Wir brauchen aber auch mehr Ganztagsschulen, um
wirklich die individuelle Förderung dieser Kinder voran-
zubringen; denn sie sind nicht weniger begabt, sie sind
nur weniger gefördert, und sie sollen alle Chancen in un-
serem Land haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus. Viele
der Eltern, die hierhergekommen sind, kennen sich mit
unserem Bildungssystem nicht aus. Sie brauchen unsere
Hilfe und Unterstützung. Deshalb muss die Elternarbeit
in Kindergarten und Schule gestärkt werden, müssen In-
tegrationskurse gerade dort stattfinden.

Wie wollen wir in Zukunft weiter verfahren? Wir
müssen jetzt in eine zweite Phase der Integrationspoli-
tik eintreten, in eine Phase von mehr Verbindlichkeit.
Dabei kommt der zentralen Integrationsmaßnahme der
Bundesregierung, den Integrationskursen, große Bedeu-
tung zu. Es ist in der Tat das Erfolgsmodell für Integra-
tion in unserem Land. Ende des Jahres werden mehr als
700 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu zählen
sein. Was mich besonders freut, ist, dass zwei Drittel da-
von Frauen sind und dass viele von denen, die schon seit
vielen Jahren – 10, 12, 15 Jahre – in Deutschland leben,
jetzt sagen: Wir wollen endlich Deutsch lernen. – Unsere
Botschaft, dass Deutsch die Grundlage für ein gutes Zu-
sammenleben, für ein gutes Miteinander und für Teil-
habe in unserem Land ist, ist angekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wichtig ist: Jeder, der an einem solchen Kurs freiwil-
lig teilnehmen möchte – jeder Zweite tut das –, muss
auch in Zukunft die Chance dazu haben. Deshalb haben
wir die Haushaltsmittel noch einmal auf jetzt 233 Millio-
nen Euro erhöht. Das war angesichts knapper Kassen
wahrlich keine einfache Entscheidung, aber das ist ein
klares Signal dafür, dass wir alles dafür tun möchten,
dass die Integration in unserem Land klappt.

Ich will Integrationsvereinbarungen auf den Weg
bringen; denn ich möchte, dass wir auch hier mehr Ver-
bindlichkeit für beide Seiten haben: für die Migranten,
die dann wissen sollen, welche Angebote und welche
Hilfe sie erwarten können, und auch für uns. Denn wir
wollen im Rahmen dieser individuellen Integrationsver-
einbarungen festhalten, wo Nachholbedarf besteht: beim
Spracherwerb, bei der Bildung, bei der beruflichen Qua-
lifikation. Natürlich gehört dazu auch, dass die Eltern
ihre Kinder in den Kindergarten schicken, damit sie in
den Genuss der Sprachförderung kommen und damit sie,
wenn die Grundschule beginnt, dem Unterricht folgen
können; denn nur dann wird sich langfristig für diese
Kinder etwas verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die frühe Sprachförderung wurde, seitdem wir den
Nationalen Integrationsplan vorgelegt haben, in allen
Bundesländern realisiert. Es gibt überall Sprachstands-
tests, es gibt überall Sprachförderung. Aber ich bin sehr
nachdenklich geworden, als ich erfahren habe, dass trotz
alledem beispielsweise in Berlin noch immer 30 Prozent
und in Nordrhein-Westfalen 25 Prozent der Kinder ohne
ausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule kom-
men. Da stimmt doch etwas nicht. Hier sind die Länder
gefordert, zu überprüfen, wie wirksam diese Sprachför-
derung ist.

Ich will auch noch einmal an die Eltern appellieren.
Wenn Migranteneltern ihre Kinder seltener in den Kin-
dergarten schicken, dann heißt das: Gerade die Kinder,
die wir fördern wollen, kommen nicht in den Genuss der





Staatsministerin Dr. Maria Böhmer


(A) (C)



(D)(B)

Förderung. Deshalb bin ich für ein verbindliches letztes
Kindergartenjahr. Denn wir dürfen die Kinder nicht al-
lein lassen. Sie dürfen nicht diejenigen sein, die unter
den Versäumnissen ihrer Eltern leiden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Warum wollen Sie dann eine Prämie für diejenigen, die ihre Kinder zu Hause lassen? – Weiterer Zuruf von der SPD: Herdprämie!)


Wir haben in dieser Legislaturperiode ein großes Vor-
haben. Wir wollen es schaffen, dass die vielen Men-
schen, die in unser Land gekommen sind und über einen
guten beruflichen Abschluss verfügen, die hier arbeiten,
sich einbringen und unser Land voranbringen wollen, in
ihrem Beruf arbeiten können. Es darf nicht mehr sein,
dass sie wie früher in den Statistiken der Bundesagentur
für Arbeit als Unqualifizierte geführt werden. Ein Aner-
kennungsgesetz für die Anerkennung von im Ausland
erworbenen Abschlüssen wird ein Markstein der Integra-
tionspolitik in dieser Legislaturperiode sein. Es wird vie-
les verändern, was die Annahme der Migranten, das He-
ben von Potenzialen und die Anerkennung der Vielfalt
angeht. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz schnell.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Schnell! Nicht erst 2012!)


Es soll bis Dezember vorliegen. Das wird die Wende in
der Integrationspolitik deutlich unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bei allem, was wir diskutieren, müssen wir uns auch
schwierigen Fragen zuwenden. Schon in der letzten Le-
gislaturperiode habe ich immer wieder angemahnt, dass
die Gleichberechtigung von Frauen der Lackmustest
ist, wenn es um das Gelingen von Integration geht. Denn
es darf nicht sein, dass es in unserem Land, wo die
Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt, immer noch
vorkommt, dass Mädchen nicht an allen Unterrichtsfä-
chern teilnehmen dürfen und ihnen vom Elternhaus ver-
boten wird, zum Schwimmunterricht und zum Sport zu
gehen oder an Klassenfahrten teilzunehmen. Mädchen
müssen die gleichen Chancen haben wie alle anderen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir den Eltern sagen, wo die
Grenze liegt, damit die Kinder alle Chancen bekommen,
sich auf ein Leben in unserem Land vorzubereiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ganz besonders treibt mich die Tatsache um, dass es
auch in unserem Land Zwangsverheiratungen gibt. Ich
spreche mich deutlich dafür aus, dass wir jetzt einen ei-
genen Straftatbestand Zwangsverheiratung schaffen und
dass wir diesen mit einem Rückkehrrecht für die Mäd-
chen, die heiratsverschleppt sind, verknüpfen. Denn sie
sind gut integriert, und wir wollen, dass sie in unserem
Land ihren Weg gehen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Weil in den letzten Tagen so heftig über den Islam in
Deutschland gesprochen worden ist, will ich an einen
Satz von Wolfgang Schäuble erinnern: „Der Islam ist
Teil Deutschlands.“ Dieser Satz bleibt gültig. Es ist aber
genauso klar: Die Grundlage unseres Wertesystems und
auch unseres Grundgesetzes ist und bleibt die christlich-
jüdische Tradition. Klar ist auch: Für einen radikalen
Islam, der unsere Werte infrage stellt, ist kein Platz in
unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben keine schnellen Antworten. Wir werden
um so manche Frage ringen müssen. Ich nehme die
Ängste und Sorgen unserer Bevölkerung, der Migranten
und der Einheimischen, sehr ernst. Wir brauchen die
Diskussion, die momentan aufgekommen ist. Aber wir
müssen die Diskussion vor dem Hintergrund führen,
dass es um die Kernfragen unseres Landes geht: Was
hält uns zusammen? Wie wollen wir morgen leben? Er-
reichen wir wirklich eine Verständigung über diese ent-
scheidenden Fragen angesichts von vielfältigen kulturel-
len Veränderungen, die vielen jetzt erst deutlich werden?

Jeder Einzelne muss sich fragen, was er zum Zusam-
menhalt in unserer Gesellschaft beitragen kann. Ich
möchte, dass unser Land ein weltoffenes und tolerantes
Land bleibt und dass es ein Land ist, in dem Vielfalt ge-
schätzt wird. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706500200

Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1706500300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Manchmal hilft reden. Insofern war es gut, dass der Bun-
despräsident wiederholt hat, was der damalige Innen-
minister Schäuble in diesem Deutschen Bundestag vor
einiger Zeit sagte: Der Islam ist Teil Deutschlands. – Es
ist richtig, dass er das gesagt hat. Das wird deutlich,
wenn man sieht, wie darauf reagiert wird, wie viele sich
jetzt äußern und wie viele gerade auch der politischen
Anhänger von Wolfgang Schäuble nicht seiner Ansicht
sind. Manchmal muss man solche Reden so lange halten,
bis sich alle einig sind.


(Beifall bei der SPD)


Reden alleine hilft aber nicht. Gerade was Integra-
tionspolitik betrifft, gibt es eine große Kluft zwischen
Reden und Handeln, zwischen dem, was gesagt wird,
und dem, was getan wird. Ja, am Anfang ist es manch-
mal so, dass man noch ganz verzaubert zuhört, wenn ein
konservativer Politiker oder eine konservative Politike-
rin mit mehrjährigem Zeitverzug das richtig findet, was
gegen ihn bzw. sie durchgesetzt wurde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man erst mal hinkriegen! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)






Olaf Scholz


(A) (C)



(D)(B)

Ich finde, man muss es als großen gesellschaftlichen
Fortschritt begreifen, wenn das jemand jetzt erkennt und
das als neue Wahrheit verkündet, was bitter, anstrengend
und mühselig erreicht werden musste. Aber es ist
schlecht, wenn man dabei verharrt, wenn es diese „Bis
hier und nicht weiter“-Strategie gibt, die einen nie in die
Lage versetzt, den nächsten Schritt zu tun. Vor allem
kommt es darauf an – das gilt gerade im Hinblick auf die
Integrationspolitik –, dass man das Notwendige tut und
nicht nur darüber redet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt viele Theorien darüber, wie Politikverdros-
senheit in Deutschland entsteht. Meine These lautet:
Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist, dass viele Poli-
tiker oft das Richtige zu sagen wissen, aber nicht alle es
richtig finden, ihren Reden auch Taten folgen zu lassen.


(Beifall bei der SPD)


Gerade in der Integrationspolitik müssen wir die Bun-
desregierung und ihr Handeln deswegen kritisieren.

Zu den Integrationskursen. Wie wichtig es ist, dass
man Deutsch kann, dass man Deutsch lernt und dass In-
tegrationskurse angeboten werden, haben wir in den sehr
aufgeregten Debatten der letzten Wochen und Monate
gelernt; es ist so. Es war eine rot-grüne Bundesregie-
rung, die gegen den Willen konservativer Gegner durch-
gesetzt hat, dass es Integrationskurse gibt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!)


Es war eine von Sozialdemokraten und Grünen getra-
gene Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, dass das
eine Bundesaufgabe ist, weil sich andere vorher gar
nicht darum gekümmert hatten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun ist diese Sache aber ein so großer Erfolg gewor-
den, dass die Mittel, die bisher dafür eingeplant waren,
nicht mehr reichen. Es ist ganz furchtbar – ich sage aus-
drücklich: furchtbar –, dass wir eine Debatte über die
Frage führen, ob denn genügend an diesen Kursen teil-
nehmen, obwohl wir wissen, dass aufgrund der Tatsache,
dass nicht ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird,
nicht jeder, der es möchte, an einem solchen Kurs teil-
nehmen kann. Es werden einfach nicht ausreichend Gel-
der zur Verfügung gestellt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir haben die Mittel erhöht! Doppelt so viel wie unter RotGrün!)


Das ist das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Wir
brauchen an dieser Stelle Taten und keine Reden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Grindel, Sie haben gesagt, die Mittel seien sogar
erhöht worden. Das stimmt, aber die Mittel müssten
noch viel mehr erhöht werden, wenn man das ernst
nimmt. Denn es darf eigentlich nicht sein, dass viele Zig-
tausende wie in diesem Jahr die Kurse nicht wahrneh-
men können, weil Sie eine Prioritätenliste aufgestellt ha-
ben, aufgrund derer viele, die das freiwillig wollen, das
nicht tun können.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch gar nicht so!)


Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie sagen, es gebe eine
dreimonatige Wartezeit. Diese ist in der Realität nämlich
noch viel länger. Das alles ist ein Fehler.

Das Gleiche gilt für die aktive Arbeitsmarktpolitik.
Sie streichen hier Milliarden, und zwar all die Maßnah-
men, die Sie an anderer Stelle in Ihren Reden so richtig
finden, wenn es um Integration geht. Ich sage Ihnen: Ihre
Entscheidungen die Arbeitsmarktpolitik betreffend – das
zeigt der Bundeshaushalt – sind nichts anderes als ein
aktiver Kampf gegen erfolgreiche Integration in den
nächsten Jahren. Es ist falsch, was Sie dort machen. Es
müssen mehr Mittel für Qualifizierung und Arbeitsmarkt-
integration zur Verfügung gestellt werden, gerade für die
Gruppen, um die es hier geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wie sehr Sie distanziert sind, sieht man an Ihrem an-
haltenden und wieder aufflammenden Widerstand gegen
die Regelung, dass jeder, der arbeitslos ist, einen Schul-
abschluss nachholen kann. Es war übrigens ein sozialde-
mokratischer Arbeitsminister, der durchgesetzt hat, dass
in jedem Fall derjenige, der nicht über ausreichende
Sprachkenntnisse verfügt und arbeitslos ist, zuerst die
Sprache erlernen muss und dass es ein entsprechendes
Angebot gibt. Wenn das alles so ist, dann darf man nicht
nur darüber reden. Dann muss man auch entsprechend
handeln. Bei Ihnen fehlen die Taten. Sie reden nur. Das
ist zu wenig.


(Beifall bei der SPD)


Es ist notwendig, dass die Betreffenden etwas tun, um
sich zu integrieren, dass sie sich anstrengen und bemü-
hen. Was wäre ein größeres Zeichen als die Aussage:
„Wer in Deutschland einen Schulabschluss macht, der
kann seinen Aufenthaltsstatus damit verbessern und
muss als Kind nicht in einem Duldungsstatus verblei-
ben“? Wo bleibt Ihre entsprechende Regelung? Wir, die
sozialdemokratische Fraktion, haben längst einen ent-
sprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Sie reden nur und
lassen nicht die notwendigen Taten folgen. Das ist das
Problem.


(Beifall bei der SPD)


Das Gleiche gilt für die Thematik des Anerken-
nungsgesetzes. In der letzten Legislaturperiode waren
Sie erst gar nicht dafür; dann waren Sie dafür, eine Rege-
lung ohne Gesetz zu machen, bei der sich alle ein biss-
chen abstimmen. Dann haben Sie in Ihren Koalitionsver-
trag die vorher abgelehnte Regelung hineingeschrieben,
und nun ist das Gesetz immer noch nicht da. Jetzt wird
es uns für Dezember angekündigt. Dabei ist die Materie
so einfach; das Gesetz hätte längst beschlossen werden
können, wenn es nicht an irgendwelchen Widerständen
scheiterte, die Sie bisher offenbar nicht überwinden





Olaf Scholz


(A) (C)



(D)(B)

konnten. Wir brauchen ein Anerkennungsgesetz, wir
brauchen Taten und nicht weitere Reden zu diesem
Thema.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich ist auch ein Bestandteil dessen, was not-
wendig ist, dass wir uns darum kümmern, dass diejeni-
gen, die hier als Deutsche aufgewachsen sind, dies auch
bruchlos fortsetzen können. Die Optionspflicht, die in
unserem Staatsangehörigkeitsrecht enthalten ist, gehört
abgeschafft. Sie ist ein falsches Mal gegen die Integra-
tion;


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


es ist die falsche Botschaft, die an dieser Stelle ausge-
sandt wird. Auch hier reden Sie nur darüber, dass man
das einmal prüfen solle. Es wäre eine Tat notwendig, und
das Gesetz ist schnell und einfach gemacht. Wir hätten
es längst beschließen können.

Das ist es, was wir meines Erachtens hinbekommen
müssen. Wir müssen endlich den vielen Reden, die man
ständig hört, Taten folgen lassen, damit es stimmt, was
wir sagen. Jeder, der jetzt Deutsch lernen und die ent-
sprechende Arbeitsmarktintegration erlangen will, der
will, dass sich sein Kind auf der Schule anstrengt, soll
wissen, dass es nach unseren Ankündigungen auch Fol-
gen geben wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass dies
für jedes Detail zutrifft. Deshalb fordere ich Sie auf: Be-
schränken Sie sich nicht allein auf die Rede, sondern
wenden Sie sich der Tat zu! Das ist es, was jetzt in
Deutschland notwendig ist, und das wäre ein wirklicher
Fortschritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706500400

Für die FDP erhält der Kollege Hartfrid Wolff jetzt

das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verbind-

lichkeit ist das Schlüsselwort des vorliegenden achten
Ausländerberichts. Verbindlichkeit ist das Schlüssel-
wort für erfolgreiche Integration und für erfolgreiche In-
tegrationspolitik. Die FDP begrüßt den Wandel der Prio-
ritäten in der migrationspolitischen Debatte, den Wandel
hin zu einem Fördern und Fordern, mit verbindlichen
Leistungen von beiden Seiten.

Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland.
Wer unseren Staat und unser Land immer nur kritisch
beäugt, kann nicht erwarten, dass Zuwanderer sich damit
identifizieren. Die kurdischstämmige deutsche Journa-
listin Mely Kiyak hob in einem Beitrag für das Goethe-
Institut hervor, sie habe keine Angst vor Worten wie
Kultur, Nation und Deutsch. Diese Worte seien aus ihrer
Sicht angefüllt mit vielem, was ihr gefällt, mit Goethe,
Schiller oder Heine. Sie forderte uns auf, wieder deutlich
selbstbewusster mit unseren Worten, unserer Sprache
umzugehen.

Wir sollten dieses Kompliment an unser Land nicht
entwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwande-
rer auf ein Maß reduzieren, das diesen Menschen nichts
mehr zutraut. Ich meine, wir sollten sie als freie und
kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unterneh-
men, sich in unserer Gesellschaft einzubringen. Wir wol-
len sie dabei fördern, aber auch ganz klar etwas von ih-
nen fordern. Migranten müssen sich verbindlich in
unsere Gesellschaft integrieren, sich mit ihr verbinden,
und die Politik muss dafür den verbindlichen Rahmen
setzen und die nötigen Hilfestellungen leisten.

Die FDP will die Chancen der Zuwanderung in den
Mittelpunkt stellen. Dabei muss der Zusammenhalt der
durch Zuwanderer bereicherten deutschen Gesellschaft
im Zentrum stehen. Wer dauerhaft hier leben möchte,
der muss die eigene Integration aktiv voranbringen und
die gebotenen Chancen ergreifen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland ist nach der hierzulande gesprochenen
Sprache benannt. Es ist eine lebendige, eine aufneh-
mende und eine einnehmende Sprache. Auch deshalb ist
die Kenntnis der deutschen Sprache unerlässliche Vo-
raussetzung für die Integration. Sie zu lernen ist für alle
Zuwanderer verpflichtend und eröffnet Chancen, und
zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Deutsch ist inner-
halb der EU die größte Muttersprache. Weltweit spre-
chen es rund 110 Millionen Menschen. Im Internet ist
Deutsch nach Englisch die am meisten benutzte Sprache.
Bei Übersetzungen ist Deutsch die größte Ziel- und dritt-
größte Quellsprache überhaupt. Die Integrationskurse
sind das wichtigste Instrument von Bundesseite gerade
für den Spracherwerb. Wir haben sie gestärkt und stehen
zu diesem außerordentlich wichtigen Beitrag des Bun-
des. An der Zielgenauigkeit und Effizienz werden wir
weiter arbeiten.

Die FDP will Sprachstandstests für alle Kinder im
Alter von vier Jahren, damit sie alle die gleichen Chan-
cen bekommen. Bei Bedarf sind eine gezielte Sprach-
förderung vor Eintritt in die Schule sowie darüber
hinausgehende unterrichtsbegleitende Sprachprogramme
notwendig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was will die Bundesregierung?)


In Deutschland gilt die Meinungs- und Religions-
freiheit. Dies ist fundamental für unsere Werteordnung,


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch in Stuttgart!)


und dazu gehört auch, Religionen kritisieren und kari-
kieren zu dürfen. Religionsfreiheit ist kein Freibrief,
sondern findet ihre Grenzen in anderen Grundrechten
unserer Verfassung. Toleranz gegenüber religiösen Über-
zeugungen und Praktiken endet da, wo die freiheitlich-
demokratische Grundordnung infrage gestellt wird oder





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

Grundrechte verletzt werden. Vermeintlich religiöses
Brauchtum oder Traditionen müssen kritisch hinterfragt
werden, wo sie der Kultivierung von Werten dienen, die
im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes
stehen. Das Bekenntnis zu einer Religion berechtigt
nicht zur Aufhebung der Schulpflicht, berechtigt nicht
zur Befreiung von ordentlichen Unterrichtsfächern wie
Sport und Schwimmen oder zur Nichtteilnahme an
Schullandheimaufenthalten.

Wenn heute der Islam, wie es Bundespräsident Wulff
richtig sagte, zur Wirklichkeit der deutschen Gesell-
schaft gehört, so beruht doch das Wertefundament unse-
rer Kultur und Rechtsordnung auf der griechischen und
römischen Antike und auf der christlich-jüdischen Tradi-
tion. Wer sich dauerhaft in Deutschland niederlässt, ak-
zeptiert das mit diesem Schritt. In Deutschland gilt die
Gleichberechtigung der Frau, und das ist für alle hier-
zulande verbindlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Zwangsheirat etwa ist damit unvereinbar. Wir
werden noch in diesem Jahr einen eigenständigen
Straftatbestand zur Bekämpfung der Zwangsheirat ein-
bringen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwangsheirat ist schon strafbar! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie für die Opfer tun?)


Dabei müssen nicht nur die Täter bestraft, sondern auch
die Opfer unterstützt werden, etwa indem wir die Hür-
den beim Rückkehrrecht für Zwangsverheiratete ab-
bauen.

Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwande-
rung in einen leeren Raum, sondern in eine in zwei Jahr-
tausenden gewachsene Kulturlandschaft. Als Sprach-,
Rechts- und Wertegemeinschaft räumen wir Zuwande-
rern die Möglichkeit ein, diese Errungenschaften zu nut-
zen und zu teilen. Umgekehrt ist niemand gezwungen, in
Deutschland zu leben, der das nicht will.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706500500

Herr Kollege, schauen Sie bitte gelegentlich auf die

Uhr.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Vielen Dank, das werde ich tun. – Wir können es er-

reichen, dass statt abgeschotteten Parallelgesellschaften
eine Verbindung zwischen Alteingesessenen und Zu-
wanderern entsteht. Die Koalition wird dieses durch För-
dern und Fordern gestalten und so den Zusammenhalt
unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft
stärken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706500600

Das Wort erhält nun der Berliner Bürgermeister und

Senator Harald Wolf.


(Beifall bei der LINKEN)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1706500700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

in dieser Republik in den letzten Wochen eine intensive
Diskussion über Integration, über Einwanderung ge-
führt. Es war eine Diskussion, in der uns viele Beiträge
nicht unbedingt klüger gemacht haben.


(Rüdiger Veit [SPD]: Sehr wahr!)


Das gilt zuallererst für meinen Exkollegen Sarrazin.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer eine ganze Bevölkerungsgruppe, wer eine ganze
Religionsgemeinschaft für nicht integrationsfähig er-
klärt, wer sagt: „Von denen sind zu viele hier, und die
sind per se dümmer als die anderen“, der leistet keinen
Beitrag zur Integration, der grenzt aus, der schürt
dumme Ressentiments und rassistische Vorurteile, und
das ist alles andere als das, was wir brauchen in diesem
Land.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage aber auch – ich teile vieles von dem, was Sie
gesagt haben, Herr Scholz –: Wenn eine Partei feststellt,
dass es in ihrer Anhängerschaft Sympathien für diese
Auffassung gibt


(Thomas Oppermann [SPD]: Wovon reden Sie eigentlich?)


und sie dann in der Diskussion einen Schwerpunkt da-
rauf legt, dass Integrationsverweigerung – das ist ja
neuerdings das Wort – mit Sanktionen belegt werden
muss, dann geht sie am eigentlichen Thema vorbei, näm-
lich an der Fragestellung: Was sind die Ursachen für die
von ihr beklagte Abschottung, die es bei einzelnen Tei-
len der Migrationsbevölkerung in der Tat gibt? Das ist
nämlich die Tatsache, dass diese Gesellschaft ihnen
nicht gleiche Rechte, nicht gleiche Teilhabe gewährt und
sie in dieser Gesellschaft nicht sozial partizipieren lässt.
Da liegt die Ursache, und daran müssen wir arbeiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesem
Land ein Selbstverständnis darüber, dass wir Einwande-
rung wollen, dass wir eine positive Grundhaltung zur
Einwanderung haben. Das ist auch die Voraussetzung
dafür, dass wir die Konflikte, die mit Einwanderung ver-
bunden sind, bewältigen, diskutieren und austragen kön-
nen.

Hier ist mehrfach das Stichwort Zwangsverheira-
tung gefallen. Natürlich ist dies etwas, was wir in
Deutschland nicht akzeptieren können und was auch
nicht akzeptabel ist; darin sind wir uns alle einig. Ich
sage aber: Wir müssen auch darüber reden, was alles
hinter deutschen Wänden geschieht, welche Gewalt ge-
gen Frauen ausgeübt wird. Das ist ein gesellschaftliches
Problem und nicht nur ein Migrationsproblem.


(Beifall bei der LINKEN)






Senator Harald Wolf (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

Ich bin froh, dass der Bundespräsident in seiner Rede
eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hat, um nicht
zu sagen, eine Banalität, nämlich die Banalität, dass,
wenn wir eine Vielzahl von Menschen haben, die einge-
wandert und islamischen Glaubens sind, die Bestandteil
dieser Gesellschaft sind, damit auch der Islam Bestand-
teil dieser Gesellschaft ist. Das ist eine Banalität, meine
Damen und Herren, und ich bin erstaunt darüber, dass es
angesichts dessen jetzt wieder diese unsägliche Diskus-
sion zum Beispiel in den Reihen der CDU/CSU über die
Frage gibt, was denn die Leitkultur in Deutschland ist.
Wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zur Leitkultur,
dann sagt man diesen Menschen, dass sie nicht zu uns
gehören. Genau das ist die Botschaft, die man auch wie-
der nicht braucht.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Vielmehr müssen wir klar sagen: Das, was hier Leitkul-
tur ist, sind Demokratie und Menschenrechte und sonst
nichts, keine Weltanschauungen und keine religiösen
Auffassungen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir eine Will-
kommenskultur gegenüber Einwanderern in diesem
Land brauchen. Dies setzt natürlich auch voraus, dass
wir die Immigrantinnen und Immigranten fördern. Sie
haben in Ihrer Rede auch gesagt, Frau Böhmer, dass dies
notwendig ist, und an den schönen Leitsatz erinnert, den
wir auch aus anderen Bereichen kennen: Fördern und
Fordern. Ich stelle allerdings fest, dass das Fordern deut-
lich stärker als das Fördern betont wird. Herr Scholz hat
angesprochen, dass die Mittel für Integrationskurse und
Deutschkurse nicht ausreichend sind. Teilweise konnten
Maßnahmen in diesem Jahr wegen fehlender Mittel nicht
durchgeführt werden. Deshalb sage ich: Es ist Integra-
tionsverweigerung vonseiten der Bundesregierung, wenn
hier keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestellt
werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme aus einem Bundesland, in dem über
40 Prozent der unter 18-Jährigen einen Migrationshin-
tergrund haben. Wir können uns Integrationsverweige-
rung nicht leisten. Integration ist eine zentrale Zukunfts-
frage für unsere Stadt: die Frage, wie wir den Menschen,
die eingewandert sind, gleiche Teilhabe, gleiche Chan-
cen in unserer Stadt geben können. Das geht allerdings
nur mit entsprechenden Anstrengungen und Maßnah-
men. Wir haben zum Beispiel in den letzten sechs Jahren
große Fortschritte bei der Reduzierung der Anzahl der
Jugendlichen mit Migrationshintergrund erzielt, die
die Schule ohne Abschluss abgebrochen haben. Inner-
halb von sechs Jahren konnte deren Anteil um 50 Pro-
zent reduziert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Er ist immer noch zu hoch; aber eine Reduktion um
50 Prozent zeigt: Wenn man sich den Menschen zuwen-
det, wenn man politische Maßnahmen ergreift, dann
kann man auch die Abbrecherquote und das Bildungs-
versagen reduzieren.

Deshalb haben wir in den zwei Legislaturperioden, in
denen diese Koalition in Berlin regiert, zwei Integra-
tionskonzepte mit dem Motto aufgelegt: Vielfalt fördern,
Zusammenhalt stärken. Das ist unser Motto in der Inte-
grationspolitik. Dabei ist die Bildungspolitik eine
Schlüsselfrage. Wir brauchen eine Veränderung der In-
stitutionen in unserem Bildungssystem. Bildung darf
nicht mehr ausgrenzend sein. Wir kommen auch hier, bei
der Integrationspolitik, wieder zu diesem Thema. Wir
brauchen ein Schulsystem, das nicht die Segregation för-
dert, das nicht die Kinder frühzeitig auseinandersortiert:
nach Einkommen der Eltern, nach Herkunft, nach Natio-
nalität und nach Religion, sondern wir brauchen ein inte-
gratives Schulsystem, in dem die Kinder möglichst lange
gemeinsam lernen, damit sie auch voneinander lernen
können und damit die Integration vorangetrieben werden
kann.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Deshalb haben wir uns in Berlin dafür entschieden,
die Hauptschule abzuschaffen. Die Hauptschule ist eine
Restschule gewesen, in die frühzeitig diejenigen aussor-
tiert worden sind, von denen man gesagt hat: Sie haben
keine ausreichende Chance. – Es ist ein Verbrechen an
den Kindern gewesen,


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


ihnen im frühesten Alter zu sagen: Ihr habt keine Per-
spektive mehr in dieser Gesellschaft.

Das war auch die Grundlage dafür, dass es zu Zustän-
den wie an der Rütli-Schule gekommen ist. Wir haben an
der Rütli-Schule eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen.
Sie ist heute eine Vorzeigeschule, an der es gute Bil-
dungserfolge und gute Abschlüsse gibt.

Wir haben das Ganztagsangebot ausgebaut. Mit un-
serer Schulreform, bei der wir die Sekundarschule einge-
führt haben, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule zu-
sammengefasst worden sind und die bis zum Abitur
führen kann, haben wir ein verbindliches Ganztagsange-
bot geschaffen. Im Jahr 2011 werden alle Kitajahre ge-
bührenfrei sein. Auch das ist eine wichtige Vorausset-
zung für Integration und dafür, dass alle in diesem Land
die gleiche Chance haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bildung ist das eine Thema, Arbeit ist das andere
Thema. Das Stichwort Berufsabschlüsse ist schon ange-
sprochen worden. Wir haben qualifizierte Menschen in
diesem Land, die einen Berufsabschluss haben, die in
diesem Beruf aber nicht arbeiten können. Das ist unter
dem Gesichtspunkt der Integrationspolitik nicht akzepta-
bel. Es ist aber auch unter dem Gesichtspunkt der wirt-
schaftlichen Zukunft dieses Landes nicht akzeptabel,
dass man die Fähigkeiten, die Qualifikationen und die
Talente Zehntausender Menschen ungenutzt lässt und sie





Senator Harald Wolf (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

da vom Arbeiten abhält, wo sie ihre Qualifikationen und
ihre Fähigkeiten einbringen könnten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb brauchen wir dringend die Regelung zur Aner-
kennung der Berufsabschlüsse.

Wenn Menschen mit einem ungesicherten Aufent-
haltsstatus per Gesetz vom Arbeiten abgehalten werden,
braucht man sich nicht zu wundern, dass Integration
nicht funktioniert. Wir müssen für die Menschen, die
dauerhaft hier leben, auch dann, wenn sie einen ungesi-
cherten Aufenthaltsstatus haben, den gleichen Zugang
zu Bildung und Arbeit gewährleisten. Das ist eine zen-
trale Voraussetzung für Integration und dafür, dass die
Einwanderung in dieses Land gelingt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört noch etwas, meine Damen und Herren:
gleiche politische Rechte in diesem Land. Nur wer hier
mitbestimmen kann, nur wer hier an politischen Ent-
scheidungen gleichberechtigt mitwirken kann, wird sich
auch mit diesem Gemeinwesen identifizieren können.
Man kann doch nicht glauben, dass Menschen, die man
vom Wahlrecht ausschließt, die politischen Entscheidun-
gen, die ohne ihre Mitwirkung getroffen werden können,
mit Begeisterung hinnehmen. Selbst von denen, die das
Wahlrecht haben, werden nicht alle politischen Entschei-
dungen mit Begeisterung hingenommen.


(Jörg van Essen [FDP]: Hauptsache, sie werden hingenommen! – Rüdiger Veit [SPD]: Oder die Begeisterung lässt nach!)


Das heißt, wir brauchen eine Entwicklung, bei der wir
den Menschen, die in dieses Land eingewandert sind,
gleiche Teilhabe am politischen Geschehen ermöglichen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir brauchen eine Öffnung aller gesellschaftlichen
Institutionen. Wir brauchen mehr Menschen mit Migra-
tionshintergrund im öffentlichen Dienst. Wir müssen in
den Unternehmen das Bewusstsein dafür schaffen, dass
zu ihren Kunden auch Menschen mit Migrationshinter-
grund zählen, dass sich das auch in den Belegschaften
und in den Führungsebenen widerspiegeln muss.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir haben gegenwär-
tig in der deutschen Medienlandschaft einen Migrations-
anteil von 2 Prozent. Wenn wir der gesellschaftlichen
Realität in diesem Land Rechnung tragen würden,
müsste dieser Anteil fast zehnmal so hoch sein. Das
zeigt, welche Aufgabe wir noch vor uns haben, um in der
Integration weiter voranzukommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist eine
große Herausforderung, daran zu arbeiten, dass es so-
ziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe für alle Men-
schen, die in diesem Land leben, gibt. Für uns stellen In-
tegration, gleichberechtigte Teilhabe und gleiche
Chancen für Menschen, die in dieses Land eingewandert
sind, eine zentrale Frage der Demokratie und der so-
zialen Gerechtigkeit dar. Hiermit sind neue Probleme
verbunden, und hierdurch werden neue Fragen aufge-
worfen; so besteht etwa ein erheblicher Veränderungsbe-
darf auch im Institutionensystem der Bundesrepublik
Deutschland. Wir können nicht nur Veränderungen bei
denen, die die hier eingewandert sind, verlangen; nein,
diese Gesellschaft muss sich ändern, damit sie für Men-
schen mit Migrationshintergrund aufnahmefähig wird
und ihnen gleiche Chancen eröffnet.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706500800

Der Kollege Memet Kilic ist der nächste Redner für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706500900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Lagebericht der Integrationsbeauftragten ist zwar er-
neut ein profundes Nachschlagewerk, aber man fragt
sich auch: Wie will die Bundesregierung die dargestell-
ten Probleme lösen? Wofür steht diese Bundesregierung
überhaupt? Diese Fragen drängen sich auf, auch und ge-
rade nach der inzwischen fünfjährigen Amtszeit von
Frau Dr. Böhmer. Das Fehlen notwendiger Schlussfolge-
rungen aus ihrem Lagebericht ist Ausdruck der Ideen-
und Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Frau
Dr. Böhmer nicht als Fürsprecherin von Migrantinnen
und Migranten versteht, sondern vielmehr als Sprach-
rohr der konservativen Regierung. Besonders deutlich
wird dies daran, dass gleichzeitig zu der anhaltenden De-
batte über vermeintliche Integrationsverweigerer Kür-
zungen bei den Integrationskursen vorgenommen wer-
den. Im Laufe dieses Jahres hat die Bundesregierung
erhebliche Kürzungen bei den Integrationskursen durch-
geführt. So wurde insbesondere die Kurszulassung von
freiwilligen Teilnehmern eingeschränkt, was dazu führt,
dass bereits heute 9 000 hochmotivierte Einwanderinnen
und Einwanderer auf einen Kursplatz warten müssen.
Bis zum Jahresende wird wegen der Einsparmaßnahmen
der Bundesregierung voraussichtlich sogar 20 000 inte-
grationswilligen Personen der Besuch von Deutschkur-
sen verwehrt. Was haben Unionspolitiker dagegen ge-
tan? Gar nichts! Sie haben nichts Besseres zu tun, als
aufgeregt über weitere Verschärfungen zu reden. Das ist
ein falscher Weg. Das ist ein Irrweg. Das ist unverant-
wortlich.





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Erstens wissen wir überhaupt nicht, wie viele Inte-
grationsverweigerer es tatsächlich gibt. Nur 40 Prozent
der Einwanderer sind zur Teilnahme verpflichtet;
60 Prozent besuchen die Integrationskurse freiwillig.
Wie viele Einwanderer sich ihrer Teilnahmepflicht aus
welchen Gründen entziehen, wird überhaupt nicht
erfasst. Auf meine schriftliche Frage, wie die Zahl von
10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer ermittelt wurde,
bekam ich eine hilflos zusammengewürfelte Antwort mit
Verweis auf verschiedenste Studien, die diese Aussage
allerdings überhaupt nicht stützten. Die Studien sagen
nichts über den Integrationswillen von Einwanderern aus
und beziehen sich überhaupt nur auf bestimmte Teile der
Einwanderer.

Zweitens gibt es bereits eine Reihe von Sanktions-
möglichkeiten. Sie reichen von Bußgeld über die Strei-
chung von Sozialhilfe bis hin zur Ausweisung.

Solange die Zahl der Integrationsverweigerer unbe-
kannt ist und die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten
angeblich nicht genutzt werden, ist die Forderung nach
weiteren Verschärfungen völlig absurd und mehr als är-
gerlich. Denn die unseriösen Aussagen über integra-
tionsunwillige Migranten prägen zu Unrecht ein negati-
ves Bild von Einwanderinnen und Einwanderern. Das
darf nicht sein. Unsere Mitmenschen haben das nicht
verdient, meine Damen und Herren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Nach jüngsten Umfragen haben 68 Prozent aller deut-
schen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unseren Mi-
granten positive persönliche Erfahrungen gemacht. Das
ist der beste Beweis dafür, dass entsprechende Phantom-
debatten nur unserem Zusammenhalt schaden und das
Klima vergiften können. Sie bringen nichts. Deshalb
müssen wir diese Debatten wirklich unterlassen.

Auch in anderen Bereichen wie der Einbürgerung
und der Bildung, dem Kernstück einer erfolgreichen In-
tegrationspolitik, offenbart der Lagebericht den Reform-
unwillen der Bundesregierung und die Untätigkeit der
Integrationsbeauftragten. Die ohnehin niedrigen Ein-
bürgerungszahlen sind seit 2004 um rund ein Fünftel
eingebrochen. In Ihrem Lagebericht findet sich kein
Wort dazu, inwiefern das Ausklammern des Themas
Einbürgerung bei den Integrationsgipfeln, die Verschär-
fung bei den Einbürgerungsmöglichkeiten oder das
ideologische Festhalten an der Vermeidung der Mehr-
staatigkeit zu dieser Entwicklung beigetragen haben,
und kein Vorschlag dazu, wie die Integrationsbeauf-
tragte gegensteuern möchte. Keine Meinung, keine Ah-
nung, kein Konzept – so sieht es aus!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Der Lagebericht enthält auch keine Vorschläge zu
Strukturänderungen und keine Empfehlungen an die
Bundesländer für den Bildungsbereich. Nach wie vor
verlassen Jugendliche mit Migrationshintergrund die
Schule annähernd doppelt so häufig ohne Abschluss wie
die ohne Migrationshintergrund. Was sind also die Ver-
sprechungen der Bundesregierung auf den diversen Inte-
grations- und Bildungsgipfeln wert?

Wir brauchen ein neues Bildungssystem, das Kinder
unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dabei fördert,
die Schule bis zum Abitur zu besuchen. Das Dreiklas-
senschulsystem aus dem 19. Jahrhundert bewirkt mit sei-
ner sozialen Selektion genau das Gegenteil. Neunjährige
Kinder haben Zukunftsängste, weil sie nicht wissen, bei
welcher Schulart sie landen. Wenn sie auf der Haupt-
schule landen, wissen sie, dass sie auf das Abstellgleis
gestellt worden sind. Das kann nicht die Zukunft unserer
Republik sein. Wir müssen dieses Schulsystem reformie-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wer sich jedoch wie die Bundesregierung hartnäckig
weigert, hier ein Problem der strukturellen Diskriminie-
rung zu erkennen, ist auch nicht in der Lage, adäquate
Lösungsvorschläge zu entwickeln.

Sehr geehrte Frau Böhmer, es ist nicht sachgemäß, die
Integration auf Sprachkenntnisse zu reduzieren. Integra-
tion ist Teilhabe. Wir müssen erklären, was wir mit den
jungen Menschen machen, die bereits sehr gut Deutsch
können. Die Migrantenkinder der dritten Generation ha-
ben ein Studium an einer der Universitäten dieses Lan-
des absolviert, sind aber oft nur gut genug, um Taxi zu
fahren.

Wir müssen erklären, warum in unserem öffentlichen
Dienst so wenige Migrantenkinder beschäftigt sind. Die
größte Parallelgesellschaft in unserem Land ist der öf-
fentliche Dienst;


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Dr. Böhmer hat zwar eine Migrantenquote von
20 Prozent im öffentlichen Dienst gefordert; aber ihren
schönen Worten folgen keine Taten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706501000

Herr Kollege, bitte werfen Sie einen Blick auf die

Uhr.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706501100

Gerne. – Die populistischen Grabenkämpfe zwischen

„uns“ und „denen“ helfen uns wirklich nicht; eine Stig-
matisierung ist nicht hilfreich. Deshalb meine ich: Wir
müssen ein Wirgefühl entwickeln. Dies ist unser Land;
wir Einwanderer und unsere Nachkommen lieben unser
Land Deutschland. Wir werden unsere freiheitliche de-





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)

mokratische Grundordnung mit verteidigen. Wir werden
unser Land Hand in Hand zu einem besseren Deutsch-
land machen, in einem besseren Europa und einer besse-
ren, friedlicheren Welt; das ist unser Anspruch, unser
Traum.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706501200

Das Wort hat nun der hessische Ministerpräsident

Volker Bouffier.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1706501300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hessi-

sche Landesregierung hat dem Thema der Integration
seit über zehn Jahren eine besonders wichtige Rolle zu-
gewiesen.


(Zuruf von der SPD: Das stimmt doch gar nicht!)


Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass unsere Politik
bundesweite Anerkennung erfahren hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte deshalb in dieser Debatte einige Bemerkun-
gen machen; sie werden sich unter anderem von dem,
was Sie, Herr Senator Wolf aus Berlin, dazu ausgeführt
haben, deutlich unterscheiden.

Wir haben als Erste in Deutschland auf Landesebene
einen Integrationsbeirat geschaffen. Wir waren die Ers-
ten in Deutschland, die Deutschkurse vor der Einschu-
lung für alle Kinder verbindlich eingeführt haben. Wir
waren die Ersten, die – sehr präzise – Einbürgerungs-
kurse gefordert haben. Herr Kollege Scholz, ich kann
mich sehr gut erinnern, dass diese Forderung damals
heftigst umstritten war, nicht zuletzt bei SPD und Grü-
nen. Heute ist das in Deutschland Allgemeingut. Das ist
gut so. Deshalb können wir zunächst gemeinsam fest-
stellen: Wir sind weitergekommen,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Und ihr habt Unterschriften gesammelt!)


nicht zuletzt deshalb, weil manche von Illusionen Ab-
schied genommen haben.

Überhaupt möchte ich feststellen, dass wir in
Deutschland die Herausforderungen der Integration bes-
ser bewältigt haben als manche unserer Nachbarländer.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da hat er recht!)


Diese Erfolge sind auch das Ergebnis der Arbeit der
Bundesregierung


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Mehrerer Bundesregierungen!)

und insbesondere der Beauftragten Frau Staatsministerin
Böhmer. Ihnen möchte ich für Ihre Arbeit herzlich dan-
ken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lieber Kollege Scholz, Ihre Bemerkung war durchaus
interessant, aber sie war falsch. Es war nicht die rot-
grüne Bundesregierung, sondern die Bundesregierung,
die von Angela Merkel geführt wurde, die den Nationa-
len Integrationsplan, den Integrationsgipfel und die
Islam-Konferenz eingeführt hat. Dies hätten Sie auch
alles tun können. Warum Sie es nicht getan haben, weiß
ich nicht.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie damals im Bundesrat alles zertrümmert haben!)


Dass es eine christdemokratisch geführte Bundesregie-
rung war, die dies eingeführt hat, erwähne ich heute mit
Dankbarkeit und mit Stolz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Eine Showveranstaltung!)


Der vorgelegte Bericht ist Zeugnis vielfältiger Initiati-
ven und Aktivitäten. Er bietet eine Fülle von Informatio-
nen. Er zeigt Erfolge auf, und er weist auf Defizite hin.
Wenn wir die Debatte offen und gründlich führen wol-
len, müssen wir alle zugeben, dass wir bei der Integra-
tion an vielen Stellen noch am Anfang stehen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie lange noch?)


Nicht zuletzt die heftigen Debatten der letzten Wochen
haben uns gezeigt, wie groß die Herausforderungen auf
diesem Wege noch sind.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Außer in Hessen!)


Viele Menschen in unserem Land empfinden das
sichtbare Ausbreiten fremder Kulturen nicht als Be-
reicherung, sondern als Bedrohung ihrer Identität. Nicht
selten haben die Menschen das Gefühl, dass die Politik
ihre Sorge nicht ernst nehme,


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie schüren doch die Ängste!)


dass falsch verstandene Political Correctness dafür
sorge, dass man über diese Themen am besten nicht
spreche.


(Mechthild Rawert [SPD]: Jetzt bin ich gespannt, was als Nächstes kommt!)


Nur so kann man sich die massive Wirkung der Thesen
eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der Deutschen
Bundesbank erklären. Es ist deshalb unsere gemeinsame
Pflicht, diese Sorgen aufzunehmen und bei den Bürgern
das verlorengegangene Vertrauen wiederzuerwerben. Es
ist gut, dass wir diese Debatte engagiert und gründlich
führen. Ein Klima des Misstrauens kann weder für die
angestammte Bevölkerung noch für die Zuwanderer jene





Ministerpräsident Volker Bouffier (Hessen)



(A) (C)



(D)(B)

Grundlage schaffen, die wir für gelungene Integration
brauchen.

Wir müssen diese Debatte offen, ohne Scheuklappen
und ohne Schaum vor dem Mund führen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Und menschenwürdig!)


Wir müssen klar sagen: Gelungene Integration wird län-
ger brauchen, als viele dachten, sie wird schwieriger
sein, als sich viele erhofften, und sie wird von uns allen
mehr Kraft einfordern, als die meisten glauben. Sie wird
und sie kann nur gelingen, wenn wir die Diskussion da-
rüber engagiert und sachlich zugleich führen, mit Sorg-
falt in der Sprache, mit Klarheit in der Sache und in ge-
genseitigem Respekt.

Frau Professor Böhmer hat recht – das haben alle
Redner eingeräumt –: Es ist eine Schlüsselfrage für un-
ser Land, wie es uns gelingt, vom Nebeneinander, vom
gelegentlichen Gegeneinander zu einem echten Mitein-
ander zu kommen, um gemeinsam die Grundlagen für
Erfolg und für friedliche Entwicklung für alle Seiten zu
legen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das lernen wir von der hessischen CDU!)


Wenn das die Aufgabe ist – darauf müssten wir uns ge-
meinsam verständigen können –, dann wird uns dies
nicht gelingen ohne einen Kompass, der uns anzeigt, wie
und wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll.

In diesem Zusammenhang ist oft und aus meiner
Sicht häufig sehr verkrampft auf den Begriff der Leit-
kultur verwiesen worden. Ich halte es für eine Selbst-
verständlichkeit, dass der Weg in eine gemeinsame Zu-
kunft Leitplanken braucht, wenn er nicht zum Irrweg
werden soll. Deshalb: Wir haben eine Leitkultur. Zu die-
ser Leitkultur gehört vor allen Dingen die Trennung von
Staat und Kirche.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Dann machen Sie einmal etwas!)


Sie ist das Gegenmodell zur islamischen Scharia. Daraus
folgt zwingend, dass die Scharia nicht die Grundlage ei-
ner gelungenen Integration in unserem Land sein kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Einen Popanz bauen Sie hier auf! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Not in Ihrer Partei scheint groß zu sein, dass Sie das hier ablassen müssen!)


Wir brauchen die Herausbildung eines Islam, den
Bassam Tibi schon vor etlichen Jahren als europäischen
Islam bezeichnete. Es muss uns gelingen, islamgläubi-
gen Menschen in unserem Land durch islamische Auto-
ritäten ein Religionsverständnis zu vermitteln, das ihre
Treue zu ihrer Religion mit den Anforderungen eines sä-
kularen Staates des 21. Jahrhunderts versöhnt. Die Poli-
tik allein kann das nicht erreichen. Wir können aber hel-
fen, Entwicklungen zu fördern, indem wir zum Beispiel
islamische Theologen an unseren Hochschulen ausbil-
den. Wir müssen hier in Deutschland Religionslehrer
ausbilden, die Deutsch sprechen, mit diesem Land ver-
traut sind und sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen.

Wenn wir über die Voraussetzungen einer gelungenen
Integration sprechen, müssen wir auch anerkennen, dass
die vielen Menschen islamischen Glaubens zu diesem
Land gehören. Dies gilt übrigens auch für die nicht we-
nigen Bürgerinnen und Bürger, die bewusst keine reli-
giöse Bindung haben. Sie alle gehören zu unserem Land
und sind Teil unserer Gesellschaft.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie sich nicht mal einen Termin bei Herrn Wulff geben lassen?)


Wenn man nach einem Weg sucht, sehr verehrte Frau
Künast, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, dann ist es
wichtig, dass wir uns über unsere Identität im Klaren
sind. Die Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres
Staatsverständnisses sind die christlich-abendländische
Tradition, ihre Kultur und die Aufklärung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Und das Grundgesetz! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jüdisch haben Sie vergessen!)


Diese Grundlagen müssen auch in Zukunft gelten. Sie
müssen das Fundament unserer Gesellschaft bleiben.
Wir würden viel verlieren und nichts gewinnen – das gilt
insbesondere für den Respekt der Zuwanderer –, wenn
wir diese Leitplanken aufgeben. Das bedeutet konkret:
Wir dürfen erwarten, dass Menschen, die sich freiwillig
entschieden haben, hier zu leben, dieses Land mit seinen
Gesetzen und Lebensweisen achten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir dürfen erwarten, dass sie zum Wohlstand des Lan-
des, von dem sie sich ein besseres Leben erhoffen, bei-
tragen, und sich nicht von dessen Bewohnern abgrenzen.
Wir müssen erwarten, dass sie selbst ein Teil dieser Ge-
sellschaft werden wollen. Sie müssen ihre Herkunft und
ihre Religion nicht verleugnen. Sie sollen aber auch
nicht beabsichtigen, der angestammten Bevölkerung ihre
Religion und Kultur aufzudrängen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Wer macht das denn?)


Als aufnehmende Gesellschaft können wir Wege wei-
sen und Hilfe anbieten. Wir können den Zuwanderern
aber nicht die Verantwortung für ihr Leben abnehmen.
Zu dieser Verantwortung – darauf könnten wir uns wahr-
scheinlich alle gemeinsam verständigen – muss es doch
gehören, die Landessprache zu lernen und die Kinder in
Kindergärten und Schulen zu schicken.

Im Hinblick auf unsere Integrationspolitik setzen wir
hohe Maßstäbe. Um es mit den Worten von Max Frisch
zu sagen: Wir wollen denen, denen die Heimat zur





Ministerpräsident Volker Bouffier (Hessen)



(A) (C)



(D)(B)

Fremde, die Fremde aber nicht zur Heimat geworden ist,
eine Heimat geben. Wer sich in der Fremde immer wie
ein Fremder verhält, wird fremd bleiben und diese Hei-
mat nicht finden. Heimat wird hier nur der finden, der
diese Heimat annimmt und sich auch klar zu diesem
Land bekennt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Kollege Kilic, das ist ein offenes und faires An-
gebot. Es sind klare Leitplanken, die besagen, wie eine
Zukunft aussehen soll, und zwar gestützt auf die Er-
kenntnisse, die wir dem vorgelegten Bericht entnehmen
können. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass diese
Debatte intensiv weitergeführt wird und über die Schlag-
zeilen des Tages hinaus wirkt. Ich wünsche der Bundes-
regierung und vor allem auch Ihnen, Frau Professor
Böhmer, für Ihre Arbeit viel Erfolg. Die hessische Lan-
desregierung wird Sie auch in Zukunft engagiert unter-
stützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706501400

Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1706501500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich mit einem Punkt beginnen, über den ich mit mei-
nem unmittelbaren Vorredner einer Meinung bin: Auch
wir möchten Frau Professor Böhmer und all ihren Mit-
arbeitern – denen, die hier sind, und auch denen, die das
jetzt im Fernsehen verfolgen – ganz herzlich für die he-
rausragende und wirklich gewichtige Arbeit danken. Es
ist schon gesagt worden, dass es sich um ein recht pro-
fundes Datenmaterial handelt. Ich teile – das liegt in der
Natur der Sache – nicht alle Schlussfolgerungen, aber
doch manche.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es überhaupt Schlussfolgerungen? Ich konnte nichts feststellen!)


Wenn meine Redezeit dafür reicht, komme ich vielleicht
auf das eine oder andere zurück.

Es gibt mindestens zwei aktuelle Ereignisse, deretwe-
gen mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger ge-
haltvoll und mehr oder weniger erkenntnisreich über In-
tegration gesprochen wird. Ein Grund – Frau Professor
Böhmer hat das Thema eingebracht – sind die Thesen
von Herrn Sarrazin. Herr Bürgermeister und Senator
Wolf, wir Sozialdemokraten können mit diesem Problem
umgehen und benötigen keine hilfreiche Unterstützung,
auch nicht von Ihnen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Na, na, na! – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie wollen ihn aus der Partei ausschließen! Wenn das alles ist, was Ihnen einfällt!)


Zu den Thesen von Herrn Sarrazin hatte ich übrigens
schon vor Veröffentlichung dieses Buches eine außer-
ordentlich kritische Haltung. Ich darf an den Pullover für
Hartz-IV-Empfänger und die Verköstigung von armen
Kindern erinnern.

Es gibt eine weitere aktuelle Begebenheit, die der
Grund dafür ist, dass insbesondere in den Reihen der
CDU/CSU aufgeregt über Integration und Religion dis-
kutiert wird. Ich will mich jetzt nicht nur mit dem Thema
Religion auseinandersetzen, aber man kann es heutzu-
tage kaum ausklammern – das haben auch meine Vorred-
ner nicht getan –, wenn es um den Bericht über die Lage
der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland geht.
Da 45 Prozent aller Muslime in Deutschland längst deut-
sche Staatsbürger sind, trifft sie diese Diskussion nicht,
aber die anderen vielleicht. Da ich selten das Vergnügen
habe, den Herrn Bundespräsidenten oder die Frau Bun-
deskanzlerin gegenüber ihren eigenen Parteifreunden in
Schutz zu nehmen, kann ich es mir heute nicht verknei-
fen, zu sagen: Ich persönlich bin der Auffassung, dass
das, was Herr Wulff in der Tradition der Äußerungen
von Herrn Schäuble zu dem Thema gesagt hat, eine
Selbstverständlichkeit ist. Bei dieser Gelegenheit darf
ich vielleicht in unser aller Namen die besten Gene-
sungswünsche an das Krankenbett von Wolfgang
Schäuble übermitteln.


(Beifall)


Das, was der Bundespräsident zum Thema Islam ge-
sagt hat, musste von der Bundeskanzlerin, wenn die Zei-
tungen das richtig wiedergegeben haben, in der CDU/
CSU-Fraktion erst einmal interpretiert werden. Sie hat
gesagt, das bedeute natürlich nicht, dass der Islam das
Fundament des kulturellen Verständnisses Deutschlands
sei. Das hat der Bundespräsident wohl in der Tat nicht
sagen wollen. Da er nur auf ein selbstverständliches Fak-
tum hingewiesen hat, ist die Aufregung in der Union für
mich nicht verständlich. Ich denke an die Äußerungen
von Herrn Geis, Herrn Friedrich, Hans-Peter Uhl und
– diesbezüglich grenze ich mich ab – von Herrn
Buschkowsky aus unseren Reihen. Ich wünsche mir
nicht, dass Sie uns eines Tages bezichtigen, die Äuße-
rungen des Bundespräsidenten uminterpretiert zu haben,
weil er etwas gesagt hat, das Sie nicht für gut und richtig
halten.

Bevor ich zum sogenannten Ausländerbericht
komme, muss ich eine andere wichtige Klarstellung an-
bringen, und zwar zur Rede meines Vorredners, Volker
Bouffier: Bei aller Verbundenheit über nunmehr 30 Jahre
darf ich auf einen heftigen Gegensatz hinweisen. Ich
wäre bis zum heutigen Tage nicht auf die Idee gekom-
men, ausgerechnet die hessische CDU dafür zu loben,
dass sie seit Jahrzehnten Politik im Zeichen der Integra-
tion macht.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Ihr habt in der Tat Nachholbedarf. Dein von mir persön-
lich wesentlich weniger geschätzter unmittelbarer Amts-





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

vorgänger kam, wenn ich mich richtig erinnere, im
Landtagswahlkampf 1998/99 kurz vor Weihnachten auf
die Idee, in jeder Hinsicht gegen die doppelte Staatsbür-
gerschaft


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen Ausländer!)


mobil zu machen, weil er glaubte, dass nur noch dadurch
das Ruder herumzureißen sei und die Wähler nur durch
eine Kampagne gegen Ausländer zu mobilisieren seien.
Das war nicht besonders integrationsfreundlich. Das war
das genaue Gegenteil.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Franz Josef Jung [CDU/ CSU]: Das hieß aber „Ja zur Integration“!)


Ich erinnere mich nicht nur sehr gut daran, dass es im
Winter 2008 ekelhaft kalt war – das war der schlimmste
Straßenwahlkampf überhaupt –, sondern auch daran,
dass damals wiederum dein von mir nicht so sehr ge-
schätzter Amtsvorgänger am Beispiel krimineller ju-
gendlicher Ausländer versucht hat, Wählerstimmen zu
fangen. Dabei ist er vom Vorsitzenden der CDU-Frak-
tion im Land Hessen, Christean Wagner, noch getoppt
worden. In den letzten 14 Tagen dieses Wahlkampfs ha-
ben die beiden, wenn ich das richtig beobachtet habe,
überwiegend gegen sich selbst und ihre eigenen Äuße-
rungen Wahlkampf geführt. Das war vielleicht der Un-
terschied zu 1999.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte im Rahmen der kurzen mir noch zur Ver-
fügung stehenden Redezeit noch auf etwas hinweisen.
Passen Sie bitte in der Debatte jetzt und in Zukunft auf,
dass es nicht ausgerechnet die Union ist – und jetzt
manchmal auch die FDP –, die sich anhand einer ganzen
Reihe von Beispielen folgenden Vorwurf, wie ich finde,
noch einmal deutlich anhören muss: Seit nunmehr über
zwölf Jahren – ich habe das miterlebt, gelegentlich mit-
gestaltet, manchmal sogar auch mit gelitten – hat ausge-
rechnet die Union zu rot-grünen Zeiten und als Koali-
tionspartner in der Großen Koalition entweder hier oder
im Bundesrat, den wir praktisch für jede Gesetzesände-
rung auf diesem Gebiet brauchen – ausgenommen Inte-
grationskurse; da sind Sie nach dem Motto „learning by
doing“ vom Grundsatz her jetzt ganz gut dabei –, verhin-
dert, was wir umsetzen wollten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie reklamieren die Integrationskurse jetzt für sich; das
ist gut. Wir haben sie gegen Ihren Widerstand durchge-
setzt. Wir haben damals die Staatsbürgerschaftsreform
nur um den Preis bekommen, dass wir das Verbot der
Hinnahme von Mehrstaatlichkeit in das Gesetz geschrie-
ben haben, was nicht gerade rauschenden Erfolg hatte.
Das sieht man, wenn man die Einbürgerungszahlen be-
trachtet.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Sie waren es, die bei der Abschaffung von Duldung
und Kettenduldung blockiert haben, und zwar mit dem
Erfolg, dass wir uns noch heute über Bleiberechtsrege-
lungen und die Frage, inwieweit diese Duldungen und
Kettenduldungen in der Tat Integrationshemmnisse sind,
intensiv Gedanken machen müssen. Dazu gibt es übri-
gens interessante Ausführungen in dem Bericht – ich
habe keine Zeit, es vorzulesen – auf den Seiten 483 ff.

Sie haben erst jetzt entdeckt – spät ist vielleicht noch
nicht zu spät –, dass man bei der Gewährung der elemen-
tarsten Menschenrechte für hier in Deutschland illegal
lebende Menschen vielleicht ein bisschen nachbessern
muss, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob man
mit den bestehenden Übermittlungspflichten nicht eine
angemessene gesundheitliche Versorgung gerade von
Kindern oder den Schulbesuch verhindert. Sie sind es
gewesen, die jetzt erst – das war uns in der Großen Ko-
alition leider nicht vergönnt – erkannt haben, dass wir
ein erweitertes Rückkehrrecht der Opfer von Zwangshei-
rat haben müssen.

Sie sind es übrigens bis zum heutigen Tage, die im
Bereich des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehö-
rige hier in Deutschland heftig auf der Bremse stehen,
die das verhindern wollen, die sich stets und ständig da-
gegen aussprechen und hier auch dagegen stimmen. Sie
sind es, denen wir das diskussionswürdige Problem hin-
sichtlich des Erwerbs vorheriger Sprachkenntnisse von
Ehegatten im Ausland zu verdanken haben.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wo ist das Problem?)


Schließlich und letztendlich: Sie haben zwar jetzt die
Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention formal ab-
geschafft, aber Sie weigern sich, zur Kenntnis zu neh-
men, dass das entsprechende Veränderungen des Aufent-
haltsrechtes bei der Frage der Handlungsfähigkeit von
16- bis 18-jährigen jungen Leuten hat.

Diese ganze Reihe – ich könnte sie beliebig fortset-
zen; zwölf Jahre sind eine lange Zeit – zeigt: Sie haben
erheblichen Nachholbedarf, wenn es darum geht, durch
gesetzliche Änderungen im Aufenthaltsrecht und im
Staatsangehörigkeitsrecht die elementarsten Vorausset-
zungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ausländi-
scher Herkunft in Deutschland überhaupt integrieren
können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706501600

Herr Kollege.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1706501700

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich hoffe

nicht, dass man im Ergebnis sagen muss und dass Sie
sich dieses Prädikat anziehen wollen: Wir verweigern
von staatlicher Seite die Integration dadurch, dass wir
die elementarsten Voraussetzungen im Bereich des
Rechtes, das unserer Beeinflussung unterliegt, nicht ge-
schaffen haben. Deswegen hoffe ich, dass Sie im Lichte





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

der jetzigen Debatte und dieses profunden Berichtes
vielleicht zu anderen Erkenntnissen kommen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706501800

Das können Sie jetzt aber nicht im Einzelnen auflis-

ten.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1706501900

Herr Präsident, diese Hoffnung wollte ich noch zum

Ausdruck bringen.

Danke für Ihre Geduld.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706502000

Der Kollege Serkan Tören ist für die FDP-Fraktion

der nächste Redner.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1706502100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wun-

dere mich sehr, Herr Kollege Veit und Herr Kollege
Scholz, über die Forderungen, die Sie zum Schluss Stück
für Stück aufgezählt haben. Davon haben Sie unter Rot-
Grün nie gesprochen, und Sie haben auch nichts davon
umgesetzt.


(Rüdiger Veit [SPD]: Doch! Ständig! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er war nicht dabei!)


Ich finde es sehr interessant, dass Sie jetzt, etwa ein Jahr
seit Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind,
diese Forderungen aufstellen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat die Integrationskurse eingeführt?)


Das verstehen Sie unter Integrationspolitik. Übrigens,
Herr Kollege Scholz, reden und nicht handeln, das kann
man Ihnen vorwerfen. Welche Bilanz hatten Sie nach
sieben Jahren? Nennen Sie mir eine einzige Maßnahme
im Bereich der Integrationspolitik, die Sie durchgesetzt
haben. Nennen Sie etwas, das uns weitergeholfen hat.
Dazu findet sich nichts in Ihrer Bilanz, im Gegenteil: Sie
sperren sich auch einer Diskussion, die wir jetzt benöti-
gen. Herrn Buschkowsky hörten Sie meist gar nicht zu;
Sie laden ihn jetzt ein, wo es Ihnen genehm ist. Jahre-
lang war er für Sie gar nicht sichtbar; auch das muss man
einmal feststellen. Erst jetzt, da es Ihnen genehm ist, fan-
gen Sie an, Herrn Buschkowsky zu zitieren oder in Fern-
sehsendungen einzuladen. Entschuldigen Sie, aber das
verstehe ich nicht.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706502200

Kollege Tören, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Beck?

Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1706502300

Ja, gerne.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706502400

Herr Kollege Tören, Sie sind ja neu im Hohen Hause.

Wären Sie vielleicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, das wegen der
Neinstimmen aus dem Lager von Union und FDP leider
zwei Anläufe brauchte, das erste Ausländerrecht war, in
dem Integrationskurse für Neuzuwanderer verbindlich
festgelegt wurden – es war ein Rechtsanspruch und eine
Pflicht für die Zuwanderer, innerhalb von zwei Jahren
von diesem Rechtsanspruch Gebrauch zu machen –, dass
wir unter den vorherigen schwarz-gelben Koalitionen
jahrzehntelang ein Ausländerrecht hatten, in dem die In-
tegration in keiner Weise geregelt war, und dass wir die
gesamte Debatte um nachholende Integration nicht füh-
ren müssten, wenn wir das, was wir im Zuwanderungs-
gesetz beschlossen haben, 30 Jahre früher beschlossen
hätten, weil wir die Probleme, über die wir heute reden,
dann gar nicht erst bekommen hätten?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Damals war es Ihre sogenannte bürgerliche Mehrheit,
die sich verweigert hat, zu akzeptieren, dass Zuwande-
rung stattfindet. Sie haben von Gastarbeitern, die wieder
gehen, gesprochen und der Bevölkerung Sand in die Au-
gen gestreut,


(Sibylle Laurischk [FDP]: Ach, Herr Beck! Was soll denn das jetzt wieder?)


statt sich von Anfang an mit dem Thema Integration zu
befassen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706502500

Herr Kollege Beck, Sie wollten eine Zwischenfrage

stellen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706502600

Ja. Das habe ich auch getan.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706502700

Ach so. Das war mir nicht aufgefallen. Deswegen

habe ich nur daran erinnern wollen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706502800

Es kam ein Fragezeichen. Ich werde es Ihnen im Pro-

tokoll zeigen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1706502900

Herr Kollege Beck, ich merke schon: Die Kritik, die

ich gerade geäußert habe, schmerzt Sie. Das, was ich ge-
sagt habe, scheint wohl richtig zu sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Keine der Maßnahmen, die Herr Veit vorhin genannt hat,
haben Sie umgesetzt; das muss man einmal feststellen.





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was für ein Ausmaß der Ignoranz! Das ist ja unglaublich! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie sind ahnungslos!)


„Warum Deutschland an der Integration scheiterte“,
so titelte vor ein paar Wochen ein großes deutsches
Nachrichtenmagazin. Ich sage Ihnen ganz offen: Als
Bürger mit Migrationshintergrund, wie es so schön
heißt, und Innenpolitiker halte ich diesen Titel für ver-
fehlt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Sie sind Innenpolitiker?)


Es ist doch mittlerweile Konsens: Wir haben jahrzehnte-
lang versäumt, eine aktive und gestaltende Zuwande-
rungspolitik zu machen. Integration passiert nicht ein-
fach so. Integration muss begleitet, gefördert und – das
sage ich ganz klar – auch eingefordert werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Jetzt wird er auf einmal ganz seriös!)


Die Versäumnisse sind Mahnung und Begründung für
viele der heutigen Herausforderungen in der Integra-
tionspolitik, nicht mehr und nicht weniger. Ewiges La-
mentieren und rückwärtsgewandte Debatten bringen uns
nicht weiter.


(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Das Beispiel Beck hat das gerade wieder einmal bewiesen!)


– Genau.

Anders als einige Menschen, die Tabubauer und -bre-
cher in Personalunion sind, erlebe ich eine sehr offene
Debatte um die Integrationsprobleme in Deutschland.
Das ist auch gut so. Denn harte Auseinandersetzungen
gehören zur Streitkultur in einer demokratischen Ein-
wanderungsgesellschaft; es wird mit harten Bandagen
und Emotionalität diskutiert. Aber auch hier gilt: Gren-
zen einhalten und Spielregeln beachten! Die Grenze ist
da, wo Menschen einfach nur diffamiert und ausgegrenzt
werden. Es ist mühsam und nicht immer einfach, das
durchzuhalten. Aber wir müssen mehr Pragmatismus
und Differenzierung in die Debatte bringen; das ist ganz
wichtig. Pauschal von den Integrationsproblemen der
Ausländer oder der Muslime zu sprechen, bringt uns
nicht weiter. Ich bin der Integrationsbeauftragten auf-
grund ihres Engagements und der regelmäßigen Publika-
tionen für die sehr differenzierte Auseinandersetzung
mit den sehr unterschiedlichen Lagen der Ausländerin-
nen und Ausländer in Deutschland sehr dankbar.

Meine verehrten Damen und Herren, zur Wahrheit ge-
hört: Wir haben bereits viele wichtige Antworten gege-
ben und Erfolge vorzuweisen; zu nennen sind insbeson-
dere die Integrationskurse. Es ist nicht richtig, dass wir
an dieser Stelle gekürzt haben – das stimmt nicht –, son-
dern wir haben die Mittel sogar erhöht.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Genau!)

Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Natürlich gibt es
noch Verbesserungsbedarf; die Baustellen sind uns be-
kannt. Dennoch: Die Integrationskurse sind eine Er-
folgsgeschichte. Seit 2005 haben mehr als 600 000 Mi-
granten an einem solchen Kurs teilgenommen; weit
mehr als die Hälfte davon waren Freiwillige. Das ist eine
tolle Bilanz. Diese Erfolgsgeschichte wird weitergehen.
Trotz angespannter Haushaltslage werden wir hierfür
2011 einen Betrag von 218 Millionen Euro zur Verfü-
gung stellen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Integra-
tionspolitik.

Ich möchte ein Thema ansprechen, dem wir uns wie-
der viel bewusster stellen müssen; die aktuelle Debatte
um die Äußerungen unseres Bundespräsidenten zeigt
diesen Bedarf deutlich. Es geht um die Fragen: Was wol-
len wir von unseren Zuwanderern verlangen? Was kön-
nen Zuwanderer von uns erwarten? Es geht um Zielstel-
lungen und um ein gemeinsames Leitbild. Diese sind
unabdingbar für die Motivation von Migranten und ins-
besondere auch für unser Gemeinwesen. An dieser Stelle
warne ich aber auch vor einer falsch verstandenen Tole-
ranz. Sie ist in meinen Augen das andere Spektrum der
unsachlichen Debatte.

Mitglieder von Migrantengruppen und ihre Nach-
kommen verdienen es, als Individuen gleichbehandelt zu
werden. Ich sehe keinen Anlass, ein muslimisches Mäd-
chen vor dem Gesetz anders zu behandeln als ein christ-
liches oder jüdisches. Das gilt beispielsweise für den
Schwimmunterricht, den gemeinsamen Sportunterricht
oder für Klassenfahrten.

Wir dürfen uns nicht neutral verhalten und wegsehen,
wenn Gruppierungen diese Prämissen nicht akzeptieren
und mit Füßen treten. Dann haben diese Menschen in
unserer Gesellschaft keinen Platz. Das müssen wir klar-
machen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit „wir“ meine ich alle, auch die Zugewanderten, die in
der Mehrzahl ihren Platz in Deutschland gefunden ha-
ben.

Wir müssen uns die Frage stellen: Was kann oder was
muss das verbindende Glied sein? Vielfältigkeit und To-
leranz dürfen nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden.
Ich denke, in diesem Saal besteht Einigkeit darüber, dass
das Grundgesetz selbstverständlich die Richtschnur ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist
nicht an der Integration gescheitert, und Deutschland
wird auch nicht an der Integration scheitern. Integration
ist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht irgendwann
abgeschlossen sein wird, sondern stetig weitergeht. Wie
erfolgreich er weiterhin verlaufen wird, hängt von vielen
Faktoren ab.

Aber der nachhaltige Erfolg hängt vor allem von den
Antworten auf folgende Fragen ab: Wie werden wir die
im Grundgesetz formulierten Werte in die Praxis umset-
zen und sie durchsetzen? Wie werden wir eine gemein-
same Identität jenseits von kulturellen Unterschieden
schaffen können?






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706503000

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1706503100

Das ist die Herausforderung, der wir uns mit Offen-

heit und Selbstbewusstsein zugleich stellen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706503200

Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Vernünftig, Herr Winkler, und nicht langweilig! – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt kommt wieder Sachlichkeit in die Debatte!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich eben Frau Böhmer richtig verstan-
den habe, hatte sie gemeint, dass die Probleme, die bei
der Integration von Ausländerinnen und Ausländern in
der Bundesrepublik Deutschland bestünden, Rot-Grün
oder die Ausländer selbst verursacht hätten, indem sie
sich nicht integrieren wollten. Sie sprachen von falsch
verstandenem Multikulti. Ich sage Ihnen – das wurde
eben schon vom Kollegen Veit angesprochen –, was das
Hauptproblem der Integrationspolitik in diesem Lande
ist: Erst unter Rot-Grün wurde zum ersten Mal Integra-
tionspolitik in diesem Land gemacht.

Sie haben sich auch in dieser Zeit noch verweigert.
Sie haben die Sprachkurse im Vermittlungsausschuss
bekämpft.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Glatte Unwahrheit!)


Die Grünen und die SPD haben verpflichtende Deutsch-
kurse für Ausländerinnen und Ausländer durchgesetzt.
Sie wollten das Geld dafür nicht in die Hand nehmen.
Sie haben gesagt, die Leute könnten doch zur Volks-
hochschule gehen. Sie bekämen schließlich Sozialhilfe
und sollten die Kurse davon bezahlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der FDP)


Nun zur Zwangsheirat: Auch Sie, Herr Senator Wolf,
haben gesagt, das sei nicht akzeptabel. – Zwangsheirat
war in diesem Land noch nie legal. Wer über so etwas
überhaupt nur nachdenkt, ist völlig neben unserem
Rechtsverständnis.

Die rot-grüne Bundesregierung hatte das klargestellt
und gesagt: Das ist selbstverständlich ein besonders
schwerer Fall der Nötigung und mit bis zu fünf Jahren
Gefängnis zu bestrafen. Jetzt sagen Sie: Das ist alles „li-
rum larum dumdideldarum“;

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Löffelstiel! – Zuruf des Abg. Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD])


wir machen einen eigenen Straftatbestand. Dann kann es
mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. – Bis zu fünf
Jahre Haft? Das ist ja eine grandiose Idee! Sie kommen
jetzt mit fünf Jahren Haft; dabei wird es bis jetzt auch
schon mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man erst einmal hinbekommen! – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was denn?)


Wir müssen etwas gegen Zwangsheirat machen; das
ist klar. Es gibt Zwangsheiraten. Allein die Tatsache,
dass sie strafbar sind, verhindert sie nicht. Aber wo ist
denn da Ihr Konzept? Einen neuen Paragrafen im Straf-
gesetzbuch einzuführen, wird keine einzige Zwangshei-
rat verhindern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Jetzt zur Rede des Bundespräsidenten. Wenn ich
höre, dass der Bundespräsident sagt, wir fußen natürlich
auf der christlich-jüdischen Tradition, sage ich: Selbst-
verständlich, wer hat das Gegenteil behauptet?

Wenn er sagt, natürlich seien in diesem Land Millio-
nen von Muslimen hinzugekommen, sie blieben auch
und würden wohl nicht wieder auswandern, wer könnte
ihm widersprechen? Da kann ich nur sagen: Ich halte
das, was in der Union dazu gesagt wird, für völlig abwe-
gig.

Kollege Kauder, der eben noch hier war, hat dazu ein
Interview gegeben und gesagt: Zu dieser Rede sind „er-
klärende Interpretationen notwendig geworden“.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!)


Wie bitte? Zu was ist denn da eine Interpretation not-
wendig? – Er sagte:

Ein Islam, der die Scharia vertritt und in dessen Na-
men die Unterdrückung der Frau geschieht, kann
nie und nimmer zu Deutschland gehören.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Maßstab für unser Zusammenleben ist das
Grundgesetz, das auf unserem christlich-jüdischen
Erbe beruht.

Ja, hallo? Wo sind wir denn hier?


(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: In Deutschland!)


Was hat denn der Bundespräsident gesagt? – Natür-
lich hat er nicht gesagt: Der Islam, der Frauen unter-
drückt, gehört zu Deutschland, und wir sind froh, dass er
da ist. – So ein dummes Geschwätz habe ich schon lange
nicht mehr gehört.





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dann noch die Kritik am Bundespräsidenten! Das geht gar nicht!)


Dazu sage ich – auch als Katholik –: Der Apostel
Paulus hat gesagt, das Weib schweige in der Gemeinde.
Dieser Aspekt des Christentums hat in unserem Grund-
gesetz auch nichts verloren – also, bitte schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das aus deinem Munde, Josef! Danke!)


Zusammenfassend kann ich nur sagen: Ich verlange
von Ihnen, dass Sie sich beim Bundespräsidenten ent-
schuldigen, dass Sie ihm zuhören, wenn er eine Rede
hält, und dass Sie das friedliche Zusammenleben der Re-
ligionen in unserem Land nie mit solchen Reden – ich
sage manchmal sogar fast „Hetzreden“ – stören.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706503300

Nun erhält der Kollege Stefan Müller das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1706503400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Winkler, eines ist ja sehr beruhigend: Die
Tatsache, dass Sie den Bundespräsidenten, den Sie
nicht gewählt haben,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Wahl war geheim!)


mittlerweile so gut finden, scheint ja Beleg dafür zu sein,
dass Sie die Erkenntnis gewonnen haben, dass wir sei-
nerzeit genau den richtigen Kandidaten aufgestellt und
jetzt einen guten Bundespräsidenten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stehen Sie doch einmal zu ihm, statt ihn so zu kritisieren! Immer die Kritik am höchsten Amt! Ganz schrecklich!)


Wir führen heute ja eine wichtige gesellschaftspoliti-
sche Debatte. Ich finde, diese Debatte ist hier im Haus
besser aufgehoben als in irgendwelchen Talkshows oder
bei Buchbesprechungen oder Lesungen. Hier im Parla-
ment ist die Debatte über Integrationspolitik zu führen.
Es ist gut, dass wir das heute Vormittag tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Durch den Integrationsbericht wird gezeigt: Die Bun-
desregierung nimmt die Integration ernst. Wir werden
das fortsetzen, was in den letzten Jahren auch in der Gro-
ßen Koalition auf den Weg gebracht worden ist, das
heißt, auch die guten Initiativen der letzten Wahlperiode
werden fortgesetzt.

Herr Kollege Scholz, ich schätze Sie ja. Leider sind
Sie offensichtlich Opfer von temporärer Amnesie ge-
worden. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Sie
heute überhaupt kein gutes Haar mehr an dem lassen,
was wir in den vergangenen Jahren auch gemeinsam auf
den Weg gebracht haben. Ich finde, das kann sich in der
Tat sehen lassen.

Erstens. Es haben drei Integrationsgipfel stattgefun-
den –


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind die Ergebnisse? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo nichts herausgekommen ist!)


der vierte steht kurz bevor –, bei denen alle Akteure und
alle am Thema Interessierten an einen Tisch gebracht
und verbindliche Vereinbarungen getroffen worden sind.

Zweitens. 2007 wurden die Integrationskurse über-
arbeitet. Seitdem ist mehr Geld in die Hand genommen
worden, und das Angebot an Integrations- und Deutsch-
kursen wurde ausgebaut. Bisher haben über 600 000 Per-
sonen einen Integrationskurs absolviert, wovon übrigens
zwei Drittel Frauen waren. Wenn man also überhaupt ir-
gendetwas gemeinsam feststellen kann, dann doch die
Tatsache, dass die Integrationskurse wirklich eine Er-
folgsgeschichte und ein wesentliches Instrument erfolg-
reicher Integrationspolitik sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Vielen Dank für diese Anerkennung! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also keine Integrationsverweigerung!)


Wir haben auch dafür gesorgt, dass Sprachkenntnisse
schon vor der Einreise erworben werden müssen, weil
gerade für uns immer klar war, dass das Beherrschen der
deutschen Sprache die Grundlage für erfolgreiche Inte-
gration und für gesellschaftliche Teilhabe ist. Hier kann
ich Ihnen nur zurufen: Besser spät als nie. – Wir sind sei-
nerzeit von Ihnen diffamiert worden. Von Zwangsgerma-
nisierung war die Rede, als wir diese Forderung immer
wieder erhoben haben. Insofern: Danke schön für diese
Einsicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie die Leitkultur meinen, haben Sie recht!)


Nun kommt die Nörgelei der Opposition ja nicht
wirklich überraschend. Sie kann damit aber auch nicht
darüber hinwegtäuschen, dass es in der Integrationspoli-
tik Erfolge gibt und dass Erfolge sichtbar sind. Zum Bei-
spiel haben junge Migranten ihren Rückstand aufgeholt,
wenn es darum geht, Schulabschlüsse zu erwerben.
Heute erwerben mehr junge Migranten einen weiterfüh-
renden Schulabschluss. Sie besuchen häufiger weiter-
führende Schulen und absolvieren in zunehmendem
Maße ein Hochschulstudium. Die Erfolge sind auch
nachgewiesen. Der Sachverständigenrat deutscher Stif-





Stefan Müller (Erlangen)



(A) (C)



(D)(B)

tungen für Integration und Migration hat erst vor weni-
gen Wochen sein Jahresgutachten 2010 vorgelegt. Er
kommt zu dem Ergebnis, dass Integration in Deutsch-
land besser gelingt, als es zum Teil in der Öffentlichkeit
wahrgenommen wird, und vor allem auch besser als in
vielen unserer europäischen Nachbarländer.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das erste wahre Wort in Ihrer Rede!)


Ich finde, das ist ein Erfolg, auf den wir durchaus ge-
meinsam stolz sein können. Auch so etwas muss in einer
solchen Debatte angesprochen werden.

Angesprochen werden muss aber auch die Tatsache,
dass es in der Integration auch Probleme gibt – das wird
niemand bestreiten –: Zum einen ist die Arbeitslosen-
quote von Migranten immer noch doppelt so hoch wie
die der deutschen Bevölkerung. Das ist in zweierlei Hin-
sicht ein Problem, weil erstens mit Arbeitslosigkeit im-
mer ein größeres Armutsrisiko einhergeht und zweitens
Arbeit mehr bedeutet als den Erwerb von Einkommen.
Eine Arbeitsstelle bedeutet nämlich auch gesellschaftli-
che Teilhabe, und diese führt letztlich zur Integration.

Deswegen ist es wichtig, dass wir mit der Anerken-
nung der im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse in
Deutschland vorankommen. Das Potenzial, das es in
Deutschland gibt, muss auch gehoben werden. Derzeit
können nämlich viele Migranten nicht in dem Maße be-
schäftigt werden, wie es ihrer Berufsausbildung ent-
spricht. Deswegen wird unsere Koalition dieses Thema
angehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zum anderen ist auch im Bereich Schule und Ausbil-
dung bei allen Erfolgen, die erzielt wurden, nicht zu be-
streiten, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo
wir hinwollen. Was die Tatsache angeht, dass immer
noch zu viele junge Migranten die Schule ohne Schulab-
schluss verlassen, sind selbstverständlich die Länder in
der Pflicht, entsprechend gegenzusteuern. Dabei muss
der Bund mithelfen, wo er dies kann.

Bei allen Problemen, die es gibt, muss man aber auch
eines feststellen: Integration braucht einen langen Atem.
Was in der Vergangenheit nicht rechtzeitig angegangen
worden ist, lässt sich nun einmal nicht in fünf Jahren
aufholen. Aber wir sind – das zeigen auch alle Stellung-
nahmen und Gutachten – an dieser Stelle auf einem gu-
ten Weg.

Integration braucht aber auch Konsequenz und Ver-
bindlichkeit. Das heißt: Geltendes Recht muss auch an-
gewandt werden. Wenn es in Deutschland nachweislich
Fälle von Integrationsverweigerung gibt und jemand, der
staatliche Fürsorgeleistungen bekommt und im Rahmen
seiner Eingliederungsvereinbarung aufgefordert ist, ei-
nen Integrationskurs zu besuchen, dies nicht tut, dann
können schon heute Sanktionen verhängt und Regelleis-
tungen gekürzt werden. Ich finde, dieses Recht muss
durchgesetzt werden. Es gibt ein Vollzugsproblem; auch
das müssen wir ohne Zweifel angehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706503500

Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Zeit.


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1706503600

Ja. – Zusammenfassend kann man feststellen, dass in

Deutschland in der Integrationspolitik leider zu viel über
Defizite und zu wenig über Erfolge geredet wird


(Rüdiger Veit [SPD]: Auch das ist wahr!)


und dass Integration besser gelingt, als dies zum Teil in
der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Man darf aber
trotzdem vor den Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung
nicht die Augen verschließen. Wir müssen gegen Miss-
stände vorgehen. Diese Koalition wird diese Aufgabe
mutig angehen. Ihre Unterstützung würde uns selbstver-
ständlich freuen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706503700

Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1706503800

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es

ist überall im Hause angekommen: Deutschland ist ein
buntes und vielfältiges Land mit Millionen von unter-
schiedlichen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist
die von Ardalan, um die 40, aus Leipzig. Er ist Lehrer
für Physik und Mathematik. In den 90er-Jahren ist er als
Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland gekommen.

Er darf in Deutschland nicht als Lehrer arbeiten. Sein
Diplom wurde nicht anerkannt. Darum hat er eine Aus-
bildung zum Techniker gemacht und sich nach erfolgrei-
chem Abschluss um Arbeit bemüht, leider erfolglos.
Heute arbeitet er als Fahrscheinkontrolleur bei den örtli-
chen Verkehrsbetrieben.

Wenn Ardalan seine Geschichte erzählt, dann tut er
das in einem charmanten breiten Sächsisch mit leichtem
Akzent. Die Freunde, die ihm damals Deutsch bei-
gebracht haben, waren eben waschechte Sachsen. Sprach-
kurse für Zuwanderer waren damals noch nicht vorgese-
hen.

Ardalan ist, wie ich finde, ein sehr gutes Beispiel für
gelungene Integration. Er ist in Arbeitsmarkt und Gesell-
schaft integriert. Er beherrscht die deutsche Sprache, en-
gagiert sich in Vereinen für seinen Stadtteil und darüber
hinaus in einer großen demokratischen Partei. Das sind
auch die drei großen Themen, wenn wir über Integration
sprechen: Arbeit, Sprache, soziale Teilhabe. Dass wir in
allen drei Bereichen noch riesigen Handlungsbedarf ha-
ben, sieht man auch an einem positiven Beispiel wie
dem von Ardalan.

Beispiel Sprache. Es war erst die rot-grüne Koalition,
die 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz endlich Integra-
tionskurse eingeführt hat, ein probates Mittel, um erwach-
senen Migrantinnen und Migranten den Erwerb der deut-
schen Sprache zu ermöglichen, den Schlüssel zur





Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

Teilhabe an unserer Gesellschaft. Diese Kurse sind – das
sagen alle – eine Erfolgsgeschichte. Immer mehr Men-
schen nehmen teil oder wollen teilnehmen; denn derzeit
warten aufgrund von Zulassungsbeschränkungen min-
destens 9 000 Menschen auf einen Integrationskurs – täg-
lich werden es mehr –, und das, weil Schwarz-Gelb
sehenden Auges nicht ausreichend Finanzmittel zur Ver-
fügung stellt.


(Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch schon widerlegt!)


Etwa 15 Millionen Euro fehlen im laufenden Haushalt.
Von diesen 9 000 Menschen sind 4 000 auf Wartelisten
gelandet. Sie wissen überhaupt nicht, wann ein Kurs be-
ginnen soll. Sie wissen nur: dieses Jahr nicht mehr. – So
lautet die Mitteilung, die das Bundesamt an sie geschickt
hat. Das sind gerade diejenigen Menschen, die sich
schon lange in Deutschland aufhalten, ohne die deutsche
Sprache in ausreichendem Maße erworben zu haben.
Das sind genau die Menschen, denen die Regierung je-
den Tag sagt: Nun integriert euch doch endlich! Aber ei-
nen Integrationskurs wird es vielleicht erst nächstes Jahr
geben. – Diese Argumentation ist doch schlicht schein-
heilig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erwachsene Migranten sind nur eine Gruppe. Für
junge Menschen mit und auch ohne Migrationshinter-
grund entscheidet die Qualität der Bildung darüber, ob
man sich verständigen und mitmischen kann. Deshalb
wurden unter SPD-Regierung sowohl der Ausbau der
Kitas als auch das Ganztagsschulprogramm auf den Weg
gebracht. Wo bleibt denn der Beitrag dieser Regierung?
Wo bleibt denn die ausreichende Finanzierung des Kita-
ausbaus? Was soll denn dieses Betreuungsgeld? Es ist
nichts anderes als eine Fernhalteprämie und einfach nur
bildungsfeindlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wo sind die Ideen für den Ausbau der Ganztagsschulen?
Fehlanzeige! Wenn es um Bildungsgerechtigkeit geht,
dann setzen Sie entweder gar keine oder die falschen Si-
gnale. Sie manifestieren die Ungerechtigkeiten im Bil-
dungssystem. Das geht nicht nur, aber auch zulasten der
Integration.

Beispiel Arbeitsmarkt. Menschen mit Migrationshin-
tergrund haben noch höhere Hürden als wir Deutsche zu
überwinden. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen doppelt so
hoch; das wurde schon angesprochen. Es mangelt an An-
erkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse.
Ardalan ist nur ein Beispiel. Olaf Scholz hat am Ende der
letzten Legislaturperiode ein gutes Papier dazu vorgelegt.
Seitdem müssen wir uns leider mit Eckpunkten von Frau
Schavan – sie verlässt gerade den Saal –


(Heiterkeit bei der SPD)


begnügen. Von einem Gesetz ist leider nichts zu sehen.
Da hilft auch nicht die wirklich große Anzahl der An-
kündigungen. Liebe Bundesregierung, es besteht drin-
gender Handlungsbedarf. Bitte gehen Sie das schnell an.
Wir vergeuden wertvolle Ressourcen Hunderttausender
Menschen.

Viele Menschen mit Migrationshintergrund berichten
zudem, dass es für sie schwer ist, einen Arbeitsplatz zu
finden. Ardalan ist wieder ein Beispiel dafür. Studien be-
legen, dass junge Schulabgänger mit Migrationshinter-
grund es selbst bei gleicher Leistung deutlich schwerer
haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Hier findet Dis-
kriminierung statt. Das steht auch in dem vorliegenden
Bericht so knallhart. Was tut denn die Bundesregierung?
Seien es anonymisierte Bewerbungsverfahren – diese
sind in vielen Ländern üblich – oder sei es eine aktive Ar-
beitsmarktpolitik, bei der jetzigen Bundesregierung sehe
ich schwarz. Sie setzen massiv den Rotstift bei der akti-
ven Arbeitsmarktpolitik an und konterkarieren jegliche
Bemühungen, für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Beispiel soziale Teilhabe. Integration wird vor Ort, in
den Kommunen, gestaltet, zum Beispiel durch kluge
Stadtentwicklung. Dazu hat der Bund unter SPD-Beteili-
gung wirksame Programme – „Soziale Stadt“ ist das Pro-
gramm, das man hier hervorheben kann – entwickelt.
Was machen Sie? Sie kürzen die Mittel für die entspre-
chenden Programme nicht nur dramatisch. Sie sorgen
auch noch für Beschränkungen. Geld aus dem Topf „So-
ziale Stadt“ darf zukünftig nicht mehr für – Zitat – „Zwe-
cke wie Erwerb der deutschen Sprache, Verbesserung
von Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichen
sowie im Bereich der lokalen Ökonomie“ eingesetzt wer-
den. Der Einzige, der sich darüber wirklich freuen dürfte,
ist Patrick Döring; der verkehrspolitische Sprecher der
FDP war da und ist inzwischen auch schon gegangen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Er hat schon im März von dieser Stelle aus in Bezug auf
das Programm „Soziale Stadt“ gesagt – Zitat –:

Die Zeit der nichtinvestiven Maßnahmen, zum Bei-
spiel zur Errichtung von Bibliotheken für Mädchen
mit Migrationshintergrund, ist vorbei …

Wenn ich das höre, geht mir das Messer in der Tasche
auf.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Koalition, liebe Regierung, bitte erzählen Sie
uns nichts über Integration. Bitte ändern Sie einfach Ihre
Politik!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ich möchte sofort die Tasche sehen!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706503900

Im Übrigen hoffe ich, dass nicht nur bei Integrations-

debatten die Mitglieder dieses Hauses ohne Messer in
der Tasche, also unbewaffnet, erscheinen.


(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Die werden am Eingang nicht kontrolliert!)


Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1706504000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Frau Böhmer, vielen Dank für den vorgeleg-
ten Bericht, ein dickes Buch, das wirklich lesenswert ist.
Ich möchte diesen Bericht über die Lage der Auslände-
rinnen und Ausländer in Deutschland mit einem beson-
deren Blick auf die Ausländerinnen in Deutschland kom-
mentieren. Dazu spreche ich drei Aspekte an.

Der erste Aspekt ist die Bedeutung der Frauen in
der Integrationspolitik. Wir müssen einfach sehen,
dass sie für den Integrationserfolg von Familien und
ganz besonders von Kindern von großer Bedeutung sind.
Sie sind in der Familie der zentrale Bezugspunkt und in-
sofern eben auch diejenigen, die für die Sprachfähigkeit
in der Familie besondere Verantwortung tragen. Sie sind
diejenigen, die ihren Kindern Sprache vermitteln. Hier-
bei ist es natürlich besonders wichtig, dass sie auch den
Zugang zur deutschen Sprache vermitteln können. Sie
sind daher auch besonders gefordert, selbst die deutsche
Sprache zu beherrschen. Wir verfügen über Lösungsan-
sätze, die mittlerweile erfolgreich sind, beispielsweise
das Programm „Mama lernt Deutsch“. Damit werden
auch Kinder sprachfähig gemacht, weil sie so Deutsch
auch in der Familie sprechen können. Selbstverständlich
ist ebenso, dass sie neben ihrer Muttersprache auch eine
andere Sprache lernen. Wenn sie mehr als Deutsch kön-
nen, sind Kinder aus Migrantenfamilien sicherlich in ih-
rer weiteren schulischen und beruflichen Entwicklung
erfolgreich.

Damit bin ich beim zweiten Aspekt, nämlich dem Zu-
gang von Migrantinnen zum Arbeitsmarkt. Wer arbei-
tet, hat einen wichtigen Zugangsweg zur Gesellschaft
überhaupt. Hierzu müssen wir feststellen, dass gerade
junge Migrantinnen mittlerweile gute Schulerfolge vor-
weisen können, bessere Ergebnisse als die jungen Män-
ner. Dennoch sind sie in der Berufswahl nicht wirklich
konkurrenzfähig. Sie sind in Ausbildung schwächer ver-
treten, sie finden überhaupt schwerer Zugang zu Ausbil-
dung, und entsprechend sind sie dann auch nicht wirk-
lich in der Gesellschaft etabliert und nicht in der Lage,
sich selbstständig in der deutschen Gesellschaft zurecht-
zufinden. Hier muss mehr getan werden. Die Ausbil-
dungsfähigkeit von Frauen ist ein wichtiges Thema, das
im Bericht auch seinen Niederschlag findet.

Ein dritter Aspekt ist mir wichtig; dies ist das Thema
Gewalt gegen Frauen. Dem Familienministerium wur-
den drei Studien vorgelegt, in denen zum Ausdruck
kommt, dass bestimmte Gruppen von Migrantinnen häu-
figer von Gewalt betroffen sind. Das sind insbesondere
Frauen türkischer Herkunft und Frauen aus Ländern der
ehemaligen Sowjetunion. Man muss deutlich sagen, dass
Migrantinnen sehr viel weniger Zugang zum Hilfesystem
und weniger Beratungserfahrung haben, seltener psycho-
soziale Unterstützungseinrichtungen aufsuchen und inso-
fern in ihrer Situation als gewaltbetroffene Frauen häufig
allein bleiben. Hier muss mehr geschehen. Wir können es
nicht nur damit bewenden lassen, beispielsweise die
Zwangsheirat unter besondere Strafe zu stellen, was rich-
tig ist; wir brauchen aber darüber hinaus entsprechende
Beratung, damit Frauen aus diesem Teufelskreis heraus-
finden können.

Die Situation von Migrantinnen ist sozusagen die
Spitze des Eisbergs der gesamtgesellschaftlichen Situa-
tion. Gewalt gegen Frauen darf in keinerlei Hinsicht hin-
genommen werden und schon gar nicht aus religiösen
Gründen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706504100

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1706504200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Scholz, Sie haben gesagt: Den Reden müs-
sen Taten folgen. – Ich will Ihnen einmal den „SPD-Inte-
grationsexperten“ Sigmar Gabriel zitieren. Er hat sich
vor kurzem gegenüber Spiegel Online so geäußert:

Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt,
der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie
vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.

Ich kann Ihnen nur sagen: Es war die SPD in der Großen
Koalition, die sich mit Händen und Füßen dagegen ge-
wehrt hat, dass wir genau das ins Aufenthaltsrecht
schreiben. Nur so viel zum Thema „Übereinstimmung
von Reden und Taten“.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: Das steht doch alles drin!)


Was ich auch nicht verstehe, lieber Kollege Veit, ist,
dass Sie plötzlich sagen, es sei ein Problem, dass wir
jetzt Deutschkenntnisse von denjenigen verlangen, die
auf dem Wege des Familiennachzugs zu uns kommen.
Was spricht denn dagegen, dass als Beitrag zur Integra-
tion einfache Deutschkenntnisse vor der Übersiedlung
nach Deutschland verlangt werden? Durch eine Evaluie-
rung dieser Vorschrift ist nachgewiesen, dass wir damit
in Einzelfällen Zwangsehen bekämpfen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Nein, nein! Gar nichts ist nachgewiesen!)


Aber was noch wichtiger ist: Durch diese Vorschriften
erreichen wir, dass wir in die Familien, die bisher einen





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

weiten und großen Bogen um Integrationsangebote ge-
macht haben, zum ersten Mal die klare Botschaft hinein-
senden: Ohne Deutsch geht es nicht. Das ist ein Beispiel
dafür, wie man durch ein Gesetz ganz praktische Integra-
tionspolitik gestalten kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Senator Wolf, Sie haben den Begriff der Leit-
kultur kritisiert. Ich frage mich: Warum dürfen wir nicht
Erwartungen formulieren und gemeinsame Grundlagen
für unser Zusammenleben definieren? Zur Integration
gehört, dass wir von muslimischen Eltern erwarten dür-
fen, dass sie ihre Kinder auf der Grundlage unserer ge-
meinsamen Rechts- und Werteordnung erziehen. Unsere
Aufgabe ist es, dass wir denjenigen entschlossen entge-
gentreten, die andere daran hindern, sich zu integrieren,
die Jugendklubs bekämpfen, weil dort Muslima ihre
Freizeit verbringen wollen, die etwa systematisch isla-
mischen Religionsunterricht bekämpfen, weil er unter
der Regie der deutschen Schulverwaltung stattfindet,
und die, wie es Moscheevereine tun, Eltern zwingen,
ihre Kinder dort herauszunehmen und in Koranschulen
anzumelden. Wir müssen genauer hinhören, was in Mo-
scheen gepredigt wird. Wir müssen ein Interesse daran
haben, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden.

Unser Bundespräsident hat sich sehr zutreffend zur
Lebenswirklichkeit des Islam in Deutschland geäußert.
Ich möchte seiner Rede einen zusätzlichen Gedanken an-
fügen: Ja, der Islam gehört zu Deutschland; aber funda-
mentaler Islamismus gehört nicht zu Deutschland. Ihm
müssen wir entgegentreten, und zwar entschlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das hat der Präsident ja auch nicht gesagt!)


Wir haben bei der Integration keine Erkenntnispro-
bleme; wir haben Umsetzungsprobleme. Die Wahrheit
ist doch, dass wir vielfältige gesetzliche Vorschriften ha-
ben, um den Grundsatz „Fördern und Fordern“ tatsäch-
lich umzusetzen. Wir haben viel mehr Sanktionsmög-
lichkeiten, als man nach der Lektüre des Buches von
Herrn Sarrazin vermuten würde. Es muss nur auf allen
staatlichen Ebenen an konsequenter Integration gearbei-
tet werden. Es reicht eben nicht aus, wenn die Auslän-
derbehörden nur zu einem Integrationskurs verpflichten.
Es muss auch kontrolliert werden, ob der Ausländer tat-
sächlich diesen Integrationskurs besucht. Die Hartz-IV-
Behörden müssen die Chance nutzen, Langzeitarbeits-
lose, die schon deshalb nicht vermittelt werden können,
weil sie nicht hinreichend Deutsch sprechen, zu ver-
pflichten, an Integrationskursen teilzunehmen.

Ich sage in aller Deutlichkeit: Wenn nicht alle Ebenen
– Bund, Länder und auch Kommunen – gemeinsam die
Chancen, Integration umzusetzen – sie sind bereits jetzt
gesetzlich verankert –, nutzen, dann können wir hier im
Bundestag beschließen, was wir wollen; wir werden
nicht erfolgreich sein. Wir brauchen alle staatlichen Ebe-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Für mich gehört dazu, an dieser Stelle einmal die
Integrationsarbeit unserer Sportvereine zu würdigen.
Am Vortag des Europameisterschaftsqualifikationsspiels
zwischen Deutschland und der Türkei darf man sicher
darauf verweisen. Was Trainer und Betreuer bei der Inte-
gration von Ausländern und Aussiedlern leisten, ist ein-
fach beeindruckend und fabelhaft. Dafür auch von dieser
Stelle ein herzliches Wort des Dankes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Einen Gedanken lassen Sie mich gerade mit Blick auf
unsere ausländischen und insbesondere unsere türki-
schen Mitbürger formulieren, wenn morgen Abend im
Olympiastadion das Spiel angepfiffen werden wird: Im
deutschen Team stehen Spieler mit Migrationshinter-
grund, die gut integriert sind und ihren Weg gemacht ha-
ben. Aber auch im türkischen Team stehen Spieler, die
hervorragend Deutsch sprechen und sich bei uns inte-
griert haben. Integration bedeutet eben nicht Aufgabe
der eigenen Identität. Aber morgen Abend werden sie
alle nach denselben Spielregeln spielen, und darauf
kommt es an.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706504300

Ich hatte gehofft, Herr Kollege Grindel, Sie würden

uns auch noch das Ergebnis dieses Spiels mitteilen. Aber
darauf werden wir dann doch wohl noch einen Tag war-
ten müssen.

Ich schließe die Aussprache.

Die Vorlage auf Drucksache 17/2400 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-
kundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
gratuliere ich der Kollegin Müller-Gemmeke – sie sitzt
im Moment links neben mir – zu ihrem heutigen runden
Geburtstag.


(Beifall)


Liebe Kollegin, Sie beginnen ein neues Lebensjahrzehnt
in prominenter Umgebung und besonders guter Gesell-
schaft. Dies lässt für die nächsten Jahre die schönsten
Hoffnungen zu. Alle guten Wünsche für das neue Le-
bensjahr!

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Auswege aus der Krise: Steuerpolitische
Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit des
Staates wiederherstellen

– Drucksache 17/2944 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706504400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! „Wir haben gezeigt, was in uns steckt“, gab
Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede freimütig zu. Ja, und
das steckt in ihrer Politik: das sinnlose Auftürmen neuer
Schulden, sinnlose Ausgaben für Kriegseinsätze und
Waffen, massive Kürzungen im Sozialbereich. Die Be-
gründung ist die alte Leier: Wir könnten nur ausgeben,
was wir erwirtschaften, und wir hätten über unsere Ver-
hältnisse gelebt.

Hier stellt sich die Frage, wer über seine Verhältnisse
gelebt hat. Die Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen viel-
leicht, die Alleinerziehenden oder die Menschen, die
trotz Arbeit ihre miesen Löhne aufstocken müssen? Die
Linke sagt: Sie verhöhnen all diese Menschen. Dabei
machen wir nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Wahrheit ist, dass Sie in den nächsten Jahren wei-
terhin massiv Schulden anhäufen werden; insgesamt
sind 218 Milliarden Euro geplant. All dies wollen Sie
uns nun als alternativlose Politik verkaufen, gar als „Zu-
kunftspaket“. Pardon, das klingt doch wie Hohn.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben gezeigt, was in Ihnen steckt. Wir zeigen Ih-
nen mit unserem Antrag, was in linker Politik steckt:
eine wirkliche Alternative zu Ihrer Politik. Es gibt Alter-
nativen; aber nur, wenn man die alles entscheidende
Frage stellt: Wie verteilt man gerecht, was erwirtschaftet
wird?


(Beifall bei der LINKEN)


Statt immer wieder bei den Menschen zu kürzen, die
sowieso wenig haben, brauchen wir endlich ein politi-
sches und wirtschaftliches Umdenken. Es kann doch
nicht sein, dass auf der einen Seite die Vermögen einiger
weniger immer weiter in die Höhe schießen und auf der
anderen Seite die Zahl der armen Familien und Kinder
zunimmt. Die Vermögen in Deutschland wachsen näm-
lich schneller als die Schulden; dies halte ich für sehr in-
teressant. Der Schuldenzuwachs pro Jahr beträgt derzeit
etwa 70 Milliarden Euro, der Vermögenszuwachs pro
Jahr rund 220 Milliarden Euro. Das zeigt doch wohl ein-
deutig, dass eine Umverteilung von oben nach unten er-
folgen muss und dass die Aussage „Wir haben über un-
sere Verhältnisse gelebt“ reiner Unfug ist.

Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie dem
Sachverständigen Professor Bofinger! Deutschland, so
sagte er, habe gesamtwirtschaftlich unter seinen Verhält-
nissen gelebt. Er plädiert für durchschnittlich 3 Prozent
Lohnzuwachs; die Löhne müssten wieder gemäß dem
Produktivitätsfortschritt und der Teuerungsrate ange-
passt werden. – Na bitte!


(Beifall bei der LINKEN)


Aber da, meine Damen und Herren von Schwarz-
Gelb, hören Sie weg – ebenso wie bei den Hinweisen der
EU-Kommission. Sie sollten aber hinhören, wenn
Christine Lagarde und Dominique Strauss-Kahn deutlich
auf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa
hinweisen, denn die deutsche Exportstrategie, getragen
durch Lohndumpingpolitik und Steuersenkung, hat eine
große Mitschuld daran. Ich frage Sie von der Koalition:
Wo leben Sie eigentlich? Wie kann man in dieser Situa-
tion noch sagen, wie Frau Merkel, Deutschland werde
seine Stärken nicht aufgeben? Durch die Lohndumping-
politik, die Sie mit zu verantworten haben, werden die
Menschen, die den Reichtum dieser Gesellschaft erar-
beiten, von diesem immer weiter abgekoppelt. Ein flä-
chendeckender Mindestlohn muss her – und das schnell!


(Beifall bei der LINKEN)


Während die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 in
vielen EU-Staaten zum Teil stark stiegen, gingen sie in
Deutschland sogar um 0,8 Prozent zurück. Das belegt
eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Die Linke sagt:
Das ist ein Skandal.

Durch die Politik der Steuersenkung für Reiche und
Unternehmen werden diese sogar doppelt bevorzugt.
Kapital wird bevorzugt, unter anderem – das ist allge-
mein bekannt – durch die Abgeltungsteuer. Sie geben
den Reichen und nehmen den Menschen, die Sie ohne-
hin schon immer abzocken.

Sie wissen genau, dass zwischen den Vermögen Wel-
ten liegen. So besaß laut einer DIW-Studie aus dem Jahr
2007 jeder Deutsche ein individuelles Geld- und Sach-
vermögen von rund 88 000 Euro, mit Pensions- und
Rentenanwartschaften rund 150 000 Euro. Gehen Sie
einmal auf die Straße und fragen Sie zum Beispiel die
Leute bei mir in Leipzig, ob sie sich da wiederfinden!
Fragen Sie die Verkäuferin, den Fernfahrer, Handwerker
aus kleinen und mittelständischen Betrieben, Rentnerin-
nen und Rentner!


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die gehen Ihnen nicht auf den Leim!)


Viele von ihnen, genau 27 Prozent, verfügen über gar
kein individuelles Geld- und Sachvermögen. Sie sind
zudem oftmals noch verschuldet. Viele Menschen müs-
sen beim Amt aufstocken – trotz Vollzeitarbeit. Da
braucht man sich nicht zu wundern, wenn das reichste





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Zehntel der Bevölkerung über ein Netto-Geld- und Sach-
vermögen von mindestens 222 000 Euro verfügt. Es ist
nicht so, dass wir ihnen das nicht gönnen,


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Nein! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das klingt aber ein bisschen so!)


aber wir sind strikt der Ansicht, dass allen Menschen
hierzulande ein Leben in Würde, mit Chancen für die
Zukunft ihrer Kinder zusteht.


(Zuruf von der FDP: Wie in der DDR!)


Noch eines. Frau Merkel ist zwar nicht da, aber ich
sage es trotzdem. Ein Fakt, der Frau Merkel als aus dem
Osten stammender Frau doch wirklich die Schamesröte
ins Gesicht treiben müsste, ist: Die Vermögensunter-
schiede zwischen Ost und West sind im Jahr 20 der deut-
schen Einheit immer noch wie Tag und Nacht.


(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Das ist doch Ergebnis Ihrer Vorgängerpartei!)


Während das Nettovermögen von 2002 bis 2007 in
Westdeutschland um rund 11 Prozent stieg, sank es in
Ostdeutschland um knapp 10 Prozent.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da haben Sie vorgearbeitet, Frau Höll!)


Da ist Ihre Forderung an die Menschen, privat für das
Alter vorzusorgen, doch glatter Unfug. Wovon sollen die
Menschen denn das bezahlen, frage ich Sie. Sollen sie
das von den Niedriglöhnen bezahlen, die Sie politisch
zulassen?

Offensichtlich fragen sich immer mehr Menschen:
Was macht die Regierung da oben? Hat sie überhaupt
noch eine Ahnung von unserem Leben? Was machen die
da in Stuttgart, wo gegen den Willen vieler Bürgerinnen
und Bürger sinnlos Milliarden verbuddelt werden?


(Lachen bei der FDP)


Wieso stimmen Sie zu, wenn die Atomlobby sich Sonder-
gewinne in Milliardenhöhe organisiert? Frau Merkel,
liebe Koalition, hier wieder die Frage: Haben Sie einmal
die Hartz-IV-Empfängerin gefragt, wie sie bei der 5-Euro-
Erhöhung Geburtstagsgeschenke für ihre Kinder kaufen
kann, wie sie sich mit dieser minimalen Erhöhung ein-
richten soll, wie sie da mit ihrer Menschenwürde „zu-
rechtkommen“ soll?

Zum Glück ändern sich die Zeiten. Ich sage Ihnen:
Wir brauchen endlich eine sozial gerechte und ökono-
misch wie ökologisch sinnvolle Politik. Genau das will
auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit Ihrer Steuersenkungsideologie, die Sie, meine Da-
men und Herren von Schwarz-Gelb, seit den 90er-Jahren
immer wieder vor sich her chauffieren, haben Sie zu ver-
antworten, dass wir in den letzten zwölf Jahren Steuer-
mindereinnahmen in Höhe von etwa 335 Milliarden
Euro hatten. Das ist ein Skandal. Wenn Sie endlich ein-
mal vom hohen Ross der Arroganz Ihrer Macht abstei-
gen und zuhören würden, was die Menschen in unserem
Lande denken, hätten wir vielleicht alle wieder die
Chance, dass eine vorwärtsweisende Politik betrieben
wird.

Wir brauchen vernünftigerweise erstens eine Vermö-
gensteuer. Auf Basis unseres Vorschlags einer Vermö-
gensteuer, nämlich 5 Prozent auf das Nettovermögen ab-
züglich eines Freibetrages von 1 Million Euro – ich
wiederhole: 1 Million Euro –, könnten bis zu 80 Milliar-
den Euro eingenommen werden,


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


80 Milliarden Euro, die die Bundesländer dringend für
öffentliche Investitionen brauchen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Dann fangt mal in Berlin damit an! Ihr regiert doch in Berlin!)


Wissen Sie eigentlich, wie viele Vermögensmillionäre es
im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik gab? Nach
einem Report von Merrill Lynch waren es 861 000, fast
50 000 mehr als noch vor zwei Jahren. So sehen die Zah-
len aus. Ich finde, auch die Vermögensmillionäre müssen
ihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leis-
ten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen zweitens eine Reform der Erbschaft-
steuer. Bei der Reform vor zwei Jahren haben Sie be-
wusst darauf verzichtet, mehr Geld einzunehmen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Auch die Erbschaftsteuer ist eine Ländersteuer! In Berlin kann man damit anfangen!)


Selbst wenn man diese Reform so durchführte, dass
Oma ihr klein Häuschen geschützt bleibt und kein Unter-
nehmen im Erbfall pleitegeht, könnten trotzdem
6 Milliarden Euro eingenommen werden. Der entspre-
chende Vorschlag liegt auf dem Tisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Dame und liebe Herren der FDP, wir könnten
tatsächlich die Bezieherinnen und Bezieher kleiner und
mittlerer Einkommen steuerrechtlich entlasten, nämlich
drittens durch eine Reform der Einkommensteuer.
Nach unserem Vorschlag würden im Vergleich zum Tarif
2010 alle Menschen mit einem zu versteuernden Ein-
kommen bis zu 70 245 Euro im Jahr entlastet werden;
alle Menschen, deren zu versteuerndes Einkommen da-
rüber liegt, würden belastet werden. Das ist ganz einfach
durch eine Neugestaltung des Tarifs zu erreichen. Wir
schlagen Ihnen vor, ausgehend von einem Eingangssteu-
ersatz von 14 Prozent und einem Grundfreibetrag von
9 300 Euro eine linear-progressive Gestaltung, hochge-
führt bis zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent,
vorzunehmen und durch diese Korrektur die Einkom-
mensteuer gerecht auszugestalten.


(Beifall bei der LINKEN)


In aller Deutlichkeit: Durch die Umsetzung unserer
Vorschläge – im Antrag sind ja noch mehr aufgeführt;
ich kann sie jetzt nicht alle erläutern – würde die wirt-
schaftliche Entwicklung nachhaltig gestärkt werden,





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

denn dadurch würde die Binnennachfrage angekurbelt
und die Kassen der Kommunen wären nicht mehr so
klamm. Werfen Sie endlich Ihre absurde Steuersen-
kungspolitik über Bord. Sie gefährdet den Zusammen-
halt der Gesellschaft. Wohin Gier und Spekulation füh-
ren, haben wir in der Finanzkrise gesehen. Ich sage
Ihnen: Vermögenskonzentration befördert Spekulation.

Lassen Sie mich persönlich enden: Wenn mich meine
siebenjährige Tochter fragt, warum einige Kinder in ih-
rer Schule arm sind, dann möchte ich ihr eigentlich nicht
mehr sagen müssen, dass das noch lange so bleibt. Tun
Sie etwas, damit ich das nicht mehr sagen muss! Tun Sie
endlich etwas; denn dieses Land gehört allen Menschen,
nicht nur den Reichen, den Lobbyisten und den Regie-
renden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706504500

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1706504600

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Die Fraktion Die Linke fordert als Ausweg aus der
Krise, wie wir gerade gehört haben, zwölf steuerpoliti-
sche Maßnahmen, darunter vor allem Steuererhöhungen:


(Zuruf von der LINKEN: Ja, selbstverständlich!)


die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Erhöhung
der Körperschaftsteuer um 60 Prozent, ganz allgemein
die Besteuerung von Extraprofiten, die Einführung einer
Kerosin- und einer Schiffsbenzinsteuer, eine Erhöhung
der Erbschaftsteuer,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


eine Boni-Steuer in Höhe von 50 Prozent, die Erhebung
der Vermögensteuer und nicht zuletzt die Anhebung des
Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer.


(Beifall bei der LINKEN)


Offensichtlich ist es das Allheilmittel der Linken gegen
alles, den Menschen in diesem Land immer mehr Geld
aus der Tasche zu ziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Nun muss man kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um
zu erkennen, dass die von Ihnen jetzt – in der Phase des
Aufschwungs – geplanten massiven Steuererhöhungen
den Aufschwung beenden würden.

Sie beklagen in Ihrem Antrag die Steuersenkungen
der letzten Jahre. Sie sprechen gar von „Steuerdumping“
in unserem Land. Sie haben vorhin die Hartz-IV-Emp-
fänger angesprochen. Haben Sie schon einmal die Men-
schen, die in diesem Land Steuern zahlen, die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die den
Karren ziehen, gefragt, ob sie das Gefühl haben, in ei-
nem Niedrigsteuerland zu leben?


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren ja!)


Die jährlichen Steuereinnahmen sind in den letzten
fünf Jahren um 72 Milliarden Euro gestiegen. Das sind
72 Milliarden Euro Mehreinnahmen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Aber die Steuerquote ist gesunken!)


Schauen wir uns einmal die Steuer- und Abgabenquote
an: Eine Familie in Deutschland bezahlt Abgaben und
Lohnsteuern in Höhe von etwa 40 Prozent. Damit sind
wir im internationalen Vergleich an dritter Stelle der
Rangliste der Belastungen. Bei der Unternehmensbe-
steuerung, bei der Sie beklagen, dass sie zu niedrig ist,
liegt Deutschland mit einer tariflichen Gesamtbelastung
für Kapitalgesellschaften von knapp über 30 Prozent
weltweit auf Rang acht in der Hitliste der Höchststeuer-
länder.

Sie behaupten, Folge des angeblichen Steuerdum-
pings seien unsoziale Ausgabensenkungen.


(Zuruf von der LINKEN: Ja, selbstverständlich!)


Schauen wir uns doch einmal die Sozialausgaben der
letzten Jahre an: Sie sind allein beim Bund von
50 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf heute, im
Jahr 2010, 173 Milliarden Euro gestiegen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist die Folge wachsender Armut! Das ist doch klar! Darauf können Sie doch nicht stolz sein!)


Die Ausgaben im sozialen Bereich haben sich also mehr
als verdreifacht. Die Staatsquote ist nicht etwa gesunken.
Nein, sie ist auf über 50 Prozent gestiegen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Jetzt in der Krise!)


Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie? Wenn man
den Antrag der Linken liest, dann hat man, mit Verlaub,
das Gefühl, einige von Ihnen denken immer noch, um
dieses Land herum wäre eine Mauer. Wachen Sie auf!
Wir stehen im internationalen Wettbewerb; wir befin-
den uns mitten in der Globalisierung. Das gilt auch für
den Bereich der Steuern.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Eben!)


Man kann das beklagen. Ja, Wettbewerb ist unange-
nehm. Man muss sich anstrengen. Man kann nicht han-
deln, als wäre man auf einer einsamen Insel.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Genau deshalb dürfen wir nicht so handeln!)


Die Globalisierung führt auch dazu, dass wir in der Poli-
tik manchmal Getriebene sind. Das ist nicht schön; aber
es ist eine Tatsache. Da können Sie den Kopf nicht in
den Sand stecken: Wir sind in eine internationale Ent-
wicklung eingebettet, der wir uns als einzelne Nation
nicht verschließen können. Wir müssen reagieren, um





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)

dieses Land im internationalen Wettbewerb vorne zu
halten. Nur wenn wir in diesem internationalen Wettbe-
werb mithalten, können wir die Arbeitsplätze in diesem
Land sichern und den breiten sozialen Wohlstand in die-
sem Land erhalten.

Wir haben uns in der Regierung, auch in der Vorgän-
gerregierung, angestrengt, und zwar mit Erfolg: Zu Be-
ginn der letzten Legislaturperiode sind wir mit
5 Millionen Arbeitslosen in diesem Land gestartet;
heute, fünf Jahre später, liegt die Zahl bei 3 Millionen,
Tendenz weiter sinkend.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Baden-Württemberg haben wir sogar Vollbeschäfti-
gung. Das ist soziale Gerechtigkeit. Wir werden interna-
tional dafür bewundert, wie wir diese Krise meistern,
wie wir sie bisher überstanden haben. Auch unsere Steu-
erpolitik hat dafür gesorgt, dass dieses Land zurzeit
boomt und viele Menschen in diesem Land, nämlich
2 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren, wieder aus-
kömmliche Arbeit finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Eben nicht auskömmlich!)


Sie hinken mit Ihrem Antrag zur Überwindung dieser
Krise ziemlich hinterher.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Warum?)


Mittlerweile liegen die Prognosen für das Wirtschafts-
wachstum für das laufende Jahr bei über 3 Prozent.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nach 5 Prozent Rückgang!)


Wir haben Wachstum, es entstehen neue Arbeitsplätze,
es gibt Lohnerhöhungen, und die Binnenkonjunktur
zieht an. Lesen Sie die Statistiken: Die Verbraucherstim-
mung in unserem Land ist wieder hervorragend.

Mit den Steuererhöhungsorgien, die Sie vorschlagen,
machen Sie einen doppelten Salto rückwärts direkt in die
Krise.


(Zuruf von der FDP: Richtig!)


Was glauben Sie denn, was passiert, wenn Sie eine fünf-
prozentige Abgabe auf Vermögen mit einem Wert von
über 1 Million Euro einführen? Das klingt zunächst herr-
lich gut: Ich nehme es den Reichen und gebe es den Ar-
men; Robin Hood lässt grüßen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber es gilt der Grundsatz: Sie machen die Schwachen
nicht stark, indem Sie die Starken schwächen. – Sie
schlagen vor, eine jährliche, fünfprozentige Steuer auf
Vermögen zu erheben. Wissen Sie, wie hoch die durch-
schnittliche Immobilienrendite ist? Wenn man ein Im-
mobilienvermögen hat – in Ihren Augen sind das die
bösen Menschen –, dann erzielt man eine durchschnittli-
che Rendite von 3,5 Prozent pro Jahr. Sie wollen nun
5 Prozent abgreifen; damit nehmen Sie den Menschen
nicht nur den Gewinn, sondern Sie enteignen sie.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie gehen in die Substanz!)


Ich frage mich: Wer investiert dann noch in unserem
Land? Wer soll dann die Mietwohnungen bauen?


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Der Staat!)


Wer soll in Mietwohnungen investieren? Sie schaden mit
Ihrem Vorschlag genau denjenigen, denen Sie eigentlich
helfen wollen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wohnungsbaugesellschaften wie in Berlin! – Gegenruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die haben an der Börse spekuliert!)


Zusätzlich zur Vermögensteuer wollen Sie nun auch
noch den Spitzensteuersatz erhöhen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja, wie bei Helmut Kohl!)


Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass in diesem Land
10 Prozent der Bezieher der oberen Einkommen bereits
mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent, des gesamten
Steueraufkommens schultern?


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja, weil viele andere keine Steuern mehr zahlen können, weil sie wenig verdienen! Wenn sie arm sind, können sie keine Steuern zahlen!)


Ich mag dieses Land. Ich lebe gern in Deutschland.
Wie viele andere Menschen in diesem Land zahle ich
klaglos meine Steuern, weil ich weiß, dass unser Land
viel bietet.


(Florian Pronold [SPD]: Eine wandelnde Klagemauer, was die Steuern angeht!)


Wir haben eine gute Infrastruktur, wir haben Sicherheit
und gute Bildung. Wir leben in Freiheit, wir haben eine
hervorragende Gesundheitsversorgung, soziale Gerech-
tigkeit und breiten Wohlstand. Wenn Sie die Steuerlast
und die Abgabenlast immer weiter nach oben schrauben,
wenn sich Leistung in diesem Land nicht mehr lohnt,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die Mehrzahl der Einkommensteuerzahler entlasten wir!)


wenn das Steuerrecht zur Enteignung pervertiert, dann
sind die Grenzen in diesem Land offen. Dann werden
Sie erleben, dass immer mehr Leistungsträger in unse-
rem Land den Verlockungen anderer Gesellschaften und
anderer Staaten nicht mehr widerstehen.


(Florian Pronold [SPD]: Wir haben eine richtig fundamentale Debatte! Die Marktfundamentalisten sind am Mikro!)


Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem Leistung und
Gegenleistung in keinem Verhältnis mehr stehen. Die
meisten Menschen sind so – Sie mögen das beklagen –:
Sie strengen sich nicht an, wenn es sich nicht lohnt.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: In der DDR war das so!)






Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)

Das müssen Sie akzeptieren. Sie müssten das am besten
wissen. Haben Sie nicht das Experiment mit Ihrem real
existierenden Sozialismus gemacht? Hat Ihnen das nicht
die Augen geöffnet? Menschen sind, wie sie sind. Es
muss sich lohnen, dann strengt man sich an.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Das ist ja wohl der letzte Unsinn, den Sie hier erzählen! Schnösel! – Gegenruf des Abg. Florian Pronold [SPD]: Schnösel ist noch viel zu nett!)


Unser Weg aus der Krise sieht anders aus. Mit den
Konjunkturpaketen und dem Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz sowie dem Bürgerentlastungsgesetz haben
wir gezeigt, wie wir dieser Krise begegnen, und zwar er-
folgreich, wie man an den aktuellen Zahlen erkennen
kann.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706504700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Nicolette Kressl (SPD):
Rede ID: ID1706504800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eigentlich hätten wir es in dieser Debatte über Steuer-
politik verdient, ein bisschen weniger Ideologie von bei-
den Seiten präsentiert zu bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na ja, was ist denn Ideologie?)


Herr Michelbach fragt mich gerade: Was ist denn Ideolo-
gie? Wenn Herr Gutting sagt: „Leistung muss sich wie-
der lohnen“ – und damit die Steuerlast anspricht –, dann
vergisst er dabei völlig, dass Menschen, die Vollzeit ar-
beiten und zum Sozialamt müssen, um eine Aufstockung
zu bekommen, nicht den Eindruck haben, dass sich ihre
Leistung lohnt. Dazu hat er überhaupt nichts gesagt. Ich
finde, das ist ganz schön viel Ideologie.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Olav Gutting [CDU/CSU]: Das ist auch nicht das Thema hier! Es geht um Steuern und nicht um Abgabenpolitik!)


– Ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt so aufgeregt sind.
Man merkt schon manchmal: Wenn die Hündchen bel-
len, sind sie getroffen. Das müssen Sie aber mit sich
selbst klären.

Die Debatte heute könnte eigentlich Anlass sein, da-
rüber nachzudenken, warum wir Steuern brauchen. Das
wäre eine spannende Debatte, aufgrund derer dann damit
aufgehört würde, dass die einen möglichst viele Steuern
als gut und die anderen niedrige Steuern als Freiheits-
ideal per se bezeichnen. Darum geht es nämlich nicht.
Die Menschen haben es verdient, dass wir einmal genau
überlegen, warum wir überhaupt Steuern brauchen.

(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und wofür brauchen wir Steuern? Jetzt bin ich mal gespannt!)


Daraus muss dann die Schlussfolgerung gezogen wer-
den, wie viele Steuern wir brauchen. Wenn ich von „wir“
spreche, meine ich damit nicht uns hier vor Ort. Wer mit
„wir“ gemeint ist, sollte in der Steuerdebatte öfter the-
matisiert werden. Es geht um die Gesellschaft. Wir wol-
len dafür sorgen, dass eine solidarische Gemeinschaft
entsteht. Das „wir“ steht nämlich für diejenigen, die hier
leben, die hier arbeiten, die hier aufwachsen und die hier
Arbeitsplätze schaffen.

Bei der Analyse kann man zu unterschiedlichen
Schlussfolgerungen kommen. Ich finde es allerdings
schade – das habe ich bei beiden Rednern heute hier ge-
merkt –, dass vorher keine ordentliche Analyse erfolgt
ist.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir gehen sehr kritisch mit der Frage der Steuerlast um. –
Herr Gutting, bei den Niedrigeinkommen ist es übrigens
die Abgabenlast, die zu den 40 Prozent führt, und nicht
allein die Steuerlast.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Olav Gutting [CDU/CSU]: Das sage ich doch die ganze Zeit!)


Darüber können wir reden. Sie sagen aber immer: Eine
niedrige Steuer ist gut. Ob die Steuern niedrig oder hoch
sind, ist für Geringverdiener nicht die Problematik; sie
werden Sie durch Ihre Einsparungen auch nicht entlas-
ten.

Wir müssen deutlich machen, dass uns bewusst ist,
dass es sich bei den eingenommenen Steuern um die
Mittel der Menschen handelt, die arbeiten. Diese Steuern
brauchen wir für die Gemeinschaft. Das bedeutet – ich
habe das schon gesagt –: Wenn es um die Höhe der Steu-
ern geht, müssen wir uns daran orientieren, wie viel der
Staat braucht. Der Staat ist in diesem Fall ausdrücklich
nichts Negatives. Der Staat ist in unserer gesellschafts-
politischen Betrachtungsweise derjenige, der durch Aus-
gleich für gleiche Chancen für alle Menschen sorgen
kann. Das ist der entscheidende Punkt. Dazu gehört für
mich auch, dass Menschen, unabhängig von ihrer Her-
kunft, von Anfang an Chancen auf Bildung und Aufstieg
haben.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist unbestritten!)


In Bezug darauf sind Steuern nichts Negatives. Durch
sie können wir organisieren, dass Menschen Chancen
auf Bildung und Aufstieg haben.


(Beifall bei der SPD)


Meine Schlussfolgerung lautet: Es ist falsch, Steuer-
senkungen und möglichst niedrige Steuern als Selbst-
zweck hinzustellen. Es ist auch falsch, möglichst hohe
Steuern nur wegen der Umverteilungswirkung als
Selbstzweck hinzustellen.





Nicolette Kressl


(A) (C)



(D)(B)


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wegen der Einnahmewirkung!)


Ich möchte trotz meiner kurzen Redezeit eine Ana-
lyse einbringen. Ich finde, dass die Höhe der verteilten
Steuern kein Kriterium für die Beurteilung sein kann,
wie gerecht es in einem Staat zugeht. Damit es kein
Missverständnis gibt: Die Frage der Verteilung der Steu-
erlast ist sehr wohl ein Kriterium für die Frage, wie ge-
recht es in einer Gesellschaft zugeht.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dafür haben wir den progressiven Tarif!)


– Herr Michelbach, ich weiß, dass Sie immer mit dem
progressiven Tarif kommen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ja!)


Der entscheidende Punkt bei der Analyse ist, dass
man sich nicht nur auf die Frage der Einkommensbesteu-
erung konzentrieren darf. Zu einer Gesamtanalyse ge-
hört die Frage, wie die Steuerlast in Deutschland insge-
samt verteilt ist.


(Beifall bei der SPD)


Herr Michelbach, bei der Analyse hilft ein Blick auf die
Statistik der OECD.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die ist aber falsch!)


Das ist interessant, Herr Michelbach. Weil Ihnen die
Statistik der OECD nicht passt, behaupten Sie einfach,
sie sei falsch.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das habe ich schon mehrfach gegenüber der OECD gesagt!)


Mit dieser Statistik – ich sage das, damit alle verste-
hen, worüber wir sprechen – hat die OECD Deutschland
eindeutig bescheinigt, dass im internationalen Vergleich
nicht die Einkommensteuer, die Sie immer als Alibi an-
führen, sondern die Vermögensbesteuerung weit unter
dem Durchschnitt liegt. Deswegen muss man zwar nicht
gleich nach einer Steuererhöhung schreien; aber es ge-
hört selbstverständlich zu unserer Pflicht, darüber nach-
zudenken, wie wir diese Schieflage verändern können.
Das gehört einfach zu unseren Pflichten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei der Analyse der Situation muss man sich einige
Fragen stellen. Wir Sozialdemokraten fragen uns zum
Beispiel: Können Kommunen im Moment optimale Bil-
dungs- und Fördermöglichkeiten für unsere Kinder
anbieten? Können die Kommunen gute Lebens- und Ar-
beitsbedingungen für Unternehmen und Einwohner si-
cherstellen? Ich sage Ihnen: Bei einem Finanzierungsde-
fizit von 12 bis 15 Milliarden Euro, das die Kommunen
erwarten – das sind ihre eigenen Angaben –, können
diese Fragen nicht mit Ja beantwortet werden. Deswegen
haben wir als Steuergesetzgeber die Pflicht, uns zu über-
legen, wie wir das ändern können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sagen deswegen nicht, dass bei der Gewerbesteuer
in den letzten Jahren der falsche Weg eingeschlagen
wurde. Sie tun immer so, als seien nur die Gewerbesteu-
ereinnahmen eingebrochen. Die Zahlen sagen etwas an-
deres. Sie zeigen, dass die Gewerbesteuereinnahmen
trotz kleiner Einbrüche ständig steigen. Deshalb sagen
wir Sozialdemokraten: Mit uns wird es eine Abschaf-
fung der Gewerbesteuer nicht geben. Wir wollen eine
Stabilisierung und nicht das, was Sie auf den Weg brin-
gen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen auch fragen: Können die Länder mit den
derzeitigen Steuereinnahmen ein optimales Bildungs-
angebot schaffen? Wir finden, dies ist nicht nur eine
Frage der individuellen Chancengerechtigkeit, sondern
auch eine ökonomische Frage. Wenn wir uns im Bil-
dungsbereich nicht bewegen, werden wir wirtschafts-
politisch in wenigen Jahren am Ende des Zuges ange-
kommen sein. Das können wir uns nicht leisten. Wir
müssen ehrlich miteinander umgehen und nicht mög-
lichst niedrige Steuern als Wert an sich propagieren.

Wir müssen auch fragen: Ist die Bundesebene in der
Lage, ihre Aufgabe, eine gute Infrastruktur für Bürger
und Unternehmen zu schaffen, zu erfüllen? Können wir
tatsächlich genügend wirtschaftspolitische Impulse set-
zen? Können wir genügend Geld für Investitionen und
Forschung ausgeben? Können wir tatsächlich für eine
positive Konjunkturentwicklung sorgen? Können wir
dafür sorgen, dass wir in Zukunft ökologisch und nach-
haltig wirtschaften? Das sind die Fragen.

Ich finde, es steht uns in der Politik gut an, einzuge-
stehen bzw. klarzumachen, dass sich die Analyse ändern
kann. Wir befinden uns in der Zeit nach der Wirt-
schafts- und Finanzmarktkrise. Deswegen sehen ei-
nige Schlussfolgerungen jetzt anders aus; das ist doch
klar. Wir haben massiv mit Steuermitteln eingreifen
müssen. Das wurde von großen Teilen dieses Parlaments
akzeptiert; aber das hat alle staatlichen Ebenen belastet.
Also müssen wir jetzt überlegen, welche Konsequenzen
wir daraus ziehen müssen.

Wir sind der Überzeugung, dass Ziel der Steuer- und
Abgabenpolitik ist, für eine angemessene und verlässli-
che Finanzierung der Aufgaben aller staatlichen Ebenen
zu sorgen. Auch die Verteilung der Lasten auf dem Weg
zu diesem Ziel muss gerecht sein.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb sprechen wir uns – ich habe das schon ange-
sprochen – für eine stärkere Besteuerung der privaten
Vermögen aus. Aber, Frau Höll, ehrlich gesagt: 80 Mil-
liarden Euro durch 5 Prozent – das ist illusorisch. Das ist
völlig daneben und wirtschaftsfeindlich. Ich finde, wenn
man über eine gerechte Verteilung redet, muss man auch
die Arbeitsplatzwirkung im Kopf haben. Deswegen sage
ich: Weder die Ideologie von links noch die von ganz





Nicolette Kressl


(A) (C)



(D)(B)

rechts passt. Wir müssen überlegen, was wir tun können,
um unser Land nach vorne zu bringen, und zwar auch
steuerpolitisch. Für uns gehört die verstärkte Vermö-
gensbesteuerung dazu, aber nicht in dem Ausmaß, wie
Sie sich das vorstellen.


(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 50 000 von 2 Millionen! Das ist nicht zu viel! Das ist völlig in Ordnung!)


Wir wollen – das hat die Sozialdemokratie beschlos-
sen – bei der Einkommensbesteuerung einen höheren
Spitzensteuersatz greifen lassen, jedoch später als jetzt.
Er soll bei verheirateten Paaren ab einem zu versteuern-
den Einkommen von 200 000 Euro greifen. Wir glauben,
das ist ein guter, aber gemäßigter Weg, der in diesem
Fall auch dafür sorgen kann, dass Aufgaben besser er-
füllt werden. Ich habe vorhin schon gesagt – ich möchte
es jetzt bei der Darstellung des Gesamtpakets wiederho-
len –, dass wir auch eine Stärkung der Gewerbesteuer
wollen. Im Übrigen – das finde ich ganz wichtig, wenn
wir über Föderalismus reden – wollen wir, dass der Steu-
ervollzug der bestehenden Gesetze besser durchgeführt
wird; denn auch das gehört zur Steuergerechtigkeit.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wo haben Sie das gemacht?)


Der entscheidende Punkt wird sein, das Ganze zu einem
stimmigen Paket zusammenzufügen:


(Frank Schäffler [FDP]: Schlüssiges Gesamtkonzept!)


solidarische Finanzierung auf der einen Seite, Möglich-
keit für Investitionen in Bildung, Forschung und Wirt-
schaft auf der anderen Seite.

Beim Begriff „stimmig“ lohnt sich ein Blick in den
Antrag der Linken; das kann ich Ihnen nicht ganz erspa-
ren. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass da-
rin steht: Viel ist auf jeden Fall gut. – Auf den zweiten
Blick finde ich es noch interessanter. Dort steht zum Bei-
spiel: Wir wollen 10 Milliarden Euro Steuern weniger
einnehmen, indem wir in vier Bereichen einen ermäßig-
ten Mehrwertsteuersatz einführen. – Ich verstehe
nicht, dass Sie nicht lernfähig sind. Spätestens ein Jahr
nachdem die Koalition diese grandiose Hotelsteuerermä-
ßigung beschlossen hat, wissen Sie doch, dass das Geld
nicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an-
kommt.


(Beifall bei der SPD)


Sie fordern zum Beispiel ernsthaft, bei Medikamenten
auf 4 Milliarden Euro Steuereinnahmen zu verzichten,
obwohl wir nach der Erfahrung mit der Hotelsteuerermä-
ßigung davon ausgehen müssen, dass das Geld bei den
internationalen Konzernen hängen bleibt. Was soll daran
gerecht sein? Ich bitte Sie!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Forderung bezüglich einer Umsatzsteuerermäßi-
gung, die, wie wir wissen, nicht bei den Verbrauchern
ankommt, ist nicht nur populistisch, sondern, ehrlich ge-
sagt, steuerpolitisch ganz schön naiv und blind. Deshalb
werden wir diesem Antrag nicht zustimmen können.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist ja enttäuschend!)


Das ist nicht das, was wir für nötig halten, nämlich ein
ausgewogenes Verhältnis von sinnvollen Investitionen
und gerechter Steuerverteilungspolitik.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Verschmähte Liebe! Das gibt es doch gar nicht!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706504900

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1706505000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Selbst die SPD sagt, dass Ihre Forderung nach
einer Vermögensteuer, die 80 Milliarden Euro Steuer-
mehreinnahmen ergeben soll, bestenfalls lächerlich ist.
Frau Kollegin Höll, finanzieren können Sie mit dieser
Luftbuchung in diesem Staat gar nichts.


(Florian Pronold [SPD]: Mit Luftbuchungen kennen Sie sich aus, Herr Wissing!)


Sie können damit der Wirtschaft schaden, Sie können
diesem Standort schaden, Sie können Arbeitsplätze ge-
fährden, aber Sie können so überhaupt nichts erreichen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das gilt für Ihren gesamten Antrag. Sie haben nicht
ein positives Wort über die Menschen geschrieben, die
den Sozialstaat finanzieren. Sie haben kein positives
Wort über Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geschrie-
ben.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Ihre Devise ist: Wer in diesem Land viel arbeitet, der soll
sich schämen und möglichst hohe Steuern zahlen, damit
die Linken das verteilen können. Das ist der Geist Ihres
Antrags.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist ja so platt!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706505100

Herr Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Birkwald?


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1706505200

Ja, bitte.


(Florian Pronold [SPD]: Verlängert dem doch nicht die Redezeit!)







(A) (C)



(D)(B)


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706505300

Herr Kollege Wissing, sind Sie bereit, zur Kenntnis

zu nehmen, dass die Kollegin Dr. Barbara Höll vorhin in
ihrer Rede deutlich gemacht hat, dass die Linke auch für
die Einkommensteuersenkung all derer eintritt, die null
bis 70 000 Euro brutto im Jahr verdienen und dass wir
damit selbstverständlich die Leistung derjenigen goutie-
ren, die viel und gut arbeiten? Denn für wenig Arbeit be-
kommt man ein solches Einkommen nicht. Nehmen Sie
auch zur Kenntnis, dass wir insofern einerseits die Partei
der sozial Benachteiligten, andererseits auch die Partei
der Mittelschicht sind?


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1706505400

Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie die ungeheuerliche

Behauptung aufstellen, dass die Linke die Partei der
Mitte sein möchte.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der Mittelschicht!)


Das nehme ich zur Kenntnis. Ich weise das aber, Herr
Kollege, mit aller Entschiedenheit zurück; denn Sie ha-
ben in diesem Parlament bisher nur Anträge vorgelegt,
die einen Angriff nach dem anderen auf die Mitte dieses
Landes darstellen. Diese Angriffe wehren wir entschlos-
sen ab, weil wir der Meinung sind, dass die leistungsfä-
hige Mitte dieses Landes


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber wir entlasten auch 70 000 und finanzieren das gegen! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die haben Sie ja noch mehr belastet!)


nicht durch die Linken in diesem Hause beschädigt wer-
den darf. Sie braucht vielmehr Unterstützung, weil die
Leistungsträgerinnen und Leistungsträger der Bundesre-
publik Deutschland ungerecht besteuert werden. Es gibt
einen Mittelstandsbauch


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wir haben vorgeschlagen, ihn abzuschaffen! Und was war? Sie stimmten nicht zu! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir haben gesagt: Den Mittelstandsbauch schaffen wir ab!)


und eine kalte Progression. Dieses Problem müssen wir
angehen. Man löst es aber nicht, indem man diese Men-
schen ständig beschimpft, so wie Sie es tun, und man
löst es auch nicht, indem man für die Bezieher von mitt-
leren Einkommen ständig noch höhere Steuern fordert.


(Florian Pronold [SPD]: Aber der Mittelstandsbauch ist doch von einer FDP-Regierung beschlossen worden! Das wart ihr doch selber! Eigene Sünden! – Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch der Waigel-Bauch!)


Sie sind nicht ansatzweise eine Partei für den Mittel-
stand. Sie sind auch keine Partei für die Mitte. Wenn
man sich vergegenwärtigt, Herr Kollege, dass Sie
80 Milliarden Euro jährlich

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jetzt aber nicht ausweichen, sondern die Frage beantworten! – Katja Kipping [DIE LINKE]: Frage!)


– lassen Sie mich doch antworten! – durch eine Vermö-
gensteuer aus der deutschen Wirtschaft und dem deut-
schen Mittelstand


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sind Millionäre der Mittelstand? – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist doch Privatvermögen!)


– ich bin noch nicht fertig – herausziehen möchten, dann
können Sie sich nicht hinstellen und behaupten, Sie
seien eine Partei, die sich für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer einsetzt. Denn das Schlimmste, was man
den Menschen antun kann, ist, ihren Arbeitsplatz zu ge-
fährden. Das tun Sie mit Ihrem Antrag.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Alle Millionäre sind normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer! Genau!)


Lassen Sie uns über den Geist Ihres Antrags reden.
Wenn der Kollege Gutting, bezogen auf unser Steuersys-
tem – nur darüber hat er gesprochen –, völlig zu Recht
sagt, dass sich Leistung lohnen muss, dann hat er die
Wahrheit gesagt und eine Kernaussage der sozialen
Marktwirtschaft betont. Dass die Sozialdemokraten dem
widersprechen und das als Ideologie diffamieren, zeigt,
wohin Sie sich entwickeln, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie haben das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht
verstanden. Leistung ist nämlich nichts Schlechtes, son-
dern Leistung ist der Kern, auf dem dieses System be-
ruht. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur Verteilen,
sondern vor allem erst einmal Erwirtschaften, bevor es
etwas zu verteilen gibt. Dass die Linke das nicht ver-
steht, wundert uns nicht. Dass die SPD zunehmend ins
gleiche Horn bläst, ist bedauerlich.


(Florian Pronold [SPD]: Sich erst auf uns beziehen und uns dann kritisieren!)


Ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind im
Kern unsozial. Sie reduzieren den Sozialstaat auf einen
Verteilungsstaat;


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


deswegen hat auch Frau Kressl nur vom Verteilen ge-
sprochen. Ihr Sozialstaat ist auch kein aktivierender,
sondern er ist vor allen Dingen ein kassierender Sozial-
staat.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


Was Sie auf der Verteilungsseite an sozialer Gerechtig-
keit erreichen wollen, konterkarieren Sie durch soziale
Ungerechtigkeiten auf der Steuerseite.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706505500

Herr Kollege Wissing, gestatten Sie noch eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Troost?






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1706505600

Ja. Auch der Kollege Troost darf eine Zwischenfrage

stellen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706505700

Bitte sehr.


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706505800

Herr Kollege Wissing, auch unter Ihrer Mitwirkung

hat Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Die Frage ist: Hat
sich Leistung damals gelohnt oder nicht? Wenn wir
heute noch das Steuersystem von 1998 hätten, hätten die
öffentlichen Haushalte jedes Jahr um über 50 Milliarden
Euro höhere Steuereinnahmen. Insgesamt ist über eine
halbe Billion Euro durch die Steuersenkungspolitik, die
seitdem gemacht wurde, verloren gegangen.


(Frank Schäffler [FDP]: Quatsch! Das war eine gute Zeit für Deutschland!)


Ist es tatsächlich so, dass wir diejenigen sind, die Leis-
tung bestrafen? Oder kann man nicht, wenn man Steuer-
mehreinnahmen erzielt, auch für mehr Steuergerechtig-
keit sorgen?


(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hauptsache, es kommt keine Globalisierung!)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1706505900

Herr Kollege, Ihre Frage beruht auf einem Irrtum.

Das Problem der Linken ist: Sie nehmen immer irgend-
welche Zahlen, glauben, Sie könnten diese Zahlen der
Realität überstülpen und würden dann ein auch nur an-
satzweise realistisches Ergebnis erzielen. Das ist, wie
gesagt, ein Irrtum der Linken.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist ja völlig vorbei an der Frage! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Eine peinliche Antwort, Herr Kollege!)


Fakt ist, dass sich die Wirtschaft in diesem Land unter
der Regierung von Helmut Kohl positiv entwickelt hat.
Fakt ist, dass sich die Wirtschaft unseres Landes auch
unter dieser christlich-liberalen Koalition sehr positiv
entwickelt. Der IWF hat die Wachstumszahlen erneut
nach oben korrigiert.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und was hat die FDP damit zu tun?)


Was auch Sie freuen sollte – hier sollten Sie wirklich et-
was Positives für die Regierung übrig haben –, ist, dass
die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wie war das denn bei Helmut Kohl? – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Dazu haben Sie doch gar nichts beigetragen!)


Das ist die Messlatte, an der wir uns messen lassen wol-
len. Das sind die ersten Erfolge unserer wachstumsorien-
tierten Politik. Ihre Vergleiche hinken.
Fest steht: Die Bundesrepublik Deutschland ist auf ei-
nem guten Weg, weil diese christlich-liberale Koalition
wie eine Eins zur sozialen Marktwirtschaft steht. Sie tun
es nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Sie stellen Steuergerech-
tigkeit und soziale Gerechtigkeit immer wieder als Wi-
derspruch dar. In Wahrheit sind Steuergerechtigkeit und
soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie machen eine sozial ungerechte Politik und eine sozial ungerechte Steuerpolitik! Das stimmt!)


Ein gerechtes Steuersystem ist ein ganz erheblicher Bei-
trag für soziale Gerechtigkeit. Da Sie in Ihrem Antrag
wieder schreiben, dass das Steuerrecht Spitzensteuer-
satzzahler bevorzuge, will ich Ihnen die Fakten vorhal-
ten. Seit 1958, Frau Kollegin Höll, wurde bei nahezu je-
der Steuerreform der Einkommensfreibetrag angehoben
und der Eingangssteuersatz gesenkt. Das ist die Ent-
wicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinu-
ierlich wurde immer mehr für die Bezieher der unteren
Einkommen getan.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Immer wurde der Spitzensteuersatz gesenkt!)


1958 lag der Einkommensfreibetrag bei rund 860 Euro
bei einem Eingangssteuersatz von 20 Prozent. Heute
liegt er bei 8 004 Euro bei einem Steuersatz von 10 Pro-
zent. Sie beklagen, dass sich die Entwicklung für die
Empfänger niedriger Einkommen negativ und für Spit-
zensteuersatzzahler positiv darstelle.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist doch nur eine Anpassung an die Inflation!)


Jetzt reden wir über die Einkommensgrenze beim
Spitzensteuersatz. 1958 lag sie bei 56 000 Euro, wäh-
rend sie heute bei 52 000 Euro liegt. Das ist die gegen-
teilige Entwicklung.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sagen Sie doch mal die Steuersätze dazu!)


Der Staat hat den Spitzensteuersatz immer mehr zu ei-
nem Steuersatz der Mitte gemacht.

Sie behaupten, dass Spitzensteuersatzzahler reiche
Leute seien. Das ist Unfug. Sie können das so oft wie-
derholen, wie Sie wollen. Sie führen die Leute damit
hinter die Fichte. Der Spitzensteuersatz in Deutschland
ist der Steuersatz für Facharbeiter und für gut ausgebil-
dete Angestellte. Das ist nicht der Steuersatz von reichen
Leuten oder von Millionären.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Deswegen schieben wir das auch nach oben!)


Deswegen sind Sie keine Partei, die sich um die Mitte
in Deutschland bemüht. Sie sind eine Partei, die die
Mitte in Deutschland angreift, weil Sie sie abkassieren
wollen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt ja gar nicht!)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

Ihre falschen Behauptungen führen darüber hinaus dazu,
dass die Leute Ihnen auch noch glauben.


(Lachen bei der LINKEN)


Klargestellt werden muss, dass der Spitzensteuersatz der
Steuersatz für Facharbeiter und der Steuersatz der Mitte
ist. Eine Partei, die hier Hand anlegt, kann nichts mit so-
zialer Gerechtigkeit im Sinn haben, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Facharbeiter sind die Millionäre!)


Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dass
starke Schultern viel tragen. Bei Ihnen lautet die eigent-
liche Forderung, starke Schultern sollten alles tragen und
auch alles ertragen. Wir sagen: Auch dabei gibt es Gren-
zen. Für mittlere Einkommen und für die aufstrebende
Mitte in Deutschland muss es noch Luft zum Atmen ge-
ben. Sie braucht die soziale Marktwirtschaft.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Warum wächst das Vermögen so schnell an?)


Dort ist Leistungsbereitschaft vorhanden. Dort wird un-
ser Wohlstand erwirtschaftet.

Hören Sie auf, diese Leute zu diffamieren. Sagen Sie
doch einmal Danke an alle Empfänger mittlerer Einkom-
men in Deutschland,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sind nicht die mittleren, das sind die Spitzeneinkommen! Schauen Sie sich einmal die Einkommensverteilung an!)


die hohe Steuern zahlen und die mit Mittelstandsbauch
und kalter Progression auch während der Krise dazu bei-
getragen haben, dass der Staat handlungsfähig bleibt und
dass sich das Steueraufkommen positiv entwickelt. Das
ist die Leistung der Mitte in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Dass man diese Leute gegenwärtig nicht entlasten kann,
ist bedauerlich. Denn die Krise, Frau Kollegin Kressl,
liegt noch nicht hinter uns. Wir sind noch mitten in der
Krise. Aber man darf auch einmal der Mitte in Deutsch-
land danken:


(Zuruf von der LINKEN)


danke für die Leistungsbereitschaft, danke für die Finan-
zierung dieses Staates und des Sozialstaates. Das hätte in
Ihrem Antrag stehen müssen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir entlasten genau diese mit den Steuern!)


5 Prozent der oberen Einkommensschichten erwirt-
schaften heute bereits 42 Prozent des Einkommensteu-
eraufkommens.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]): 35 Prozent

der Gesamteinkommen!)
Sie können natürlich sagen: Warum erwirtschaften
5 Prozent nur 42 Prozent? Sie können sagen: Die sollen
alles machen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die haben aber so viel Einkommen!)


Das ist eben die Frage. Irgendwann kippt die Gerechtig-
keitsfrage.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: In der Tat!)


In Deutschland darf gesagt werden – Herr Kollege
Gutting hat es ausgeführt –: Leistung darf sich lohnen;
Leistung muss sich lohnen. Man darf sich mit den Men-
schen freuen, die sich in Deutschland anstrengen, die ih-
rer Arbeit nachgehen, die Risiken auf sich nehmen und
die investieren. Ich denke dabei an mittelständische Un-
ternehmen, an Handwerker, die auch in der Krise Risi-
ken eingehen, die an dieses Land und den Zusammenhalt
in dieser Gesellschaft glauben.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Glauben reicht nicht! Sie müssen etwas dafür tun!)


Man darf diesen Leuten danken und muss nicht fordern,
immer mehr abzukassieren. Ihre Umverteilungsfantasien
sind schlicht und einfach nicht finanzierbar.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben umverteilt!)


Selbst wenn Sie Ihren Angriff auf die Mitte in
Deutschland durchsetzen könnten, wären Ihre Umvertei-
lungsfantasien immer noch nicht finanzierbar.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jetzt ist aber gut!)


Deswegen: Hören Sie auf, dieses Ziel weiterzuverfol-
gen. Dafür finden Sie keine Mehrheiten in diesem Land.
Das ist gut so, weil Sie den Wohlstand in der Bundesre-
publik Deutschland in Wahrheit abbauen und nicht auf-
bauen helfen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, dass die
Linke für höhere Sozialleistungen durch höhere Steuern
kämpft. Die CDU/CSU und die FDP kämpfen dafür,
dass die Menschen Lohn und Arbeit haben, damit sie auf
Sozialleistungen nicht angewiesen sind. Das ist unsere
Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Wir verfolgen
sie weiter. Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlen
sprechen für sich. Deswegen brauchen wir Ihre nicht
einmal sinnvollen, geschweige denn gut gemeinten Rat-
schläge nicht.

Sie führen die Menschen mit falschen Informationen
hinter die Fichte


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein! Es ist Geld da!)


und leisten keinen Beitrag zur Stärkung des Wohlstandes
dieses Landes. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag
selbstverständlich ab.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706506000

Nun hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706506100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich

den Antrag gelesen habe, habe ich auch kurz darüber
nachgedacht, wie man mit diesem Antrag eigentlich um-
gehen soll. Man kann es so machen wie Frau Kressl: ein
bisschen Nachdenklichkeit darüberschütten.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weinerlichkeit! – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Pastoral!)


Der Grund ist, dass wir von Bündnis 90/Die Grünen die
Ziele, die Sie mit dem Antrag vorgeblich versuchen zu
erreichen, dass wir unser Land gerechter machen wollen,
dass wir die gewachsene Umverteilung zwischen Arm
und Reich umkehren müssen und dass wir die Binnen-
konjunktur stärken wollen, natürlich teilen.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber nur theoretisch!)


Ich habe Ihren Antrag gelesen und mich, weil Ihr
Konzept von einer Umsetzbarkeit wirklich so weit ent-
fernt ist wie das Wasser von der Wüste, dermaßen da-
rüber geärgert, dass ich mich doch einmal inhaltlich mit
Ihrem Antrag auseinandersetzen muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Endlich einmal eine ehrliche Antwort!)


Sie legen das ja als Ihr steuerpolitisches Gesamtkonzept
vor. Das muss man dann auch entsprechend würdigen.

Was schlagen Sie vor? Eine Aneinanderreihung von
Steuererhöhungen und eine Liste, in der Sie zum Teil
pseudogenau, an anderen Stellen, wie zum Beispiel bei
den ökologischen Steuern und bei der Einkommensteuer,
dagegen erstaunlich vage Angaben darüber machen, wie
hoch die Steuereinnahmen ausfallen werden. Unter dem
Strich haben Sie sich sage und schreibe 179 Milliarden
Euro zusammengerechnet. Wie das allerdings mit Ihrem
Ziel, die Binnenkonjunktur zu stärken, zusammenpassen
soll, wenn Sie 179 Milliarden Euro an Kaufkraft entzie-
hen, ist zumindest für jeden Volkswirt, den ich kenne,
ein Rätsel.


(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Und wieder ausgeben!)


– Das steht da aber nicht. – Ich habe noch einmal in Ih-
ren Pressemitteilungen nachgesehen. Sie schlagen ein
Konjunkturprogramm von 30 Milliarden Euro vor. Das
ist eine Mininummer gegenüber diesen 179 Milliarden
Euro. Das passt also schon einmal hinten und vorne
nicht zusammen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es ist ein Steuerantrag!)

Jetzt könnte man natürlich beschwichtigend einwer-
fen: Wenn man diese 179 Milliarden Euro nicht ernst
nimmt, sondern sich Ihre Steuervorschläge im Einzelnen
ansieht und versucht, das noch einmal seriös durchzu-
rechnen, dann kommt man vielleicht auf 50 Milliarden
Euro. Gut, aber, werte Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, was sollen wir denn nun tun? Sollen wir
Ihre Steuervorschläge inhaltlich ernst nehmen, aber die
Finanzierungszahlen nicht, oder sollen wir die Finanzie-
rungszahlen ernst nehmen, aber Ihre Steuervorschläge
nicht? Wie man es dreht und wendet: Dieser Antrag ist
schlichtweg nicht ernst zu nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das bedauere ich wirklich; denn bei der Aufgabe, vor
der wir in Deutschland stehen, nämlich die wachsende
Schere zwischen Arm und Reich in diesem Lande wie-
der zu schließen, brauchen wir Verbündete, aber es
braucht nun einmal ernst zu nehmende Verbündete.

Die Aufgaben sind eben nicht klein: Bis heute leistet
die Finanzwirtschaft, die vom Steuerzahler teuer vor
dem Kollaps gerettet werden musste, eben keinen Bei-
trag zur Finanzierung der Kosten der Krise. Bis heute
– so hat das Umweltbundesamt ausgerechnet – leistet
sich Deutschland jährlich 48 Milliarden Euro an umwelt-
schädlichen Subventionen. Bis heute sind Finanzämter,
insbesondere in schwarz-gelb regierten Bundesländern,
personell so unterbesetzt, dass Steuerhinterziehung in-
zwischen zum Volkssport geworden ist und die Finanz-
ämter nicht in der Lage sind, für einen gleichmäßigen
Steuervollzug zu sorgen. Diese Liste lässt sich fast un-
endlich fortführen. Das ist nicht hinnehmbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Stimmung in Deutschland ist prekär geworden.
Am 3. Oktober 2010 hat beispielsweise die Journalistin
Tissy Bruns, sicherlich stellvertretend für viele, ange-
sichts der wachsenden Ungleichheit, die viele Menschen
verunsichert, stresst und entmutigt, im Tagesspiegel sehr
grundsätzlich noch einmal die Frage aufgeworfen:

Sind wir noch das Land der sozialen Marktwirt-
schaft, das Spitzenprodukt des europäischen Sozial-
staatsmodells?

Nicht weniger als der Grundkonsens unserer Gesell-
schaft ist inzwischen dank Schwarz-Gelb gefährdet. Da-
rauf brauchen wir Antworten, aber keine scheinkonkre-
ten, sondern tatsächlich machbare und umsetzbare
Vorschläge, werte Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie sind umsetzbar!)


Besonders geärgert habe ich mich über Ihre soge-
nannte Millionärsteuer. So nennen Sie ja Ihre Vermö-
gensteuer. Endlich gibt es in dieser Gesellschaft wieder
eine aufkommende Bereitschaft, ernsthaft über die Erhe-
bung einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe, die
wir fordern, zu reden. Vermögende tun sich zusammen,





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)

werben öffentlich für die Idee und schalten Anzeigen.
Andere Bündnisse beginnen sich zu sammeln. In dieser
Situation legen Sie einen Antrag vor, in dem Sie allen
Ernstes vorschlagen, eine Vermögensteuer mit einem
Steuersatz von 5 Prozent einzuführen. Aber damit nicht
genug: Zusammen mit Ihrem Einkommensteuerkonzept
müssen Millionäre sichere Durchschnittsrenditen von
nicht 5 Prozent, nein, von 11 Prozent erzielen, um die
Steuern zahlen zu können und bei plus/minus null he-
rauszukommen. Das heißt, jeder Anleger macht mit sei-
ner Vermögensanlage im besten Fall keinen Verlust. Im
Normalfall zahlt er, egal bei welcher Anlage, drauf. Das
freut natürlich jeden Schwundgeldtheoretiker.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber ich frage Sie allen Ernstes: Was soll der Quatsch?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Sie müssten wissen, dass Vermögen seinen Marktwert
verliert, wenn keine Erträge erwirtschaftet werden. Bei
einer Vermögensteuer von 5 Prozent wäre der Preisver-
fall bei Aktien, Häusern, Unternehmen und Betriebsver-
mögen gigantisch. Ein Verfall von mindestens 80 Pro-
zent ist nicht unrealistisch. Das würde, ehrlich gesagt,
nicht nur die Börsenspekulanten sehr nervös machen.

Mein Problem ist: Mit solchen steuerpolitischen Kon-
zepten schaden Sie nicht nur sich und Ihrer politischen
Glaubwürdigkeit – das kann mir herzlich egal sein –,
sondern Sie diskreditieren damit die gesamte Idee einer
Vermögensteuer oder Vermögensabgabe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie stellen sich damit schlichtweg außerhalb einer je-
den ernsthaften Debatte um das Wie einer stärkeren Be-
steuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Mit
diesem Antrag erweisen Sie deshalb sich, aber vor allem
der Sache, einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit, einen
Bärendienst. Deswegen fordere ich Sie ernsthaft auf:
Ziehen Sie den Antrag zurück! Fangen Sie noch einmal
neu an!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706506200

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin

Dr. Höll.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706506300

Danke, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kollegin

Paus, ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Sie in
der Auseinandersetzung versuchen, unseren Antrag als
unernst zu bezeichnen. Wir können festhalten, dass wir
als Linke seit Jahren dafür kämpfen, wieder eine Vermö-
gensbesteuerung einzuführen. Sie, die SPD und die
Grünen, waren die ganze Zeit absolut nicht dafür. Es
freut mich, dass Sie inzwischen dazugelernt haben und
das Thema wieder angehen wollen.

Wir können uns gerne über die Höhe streiten. Wir ha-
ben jetzt 5 Prozent vorgelegt. Man kann darüber streiten.
Sie können auch 1 Prozent oder 2 Prozent vorschlagen.
Aber das ist eine andere Frage. Ich denke, es sollte poli-
tisch darum gehen, zu zeigen, dass die Vermögen besteu-
ert werden müssen.

Es wird auch nicht alles wegbesteuert. Wir haben ei-
nen Freibetrag von 1 Million Euro vorgeschlagen. Sie
wissen selbst, dass es riesige Unterschiede gibt. Es geht
um Privatvermögen, Herr Gutting und Herr Wissing.
Das haben Sie vorhin nicht ganz richtig mitbekommen.
Wer großes Vermögen hat, kann hier oftmals ganz an-
dere Renditen erwirtschaften.

Ich persönlich finde es bei einem Freibetrag von
1 Million Euro nicht sakrosankt – das ist damals selbst in
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht einheit-
lich abgelehnt worden –, wenn man mit einer Besteue-
rung zu einer Umverteilung kommen will und vielleicht
auch ein kleines bisschen an die Substanz herangeht. Da-
rüber sollte man tatsächlich nachdenken. Aus welchen
Gründen sollen riesige Vermögen so aufgehäuft bleiben
und als sakrosankt erklärt werden?

Hier ist über die Leistungsträger gesprochen wor-
den. Dazu möchte ich sagen: Erstens haben wir eine Ver-
schiebung. Über 50 Prozent der Steuern, die eingenom-
men werden, kommen aus der indirekten Besteuerung.
Jede Hartz-IV-Bezieherin und jede alleinerziehende
Mutter, die für ihr Kind einkauft, muss indirekte Steuern
zahlen. Das heißt, alle zahlen einen großen Beitrag.
Auch alle, die leider keine Arbeit haben oder so niedrig
bezahlt werden, dass sie Sozialleistungen beziehen müs-
sen, zahlen Steuern. Sie zahlen nämlich Verbrauchsteu-
ern. Das muss man vorneweg stellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Wissing, ich verlange, dass Sie den Antrag rich-
tig lesen. Wir haben darin aufgenommen, was wir in der
letzten Legislaturperiode gefordert haben, nämlich die
Streichung des Waigel-Bauches, den die schwarz-gelbe
Koalition eingeführt hat.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben doch keine fünf Minuten Redezeit!)


Ein linear-progressiver Tarif bedeutet eine Entlastung der
mittleren Einkommensgruppen. Wir entlasten bis zu ei-
nem zu versteuernden Einkommen von über 70 245 Euro.
Wir gehen mit unserer Verschiebung nämlich auch auf
die kalte Progression ein.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706506400

Frau Kollegin, ich darf Sie unterbrechen. Die Rede-

zeit für die Kurzintervention beträgt nur drei Minuten.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706506500

Das ist eine ordentliche Politik für die Bezieher mitt-

lerer Einkommen. Das können Sie nicht einfach beiseite-
wischen. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das die
Unwahrheit.





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706506600

Zur Erwiderung, Frau Paus.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706506700

Frau Dr. Höll, ich will mit Ihnen darüber diskutieren,

wie Umverteilung gehen kann, allerdings anhand von
machbaren Konzepten. Deswegen ärgert mich Ihr jetzi-
ger Vorschlag. Darüber haben wir schon im Februar
dieses Jahres geredet. Selbst wenn Ihr versammelter
Sachverstand es vorher nicht bemerkt hat, sollten Sie
spätestens nach der Debatte über die von Ihnen vorge-
schlagene Millionärsteuer im Februar eigentlich in sich
gegangen sein. Sie selber rühmen sich mit Ihrem Sach-
verstand. Die Linksfraktion hat einen Chefvolkswirt,
Herrn Schlecht. Die Linksfraktion hat in ihren Reihen ei-
nen emeritierten Professor der Volkswirtschaftslehre,
Herrn Dr. Schui. Die Linksfraktion hat einen promo-
vierten Volkswirt, der gerade neben Ihnen sitzt, Herrn
Dr. Axel Troost. Dieser versammelte Sachverstand
kommt zu dem unsinnigen Ergebnis, dass eine Vermö-
gensteuer in Höhe von 5 Prozent ein Aufkommen in
Höhe von 80 Milliarden Euro bringen soll. Wenn ein sol-
cher Unsinn erzählt wird, dann ist irgendwann – es tut
mir leid – die Grenze der Diskussionsfähigkeit erreicht.

Ich möchte mit Ihnen darüber reden, wie wir Deutsch-
land tatsächlich sozial gerechter gestalten können, aber
anhand von machbaren Vorschlägen. Ich möchte mich
mit den unsinnigen Vorschlägen der schwarz-gelben Ko-
alition auseinandersetzen. Aber Sie leisten uns einen Bä-
rendienst und spielen der Koalition in die Hände, weil
Sie Vorschläge machen, die nicht funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das nutzt niemandem. Deswegen habe ich hier die Gele-
genheit ergriffen, zu sagen: Kehren Sie zu einer vernünf-
tigen Grundlage zurück, auf der man diskutieren kann!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706506800

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Frank Steffel für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1706506900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht
sollte die Opposition ihre Bewertung und Kritik noch
einmal untereinander klären. Normalerweise sollten Op-
position und Regierung hier miteinander ringen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Was ist das für ein Parlamentsverständnis?)


Ich will auf einen Punkt hinweisen – ich habe der De-
batte sehr intensiv gelauscht –, der mir auffällt. Ich habe
den Eindruck, dass sich vier Fraktionen sehr ernsthaft
bemühen, im Detail darum zu ringen, welches der rich-
tige Weg hin zu sozialer Gerechtigkeit ist, welche die
richtige Verteilung der Lasten ist – das betrifft letztend-
lich rund 82 Millionen Deutsche –, die dazu beiträgt,
dass die Politik ihrem Auftrag, soziale Gerechtigkeit
herzustellen – Starke müssen gefordert und Schwache
gefördert werden –, nachkommen kann. Keiner von uns
hat heute die Lösung für die nächsten zehn Jahre. Die
Welt verändert sich. Wir müssen uns anpassen. Deutsch-
land muss sich anpassen. Die Politik muss sich anpassen.
Europa muss sich auf neue Herausforderungen einstel-
len. Deswegen ist die Debatte zwischen den vier genann-
ten Fraktionen aus meiner Sicht zielführend und richtig.

Es lässt uns alle nicht kalt, wenn wir wissen, dass die
Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland – übri-
gens am stärksten unter Rot-Grün – immer weiter aus-
einandergeht. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wis-
sen, dass Alleinerziehende mit geringem Einkommen es
in diesem Land verdammt schwer haben, ihren Kindern
einen Lebensweg, einen Berufsweg und eine Perspektive
zu eröffnen. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wis-
sen, dass 58-, 59- und 60-jährige Menschen unverschul-
det ihren Job verlieren und dann am Rand der Gesell-
schaft, am Rand des sozial Zumutbaren in diesem Land
leben müssen. Wir alle gemeinsam sind mit der Beant-
wortung der Frage befasst, was wir tun können. Woher
können wir Geld nehmen, das wir dringend brauchen,
wohlwissend, dass Schulden zulasten der nächsten Ge-
neration nicht die richtige und verantwortungsvolle Ant-
wort sein können?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen haben Sie intensiv gegen die Einführung der
Schuldenbremse gearbeitet; das sei nur erwähnt.

Ich gebe Ihnen recht, Frau Höll. Sie haben gesagt
– ich fand diesen Satz ein Stück weit entlarvend; Sie fan-
den ihn wahrscheinlich ehrlich –: Es gibt eine Alterna-
tive. – Ja, den Eindruck habe ich auch. Es gibt vier Par-
teien, die um die Ausgestaltung des Erfolgsmodells
soziale Marktwirtschaft ringen. Es gibt eine Partei, die
eine Alternative hat. Sie haben eine Alternative, die mit
der heutigen sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun hat.
Sie wollen Sozialismus. Sie wollen Kommunismus. Ich
werfe Ihnen das nicht vor; das ist völlig legitim.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den Unterschied kennen Sie gar nicht!)


Dafür werden Sie gewählt. Das ist Ihre Alternative. Ich
sage Ihnen: Erstens. Diese Alternative ist gescheitert. Sie
ist nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt
gescheitert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Wir wollen diese Alternative nicht. Auch das
gehört zur Wahrheit. Wir haben eine andere Vorstellung
von dieser Gesellschaft.

Man könnte es sich sehr leicht machen. Ich habe den
letzten Wahlkampf aufmerksam verfolgt. Die Linke hat
damals an der einen Laterne plakatiert – Sie erinnern sich
vielleicht –: „Reichtum für alle“. An der nächsten La-





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)

terne hing ein Plakat: „Reichtum besteuern“. Ja, meine
Damen und Herren, das heißt im Ergebnis höhere Steu-
ern für alle.


(Zuruf von der LINKEN)


Es disqualifiziert Sie und zeigt, worum es Ihnen wirklich
geht. Zumindest hat es mit seriöser Politik überhaupt
nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es auch
mit den Fakten. Es ist eine wichtige und eine schwierige
Debatte, und ich habe den Eindruck, dass zumindest zum
Teil ein falsches Bild von diesem Land gezeichnet und
damit ein falscher Eindruck erweckt wird. Ich weiß
auch, Frau Kressl, dass Lohn- und Einkommensteuer
nicht alles sind; das ist völlig klar. Wir haben Unterneh-
mensteuern, sowohl bei Körperschaften als natürlich
auch bei Privatunternehmen, die übrigens sehr massiv
dazu beitragen, dass in diesem Land und gerade in den
Kommunen erhebliche Steuermittel zur Verfügung ste-
hen. Außerdem gibt es in Deutschland Erbschaftsteuern.
Das ist eine ganz schwierige Debatte; wir alle kennen
aus unseren Wahlkreisen, aus dem familiären Umfeld
das Argument, das sei ja alles schon einmal versteuert,
man habe es gespart und müsse jetzt noch einmal Steu-
ern bezahlen. Das sind ganz schwierige Themen.

Aber lassen Sie uns bei Lohn- und Einkommensteu-
ern bleiben. Dazu nenne ich noch einmal drei, vier Zah-
len, auch für unsere zumeist jungen Zuschauer. Meine
Damen und Herren, 10 Prozent der Steuerpflichtigen in
Deutschland schultern 55 Prozent unserer Lohn- und
Einkommensteuern.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na und?)


Diese Zahl müssen wir einfach einmal ganz nüchtern zur
Kenntnis nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich nenne in diesem Zusammenhang die zweite Zahl:
50 Prozent der Steuerpflichtigen – das sind übrigens auch
fleißige Menschen, die in diesem Land jeden Morgen auf-
stehen und arbeiten – zahlen nur 5 Prozent der Lohn- und
Einkommensteuern in Deutschland. Die Hälfte der Men-
schen trägt also nur mit 5 Prozent bei. Wer jetzt den Ein-
druck erweckt, das wäre ein ungerechtes Steuersystem,
der streut den Menschen bewusst Sand in die Augen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weil sie so wenig verdienen!)


Ich will einen zweiten Punkt nennen. Durch die Ent-
scheidung dieser schwarz-gelben Koalition ist seit die-
sem Jahr der Grundfreibetrag für Kinder auf 7 000 Euro
erhöht, und gleichzeitig können Krankenversicherungs-
beiträge abgesetzt werden.

Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass eine
Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern in
Deutschland bis zu 36 000 Euro Jahreseinkommen kei-
nen Cent Steuern mehr bezahlt. Auch das ist eine ganz
soziale und gerechte Politik. Man könnte sagen, gerech-
ter und sozialer geht es zumindest für diesen Teil der Ge-
sellschaft schon überhaupt nicht mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706507000

Herr Kollege Steffel, der Herr Kollege Troost würde

gern eine Zwischenfrage stellen.


Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1706507100

Nein. – Wir haben weitere Fakten, die spannend sind.

Was ist der Spitzensteuersatz? Ich will Ihnen auch das
kurz vortragen. Diesen Steuersatz hat übrigens Rot-Grün
gesenkt. Als Rot-Grün 1998 antrat, betrug der Spitzen-
steuersatz 53 Prozent, übrigens primär, um nach der
deutschen Einheit die Lasten Ihrer SED-Erbschaft zu be-
wältigen, um das auch einmal klar zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Spitzensteuersatz wurde von Rot-Grün von 53 Pro-
zent bis 2005 auf 42 Prozent gesenkt. Ich sage auch das
nur zur Versachlichung der Debatte.

Er liegt heute bei 42 Prozent. Wir haben 3 Prozent
Reichensteuer, wir haben 5,5 Prozent Soli. Das sind
47,48 Prozent. Hinzu kommt – dies möchte ich auch ein-
mal erwähnen –, dass 55 Millionen Deutsche Mitglied
einer Kirche sind. 61,3 Prozent der Steuerzahler oder
fast 25 Millionen Deutsche zahlen zusätzlich 9 Prozent
Kirchensteuer, die übrigens vielfach auch für sehr sinn-
volle soziale Dinge eingesetzt wird. Das heißt im Ergeb-
nis: 51 Prozent ist der Spitzensteuersatz für diese Men-
schen. Oder um es umzudrehen: Von jedem Euro, den
man verdient, wird die Hälfte weggesteuert. Auch das
gehört zur Wahrheit in diesem Land.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist doch Blödsinn!)


Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen. Sie reden von
Millionären. Jetzt sage ich einmal für unsere jungen Zu-
schauer, wovon wir eigentlich reden. 2002 gab es in
Deutschland 9 462 Menschen, die mehr als eine Million
verdient haben. 2003 gab es 8 509 und 2004 gab es
9 524 Menschen, die in Deutschland mehr als eine Mil-
lion verdient haben. Ich will gar nicht beurteilen, ob sie
zu viel verdienen oder zu wenig oder ob es gerade recht
ist. Ich sage nur eines: Selbst wenn Sie diese Menschen
brutal enteigneten, trüge das zur Gerechtigkeit und zum
Sozialstaat überhaupt nichts bei. Die Wahrscheinlich-
keit, dass diese Menschen eher unser Land verlassen und
in die Schweiz oder in andere Länder gehen, halte ich für
größer. Deshalb ist auch hier Sachlichkeit in der Debatte
hilfreich und nicht Polemik gegen vermeintliche Millio-
näre.

Ich will Ihnen auch einen zweiten Punkt nennen, indi-
rekte Steuern. Meine Damen und Herren, was gibt es
Gerechteres, als Folgendes zu sagen: Für die Waren des
täglichen Bedarfs, insbesondere Lebensmittel, zahlt man
in diesem Land etwa ein Drittel der Mehrwertsteuer,
nämlich 7 Prozent, der 19 Prozent, die man ansonsten
für alle anderen Dinge bezahlt. Auch hier haben wir in
den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass diese





Dr. Frank Steffel


(A) (C)



(D)(B)

7 Prozent nicht erhöht wurden. Egal was wir mit der
Mehrwertsteuer tun, ist völlig klar, dass Lebensmittel
– das betrifft gerade Menschen in Deutschland, die we-
nig Geld haben – weiterhin nur mit 7 Prozent besteuert
werden. Auch das ist ein Teil einer sozial verantwor-
tungsvollen und gerechten Politik.

Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass von den
Steuern, über die wir hier alle reden und streiten, im
Bundeshaushalt 56 Prozent für Soziales aufgewandt
werden. Mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen der
Bundesrepublik Deutschland wird für Sozialtransfers,
wird für die Unterstützung von Menschen aufgewandt,
die unser aller Unterstützung bedürfen und die wir ihnen
übrigens alle gerne geben.

Da ich gerade über das Erfolgsmodell soziale Markt-
wirtschaft rede: Lassen Sie mich mit einem Gedanken
von Ludwig Erhard enden. Ludwig Erhard hat, wie ich
finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass am Ende des
Versorgungsstaates der soziale Untertan steht und nicht
der eigenverantwortliche Bürger. Ich glaube, wir tun
nach über 60 Jahren Erfolgsgeschichte der Bundesrepu-
blik Deutschland gut daran, unseren Bürgern Freiheit zu-
zutrauen, ihnen aber durch das Modell der sozialen
Marktwirtschaft Sicherheit zu geben und sie nicht durch
permanente Umverteilung zu sozialen Untertanen zu
machen, was erstens Leistung und Leistungsbereitschaft
hemmt und zweitens nach meiner Einschätzung dieses
Land im weltweiten Wettbewerb zurückwirft und nicht
voranbringt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706507200

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem

Kollegen Troost.


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706507300

Ich fasse mich kurz. Es geht in der Tat um Statistik.

Ich fordere alle auf, die das interessiert, sich auf meiner
Internetseite einfach einmal die entsprechenden Tabellen
anzuschauen. Es ist zwar immer schön, zu sagen: „So-
undso viel Prozent bringen soundso viel Prozent der
Steuereinnahmen“; aber man muss auch einmal zur
Kenntnis nehmen, wie die Vermögens- und Einkom-
menskonzentration in diesem Land ist. Wenn diejenigen
10 Prozent der Bevölkerung, die für 50 Prozent des
Steueraufkommens sorgen, über 60 Prozent des gesam-
ten Vermögens haben, dann ist das, was wir wollen, eben
keine riesige Umverteilung, sondern nur gerecht. Man
kann also nicht immer nur bestimmte Zahlen nennen,
sondern man muss auch sagen, wie Vermögen und Ein-
kommen in der Bundesrepublik verteilt sind. Da sieht
man eben eine ganz starke Konzentration. Das Ganze ist
eine Frage der Empirie, und die sollte man sich einfach
einmal genau anschauen.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706507400

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Hinz für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1706507500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist ein Armutszeugnis – das muss ich in der Tat so sa-
gen –, dass hier von der Regierungskoalition immer
wieder deutlich gemacht wird, dass sich Leistung lohnen
muss.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Davon haben wir ja gesprochen! Das sollten Sie nicht übersehen!)


– Herr Wissing, melden Sie sich.


(Lars Lindemann [FDP]: Ja, Frau Lehrerin!)


Ansonsten ist es für alle anderen schwierig, nachzuvoll-
ziehen, was Sie sagen. Die Zeit zur Beantwortung einer
Zwischenfrage nehme ich mir gerne. – In der Tat müssen
Menschen, die den ganzen Tag arbeiten und von dem,
was sie durch ihre Arbeit erhalten, letzten Endes nicht
leben können, ihre Familie nicht ernähren können, an-
schließend aufstocken. Diesen Menschen sagen Sie bitte
noch einmal, und zwar vis-à-vis, also ins Gesicht: Leis-
tung muss sich lohnen.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Im Steuerrecht, Frau Kollegin! Darüber haben wir ja gesprochen!)


Auch wenn ich nicht weiß, ob es parlamentarisch ist
oder nicht, traue ich mich einfach, zu sagen: Ich finde es
menschenverachtend.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Und ich finde es ungerecht!)


Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise gab es
hier Situationen, in denen ich in der Tat den Eindruck
gewinnen konnte, dass wir gemeinsam über alle Fraktio-
nen hinweg die Krise bewältigen wollen, dass wir hier
gemeinsam erkannt haben, was die Krise unter anderem
verursacht hat. Wir können sicherlich nicht alle Punkte
der Krise im Einzelnen beschreiben und national bewäl-
tigen. Ich hatte schon den Eindruck, dass alle Fraktionen
hier mit der Wirtschafts- und Finanzkrise fertig werden
wollten. Doch was jetzt nach der Bundestagswahl hier
von der Regierung – zu einem gewissen Zeitpunkt hatte
ich das Gefühl, es handele sich teilweise um einen
Selbstfindungsklub – auf den Weg gebracht worden ist,
war, muss ich sagen, alles andere als steuerfreundlich für
die Menschen, obwohl Sie unbedingt für die Leistungs-
träger Politik machen wollen.

Ich möchte das ganz gerne einmal herunterbrechen
auf die kommunale Ebene. All das, was auf EU-Ebene
oder auf dieser Ebene beschlossen wird, hat letzten En-
des Konsequenzen auf der kommunalen Ebene. Frau von
der Leyen hat uns noch vor kurzem hier im Rahmen der
Haushaltsdebatte mitgeteilt, wie sozial sie eingestellt ist;
es müsse ein Bildungsgutschein eingeführt werden; die





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)

Kinder brauchten einen Gutschein dafür, dass sie in
Sportvereine und woandershin gehen können.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie finden das wahrscheinlich schlecht!)


Aber wissen Sie, warum die Kommunen in dieser Fi-
nanzsituation stecken?


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Weil Sie sich der kommunalen Finanzreform verweigert haben!)


Sie haben im Rahmen der Finanz- und Wirtschafts-
krise jetzt noch einen draufgesetzt und mit den ganzen
Beschlüssen, die Sie hier gefasst haben – Klientelpolitik
und Geschenke –, den Kommunen in dieser schwierigen
Situation noch zusätzlich Finanzkraft entzogen. Weil al-
les so schön ist, müssen jetzt diejenigen, die am wenigs-
ten haben, aufgrund der neuerlichen Abgaben- und Ge-
bührensteigerungen noch mehr zahlen. Das ist das Ende
vom Lied.

Auch hier bemühe ich gar nicht meine Statistiken
oder Erfahrungen aus meiner Kommune, sondern dafür
gibt es offizielle Zahlen, die jetzt schon deutlich machen,
dass 46 Prozent der Kommunen in Deutschland darüber
nachdenken, ihren Grundsteuerhebesatz zu erhöhen, um
eine einigermaßen erträgliche Einnahmesituation vorzu-
finden. Wenn Sie über Abgaben keine ausreichenden
Einnahmen erreichen, werden sie ihre Gebühren für
Bibliotheken, Kultureinrichtungen wie Theater und
sonstige Bereiche erhöhen, die von Frau von der Leyen
ach so sozial gefördert werden sollen. Sie geht ja förm-
lich in der Aufgabe auf, dass all unsere Kinder eine Bil-
dungschance haben. Ich muss Ihnen sagen: Das ist
heuchlerisch, weil Sie auf der einen Seite den Kommu-
nen und damit den Menschen vor Ort die Gelder nehmen
und auf der anderen Seite so tun, als gäben Sie ihnen
ganz generös, ganz großzügig Gelder zurück. Das sind
dann diejenigen, von denen Sie sagen, es seien keine
Leistungsträger, sondern Menschen, die alimentiert wür-
den.

Sie hätten in den zurückliegenden Monaten, seitdem
Sie die Verantwortung haben oder wenigstens hätten
übernehmen sollen – Sie sollen endlich einmal dazu ste-
hen, dass Sie Verantwortung haben –, dazu beitragen
können, dass die Kommunen entlastet werden. Aber
nein, was machen Sie? Sie setzen eine Kommission ein,
die letzten Endes keinen anderen Auftrag hat, als die Ge-
werbesteuer abzuschaffen.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das ist unwahr!)


In der zurückliegenden Wahlperiode haben wir gemein-
sam alle Gutachter gehört, die es zu diesem Thema über-
haupt gibt, und dann festgestellt, dass es keine Alterna-
tive zur Gewerbesteuer gibt.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU: Wer hat denn damals die Gewerbesteuerumlage erhöht?)


Jetzt bin ich gespannt, was aus diesem großen Überra-
schungspaket herauskommen wird; denn wir bekommen
im Fachausschuss, dem Finanzausschuss, auf die Nach-
frage, wie weit der Stand der Umsetzung sei, immer nur
einen Brosamen hingelegt, ohne dass wir tatsächlich da-
rauf reagieren könnten. Wir haben in der Großen Koali-
tion dafür gesorgt, dass in unserem Land ordentlich mit
der Finanz- und Wirtschaftskrise umgegangen wurde.
Nicht zuletzt war es unser Finanzminister Peer
Steinbrück, der sehr intelligente Konzepte auf den Tisch
gelegt hat, etwa das Konjunkturpaket, aber auch intelli-
gente Konzepte, um die Kommunen zu entlasten.

Das einzige, was in dieser Wahlperiode bei Ihrer
Klientelpolitik herausgekommen ist, ist die Entlastung
der Hoteliers. Außerdem haben Sie dazu beigetragen,
dass die Kommunen weitere Steuerausfälle hinnehmen
mussten. Auch im Bereich der Unternehmensteuern ha-
ben Sie entsprechende Kürzungen zulasten der Kommu-
nen vorgenommen. Ihre Steuer- und Finanzpolitik ist ab-
solute Klientelpolitik.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Zugunsten der Arbeitsplätze! Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Für Familien!)


– Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedrig-
lohnbereich, weil Sie sich doch standhaft weigern, einen
Mindestlohn einzuführen. Sie sagen zwar immer, wir
brauchten ihn nicht, weil Tarife eingehalten würden;
aber wenn doch alles so klar ist, warum trauen Sie sich
dann nicht, diesen Schritt mit uns zu gehen und einen
Mindestlohn einzuführen? Wissen Sie denn eigentlich,
wie viele Steuern und Abgaben ein Alleinstehender, der
gerade einmal 8,50 Euro bekommt – das wäre gerade so
eben ein Mindestlohn – zu leisten hat? Davon haben Sie
gar keine Idee, weil Sie sich in ihn gar nicht hineinver-
setzen können.


(Lars Lindemann [FDP]: Das ist moralinsaures Gequatsche!)


Dieser Alleinstehende, der gerade einmal 8,50 Euro ver-
dient – es muss richtig heißen: erhält; er verdient eigent-
lich mehr –, zahlt 270 Euro an Abgaben und 70 Euro an
Steuern. Wenn wir über ein Konzept reden, dann gehö-
ren die Abgaben und Steuern dazu, um tatsächlich den
Menschen helfen zu können.

Zum Antrag der Linken muss ich Ihnen sagen – –


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Endlich!)


– Damit Sie alle mitbekommen, was der Herr hier lä-
chelnd gesagt hat: Endlich komme ich zum Antrag. –
Wissen Sie mein lieber Kollege, wenn Sie so mit den
Nöten der Menschen umgehen, dann wundert es mich
auch nicht, dass Sie nicht nachvollziehen können, wa-
rum wir einen Mindestlohn brauchen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Schallplatte!)


Damit Menschen von ihrer Arbeit leben können! Über
diese Menschen müssen wir uns unterhalten


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)

und nicht über die, die sehr viel Vermögen haben und für
das Gemeinwohl etwas geben können. Nur dann, wenn
wir insgesamt das Gemeinwohl stärken, können wir alles
das angehen, was meine Kollegin schon sehr deutlich
angesprochen hat: Bildung, Sicherheit vor sozialen Not-
lagen, öffentliche Infrastruktur.


(Lars Lindemann [FDP]: Wenn man am Thema vorbeiredet, wird es auch nicht besser!)


Zum Antrag der Linken ganz kurz. Auch ich muss
sagen: Er ist leider ein Sammelsurium von vielen Punk-
ten, über die man im Einzelnen reden müsste.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das machen wir doch! Das machen wir dann im Finanzausschuss!)


Die eine oder andere Darlegung, die Sie im Rahmen Ih-
rer Statistik gemacht haben, ist für uns nicht ganz nach-
zuvollziehen. Insofern bin ich auf die Diskussion im
Ausschuss gespannt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Das war enttäuschend! Gut, dass die Frau Kressl auch geredet hat! – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das war gar nichts!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706507600

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege

Dr. Daniel Volk.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1706507700

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren Kollegen! Frau Hinz, ich fand es ge-
rade sehr faszinierend,


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ja, wir auch!)


dass Sie aufgezählt haben, was wir in den letzten zwölf
Monaten alles nicht gemacht haben,


(Nicolette Kressl [SPD]: Falsch gemacht haben!)


aus Ihrer Sicht aber hätten machen müssen.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das musste einmal gesagt werden!)


Sie hatten elf Jahre Zeit, um all das, was Sie hier als
Wunschkalender aufgeblättert haben, in Regierungsver-
antwortung umzusetzen. Angesichts dessen war Ihr Bei-
trag in diesem Hause ein großes Armutszeugnis.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wir durften ja nicht allein regieren!)


– Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie nicht allein regie-
ren durften, kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie
sich einmal an, wie wir in der christlich-liberalen Koali-
tion in bester Partnerschaft Regierungspolitik zum
Wohle unseres Landes gestalten,

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen die Bürger auch so! – Nicolette Kressl [SPD]: Die CDU klatscht nur nach Aufforderung!)


im Gegensatz zu der Finanzpolitik Ihrer SPD-Finanz-
minster – einer ist jetzt bei der Linkspartei; das ist so –,
gerade im Bereich der Kommunalfinanzen.

Sie beklagen jetzt, dass die Kommunen zu wenig
Einnahmen hätten, zu wenig Finanzmittel zur Verfügung
hätten.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sie haben denen doch was weggenommen und wollen denen noch mehr wegnehmen!)


Diese Situation war bereits im Jahre 2009 gegeben, und
das war ja wohl noch zur Zeit Ihrer Regierungsverant-
wortung.


(Nicolette Kressl [SPD]: Wir haben die Zurechnungen nicht gestrichen wie Sie! – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Und die Kosten der Unterkunft? Wer hat das denn beschlossen?)


Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass die
Übertragung von Aufgaben an die Kommunen, ohne ih-
nen gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel zur
Verfügung zu stellen, ein sehr beliebtes Projekt der da-
maligen rot-grünen Bundesregierung war. Das müssen
Sie der Ehrlichkeit halber auch einmal erwähnen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Haben Sie jetzt auch was Eigenes zu sagen?)


Ich fand die bisherige Debatte sehr faszinierend. Es
hat sich gezeigt, was eine rot-grüne oder rot-grün-rote
Regierung in diesem Land machen würde.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sozial gerechte Politik hoffentlich!)


Frau Kressl hat uns dargelegt


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Pastoral!)


– pastoral –, man müsse sich zunächst Gedanken darüber
machen, wie viel Geld der Staat brauche,


(Nicolette Kressl [SPD]: „Die Menschen“ habe ich gesagt! Keine Verunglimpfung!)


erst danach müsse man überlegen, wie hoch die Steuer-
belastung sein müsse.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr vernünftig!)


Ich kann dazu nur sagen: Jeder Bürger dieses Landes
sollte bei einem solchen Ansatz Angst bekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD] – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Die Staatswirtschaft lässt grüßen!)






Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

Sie haben in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne
Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Nur Ablenkung!)


Das Erste, was diese rot-grüne Minderheitsregierung un-
ter Duldung der Linkspartei macht, ist, deutlich – ganz
deutlich – in die Erhöhung der Neuverschuldung zu ge-
hen.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Um die Kommunen zu entlasten!)


Das ist keine seriöse Finanzpolitik. Sie würden Selbiges
auf Bundesebene genauso machen. Sie würden wahr-
scheinlich das eine oder andere Lieblingsprojekt der
Linkspartei finanzieren, damit die Linkspartei Sie dul-
det.


(Nicolette Kressl [SPD]: Wir überlegen auf jeden Fall nicht, was die Hotels brauchen!)


Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht unser Ansatz-
punkt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie kümmern sich um die Hoteliers! Das wissen wir!)


Unser Ansatzpunkt ist zunächst, sich zu überlegen,
wie eine Balance, ein vernünftiger Ausgleich


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Zwischen Mövenpick und dem Rest!)


zwischen den staatlichen Aufgaben und der Steuerlast
der Bürger aussieht.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollen nicht überlegen, sondern regieren!)


Ich will einmal ganz klar sagen, was Sie machen wür-
den. Sie haben ja die Maßnahmen genannt.

Es würde eine Vermögensabgabe geben. Sie, Frau
Paus, haben ja bestätigt, dass Sie eine Vermögensabgabe
einführen wollen.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Sie würden also auf die Vermögen zugreifen. Ich finde
es übrigens sehr putzig, dass die Linkspartei eine Vermö-
gensteuer in Höhe von 5 Prozent will. Das würde dazu
führen, dass diejenigen, die ihr Geld relativ sicher bzw.
konservativ anlegen – Kollege Gutting hat es ausgeführt –,
aus der Rendite gar nicht die Steuern bezahlen könnten.
Sie würden damit die Vermögenden zu hochriskanten
Spekulanten machen.


(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Zu Auslandsflüchtlingen!)


Ihnen bliebe gar nichts anderes übrig. Das ist ja etwas,
was Sie ansonsten bekämpfen und verurteilen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Frau Kressl hat dann gesagt, was in einem anderen
Bereich kommen würde, wenn es eine linke Mehrheit in
diesem Land geben würde und diese an die Macht käme.
Diese würde – Sie sagen das so schön – für eine Versteti-
gung der Gewerbesteuer sorgen.


(Zurufe von der SPD: Ja!)


Aber was steckt hinter der Forderung nach einer Verste-
tigung der Gewerbesteuer? Eine massive Substanzbe-
steuerung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Totaler Schwachsinn! Keine Ahnung! – Nicolette Kressl [SPD]: Sollen wir das jetzt ernst nehmen?)


Damit gefährden Sie Arbeitsplätze. Damit gefährden Sie
Betriebe. Sie provozieren damit, dass Betriebe in
Deutschland Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland zie-
hen. Nur so wäre für sie nämlich eine wirtschaftliche Be-
triebsführung überhaupt noch möglich.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sprechen Sie einmal mit den FDP-Bürgermeistern! Die sehen das völlig anders als Sie! Die FDP ist da tief gespalten!)


Es ist also sehr interessant, was passieren würde,
wenn eine linke Mehrheit in diesem Land die Macht
übernehmen würde: Wir hätten eine Vermögensteuer, es
gäbe eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, übrigens
mit entsprechenden Folgen auch für die darunterliegen-
den Einkommensklassen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, genau das Gegenteil! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist doch Blödsinn! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Lesen Sie einmal den Antrag!)


Über die Gewerbesteuer würde eine Substanzbesteue-
rung vorgenommen. Im Übrigen gäbe es bei der Erb-
schaftsteuer vermutlich eine derartige Verschärfung,
dass Erben von solchen Kleinunternehmen, die inner-
halb der Familie weitergegeben werden sollen, so stark
zur Kasse gebeten werden, dass sie gezwungen wären,
diese Unternehmen plattzumachen.


(Zuruf von der FDP: Und die Mehrwertsteuer!)


Das ist keine wirtschaftlich sinnvolle Politik.

Was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist, zeigt diese
Bundesregierung. Schauen Sie sich die Arbeitsmarktda-
ten an. Dann sehen Sie, was wirtschaftlich sinnvolle
Politik ist. Leistung muss sich wieder lohnen. Leistung
kann erbracht werden, wenn die Arbeitslosenzahlen sin-
ken. Das ist der Kurs unserer christlich-liberalen Koali-
tion.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das war jetzt keine Leistung! – Weiterer Zuruf von der SPD: Schwarz-Gelb in die Gifttonne, heißt das!)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706507800

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Thomas Gambke

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Paus hat es
schon gesagt: Angesichts der Mehreinnahmen in Höhe
von 179 Milliarden Euro, davon 40 Milliarden Euro von
den Unternehmen, könnte man für Nichtbefassung plä-
dieren und sagen: Wir reden nicht weiter darüber. Aber
die Themen Steuergerechtigkeit und solide Finanzierung
des Staates haben eine große Bedeutung. Ich will des-
halb zu zwei Punkten etwas sagen: Unternehmensteuern
und Reform der ermäßigten Umsatzsteuersätze.

Unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit ist
es natürlich richtig, dass Unternehmen einen Beitrag
zur öffentlichen Daseinsvorsorge, zur kommunalen In-
frastruktur leisten. Eine Verlagerung dieser Steuerlast
von den Unternehmen auf die Bürgerinnen und Bürger
ist inakzeptabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Unsere Kommunen stellen die Infrastruktur für die Un-
ternehmen bereit. So ist es nur angemessen und gerecht,
wenn die Unternehmen auch an den Kosten beteiligt
werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Fachkräfte-
mangel begegnet man mit besserer Bildung; diese muss
finanziert werden. Unternehmen brauchen schnelle Da-
tennetze; auch diese müssen finanziert werden. Es ist
also ein Gebot der Steuergerechtigkeit, Unternehmen an
der Finanzierung der entsprechenden Ausgaben zu betei-
ligen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das bestreitet niemand!)


– Hören Sie zu.

So ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
der Gewerbesteuer auf die freien Berufe überfällig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist eine reine Umverteilung!)


Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein Architekt für eine
Statikberechnung keine Gewerbesteuer zahlt, aber ein
Ingenieurbüro für dieselbe Leistung gewerbesteuer-
pflichtig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist eine reine Umverteilung! Das wissen Sie, Herr Kollege!)


Herr Volk, natürlich muss die Anrechenbarkeit der Ge-
werbesteuer auf die Einkommensteuer berücksichtigt
werden; natürlich ergibt sich dadurch eine Verschiebung
der Steuereinnahmen von Bund und Ländern zu den
Kommunen.

(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja, also!)


Unter der Maßgabe der Aufkommensneutralität würde
ein geringes Mehraufkommen vielleicht sogar Spielraum
für eine Senkung der Gewerbesteuer schaffen. Ich per-
sönlich bin der Auffassung, dass mit der Erweiterung auf
die freien Berufe der Druck bei der Hinzurechnung ge-
nommen würde.

Steuergerechtigkeit heißt, alle Gewerbetreibenden zur
Finanzierung der kommunalen Infrastruktur heranzuzie-
hen und dabei auch die Leistungsfähigkeit der Unter-
nehmen zu berücksichtigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht um eine faire Belastung von Konzernen und
kleinen Unternehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass
zum Beispiel die Sparkassen und Genossenschaftsban-
ken einen größeren Anteil an der Gewerbe- und Körper-
schaftsteuer zahlen als die Geschäftsbanken. Auch bei
den Unternehmensteuern müssen wir auf einen fairen
Ausgleich achten. Wir müssen die großen Konzerne ge-
nauso heranziehen wie die kleinen Unternehmen. Es
muss ausgewogen sein; dort, wo es nicht ausgewogen
ist, müssen wir Steuergerechtigkeit herstellen.


(Frank Schäffler [FDP]: Einfach, niedrig und gerecht!)


Kommen wir zur Umsatzsteuer. Ich hätte vermutet,
dass uns der ordnungspolitische Sündenfall der Koali-
tion vor weiteren Maßnahmen bewahren würde. Denn
wir wollen nicht weiter in das Gestrüpp der Ausnahmen,
der verminderten Mehrwertsteuersätze, gehen. Man
kann es fast als amüsant bezeichnen, dass sich die Frak-
tion der Linken hier zum Sprachrohr der Pharmalobby
macht,


(Nicolette Kressl [SPD]: Ja! – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das haben wir auch erwartet!)


wenn es nicht solch eine fatale Fehleinschätzung wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Gleiche gilt für die Forderung nach einer Ermäßi-
gung bei Kinderartikeln. Nein, die Umsatzsteuer ist nicht
das geeignete Instrument, um zielgerichtet zu fördern
und zu unterstützen; sie ist das falsche Instrument. Das
wissen wir doch letztendlich aus der Diskussion um die
Hotelbeglückungssteuer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nicolette Kressl [SPD]: Da müsste die FDP jetzt auch klatschen!)


Wir Grüne schlagen eine sofortige Abschaffung der
rein branchenspezifischen und nicht ausreichend begrün-
deten Ermäßigungen bei der Umsatzsteuer vor. Dazu
zählen wir die Ermäßigung auf Übernachtungen in den
von Ihnen beglückten Hotels, die von der CSU durchge-
setzte Ermäßigung für Skilifte sowie Ermäßigungen für
Schnittblumen und Sportpferde. Durch eine Abschaf-
fung erzielen wir zusätzliche Steuereinnahmen von 3 bis
4 Milliarden Euro. Das wäre ein schneller, sofort zu re-





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)

alisierender Beitrag zur Steuergerechtigkeit und zur Sta-
bilisierung der staatlichen Einnahmen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706507900

Herr Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Lutze?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerne.


Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706508000

Herr Kollege, Sie haben schon einige Bereiche aufge-

zählt, in denen Sie die Ermäßigung der Mehrwertsteuer
aufheben wollen. Ist Ihnen klar, dass Sie damit auch den
öffentlichen Nahverkehr treffen, bei dem zurzeit ein
ermäßigter Steuersatz erhoben wird?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mir ist vollkommen klar, dass hier ein ermäßigter
Steuersatz erhoben wird. Wenn Sie mir noch etwas zuhö-
ren, werden Sie meine Aussage dazu hören.

Herr Dautzenberg von der CDU/CSU zitiert richtig
aus dem Beschluss der Bundestagsfraktion der Grünen
vom Juli dieses Jahres. Er sagt nämlich: Wir müssen Le-
bensmittel, den öffentlichen Nahverkehr und die Kultur
bei der Streichung von Mehrwertsteuerermäßigungen
ausnehmen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Natürlich müssen wir nach einem ersten Schritt der
Abschaffung von Branchensubventionen – Hotelbeglü-
ckung – die verbleibenden Abgrenzungsschwierigkeiten
lösen. Sie können aber Herrn Finanzminister Schäuble
davon leider nicht überzeugen. Zudem verteidigt die
CSU – so hört man – noch immer eifrig ihre Klientelge-
schenke.


(Nicolette Kressl [SPD]: Der Herbst der Entscheidungen!)


Die Koalition drückt sich vor Reformen in diesem
schwierigen Feld.

Das gilt für die überfällige Reform der Mehrwertsteu-
ersätze genauso wie für die staatliche Forschungsförde-
rung. Angesichts der Kürzungen im sozialen Bereich im
Rahmen der Sparbeschlüsse der Bundesregierung ist es
schlicht ein Skandal, hier nicht weiterzumachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Warum soll denn die Forschungsförderung ein Beitrag zum Sparen sein?)


Lassen Sie mich zum Schluss auf das eigentliche An-
liegen der Linken zurückkommen. Ja, wir müssen um
mehr Steuergerechtigkeit kämpfen. Ja, ein wichtiger
Beitrag dazu kann sein, weniger Ausnahmen bei der
Umsatzsteuer zuzulassen, ebenso eine Gewerbesteuer,
die um die freien Berufe erweitert ist, und ein Unterneh-
mensteuerrecht, das kleine und mittlere Unternehmen
fördert und die Steuergestaltung der großen Konzerne
verhindert. Das müssen wir umsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706508100

Der Kollege Dr. Hans Michelbach ist der nächste

Redner für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1706508200

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr

Gysi wirft in diesen Tagen seiner Partei Selbstbeschäfti-
gung vor. Er muss den vorliegenden Antrag gemeint ha-
ben. Interessant und bunt wird es, wenn sich die verei-
nigte Opposition darüber streitet, wer am besten
Umverteilungsorgien gestalten kann.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: So ist es!)


Wir sollten dabei nicht mitmachen. Der einzige Vorteil
dieses Antrages ist, dass wir über die Zukunftsfähigkeit
der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik debattieren
können.

Ich sage frank und frei – das möchte ich für die
Unionsfraktion festhalten –: Die CDU/CSU-Fraktion
möchte nach wie vor eine aktive Steuerpolitik betreiben,
um den gezielten Konsolidierungs- und Wachstumskurs
zur Krisenbekämpfung erfolgreich zu gestalten. Dazu
gehört für uns prioritär zunächst einmal eine Verbesse-
rung unseres Steuersystems durch eine umfassende
Steuervereinfachung. Wir werden im Januar des kom-
menden Jahres hierzu einen konkreten Vorschlag unter-
breiten. Die Arbeiten dafür sind von vielen, auch von der
Kollegin Tillmann und unserer Arbeitsgruppe, intensiv
vorbereitet worden.

Wir wollen eine neue ordnungspolitische Linie im
Steuersystem, sowohl bei der Mehrwertsteuer als auch
bei der Einkommensteuer erreichen, Herr Gambke. Wir
werden eine Kommission einsetzen.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Finanzminister sagt etwas anderes!)


Wir werden die Abgrenzungen und die neuen Weichen-
stellungen mit einer Mehrwertsteuerreform bei den er-
mäßigten Mehrwertsteuersätzen vornehmen. Wir werden
die Mehrwertsteuerreform zügig angehen und nicht auf
die lange Bank schieben, weil die momentane Situation
nicht so bleiben kann. Nun zu sagen: „Es waren die
Wünsche der einzelnen Fraktionen, die zu den schwieri-
gen Abgrenzungen geführt haben“, ist falsch. Ich kann
mich an die lange, intensive Diskussion mit der Kollegin
Scheel über Schnittblumen noch sehr gut erinnern. Sie
müssen beachten, wer zu welchem Sachverhalt beigetra-
gen hat.





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Wenn der ermäßigte Mehrwertsteuersatz künftig auf
den Bereich der Daseinsvorsorge – Lebensmittel und
kulturelle Leistungen; auch den öffentlichen Personen-
nahverkehr halte ich für wichtig – beschränkt werden
würde, könnten wir dadurch erzielte Einsparungen ver-
wenden, um die kleinen und mittleren Einkommen in
Verbindung mit einer Steuervereinfachung zu entlasten.
Wir müssen auf ein Volumen in Höhe von etwa
5 Milliarden Euro kommen, um die unteren und mittle-
ren Einkommen, insbesondere was den Mittelstands-
bauch anbelangt, zu entlasten. Das muss unser Ziel sein.
Ohne einen Leistungsanreiz werden wir nicht die
Wachstumsziele erreichen, die wir erreichen wollen. Es
muss unser Ziel sein, unser Konzept konzentriert voran-
zubringen, und das werden wir auch tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben mit dem Haushaltsbegleitgesetz unser
Vorhaben in ein Konzept eingebunden. Es geht nicht
ohne Ausgabenreduzierungen. Man kann die Überschul-
dung nicht nur über die Einnahmeseite bekämpfen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber auch!)


Auch die Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenredu-
zierung gehört dazu. Deswegen wollen wir auf beiden
Seiten etwas tun. Bei den Verbrauchsteuern haben wir
dort eine Erhöhung vorgesehen, wo wir es für sinnvoll
und notwendig erachten, aber wir wollen keine Ertrag-
steuererhöhungen, weil letzten Endes dadurch die
Grundsätze für die Zukunftsgestaltung, die Eigenkapital-
bildung sowie die Konsummöglichkeit gestaltet werden.
Es wäre absolut kontraproduktiv, wenn wir in diesem
Bereich etwas tun würden.

Wir haben bereits – das war wesentlich für die Kri-
senbekämpfung – die unteren und mittleren Einkommen
entlastet. Was wir getan haben, ist familienfreundlich.
Eine Familie mit zwei Kindern wird durch die hohen
Freibeträge erst ab einem Einkommen von 36 000 Euro
in die Besteuerung kommen. Das ist gute Steuerpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollen, dass wir mehr Steuerzahler und weniger
Transferempfänger haben. Ich habe den Eindruck, dass
Sie grundsätzlich mehr Transferempfänger haben wol-
len.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blödsinn! Genau umgekehrt! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Herr Kollege!)


Das ist natürlich ein völlig falscher Ansatz, den Sie auch
in Ihrem Antrag verfolgen.

Unser Ziel ist es, den Haushalt zu konsolidieren, die
Schuldenbremse einzuhalten und die Staatsfinanzen zu-
kunftsfest zu machen, auch um Währungssicherheit zu
schaffen. Unser Ziel ist es auch, Arbeit und Wohlstand
für alle zu erreichen. Das geht nur mit einer gerechten
Besteuerung, die Leistungswillige und Leistungsfähige
nicht überfordert. Es ist notwendig, Leistungsanreize zu
schaffen. Leistung muss sich lohnen.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ich kann es nicht mehr hören!)

Wenn Leistung sich lohnt, dann lohnt sie sich auch für
den Fiskus. Nur so wird ein Schuh daraus. Jede Steuer-
statistik zeigt, dass der Fiskus die besten Ergebnisse ver-
zeichnet, wenn der Wirtschaftskreislauf funktioniert.
Unser Fiskus steht im internationalen Steuerwettbe-
werb. Dem müssen wir uns stellen. Man kann nicht ein-
fach so tun, als wäre man allein auf der Welt.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Es wandert nicht jeder Steuerzahler aus! So ist es nicht!)


Der von Ihnen eingebrachte ideologische Gegenentwurf
ist kein Ausweg aus der Krise. Er ist ein Irrweg. Ihr
Konzept führt nicht aus der Krise, sondern es ist eher ein
Weg zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir dürfen uns nicht den Dingen widmen, die viel-
leicht zurück zu einer Kommando- und Staatswirtschaft,
sonst aber zu keinem Ergebnis führen. Schauen Sie sich
die Statistik über die Steuerzahler und die Belastungs-
wirkungen an. Die Verbrauchsteuern betreffen alle Men-
schen gleichermaßen. Wer einen Verbrauch hat, zahlt na-
türlich dafür. Derjenige, der mehr Geld zur Verfügung
hat und somit mehr konsumiert, muss natürlich mehr
Verbrauchsteuern zahlen. Wichtig ist deshalb die Grund-
lage der Einkommensteuerstatistik. Es ist so, wie der
Kollege Dr. Steffel gesagt hat:


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wie auch Herr Troost gesagt hat!)


Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler zahlen 5 Pro-
zent, die oberen 50 Prozent zahlen 95 Prozent des Steu-
eraufkommens.


(Nicolette Kressl [SPD]: Des Einkommensteueraufkommens!)


Das ist die Realität.

Jetzt sagt Herr Troost, dass die Einkommenskonzen-
tration betrachtet werden muss. Es gibt in diesem Land
9 500 Einkommensmillionäre. Wenn diese über Anlage-
oder Betriebsvermögen verfügen, dann leisten sie auch
automatisch eine Gemeinwohlarbeit; denn sie stellen Ar-
beitsplätze zur Verfügung. Sie können diese Menschen
nicht einfach aus dem Land treiben. Gönnen Sie ihnen
doch, dass sie mehr haben. Sie tragen auch mehr Risiko
und mehr Verantwortung für dieses Land. Sie sind sich
im Großen und Ganzen – wir müssen sie im Einzelnen
betrachten – ihrer Verantwortung gegenüber dem Ge-
meinwohl und den Arbeitsplätzen in diesem Land sehr
wohl bewusst. Wir können es nicht zulassen, dass diese
Leute an den Pranger gestellt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Das machen Sie mit der Ökosteuer gerade!)


Ob Spitzensteuersatz, Solidaritätszuschlag oder auch
die Vermögensteuer: Sie wollen, dass wir die Leute in
vielen Bereichen mit einem Satz von über 50 Prozent be-
steuern.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wie bei Helmut Kohl!)






Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist zu kurz gedacht. Wenn
Sie zum Beispiel die Vermögensteuer auf Anlagevermö-
gen und Immobilien erheben, dann führt das zu einer Er-
höhung auch der Mieten; das muss man ganz klar sehen.
Wenn die Menschen zusätzlich belastet werden, dann
reichen sie die Kosten dafür natürlich weiter. Es ist also
alles zu kurz gedacht. Das ergibt in diesem Fall alles kei-
nen Sinn.

Gleiches gilt für die Gemeindewirtschaftsteuer, die
Sie anstelle der Gewerbesteuer fordern. Dazu kann ich
Ihnen nur sagen: Wenn die Betriebe keinen Gewinn ma-
chen, es also zur Substanzbesteuerung kommt, dann
müssen sie die Steuern praktisch aus ihren liquiden Mit-
teln zahlen. Das kommt einem Anschlag auf diese Be-
triebe gleich. Das kann nicht sein. Sie müssen mit Ver-
nunft an die Steuerpolitik herangehen. Natürlich braucht
der Staat Geld. Die Leistungsfähigkeit muss aber erhal-
ten bleiben. Das kann nur durch Leistungsanreize ge-
schehen. Leistung muss sich lohnen. Dafür ist die Steu-
erpolitik eine wesentliche Voraussetzung. Steuerpolitik
ist Gesellschaftspolitik. Wir wollen Wohlstand und Ar-
beit für alle. Das geht nur mit einer Steuerpolitik der
Vernunft, wie wir sie betreiben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706508300

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1706508400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Zuhörer! Aus dem Sammelsurium an Vorschlägen
für Steuererhöhungen möchte ich einen herausnehmen,
der die Kommunalpolitik betrifft. Sie haben heute erneut
versucht, Fakten zu schaffen und die Gewerbesteuer zu
verändern,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Richtig!)


ohne die Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission
abzuwarten. Ich weiß nicht, warum Sie so viel Angst vor
den Ergebnissen der Gemeindefinanzkommission haben
und warum Sie nicht die Ruhe haben, die Ergebnisse, die
im Herbst vorliegen sollen, abzuwarten. Ich finde es
denjenigen gegenüber, die in der Kommission viel Zeit
und Mühe investieren und Vorschläge erarbeiten, unfair,
die Ergebnisse nicht abzuwarten. Herr Kollege Troost,
erst recht finde ich es unfair, dass wir die Debatte hier
führen, wo die kommunalen Vertreter nicht mitdiskutie-
ren können. In der Kommunalkommission dürfen sie
mitgestalten. Es ist das gute Recht der Vertreter der
Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände, über
die Zukunft der kommunalen Steuern mitzuentscheiden.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wäre schön, wenn sie im Unterausschuss Kommunalpolitik auch etwas zu sagen hätten!)

Wir werden diese Ergebnisse abwarten und mit den Ver-
tretern der Kommunen und der kommunalen Spitzenver-
bände gemeinsam nach Lösungen suchen.

Auch inhaltlich kann ich Ihrem Antrag nichts abge-
winnen. Sie wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemein-
dewirtschaftsteuer umarbeiten


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wie der Städtetag!)


und sprechen in diesem Zusammenhang von Mehrein-
nahmen in Höhe von 7 Milliarden bis 14 Milliarden Euro.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Für die Kommunen!)


Da kann ich Frau Kollegin Paus nur zustimmen: Sie ge-
hen mit den Milliardenbeträgen recht locker um. Für die
Unternehmer spielt es schon eine Rolle, ob sie 7 oder
14 Milliarden Euro Steuern mehr zahlen sollen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es kommt auf die Ausgestaltung an!)


Ich hätte mich gefreut, wenn dieser Antrag etwas seriö-
ser ausgestaltet gewesen wäre. Dann hätte man sich in-
haltlich besser mit ihm befassen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es wird behauptet, dass die Hinzurechnung der Ge-
werbetreibenden dazu führt, dass die Schwankungen bei
der Gewerbesteuer nicht so hoch ausfallen. Die Erfah-
rungen zeigen aber genau das Gegenteil: Die Hinzurech-
nung der Finanzierungsaufwendungen führt nicht zu ei-
ner Stabilisierung des Gewerbesteueraufkommens. Die
Unternehmen werden dadurch vielmehr zusätzlich in die
Krise geführt, und zwar nicht die reichen Unternehmen,
die Sie immer besteuern wollen, sondern die Unterneh-
men, die geringe Gewinne oder gegebenenfalls sogar
Verlust machen. Diesen Unternehmen wollen Sie in der
Verlustphase zusätzliche Steuern aufbürden, was mit Si-
cherheit Arbeitsplätze gefährden würde. Das werden wir
nicht mitmachen. Ganz im Gegenteil: Wir werden versu-
chen, die ertragsunabhängigen Komponenten zurückzu-
nehmen, und hierfür einen Ausgleich für die Kommunen
finden. Dazu werden wir gemeinsam mit der Kommis-
sion Vorschläge unterbreiten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Gambke, ich bin kein großer Fan der
Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler, und
zwar nicht, weil ich als Steuerberaterin selbst davon be-
troffen wäre – Sie wissen selbst, dass mich das aufgrund
der Anrechnung auf die Einkommensteuer nicht belasten
würde –, sondern weil wir uns in anderen Gremien viel
Mühe machen, um die Bürokratiekosten zu senken. Was
würde die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler
bedeuten? Wir haben in Deutschland 1 Million Freiberufler.
Das würde 1 Million zusätzliche Gewerbesteuererklärun-
gen, 1 Million zusätzliche Gewerbesteuermessbescheide
und 1 Million zusätzliche Gewerbesteuerbescheide be-
deuten. Das wären 3 Millionen zusätzliche Vorgänge,
durch die keine Mehreinnahmen erzielt würden;


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Für die Kommunen schon erhebliche Mehreinnahmen!)






Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)

denn in ganz großem Umfang würde das über die Ein-
kommensteuer ausgeglichen werden. Dazu sage ich Ih-
nen sehr ernsthaft: Es wäre besser, wenn der Bund das
Geld einfach so an die Kommunen überweist. Die Büro-
kratie und die damit verbundenen Kosten könnten wir
uns dann sparen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das darf er nicht!)


– Das darf er sehr wohl. Natürlich kann er das. Er kann
den Kommunen Aufgaben entziehen und in die eigene
Zuständigkeit überführen. Wir sind verfassungsrechtlich
beschlagen genug, um Möglichkeiten dafür zu finden. In
der Krise hat er das ja auch getan.

Frau Kollegin Hinz, ich bin froh, wenn Wahrheiten
komplett dargestellt werden. Es wäre nett, wenn Sie mir
zuhören würden, wenn ich mit Ihnen rede. Sie können
das aber auch im Protokoll nachlesen. Es gab keine
Phase, in der die Kommunen stärker belastet wurden als
zwischen 2002 und 2005.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


SPD-Regierungen haben die Kommunen fast in den Ruin
getrieben. Erst seit 2005 verbessert sich die Einnahmesi-
tuation der Kommunen wieder, nicht zuletzt aufgrund der
10 Milliarden Euro, die mit dem Konjunkturpaket zur
Verfügung gestellt wurden, durch das CO2-Gebäudesa-
nierungsprogramm und durch die Arbeit der Gemeinde-
finanzkommission. Ich glaube, wir alle sind sicher, dass
wir die Arbeit dieser Kommission nicht ohne Ergebnis
beenden können.

Herr Kollege Troost, ich komme zum Thema Gewer-
besteuerumlage. Auch diesbezüglich teile ich die Aus-
sage der Kollegin Paus: Es macht keinen Spaß, sich mit
Ihnen auseinanderzusetzen. Sie hören einfach nicht zu.
Selbst wenn Sie ein Argument aufgegriffen haben, hält
Sie das nicht davon ab, den gleichen Blocksatzantrag,
den Sie hier schon fünfmal gestellt haben, ein weiteres
Mal zu stellen. Die Gewerbesteuerumlage hilft natürlich
nur den Kommunen, die viel Gewerbesteuer abführen.
Vom Bund kämen dann zwar 1,2 Milliarden Euro, 2 Mil-
liarden Euro von den Ländern. Ich kenne keinen einzi-
gen Antrag der Linken in den Ländern, in dem darum
gebeten wird, auf die Gewerbesteuerumlage zu verzich-
ten. Sie machen das hier immer sehr öffentlichkeitswirk-
sam, aber Fakten schaffen Sie nicht.

Ich bin sehr gespannt, ob Sie diesmal in den Haus-
haltsberatungen den Antrag stellen, der Bund solle auf
1,2 Milliarden Euro verzichten. Ich möchte ein Beispiel
nennen, das zeigt, wie sich das auswirken würde: Die
Städte Coburg und Frankfurt am Main hatten beispiels-
weise im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen pro
Einwohner von 2 600 bzw. 2 700 Euro; Weimar und Del-
menhorst liegen hier bei 190 Euro. Wenn Sie also die
Gewerbesteuerumlage abschaffen würden, würden Sie
Städten helfen, die sowieso ein hohes Gewerbesteuerauf-
kommen haben; Städten, die erhebliche finanzielle Sor-
gen haben, würde das gar nicht nützen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist klar!)


Das Blöde an der Diskussion ist, dass Sie so etwas zuge-
stehen. Sobald die Kameras abgestellt sind, sagen Sie,
dass genau das das Problem ist. Einen Monat später aber
legen Sie denselben Antrag mit denselben Vorschlägen,
die Sie vorher als unsinnig dargestellt haben, erneut vor.


(Zuruf von der FDP: Steht in dem Plan!)


Während Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken aus dem Finanzausschuss, sich als Retter der
Kommunen üben, werfen Ihre Sozialpolitiker die Haus-
halte der Kommunen verbal komplett über den Haufen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706508500

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Troost?


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1706508600

Gerne.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706508700

Bitte sehr.


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706508800

Frau Kollegin Tillmann, es ist in der Tat so – das wis-

sen wir –, dass das Gewerbesteueraufkommen zwischen
den Kommunen, zwischen unterschiedlichen Strukturen
von Städten, zwischen Großstadt und Umlandgemeinden
und auch zwischen Ost und West sehr stark differiert.
Deswegen sagen wir aber nicht, dass wir jetzt keine Ge-
werbesteuer mehr wollen. Wir wollen vielmehr eine eher
gerechtere Verteilung.


(Zuruf von der FDP: Eher!)


Daher fordern wir die Einführung einer Gemeindewirt-
schaftsteuer, bei der die freien Berufe einbezogen wer-
den, die wesentlich weniger streuen als Gewerbebe-
triebe. Das werden auch die Ergebnisse der Kommission
zeigen. Es ist nicht unser Konzept, sondern das Konzept
des Deutschen Städtetages, das wir hier vortragen. Na-
türlich profitieren erst einmal diejenigen Kommunen be-
sonders, die ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben
bzw. dieses schon immer hatten. Die anderen bekommen
durch andere Zuweisungen mehr. Das würde zu einer
ersten Entlastung der Kommunen führen; denn es gibt
keine anderen Schritte, um die Haushalte auf der kom-
munalen Ebene für 2011 und 2012 einigermaßen zu sta-
bilisieren.


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1706508900

Lieber Kollege Troost, selbstverständlich gibt es an-

dere Schritte, und wir werden Ihnen zusammen mit der
Gemeindefinanzkommission diese Schritte aufzeigen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Für 2011 und 2012?)


Ich hatte gehofft, dass Sie mir jetzt erklären, warum
Sie immer noch bei Ihrem Antrag zur Abschaffung der
Gewerbesteuerumlage bleiben. Das haben Sie jetzt nicht
getan.





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Doch, weil das der einzige Schritt ist!)


– Dazu haben Sie jetzt nichts gesagt. – Ich würde jetzt
gern auf Ihre Frage reagieren. Sie haben behauptet, dass
die Verwerfungen bei freiberuflichen Einkommen nicht
so stark sind wie bei Gewerbetreibenden. Das kann ich
nicht nachvollziehen. Sowohl die Ärzte als auch die
Steuerberater und die Wirtschaftsprüfer in den neuen
Ländern erzielen natürlich andere Einkommen als die in
den alten Ländern. Also werden die Verwerfungen blei-
ben. Wir können diese Diskussion gern fortführen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, eben!)


Ich glaube, dass Sie übersehen haben, dass die Gewerbe-
steuerumlage eingeführt worden ist, um die Verwerfun-
gen bei der Gewerbesteuer zwischen den Gemeinden zu
ändern. Sie nicken; Sie wissen das. Sie ziehen daraus
aber keine Schlüsse. Ich finde nach wie vor, dass dieser
Antrag sinnlos ist. Sie haben in den Haushaltsberatungen
ja die Möglichkeit, dies erneut zu beantragen.


(Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


– Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich auf dem einen Ohr
nicht ständig Ihre Zwischenrufe hören müsste; denn das
lenkt mich von meiner Rede ab.

Lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt anspre-
chen. Ich wiederhole: Während Sie als Finanzpolitiker
sich als Retter der Kommunen darstellen, schmeißen Ihre
Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen vollends
über den Haufen. Ich lese, dass Ihr Parteivorsitzender ei-
nen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 500 Euro fordert.
Schon die Erhöhung des Regelsatzes um 5 Euro kostet
die Kommunen jährlich 143 Millionen Euro. Jede Erhö-
hung bei Hartz IV hat natürlich Folgen beim SGB II und
bei der Grundsicherung im Alter. Eine Regelsatzerhö-
hung auf 500 Euro würde die Kommunen jährlich 4 Mil-
liarden Euro kosten. Schon diese 5 Euro, jährlich
143 Millionen Euro, führen in vielen Kommunen zu mas-
siven Problemen. Wir werden auch das in der Kommis-
sion besprechen müssen.

Das von Frau Hinz und anderen heftig kritisierte Bil-
dungspaket ist aber genau das Gegenteil; dadurch wer-
den die Kommunen tatsächlich entlastet. Ich nehme das
kostenlose Mittagessen als Beispiel. Zahlreiche Kom-
munen finanzieren auch heute schon für bedürftige Kin-
der ein kostenloses Mittagessen in Kindergärten und
Schulen. Die Kosten in Höhe von 2 Euro pro Kind und
Mahlzeit übernimmt in Zukunft der Bund; dafür inves-
tiert er 120 Millionen Euro. In vielen Städten gibt es So-
zialtickets, durch die bedürftige Kinder bei dem Besuch
von kulturellen Veranstaltungen oder bei der Partizipa-
tion in Sportvereinen unterstützt werden. Auch hier wird
der Bund im Rahmen des Bildungspakets in Zukunft
Kosten übernehmen. Für diesen Bereich stehen insge-
samt 500 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Geld
kommt bei den Menschen auch tatsächlich an.

Am Beispiel der Stadt Erfurt kann ich das nachwei-
sen. Erfurt ist eine Stadt mit 200 000 Einwohnern. Für
das kostenlose Mittagessen zahlt die Stadt 800 000 Euro,
die Kosten für die Verpflegung in den Kitas betragen
1,5 Millionen Euro, die Kosten für die Unterstützung
von Kindern in einer Musikschule belaufen sich auf
150 000 Euro, und die Kosten für die Förderung bedürf-
tiger Kinder in einer Schülerakademie beziffern sich auf
40 000 Euro. Diese insgesamt über 2 Millionen Euro
werden der Stadt künftig über die Bundesagentur für Ar-
beit vom Bund erstattet. Dies führt entweder dazu, dass
die Kommunen entlastet werden, oder dazu – das würde
ich mir wünschen –, dass diese Angebote ausgeweitet
werden können, sodass alle Kinder, auch Kinder aus
Niedriglohnfamilien, sie in Anspruch nehmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das sind keine Einzelfälle. Seitdem wir diese Debatte
führen, wissen wir, dass solche Angebote in vielen Städ-
ten gemacht werden. Diese Städte können künftig auf
die Unterstützung des Bundes hoffen.

Ich kann alle Kommunalpolitiker, Bürgermeister und
Stadträte nur bitten, sich sehr intensiv in diese Debatte
einzubringen; denn es gibt entsprechende Gestaltungs-
möglichkeiten vor Ort. Das Bildungspaket kann nur so
gut werden, wie es Bund und kommunale Vertreter ge-
meinsam gestalten. Ich bin guter Hoffnung, dass dadurch
das eine oder andere Problem in den Kommunen gelöst
wird. Ich kann auch Sie nur auffordern, sich an der Dis-
kussion zu beteiligen und das Bildungspaket nicht stän-
dig zu zerreißen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706509000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2944 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 l
und 5 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:

33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord-
nung des Arzneimittelmarktes in der gesetzli-
chen Krankenversicherung

(Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG)


– Drucksachen 17/3116, 17/3211 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 24. Oktober 2008 zwi-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

schen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland, der Regierung des Königreichs
Belgien, der Regierung der Französischen Re-
publik und der Regierung des Großherzog-
tums Luxemburg zur Einrichtung und zum
Betrieb eines Gemeinsamen Zentrums der
Polizei- und Zollzusammenarbeit im gemein-
samen Grenzgebiet

– Drucksache 17/3117 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbe-
reich des Bundesministeriums für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz im
Hinblick auf den Vertrag von Lissabon

– Drucksache 17/3118 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-

(ERPWirtschaftsplangesetz 2011)


– Drucksache 17/3119 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-
barung vom 20. April 2010 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Quebec über Soziale
Sicherheit

– Drucksache 17/3120 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen
vom 12. Dezember 2006 zwischen der Europäi-
schen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten
einerseits und dem Königreich Marokko ande-

(Vertragsgesetz Europa-MittelmeerLuftverkehrsabkommen – Euromed-LuftvAbkG-Marok)


– Drucksache 17/3121 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Betroffene Kultureinrichtungen nach Fre-
quenzumstellung für drahtlose Mikrofone an-
gemessen entschädigen

– Drucksache 17/3177 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht (Tuchenbach), Dr. Hans-Peter Bartels,
Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Gesundes Aufwachsen von Kindern und Ju-
gendlichen fördern

– Drucksache 17/3178 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Ortel, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik
zum Erfolg führen

– Drucksache 17/3179 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia

(Quedlinburg)

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Chancen der EU-Fischereireform 2013 nutzen
und Gemeinsame Fischereipolitik grundle-
gend reformieren

– Drucksache 17/3209 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm,





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Verbraucherschutz auf Finanzmärkten nach-
holen

– Drucksache 17/3210 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig

l) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung

Technikfolgenabschätzung (TA)


Innovationsreport
Blockaden bei der Etablierung neuer Schlüs-
seltechnologien

– Drucksache 17/2000 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

5 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schaffung von Rechtssicherheit für Car-
sharing-Stationen und Elektrofahrzeug-Stell-
plätze

– Drucksache 17/3208 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

ZP 2 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschrif-
ten zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3
Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächener-

(Zweites Flächenerwerbsänderungsgesetz – 2. FlErwÄndG)


– Drucksache 17/3183 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sank-
tionen aussetzen

– Drucksache 17/3207 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Pakistan nach der Flut langfristig unterstüt-
zen und Schulden umwandeln

– Drucksache 17/3206 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Zunächst kommen wir zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist; es geht dabei um den
Tagesordnungspunkt 33 k. Interfraktionell wird Über-
weisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf Finanzmärk-
ten nachholen“ auf Drucksache 17/3210 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen
Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Aus-
schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz.

Zunächst stimmen wir über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißt
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit abge-
lehnt.

Nun stimmen wir über den Vorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP ab, das heißt Federführung
beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Der Überweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
tung der Fraktion Die Linke angenommen.

Nun kommen wir zu den unstrittigen Überweisungen.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Zu dem Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes auf Drucksache 17/3116 – Tages-
ordnungspunkt 33 a – liegt zwischenzeitlich auf Druck-
sache 17/3211 die Gegenäußerung der Bundesregierung
vor, die an dieselben Ausschüsse wie der Gesetzentwurf
überwiesen werden soll. Sind Sie mit all dem einverstan-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

den? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 34 a
bis 34 q. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 34 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die weitere Bereinigung von Bundesrecht

– Drucksache 17/2279 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/3109 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Dr. Edgar Franke
Marco Buschmann
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/3109, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2279 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
SPD-Fraktion angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei
der zweiten Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
19. März 2010 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regie-
rung von Anguilla über den steuerlichen In-
formationsaustausch

– Drucksache 17/3026 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/3200 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Kolbe (Leipzig)

Dr. Birgit Reinemund
Dr. Thomas Gambke

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/3200, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3026 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 c:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verord-
nung des Europäischen Parlaments und des
Rates über Finanzbeiträge der Europäischen
Union zum Internationalen Fonds für Irland

(2007 bis 2010)


– Drucksache 17/2629 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/3232 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Jasper

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/3232, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/2629 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Beratung, nämlich mit den Stimmen des ganzen
Hauses, angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Verord-
nung der Bundesregierung

Zweite Verordnung zur Änderung der Maut-
höheverordnung (2. ÄndMautHV)


– Drucksachen 17/2891, 17/2971 Nr. 2.3, 17/3161 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3161, der Verordnung auf
Drucksache 17/2891 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Umsetzung der Dienstleis-
tungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umwelt-
rechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher
Vorschriften

– Drucksachen 17/2821, 17/2971 Nr. 2.1, 17/3170 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3170, der Verordnung auf
Drucksache 17/2821 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 f:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung

Grünbuch zur Corporate Governance in

(inkl. 10823/10 ADD 1)

KOM (2010) 284 endg.; Ratsdok. 10823/10

– Drucksachen 17/2408 Nr. A.8, 17/3112 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Burkhard Lischka
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Ich lasse über
diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? –


(Zuruf von der FDP: Eindeutig!)


– Herr Kollege, ich registriere die Mehrheiten auch ohne
Ihre Kommentare. Ich danke Ihnen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:

Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses

zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Septem-
ber 2009

– Drucksache 17/3100 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Bernhard Kaster
Christian Lange (Backnang)

Stephan Thomae
Dr. Dagmar Enkelmann
Josef Philip Winkler

Dazu liegt eine persönliche Erklärung der Kollegin
Dr. Enkelmann nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor.1)

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 h:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses

(3. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der

SPD

Die Fußballweltmeisterschaft – Eine Chance
für Südafrika

– Drucksachen 17/1959, 17/2493 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen)

Dagmar Freitag
Marina Schuster
Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/2493, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1959 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
tion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 34 i bis
34 q.

Tagesordnungspunkt 34 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 138 zu Petitionen

– Drucksache 17/3069 –

1) Anlage 2





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 138 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 139 zu Petitionen

– Drucksache 17/3070 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Auch die Sammelübersicht 139 ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 140 zu Petitionen

– Drucksache 17/3071 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 141 zu Petitionen

– Drucksache 17/3072 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen
der SPD-Fraktion angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 142 zu Petitionen

– Drucksache 17/3073 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 143 zu Petitionen

– Drucksache 17/3074 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 144 zu Petitionen

– Drucksache 17/3075 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 p:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 145 zu Petitionen

– Drucksache 17/3076 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 145 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 q:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 146 zu Petitionen

– Drucksache 17/3077 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Damit haben wir alle diese Abstimmungen über die
Bühne gebracht.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Reinhard Beck (Reutlingen), Peter Altmaier,
Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Elke Hoff, Rainer Erdel, Burkhardt Müller-
Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Verbesserung der Regelungen zur Einsatzver-
sorgung

– Drucksachen 17/2433, 17/3229 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Henning Otte
Lars Klingbeil
Elke Hoff
Harald Koch
Agnes Malczak





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde
darüber zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver-
standen. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1706509100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Der Antrag der Regierungskoalition zur Verbesse-
rung der Regelungen zur Einsatzversorgung unserer
Soldaten ist notwendig, richtig und angemessen. Warum?
Weil die Erfahrung im Umgang mit der Versorgung von
Soldaten im Einsatz ungerechtfertigte Versorgungslücken
für Berufssoldaten, insbesondere für Zeitsoldaten, für
freiwillig länger Dienende und für Reservisten deutlich
gemacht hat.

Die versorgungsrechtlichen Regelungen für Solda-
ten, die im Rahmen von Auslandseinsätzen zu Schaden
kommen, sind in den letzten Jahren bereits wesentlich
verbessert worden. Auf Initiative unseres früheren Bun-
desministers der Verteidigung, Franz Josef Jung, wurde
im Jahr 2007 mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz
die notwendige Ergänzung des Einsatzversorgungsgeset-
zes beschlossen. Das Einsatzversorgungsgesetz regelt
die finanzielle Absicherung und das Einsatz-Weiterver-
wendungsgesetz die Weiterbeschäftigung geschädigter
Soldaten.

Die Erfahrungen aus den Einsätzen haben uns ge-
zeigt, dass eine Anpassung dieser Regelungen notwen-
dig ist, um deutlich gewordene Versorgungslücken ge-
rechtigkeitshalber und fürsorgehalber zu schließen. Das
haben wir in der CDU/CSU erkannt und als Verteidi-
gungspolitiker in dem vorliegenden Antrag umgesetzt.
Auch das ist Ausdruck einer Parlamentsarmee.

In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen, sehr ge-
ehrter Herr Minister zu Guttenberg, und Ihrem Ministe-
rium dafür, dass Sie bei allen notwendigen Entscheidun-
gen um die Sicherheit unseres Landes immer das Wohl
unserer Soldaten im Blick haben und uns auch in dieser
Angelegenheit unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich danke an dieser Stelle auch dem Deutschen Bun-
deswehrVerband, der auf diese Regelungslücken hinge-
wiesen hat. Es ist eine besondere Geste, dass Sie, lieber
Herr Oberst Kirsch, als Vorsitzender des Bundeswehr-
Verbandes dieser Debatte beiwohnen. Das ist ein deutli-
ches Zeichen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Ar-
beit zum Wohle unserer Soldaten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Worum geht es bei diesem Antrag? Im Kern geht es in
der Fortentwicklung erstens darum, die Beiträge der ein-
maligen Entschädigung zu erhöhen, da der jetzige Be-
trag der Höhe nach keine angemessene Entschädigung
darstellt. Zweitens sind die Schadensausgleichszahlun-
gen auch an juristische Personen zu gewährleisten, damit
praxisnah, zum Beispiel bei abgetretenen Versicherungs-
ansprüchen, eine Auszahlung erfolgen kann. Drittens ist
die Höhe des anspruchsbegründenden Schädigungsgra-
des von 50 auf 30 Prozent zu reduzieren, weil bei psy-
chischen Erkrankungen die Erwerbsminderung nicht äu-
ßerlich erkennbar ist und zusätzlich die Kausalität in
dieser Höhe schwer nachzuweisen ist. Deswegen muss
der Grundsatz gelten: Im Zweifel für den verwundeten
Soldaten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eine bessere Nachversicherungsregelung sowie die
Rückführung der Stichtagsregelung auf den Beginn der
Auslandsmandate rundet diese Regelung ab. Es sollte
auch das Ziel sein, eingesetztem Zivilpersonal mit be-
sonderen Auslandsverwendungen ähnliche Erleichterun-
gen zu verschaffen.

Ich danke an dieser Stelle den mitberatenden Aus-
schüssen, die mit ihrer fraktionsübergreifenden Zustim-
mung der Annahme unseres Antrages zugestimmt ha-
ben, leider stets mit Ausnahme der Fraktion Die Linke,
die bekanntermaßen ein gespaltenes Verhältnis zu unse-
rer Bundeswehr und damit zu Sicherheit, Recht und Ord-
nung in unserem Staat hat.


(Zuruf der Abg. Ingrid Remmers [DIE LINKE])


Die Union ist die Partei der Bundeswehr. Das hat sie
bei ihren Entscheidungen zur Gründung der Bundes-
wehr, zum Beitritt der NATO und bei der Entwicklung
zur Armee der Einheit erfolgreich unter Beweis gestellt.
Das Gleiche gilt auch für die aktuelle notwendige Struk-
turreform sowie für den heute zu beratenden Antrag.

Der Deutsche Bundestag beschließt die Entsendung
von Soldatinnen und Soldaten in Krisengebiete und
Konfliktregionen nach Europa, Afrika und Asien. Den
daraus erwachsenden Herausforderungen müssen wir in
besonderem Maße Rechnung tragen. Denn militärische
und zivile Auslandsverwendungen in Krisengebieten
sind mit hohen Gefahren für Leib und Leben verbunden.
Mit Entsetzen müssen wir heute erfahren, dass wieder
einer unserer Soldaten gefallen ist und weitere verwun-
det worden sind. Das bedrückt uns sehr.

Unsere Bundeswehr stellt bis zu 7 000 Soldaten und
bildet damit den Schwerpunkt dieser militärischen und
zivilen Missionen, die auch der Sicherheit unseres Lan-
des dienen. Die besonderen Dienstbelastungen – auch in
Kampfhandlungen unter Einsatz von Leib und Leben –
stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. Die-
ser besonderen Situation wollen wir mit unserem Antrag
gerecht werden.

Die Bundeswehr steht im Rahmen der notwendigen
Strukturreform vor der Herausforderung, auch zukünftig
ein noch attraktiverer Arbeitgeber zu sein. Dafür muss
die Versorgungssicherheit gewährleistet sein. Unsere
Soldaten verpflichten sich, der Bundesrepublik Deutsch-
land treu zu dienen sowie das Recht und die Freiheit tap-
fer zu verteidigen. Sie stehen zu ihrer übernommenen
Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes. Dafür





Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)

danken wir Ihnen, liebe Soldatinnen und Soldaten, herz-
lich.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir in der Union stehen zu unseren Soldaten aus Ver-
antwortung, aus Fürsorge und aus politischer Überzeu-
gung und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706509200

Der Bundesminister der Verteidigung, Herr zu

Guttenberg, hat um das Wort gebeten, um eine Mittei-
lung zu machen.

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mich hat soeben eine sehr traurige Nachricht erreicht.
Wir haben offenbar bei einem Selbstmordanschlag auf
eine ISAF-Patrouille unserer Soldaten nördlich von Pol-i-
Khumri nach derzeitigem Stand einen gefallenen Solda-
ten und sechs verwundete Soldaten zu beklagen. Es ist
eine erste Information, die ich Ihnen in diesem Hohen
Hause geben muss und geben will.

Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Soldaten
und ihren Familien. Wir werden natürlich, sobald wir
Weiteres wissen, Sie alle entsprechend informieren. Der
gefallene Soldat und die verwundeten Soldaten befanden
sich in einem Einsatz, der unserer Sicherheit dient und
der in diesem Hause beschlossen wurde. Ich glaube, es
gehört sich, diese Information weiterzugeben. Unsere
Gedanken und Gebete sind bei den Familien und bei den
Soldaten.

Ich danke Ihnen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706509300

Herzlichen Dank, Herr Minister.

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil
für die SPD-Fraktion.


Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1706509400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-
ehrter Herr Minister, diese furchtbare Nachricht, die uns
aus Afghanistan erreicht, sollte uns alle dazu bringen, in-
nezuhalten und noch einmal über die Verantwortung
nachzudenken, die wir als Parlamentarier gegenüber un-
seren Soldatinnen und Soldaten haben. Ich denke, ich
spreche im Namen aller, wenn ich sage, dass unser aller
Mitgefühl und unsere Gedanken den Familien des Gefal-
lenen und der Verwundeten gelten.

Sehr geehrte Damen und Herren, es steht jeder Abge-
ordneten und jedem Abgeordneten frei, sich für oder ge-
gen die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten in ei-
nen Auslandseinsatz zu entscheiden. Diese Entscheidung
müssen wir letztendlich mit unserem Gewissen vereinba-
ren. Das, was dieses Haus jedoch einen sollte, sind die
Anerkennung, der Respekt und die Fürsorge für das, was
unsere Soldaten tagtäglich unter Einsatz ihres Lebens
leisten.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir als Abgeordnete sind es, die unsere Soldaten auf
schwierige Missionen schicken. Wir sind es, die Fami-
lien für einen langen Zeitraum auseinanderreißen. Wir
sind es, die gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft
für unsere politischen Entscheidungen ablegen müssen.
Wir sind es aber auch, die eine Fürsorgepflicht gegen-
über den Soldaten und ihren Familien wahrzunehmen
haben. Wir haben diese Fürsorgepflicht vor, während
und nach dem Einsatz.

Kommt ein Soldat im Einsatz etwa durch einen Unfall
zu Schaden, müssen wir gewährleisten, dass es umfang-
reiche, schnelle und unbürokratische Hilfe für den Sol-
daten und seine Familie gibt. Es ist deshalb richtig, dass
wir heute hier im Bundestag eine wegweisende Ent-
scheidung der rot-grünen Regierung und vor allem des
ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck weiter-
entwickeln und das Einsatzversorgungsgesetz in wichti-
gen Kernpunkten verbessern. Peter Struck war es, der
die Notwendigkeit erkannte, der veränderten Auftragsre-
alität der Bundeswehr einen neuen Rechtsrahmen zu ge-
ben und die Fürsorge des Staates gegenüber den Solda-
ten erheblich zu verbessern. Hierfür gebührt ihm auch
nachträglich unser aller Dank.


(Beifall bei der SPD)


Die Weiterentwicklung des Gesetzes, wie sie heute
hier von den Regierungsfraktionen eingefordert wird,
findet in allen Punkten unsere Unterstützung. Wir hätten
uns gewünscht, dass ein solcher Vorstoß aus dem Minis-
terium kommt, und wir hätten uns auch gewünscht, dass
versucht worden wäre, diesen Antrag gemeinsam mit
den Oppositionsfraktionen zu formulieren. Das wäre ein
wichtiges Zeichen gewesen, das wir hier im Bundestag
hätten setzen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin aber dankbar für Ihre Zusage gestern im Aus-
schuss, Frau Hoff, dass wir im konkreten Gesetzge-
bungsverfahren eine gemeinsame Linie entwickeln wer-
den. Meines Erachtens sollten die Gemeinsamkeiten im
Vordergrund des Wirkens in diesem Hause stehen, wenn
es um unsere Soldatinnen und Soldaten geht.

Gerade für Nichtberufssoldaten wird mit dem Forde-
rungskatalog eine erhebliche Verbesserung erreicht. Die
Ausgleichszahlungen werden erhöht, die rechtliche Stel-
lung der Soldatinnen und Soldaten wird verbessert, und
die Einsatzzeiten werden künftig höher angerechnet. Das
sind wichtige Schritte, die wir hier als Parlamentarier ge-
hen wollen. Die ersten deutschen Soldaten wurden 1992
ins Ausland geschickt. Der heutige Antrag formuliert
deutlich die Gleichbehandlung aller Einsätze. Auch dies
ist ein notwendiger Schritt.

Die Verantwortung des Staates gegenüber unseren
Soldaten bedeutet auch, die Bewältigung der posttrau-
matischen Belastungsstörungen endlich entschlossen an-





Lars Klingbeil


(A) (C)



(B)

zugehen. Immer mehr Soldaten kommen mit solchen
Störungen aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse aus
dem Einsatz zurück. Viele Soldaten haben Grauenhaftes
erlebt, Bilder, die sie jahrelang nicht vergessen, die sie
nachts nicht schlafen lassen und die tagsüber einen gere-
gelten Alltag nicht zulassen. Diese seelischen Verwun-
dungen haben erst in den letzten Jahren die Aufmerk-
samkeit erhalten, die sie verdienen. Dass dies nun so ist,
ist – das sage ich hier ganz deutlich – zu einem großen
Teil das Verdienst des ehemaligen Wehrbeauftragten
Reinhold Robbe, der immer unermüdlich dafür ge-
kämpft hat, dass die posttraumatischen Belastungsstö-
rungen die ihnen angemessene Aufmerksamkeit finden.
Auch ihm gebührt unser Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist richtig, dass wir die Situation der an PTBS er-
krankten Soldaten verbessern und wir beispielsweise die
Verfahrensdauer drastisch reduzieren wollen. Aber auch
hier gehört zur Wahrheit: Wir stehen noch am Anfang.
Unsere Maxime im konkreten Gesetzgebungsverfahren
muss lauten, dass jeder Soldat und jede Soldatin, die in
den letzten 18 Jahren im Ausland verletzt wurde, egal ob
körperlich oder seelisch, die bestmögliche Behandlung
erhalten. Das müssen wir als Parlamentarier garantieren;
wir werden im Gesetzgebungsverfahren auch die Ver-
bände und Experten einbeziehen müssen, um hierfür die
bestmögliche Regelung zu finden.

Es sind große Schritte für die Anerkennung der Leis-
tung der Soldaten und für den Respekt gegenüber den
Soldaten, die wir heute unternehmen. Ich sage aber auch:
Das reicht nicht! Es reicht nicht, wenn dieses Parlament
sich nach der Verabschiedung des heutigen Antrags zu-
rücklehnt, sich auf die Schulter klopft und sagt: Jetzt ha-
ben wir etwas für die Soldaten getan. – Denn es bleibt
noch viel zu tun.

Der Anerkennung, dem Respekt und der Fürsorge
hätte es auch gedient – das will ich hier deutlich sagen –,
den Soldaten wieder das volle Weihnachtsgeld auszu-
zahlen, wie die Kanzlerin es versprochen hatte.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes in die-
sem Zusammenhang von einem Wortbruch spricht, dann
muss ich ihm recht geben. Man muss sich an dieser
Stelle fragen: Welches Signal kommt eigentlich bei den
Soldaten an, wenn wir sie einerseits in immer gefährli-
chere Einsätze schicken und andererseits hier zu Hause
auf ihrem Rücken Sparmaßnahmen umsetzen? Ich hoffe,
dass im Rahmen der Haushaltsberatungen die Regie-
rungskoalition noch zur Einsicht kommt. Aber ich sage
heute: Verantwortungsvolle Politik sieht an dieser Stelle
anders aus.

Herr Minister, ich hätte mir von Ihnen dazu deutli-
chere Worte gewünscht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie sind der derzeit populärste Politiker in Deutschland.
Warum nutzen Sie dieses politische Gewicht nicht, um
sich vor die Truppe zu stellen und in diesem Punkt Ver-
besserungen für die Soldaten zu fordern? Das wäre ein
wichtiges Zeichen auch für die Anerkennung der Truppe
gewesen.

Das Weihnachtsgeld gehört zur Attraktivität des Sol-
datenberufs. Wir alle wissen doch, dass es darauf an-
kommt, in den nächsten Monaten maßgebliche Schritte
zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr zu ge-
hen. Gerade dann, wenn die Wehrpflicht fällt und wir die
Nachwuchsgewinnung ausbauen müssen, brauchen wir
einen attraktiveren Dienst in der Bundeswehr. Deswegen
sage ich für uns Sozialdemokraten, dass im Rahmen der
Bundeswehrstrukturreform ein Programm zur Steige-
rung der Attraktivität zwingend notwendig ist. Nur dann,
wenn wir auch die Attraktivität des Dienstes in der Bun-
deswehr erhöhen, wird eine Strukturreform gelingen.

Da ich beim Thema Reform bin, will ich hier deutlich
sagen: Herr Minister, reden Sie Klartext hinsichtlich der
Standzeiten im Auslandseinsatz. Reden Sie Klartext da-
rüber, welche Standzeiten Sie für die Bundeswehrpla-
nung zugrunde gelegt haben. Derzeit sind es vier Monate.
Die Befürchtungen bei uns, aber auch in der Truppe sind
doch aber, dass wir mit einer personell reduzierten Bun-
deswehr zu erheblich höheren Standzeiten kommen wer-
den. Hier sind Sie bisher jede Antwort schuldig geblie-
ben. Sagen Sie der Truppe, sagen Sie dem Parlament, in
welche Richtung Ihre Planung geht. Auch das sind Sie
den Soldatinnen und Soldaten schuldig.


(Beifall bei der SPD)


Ich sage auch: Zur Fürsorge gehört eine optimale Ein-
satzvorbereitung. Die Vorbereitung, mit der wir unsere
Soldaten in den Einsatz schicken, reicht nicht. Hier ha-
ben wir als Politik eine große Verantwortung. Wir schi-
cken Soldaten nach Afghanistan, obwohl wir wissen,
dass sie an den Fahrzeugen, die dort für den Schutz ihres
Lebens wichtig sind, nicht ausreichend ausgebildet sind;
daher müssen wir hier dringend nachbessern. Auch eine
optimale Einsatzvorbereitung gehört zur Fürsorgepflicht,
die wir als Parlament haben.

Ich will an alle 622 Abgeordneten hier noch einmal
appellieren. Wir sind diejenigen, die Verantwortung für
die Soldaten tragen, und wir müssen uns jeden Tag fra-
gen: Werden wir dieser Verantwortung gerecht? Wir ver-
langen von unseren Soldaten viel, und wir sind in der
Pflicht, ihnen das Versprechen zu geben, dass wir ihnen
eine optimale Vorbereitung, Nachbereitung und auch
Versorgung im Einsatzland auf dem höchstmöglichen
Niveau garantieren. Das, was wir heute beschließen, ist
ein wichtiger erster Schritt. Aber ich sage auch: Es müs-
sen weitere Schritte folgen. Wir dürfen uns nicht ausru-
hen.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706509500

Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


(D)







(A) (C)



(D)(B)


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1706509600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Hin-
tergrund der Ereignisse, die Herr Minister zu Guttenberg
eben vorgetragen hat, ist es wenig erfreulich, hier heute
eine politische Auseinandersetzung zu führen. Ich
möchte an dieser Stelle auch für meine Fraktion die tiefe
Betroffenheit, das tiefe Bedauern zum Ausdruck bringen
sowie den Familien, den Freunden und den Angehörigen
die tiefste Anteilnahme aussprechen.

Tragisch ist das Zusammentreffen dieser Ereignisse.
Wir führen heute eine Debatte über etwas, was gerade
der Verbesserung der Situation für aus dem Einsatz zu-
rückgekehrte verwundete Soldatinnen und Soldaten die-
nen und die nötige Tiefe, die politische Seriosität und
auch den gemeinsamen Willen unterstreichen soll. Bei
allen unterschiedlichen Auffassungen in Einzelpunkten
bin ich deshalb froh, dass nach der Rede des Kollegen
Klingbeil sehr deutlich geworden ist, dass hier ein ge-
meinsamer Wille besteht, der Verantwortung gegenüber
unseren Soldaten, die wir als Parlamentarier haben, ge-
recht zu werden.

Ich freue mich auch, dass heute Betroffene bei uns
sind. Diese Soldaten sind heute hier, weil sie an der Dis-
kussion, die wir hier im Parlament führen, teilhaben wol-
len. Ich darf ihnen an dieser Stelle persönlich und auch
im Namen vieler Kollegen danken, dass sie den Mut ha-
ben, an die Öffentlichkeit zu gehen, und dass sie uns
ganz deutlich gemacht haben, wie bestimmte Lücken im
Gesetz und vielleicht auch eine falsche Zurückhaltung
an manchen Stellen ihr Leben sehr nachteilig und sehr
negativ beeinflusst haben. Ich finde es deswegen großar-
tig, dass sie uns heute als Staatsbürger in Uniform durch
ihre Präsenz ein Stück weit den Weg weisen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])


Meine Damen, meine Herren, ich bin froh, dass es uns
gelungen ist, viele Punkte, durchaus gegen Widerstände
von Kollegen in anderen Fachausschüssen, auf einen
Weg zu bringen, der zeigt, dass wir die Verantwortung
übernehmen. Ich finde, ein wesentlicher Aspekt dieses
Antrags ist in jedem Fall eine Veränderung der Stich-
tagsregelung. Es ist nämlich in hohem Maße ungerecht,
dass die Soldatinnen und Soldaten, die sich von Anfang
an für unser Vaterland eingesetzt und die ihre Gesund-
heit aufs Spiel gesetzt haben, nicht in den Genuss von
Vergünstigungen kamen. Was mich persönlich besonders
erschreckt hat, ist, dass wir ein Stück weit vergessen ha-
ben, was mit unseren Soldaten auf Zeit und mit den
Reservisten passiert. Viele Einsätze, geprägt von schlim-
men Szenarien, können heute ohne den Einsatz von Re-
servisten und ohne Soldaten auf Zeit in der Form nicht
mehr durchgeführt werden. Ich bin sehr froh darüber,
dass wir hier die Weichen gestellt haben.

Ich hoffe sehr – das sage ich auch an die Kollegen der
Opposition gerichtet –, dass wir sehr rasch in das Ge-
setzgebungsverfahren eintreten. Es reicht nämlich in der
Tat nicht aus, dass wir heute nur den politischen Willen
dokumentieren. Darüber hinaus müssen wir als Parla-
ment jetzt unsere Aufgabe erfüllen. Herr Minister, ich
habe gar keinen Zweifel, dass wir hier in sehr enger Ko-
operation das Richtige auf den Weg bringen. Bei allem
Verständnis auch für die finanziellen Zwänge: Ich
glaube, dass an dieser Stelle das Geld keine Rolle spie-
len darf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen auf die Männer und Frauen hören, die an
uns appellieren. Inzwischen gibt es dankenswerterweise
sehr viele Veröffentlichungen dazu. Ein Buch zu diesem
Thema trägt den Titel „Die reden – Wir sterben“. Das ist
eine sehr klare und deutliche Aussage, und ich glaube,
dass sich hinter dieser prägnanten Formulierung die
ganze Tragik der Empfindungen darüber verbirgt, dass
die Männer und Frauen, die zurückkommen, nicht mehr
die Menschen sind, die sie vorher waren. Dies gilt auch
gegenüber ihren Familien. Sie sollen in erster Linie ihre
Würde als Familienvater, als Arbeitnehmer, als Freund
und Ehepartner zurückerhalten. An dieser Stelle kann
ich nur appellieren, dass wir im weiteren Gesetzge-
bungsvorhaben unsere unterschiedlichen parteipoliti-
schen Auffassungen im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten ein Stück weit überwinden.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu,
es fällt mir heute wirklich sehr schwer, vor dem Hinter-
grund der Ereignisse zu reden. Wir sollten uns über eines
klar sein: dass auch heute wieder Soldatinnen und Solda-
ten aus einem Einsatz nach Hause kommen werden, der
ihr Leben nachhaltig verändert haben wird. Umso mehr
sind wir jetzt gefordert, die Dinge, von denen wir wis-
sen, dass sie falsch laufen, zu verbessern, damit wir den
Kameradinnen und Kameraden sagen können: Jawohl,
wir haben die Botschaft verstanden; das Parlament ist
gemeinsam mit der Regierung bereit, die Situation zu
verändern.

Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706509700

Das Wort erhält nun Kollegin Ingrid Remmers für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706509800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich zunächst auf das Bezug nehmen, was
der Kollege Otte gesagt hat, und etwas korrigieren: Die
Linke hat keinesfalls ein unsicheres oder gespaltenes
Verhältnis zu Kriegseinsätzen, sondern ein ganz eindeu-
tiges, nämlich ein ablehnendes.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch die Interessen
der Soldatinnen und Soldaten sehen. Vor dem Hinter-
grund dessen, was heute passiert ist, sprechen selbstver-
ständlich auch wir den Verletzten und den Angehörigen
unser tiefes Mitgefühl aus.


(Beifall bei der LINKEN)






Ingrid Remmers


(A) (C)



(D)(B)

Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist
im Grundsatz zu begrüßen; auch wir begrüßen ihn. Die
Antragsteller legen hier die Finger in zwei wunde Punkte
der gegenwärtigen Sicherheitspolitik der Bundesregie-
rung:

Wer auf Krieg und militärische Interventionen als In-
strument der Außen- und Sicherheitspolitik setzt, setzt
damit auch die eigenen Soldatinnen und Soldaten großen
Gefahren aus; dies haben wir heute erlebt. Diese Gefah-
ren sind inzwischen Bundeswehralltag in Afghanistan,
wie wir alle wissen. Mehr als 30 Soldaten – heute erneut
einer – wurden im Verlauf der Intervention bislang getö-
tet, eine Vielzahl wurde verwundet und traumatisiert,
und dies in einem Krieg, der nicht zu rechtfertigen und
zum Scheitern verurteilt ist. Die Linke hat sich immer
klar und deutlich für den Abzug aus Afghanistan einge-
setzt und auch insgesamt eine andere, eine friedensorien-
tierte Außenpolitik – nicht nur für Afghanistan – gefor-
dert. Würde sich die Bundesregierung daran orientieren,
wäre der vorliegende Antrag überflüssig.


(Beifall bei der LINKEN)


Die zweite offene Wunde, die der Antrag aufzeigt, ist
die geradezu fahrlässige Missachtung der Belange der
Soldatinnen und Soldaten durch Bundesregierung und
Bundeswehr; dies hat die Kollegin schon vorhin ange-
sprochen. Die Soldatinnen und Soldaten werden von der
Bundesregierung und der Mehrheit im Bundestag in den
Einsatz geschickt. Was dort mit ihnen passiert, interes-
sierte bislang das Verteidigungsministerium in der Regel
nur dann, wenn damit der riesige Verteidigungsetat bzw.
seine weitere Aufstockung gerechtfertigt werden konnte
oder aber der mediale Druck zu groß war.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das ist unerhört!)


Immer erst dann, wenn der Unmut hochkocht, passiert
etwas.

Da die Bundeswehr nun tatsächlich leider im Kampfein-
satz ist, treten die Unzulänglichkeiten der gesetzlichen
Verordnungen und der täglichen Verwaltungspraxis im-
mer deutlicher zutage. Hier besteht in der Tat Handlungs-
bedarf: bei der Anhebung der Entschädigungszahlungen,
der Verbesserung der Betreuung von PTBS-Opfern, bei
der Gleichbehandlung von Berufssoldatinnen und -solda-
ten mit den Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie den
Wehrpflichtigen. Das sind Mindeststandards, die einfach
gewährleistet werden müssen und zu Recht im Antrag
eingefordert werden.

Aber die Regierungsfraktionen wären nicht Teil des
Establishments, wenn sie sich nicht der alten Rhetorik
bedienten: Zur Verbesserung der Fürsorge gegenüber
dem Bundeswehrpersonal wird mehr Geld benötigt; das
aber soll entweder durch Aufstockung des Verteidi-
gungsetats oder aus anderen Töpfen kommen. Wie man
weiß, ist bei der Bundeswehr selbst eigentlich ein rigoro-
ser Sparkurs angesagt. Also sollen nun andere Haushalte
diskret mitfinanzieren. Das, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, geht nicht!


(Beifall bei der LINKEN)

Zum einen ist im Verteidigungshaushalt, der immer-
hin der drittgrößte Etat ist, ausreichend Spielraum vor-
handen. Es gibt genug Beschaffungsprogramme, die
dem Rotstift zum Opfer fallen könnten, zum Beispiel für
den A400M. Auch der Gesamtumfang der Streitkräfte
muss reduziert werden, sodass hier erhebliche Um-
schichtungen möglich wären.

Zum anderen aber würde damit der Ansatz der Haus-
hälter in den letzten fünf Jahren völlig konterkariert wer-
den. Die Querfinanzierung, die Flexibilisierung von
Haushaltstiteln waren den Haushältern zu Recht ein Dorn
im Auge. Klare Sach- und Finanzverantwortung, klare
Verantwortlichkeiten und die Verbesserung der Transpa-
renz waren das Ziel. Ab 2007 wurden deswegen endlich
auch die Versorgungsausgaben aus dem Einzelplan 33
übernommen. Das soll nun wieder aufgebrochen werden.

Das soll natürlich nicht nur dort geschehen. Beim Lie-
genschaftsmanagement der Bundeswehr wird zukünftig
auch das Finanzministerium einen kleinen Beitrag leisten.
Generalinspekteur Wieker hat schon weitere Vorschläge
parat, zum Beispiel die Finanzierung der Interven-
tionseinsätze aus anderen Töpfen. Vor diesem Hinter-
grund, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bekommt der
Antrag der Regierungsfraktionen einen schalen Beige-
schmack. Deswegen – nur deswegen! – können wir dem
Antrag so nicht zustimmen und werden uns hier enthalten
müssen.

Genauso wie die Linke für eine friedensorientierte
Außen- und Sicherheitspolitik ist, ist sie für eine ad-
äquate Versorgung der Soldatinnen und Soldaten. Das ist
schließlich die Pflicht des Arbeitgebers Staat. Es liegt
auf der Hand, dass hier erheblicher Nachbesserungsbe-
darf besteht. Wir appellieren also an die Bundesregie-
rung, dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen umgesetzt,
aber aus dem Einzelplan 14 finanziert werden. Dann
können auch wir einem solchen Antrag zustimmen. Das
Geld dafür ist im Etat vorhanden. Die Regierung und die
Regierungsfraktionen müssen es nur wollen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706509900

Das Wort hat nun Agnes Malczak für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706510000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Angesichts der tragischen Nachricht, die uns
zu Beginn dieser Debatte ereilt hat, möchte ich auch für
unsere Fraktion den Angehörigen des gestorbenen Sol-
daten unser tiefes Mitgefühl und unser Beileid ausspre-
chen. Den sechs verletzten Soldaten wünschen wir eine
schnelle und vor allem vollständige Genesung. Die Be-
troffenen und die Angehörigen werden in diesen schwie-
rigen Stunden viel Kraft brauchen. Wir hoffen, dass sie
sie auch finden werden.


(Beifall im ganzen Hause)






Agnes Malczak


(A) (C)



(D)(B)

Die Regelungen zur Verbesserung der Einsatzversor-
gung, die von den Fraktionen der Union und der FDP
hier beantragt wurden, sind richtig und finden deshalb
im Grundsatz auch unsere Zustimmung. Unabhängig da-
von, was der eine oder die andere von uns über einen
konkreten Einsatz denkt oder an Abstimmungsverhalten
gezeigt hat – da ist in diesem Haus die ganze Bandbreite
vertreten –: Für die Soldatinnen und Soldaten der Bun-
deswehr, für die zivilen Kräfte und ihre Angehörigen ha-
ben wir als Parlament eine besondere Verantwortung zur
Fürsorge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb ist es richtig, dass wir uns die Frage stellen,
wie wir dieser Verantwortung auch wirklich gerecht wer-
den können. Der Bedeutung dieses Themas wurde in der
Vergangenheit durch eine Zusammenarbeit aller Fraktio-
nen Rechnung getragen. Diese Chance wurde hier leider
vergeben.

Damit es heute nicht bei Ankündigungen bleibt, ist
Verteidigungsminister zu Guttenberg aufgefordert, die-
sen Antrag als Auftrag zu konkretem und auch zu
schnellem Handeln zu verstehen. Ich muss allerdings
feststellen, dass dieser Antrag eine gewisse Ganzheit-
lichkeit vermissen lässt. Ein ganz grundsätzliches Pro-
blem bleibt zudem unbehandelt.

Zur fehlenden Ganzheitlichkeit. Sie fokussieren in Ih-
rem Antrag auf die Einsatzversorgung der Soldatinnen
und Soldaten. Auf Basis des Auslandsverwendungsge-
setzes entsenden wir aber auch zivile Kräfte zu interna-
tionalen Friedenseinsätzen. Sie widmen dieser Gruppe
nur die Forderung, dass alle Regelungen auch für sie gel-
ten sollen. Zu den zivilen Kräften, die auf Basis des Se-
kundierungsgesetzes als deutsche Vertreterinnen und
Vertreter an Missionen teilnehmen, schweigen Sie in Ih-
rem Antrag. Dazu müssen wir in Zukunft mit den ande-
ren Ausschüssen, die sich mit diesen Fragen befassen,
zusammenarbeiten;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn auch diese Menschen setzen sich unter Entbehrun-
gen und erhöhtem Risiko, was ihre physische und psy-
chische Gesundheit betrifft, für den Frieden ein und ver-
dienen unsere Fürsorge und unseren Dank.

In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,
schlagen Sie finanzielle Verbesserungen vor und spre-
chen dabei wirklich wichtige Punkte an, etwa die Aufhe-
bung der Stichtagsregelung, die Beweislastproblematik
und die unzumutbare Dauer der Wehrdienstbeschädi-
gungsverfahren. So richtig und wichtig die finanzielle
Absicherung ist, so richtig und wichtig ist auch die Schaf-
fung einer verlässlichen Betreuungsinfrastruktur. Wer mit
Betroffenen und ihren Angehörigen spricht, weiß, dass
hier erhebliche Mängel bestehen. Sie fühlen sich zu oft
mit ihren Problemen alleingelassen und sehen sich einer
Bürokratie gegenüber, der sie nicht Herr werden können.
Doch dieses Problem haben nicht nur versehrte Soldatin-
nen und Soldaten, zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
und deren Angehörige. Und hiermit komme ich zur ver-
passten Chance dieses Antrags. Denn vor dem Hinter-
grund der anstehenden Reform der Bundeswehr gibt es
die Gelegenheit, Erwartungen an die Bundesregierung
hinsichtlich der Gesamtsituation von zivilen und militäri-
schen Ehemaligen der internationalen Missionen zu for-
mulieren.

Die Rückkehr aus einer Auslandsmission nach
Deutschland ist für die Heimkehrenden oft nicht einfach.
Sie haben in der Regel Erlebnisse gehabt, die der über-
wiegende Teil der deutschen Gesellschaft nicht nach-
empfinden kann. Diese Erlebnisse haben sie geprägt,
und sie werden sie ein Leben lang begleiten und häufig
auch ein Leben lang belasten. Wir müssen in diesem Zu-
sammenhang feststellen, dass die Heimgekehrten immer
häufiger beklagen, dass sie sich mit diesen Erfahrungen
alleingelassen fühlen, weil sie keine Anlaufstelle für ihre
spezifischen Probleme haben.

Der vorliegende Antrag schlägt viele Verbesserungen
vor, kann aber nicht das Ende der Debatte sein. Ich
glaube, wir sind uns auch mit allen Fraktionen einig,
dass es sich hier um einen Prozess handelt, der ständig
weitergehen muss und bei dem immer wieder Lücken
aufgedeckt und geschlossen werden müssen.

Das Thema hätte es verdient, gründlich, aber vor al-
lem auch schnell und in einem fraktionsübergreifenden
Diskurs bearbeitet zu werden. Deshalb freue ich mich,
dass wir uns gestern im Ausschuss eigentlich alle einig
waren, dass wir das, wenn es zum konkreten Gesetzge-
bungsverfahren kommt, zusammen angehen wollen. Wir
Grünen jedenfalls werden weiterhin an den offenen Fra-
gen dranbleiben.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706510100

Das Wort hat nun Jürgen Hardt für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1706510200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

schwierigste und gefährlichste Dienst für unser Land
wird in den Auslandseinsätzen geleistet. Wir haben ge-
rade eben die traurige Nachricht erhalten, dass ein Soldat
gefallen ist und sechs Soldaten verwundet worden sind.
Ich darf auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion den Angehörigen und den Kameraden dieser Solda-
ten mein herzliches Beileid aussprechen. Wir drücken
die Daumen, dass jetzt im Rahmen der Bergung und auf
dem Rückmarsch, wo ja weitere Gefahren auf die Solda-
ten lauern, alles gutgeht und die Verwundeten möglichst
rasch einer optimalen medizinischen Versorgung zuge-
führt werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Jürgen Hardt


(A) (C)



(D)(B)

Die Berufssoldaten, die Zeitsoldaten, die freiwillig
Wehrdienstleistenden, die Reservisten, die Polizisten
und die zivilen Mitarbeiter in den Auslandseinsätzen
sind täglich einer hohen Gefährdung ausgesetzt. Ich
habe mir für meine Rede die Zahlen notiert – ich muss
sie jetzt leider schweren Herzens nach oben korrigieren –:
Seit 1993 haben 91 Soldaten in Auslandseinsätzen ihr
Leben verloren, 29 davon durch direkte Feindeinwir-
kung; 163 wurden verwundet, und bei über 400 Soldaten
wurden posttraumatische Belastungsstörungen diagnos-
tiziert. Die Belastung in einem Auslandseinsatz ist mit
keinem wie auch immer gearteten Stress im Inland ver-
gleichbar. Deswegen verdienen diese Soldaten im Ein-
satz auch eine besondere Behandlung hinsichtlich der
Versorgung und Weiterverwendung.

Es ist Ausdruck des hohen Respekts vor diesem
Dienst, dass wir bei den Maßnahmen der Einsatzversor-
gung und der Einsatzweiterverwendung entsprechend
großzügig verfahren. Wer vier oder sechs Monate ge-
trennt von der Familie auf engstem Raum mit Kamera-
den und unter ständiger Bedrohung durch den Feind sei-
nen Dienst versieht, der muss wissen, dass im
schlimmsten Fall zumindest für ihn und seine Angehöri-
gen optimal gesorgt ist. Dieser Intention fühlt sich der
vorliegende Antrag verpflichtet.

Der Bundestag hat bereits mehrfach wesentliche ge-
setzliche Grundlagen für die Versorgung von Soldaten
geschaffen. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir
nun Lücken schließen und Ungleichgewichte ausglei-
chen, die die Praxis der vergangenen Jahre aufgezeigt
hat. Ich freue mich, dass es darüber breiten Konsens un-
ter den demokratischen Parteien des Hauses gibt. Ich
schließe mich ausdrücklich auch den Worten von Frau
Hoff an, dass wir im Rahmen des konkreten Umset-
zungsprozesses bei der Gesetzgebung mit den Fraktio-
nen, die diesen Antrag heute mittragen, gerne in einen
intensiven Dialog eintreten und Ergänzungen und Ver-
besserungsvorschläge gerne aufnehmen. Ich glaube, wir
werden zu einem guten gemeinsamen Ergebnis kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch ein gutes Signal an die betroffenen Soldaten
im Einsatz, dass sie wissen, dass eine breite Mehrheit
dieses Hauses hinter ihnen und ihrem Einsatz steht.

Ich möchte zwei Punkte ganz kurz herausgreifen, die
mir besonders am Herzen liegen.

Da ist zum einen die Frage der Gleichstellung von
Zeitsoldaten, freiwillig Wehrdienstleistenden und Reser-
visten mit den Berufssoldaten hinsichtlich ihrer Versor-
gungssituation. Bei der Analyse der gegenwärtigen
Rechtslage haben wir festgestellt, dass die Berufssolda-
ten in der Tat gut abgesichert sind; aber bei vielen Zeit-
soldaten ist das nicht der Fall. Nun ist es aber typisch für
die Bundeswehr, dass man als Zeitsoldat anfängt. Auch
diejenigen Soldaten, die sich den Beruf des Soldaten als
Lebensberuf wünschen, werden zunächst als Zeitsolda-
ten angestellt. Sie strengen sich dann enorm an, um bei
Lehrgängen und Beurteilungen besonders weit vorne zu
liegen. Vielleicht sind sie auch bereit, im Auslandsein-
satz besondere Leistungen zu erbringen, damit sie eine
Chance auf Übernahme in den Beruf des Soldaten ha-
ben. Da ist es natürlich fatal, wenn eine Verwundung im
Einsatz möglicherweise letztendlich dazu führt, dass der
Soldat, der ansonsten Berufssoldat geworden wäre, die-
sen Beruf nun nicht erlangen kann, und zwar ausdrück-
lich wegen seiner Verwundung und ihren Folgen.

Wir finden, das Gesetz muss hier eine Regelung fin-
den, damit Zeitsoldaten trotz einer Verletzung und ihren
Folgen eine Heimat bei der Bundeswehr finden können.
Ich finde es motivierend für die Truppe, wenn sie erlebt,
dass der eine oder andere, der versehrt aus dem Einsatz
zurückgekommen ist, seinen Dienst in der Heimat, in der
Kaserne, versieht. Damit wird symbolisch deutlich, dass
man als Soldat in einem solchen Fall nicht alleingelassen
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte einen zweiten Punkt aus unserem Antrag
ansprechen. Es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungsbe-
richte von verwundeten Soldaten über das, was ihnen
hinterher widerfahren ist, wenn sie mit einer Verwun-
dung und entsprechenden Spätfolgen in die Heimat, zur
Bundeswehr zurückkehren. Es gibt Beispiele, bei denen
Militärseelsorge, Stammeinheit, Sozialdienst und Wehr-
verwaltung hervorragend zusammenarbeiten und zügig
eine unbürokratische Lösung finden. Es gibt aber auch
eine Reihe von Beispielen, bei denen die Soldaten in der
Bürokratie der Bundeswehr ziemlich alleingelassen sind,
wo die Interessen der einzelnen Soldaten in den großen
Mühlen der Bürokratie nicht in ausreichendem Maße be-
rücksichtigt werden.

Die Tatsache, dass es in vielen Fällen sehr gut funk-
tioniert, zeigt, dass es klappen kann. Wir würden uns
wünschen, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet
werden, dass es nicht von der Befähigung und dem
Wohlwollen einzelner Akteure abhängt, ob ein guter
Weg durch die Bürokratie gefunden wird. Vielmehr soll-
ten die Prozesse so gestaltet sein, dass sich die Soldaten
auf die Bundeswehr verlassen können, dass sich ihre An-
sprüche zügig durchsetzen lassen, ohne unzumutbare bü-
rokratische Hürden überwinden zu müssen. Da gibt es
Nachsteuerungsbedarf, insbesondere auf der Ebene der
konkreten administrativen Umsetzung.

Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen, die an dem Antrag mitgewirkt ha-
ben, danken. Ich möchte auch dem Deutschen Bundes-
wehrverband und dem Reservistenverband für seine
wichtigen Impulse bei diesem Thema danken. Es ist ein-
fach wichtig, dass wir im Gespräch mit den offiziellen
Vertretern der Soldaten gemeinsam an diesen Themen
arbeiten und so Lösungen aus der Praxis für die Praxis
finden.

Wir erwarten nun von der Bundesregierung, dass un-
ser Antrag zügig in eine Gesetzesinitiative mündet, da-
mit wir beginnen können, die geforderten Maßnahmen
konkret umzusetzen. Gerade in der Phase des Umbaus
der Bundeswehr ist die Verbesserung der Einsatzversor-
gung eine vertrauensbildende Maßnahme für alle Solda-
tinnen und Soldaten.





Jürgen Hardt


(A) (C)



(D)(B)

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706510300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Verbesserung
der Regelungen zur Einsatzversorgung“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/3229, den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/2433 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP
und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Ein nationales Klimaschutzgesetz – Verbind-
lichkeit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der
Vorreiterrolle gerecht werden

– Drucksache 17/3172 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe-
ben

– Drucksache 17/2485 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Die richtigen Lehren aus Kopenhagen zie-
hen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Klimaschutzziele gesetzlich verankern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Klimaschutzgesetz vorlegen – Klimaziele
verbindlich festschreiben

– Drucksachen 17/522, 17/1475, 17/132, 17/2318 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Matthias Miersch
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Bärbel Höhn

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion das Wort.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1706510400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Debatte über den Klimawandel hat mal
Hochkonjunktur, mal nicht. Mal werden Auswirkungen
in manchen Medien reißerisch übertrieben, mal werden
die Auswirkungen verharmlost.

Klar ist, dass schon heute Hunderte Millionen von
Menschen von den Auswirkungen des Klimawandels be-
troffen sind, und zwar in großer Mehrheit negativ. Es
sind Menschen, die die Hintergründe nicht kennen, die
den Klimawandel nicht erklären können, die noch nichts
von Klimakonferenzen in Kopenhagen, Cancún oder
Kioto gehört haben. Diese Menschen merken, dass etwas
nicht stimmt, dass sie Niederschläge oder Trockenpha-
sen nicht mehr verstehen, beispielsweise die Bauern in
Äthiopien oder Kenia, dass Stürme und Fluten in einer
Häufigkeit und Stärke auftreten, die sie bisher nicht
kannten, zum Beispiel in Guatemala oder Pakistan. Sie
merken, dass sie ihre Häuser am Meer verlassen müssen,
wie auf den Malediven, auf Tuvalu oder in Mikronesien,
weil das Wasser immer häufiger mit dem Meer ins Haus
kommt. All das ist keine Spinnerei, sondern es geschieht
heute. 97 Prozent der Wissenschaftler, die sich damit be-
schäftigen, sagen, dass es der Mensch ist, also wir, der
das Klima massiv verändert.

Wir brauchen jetzt einen Aufbau einer anderen Art
der industriellen Produktion, eine andere Art der Ener-
gieerzeugung, eine andere Art des Lebens bei gleichblei-
bender oder sogar steigender Lebensqualität. Das geht
nicht von heute auf morgen, aber die Richtung muss
stimmen, die Ziele müssen stimmen, und es muss mehr
Verlässlichkeit herrschen, als es heute gibt: die Verläss-
lichkeit, dass der Weg hin zu einer kohlenstoffarmen Ge-
sellschaft konsequent beschritten wird und dass sich je-





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

der darauf einstellen kann und muss, national und
international.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit Erlaubnis des Präsidenten lese ich Ihnen etwas
vor – ich zitiere:

Ein Klimaschutzgesetz wird die mittel- und lang-
fristigen Klimaschutzziele als Rahmen für ein effi-
zientes Monitoring und die Fortschreibung des
IKEP (Integriertes Energie- und Klimaprogramm)

festlegen. Damit erhält die Wirtschaft einen verläss-
lichen Planungshorizont für ihre langfristigen In-
vestitionsentscheidungen. Notwendige Infrastruk-
turprojekte erhalten hierdurch eine größere
öffentliche Akzeptanz. Deshalb werden wir

– jetzt kommt es –

analog zum britischen Climate Change Act ein Kli-
maschutzgesetz verabschieden …

Was ist das, und wo steht das? Das ist nachlesbar auf
der Internetseite www.klimaretter.info. Es ist aus einem
internen Papier des jetzigen Bundesumweltministers
Norbert Röttgen,


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Wo ist er denn?)


in dem seine Vorstellungen für ein sogenanntes Energie-
konzept der schwarz-gelben Regierung beschrieben wer-
den. Vor einigen Wochen konnte man das auf der eben
genannten Internetseite lesen.

Dass sich davon nicht ein Satz im aktuellen Text des
Energiekonzepts wiederfindet, offenbart zweierlei: Ers-
tens. Die kurzen Hosen des Umweltministers sind
höchstens Boxershorts, um keine anderen Begrifflichkei-
ten zu wählen. Zweitens. Das sogenannte Energiekon-
zept ist gar keines.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was?)


Die Revolution in der Klimaschutzpolitik, wie es die
Kanzlerin in Vorspiegelung falscher Tatkraft nannte, das
anspruchsvollste Programm seit den 70er-Jahren, wie
Herr Röttgen es genannt hat, hat mit Klimaschutz und
Energiekonzept nichts zu tun. Es ist ein Atomlobbykon-
zept für eine Vermögensvermehrung in Milliardenhöhe
bei einigen wenigen Energiekonzernen und ein Kaputt-
machkonzept für den Ausbau von erneuerbaren Energien
mit der Gefährdung von Hunderttausenden jetziger und
zukünftiger Arbeitsplätze. So ist das.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Alte Kamellen sind das!)


Sie legen alle Scheu ab. Bei der FDP geschieht alles
eher lustlos. Ich habe die Rede von Herrn Wirtschaftsmi-
nister Brüderle in der letzten Woche verfolgt. Ihm war
die Leidenschaft für erneuerbare Energien bei seiner eu-
phorischen Rede geradezu anzumerken. Im Ernst: Bei
Schwarz-Gelb geben inzwischen die Fuchsens und die
Pfeifers den Ton an. Michael Fuchs hat am 7. Februar
2010 in der Welt am Sonntag die Windkraft- und Solar-
anlagen als „Vogelschredderanlagen“ und „Subventions-
gräber“ bezeichnet. Frau Dött hat dem Fass allerdings
den Boden ausgeschlagen. Frau Dött – sie spricht heute
nicht –, die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion, weilte bei einer Veranstaltung der
FDP, zu der auch Fred Singer eingeladen war.


(Michael Kauch [FDP]: Nicht der FDP! Eines Abgeordneten der FDP!)


– Nicht der FDP, sagt Herr Kauch, sondern eines Abge-
ordneten der FDP. Herr Kauch distanziert sich, das finde
ich schon einmal gut.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sie sind nicht informiert!)


Er ist ein bekannter bezahlter Lobbyist, der schon so
ziemlich alle negativen Auswirkungen von allen mögli-
chen Dingen auf die Menschen bestritten hat, vom
Ozonloch über den sauren Regen bis zum Rauchen; das
kann man alles nachlesen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tabak ist auch ungefährlich!)


Er hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, den Klimawan-
del zu verharmlosen und den Einfluss des Menschen ab-
zustreiten; davon gibt es unterschiedliche Versionen. Ein
Satz, den er von sich gab, lautete:

Die Leute, die Gesetze machen, um das Klima zu
schützen, sind unser größtes Problem.

– Damit sind wahrscheinlich wir gemeint. Weiter heißt
es:

… je mehr CO2, desto besser. Wir sollten den Chi-
nesen dankbar sein.

Das ist in der Financial Times Deutschland vom
17. September 2010 nachzulesen.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Schauen Sie einmal auf meine Internetseite!)


– Frau Dött, es ist gut, dass Sie sich melden.

Ebenfalls nachzulesen sind die Kommentare von Frau
Dött, die die Ausführungen von Herrn Singer „sehr, sehr
einleuchtend“ fand, den Klimaschutz als „Ersatzreli-
gion“ und die Umweltpolitiker der Union als „Gutmen-
schen“ bezeichnet. Keines dieser Zitate wurde von Frau
Dött dementiert. Dazu hätte sie in der letzten Woche im
Umweltausschuss Gelegenheit gehabt. Sie hat es aber
nicht dementiert. Das ist schon erstaunlich. Jeder kann
jeden Unsinn behaupten. Man kann zum Beispiel be-
haupten, dass die Erde quadratisch ist. Frau Dött ist aber
die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU.


(Zuruf von der CDU/CSU: Gute Frau!)


– Vielleicht kann man das einmal alles notieren. Es ist in
höchster Form entlarvend und spricht Bände, dass Sie
das auch noch unterstützen. – Ihre Sprecherin hält den
Klimawandel für Quatsch. Wenn Sie ihr nicht widerspre-
chen – Sie haben gleich die Gelegenheit dazu –, dann





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

halten Sie ihn wohl alle für Quatsch. Das muss man zu-
mindest annehmen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage es noch einmal: Man kann jeden Standpunkt
vertreten. Man muss es dann aber auch verantworten,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb. Was
Sie vertreten, ist im Endeffekt gegen den Geist der Auf-
klärung, gegen jede Wissenschaft und das Wissen-
schaftsverständnis dieses Landes gerichtet.


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Was für einen Antrag haben Sie denn gestellt?)


Sie können alles vertreten und alles behaupten. Sie kön-
nen auch behaupten, dass die Kinder vom Klapperstorch
kommen. Die Frage ist bloß, ob man so jemanden zum
Leiter einer gynäkologischen Abteilung macht; das ist
die entscheidende Frage.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie meinen es mit dem Thema Klimaschutz nicht
ernst. Wer es mit dem Klimaschutz nicht ernst meint und
gegen erneuerbare Energien polemisiert, der kann natür-
lich auch nichts für den Klimaschutz tun und kein zu-
kunftsfähiges Energiekonzept vorlegen. Ihr Energiekon-
zept ist ein Müsste-könnte-sollte-hätte-wenn-Konzept.
30 dürftig beschriebene Seiten enthalten allein 36 Prüf-
aufträge. Ganz konkret wird es nur im Bereich der
Atomenergie. Damit wird klar, was das Ganze soll. Des-
halb muss es jetzt ganz schnell gehen. Die Anhörungen
werden durchgepeitscht. Die verfassungsrechtlichen Be-
denken werden beiseitegewischt. Der Rest ist ein unver-
bindliches Sammelsurium.

Über Ihre Ziele kann man reden. Ich finde allerdings,
dass wir bis 2050 das 95-Prozent-Ziel erreichen müssen,
nicht nur ein 80-Prozent-Ziel. Ihr Ziel bleibt in diesem
Konzept ein wenig unklar. Und was bringen Ziele, wenn
sie unverbindlich sind? Deswegen brauchen wir in
Deutschland ein Klimaschutzgesetz. Der Umweltminis-
ter scheint das auch so zu sehen. Er ist zwar nicht da, hat
es anscheinend aber unterstützt. Wer den Einstieg in eine
andere Form der industriellen Produktion und der Ener-
gieversorgung schaffen – dieser ist eigentlich geschafft –
und den Umstieg dauerhaft fortsetzen will, der muss für
Verstetigung sorgen. Er muss die Verlässlichkeit der Pro-
gnosen für Investitionen erhöhen. Sie aber machen das
genaue Gegenteil: Sie schaffen einen Investitionsatten-
tismus bei den erneuerbaren und sogar bei den fossilen
Energien. Auch die Aktienkurse der großen Energiever-
sorger machen deutlich, dass nicht alle in diesem Land
an Ihre Atomwende glauben.

Der Antrag auf Schaffung eines Klimaschutzgesetzes,
den wir Ihnen heute vorlegen, hatte einen längeren Vor-
lauf. Ihm ging ein längerer Prozess der Diskussion und
der Beteiligung von Unternehmen, Unternehmensverbän-
den, Umweltverbänden, Gewerkschaftlern, Wissenschaft-
lern, Automobilverbänden, der britischen Botschaft,
Herrn Schellnhuber und anderen voraus. Allein 35 schrift-
liche Stellungnahmen haben wir verarbeitet; darauf
möchte ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Nur so
viel: Zu einem Klimaschutzgesetz, das wir brauchen, ge-
hören verbindliche, gesetzlich fixierte Ziele und Zwi-
schenziele. Zu einem Klimaschutzgesetz gehören ge-
setzlich fixierte Überprüfungsmechanismen, damit die
Regierung weiß, dass sie sich nicht drücken kann. Diese
müssen transparent sein. Die Regierung muss sich min-
destens einmal im Jahr in einer öffentlichen Debatte
dazu erklären. Zu diesem Klimaschutzgesetz muss ein
unabhängiges Überprüfungsgremium aus bestehenden
Institutionen und weiteren Wissenschaftlern kommen.
Wir brauchen klare Sanktionsmechanismen bei Nicht-
einhaltung der Ziele. Das alles kann ein nationales Kli-
maschutzgesetz leisten.

Wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen;
das habe ich bereits erwähnt. Diese kamen von den Um-
weltverbänden WWF, BUND und anderen. Sie kamen
von den Gewerkschaften DGB und IG Metall. Es kamen
auch spannende Rückmeldungen von Verbänden, von
denen ich zunächst einmal nicht geglaubt hatte, dass sie
sich positiv äußern würden. Dazu gehören der ADAC
und auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anla-
genbau. Sie alle haben dieses Gesetz begrüßt.

Noch einmal: Bei einem solchen Gesetz geht es nicht
um konkrete Maßnahmen, sondern um einen Rahmen
für die Klimaschutzgesetzgebung der nächsten Jahre.
Deswegen bringen wir diesen Antrag heute ein. Wir hof-
fen, dass das der Auftakt für eine intensive Debatte ist.

Wenn Sie von der Regierungskoalition Klimaschutz-
politik wirklich ernst nehmen, sollten Sie Ihre Atompoli-
tik überdenken und aufhören, zu versuchen, einen Wech-
sel in der Atompolitik einzuleiten. Sie sollten Ihr nicht
vorhandenes Energiekonzept gleich wieder einstampfen.
Ich bitte darum, dass Sie die Vorschläge zu einem Kli-
maschutzgesetz nicht in Bausch und Bogen ablehnen,
sondern Ihre Worte gut abwägen, den Dialog eröffnen
und nicht die Tür zuschlagen.

Herzlichen Dank und Glück auf!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706510500

Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1706510600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Kollege Schwabe hat einen erheblichen Teil seiner Re-
dezeit darauf verwandt, darüber zu spekulieren, wer
möglicherweise wann und wo was gesagt hat. Ich finde,
wenn wir uns hier mit Klimaschutz und Energiepolitik
beschäftigen, dann sollten wir nach den Fakten fragen:
Wofür treten wir gemeinsam ein? Was haben wir ge-
meinsam beschlossen? Was haben wir in unseren Erklä-
rungen zur Klimapolitik und zum Energiekonzept ge-
meinsam festgehalten?





Andreas Jung (Konstanz)



(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte zunächst auf den Ausgangspunkt, auf Ko-
penhagen, zurückkommen. Wir haben mit Unterstützung
aller Fraktionen dieses Hauses gesagt: Das Ziel der Bun-
desregierung, das 2-Grad-Celsius-Ziel völkerrechtlich
verbindlich zu verankern, ist richtig. Wir haben das in
Kopenhagen nicht geschafft. Dennoch ist das, was vor
und während des Gipfels in Kopenhagen richtig war,
nach wie vor richtig. Die neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnisse zeigen, dass die Entwicklung, die im letz-
ten Bericht des IPCC beschrieben wurde, was den An-
stieg des Meeresspiegels, die Auswirkungen auf die Bio-
diversität und die Bedrohung der Korallenriffe angeht,
eher noch gravierender verlaufen könnte.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen Sie denn zu Frau Dött?)


Deshalb ist das 2-Grad-Celsius-Ziel nach wie vor rich-
tig. Deshalb ist es nach wie vor auch richtig, dass die
Bundesregierung dieses Ziel international verfolgt. Bei
diesem Kurs haben die Bundeskanzlerin und der Bun-
desumweltminister die volle Unterstützung der Unions-
fraktion; da gibt es überhaupt kein Vertun.

Das, was wir international für richtig halten, das 2-Grad-
Celsius-Ziel, ist auch die Grundlage für unsere nationale
Politik. Das ist die Grundlage für unsere nationalen
Ziele. Ich möchte herausstellen, dass sich diese Bundes-
regierung ehrgeizigere Ziele gesetzt hat als alle Regie-
rungen zuvor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben erklärt: Wir wollen den Ausstoß von Treib-
hausgasen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 re-
duzieren, und zwar unbedingt, egal was andere machen,
egal ob es zu dem ehrgeizigen Weltklimaschutzabkom-
men, das wir anstreben, kommt oder vorläufig nicht. Wir
gehen voran. Wir sind Vorreiter. Das gilt genauso für die
langfristigen Ziele. 2050 soll die Reduzierung gegenüber
1990 80 bis 95 Prozent betragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gerade mit unserem Energiekonzept machen wir
deutlich, dass es nicht bei den Zielen bleiben darf, son-
dern der Zielformulierung Taten folgen müssen, weil nur
aus der Umsetzung Glaubwürdigkeit erwächst. Aus die-
sem Grund greifen wir den Gedanken des Monitorings
auf. Zum ersten Mal soll dieses Instrument jetzt genutzt
werden. Alle drei Jahre soll ein wissenschaftlich fundier-
ter Bericht vorgelegt und öffentlich diskutiert werden.
Wie schnell erreichen wir unsere Ziele? Können wir die
Zehnjahresschritte, die in dem Energiekonzept festgelegt
sind – 2030 minus 55 Prozent, 2040 70 Prozent –, ein-
halten? Wir stellen uns der Diskussion. Das Erreichen
solcher Ziele war in der Vergangenheit unsere Stärke;
Stichwort: Kioto. Wir Deutsche hatten ehrgeizige Ziele
und haben sie umgesetzt. Das muss auch in Zukunft die
Basis unserer Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik sein.

Ziele sind das eine, Instrumente sind wichtig, aber
entscheidend sind am Ende die Taten. Ich möchte dafür
werben, dass wir uns dieses Energiekonzept genau an-
schauen. Ich finde, aus Umweltgesichtspunkten enthält
es etliche Punkte, über die wir uns freuen können. In die-
sem Gesamtkonzept wird gesagt: Wir wollen den Weg in
Richtung einer stärkeren Nutzung der erneuerbaren
Energien beschreiten. Wir wollen, dass unsere Energie-
versorgung bis 2050 nahezu vollständig durch erneuer-
bare Energien gedeckt wird. Die Grundlage dafür soll
das Erneuerbare-Energien-Gesetz sein, das wir weiter-
entwickeln wollen. Wir halten an dem fest, was ich für
zentral halte, an dem unbedingten Vorrang erneuerbarer
Energien bei der Einspeisung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das zeigt, dass wir ein klares Ziel haben, und das Ziel
heißt: Wir wollen hin zu erneuerbaren Energien.

Auf dem Weg zu diesem Ziel ist noch die eine oder
andere Hürde zu überwinden, gibt es noch die eine oder
andere offene Frage.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die der Atomlobby!)


Dabei geht es zum Beispiel darum, dass wir den Strom
nicht immer dort brauchen, wo Wind weht, und dass wir
Energie häufig nicht gerade dann erzeugen, wenn sie ge-
braucht wird. Der Wind weht nicht unbedingt genau
dann, wenn die Nachfrage am größten ist. Wir brauchen
den Ausbau von Netzen, wir brauchen intelligente Netze
und neue Speichertechnologien, um die Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass erneuerbare Energien verlässlich
und grundlastfähig an die Stelle der heutigen Struktur
der Energieversorgung treten können. Das ist unser Ziel.

Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir ganz konkrete
Maßnahmen beschrieben. Aber wir brauchen noch etwas
Zeit und vor allem Geld. Deshalb ist es ein Riesenerfolg
der Umweltpolitik, dass in dem Energiekonzept die Zu-
sage des Finanzministers festgehalten worden ist, dass
die Mehrerlöse aus der Versteigerung der Emissions-
rechte ab 2013 vollständig einem Fonds für erneuerbare
Energien, für Energieeffizienz, für internationalen und
nationalen Klimaschutz zugutekommen werden. Ich
finde, das ist ein Erfolg, über den wir uns freuen können,
weil dadurch all das, was wir gemeinsam wollen, einen
Schub bekommen wird.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706510700

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ott?


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1706510800

Ja, bitte.


Dr. Hermann E. Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706510900

Vielen Dank. – Herr Kollege Jung, ich glaube Ihnen,

dass Sie und andere in Ihrer Fraktion durchaus bemüht
sind, den Klimaschutz voranzubringen. Sie versuchen ja
gerade, uns das hier zu erklären. Ich komme zu meiner
Frage. Kollege Schwabe hat darauf hingewiesen, dass es
in Ihrer Fraktion Personen gibt, beispielsweise Frau Dött
– sie ist genannt worden –, die als umweltpolitische
Sprecherin Ihrer Fraktion einem in der Szene weltbe-
kannten Klimawandelleugner, nämlich Fred Singer, zu-
stimmt und seine Thesen, dass der Klimawandel eine





Dr. Hermann Ott


(A) (C)



(D)(B)

Schimäre ist, dass diejenigen, die Klimapolitik vorantrei-
ben, die eigentlich Gefährlichen sind, einleuchtend findet
und sich selber noch zu der Aussage versteigt – dem hat
sie nicht widersprochen; sie hat nur gesagt, dass es aus
dem Zusammenhang gerissen worden ist –, die Klima-
politik sei eine Ersatzreligion.

Bei uns drängt sich natürlich der Eindruck auf, dass,
auch wenn es, wie gesagt, einige unter Ihren Kollegin-
nen und Kollegen gibt, die Klimaschutz wirklich voran-
treiben wollen, in der Sache die anderen die Oberhand
behalten. Denn Ihre Klimaschutzgesetzgebung und Ihre
Energiegesetzgebung, die Sie uns hier verkaufen wollen,
entsprechen so ganz und gar nicht dem Ziel, die Emis-
sionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Deshalb bitte
ich um Folgendes: Können Sie klarstellen, dass Ihre
Fraktion im Gegensatz zu dem, was Ihre umweltpoliti-
sche Sprecherin sagt, den Klimawandel und den Anteil
der Menschen am Klimawandel für unabweisbar hält?
Damit wäre uns sehr geholfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Josef Göppel [CDU/CSU]: Das haben wir gemacht!)



Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1706511000

Herr Kollege, das war eher eine Frage an die Kollegin

Dött als an mich;


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sie redet ja nicht!)


aber ich kann auf die letzte Sitzung des Umweltausschus-
ses verweisen, wo ich, als wir dort über Klimaschutz ge-
sprochen haben, dieselben Standpunkte vertreten habe
wie hier. Sie haben danach die Kollegin angesprochen,
und sie hat darauf verwiesen, dass das, was ich als Be-
richterstatter für Klimaschutz im Ausschuss, im Plenum
oder an anderer Stelle vertrete, die abgestimmte Position
unserer Fraktion ist, die im Koalitionsvertrag und auch
im Energiekonzept ihren Niederschlag gefunden hat.
Demnach ist unbestritten und unbestreitbar, dass es einen
menschengemachten Klimawandel gibt und dass die
Konsequenz aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis
die Herausforderung ist, bis zur Mitte dieses Jahrhun-
derts den CO2-Ausstoß weltweit zu halbieren.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wunderbar!)


Die Konsequenz daraus wiederum ist, dass die Industrie-
staaten einen höheren Anteil als 50 Prozent übernehmen
müssen. So kommen wir zum Minderungsziel der Bun-
desrepublik Deutschland von 80 bis 95 Prozent bis 2050,
das wir auch in unserem Energiekonzept niedergelegt
haben.


(Beifall des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU] – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da klatscht aber nur einer in der CDU/CSU-Fraktion!)


Wenn Sie nach den konkreten Maßnahmen fragen,
verweise ich zum einen darauf, was ich schon beim
Thema erneuerbare Energien beschrieben habe.

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706511100

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,

und zwar des Kollegen Fell von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen?


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1706511200

Bitte schön.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706511300

Herr Kollege Jung, die Aussage, Ihre Fraktion würde

den Klimaschutz massiv unterstützen, befriedigt mich
angesichts der Tatsache, dass Ihre Fraktion eine umwelt-
politische Sprecherin gewählt hat, die eine aktive Klima-
wandelleugnerin ist, nicht.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Inquisition! Sofort!)


Das ist offensichtlich Fraktionsmeinung. Anders wäre
nicht zu erklären, warum Ihre Fraktion eine solche Per-
son in diese Funktion gewählt und mit der wichtigsten
Fragestellung der Umweltpolitik betraut hat.


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1706511400

Herr Kollege Fell, Fraktionsmeinung ist das, was wir

in der Fraktion gemeinsam beschließen. Diese Inhalte
können Sie in unserem Energiekonzept nachlesen; da
steht genau das drin, was ich gerade gesagt habe. Es ist
ein klarer Pfad auf dem Weg der Bekämpfung des Kli-
mawandels hin zu einer Reduktion der CO2-Emissionen
in einem Umfang von 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr
2050. Das ist die abgestimmte Linie dieser Bundesregie-
rung, unserer Bundestagsfraktion und der Koalition ins-
gesamt.

Im Übrigen nehmen wir neben den Bereichen, die ich
bereits angesprochen habe, auch alle anderen relevanten
Bereiche in den Blick. Lassen Sie mich das Beispiel Ge-
bäudesanierung ansprechen. Wir werden finanzielle Mit-
tel brauchen, um die große Aufgabe, die vor uns liegt, zu
bewältigen und das Ziel der Kohlenstoffneutralität zu er-
reichen.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Kürzen Sie darum die Mittel für die Gebäudesanierung?)


– Genau deshalb führen wir doch die Diskussion, wie
wir vermeiden können, dass wir jedes Jahr beim Finanz-
minister als Bittsteller auftreten müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Frank Schwabe [SPD]: Ach! Das ist doch absurd!)


Die Förderung von Gebäudesanierung, erneuerbarer
Wärme und Klimaschutzprogrammen muss aus dem
jährlichen Klein-Klein um Fördermittel herausgelöst
werden. Deshalb ist es gut, dass ein Klimaschutzfonds
eingerichtet wird. Er stellt nämlich eine verlässliche
Grundlage für die Förderung der Gebäudesanierung und
der anderen Aufgaben, die ich erwähnt habe, dar.


(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aber doch nur für sechs Jahre!)






Andreas Jung (Konstanz)



(A) (C)



(D)(B)

Auch im Verkehrsbereich setzen wir uns klare Ziele
in Richtung nachhaltiger Mobilität. Wir setzen einen
Schwerpunkt bei der Elektromobilität und verknüpfen
die Themen Elektromobilität und erneuerbare Energien.
Ich bin der Überzeugung, wir müssen daran arbeiten,
dass Ökostrom unser Benzin der Zukunft wird, sodass
wir die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten drastisch reduzieren
können. Bis 2020 wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge
und bis 2030 sogar 6 Millionen Fahrzeuge auf die Straße
bringen. Wir unterlegen die Ziele, die wir uns setzen, mit
ganz konkreten Maßnahmen, und wir verfolgen einen
Pfad, auf dem wir unsere Ziele Stück für Stück errei-
chen.

Ich finde, mit unserem Energiekonzept bleiben wir in
Europa Vorreiter und Antreiber im Klimaschutz. Wie Sie
es mit Ihren Anträgen tun, so beteiligen auch wir uns an
der Diskussion, ob es richtig ist, dass die Europäische
Union unbedingt erklärt, das Reduktionsziel von 30 Pro-
zent bis 2020 zu erreichen. Auch ich verfolge natürlich
die Debatte auf europäischer Ebene. Zwischen Europäi-
scher Kommission und Europäischem Parlament finden
noch Diskussionen statt, und wir wissen, dass auch die
Bundesregierung noch keine abgestimmte Position hat.

Ich persönlich sehe keinen Grund, warum das, was in
der Bundesrepublik richtig ist, nämlich eine Verpflich-
tung zu unbegrenzten Emissionszielen, in der Europäi-
schen Union falsch sein sollte. Ich will hinzufügen: Ich
bin sogar der Auffassung, dass es geradezu im deutschen
Interesse wäre, wenn sich auch die anderen Staaten der
Europäischen Union zur Erreichung so ehrgeiziger und
unbegrenzter Ziele verpflichten würden, wie wir es in
Deutschland bereits getan haben.


(Beifall des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU] sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Ich halte es für richtig, dass auch der Bundesumwelt-
minister diese Position vertritt.


(Frank Schwabe [SPD]: Aber ob er sich auch durchsetzt?)


Ich bin der Auffassung, wir Umweltpolitiker sollten ihn
auf diesem Weg und in dieser Diskussion unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706511500

Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706511600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Bundesregierung will noch in diesem Monat, also ganz
schnell, ein Energiepaket, von dem sie behauptet, es
würde die Erreichung der Klimaziele befördern, durch-
peitschen. In Wirklichkeit geht es vor allem um eine
Laufzeitverlängerung von AKWs

(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Auch! – Gegenruf des Abg. Frank Schwabe [SPD]: Nur!)


und die Profite der großen Energiekonzerne, aber nicht
vordringlich um die Klimaziele.


(Beifall des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE] sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Wenn man die Anträge der Fraktionen der SPD, der
Linken und der Grünen liest, stellt man fest: Es besteht
große Einigkeit. Die Notwendigkeit, zu handeln, wird
erkannt.

Ich stelle noch einmal die Frage: Warum brauchen wir
ein Klimaschutzgesetz? Wir brauchen es, weil momen-
tan die Klimaschutzziele von der Regierung geändert
werden können, da sie nicht gesetzlich festgeschrieben
sind.

Immer wird so toll über Selbstverpflichtungen ge-
sprochen. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Selbst-
verpflichtung eingehalten wurde. Ich möchte Sie daran
erinnern, dass die Selbstverpflichtung 2005, die eine Re-
duktion um 25 Prozent beinhaltete, auch nicht erfüllt
wurde.

Warum brauchen wir dieses Gesetz? Abweichungen
bleiben folgenlos. Zwischenziele müssen überprüfbar
werden. Wir müssen früh genug, wenn das nicht funktio-
niert, die Notbremse ziehen können. Das halte ich für
dringend notwendig. Darin sind wir uns einig.

Jetzt komme ich zum Ansatz der Linken. Dabei zeige
ich auch einige Differenzen auf. Der Wissenschaftliche
Beirat Globale Umweltveränderungen hat Konzepte dar-
gestellt. Wenn jeder Mensch auf der Welt die gleichen
Rechte auf Emissionen hätte, hätte Deutschland bei
gleichbleibenden Emissionen ab 2010 in zehn Jahren
sein klimaverträgliches Budget verbraucht. In der EU
würde das zwei Jahre später passieren. Ich spreche von
den Pro-Kopf-Zahlen.

Das heißt, die Industrieländer brauchen ambitionierte
Sparziele. Wir, die Linken, sagen: Wir müssen den glo-
balen Süden entschädigen, wenn wir über unserem Bud-
get – das ist der Fall – und die Entwicklungsländer unter
ihrem Budget bleiben. Das ist auch der Grund, weshalb
die Linke in ihrem Entwurf für das Klimaschutzgesetz
Transfergelder an Entwicklungsländer vorschreibt. Denn
unsere nationalen Einsparziele sind nur gerecht, wenn
die ärmeren Länder den Deal akzeptieren. Das kostet
Geld.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie wichtig das ist, zeigt das Trauerspiel um das ITT-
Yasuní-Projekt in Ecuador. Der Plan: keine Zerstörung
des Regenwaldes in der Region und kein Abbau von
Erdöl, dafür aber ein Ausgleich der Industriestaaten.
Übersetzt heißt das: Der Norden bezahlt ein armes la-
teinamerikanisches Land für einen Teil der Exportver-
luste und zugleich für den Schutz von Klima und Biodi-
versität, also Artenschutz.

Alle Fraktionen waren in der letzten Legislatur-
periode dafür, haben das unterstützt und Signale gesetzt.
Das war auch noch letzte Woche beim Besuch der





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

ecuadorianischen Umweltministerin der Fall. Aber der
Entwicklungsminister, Herr Niebel, will die Gelder strei-
chen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Axt im Urwald!)


Die Umweltministerin wurde nicht einmal von Herrn
Niebel empfangen, sondern nur von einem Abteilungs-
leiter des BMZ. Das finde ich schäbig.

Genau so organisiert man auf internationaler Ebene
Blockaden zwischen Industrie- und Entwicklungslän-
dern. Das ist ein Beispiel dafür. Das ist der Weg, wie in-
ternationale Klimaverhandlungen gegen die Wand ge-
fahren werden. Ich warne davor.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])


Natürlich haben wir die Pflicht, zu Hause ambitio-
nierte Einsparziele zu erreichen. Da gibt es eine Menge
Luft. Da können wir sehr viel tun. Denn die Frage ist:
Sind wirklich 40 Prozent bis 2020 für Deutschland ange-
messen? Das gilt auch für das magere EU-Ziel von
20 Prozent.

Krisenbedingt ist der Ausstoß von CO2 gesunken. Die
Zahl liegt bei fast minus 30 Prozent in Deutschland; in
der EU beträgt sie minus 17 Prozent. Das heißt, der An-
teil regenerativer Energien wächst noch schneller – das
wollen wir –, als wir erwarten.

Die EU sagt dazu, man brauche ein anspruchsvolleres
Ziel. Die Kosten dafür lägen niedriger, als vor der Krise
errechnet wurde. Deshalb sagen wir: Wir brauchen die-
ses Ziel. In Deutschland sollten wir über 50 Prozent und
in der EU – das sagte auch Herr Jung – über 30 Prozent
reden. Ich denke, darüber können wir uns relativ schnell
einigen.

Jetzt zum SPD-Antrag: Darin steht, dass die Emis-
sionsminderung im Inland stattfinden solle. CDM und JI
– das sind internationale Projekte in anderen Ländern,
für die es Zertifikate gibt – seien zur Ergänzung da. Jetzt
würde ich gerne wissen, was das heißt.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde ich auch gerne wissen!)


Was meinen Sie damit? Das hat nämlich eine starke Aus-
wirkung auf die Erfüllung der Minderungsziele. Deshalb
meinen wir: Dort dürfen Sie nicht unklar bleiben.

Deutsche Unternehmen können sich vom nationalen
Klimaschutz freikaufen, wenn sie CO2-Gutschriften aus
dem Ausland vorweisen. Das ist inzwischen bekannt und
ginge auch in Ordnung, wenn dahinter tatsächlich Kli-
maschutz stehen würde. Ich denke, das meinen Sie auch.
Die Hälfte der Zertifikate ist aber heiße Luft. Dadurch
wird der Klimaschutz hier im Land aufgeweicht.

Das ARD-Magazin Monitor hat über HFC-23-Pro-
jekte berichtet. Dabei geht es um Abfallprodukte aus der
Kältemittelherstellung. Damit wird getrickst. Sie werden
auf Halde produziert, damit der Klimakiller als Ne-
benprodukt wieder vernichtet wird. Dafür gibt es eben
diese Emissionszertifikate. 19 Chemieunternehmen auf
der Welt – meist in China und Indien mit Investoren aus
Europa und Japan – arbeiten daran. Aus diesen wenigen
Anlagen stammt – das ist eigentlich unglaublich; ich
nenne jetzt noch einmal die Zahl – die Hälfte aller welt-
weit gehandelten Emissionszertifikate.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns also noch
einmal intensiv darüber reden, was wir hier wirklich
wollen; denn so hat das keinen Sinn.

Ich komme zum Schluss. Wir haben im Umweltaus-
schuss über Peak Oil gesprochen. Dabei haben wir da-
rüber gesprochen, welche Auswirkungen das haben
wird. Das müssen wir weiter tun.

In der vorherigen Debatte haben wir gerade gehört:
Es ist wieder ein Soldat in Afghanistan gestorben. – Ich
meine, wir sollten darüber diskutieren:


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was hat das mit Klimaschutz zu tun?)


Regenerative Energien tragen zum Frieden bei. Kriege
werden um Öl und um natürliche Ressourcen geführt.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: In Afghanistan?)


Es gab einen Bundespräsidenten – er ist zurückgetreten –,
der gesagt hat: Aus wirtschaftlichen Gründen werden
Kriege geführt. – Das hat er gesagt, auch wenn Sie das
leugnen. Auch aus diesem Grund müssen wir mehr Kli-
maschutz betreiben. Die Gelder für die Kriege könnten
auch dort gut investiert werden.


(Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic [FDP]: Was für ein Quatsch!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706511700

Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1706511800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grundlage

der Klimapolitik der FDP ist der Mainstream der Wis-
senschaft. Die FDP verbietet aber keinem ihrer Abge-
ordneten eine Diskussion oder eine eigene Meinung.
Entscheidend ist am Schluss – ich denke, das wird bei
CDU/CSU genauso sein –, was Mehrheiten entscheiden,
und Mehrheiten in der FDP haben sich auf Parteitagen
und in der Fraktion überwältigend klar für die Klima-
politik ausgesprochen, die diese Bundesregierung hier
vereinbart hat und umsetzt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706511900

Herr Kollege, Sie haben sofort eine Zwischenfrage

provoziert. Wollen Sie Ihre Redezeit verlängern, dann
sagen Sie zu.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1706512000

Gerne.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706512100

Herr Kollege Schwabe, bitte.


Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1706512200

Herr Kollege Kauch, ich begrüße diese Aussage der

FDP ausdrücklich. Gleichzeitig will ich Sie aber fragen:
Was halten Sie dann davon, dass es Ihre Partnerfraktion
in der Koalition so hält, dass sie eine Person, die den
menschengemachten Einfluss auf den Klimawandel in
der Tat infrage stellt, zu ihrer Sprecherin für das Thema
Umweltschutz macht? Spricht das aus Ihrer Sicht dafür,
dass die Mehrheit in dieser Fraktion diese Meinung teilt?


(Zuruf von der CDU/CSU: Maulkörbe gibt es nur in der SPD!)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1706512300

Lieber Kollege Schwabe, ich würde es mir verbitten,

wenn die CDU/CSU-Fraktion unsere Personalentschei-
dungen kommentieren würde. Deshalb kann ich nur sa-
gen, dass der Kollege Jung alles Notwendige zu dieser
Frage gesagt hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir stehen zur Politik der
Emissionsminderung von Treibhausgasen, weil das für
uns geradezu eine Frage der Generationengerechtigkeit
ist. Wir müssen den Generationen, die nach uns folgen,
nämlich Lebensräume hinterlassen, die lebenswert sind,
und Ressourcen für sie erhalten, die sie vielleicht noch
einmal brauchen werden. Das betrifft Rohstoffe, das be-
trifft aber eben auch natürliche Ressourcen und die Bio-
diversität.

Deshalb hat diese Bundesregierung – haben CDU/
CSU und FDP im Deutschen Bundestag – höhere CO2-
Minderungsziele beschlossen, als es jede Regierung zu-
vor getan hat: 40 Prozent unkonditioniert bis 2020,
80 Prozent bis 95 Prozent bis 2050.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb brauchen wir in der Klimapolitik absolut keine
Nachhilfe von der Opposition.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Im Energiekonzept gehen wir noch weiter. Wir haben
im Koalitionsvertrag vereinbart, Zwischenschritte für ei-
nen Entwicklungspfad zur Emissionsminderung zu set-
zen. Das ist auch richtig so. Dann kann sich jeder darauf
einstellen, welche Schritte in Politik und Wirtschaft in
den kommenden Jahren und Jahrzehnten folgen werden.

Wir haben das Energiekonzept klar beschlossen. Der
Deutsche Bundestag wird das mit einem Antrag von
CDU, CSU und FDP unterstützen, zumindest dann,
wenn Sie uns die Gelegenheit geben, endlich zu Ent-
scheidungen zu kommen, statt immer wieder nur durch
formale Obstruktion die Prozesse in die Länge zu zie-
hen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)

Wir haben eine CO2-Minderung um 55 Prozent bis 2030
und um 70 Prozent bis 2040 sowie ein Monitoring durch
die Bundesregierung beschlossen, das alle drei Jahre
durchgeführt werden soll. Das sind genau die Ziele, die
Sie mit Ihrem Klimaschutzgesetz erreichen wollen. Wir
werden das auch mit dem Energiekonzept, das wir be-
schlossen haben, erreichen können.

Das ist ein realistischer Pfad. Es ist alles durchgerech-
net worden. Die Opposition – das wird auch in dem An-
trag der SPD deutlich – folgt in ihren Forderungen im-
mer dem Grundsatz „Es darf ein bisschen mehr sein“.
Die SPD hat im Januar und im Oktober Anträge vorge-
legt. Im Januar hat sie unter dem Titel „Die richtigen
Lehren aus Kopenhagen ziehen“ eine CO2-Minderung
von 80 bis 95 Prozent gefordert. Das fanden wir gut. In-
zwischen, ein Dreivierteljahr später, boomen die Grünen
im Gegensatz zu Ihnen, und deswegen müssen Sie jetzt
ein bisschen nachlegen, indem Sie 95 Prozent fordern.
Das war vorher offensichtlich nicht die Lehre, die Sie
aus Kopenhagen gezogen haben, und macht deutlich,
worum es hier geht: Sie veranstalten eine Zahlenspiele-
rei. Das bringt uns in der Sache nicht weiter. Sie betrei-
ben eine PR-Strategie, um ein paar Wähler mehr von den
Grünen zu bekommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706512400

Der Kollege Schwabe will noch eine Zwischenfrage

stellen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1706512500

Nein, jetzt nicht mehr. – Deshalb rufe ich in Erinne-

rung, was aus den Zielen wird, die sich rot-grüne Regie-
rungen gesetzt haben. Helmut Kohl und Angela Merkel
haben in den 90er-Jahren als nationales Klimaschutzziel
eine CO2-Minderung von 25 Prozent bis 2050 beschlos-
sen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt aber Vorsicht!)


Das wurde 1998 von der rot-grünen Regierung übernom-
men.

Dann war Jürgen Trittin sieben Jahre lang Umweltmi-
nister dieser Republik. Am Ende – ich glaube, es war im
Jahr 2003 – hat die Bundesregierung klammheimlich
dieses nationale Klimaschutzziel aus allen Berichten ge-
tilgt, weil sie es nicht erreicht hat. Ihre Politik erreicht
die Klimaschutzziele nicht, die Sie der Bevölkerung vor-
gaukeln.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Koalition macht realistische Politik. Deswegen
bringen wir ein Energiekonzept auf den Weg, das den
Aufbruch in das Zeitalter der erneuerbaren Energien
nicht nur einfordert, sondern auch die Wege aufzeigt,
wie man ihn erreichen kann.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706512600

Herr Kollege, es gibt noch einmal den Wunsch nach

einer Zwischenfrage vom Kollegen Kelber.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1706512700

Ich möchte gerne meine Ausführungen zu Ende füh-

ren. – Bis 2050 soll der Anteil der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien 80 Prozent betragen und eine
Minderung von mehr als 50 Prozent beim Primärener-
gieverbrauch erreicht werden. Das wird durch zahlreiche
Maßnahmen unterlegt.

Die wichtigste ist zunächst einmal, dass wir den Ein-
speisevorrang verankern und dadurch dafür sorgen, dass
es keinen Wettbewerb zwischen Kernkraft und erneuer-
baren Energien gibt. Der Einspeisevorrang bewirkt, dass
der Wettbewerb bei der Laufzeitverlängerung zwischen
Kernkraft-, Kohle- und Gaskraftwerken stattfindet. Das
ist auch aus Klimaschutzgesichtspunkten der richtige
Weg.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darüber hinaus hat diese Koalition im Energiekon-
zept nicht nur 30 dürre Seiten geschrieben, wie der Kol-
lege Schwabe gesagt hat, sondern wir haben ein konkre-
tes Sofortprogramm zum Beispiel für die Offshore-
Windkraft und den Netzausbau verabschiedet.

Ich sage Ihnen von der Opposition ganz klar: Wir
werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, im Deutschen
Bundestag für erneuerbare Energien einzutreten und
dann die Stromleitungen, die notwendig sind, um den
Strom auch in den Süden zu transportieren, zu blockie-
ren und zu obstruieren.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein Märchen!)


Ich sehe schon voraus, dass die Kollegin Höhn auch bei
den nächsten Bürgerinitiativen dabei sein wird, um In-
frastrukturprojekte für erneuerbare Energien zu verhin-
dern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist infam, was Sie da machen! Nichts davon stimmt!)


Wir setzen uns für Netzausbau und Speicherförderung
ein. Wir legen einen Geothermieatlas auf, damit klar ist,
wo Chancen auf Geothermie bestehen.


(Frank Schwabe [SPD]: Das ist doch nichts Neues! Was ist denn neu?)


Wir stärken die Stellung von Biogas im Wärmebereich,
was die SPD nicht gewollt hat. Wir werden das Förderin-
strumentarium für erneuerbare Wärme ausweiten. Last,
but not least ist der Energie- und Klimafonds das größte
Förderprogramm für erneuerbare Energien, das diese
Republik jemals gesehen hat. Alle Mehrerlöse aus dem
CO2-Handel fließen in diesen Fonds. Hinzu kommt die
Gewinnabschöpfung bei den Kernkraftwerksbetreibern.
Sie dagegen haben damals vertraglich zugesichert, die
Gewinne nicht abzuschöpfen. In Ihrem Atomvertrag ist
zu lesen: kein Geld von den Kernkraftwerksbetreibern.
– Wir nehmen das Geld von den Kernkraftwerksbetrei-
bern, um es in erneuerbare Energien zu investieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verlängern ja!)


Wenn man sich die Anträge der Opposition zum Kli-
maschutzgesetz anschaut, stellt man fest, dass sie durch-
aus nachdenkenswerte Punkte enthalten. Aber ich sage
Ihnen ganz klar: Einen Punkt halte ich für absolut inak-
zeptabel, nämlich den Weg in die Räterepublik. Ihnen
fällt, wenn Sie nicht weiterwissen, immer nur ein: Dann
gründen wir einen neuen Arbeitskreis. – In diesem Fall
soll es eine sogenannte unabhängige Klimaschutzkom-
mission sein. Im Antrag der SPD steht:

In der Kommission erhalten der Sachverständigen-
rat für Umweltfragen, der Rat für nachhaltige Ent-
wicklung, der Wissenschaftliche Beirat für globale
Umweltveränderungen sowie namhafte Wissen-
schaftler Sitz und Stimme.

Sie selber zählen auf, wie viele Gremien diese Republik
schon hat, die sich mit dem gleichen Thema befassen.
Dennoch wollen Sie ein neues Gremium sozusagen als
Dach für all die Gremien, die Sie eingerichtet haben, da-
mit alles koordiniert wird. Wenn Sie neue Gremien wol-
len, dann müssen Sie auch sagen, wo etwas bereinigt
werden soll. Ansonsten bleiben wir bei den bewährten
Strukturen, deren Aufbau wir gemeinsam hier im Deut-
schen Bundestag beschlossen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich sage ganz klar: Wir Liberale sowie die Kollegin-
nen und Kollegen von der Union gehen voran in das
Zeitalter der erneuerbaren Energien. Wir stehen für
Treibhausgasminderung. Wir brauchen hier keine Nach-
hilfe. Unsere Ziele sind ambitioniert. Wir zeigen auf, wie
man sie erreichen kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706512800

Der Kollege Kelber wünscht eine Kurzintervention.

Er soll sie bekommen. – Bitte schön.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1706512900

Vielen Dank. – Herr Kollege Kauch, in der letzten

Debatte hatten Sie die Behauptung aufgestellt, im Land
Nordrhein-Westfalen hätte Schwarz-Gelb eine an-
spruchsvollere Klimapolitik gemacht, als es die Nachfol-
geregierung vorhat. Das konnte durch Zitate aus dem
Umweltbericht der schwarz-gelben Landesregierung
leicht widerlegt werden. Tatsächlich sind die Emissionen
angestiegen. Heute haben Sie gesagt, die alte schwarz-
gelbe Bundesregierung hätte bis 1998 eine anspruchs-
vollere Klimapolitik als die Nachfolgeregierungen ge-
macht. Können Sie bestätigen, dass in der Zeit der
schwarz-gelben Bundesregierung die Treibhausgasemis-
sionen ausschließlich in den Jahren 1991, 1992 und 1993
zurückgegangen sind, dass dieser Rückgang ausschließ-
lich aufgrund des Zusammenbruchs der Industrie in Ost-





Ulrich Kelber


(A) (C)



(D)(B)

deutschland sowie der Modernisierungen dort erfolgte,
dass die Treibhausgasemissionen von 1994 bis 1999
auch in Ostdeutschland wieder angestiegen sind und erst
unter der rot-grünen Regierung sanken und dass die
CO2-Emissionen in Westdeutschland in den gesamten
16 Jahren der Kohl-Regierungen, zum Teil unter Beteili-
gung von Frau Merkel – das sind die beiden Namen, die
Sie genannt hatten; offenbar fiel Ihnen kein Name von
der FDP ein –, angestiegen sind und zum ersten Mal im
Jahr 1999 unter der rot-grünen Regierung gesunken
sind? Sind Ihnen die Zahlen bekannt?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706513000

Herr Kollege Kauch, zur Erwiderung.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1706513100

Lieber Kollege Kelber, es ist schon erstaunlich, dass

Sie sich hier offensichtlich zum Anwalt von Herrn
Trittin machen wollen, weil es die Grünen nicht tun. Ich
kann Ihnen nur sagen: Wir haben es durch den Zusam-
menbruch alter Industrien in Ostdeutschland am Anfang
der 90er-Jahre natürlich leichter gehabt als andere Län-
der; das ist völlig unstreitig. Aber wir haben auch an-
spruchsvollere Ziele gesetzt. Es hat sich kein anderer
Umweltminister so mir nichts, dir nichts von Umwelt-
schutzzielen verabschiedet wie Herr Trittin.

An der Stelle muss man mal Herrn Gabriel loben, der
hat nämlich am Schluss seiner Amtszeit die Kioto-Ziele
umsetzen können. Herr Trittin hat es offensichtlich nicht
geschafft.


(Ulrich Kelber [SPD]: Danke für die Bestätigung meiner Zahlen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706513200

Jetzt hat Kollegin Höhn das Wort.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706513300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

hier eben einen Ihrer wirklich legendären Auftritte er-
lebt. Sie versuchen, einfach durch Lautstärke zu über-
zeugen. Was Sie zu Jürgen Trittin gesagt haben, macht
deutlich, dass Sie nichts verstanden haben. Durch Jürgen
Trittin sind die erneuerbaren Energien erst mal auf den
Weg gekommen, auf dem sie heute sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Niemand anders als die Grünen hat die Erneuerbaren
eingeführt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alle Welt guckt auf Deutschland, weil wir das damals
unter Rot-Grün geschafft haben. Davon sind Sie von der
FDP meilenweit weg.

Ich muss ehrlich sagen, ich finde diese Debatte trau-
rig. Eigentlich möchte ich an das anknüpfen, was der
Kollege Jung gesagt hat. Bei allen Auseinandersetzun-
gen, die wir hatten, haben wir hier im Bundestag eine
Gemeinsamkeit gehabt, und das war der Klimaschutz. Es
gab immer eine gemeinsame Basis bei den internationa-
len Zielen des Klimaschutzes. Die einen wollten mehr
als die anderen, aber vom Grundsatz her haben wir es in
diesem Bundestag sogar geschafft, vor Klimakonferen-
zen einstimmige Beschlüsse zu Klimaschutzzielen hin-
zubekommen.

Ich muss sagen, das war eine gute Leistung, weil wir
erkannt haben: Das ist ein globales Problem, darauf
müssen wir auch gemeinsam als gesamter Bundestag re-
agieren. Daher können wir eine solche Auseinanderset-
zung, wie Herr Kauch sie wieder einmal begonnen hat,
nicht gebrauchen. Es geht um viel mehr als um das Ge-
zänk hier untereinander.

Es ist schade, dass Herr Kauch genau diese Debatte
beginnt. Ich meine, wenn Herr Kauch jetzt zum Beispiel
sagt, wir würden die formalen Prozesse, gerade was all
die Atomgesetze, über die wir jetzt diskutieren, angeht,
verzögern, dann muss ich sagen: Herr Kauch, denken Sie
mal einen Moment nach. Machen Sie nicht immer den
Mund auf, sondern denken Sie einen Moment nach, was
Sie uns bei diesen Anhörungen zumuten: zwei Gesetze
in vier Stunden. Das heißt, wir haben für die Sicherheit
von Atomkraftwerken und für die wirklich entschei-
dende Frage des Atommülls gerade mal 30 bis
45 Minuten, um uns damit zu beschäftigen. Das ist eine
Farce, und Sie haben uns diese eingebrockt. Das ist die
Wahrheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben die Erkundung von Gorleben wieder auf
die Tagesordnung gesetzt. Gorleben, wo es unten eine
Riesenblase mit Gas und oben eine wasserlösliche
Schicht gibt, soll als Endlager dienen. Die Fachleute be-
haupten, da könnte man Müll 1 Million Jahre zwischen
dem Gas und der wasserlöslichen Schicht sicher aufbe-
wahren. Dazu muss ich sagen: Gehen Sie in sich. Sie ha-
ben eine verdammte Verantwortung allen nachfolgenden
Generationen gegenüber. Mit einfachen Sprüchen kommt
man da nicht weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir diskutieren hier und sagen: Klimaschutz und Klima-
ziele dürfen nicht einfach nur irgendwelche Ziele sein,
vielmehr brauchen wir Instrumente, die dazu dienen,
diese Klimaziele überhaupt erreichen zu können. Des-
halb haben wir hier als Grüne im Dezember letzten Jah-
res einen Antrag gestellt – die SPD hat jetzt einen An-
trag gestellt –, der in folgende Richtung geht: Wir
können uns auf Klimaziele einigen und sollten zum Er-
reichen dieser Ziele hier gemeinsam Instrumente be-
schließen. Wir sagen: Wir verfolgen beim Klimaschutz
ein großes Ziel, das wir gemeinsam erreichen wollen,
egal unter welcher Regierung.

Deshalb meinen wir: Wir brauchen ein Klimaschutz-
gesetz, weil es drei ganz entscheidende Vorteile hat. Es
ist verlässlich, es ist transparent und konsequent. Und
genau das brauchen wir bei dem globalen Problem, das
wir mit dem Klimawandel haben. Ein solches Klima-
schutzgesetz brauchen wir in diesem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)






Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)

Warum ist das verlässlich? Wir haben momentan un-
verbindliche politische Vorgaben, und wir wollen diese
unverbindlichen Vorgaben in rechtsverbindliche Ziele
umsetzen. Das ist das Ziel eines Klimaschutzgesetzes.
Bei der Vorgabe können wir uns auch darüber streiten,
ob es jetzt 80 Prozent oder 95 Prozent CO2-Reduktion
bis 2050 geben soll.

Über verbindliche Ziele würde genau das erreicht,
was wir brauchen, eine langfristige Planungssicherheit
für die Menschen.

Was Sie mit Ihrem Energiekonzept gegen die Mehr-
heit der Bevölkerung erreicht haben, ist doch, dass es ei-
nen Stillstand bei den Investitionen gibt. Die Stadtwerke
investieren nicht mehr. In die Erneuerbaren wird nicht
mehr investiert. Durch Ihr Energiekonzept gibt es in den
nächsten drei Jahren einen Stillstand, nicht mehr und
nicht weniger. Dann werden wir kommen, das Ganze
nach der Wahl umändern, und es kann wieder losgehen.
So ist die Politik, und das ist auch gut so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es wäre auch vor Cancún ein schönes Zeichen, wenn
man wirklich sagen würde: Ja, Deutschland verabschie-
det ein Klimaschutzgesetz; wir wollen nicht nur Klima-
schutzziele beschließen, sondern auch zeigen, wie sie
umgesetzt werden können.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706513400

Frau Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Kauch?


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706513500

Ja, bitte schön.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1706513600

Frau Kollegin Höhn, Sie haben angemahnt, dass wir

eine gemeinsame Basis für die internationale Klimapoli-
tik brauchen. Ich stelle fest, dass diese gemeinsame Ba-
sis immer noch da ist. Wir debattieren aber heute hier
über die nationale Umsetzung. Der Kollege Schwabe hat
die Auseinandersetzung um das nationale Energiekon-
zept in die Debatte eingeführt. Dies sei vorausgeschickt.
Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ich
glaube, es ist wichtig und es ist zentral, dass wir vor
Cancún und darüber hinaus in den internationalen Ver-
handlungen eine Basis haben. Wir haben nämlich ein ge-
meinsames nationales Interesse, das, was wir hier tun,
auch in anderen Teilen der Welt zu sehen.

Zu meiner Frage. Sie haben gesagt: Die Menschen
müssen sich auf die Zielvorgaben, Zielentwicklungs-
pfade, die wir beschließen, verlassen können. Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem Energie-
konzept, das Sie hier in Bausch und Bogen verdammen
– Sie haben das Recht, das eine oder andere zu kritisie-
ren; insbesondere in der Kernenergiefrage sind wir halt
nicht auf einer Linie –, genau dieser klimapolitische Ent-
wicklungspfad hin zu einem Anteil von 80 bis 95 Pro-
zent bis 2050 entwickelt worden ist, dass dieses Konzept
im Deutschen Bundestag beschlossen werden wird und
dass dies letztendlich Grundlage sein sollte für die natio-
nale Nachhaltigkeitsstrategie, die über Legislaturperio-
den hinweg verfolgt wird? Sind Sie bereit, diese partei-
übergreifenden Punkte – ich glaube, sie können auch
nach den Änderungen verfolgt werden, die Sie am Ener-
giekonzept vornehmen wollen, wenn Sie wieder einmal
regieren – gelten zu lassen? Oder wollen Sie sie nach ei-
ner Regierungsübernahme vom Tisch wischen?


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706513700

Herr Kauch, der entscheidende Punkt ist, ob die Ziele,

die Sie festgeschrieben haben, erreichbar sind. Wir bie-
ten Ihnen mit dem Klimaschutzgesetz ein Instrument,
wie die Ziele, die Sie festgeschrieben haben, auch er-
reicht werden können. Wir fordern: Die Ziele müssen
überprüft werden, sie müssen transparent dargestellt
werden, und wenn sie nicht erreicht werden, dann müs-
sen Sanktionen verhängt werden. Genau dieses Instru-
ment verweigern Sie. Deshalb müssen Sie sich nicht
wundern, dass wir glauben, dass Ihre Ziele nur auf dem
Papier stehen. De facto wissen Sie selber, dass Sie mit
der Art und Weise, wie Sie Politik machen, diese Ziele
nie und nimmer erreichen werden. Das ist der Unter-
schied.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein Klimaschutzgesetz stünde einerseits für Verläss-
lichkeit und andererseits für Transparenz. Wir wollen
Zwischenziele. Übrigens, Großbritannien hat sie sich be-
reits gesetzt; es gibt also auch Länder, die diesen Weg
gehen. Wir wollen deshalb auch Berichte. Wir wollen,
dass auch gesagt wird: Oh, hier passiert zu wenig; hier
funktioniert es nicht, bei einzelnen Sektoren, etwa im
Verkehrsbereich; da bringen wir es nicht zustande, da
müssen wir gegensteuern, da müssen wir andere Maß-
nahmen ergreifen. – Das ist die Transparenz, die wir mit
dem Klimaschutzgesetz wollen. Wenn wir es hätten,
dann könnten wir schnell reagieren und könnten letzten
Endes dafür sorgen, dass diese Ziele wirklich erreicht
werden.

Dazu gehört natürlich, dass wir konsequent sein müs-
sen. Wenn die Ziele nicht erreicht werden, dann müssen
wir in der Tat Sanktionen verhängen. Dann müssen ver-
stärkt Klimaschutzanstrengungen unternommen wer-
den. Damit würden wir versuchen, der Erreichung all
dieser Ziele Biss und Nachdruck zu verleihen. Wir wol-
len nicht nur, dass Ziele formuliert werden, sondern
auch, dass sie umgesetzt werden, und deshalb fordern
wir das Klimaschutzgesetz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Alternative ist nämlich das, was Sie, Herr Kauch,
mit dem Klimakonzept machen. Wir haben den Ein-
druck: Das ist unverbindliche Lyrik. Das Energiekonzept
der Bundesregierung enthält 36 Prüfaufträge, und zwar
ohne Substanz. Schauen wir uns doch einmal die Gebäu-
desanierung an. Durch die Gebäudesanierung kann viel
CO2 reduziert werden. Im letzten Jahr standen 2,2 Mil-
liarden Euro für die Gebäudesanierung zur Verfügung.
In diesem Jahr sind es 1,5 Milliarden Euro, und der Wert





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)

für das nächste Jahr ist – erst nach großem Protest – auf
950 Millionen Euro aufgestockt worden. Wenn Sie dann
sagen: „In diesem Atomfonds sind noch 300 Millionen“,
dann sage ich: Der Unterschied zwischen 1,5 Milliarden
und 950 Millionen beträgt fast 600 Millionen. Wenn Sie
die Mittel mit Ihren 300 Millionen aufstocken, dann sind
Sie immer noch nicht bei dem Wert von diesem Jahr.
Das heißt de facto, dass Sie viel hineinschreiben, aber
bei der Gebäudesanierung nicht die Finanzen zur Verfü-
gung stellen, um die Ziele am Ende wirklich durchsetzen
zu können. Das machen wir Ihnen zum Vorwurf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Meine Damen und Herren, wir müssen über diese Sa-
che noch einmal im Ausschuss diskutieren. Nach meiner
Auffassung gibt es Gemeinsamkeiten; Herr Jung hat das
noch einmal dargestellt. Ich würde gerne ausloten, ob es
diese Gemeinsamkeiten tatsächlich gibt und wie weit wir
da gehen können. Das sollten wir machen. Sollten wir
dies in einer Zeit der Konfrontation, die wir momentan
erleben, schaffen, dann wäre das ein gutes Zeichen, weil
wir deutlich machen, dass wir bei globalen Fragen, deren
Lösung wir hier national umsetzen, am Ende noch Ge-
meinsamkeiten hinbekommen. Darauf hoffe ich ein
Stück. Ich sehe den einen und anderen, mit dem man
vielleicht zusammenarbeiten kann; Herr Kauch, viel-
leicht auch mit Ihnen in einer ruhigen Stunde, wenn es
nicht darum geht, hier am Rednerpult zu demonstrieren,
wie aufgeregt und engagiert Sie sein können. Ich hoffe
auf gute Beratungen im Ausschuss.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706513800

Das Wort hat nun Christian Hirte für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1706513900

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Nachdem wir eine etwas hektische Debatte jetzt
hatten, versuche ich, ein klein bisschen Ruhe hineinzu-
bringen und auch etwas sachlich zu diskutieren.

Kurz vor Beginn des Weltklimagipfels in Kopenha-
gen im Dezember letzten Jahres hat der Bundesumwelt-
minister in einer Rede vor diesem Haus drei zentrale Ge-
sichtspunkte einer europäischen Klimaschutzinitiative
formuliert, die ich auch gerade vor dem Hintergrund der
heutigen Debatte für wesentlich erachte:

Erstens muss es uns bei Klimapolitik um Nachhaltig-
keit gehen. Wenn wir die natürlichen Ressourcen unseres
Planeten verbrauchen – wir haben viel über Energie ge-
sprochen; das heißt, dass wir die kohlenstoffbasierten
Ressourcen verbrauchen – und damit den CO2-Ausstoß
weiter in dem Maße vorantreiben, wie wir das bis heute
tun, werden wir den nächsten Generationen einen Bären-
dienst erweisen. Vielleicht diskutieren wir in Europa und
insgesamt heute manchmal auch noch das falsche
Thema. Manche klagen über mögliche Jobverluste we-
gen Klimaschutzauflagen. Ich glaube, viel größere Sor-
gen müssten wir uns machen, wenn wir nicht über Kli-
maschutz diskutieren würden. Deswegen will ich an
dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich mich freue
und es begrüße, dass wir in dieser Runde auch so enga-
giert das Thema gemeinsam miteinander debattieren.

Es geht aber natürlich zweitens auch um die Art, wie
wir wirtschaften. Bis 2050 werden wahrscheinlich auf
unserer Erde etwa 9 Milliarden Menschen leben, und
viele von ihnen werden natürlich ein Stück von dem
Wohlstand beanspruchen, den wir bei uns in Europa als
selbstverständlich erachten. Dass dies mit einem enor-
men Anstieg des Energiebedarfs verbunden sein wird,
liegt auf der Hand. Diesen Wohlstandsanspruch mit
knappen Ressourcen in Einklang zu bringen, heißt, Ener-
gie und knappe Lebensgüter künftig vernünftig zu be-
wirtschaften. Wir müssen also ein Gut wie Energie nicht
nur bereitstellen; zu unserem Wohlstand gehört es auch,
dass dies zu bezahlbaren Preisen erfolgen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Energie, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist also
ein Grundbedürfnis und kein Luxusgut.

Und um dieses grundlegende Bedürfnis zu befriedi-
gen, geht es drittens darum, sich damit zu beschäftigen,
mit welchen Technologien man dies dauerhaft ermögli-
chen will. Nach dem Verständnis unserer Koalition
– und ich will das hier in aller Deutlichkeit sagen – sind
es dauerhaft nicht die Kernkraft und nicht die Kohle,
sondern die erneuerbaren Energien. Wir haben schon in
unserem Koalitionsvertrag und in unserem Wahlkampf-
papier ausdrücklich davon gesprochen – das tun wir
auch heute noch, nachdem wir gewählt sind –, dass es
sich bei der Kernkraft um eine Brückentechnologie han-
delt.

Wenn ich vorhin das Jahr 2050 angesprochen habe,
habe ich das nicht ganz ohne Bedacht gewählt, weil na-
türlich auch das Energiekonzept der Bundesregierung
diesen Zeithorizont zugrunde legt. Zum ersten Mal – hier
gebe ich dem Kollegen Kauch ausdrücklich recht – hat
sich eine Bundesregierung ambitionierte Ziele gesetzt
und sich zu drei Punkten, nämlich Nachhaltigkeit, Wirt-
schaftlichkeit und Technologie, offen und konkret be-
kannt. Mit dem Energiekonzept werden Leitlinien für
den Einstieg in eine umweltschonende, zuverlässige und
vor allem auch bezahlbare Energieversorgung formu-
liert.

Ich will aber noch einen vierten Gesichtspunkt hinzu-
fügen. Es geht am Ende auch immer um Glaubwürdig-
keit. Richtig ist – Andreas Jung hat das ausgeführt –,
dass der Klimagipfel von Kopenhagen nicht die Ergeb-
nisse gebracht hat, die wir uns, ich glaube, alle gemein-
sam in diesem Hause, erhofft haben. Das Ziel muss
trotzdem bleiben, die globale Erwärmung auf unter
2 Grad zu begrenzen.


(Frank Schwabe [SPD]: Das sieht der Wirtschaftsrat ganz anders!)






Christian Hirte


(A) (C)



(D)(B)

Und dieses Ziel müssen wir in Deutschland glaubwürdig
vertreten. Wir haben in Deutschland in den vergangenen
Jahren hohe Ansprüche beim Klimaschutz formuliert
und eingehalten. Das wird sich auch künftig nicht än-
dern.

Die internationale Rolle Deutschlands beim Klima-
schutz erwächst aber nicht aus nationalen Klimaschutz-
gesetzen, wie sie die Oppositionsfraktionen in ihren An-
trägen fordern. Sie erwächst auch und gerade aus der
Gestaltung der konkreten Energie- und Klimapolitik im
eigenen Land. Deutschland muss und wird also durch
seine eigene Vorreiterrolle beispielgebend sein; darauf
hat die Bundeskanzlerin immer deutlich hingewiesen.

Die Frage ist jetzt, wie wir unsere Vorreiterrolle for-
cieren können. Die Antwort darauf ist: Deutschland
muss durch sein eigenes Beispiel führen. Wir müssen be-
weisen, dass Wachstum und der Ausstoß von Treibhaus-
gasen voneinander entkoppelt werden können. Deutsch-
land muss zeigen, dass es möglich ist, den Wohlstand zu
mehren und das Klima zu schützen. Die unkonditionierte
40-prozentige Reduktion des Klimagasausstoßes ist
schon angesprochen worden; ich muss das nicht weiter
auszuführen. Das Energiekonzept ist also der richtige
Weg, um auch anderen Ländern ein Beispiel zu geben
und zu zeigen, wie Wohlstand und Ressourcenverbrauch
in Einklang gebracht werden können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op-
position, das von Ihnen so verschmähte Energiekonzept
wird – und das werden Sie sehen – Modell und Maßstab
für die Lösung der Energiefragen vieler anderer Länder
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da ist aber der Wunsch der Vater des Gedankens! – Frank Schwabe [SPD]: Das ist eine Werbebroschüre! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Christians Märchenstunde!)


Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt be-
leuchten, der oft vergessen wird: Aktiver Klimaschutz
bedeutet im Ergebnis auch eine größere Unabhängigkeit
von ausländischen fossilen Energieträgern. Europa ist
von Energieimporten abhängig, und die Tendenz ist stei-
gend. Zeitgleich verschärft sich der globale Wettbewerb
um Rohstoffe und Energieträger. Die Nachfrage wächst
wesentlich schneller als das Angebot. Die Sorge um Ver-
lässlichkeit und Stabilität der europäischen Hauptener-
gielieferanten erhöht noch einmal den Handlungsdruck.

Daher ist aktiver Klimaschutz nicht nur Garant für die
wirtschaftliche Selbstständigkeit. Er bietet gleichzeitig
eine Chance, aus dem Teufelskreis von Knappheit und
Abhängigkeit zu entkommen. Klimaschutz liegt also
durchaus im ökonomischen Interesse Deutschlands, weil
wir uns damit von ausländischen Ressourcen abkoppeln.
Als Technologieführer bei den erneuerbaren Energien
kann Deutschland dabei seine Position weiter ausbauen,
und ich bin auch sicher, dass das gelingen wird. Ökono-
mische Modernisierung und technologische Innovation –
das ist der Weg, auf dem wir Wohlstand erreichen,
Wachstum ausbauen und gleichzeitig ressourcenscho-
nend wirtschaften und leben können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706514000

Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1706514100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegin!

Herr Hirte, damit kein falscher Eindruck entsteht: Zum
Maßstab wird Ihr Energiekonzept hundertprozentig nicht
werden.


(Christian Hirte [CDU/CSU]: Schauen wir mal!)


Spätestens in Karlsruhe oder spätestens 2013 ist das vom
Tisch, sind auch die Laufzeitverlängerungen vom Tisch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Kauch, was Sie gesagt haben, war ein bisschen
entlarvend. Sie haben davon gesprochen, dass Sie Angst
vor der sogenannten Räte-Republik haben. Dabei geht es
nur darum, dass Politik den Mut hat, durch ein unabhän-
giges Gremium prüfen zu lassen, ob die Maßnahmen
ausreichen, um die Ziele, die man sich gesetzt hat, zu er-
reichen. Das zeigt, welches Demokratieverständnis Sie
haben. Gerade in diesen Zeiten wäre es wichtig, dass die
Politik Rückkopplung mit unabhängigen Wissenschaft-
lern zulässt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Kauch [FDP]: Wir haben schon drei Räte!)


Genau deswegen ist das, was wir mit dem Klimaschutz-
gesetz vorschlagen, ein richtiger Schritt in die richtige
Richtung.

Ihre Aussage spricht überhaupt Bände. Jetzt ist klar,
was Sie von unabhängigen Expertengremien halten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unabhängigen!)


Ihr eigener Sachverständigenrat für Umweltfragen hat
Sie davor gewarnt, die Laufzeitverlängerungen zu be-
schließen.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Eurer doch auch!)


Ihr eigener Sachverständigenrat, dem viele unabhängige
kompetente Wissenschaftler angehören, hat gesagt, dass
das alles kontraproduktiv ist, was die erneuerbaren Ener-
gien anbelangt, und dass die Laufzeitverlängerungen in
die völlig falsche Richtung gehen.

Die gehen mit einem Federstrich darüber hinweg und
nehmen den eigenen Sachverständigenrat nicht ernst. Sie
haben es heute sehr schön auf den Punkt gebracht, als





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)

Sie sagten, es sei ein Rückschritt in die Räte-Republik,
wenn man auf unabhängige Experten hört.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der Politik muss immer wieder darauf geachtet
werden, dass Taten und Worte übereinstimmen. In der
Umweltpolitik haben wir augenblicklich das Problem,
dass Sie Superlative wählen, um Ihre Konzepte anzu-
preisen, aber die Taten dem in keiner Weise entsprechen.
Das ist Ihr Problem.

Fangen wir mit Kopenhagen an, Herr Hirte. Was ha-
ben wir in Kopenhagen erlebt? Ihre Bundesregierung ist
dort Verpflichtungen eingegangen und hat finanzielle
Zusagen gegenüber anderen Staaten gemacht. Was erle-
ben wir nun? Nichts davon bilden Sie im neuen Haushalt
ab. Es sind keine entsprechenden Mittel eingestellt. Wir
werden nichts von dem einlösen können, was wir ver-
sprochen haben. Wir schlagen somit mit unserem
Gesicht auf und können deswegen nicht von anderen
Staaten glaubwürdiges Verhalten verlangen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dieser Politik verspielen Sie auf internationaler
Ebene das hohe Ansehen, das sich Deutschland in den
letzten 15 Jahren in diesem Bereich durchaus erarbeitet
hat.

Es geht aber noch weiter. Die Kürzungen bei den Ge-
bäudesanierungsprogrammen hat Kollegin Höhn schon
angesprochen. Dann geht es aber auch um den Stil, wie
Sie Politik machen. So sagt der Bundesumweltminister
erst, mit den großen Vier dürfe man keinen Deal ma-
chen, einen Monat später erfahren wir aber zufällig, weil
sich ein Verantwortlicher verplappert, dass Sie längst ei-
nen Geheimvertrag abgeschlossen und in den Schubla-
den liegen hatten. Auch hier stimmen Worte und Taten
nicht überein. So etwas trägt, wie ich denke, zur Politik-
verdrossenheit bei.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen also, wie ich glaube, einen neuen Politik-
stil finden. Es geht nicht darum, in schönen Hochglanz-
broschüren zu schreiben, was man 2050 oder 2025 errei-
chen will, sondern Politik muss sagen: Das nehmen wir
uns vor, und wir sind bereit, das Erreichen der Ziele re-
gelmäßig kontrollieren zu lassen. Darüber hinaus wollen
wir ständig überlegen, ob wir nicht weitere Maßnahmen
ergreifen müssen, wenn wir feststellen, dass das, was wir
erreichen wollen, nicht erreicht wird. – Das Klima-
schutzgesetz, das die Oppositionsparteien hier nun vor-
schlagen, leistet dies.

Wir treten jetzt im Ausschuss in die Diskussion ein.
Ich rate Ihnen: Schauen Sie es sich noch einmal genau
an! Mit diesem Gesetz könnten tatsächlich erste Schritte
unternommen werden, damit Sie wenigstens zum Teil an
das herankommen, was Sie in Hochglanzbroschüren an-
kündigen. Ich lade Sie ein, sich konstruktiv an den Aus-
schussberatungen zu beteiligen. Vielleicht gelingt es so,
das Klimaschutzgesetz, das wir als Fraktion im Übrigen
unter Beteiligung vieler Verbände erarbeitet haben, hier
einstimmig zu verabschieden. Ich hoffe, dass die Aus-
schussberatungen dazu beitragen werden. Sie sind herz-
lich dazu eingeladen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706514200

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Josef Göppel für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1706514300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe

Verständnis für das Drängen der Opposition und damit
auch für den vorliegenden Antrag, ein Klimaschutzge-
setz zu verabschieden, um all die bestehenden Einzel-
maßnahmen in einen gesetzlichen Rahmen einzubinden.
Allerdings, werte Kollegen von der SPD, haben wir dies
in der Großen Koalition nicht zustande gebracht. Wir
waren all die Jahre mit konkreten Maßnahmen beschäf-
tigt.

Ab 2007 ist durch Kanzlerin Merkel das Thema Kli-
maschutz auf die internationale Ebene gebracht worden.
Somit möchte ich Ihnen sagen: Solange Frau Merkel
Kanzlerin ist, wird es da auch bleiben, weil Frau Merkel
als Physikerin weiß, dass in wenigen Jahrzehnten 9 Mil-
liarden Menschen auf dieser Erde leben werden und wir
nicht mit den bisherigen Formen der Energieversorgung
werden weiterarbeiten können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen ist ja das Energiekonzept aufgestellt worden.

Natürlich kann man jetzt fragen, ob nicht die 60 Ein-
zelmaßnahmen, die viele Gesetze berühren, in einem
Klimaschutzgesetz gebündelt werden sollten. Ich sage es
noch einmal: Ich persönlich bin offen für diese Idee, bin
aber im Moment nicht davon überzeugt, dass dieses Ver-
fahren das richtige wäre; denn es geht darum, eine ganze
Reihe von Lebensbereichen im Hinblick auf eine andere
Lebens- und Wirtschaftsweise umzuorientieren.

Die Gebäudesanierung ist hier angesprochen worden.
Natürlich ist es richtig, die Schaffung von Möglichkeiten
der steuerlichen Abschreibung von Energiesparinvesti-
tionen in Gebäuden zu prüfen, entsprechend der früheren
Regelung in § 82 a der Einkommensteuer-Durchfüh-
rungsverordnung, die eine Abschreibung von jährlich
10 Prozent ermöglichte. Dies war eine entscheidende
Maßnahme. Deswegen haben die Umweltpolitiker der
Union so sehr darauf gedrängt, dass dies im Energiekon-
zept erscheint. Ich möchte auch den alten bayerischen
Vorschlag erwähnen, Energiesparinvestitionen von der
Erbschaftsteuer absetzen zu können. Auch das erscheint
mir in diesem Zusammenhang überlegenswert. Wichtig
ist schließlich eine haushaltsunabhängige Finanzierung
für erneuerbare Energien im Wärmebereich.





Josef Göppel


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch das steht nicht ohne Grund im Energiekonzept.

Wenn man all dies zusammennimmt, wird aus meiner
Sicht schon deutlich, dass wir von der Koalition im Ziel
mit Ihnen, Frau Kollegin Höhn, Herr Miersch, Herr
Schwabe, nach wie vor einig sind. Kollege Jung hat es
klar gesagt:

Wir wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis
2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren …

Der Deutsche Bundestag hat das beschlossen; die Regie-
rung hat das übernommen. Es ist im deutschen Interesse,
dass die EU ein 30-Prozent-Ziel verabschiedet. Wir er-
warten von der Regierung, die wir tragen, dass sie sich
jetzt im Vorfeld der Konferenz in Cancún dafür einsetzt;
denn es ist im deutschen Interesse. Damit würde ein Er-
folg der wichtigen Konferenz in Cancún wahrscheinli-
cher.

Ich möchte in dem Zusammenhang auf einen anderen
Bereich verweisen. Wir haben zu einem gemeinsamen
Antrag zum Schutz der Biodiversität gefunden. Leider
wird dieses Thema heute zu später Nachtstunde behan-
delt. Deswegen möchte ich schon jetzt anführen: Klima-
schutz und Artenvielfalt hängen ganz eng zusammen.
Das UNEP hat einen Atlas mit den Gebieten der Erde
herausgegeben, die eine hohe Artenvielfalt aufweisen.
Das sind genau die Gebiete, in denen die größte Kohlen-
stoffspeicherung stattfindet. Klimaschutz und Artenviel-
falt hängen also zusammen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da, wo hohe Artenvielfalt besteht, sind die Lebensräume
widerstandsfähiger gegenüber den Folgen von Klimaver-
änderungen. Um es ganz praktisch für uns in Deutsch-
land darzustellen: Dort, wo wir Mischwaldbestände ha-
ben, können zwar auch Borkenkäfer sein; aber sie
können nicht alles kahlfressen, weil es da auch noch an-
dere Arten von Bäumen gibt. Dieses Beispiel zeigt, wie
sehr die Dinge zusammenhängen. Wir brauchen in Kli-
maschutzfragen eine Gemeinsamkeit.

Ich will noch einmal auf die aktuelle Situation im Zu-
sammenhang mit dem Energiekonzept zu sprechen kom-
men, und zwar auf den Bereich der Mobilität. Die Maß-
nahmen, die das Energiekonzept für den Bereich der
Mobilität vorsieht, sind von Ihnen in der bisherigen De-
batte gar nicht angesprochen worden. Ich nehme an, dass
Sie gegen diese Maßnahmen nichts einzuwenden haben.
Es ist entscheidend, dass wir die europäischen Grenz-
werte im Bereich der herkömmlichen Mobilität mit Ben-
zin- und Dieselkraftstoffen weiterhin konsequent senken
– so wie der Weg vorgezeichnet ist –, damit auch in die-
sem Sektor ein Beitrag zum Klimaschutz erbracht wer-
den kann. Es darf keiner der drei großen Verbrauchsbe-
reiche ausgelassen werden: Strom, Heizen und
Mobilität.

Ich glaube, dass wir im Gesamtkontext nach wie vor
auf einem guten Weg sind. Dass andere Länder den Weg,
den Deutschland geht, sehr aufmerksam beobachten,
muss für uns allerdings weiterhin ein Ansporn sein, bei
den konkreten Maßnahmen nicht nachzulassen.

Das ist meine abschließende Bitte an die Opposition:
Auf die konkreten Maßnahmen kommt es an. Ich habe
eine gewisse Skepsis Zielen gegenüber, die 30 Jahre in
der Zukunft liegen. Die konkreten Maßnahmen, die jetzt
ergriffen werden, entscheiden über die Fortschritte im
Klimaschutz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706514400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3172 und 17/2485 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/2318.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/522 mit dem Titel
„Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1475 mit dem Ti-
tel „Klimaschutzziele gesetzlich verankern“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung von SPD und
Grünen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/132 mit dem Titel „Klimaschutzgesetz vorle-
gen – Klimaziele verbindlich festschreiben“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken
angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie
Zusatzpunkt 3 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
der Unterrichtung

Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates
über Einlagensicherungssysteme [Neufas-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


(inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10 ADD 2)


– Drucksachen 17/2994 Nr. A.23, 17/3239 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Manfred Zöllmer
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Vorschlag
für eine Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates über Einlagensicherungs-
systeme (Neufassung) KOM-Nr. (2010) 368
endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Si-
cherungssysteme als Modell für Europa

– Drucksache 17/3191 –

Zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1706514500

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Heute steht der Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über Einlagensiche-
rungssysteme auf der Tagesordnung, ein wichtiges
Thema. Denn es geht um Vertrauen, über das wir heute
diskutieren, über das Vertrauen der Sparer und Sparerin-
nen, die ihr Geld bei Kreditinstituten, Banken, Sparkas-
sen und Genossenschaftsbanken angelegt haben.

In Deutschland haben wir seit jeher ein hohes Siche-
rungsniveau für die Spareinlagen. Gerade die Finanz-
krise der letzten Monate hat uns aber gezeigt, dass es
nicht nur in Deutschland diese Sicherheit und dieses Ver-
trauen geben muss, sondern auch in den anderen Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union. Deswegen ist die
Zielsetzung einer weiteren Harmonisierung der Einla-
gensicherungssysteme, ein hohes Niveau des Einlagen-
schutzes europaweit zu schaffen, grundsätzlich begrü-
ßenswert. Aber das darf nicht dazu führen, dass die
Harmonisierung auf europäischer Ebene zu einer Verrin-
gerung des Anlegerschutzes in Deutschland führt, und es
darf nicht dazu führen, dass das Wettbewerbsgleichge-
wicht im deutschen Bankensystem gefährdet wird. Ge-
rade deswegen kann es nicht sein, dass Europa zur Errei-
chung dieser Ziele über das erforderliche Maß
hinausgeht.
Der europäische Gedanke bezieht sich auf das Subsi-
diaritätsprinzip, das eine wichtige Grundlage ist. Diesem
Prinzip zufolge sollen die staatlichen Aufgaben von der
Ebene übernommen werden, die sie am besten und ef-
fektivsten regeln kann. Auch bei der Einlagensicherung
ist dieses Prinzip zu beachten. Man kann über Mindest-
standards reden. Man muss aber beachten, dass es bereits
Standards darüber hinaus gibt, so wie das zum Beispiel
in Deutschland der Fall ist. Es ist gut, dass für alle Anle-
ger in der EU im Falle der Insolvenz eines Kreditinstituts
ein einheitliches Schutzniveau errichtet werden soll. Es
ist gut, dass die Stabilität des Bankensystems auf euro-
päischer Ebene gestärkt werden soll. Es kann aber nicht
sein, dass neben einer garantierten Mindestabsicherung
eine Höchstgrenze eingeführt werden soll. Es kann nicht
sein, dass die Europäische Union zu stark in nationale
Interessen eingreift oder Regeln für Politikgebiete er-
lässt, für die Brüssel gar nicht zuständig ist.

Die vorliegende Richtlinie darf nicht zu einer Verrin-
gerung des Anlegerschutzes in Deutschland führen. Die
Wettbewerbsgleichheit im deutschen Bankensystem darf
nicht gefährdet werden. Deshalb muss es das Ziel der
deutschen Politik sein, dass die Befreiung der Instituts-
sicherungssysteme von der Pflicht zur Mitgliedschaft in ei-
nem Einlagensicherungssystem erhalten bleibt, dass eine
freiwillige Einlagensicherung über die gesetzlich vorgese-
hene Deckungssumme von zukünftig 100 000 Euro hi-
naus erhalten bleibt, dass eine flexible Ausgestaltung der
Höhe der Beitragsbemessung erhalten bleibt und dass im
europäischen Finanzsektor durch eine eventuelle Vernet-
zung der nationalen Sicherungssysteme kein Einstieg in
eine Art Transferunion erfolgt.

Europa muss lernen, Rücksicht auf die gewachsenen
Strukturen und Eigenheiten der Mitgliedsländer zu neh-
men. Gerade das deutsche Bankensystem hat die Finanz-
krise gut überstanden, dank unserer Sicherungssysteme,
dank der engagierten Arbeit unserer Bundeskanzlerin
Angela Merkel und des damaligen Finanzministers, aber
auch dank des Vertrauens, das die Menschen in unsere
Sicherungssysteme haben und hoffentlich auch in Zu-
kunft haben werden. Es gilt, für dieses erfolgreiche Sys-
tem der Sicherung einzustehen.

Bedenklich sind die EU-Vorschläge insbesondere be-
züglich institutssichernder Systeme, der Finanzierung
von Einlagensicherungssystemen und der Beitragsbe-
messung. Lassen Sie uns hier in diesem Hohen Haus ge-
meinsam die Botschaft nach Brüssel schicken, dass wir
zwar alle überzeugte Europäer sind, unsere nationalen
Eigenheiten aber nicht über Bord werfen wollen. Wir
wollen das behalten, was sich bewährt hat. Deswegen
sind wir für eine Subsidiaritätsrüge.

Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706514600

Der Kollege Lothar Binding hat das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1706514700

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den inhaltlichen
Zielen stimmen wir mit dem überein, was Herr Kollege
Aumer gesagt hat: Wir müssen das Bewährte in den Län-
dern erhalten. Der Kollege Sänger von der FDP hat ges-
tern im Ausschuss gesagt: Man muss es auch mal rum-
sen lassen. – Das ist eine Sache, der wir nicht unbedingt
folgen können. Er meinte damit die Subsidiaritätsrüge,
also das schärfste Schwert, das wir haben. Wir wollen
mit diesem schärfsten Schwert vorsichtig umgehen.
Mein Kollege Manfred Zöllmer hat ein sehr schönes
Bild geprägt. Er hat gesagt: Wir haben eine riesige Ka-
none und füllen sie mit einer dicken Kugel. Wir zünden
das Pulver, und dann rollt die Kugel vorne aus der Ka-
none und fällt uns auf die Füße. – Das kann mit einer
Subsidiaritätsrüge sehr leicht passieren, wenn man die
Instrumente nicht klug wählt.

Ich möchte einen Grund nennen, warum wir die Sub-
sidiaritätsrüge als kritisch ansehen. Eigentlich ist sie die
Folge dessen, dass wir die Verhandlungen bisher
schlecht geführt haben. Man muss sagen: Wir sind im
Moment international nicht sehr gut, wenn nicht sogar
schlecht aufgestellt. Ich möchte ein weiteres Beispiel
nennen – das gilt für viele Politikfelder –: Wir haben nur
wenige im internationalen Bereich wichtige Ressorts;
aber dazu gehört das Ressort von Herrn Niebel. Da läuft
es im Moment folgendermaßen: Die Kanzlerin ver-
spricht etwas. Der Fachminister kämpft dafür. Der
Finanzminister kämpft dagegen. Die Koalition beantragt
etwas. – Insgesamt entsteht nach außen ein völlig diffu-
ses Bild. Wir beobachten, dass es auch bei den europäi-
schen Verhandlungen keine klare Linie gibt. Ich glaube,
dass man da sehr viel sensibler vorgehen muss. Deshalb
sagen wir: Wir müssen eine kritische Subsidiaritätsstel-
lungnahme gegenüber der Kommission abgeben, und
wir müssen versuchen, im Europäischen Parlament ent-
sprechend zu wirken, damit wir uns alle diplomatischen,
formalen und inhaltlichen Optionen offenhalten. Mit ei-
ner Subsidiaritätsrüge setzt man sich sehr schnell ins Un-
recht. Deshalb ist es klüger, sich für die Zukunft mehrere
Verhandlungsoptionen offenzuhalten.

Vielleicht müssen wir mit der Kommission auch noch
einmal über die Interpretation der Grundfreiheiten reden;
denn wenn sie die Regeln zu Wettbewerbsgleichheit und
Harmonisierung zum Nachteil und nicht zum Vorteil der
Länder auslegt, dann ist die Kommission aus meiner
Sicht auf dem Holzweg und interpretiert die Ziele der
Harmonisierung, der Grundfreiheiten und der Wettbe-
werbsgleichheit völlig falsch.


(Beifall bei der SPD)


Der Richtlinienvorschlag greift sehr tief in das Drei-
säulensystem der Bundesrepublik ein; das haben Sie
schon erwähnt. Die privaten Banken, die Genossen-
schaftsbanken und die Sparkassen wirkten in der Finanz-
krise wie Stabilisatoren. Das hat wirklich gut funktioniert.
Wenn man das Einzige, was wirklich gut funktioniert,
mit einem Richtlinienvorschlag gefährdet, dann kann
das nicht richtig sein.

(Beifall bei der SPD – Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Und wieso wollen Sie die Rüge dann nicht unterschreiben? Das verstehe ich nicht!)


Zentrale Begriffe sind „Haftungsverbund der Sparkas-
sen“ auf der einen Seite und „Sicherungseinrichtung der
Volksbanken und Raiffeisenbanken“ auf der anderen
Seite. Das war das bewährte duale System der Siche-
rung, das in Deutschland funktioniert hat.

Diese freiwilligen Sicherungssysteme haben gut
funktioniert, weil sie als institutionensichernde Stüt-
zungsmaßnahmen verhindern, dass der Entschädigungs-
fall überhaupt eintritt. Das ist das kluge Instrument die-
ses Systems. Das wollen wir natürlich erhalten. Warum
ist das Instrument klug? Weil es präventiv, krisenabweh-
rend wirkt. Dieses System ist einmalig. Ich finde, dass
die Kommission einmal überlegen sollte, dieses System
in Europa als Option einzuführen, um auch den anderen
Ländern dieses kluge Sicherungssystem zu eröffnen.


(Beifall bei der SPD)


Schließlich müssen auch wir in Deutschland immer da-
rauf achten, dass die international gut funktionierenden
Systeme auch bei uns eingeführt werden. Doch was soll
stattdessen passieren? Alle Kreditinstitute in Europa sol-
len einem Einlagensicherungssystem unterworfen wer-
den. Das heißt, alles, was besser als das jetzt Vorgeschla-
gene ist, soll abgeschafft werden. Das wollen wir
natürlich nicht.

Es gibt aber noch einen gravierenden Fehler in dem
Vorschlag der Kommission: Die Absicherung der Kun-
den soll, wie es heißt, auf 100 000 Euro harmonisiert
werden. Das heißt, es soll eine Begrenzung hinsichtlich
der Höhe der Spareinlagen, die man besichern will, ge-
ben. Wir sind der Meinung, dass die gegenwärtige, unbe-
schränkte Besicherung das Maß der Dinge sein soll. Wir
wollen die Kunden nicht aufgrund einer europäischen
Harmonisierung schlechterstellen. Um die Dimension
dessen, was das für unsere Sparkassen bedeuten würde,
deutlich zu machen: Wenn 1,5 Prozent der erstattungsfä-
higen Kundeneinlagen in den nächsten zehn Jahren aufge-
bracht werden müssen, sind das mehr als 12 Milliarden
Euro. Dann gibt es noch eine Nachschussverpflichtung
im Wert von 4 Milliarden Euro. Insgesamt wären es also
16 Milliarden Euro Zusatzbelastung, die auf die Spar-
kassen zukämen. Jeder weiß, was das für die Zinsen, die
man bei einem Sparbuch bekommt, und für die Zinsen,
die man für einen Kredit zu zahlen hat, konkret bedeuten
würde. Das wollen wir nicht. Deshalb sagen wir: Wir
müssen kritisch über das Thema Subsidiarität reden. Al-
lerdings sollten wir keine Rüge aussprechen, um uns die
Verhandlungsfreiheiten zu erhalten.


(Beifall bei der SPD – Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Die hat man mit einer Rüge doch auch!)


Wir glauben – das ist die zentrale Kritik –, dass trotz
dieser enormen Belastungen die Sicherheit der Einleger
geschwächt würde. Es wäre also teurer und hätte ein
schlechteres Ergebnis. Diese Politik können wir nicht
unterstützen. Deshalb ist es gut, dass Koalition und weite





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

Teile der Opposition diesbezüglich an einem Strang zie-
hen. Wir sagen nur, dass die Idee mit der Rüge etwas zu
hoch gegriffen ist.

Wir von der SPD fordern in unserem Entschließungs-
antrag, dass die Bundesregierung im Wesentlichen drei
Verhandlungsziele verfolgt.

Erstens soll die Pflichtmitgliedschaft in dem neuen
Sicherungssystem aufgehoben werden, sofern es in den
einzelnen Ländern Sicherungssysteme gibt, die besser
als die angebotenen sind. Das heißt, dass die Ausnahme-
regelung für institutsbezogene Sicherungssysteme beste-
hen bleiben soll; wir wollen dies für Deutschland erhal-
ten.

Zweitens wollen wir, dass freiwillige Einlagensiche-
rungssysteme erhalten bleiben und vom Anwendungsbe-
reich der Richtlinie ausgenommen werden können.

Das dritte Hauptziel des Entschließungsantrags der
SPD ist, dass keine Obergrenzen mit maximalen De-
ckungssummen festgelegt werden sollen; denn das ist
nicht nur wettbewerbsfeindlich, sondern schadet auch
dem einzelnen Einleger. Wettbewerb darf ja nicht so be-
grenzt werden, dass man sagt: Wenn jemand etwas Bes-
seres anbietet, verbieten wir das und schaffen so Wettbe-
werbsgleichheit. Dann müssten wir auch bei anderen
Gütern auf qualitativ schlechtere zusteuern, um die Wett-
bewerbsgleichheit zu bewahren. Das würde gar keinen
Sinn haben und wäre für Europa auch nicht zielführend.
Deshalb sagen wir: Keine Beschränkungen für ein höhe-
res Schutzniveau! Das haben unsere Bürger verdient. Ich
glaube, es ist gut, dass wir hier an einem Strang ziehen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706514800

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1706514900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Lieber Herr Binding, Sie haben gerade bemän-
gelt, dass wir nicht klar Stellung beziehen. Genau das
tun wir aber heute, und das schließt Verhandlungen bei
weitem nicht aus.

Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht, und gut
gemeint ist die Neufassung der EU-Richtlinie ganz si-
cher. Für die FDP-Fraktion kann ich ganz klar feststel-
len: Das Ziel der Europäischen Kommission, eine Min-
desteinlagensicherung für Banken europaweit einheitlich
zu regeln, ist richtig. Das Ziel, einen europaweit ver-
gleichbaren Schutzrahmen für Bankkunden zu schaffen
und die Schwachstellen in den bestehenden Einlagen-
sicherungssystemen zu beseitigen, ist auch richtig. Das
ist wichtig, um verloren gegangenes Vertrauen in Ban-
ken und Finanzmärkte wieder herzustellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deshalb begrüßen wir diesen Vorstoß der EU-Kommis-
sion im Grundsatz.

Wir kritisieren allerdings, dass aus deutscher Sicht
dabei das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet wird. Der
jetzt vorliegende Entwurf ist zu detailliert, ja detailver-
liebt; er reicht vom Deckungsumfang bis zu Einzah-
lungsmodalitäten und Auszahlungsfristen. Sinnvoller
wäre, auf europäischer Ebene Mindeststandards für die
Einlagensicherung zu definieren, die konkrete Ausge-
staltung jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten zu über-
lassen. Statt sich auf die Schaffung der notwendigen
Rahmenbedingungen zu beschränken, werden bis ins
Kleinste Festlegungen getroffen, die für einzelne Banken
– vor allem im anglo-amerikanischen Bankensystem –
gut sein mögen, aber eben nicht für alle Banken im EU-
Raum. Die Besonderheiten des dreisäuligen Bankensys-
tems – da sind wir uns ja alle einig – werden in keinster
Weise berücksichtigt. Im Gegenteil: Die bisherige Aus-
nahmeregelung, die Banken mit institutsbezogenen Si-
cherungssystemen von der Pflichtmitgliedschaft in ei-
nem EU-weiten gesetzlichen Einlagensicherungssystem
befreit, soll jetzt gestrichen werden. Zusätzlich wird eine
Obergrenze für gesetzliche Einlagensicherungen einge-
zogen.

Das will keiner von uns. Das ist für das deutsche Sys-
tem hochproblematisch und trifft gerade unsere Spar-
kassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken. Die stabili-
sierende Wirkung des deutschen Modells hat sich in der
Finanzmarktkrise bewährt. Diese Institute schützen be-
reits seit Jahrzehnten ihre Mitglieder innerhalb des eige-
nen Verbundes vor Insolvenz, ohne auf die Steuerzahler
zurückzugreifen, und schützen damit auch die Einlagen
ihrer Kunden vor Verlust. Die Einlagensicherung deut-
scher Institute geht weit über die vorgeschlagene Haf-
tungsgarantie der EU über 100 000 Euro für Privatkun-
den hinaus.

Die Umsetzung dieser Richtlinie, wie sie heute vor-
liegt, hätte für Deutschland zwei gravierende Auswir-
kungen: Erstens müssten die deutschen Institute in ein
paralleles System einzahlen, was mit deutlich höheren
Kosten verbunden wäre, und das, obwohl sie das Klas-
senziel schon längst erreicht, ja sogar überschritten ha-
ben. Zweitens würde unser hohes Sicherungsniveau
hierzulande auf einen niedrigeren EU-Standard abge-
senkt. Beides ist für die christlich-liberale Koalition
nicht akzeptabel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir brauchen keine maximale Harmonisierung der
Einlagensicherungssysteme, wir brauchen maximale Si-
cherheit für die Einlagen der Kunden. Der vorliegende
Vorschlag der Europäischen Kommission verstößt nach
Auffassung der Koalitionsfraktionen gegen die in Art. 5
des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft nie-
dergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Ver-
hältnismäßigkeit.

Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet: Die EU darf ein
Gesetz nur erlassen, wenn die Mitgliedstaaten selbst des-
sen Ziel nicht ausreichend verwirklichen können. Der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass die EU





Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)

nicht stärker als nötig eingreifen darf, um dieses Ziel zu
erreichen. Beides wird hier nicht eingehalten.

Insbesondere die weitreichenden Vorschläge zur Fi-
nanzierung der Einlagensicherungssysteme und zur Bei-
tragsbemessung stehen wegen ihres Umfangs und ihrer
Intensität in keinem Verhältnis. Um die Schwachstellen
der bestehenden Einlagensicherungssysteme der Mit-
gliedstaaten zu beseitigen und die Vorzüge des Binnen-
marktes für Finanzdienstleistungen auf europäischer
Ebene sicherzustellen, ist eine Vollharmonisierung nicht
erforderlich. In vielen Mitgliedstaaten bestehen bereits
funktionierende Sicherungssysteme. Eine zusätzliche
Einlagensicherung würde die Sicherheit der Anleger in
Deutschland in keiner Weise erhöhen, aber die Wettbe-
werbsbedingungen für Sparkassen und Genossenschafts-
banken massiv einschränken. Dies ist mit den Grundsät-
zen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht
zu vereinbaren.

Wenn ich mir die vorliegenden Anträge von SPD und
Grünen sowie die Stellungnahme des Bundesrates an-
schaue, stelle ich fest: Wir sind inhaltlich nah beieinander.
Wir sind uns einig, dass die Vorschläge, die auf europäi-
scher Ebene gemacht wurden, erhebliche Auswirkungen
auf den gesamten Bankensektor in Deutschland haben
werden, die in dieser Form nicht akzeptabel sind, da hier-
mit nachteilige Eingriffe in bestehende Strukturen der Fi-
nanzwirtschaft verbunden sind. Doch wie vertreten wir
die Belange Deutschlands gegenüber der EU? Geben wir
nur den Hinweis: „Ihr macht da etwas, was wir nicht so
gut finden“, oder sagen wir: „Stopp, wir wollen das
nicht“?

Die Koalition hat sich entschlossen, das Kind beim
Namen zu nennen. Deshalb strengt die Koalition eine
Subsidiaritätsrüge an. Das ist ein starkes Signal an Brüs-
sel, das dafür sorgen soll, dass die deutsche Position klar
und deutlich wahrgenommen wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Frankreich beurteilt das genauso, Schweden hat sich
gestern in diesem Sinne entschieden, und Österreich und
Italien prüfen diese Frage gerade. Wir stehen also nicht
allein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706515000

Der Kollege Richard Pitterle hat jetzt das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706515100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Anlass der heutigen Diskussion ist der
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates über Einlagensicherungssysteme.
Sein Inhalt wurde im Wesentlichen schon wiedergegeben:
Alle Kreditinstitute in Europa sollen gesetzlich verpflich-
tet werden, einem Einlagensicherungssystem anzugehö-
ren, und die bisherige Freistellung der Institutssicherung
der Genossenschaftsbanken und Sparkassen soll aufgeho-
ben werden. Auch wenn wir das Vorhaben, die Bürger
davor zu schützen, ihre Ersparnisse auf der Bank zu ver-
lieren, begrüßen, halten wir dieses Vorhaben für den fal-
schen Weg. Ich glaube, in diesem Punkt sind sich alle
Fraktionen im Bundestag einig.

Wir Linke kritisieren die Nivellierung, die dieser Vor-
schlag mit sich bringen würde. Es ist von einer Maxi-
malsicherung in Höhe von 100 000 Euro pro Anleger die
Rede. Man mag sagen, 100 000 Euro seien viel Geld.
Aber einem Bürger, der, beispielsweise für den Erwerb
einer Eigentumswohnung, 200 000 Euro gespart und
dieses Geld bei einer Bank angelegt hat, würden, wenn
diese Bank pleitegeht, in Zukunft nur noch 100 000 Euro
erstattet werden. Dadurch würde er im Vergleich zur jet-
zigen Situation, mit der Institutssicherung der Sparkas-
sen und Genossenschaftsbanken, schlechter gestellt.

Wir sind der Meinung, dass der vorliegende Vor-
schlag nicht zur Bankenrealität in Deutschland passt. Ich
habe meinen Vorrednern zugehört: Es besteht Einigkeit
darin, dass ein Handeln auf EU-Ebene nicht erforderlich
ist und sogar das Subsidiaritätsprinzip verletzt, wonach
all das, was vor Ort geregelt werden kann, nicht europa-
weit zu regeln ist.

Wir werden dem Koalitionsantrag unsere Zustim-
mung geben, insbesondere auch der Subsidiaritätsrüge,
weil wir finden, dass die Subsidiaritätsrüge ein wichtiges
Signal des Bundestags ist, dass wir die in der Krise er-
probten Institutssicherungssysteme der Sparkassen und
Genossenschaftsbanken nicht gefährdet sehen wollen.

Sie mag vielleicht die Unterstützung der Linken für
Ihren Antrag überraschen; aber im Gegensatz zu Ihnen
machen wir unsere Abstimmung vom Inhalt abhängig
und nicht von der Urheberschaft der Partei.


(Beifall bei der LINKEN)


Das unterscheidet uns von Ihnen. Sie würden eher be-
haupten, dass die Erde eine Scheibe sei, wenn die Linke
etwas Gegenteiliges in einen Antrag schreiben würde.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Dass die Erde eine Scheibe ist, behaupten Sie!)


Aber das ist kein seriöses Politikverständnis.

Ich muss aber sehr deutlich sagen: Es gibt sehr wohl
Handlungsbedarf beim Thema Einlagensicherung jen-
seits der Genossenschaftsbanken und der Sparkassen.
Wenn man sich den Fall HRE anschaut, merkt man, dass
da nicht alles in Butter ist, wie Sie es hier dargestellt ha-
ben. Ich muss Sie fragen: Warum handeln Sie nicht end-
lich? Wenn Sie sagen, es brauche diesen Vorschlag von
der Europäischen Union nicht, dann müssten Sie hier
endlich handeln. Ich habe Ihren Reden eben gut zugehört
und nichts dazu vernommen, was Sie machen wollen,
um die Einlagensicherung in Deutschland jenseits von
Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu verbessern.

Im Ausschuss wurden von den anderen Oppositions-
fraktionen Bedenken gegen die Subsidiaritätsrüge erho-
ben. Es wurde gesagt, wir erreichten vielleicht nicht das
Quorum. Man braucht ein Drittel der Parlamente, die das





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)

Quorum bilden. Es wurde gesagt, es sei besser, Gesprä-
che zu führen. Nun muss man sagen: Die Subsidiaritäts-
rüge ist eher ein politisches als ein rechtliches Instru-
ment. Sie ist auch nicht, wie hier gesagt wurde, das
schärfste Schwert; denn es gibt noch die Subsidiaritäts-
klage. Wir wissen nicht, ob das Quorum erreicht wird.
Die Parlamente einiger Staaten haben sich schon ange-
schlossen; das ist bereits gesagt worden. Aber wichtig
ist, dass durch die Subsidiaritätsrüge eine öffentliche
Aufmerksamkeit erzielt wird, die vielleicht auch andere
Parlamente motiviert, sich damit auseinanderzusetzen
und ihre Beteiligungsmöglichkeiten wahrzunehmen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Genau!)


Das heißt, das Reden mit dem zuständigen Kommis-
sar oder mit dem EU-Ausschuss ist keine Alternative zur
Subsidiaritätsrüge. Man kann sowohl öffentlich rügen
als auch das Gespräch suchen. Zu beidem fordern wir
die Bundesregierung auf.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706515200

Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen das Wort.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706515300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Eines sage ich gleich vorneweg und zur Sicher-
heit: Auch wir Grünen kämpfen für das erfolgreiche Mo-
dell der Institutssicherung bei regional operierenden
Sparkassen und Genossenschaftsbanken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Wir wollen, dass regional operierende Institute, Sparkas-
sen, Volksbanken und Raiffeisenbanken, das erfolgreiche
Modell ihrer Institutssicherung behalten dürfen. Dafür
streiten wir mit unserem Antrag, einer Stellungnahme
nach Art. 23.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen aber auch, dass dieses Haus daraus lernt,
welche Milliardenspritzen es zur Rettung von Privatban-
ken in den letzten Jahren aufwenden musste. Nicht zu-
letzt die Rettung der Hypo Real Estate, die uns immer
noch beschäftigt, hat doch gezeigt, dass der Einlagensi-
cherungsfonds der Privatbanken eben nicht in der Lage
war, einzuspringen, sodass wir mit Steuergeldern ein-
springen mussten. Deswegen unterschlagen Sie in der
Debatte, dass die Großbanken vom vergleichsweise ho-
hen Sicherungsniveau in Deutschland auch im europäi-
schen Wettbewerb profitieren. Die geschützten Einlagen
sind eine sehr günstige Art, um eine Refinanzierung zu
gewährleisten. Das Risiko tragen am Ende aber doch die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Somit – ich wende mich auch an Sie, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen von der Linkspartei – schützen Sie
nicht nur das richtige Ansinnen, regionale öffentlich-
rechtliche oder genossenschaftliche Institute zu schüt-
zen, sondern Sie schützen auch den Wettbewerbsvorteil
der großen kapitalistischen deutschen Banken. Das ver-
stehe ich nicht. Ich finde das schade; ich finde das ärger-
lich.

Jetzt kommen wir aber zu einer neuen Qualität dieser
Debatte. Sie wollen rügen. Der Kollege hat gesagt – ich
habe das mitgeschrieben –: Es kann nicht sein, dass
Brüssel in Bereiche eingreift, für die es nicht zuständig
ist. – Ich halte das nicht für klug. Ich habe ziemlich
große Zweifel, ob das Prinzip der Subsidiarität und auch
das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hier herangezogen
werden können. Ich halte es sogar für fahrlässig, dieses
Instrument gerade jetzt zum ersten Mal zu nutzen, wo
aus meiner Sicht alles auf sehr wackeligen Beinen steht.
Dies ist der falsche Sachverhalt, um das Schwert der
Rüge zu benutzen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass Sie diesen Fall jetzt auch noch zum Exempel auf-
motzen, nutzt nicht den Rechten dieses Hauses, sondern
damit schaden Sie den Rechten dieses Hauses.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Aumer [CDU/CSU]: Es geht ja um die Sache!)


– Sie, Herr Kollege Aumer, kommen mit einer Anti-
Brüssel-Rhetorik daher.


(Peter Aumer [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht! Da haben Sie nicht aufgepasst!)


Ich kann Ihnen mit einer Düsseldorfer Rhetorik von
Heinrich Heine entgegnen:

Nur Narren wollen gefallen; der Starke will seine
Gedanken geltend machen.

Ich glaube, es ist wichtiger, dass Sie die inhaltlichen
Bedenken, die Sie zu großen Teilen mit uns teilen, gel-
tend machen und sich hier nicht auf den Pfad begeben,
wo die Europäische Kommission mit Begriffen wie
„Wettbewerb“, „Wettbewerbsvorteil“ und „Verwirkli-
chung des Binnenmarktes“ klar darstellen kann, was ihre
Position ist und wo die Rechtsposition der Koalition un-
sicher ist. Ich halte es auch für komisch, den Wettbe-
werbsvorteil deutscher Banken, vor allem der Großban-
ken, mit der Subsidiarität zu begründen. Sowohl unser
Anliegen, regional operierende Sparkassen und Genos-
senschaftsbanken zu schützen, als auch Ihr Anliegen, die
Großbanken mit hineinzunehmen, sind inhaltliche An-
liegen. Diese vertritt man nicht per Rüge, sondern per
Stellungnahme.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch wir wollen den Entwurf der Europäischen
Kommission verändern. Subsidiarität ist das falsche Ar-
gument. Wenn Sie hier die Rüge beschließen, dann sind
Sie nicht stark, sondern eher das Gegenbeispiel im Ge-
dicht von Heinrich Heine.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706515400

Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1706515500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier irr-
lichtert, das werden wir am Schluss dieser Sitzung und
in den nächsten Monaten noch feststellen.

Was mich an den Argumenten der SPD und der Grü-
nen wundert, ist Folgendes: Sie ziehen hier eine inhaltli-
che Debatte vor. Wir alle haben hier offensichtlich die-
selbe Meinung. Das ist richtig, und das finde ich auch
gut so. Das ist ein deutliches Signal des Deutschen Bun-
destages, dass das bewährte System der deutschen Spar-
kassen und Volksbanken richtig ist. Es hat sich auch in
der Krise bewährt, es ist bürgerfreundlich, und das wol-
len wir von Brüssel aus nicht schädigen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind heute aber hier, um innerhalb der Frist, die uns
durch den Lissabon-Vertrag vorgegeben wird, zu prüfen,
ob diese Regelungsvorschläge der Europäischen Kom-
mission gegen den fundamentalen europäischen Grund-
satz der Subsidiarität verstoßen. Dazu höre ich von SPD
und Grünen gar nichts, außer der Aussage: Nein, das
verstößt nicht dagegen. – Besser wäre es gewesen, wenn
Sie einmal begründet hätten, warum die Europäische
Union dies Ihrer Meinung nach so regeln kann.

Ich werde Ihnen jetzt beweisen – selbst in der kurzen
Zeit, die ich habe –, dass die Europäische Kommission
mit ihren Vorschlägen ganz klar gegen das Subsidiari-
tätsprinzip verstößt.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört!)


Beim Subsidiaritätsprinzip – das ist natürlich etwas
kompliziert, wenn man das erste Mal davon hört; so
schwer ist es dann aber doch nicht zu verstehen – haben
wir drei Aspekte zu prüfen.

Erstens. Wenn die Europäische Union in ganz Europa
mit seinen 500 Millionen Einwohnern etwas regeln will,
dann kann sie dies nur – das ist die erste Prüfung –, wenn
sie gemäß den europäischen Verträgen das Recht dazu
hat. Bei der Einlagensicherung ist dies unbestritten; das
geht aus Art. 53 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeits-
weise der Europäischen Union hervor. Das heißt, die Eu-
ropäische Union kann das regeln. Das wäre also grund-
sätzlich okay.

Zweitens. Auch wenn die Europäische Union das re-
geln kann, muss sie es nicht unbedingt; denn sie darf es
nur, wenn eine europäische Regelung die einzig mögli-
che Garantie dafür ist, dass es einen vergleichbaren
Schutz in ganz Europa für alle Bürger gibt, und wenn
nur Europa das regeln kann.

Diese Frage ist im Grundsatz auch positiv beantwor-
tet worden. Auch dies stimmt. Denn in einem freien Bin-
nenmarkt muss man vergleichbare Mindestregeln schaf-
fen, die in ganz Europa gelten, um sicherzustellen, dass
Bankkunden in ganz Europa einen vergleichbaren Min-
destschutz haben, den es bisher nicht in ausreichendem
Maße gibt.

Es gibt im Übrigen seit 1994 eine Einlagensiche-
rungsrichtlinie der Europäischen Union. Sie ist im Rah-
men der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 verschärft
worden – das war notwendig –, und sie wird jetzt noch
einmal geändert.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist aber keine Mindestregel, sondern eine Höchstregel! Das ist ein wichtiger Unterschied!)


Das ist grundsätzlich richtig.

Wenn die Europäische Union tätig werden muss – da-
mit komme ich zum nächsten Punkt –, bedeutet das aber,
dass es einen europäischen Mehrwert geben muss, es also
für die Menschen in Europa besser werden muss. An die-
ser Stelle frage ich Sie: Wo wird es mit dem Richtlinien-
vorschlag besser, wenn in Zukunft sich diese Rechtset-
zung durchsetzt und unsere Sparkassen und Volksbanken
in einen Sicherungsfonds einzahlen müssen, obwohl es
ganz sicher ist, dass sie diesen Fonds niemals in Anspruch
nehmen müssen? Das ist so ähnlich, als wenn wir in
Deutschland ein Gesetz machen würden, mit dem wir alle
Menschen vom Säugling bis zum Greis verpflichten wür-
den, eine Autohaftpflichtversicherung abzuschließen,
egal ob sie ein Auto oder eine Fahrerlaubnis haben. Die
Versicherungen würden sich freuen, aber die Regelung
wäre falsch.

Die Europäische Union geht hier über ihre Regelungs-
kompetenz hinaus. Denn sie verschlechtert die Wettbe-
werbsfähigkeit eines nachhaltig funktionierenden Ban-
kensystems der Volksbanken und Sparkassen. Es wird
schlechter und nicht besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706515600

Herr Stübgen, hätten Sie Freude an einer Zwischen-

frage des Kollegen Sarrazin?


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1706515700

An Zwischenfragen des Herrn Kollegen Sarrazin

habe ich immer sehr große Freude.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706515800

Bitte schön.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706515900

Herr Kollege Stübgen, was die regional operierenden

Volksbanken, Raiffeisenbanken und Sparkassen angeht,
sind wir beieinander. Ich möchte aber doch nachfragen.
Sie haben den europäischen Mehrwert infrage gestellt.
Glauben Sie vor dem Hintergrund, dass die Kommission
zur Verwirklichung des Binnenmarkts eine wettbewerbs-
verzerrende Situation aufgrund des deutschen Einlagen-
sicherungssystems bei den Privatbanken mit einem ge-
meinsamen Maximalsatz beseitigen möchte, nicht, dass
die Subsidiaritätsrüge nicht angemessen ist, weil Ihnen





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

die Kommission darlegen wird, dass Ihre Argumentation
nicht schlüssig ist?


Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1706516000

Vielen Dank. Denn diesen Punkt wollte ich als Nächs-

tes ausführen. Jetzt kann ich ihn in der zusätzlichen Re-
dezeit zur Beantwortung der Frage aufgreifen. Sie haben
recht – darauf wollte ich noch kommen –: Es trifft zu,
dass die Europäische Kommission von dem bisherigen
Grundsatz abgeht, Mindestsicherungsniveaus zu schaf-
fen. Damit sind wir in Europa bisher immer gut zurecht-
gekommen. Stattdessen kommt sie jetzt auch zu einem
Höchstsicherungsniveau. Sie argumentiert damit, dass
das sein müsse. Dabei ist es ein massiver Einschnitt,
wenn man plötzlich zur Höchstsicherung kommt. Sie
sagt, dass das nötig sei, weil es im Zuge der Finanzkrise
Verschiebungen von Sparguthaben und Einlagen zum
Beispiel zu den Sparkassen und Volks- und Raiffeisen-
banken gab. Das hat aber doch wohl etwas damit zu tun,
dass die Menschen nicht nur in Deutschland Vertrauen in
dieses bewährte System haben. – Ich bin noch bei der
Antwort, Herr Sarrazin.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, Sie kommen später dazu!)


– Nein, das ist noch die Antwort. Es war ja eine umfäng-
liche Frage.

Wenn die Europäische Kommission in der Replik da-
rauf, dass es in der Tat in Europa Bankensysteme gibt,
die besser sind und bei den Menschen mehr Vertrauen
erzeugen, auf die Idee kommt, diese Systeme zu zwin-
gen, schlechter zu werden bzw. Mittelmaß wie überall,
dann kann das nicht der richtige Weg sein. Das ist meine
Antwort darauf. Die Kommission geht weiter, als es ihre
Aufgabe ist. Das ist kein europäischer Mehrwert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Subsidiaritätsfrage! Das ist eine inhaltliche Frage!)


Ich komme aber zu einem weiteren Punkt. Dieses
Thema haben vor allen Dingen der Bundesrat in seiner
Stellungnahme und der federführende Finanzausschuss
gerügt. Wir haben in unserer Stellungnahme des Europa-
ausschusses ein anderes Thema, nämlich das dritte
Prüfraster, genau untersucht und sind zu dem Ergebnis
gekommen, dass auch das auf jeden Fall ein klarer Ver-
stoß der Europäischen Kommission gegen die Subsidia-
ritätsgrundsätze ist. Es geht dabei um die Frage der
Verhältnismäßigkeit, die im Amsterdamer Subsidiari-
tätsprotokoll eindeutig geregelt ist, und was auch heute
noch im Lissabon-Vertrag eindeutig so weitergilt.

Was heißt Verhältnismäßigkeit? Das bedeutet die Ver-
pflichtung der Europäischen Union, wenn sie zu Rege-
lungen kommt, die notwendig, nützlich und erlaubt sind,
zur Erreichung des Ziels mildeste Mittel anzuwenden.
Damit kommen wir zur Wir-Frage.

Die Kommission neigt gerne dazu, wenn es etwas zu
regeln gibt, zum Instrument der Vollharmonisierung zu
greifen. Das heißt Gleichschaltung von ganz Europa,
zwischen Nordkap und Sizilien, zwischen Schwarzmeer
und Atlantik. Überall muss alles gleich sein. Dann wäre
alles gut. Ich sage Ihnen: Unsere Überzeugung ist, dass
das nicht der richtige Weg ist. Es ist gut, dass es Unter-
schiede in Europa gibt. Die Europäische Kommission
bewirkt durch die Gleichschaltung eine Schwächung be-
währter Systeme. Dadurch, dass zusätzlich gezahlt wer-
den muss, kommt das bewährte System der Sparkassen
und Raiffeisenbanken im Prinzip schlecht weg. Es wird
also im Wettbewerb beschädigt.

Das verstößt eindeutig gegen das Verhältnismäßig-
keitsprinzip. Denn es ist eine klare Vorgabe: Wenn es im
Vergleich zur Vollharmonisierung ein gleich wirksames
milderes Mittel gibt, dann ist diesem in jedem Fall der
Vorzug zu geben. Das gleich wirksame mildere Mittel ist
ganz eindeutig eine Verschärfung der Mindestnorm. Wir
finden es richtig, dass in Zukunft statt 50 000 Euro
100 000 Euro pro Einlage gesichert werden sollen. Der
Vorschlag der Europäischen Kommission ist richtig,
Banken, die keinem starken, wirksamen Sicherungsme-
chanismus angehören, zu verpflichten, in einen zu schaf-
fenden Sicherungsmechanismus einzuzahlen. Aber es
gehört auch dazu, dass bewährte Sicherungssysteme, wie
sie unsere Sparkassen und Volksbanken, die seit Jahr-
zehnten jeder Krise trotzen, haben, wie bisher als voll-
wertig anerkannt werden. Das ist das mildere Mittel. Das
hätte die Kommission vorschlagen müssen. Da sie das
nicht getan hat und zur Vollharmonisierung greift, ver-
stößt sie eindeutig gegen das Subsidiaritätsprinzip.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706516100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Vorschlag
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über Einlagensicherungssysteme. Eine persönliche
Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung liegt vom
Kollegen Luksic vor.1)

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3239, in Kenntnis der Unter-
richtung eine Entschließung gemäß Protokoll Nr. 2 zum
Vertrag von Lissabon in Verbindung mit § 11 des Inte-
grationsverantwortungsgesetzes anzunehmen. Es han-
delt sich um eine Subsidiaritätsrüge. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung an-
genommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und die
Fraktion Die Linke. Dagegen haben gestimmt SPD und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen gab es keine.

Wir stimmen über den Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3240 ab. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Frak-

1) Anlage 3





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

tion. CDU/CSU und FDP haben dagegengestimmt.
Bündnis 90/Die Grünen und Linke haben sich enthalten.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3191
mit dem Titel „Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale
Sicherungssysteme als Modell für Europa“. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist ebenso abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringende Fraktion. Dagegen haben die Koali-
tionsfraktionen gestimmt. SPD und Linke haben sich
enthalten.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvor-
ständen reformieren

– Drucksachen 17/798, 17/1075 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Dr. Gerhard Schick

Vorgesehen ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für
die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ralph Brinkhaus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1706516200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-

raten heute über einen Antrag der Grünen, die die Aus-
wahl der Bundesbankvorstände reformieren möchten.
Wie läuft das bisher? Bisher ist es so, dass der Bundes-
präsident einen Bundesbankvorstand bestellt, dass der
Präsident und der Vizepräsident der Deutschen Bundes-
bank sowie ein einfaches Mitglied auf Vorschlag der
Bundesregierung bestellt werden und dass drei weitere
Vorstände auf Vorschlag des Bundesrates bestellt wer-
den. Alle sechs müssen fachlich geeignet sein, eine sol-
che Position zu bekleiden.

Wenn ich dieses Verfahren reformieren möchte, dann
muss ich Gründe dafür haben. Ein Grund könnte darin
liegen, dass ich mit den Ergebnissen dieses Verfahrens
nicht zufrieden bin.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich sage nur: Sarrazin!)


Ein zweiter Grund könnte sein, dass ich ein besseres
Verfahren habe. Fangen wir mal einfach mit den Ergeb-
nissen dieses Verfahrens an. Warum könnte ich denn
vielleicht nicht zufrieden sein? Zum Beispiel, wenn der
von diesem Vorstand, der so bestellt worden ist, geleitete
Apparat, das Institut der Bundesbank, schlecht arbeitet.
Ich glaube, wir können uns nicht über die Qualität der
Arbeit der Bundesbank beklagen. Die Bundesbank ist
für die Preisstabilität und den Zahlungsverkehr verant-
wortlich. Sie hütet unsere Währungsreserven und vertritt
unsere Interessen auf europäischer Ebene. Ich denke, das
läuft hervorragend. Das ist in der Vergangenheit – teil-
weise unter erschwerten Bedingungen – hervorragend
gelaufen.


(Beifall bei der FDP)


Die Bundesbank hat die Währungsunion mit der ehema-
ligen DDR organisiert. Sie hat die Euro-Einführung or-
ganisiert. Das alles ist gut gelaufen. Sie ist dabei poli-
tisch immer unabhängig geblieben. Auch das war nicht
immer so einfach. Da sind insbesondere von einer Seite
dieses Parlamentes einige Ansprüche gestellt worden.
Also, damit sind wir zufrieden.

Aber vielleicht geht es um die Qualität der handeln-
den Personen, der Vorstände der Bundesbank. Da gab es
sicherlich in der Vergangenheit das eine oder andere Ge-
spräch, die eine oder andere Diskussion; aber ganz gene-
rell ist es doch so, dass die Qualität der Bundesbank-
vorstände in der Vergangenheit hervorragend war. Wir
hatten beeindruckende Zentralbankpersönlichkeiten, die
an der Spitze der Bundesbank gestanden haben.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Insofern halte ich es schon für sehr, sehr gewagt, in die-
sem Antrag die Qualität des Bundesbankvorstandes pau-
schal zu diskreditieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die aktuellen Vorstände sind ein gutes Team. Sie sind
gut zusammengesetzt und machen eine gute Arbeit. Wir
haben heute einen weiteren Vorschlag bekommen. Die-
ser Vorschlag wird dazu beitragen, dass die Qualität
noch weiter steigen wird.

Ein dritter Punkt, warum ich nicht zufrieden bin,
könnte sein, dass ich sage: Na ja, die sind von einer Regie-
rung, vom Bundesrat ins Rennen geschickt worden, viel-
leicht ist es so, dass die dann parteipolitisch handeln. – Ich
glaube, das ist gerade nicht der Fall gewesen. Die Bun-
desbankvorstände waren immer zwei Prinzipien ver-
pflichtet: der Preisstabilität und auch der Marktwirt-
schaft. Das hat ganz hervorragend geklappt. Wenn man
natürlich Preisstabilität und Marktwirtschaft als partei-
politisch betrachtet, dann mag es so sein, dass die Bun-
desbankvorstände parteipolitisch gehandelt haben.

Ich fasse das zusammen. Die Ergebnisse des bisheri-
gen Verfahrens waren so schlecht nicht. Das kann ei-
gentlich nicht die Ursache dafür sein, dass man es än-
dern möchte.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Zweiter Punkt. Vielleicht haben Sie ja ein besseres
Verfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
nen.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht im Antrag!)


Das Verfahren – um es kurz vorzustellen – beginnt da-
mit, dass man eine öffentliche Ausschreibung macht,





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

dass in einem zweiten Schritt die Bundesregierung vor-
sortiert, in einem dritten Schritt der Finanzausschuss mit
den verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten eine
Anhörung macht und in einem vierten Schritt dann das
Parlament ohne Beteiligung des Bundesrates die entspre-
chenden Vorstände wählt.

Fangen wir mit der öffentlichen Ausschreibung an.
Dahinter steht der Gedanke, dass man bessere und quali-
fiziertere Kandidaten bekommt, als das vielleicht in der
Vergangenheit der Fall war. Wenn wir das jetzt vom Fall
der Bundesbank abstrahieren, dann ist es durchaus ein
ehrenwertes, ja geradezu ein notwendiges Ansinnen,
dass wir darauf achten, dass die Qualität und die fachli-
che Expertise der Menschen, die für uns in Spitzenposi-
tionen in Verwaltung und Politik arbeiten, gut ist. Das ist
überhaupt keine Frage.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Ob das durch eine öffentliche Ausschreibung garantiert
wird, wage ich zu bezweifeln; denn wer so ein bisschen
in die Landschaft hineinschaut, der weiß, dass Spitzen-
positionen eigentlich weniger durch öffentliche Aus-
schreibungen, sondern mehr durch Direktansprache be-
setzt werden. Insofern ist da der eine oder andere
Zweifel angebracht.

Ich denke, wir müssen viel, viel mehr darauf achten
– das gilt eigentlich für alle Bereiche –, dass wir einen
größeren Wechsel, einen größeren Austausch zwischen
Wirtschaft und Wissenschaft auf der einen Seite sowie
Politik und Verwaltung auf der anderen Seite haben. Und
das funktioniert in Deutschland – insofern ist der An-
spruch dieses Antrages vielleicht nicht ganz falsch –
noch nicht gut genug. Wir brauchen mehr Austausch.
Dafür müssen wir aber auch arbeiten. Wir müssen näm-
lich daran arbeiten, dass wir den Menschen, die dann
beispielsweise aus der Wirtschaft in Spitzenpositionen
der Politik und der Verwaltung wechseln, auch ein ent-
sprechendes Umfeld geben. Viele scheuen sich, weil sie
sich einfach sagen: Das tue ich mir doch nicht an, mich
so öffentlich zu exponieren, mich für jede Kleinigkeit
beschimpfen zu lassen. – Insofern müssen wir da einige
Hausaufgaben machen. Wir könnten jetzt noch über Be-
zahlung und ähnliche Dinge reden. Insofern: Öffentliche
Ausschreibung reicht da nicht. Der Anspruch, dass wir
gute Leute gewinnen müssen, ist in Ordnung und richtig.

Zweiter Schritt ist, dass die Bundesregierung eine
Vorauswahl treffen soll. Das wundert mich jetzt ein biss-
chen. Ich finde es ja gut in der Konsequenz, aber Sie ha-
ben in Ihrem Antrag der Bundesregierung eigentlich
abgesprochen, dass sie eine vernünftige Auswahl ma-
chen kann. Jetzt sagen Sie, sie soll vorsortieren. Das
passt nicht ganz zusammen.

Der dritte Schritt ist sehr, sehr interessant, meine Da-
men und Herren: öffentliche Anhörung im Finanzaus-
schuss. Ich stelle mir vor, wie das Ganze laufen wird.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gängige Praxis in Großbritannien!)


Die erste Frage, die sich bezüglich solcher öffentli-
chen Anhörungen stellt: Inwieweit ist gesichert, dass die
Mitglieder des Finanzausschusses über die entspre-
chende Expertise verfügen, das Ganze überhaupt beur-
teilen zu können? Sie schreiben in Ihrem Antrag: Ein
Bundesbankvorstand muss ein guter Geldpolitiker sein.
Geldpolitische Expertise im Finanzausschuss ist sicher-
lich bei dem einen oder anderen gegeben. Außerdem soll
ein Bundesbankvorstand führen und organisieren kön-
nen. Ob so viele Mitglieder des Bundestages die Exper-
tise mitbringen, dass sie tatsächlich schon einmal geführt
oder organisiert haben, das wage ich bei dem einen oder
anderen zu bezweifeln. Darüber hinaus soll ein Bundes-
bankvorstand internationale Erfahrung besitzen; das
spielt auch immer eine große Rolle. Wir können uns ja
einmal unsere Biografien anschauen und dann sagen,
wer internationale Erfahrungen hat. Ich muss sagen: Po-
litisch können wir die ganze Sache sicherlich gut ein-
schätzen; aber an der einen oder anderen Stelle sollten
wir doch ein bisschen mehr Demut walten lassen, was
unsere tatsächlichen Fähigkeiten angeht.

Die zweite Frage, die sich bezüglich solcher öffentli-
chen Anhörungen stellt: Wie wird das Ganze ablaufen?
Ich kann es Ihnen prophezeien. Es wird so ablaufen: Die
Koalitionsfraktionen werden die Kandidaten, die die
Regierung ausgewählt hat, verteidigen. Die Opposition
wird sich einen Spaß daraus machen, zu versuchen, diese
Kandidaten auf das Glatteis zu führen, nicht unbedingt
aus fachlichen Gründen, sondern ganz einfach funktio-
nal, um der Regierung zu schaden.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir machen es objektiv!)


Insofern frage ich mich: Wer von den Spitzenkräften
wird sich dieses öffentliche Tribunal antun? Ich habe
Zweifel, dass das funktionieren wird.

Vierter Schritt: Der Bundestag entscheidet. Ich frage
mich: Hat der Bundestag dann eine andere Mehrheit als
die jeweilige Regierung? Wahrscheinlich nicht. Insofern
ist also auch da eine gewisse Inkonsequenz enthalten.
Ganz entscheidend dabei ist: Im letzten Satz der An-
tragsbegründung wird kurz über den Bundesrat hinweg-
gewischt. Es wird gesagt: Das ist ein Relikt aus vergan-
genen Zeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, wir können sicherlich gerne und ausführlich
über unser föderales System diskutieren, dabei haben Sie
mich sicherlich an der einen oder anderen Stelle an Ihrer
Seite. Aber anlässlich der Bestellung der Bundesbank-
vorstände mit einem Federstrich das sehr austarierte Ver-
fahren, die Balance zwischen Bundesrat und Bundestag
außer Kraft setzen zu wollen, das halte ich für abenteuer-
lich. Das ist mit uns nicht zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich fasse das Ganze zusammen. Der Anspruch, mehr
Spitzenkräfte für Spitzenpositionen in Verwaltung und
Politik zu gewinnen, ist durchaus gerechtfertigt. Dass
wir dabei am Rekrutierungs- und Auswahlverfahren an-
setzen, das halte ich auch nicht für falsch, weil es ein
entscheidender Punkt ist.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein guter Ansatz!)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Das ist eine gute Sache. Dass man ausgerechnet die Bun-
desbank dafür als Beispiel nimmt, halte ich angesichts
der Qualität der Arbeit der Bundesbank doch für weit
hergeholt. Im Übrigen hat das Verfahren, das Sie da auf
den Weg bringen wollen, durchaus Schwachpunkte, wie
ich gerade erläutert habe. Was gar nicht geht, ist, dass
wir durch Ihren Vorschlag die Balance zwischen Bun-
desrat und Bundestag, zwischen Ländern und Bund aus
dem Gleichgewicht bringen.

Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Für
Diskussionen darüber, wie wir die Qualität der in Politik
und Verwaltung handelnden Personen steigern können,
sind wir gerne zu haben. Lassen Sie uns dies fortsetzen!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706516300

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1706516400

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Bei der Einführung des Euros sagte der französische
Staatsmann Jacques Delors:

Nicht alle Deutschen glauben an Gott; aber alle
glauben an die Bundesbank.

Auch das hätte letztendlich vom Kollegen Brinkhaus
kommen können. Trotzdem muss man sagen, dass in den
letzten Monaten Zweifel geäußert worden sind. Auch
hier hat die Finanzkrise Spuren hinterlassen: Es ist Kritik
geäußert worden, beispielsweise am bestehenden Aus-
wahlverfahren. Auch so manche fachliche Eignung, was
die Verantwortlichen im Finanzbereich anbelangt, ist an-
gezweifelt worden. Natürlich ist das auch an der Bun-
desbank nicht einfach so vorbeigegangen.

Wir sind sehr froh, dass der rheinland-pfälzische Mi-
nisterpräsident Beck, der zusammen mit dem saarländi-
schen Ministerpräsidenten das Vorschlagsrecht für die
Neubesetzung hat, gegenüber dem Bundesbankvorstand
gleich klargestellt hat: Fachkompetenz ist das entschei-
dende Kriterium bei dieser Besetzung. Wir glauben, dass
dies bei dem Namen, der heute über den dpa-Ticker
läuft, letztendlich der Fall ist. Es ist richtig, aktuell nicht
über das Berufungsverfahren zu diskutieren, sondern,
wie es im Antrag der Grünen vorgesehen ist, über die
Perspektiven, was dieses Berufungsverfahren anbelangt.
Wir haben auch im Finanzausschuss darüber gespro-
chen. Es ist ja nicht neu, was die Grünen hier vorlegen.
Vielmehr haben wir dies schon im Februar, März im Fi-
nanzausschuss diskutiert. Ich muss sagen, dass ich schon
ein bisschen enttäuscht bin, weil wir vonseiten der SPD
bereits im Ausschuss unsere Bedenken deutlich gemacht
haben, was das neue Verfahren anbelangt, das Sie vor-
schlagen.

Grundsätzlich müssen wir sicherlich auch darüber
diskutieren, ob es vielleicht ein besseres Verfahren, ein
optimales Verfahren gibt, das gegenüber dem jetzigen zu
bevorzugen wäre.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Änderungsvorschläge haben Sie nicht gemacht!)


Die Grundidee des Antrags ist sicherlich gar nicht so
schlecht; denn die Diskussion über die fachliche Qualifi-
kation der Verantwortlichen im Finanzbereich darf na-
türlich auch bei der Bundesbank nicht haltmachen. Für
uns ist eine gut funktionierende Bankenaufsicht ohne
Zweifel notwendig. Deswegen verschließen wir uns
grundsätzlich natürlich auch nicht verfahrenstechnischen
Neuregelungen.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorschläge haben Sie aber nicht gemacht!)


Dennoch muss man jetzt einmal auf Ihren Vorschlag
eingehen. Was mich schon ein bisschen verwundert hat
– das habe ich auch schon im Ausschuss deutlich ge-
macht –, ist, dass es in der Begründung ganz plakativ
heißt: „Kompetenz vor Parteibuch und Regionalpro-
porz“. So etwas sollten wir uns im Deutschen Bundestag
verkneifen. Wir dürfen nicht so tun, als schließe ein Par-
teibuch oder eine Mitgliedschaft in einer Partei Kompe-
tenz aus.


(Beifall bei der SPD)


So etwas kann man einfach nicht verbreiten, weil man
damit der grassierenden Parteien- und Politikverdrossen-
heit Vorschub leistet.

Jetzt schauen wir uns einmal Ihr Verfahren an – Kol-
lege Brinkhaus ist auch schon darauf eingegangen –: In
dem vierstufigen Verfahren, das Sie jetzt vorgeschlagen
haben, entscheidet de facto doch noch viel mehr der Par-
teienproporz. Zunächst einmal gibt es eine öffentliche
Ausschreibung; das mag man ja noch gutheißen. Aber
bei der Vorauswahl durch die von der Parlamentsmehr-
heit getragene Bundesregierung sind natürlich Parteien
dabei. Dieselben Parteien stellen dann auch die Mehrheit
im Finanzausschuss, in dem sich die Kandidaten und
Kandidatinnen – vielleicht gibt es auch einmal eine Kan-
didatin – vorstellen. Auch dort ist die entsprechende
Mehrheit wieder gegeben. Letztendlich soll im Plenum
des Deutschen Bundestages darüber abgestimmt werden,
wer zum Zuge kommt. Wer entscheidet denn dann da?
Es sind auch wieder die Parteien. Deswegen sind Ihr
Vorschlag und dessen Begründung überhaupt nicht stim-
mig.


(Beifall bei der SPD)


Nach unserer Auffassung wird also das Problem eher
noch verschärft, als dass es gelöst würde.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch mal eigene Vorschläge!)


An die Mitbestimmung der Bundesländer möchte ich
nicht heran, weil ich glaube, dass die Bundesländer hier
auf jeden Fall mitreden sollten; ich nenne an dieser
Stelle nur das Stichwort Landesbanken. Es ist eine Er-
rungenschaft unseres föderalen Systems, dass unsere
Länder bei Gremienbesetzungen mitentscheiden können.





Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)

Trotzdem gibt es Fragen, über die wir in den nächsten
Wochen und Monaten noch einmal reden müssen. Ich
denke da zum Beispiel an die Frage, ob wir wirklich
sechs Mitglieder im Bundesbankvorstand haben müssen.
Ich sehe, dass es eine Verschiebung der Aufgaben gibt,
beispielsweise durch die Einführung des Euros wichtige
Beratungsfunktionen zur internationalen Finanzmarktre-
form oder auch offene Fragen bei der Aufsicht. Wenn
wir BaFin und Bundesbank in puncto Aufsicht an-
schauen, ergibt sich daraus vielleicht auch noch eine
neue Aufgabenstellung. Ihr Europaabgeordneter Sven
Giegold geht ja in eine ganz andere Richtung. Er macht
die Frage auf, ob wir nicht durch eine ganz andere Ein-
gruppierung bei der Vergütung erreichen müssen, dass
dieser Job für die Besten aus der Branche mit entspre-
chender Expertise attraktiv ist. Auch diese Frage muss
im Hinblick auf die Bundesbank diskutiert werden. Im
Übrigen weist unsere Kollegin Ingrid Arndt-Brauer da-
rauf hin, dass wir darüber diskutieren müssen, ob es
nicht an der Zeit ist, dass eine Frau in den Bundesbank-
vorstand kommt. Vielleicht sollten wir auch dafür eine
entsprechende Regelung andenken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Fazit: Die Absichten sind okay. Wir nehmen Ihren
Antrag als Denkanstoß mit, um zu überprüfen, ob es
nicht vielleicht doch ein besseres Verfahren, ein optima-
les Verfahren gibt. Was heute vorliegt, ist, ehrlich gesagt,
ein Schnellschuss, noch dazu einer mit altem Pulver aus
dem Frühjahr. Es ist schade, dass Sie unsere Anregungen
nicht aufgenommen haben.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche denn?)


Wir sind dafür, zu überlegen: Was passt für den bundes-
deutschen Föderalismus? Wie bekommen wir die Besten
für diese wichtige Aufgabe? – Das sollte unsere Marsch-
route sein.

Ihr Vorschlag ist ein Denkanstoß, aber sicher nicht die
optimale Lösung. Deswegen werden wir Ihrem Antrag
heute leider nicht zustimmen können.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706516500

Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die

FDP.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1706516600

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Mit ihrem Antrag verspricht uns die Fraktion Die Grü-
nen fachliche Exzellenz an der Spitze der Bundesbank.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müsste der FDP doch eigentlich entgegenkommen!)


„Gut gemeint“ und „gut gemacht“ sind allerdings auch
hier zwei unterschiedliche Dinge.
Man sollte auch einmal in die Geschichte der Rege-
lung zur Besetzung des Bundesbankvorstands schauen.
Die Besetzung wurde zuletzt im Bundesbankgesetz in
der Fassung vom 23. März 2002 unter einer rot-grünen
Bundesregierung geregelt, beschlossen mit den Stimmen
der rot-grünen Koalition in diesem Parlament. Insofern
ist das wieder ein Beispiel dafür, dass Sie sich von Ent-
scheidungen, die Sie in der Regierungsverantwortung
getroffen haben, in der Opposition einfach mal so mir
nichts, dir nichts verabschieden wollen.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu! Das wissen Sie doch!)


Was hier vorliegt, ist ein absoluter Schnellschuss
– Kollege Gerster hat es schon ausgesprochen –, ein
Schnellschuss aus der Opposition heraus, um sozusagen
vergessen zu machen, was Sie in Ihrer Regierungszeit
getan haben.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es so schlimm ist, warum ändern Sie es dann nicht?)


Wir als FDP-Fraktion haben uns damals intensiv in
die Beratungen eingebracht. Wir haben sehr wohl auf die
Gefahr einer politischen Einflussnahme durch das Ver-
fahren, das damals dann ins Gesetz geschrieben wurde,
hingewiesen.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum halten Sie heute daran fest?)


Aber nichtsdestotrotz haben Sie das Gesetz durchgeboxt,
wollen damit aber jetzt nichts mehr zu tun haben.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu stehen wir!)


Das Vorschlagsrecht des Bundesrates, also der Bun-
desländer, halte ich für eine ganz wesentliche Kompo-
nente der Regelung im Bundesbankgesetz; denn ich
glaube, dass eine Verteilung des Vorschlagsrechts auf
unterschiedliche Akteure eher geeignet ist, eine politi-
sche Einflussnahme auszuschließen, als eine Konzentra-
tion auf Bundesregierung und Bundestag.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Der entscheidende Punkt ist: Bei mehreren Akteuren ist
eine politische Einflussnahme weniger leicht möglich.

Sie haben vorgeschlagen, dass nach der öffentlichen
Ausschreibung und Vorsortierung der Bewerbungen
durch die Bundesregierung der Finanzausschuss eine öf-
fentliche Anhörung durchführt, so nach dem Motto:
Deutschland sucht den Superbanker. Dann dürfen die
alle dort antanzen, und dann dürfen sich die Mitglieder
des Finanzausschusses ein Bild machen. Ich wage, ehr-
lich gesagt, nicht so genau zu sagen, wie das in einer sol-
chen Finanzausschusssitzung ausgehen wird. Möglicher-
weise ist es sogar eine öffentliche Sitzung, eine
öffentliche Vorführung, und der Finanzausschussvorsit-
zende übernimmt die Rolle von Dieter Bohlen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Schwachsinn!)






Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube, dass ein solches Verfahren der Wichtigkeit
dieses Amtes in keiner Weise gerecht werden könnte.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das kann man nur noch mit Humor nehmen!)


Ich möchte noch auf eines hinweisen. Es gibt ein ehe-
maliges Bundesbankvorstandsmitglied, das durch Tätig-
keiten neben seiner eigentlichen Vorstandstätigkeit Auf-
sehen erregt hat. Dieses Mitglied war von den Ländern
Berlin und Brandenburg vorgeschlagen worden. Ich
habe einmal herausgesucht, was der damalige und im-
mer noch im Amt befindliche Regierende Bürgermeister
von Berlin, Klaus Wowereit, damals über diese Person
gesagt hat:

Mit Sarrazin geht einer der profiliertesten Finanz-
politiker nicht nur des Landes Berlin, sondern in
der Bundesrepublik Deutschland.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Weiter sagte er über Sarrazin:

Ich lasse ihn ungern ziehen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn der sich nur um die Finanzpolitik gekümmert hätte, wäre es ja in Ordnung gewesen!)


In einer öffentlichen Anhörung werden möglicher-
weise auch solche Überzeugungen geäußert, die sich ein
paar Jahre später als falsch erweisen. Insofern wird viel-
leicht auch durch das von Ihnen vorgeschlagene Verfah-
ren wohl die eine oder andere Fehleinschätzung bei der
Besetzung von Bundesbankvorstandsposten nicht ver-
mieden werden können.

Im Übrigen sehen wir in dem von Ihnen vorgeschla-
genen Verfahren tatsächlich eine Gefährdung, vielleicht
sogar einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Bundes-
bank. Ich möchte schon noch einmal darauf hinweisen,
was die Bundesbank in den Zeiten der Finanzkrise für
dieses Land getan hat und mit welch unglaublich hohem
Ansehen die Bundesbank in diesem Land agiert. Dem-
entsprechend sind wir als FDP eigentlich schon immer,
traditionell, Verfechter der Unabhängigkeit der Bundes-
bank. Wir werden schon allein aus diesem Grund Ihrem
Antrag nicht zustimmen können, weil wir einfach eine
Gefährdung der Bundesbank sehen.

Außerdem wird solch ein Schnellschussantrag, wie
Sie ihn hier vorgelegt haben, wenig tauglich für die Pra-
xis sein.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie erinnern sich schon, dass er seit acht Monaten hier im Hause liegt?)


Dementsprechend werden wir Ihrem Antrag nicht zu-
stimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706516700

Axel Troost hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706516800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist richtig, sich anlässlich der Zusammensetzung des
Bundesbankvorstandes Gedanken über die Wahl des
Gremiums zu machen. Das ist auch notwendig, nachdem
wir nun wissen, wie schwierig und teuer es ist, offen-
sichtliche Fehlbesetzungen wieder loszuwerden. Von da-
her begrüßen wir den Antrag der Grünen.

Fachliche Eignung – nicht Regionalproporz und Par-
teibuch – muss bei der Besetzung des Bundesbankvor-
standes ausschlaggebend sein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine öffentliche Ausschreibung von Vorstandsposten
entspricht durchaus diesem Ziel. Auch eine Anlehnung
an international erfolgreich praktizierte Besetzungsver-
fahren ist zu begrüßen.

Tatsächlich sind die wohldotierten und prestigeträch-
tigen Posten beim Bundesbankvorstand in den letzten
Jahren etliche Male an verdiente Parteikollegen verge-
ben worden. Der mit goldenem Handschlag verabschie-
dete Sarrazin – das ist eben noch einmal dargestellt wor-
den –


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Rot-Rot in Berlin hat es gemacht!)


stellt aus unserer Sicht das abschreckendste Beispiel da-
für dar. Herrn Sarrazin kann man nur wünschen: Allah
gebe ihm Verstand!


(Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Daniel Volk [FDP]: Wer war denn da in Berlin an der Regierung?)


– Ja, aber Moment: Parteiproporz betrifft nicht nur die
eine oder die andere Partei, sondern das trifft für alle hier
zu. Da will ich gar keine Ausnahmen machen. Ich finde
es schon bedenklich, dass daraus letztlich keine Konse-
quenzen gezogen werden.

Es ist auch nicht richtig, hier von Schnellschuss zu
sprechen. Es geht ja nicht um eine Sofortabstimmung
über irgendetwas; der Antrag liegt vielmehr schon seit
langer Zeit vor und ist im Finanzausschuss behandelt
worden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber geändert worden vom Antragsteller!)


Selbst wenn man nicht dem Antrag folgen will, hat das
jetzt nicht dazu geführt, dass man sich einmal Gedanken
macht, auf welche andere Weise die Besetzung realisiert
werden könnte.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)

Klar ist doch, dass eine öffentliche Ausschreibung et-
was ganz anderes ist, als wenn die Besetzung ausschließ-
lich in Parteigremien ausgemauschelt wird. Das ist im
Augenblick sozusagen das Verfahren, um auf die Vor-
schlagsliste zu kommen. Insofern finden wir, dass das
Grundanliegen völlig richtig ist und man dem auch fol-
gen sollte.

Trotzdem glauben wir, dass der Antrag der Grünen
insgesamt zu kurz greift. Selbst wenn man im Rahmen
einer Vorstandsbesetzung versucht, den besten Volkswirt
zu finden, ist derjenige, der auf diese Weise in das Gre-
mium kommt, wegen der ausschließlichen Ausrichtung
der Bundesbank auf das Ziel der Preisstabilität weitest-
gehend gebunden und nicht in der Lage, eine aus unserer
Sicht notwendige umfassende Politik zu machen, das
heißt, die Politik der Bundesbank wie dann eben auch
der Europäischen Zentralbank an gesamtwirtschaftlichen
Zielsetzungen auszurichten.

Die Bundesbank ist aus unserer Sicht auf die Ziele
des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zu verpflichten,
nämlich Beschäftigung zu erhöhen, angemessenes au-
ßenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen und
für ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum
sowie Preisstabilität zu sorgen. Eine Ausrichtung auf
solche Ziele wird ja bereits von der amerikanischen Zen-
tralbank praktiziert.

Das ist aus unserer Sicht eine absolute Notwendig-
keit, um die Bundesbankpolitik wirklich in einen Ge-
samtzusammenhang zu stellen und zu versuchen, damit
den Interessen der Bevölkerung nachzukommen, also
nicht nur auf die Preisstabilität zu achten, sondern auch
auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Wir bedauern sehr, dass dieser Antrag von der großen
Mehrheit des Hauses nicht wirklich zum Anlass genom-
men wird, einmal nachzudenken, was man verändern
kann. Ich denke, das, was mit Sarrazin passiert ist, kann
jederzeit wieder passieren. Insofern fände ich es wichtig,
zumindest im Finanzausschuss weiter über diese Frage
zu diskutieren und uns wirklich Gedanken zu machen,
wie man hier Veränderungen herbeiführen kann.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706516900

Lisa Paus hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Brinkhaus, Herr Gerster, Herr Volk, der vorliegende An-
trag „Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorstän-
den reformieren“ ist in diesem Hohen Hause nicht neu.
Wir haben ihn aber heute auf die Tagesordnung setzen
lassen, weil wir gehofft haben, dass genau eine Woche
nachdem Thilo Sarrazin aus dem Bundesbankvorstand
ausgeschieden ist, ein guter Zeitpunkt sein könnte, um
jetzt endlich darüber zu sprechen, was man tun kann, um
das durch den Fall Sarrazin beschädigte Ansehen der In-
stitution Bundesbank und ihre Unabhängigkeit wieder-
herzustellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir hatten gehofft, jetzt sei der Zeitpunkt günstig, end-
lich einmal frei von irgendwelchen Personalspekulatio-
nen darüber zu sprechen, inwieweit sich das bisher gel-
tende Personalauswahlverfahren bewährt hat oder eben
nicht. Die heutige Debatte ist jedoch durchaus davon be-
einflusst, dass von dpa gemeldet wurde, es gebe den
neuen Vorschlag, dass Joachim Nagel, bisher Leiter des
Zentralbereichs Märkte bei der Bundesbank, in den Vor-
stand wechselt. Wir begrüßen zunächst, dass bei dieser
Person offenbar nicht das bisherige Verfahren gewählt
worden ist: Der Bundesbankvorstand ist eine wunderbare
Endlagerungsstätte für altgediente Politikerinnen und
Politiker.

Nichtsdestotrotz: Diese Personalentscheidung, die
richtiger erscheint, löst nicht das strukturelle Problem,
das hier vorliegt. Deswegen ist dieser Antrag eine Einla-
dung an Sie zur Debatte; leider haben Sie sie heute aus-
geschlagen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Man muss über falsche Anträge nicht noch debattieren!)


Trotzdem möchte ich die Argumente vortragen.

Wir haben diesen Antrag im Februar dieses Jahres
eingebracht. Damals haben Sie von der Koalition den
Antrag als durchsichtiges Oppositionsmanöver abgetan,
weil es seinerzeit unter anderem um die Berufung von
Carl-Ludwig Thiele von der FDP in den Vorstand der
Bundesbank ging;


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Guter Mann im Bundesbankvorstand! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Guter Mann!)


Sie wollten ihn schützen, weil sein Berufungsverfahren
zu dieser Zeit lief. Wir hielten die Berufung zwar schon
damals für falsch; aber – das muss ich sagen – es be-
wegte sich im üblichen Rahmen von parteipolitischem
Geplänkel.

Heute haben wir aber eine vollkommen andere Situa-
tion. Inzwischen hat sich am Beispiel Thilo Sarrazin ge-
zeigt, was passieren kann, wenn die Bundesbank von der
Politik als politisches Endlager missbraucht wird.


(Gisela Piltz [FDP]: Das finde ich jetzt aber etwas beleidigend, Frau Kollegin!)


Thilo Sarrazin war zwar der spektakulärste, aber beileibe
nicht der einzige schwierige Entsorgungsfall. So wurde
zum Beispiel Rudolf Böhmler 2007 von Baden-Würt-
temberg als Bundesbankvorstand durchgedrückt, obwohl
er in einem internen Anhörungsverfahren keine Mehr-
heit bei der Bundesbank fand.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Der macht einen sehr guten Job! Er ist anerkannt!)


Sarrazin wurde nicht wegen seiner Qualifikation
durchgedrückt – darüber könnte man diskutieren; die
fachliche Qualifikation war nicht das Problem –, son-
dern weil es dem Regierenden Bürgermeister von Berlin





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)

– das konnte ich als Berlinerin wirklich live miterleben –
in sein politisches Schachspiel passte. Eines wusste
Klaus Wowereit wie die gesamte Stadt Berlin: Thilo
Sarrazin ist die denkbar ungeeignetste Person, um Teil
eines Kollegialorgans zu sein.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt!)


Dies hat er nicht erst als Berliner Finanzsenator unter
Beweis gestellt, sondern auch schon vorher, als er bei
der Bahn war, oder davor, als er Staatssekretär in Rhein-
land-Pfalz war. Das war also allgemein bekannt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sehr interessant!)


Jahrzehntelang galt der Spruch des französischen
Staatsmanns Jacques Delors:

Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle
glauben an die Deutsche Bundesbank.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das hatten wir schon mal!)


– Herr Brinkhaus, genau das gilt aber nach der Causa
Sarrazin nicht mehr.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ausnahmen bestätigen die Regel!)


Deswegen sind wir gefordert, die Reputation der Bun-
desbank wieder herzustellen. Da braucht es eben einen
Ansatz für ein neues Verfahren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wenn Sie den Antrag so abtun, als sei er eine spin-
nerte grüne Idee,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nee! Sie müssen auch mal zuhören, was wir sagen!)


dann möchte ich Ihnen schon sagen: Inzwischen befin-
den wir uns in guter Gesellschaft.

Lesen Sie die entsprechenden Blätter: WirtschaftsWo-
che, Handelsblatt bis hin zur Börsen-Zeitung. Dort fin-
den Sie die Forderung, die wir in unserem Antrag erhe-
ben. Am 13. September fordert die WirtschaftsWoche
„eine Reform der Besetzungsprozedur“, um die ange-
schlagene Reputation der Bundesbank wieder herzustel-
len. Die Welt am Sonntag berichtet am 19. September:
Führende europäische Ökonomen fordern ein neues Be-
rufungsverfahren für die Vorstände. Auch der ehemalige
Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl schloss sich in ei-
nem Interview dieser Forderung an. Was machen Sie?
Sie machen nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine Verbesserung der Legitimität beim
Auswahlverfahren. Wir schlagen ein Verfahren vor, das
mehr Transparenz schafft und dadurch die Legitimation
erhöht. Da die vier Stufen schon so oft Thema waren,
möchte auch ich noch einmal kurz auf sie eingehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517100

Frau Kollegin, das könnte höchstens noch ein Satz

ohne Kommata sein.


(Heiterkeit)



Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517200

Ich komme zum Schluss. – Zur ersten Stufe. Wenn

Sie gerne noch zusätzlich Headhunter einschalten wol-
len, dann schalten Sie zusätzlich Headhunter ein. Die öf-
fentliche Ausschreibung organisiert ein Mindestmaß an
Qualität. Das soll sie leisten.

Zur zweiten Stufe. Das Auswahlverfahren der Bun-
desregierung soll gewährleisten, dass Menschen nicht
beschädigt werden. Das kennen Sie auch. Sie thematisie-
ren das als Problem der öffentlichen Ausschreibung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517300

Frau Kollegin.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es sind nur noch zwölf!)



Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517400

Die dritte Stufe sieht vor – das ist für Sie das

Schlimmste –, dass der Finanzausschuss darüber beraten
soll. Ich sage Ihnen: Schauen Sie nach Großbritannien!
Schauen Sie auf die EU-Ebene!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517500

Frau Kollegin.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517600

Dann stellen Sie fest, dass dadurch keiner untergeht.

Formulieren Sie einfach einen Anspruch, der internatio-
nal gilt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517700

Frau Kollegin.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517800

Überlegen Sie selber. Dann kommen Sie zu dem Er-

gebnis, dass man unserem Antrag zustimmen sollte. Ich
hoffe, dass wir nicht zum letzten Mal über dieses Thema
debattieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706517900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Verfahren zur Auswahl von Bun-
desbankvorständen reformieren“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/1075, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/798 abzulehnen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, da-
gegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, enthalten
haben sich SPD und die Fraktion Die Linke.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Strafrechtlichen Rehabilitierungs-
gesetzes

– Drucksache 17/1215 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/3233 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Sonja Steffen
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak-
tion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann verfahren wir so.

Ich gebe dem Kollegen Marco Buschmann das Wort
für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1706518000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol-

leginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen feierten wir
den 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Vor 20 Jahren
endete damit endgültig die Existenz einer staatlichen
Ordnung, die auf Terror und Unterdrückung Andersden-
kender gesetzt hat. Das Leid, das den Opfern von Terror
und Unterdrückung widerfahren ist, kann niemand unge-
schehen machen. Wir können die Opfer aber rehabilitie-
ren. Wir können ein Zeichen setzen, dass wir ihre Bio-
grafien würdigen. Wir können ein kleines, vielleicht
symbolisches Stück Wiedergutmachung leisten. Diese
symbolische Wiedergutmachung wollen wir verbessern.
Dazu legt Ihnen die Koalition den vorliegenden Gesetz-
entwurf zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitie-
rungsgesetzes vor.

Er ist geboren aus einer Bundesratsinitiative der Län-
der Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Nieder-
sachsen. Er nimmt eine ganze Reihe von Anregungen
aus dem Kreise der Opferverbände auf. Unser Gesetz-
entwurf enthält damit zahlreiche spürbare Verbesserun-
gen für die Opfer des SED-Regimes, von denen ich hier
nur einige wenige erwähnen möchte.

Wir erweitern den Kreis der Anspruchsberechtigten.
Von nun an sind auch Personen anspruchsberechtigt, die
in einem Heim für Kinder und Jugendliche sowie in Ju-
gendwerkhöfen untergebracht waren.
Wir erleichtern die Bewilligung der Opferpensionen.

Die erweiterte Härtefallregelung soll es ermöglichen,
dass die besondere Zuwendung nach § 17 a auch dann
gewährt werden kann, wenn die Mindesthaftdauer von
künftig 180 Tagen geringfügig unterschritten wurde.
Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Frau wegen ei-
ner Schwangerschaft vorzeitig aus der Haft entlassen
wurde. Ein anderes Beispiel ist die Haftentlassungspra-
xis in der DDR, durch die es immer wieder zu geringfü-
gigen Unterschreitungen kam.

Weiterhin wurde aus dem Kreis der Opferverbände
immer wieder beklagt, dass es Landesbehörden gebe, die
gegen das Gesetz gehandelt hätten, weil sie unter Ver-
weis auf den Amtsermittlungsgrundsatz jährlich wieder-
kehrende Einkommensermittlungen durchgeführt hätten.
Ein solches Vorgehen war mit diesem Gesetz natürlich
nicht vorgesehen. Der Grund dafür ist klar: Es darf nicht
sein, dass die Opfer von Überwachungsmaßnahmen den
Eindruck gewinnen, sie würden anlässlich ihrer Rehabi-
litierung nun wieder Gegenstand von Überwachungen.
Unser Vorschlag schließt turnusmäßige und anlassunab-
hängige Einkommensüberprüfungen in Zukunft aus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir verlängern die Antragsfristen auf strafrechtliche,
berufsrechtliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitie-
rung bis zum 31. Dezember 2019.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damit geben wir sowohl allen Betroffenen als auch den
vom Gesetz neu erfassten Personengruppen wie bei-
spielsweise den ehemaligen Insassen von Jugendwerk-
höfen die Möglichkeit, ihren Antrag in aller Ruhe zu
prüfen und zu stellen. Ich denke, dass wir den Betroffe-
nen mit dieser deutlichen Verlängerung der Frist ein gro-
ßes Stück entgegengekommen sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Das ist das richtige Signal!)


Einen weiteren Punkt haben die Betroffenen wieder-
holt vorgetragen – auch mir ist er wichtig –: Es geht da-
rum, den Gedanken der Ehrenpension stärker herauszu-
stellen. Ein Vorschlag aus dem Kreis der Opferverbände
lautete, dass man Schwerkriminellen die Opferpension
künftig versagen solle. Diesem Wunsch kommen wir
nach. Die besondere Zuwendung wird zukünftig denje-
nigen Personen nicht mehr gewährt, gegen die nach ein-
facher Auskunft aus dem Bundeszentralregister eine
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer
vorsätzlichen Straftat rechtskräftig verhängt worden ist.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist
es so, dass man sich angesichts des geschehenen Un-
rechts immer noch mehr vorstellen kann; das ist über-
haupt keine Frage. Ich glaube aber, dass die christlich-
liberale Koalition hier einen guten Vorschlag vorlegt.
Das gilt insbesondere auch, wenn Sie die Rahmenbedin-
gungen bedenken, unter denen wir agieren. Zu diesen
Rahmenbedingungen gehört natürlich, dass wir die not-
wendige Haushaltskonsolidierung durchführen. Trotz-
dem weiten wir an dieser Stelle Leistungsansprüche aus.





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)

Ich glaube, wir zeigen damit ganz deutlich, dass wir die
Opfer nicht allein lassen. Wir bewerten diese Frage mit
der notwendigen politischen Sensibilität und verleihen
ihr Bedeutung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Fraktionen der Opposition regen nun weitere
Maßnahmen an.

Zum Vorschlag der SPD für ein einheitliches Aner-
kennungsverfahren ist zu sagen, dass die Idee grundsätz-
lich natürlich sympathisch ist. Die Regelungskompetenz
liegt aber bei den Ländern. Den Versuch, hier eine Eini-
gungslösung herbeizuführen, gab es schon in der Ver-
gangenheit. Er hat bloß nicht gefruchtet.

Den Kollegen der Grünen möchte ich sagen: Natür-
lich sind die Überlegungen, das System umzustellen,
durchaus sympathisch. Allerdings muss man berücksich-
tigen, dass Ihr System als Ganzes dazu führen würde,
dass die Opfer des Linkstotalitarismus in der DDR
besser gestellt würden als die Opfer des Nationalsozia-
lismus. Sie kennen die Grundlagen, nach denen bei-
spielsweise die JCC Beihilfen erteilt. Auch da gibt es
Mindesthaftdauern. Auch da ist die Beihilfe deutlich
niedriger als die, die Sie vorschlagen.

Den Kollegen der Linken möchte ich weiterleiten,
was mir aus dem Kreis der Opferverbände mitgeteilt
worden ist: Das sind die Rechtsnachfolger derjenigen
Partei, die all das Leid angeordnet hat, um dessen Be-
wältigung es heute geht. Wie können sie nur auf die Idee
kommen, sich als Anwälte der Opfer aufzuspielen?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Genau deshalb! – Gegenruf von der FDP: Ja, genau deshalb!)


In einer Zeit der Haushaltskonsolidierung, in der die
Zeichen auf Sparen stehen, weiten wir die Leistungen
aus. In Anbetracht des Sparhaushaltes und der Schulden-
bremse können wir auf das Erreichte, auf das, was wir
Ihnen vorlegen, stolz sein. Trotzdem werden wir natür-
lich auch in Zukunft offene Augen und Ohren für die Be-
lange der Opfer des SED-Regimes haben; denn der mu-
tige Einsatz dieser Menschen für Freiheit, Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit muss anerkannt und gewürdigt
werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706518100

Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1706518200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir beraten und beschließen heute die vierte
Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes.
Der Gesetzentwurf wurde im März 2010 – der Kollege
Buschmann hat es schon gesagt – vom Bundesrat in den
Bundestag eingebracht.
Wir erinnern uns alle: Die erste Lesung dieses Ent-
wurfs fand an einem historischen Tag, am 17. Juni 2010,
statt. An diesem Tag haben wir in einer Feierstunde hier
im Hohen Haus an die schlimmen Ereignisse des
17. Juni 1953 in der DDR erinnert. Am vergangenen
Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der deutschen Ein-
heit gefeiert. Dies ist an sich schon ein guter Grund, die-
sen Gesetzentwurf mit seinen sehr begrüßenswerten Än-
derungen zu verabschieden.

Natürlich ist es grundsätzlich wichtig, dass Gesetze,
insbesondere solche, die die Rechte der betroffenen Bür-
ger stärken, möglichst zügig auf den Weg gebracht wer-
den. Ich frage mich allerdings, ob die Hektik, die hier in
den letzten zwei Wochen an den Tag gelegt wurde, um
diesen symbolischen Termin einhalten zu können – Herr
Kollege Buschmann, Sie haben das ja gesagt –, wirklich
erforderlich und geboten war.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will ganz kurz daran erinnern, dass erst in der letz-
ten Woche ein Berichterstattergespräch zu dem Entwurf
stattfand, bei dem drei Sachverständige angehört wur-
den. Bereits einen Tag später fand sich der geänderte Ge-
setzentwurf auf der Tagesordnung dieser Sitzungswoche
wieder. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetz-
entwurf an der einen oder anderen Stelle mit heißer Na-
del gestrickt wurde und eine intensive Auseinanderset-
zung mit dem, was die Sachverständigen vorgebracht
haben, nicht erfolgt ist, weil das nicht möglich war. Es
wäre wünschenswert gewesen, wenn die Opposition bei
einem so sensiblen Thema stärker in den Prozess einbe-
zogen worden wäre.

An dem Gesetzentwurf ist begrüßenswert, dass der
Personenkreis der Antragsberechtigten erweitert wurde.
Nunmehr haben auch Menschen – wir haben es schon
gehört –, die als Kinder oder Jugendliche in einem Heim
bzw. in Jugendwerkhöfen unter schlimmsten, haftähnli-
chen Bedingungen ein jämmerliches Dasein fristen
mussten, einen Anspruch auf Rehabilitierung und so-
ziale Ausgleichsleistungen.

Darüber hinaus hatten aber viel mehr Menschen unter
staatlichen Kontrollmaßnahmen zu leiden, die sich bis
heute auf ihr Leben auswirken. Zu erwähnen sind die
Vorkommnisse bei den Weltfestspielen 1973; der Kol-
lege Montag hat sie in der Sitzung des Rechtsausschus-
ses am Mittwoch erwähnt. Damals wurden mehr als
1 800 Personen in Haft genommen, 477 in psychiatri-
sche Einrichtungen eingewiesen, 639 in Jugendwerkhö-
fen und 1 163 in sogenannten Spezialkinderheimen un-
tergebracht, und gegen 2 982 Personen wurden sonstige
staatliche Kontrollmaßnahmen wirksam. Ich hätte mir
zumindest eine Diskussion darüber gewünscht, ob die
Möglichkeit besteht, den Personenkreis auf Opfer sol-
cher staatlichen Kontrollmaßnahmen auszuweiten.

Weiterhin begrüßenswert ist, dass die Frist zur An-
tragstellung von 2011 auf 2019 verlängert wurde, und
zwar insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass viele
Opfer in Unkenntnis oder wegen Verdrängung, weil sie
zum Teil traumatisiert sind, bislang keinen Antrag ge-





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)

stellt haben. In der Anhörung wurde von dem Sachver-
ständigen Dollase, dem Justiziar der Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur, anschaulich geschildert,
dass viele Opfer erst bei der Rentenbeantragung auf die
Opferrente hingewiesen werden. Es wäre daher ein zwar
mutiger, aber auch sinnvoller Schritt gewesen, eine Ent-
fristung des Gesetzes vorzunehmen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Darüber hinaus begrüßen wir es selbstverständlich,
dass zukünftig der Freibetrag für Familien mit Kindern
erhöht wird und das staatliche Kindergeld und die be-
triebliche Altersvorsorge nicht mehr als Einkommen an-
gerechnet werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch der neu aufgenommene sogenannte Ausschluss-
grund ist zu begrüßen. Zukünftig soll die Opferrente,
weil sie zu Recht „Ehrenpension“ genannt wird, Schwer-
verbrechern nicht mehr zuerkannt werden. Damit wird
sich das Gesetz an das Bundesentschädigungsgesetz an-
passen, das die Opfer des Nationalsozialismus entschä-
digte, und an das Häftlingshilfegesetz.

Richtig ist auch, dass die Rente dann zuerkannt wer-
den soll, wenn die Straftat in einer Auskunft aus dem
Zentralregister nicht mehr enthalten ist, weil auch Straf-
täter die Chance haben müssen, nach Löschung ihrer
Straftaten im Zentralregister als unbescholtene, gleich-
wertige Menschen zu gelten. Damit folgt das Gesetz der
Systematik des Registerrechts und dem Gedanken der
Resozialisierung.

Ich habe bereits mehrfach erwähnt, dass aufgrund der
Eile, mit der der Gesetzentwurf verabschiedet werden
soll, wichtige Aspekte nicht mehr näher geprüft wurden.
Dazu gehört auch ein Blick auf die Beschädigtenversor-
gung. Wer durch die Freiheitsentziehung eine gesund-
heitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach dem Gesetz
in der derzeitigen Fassung wegen der Folgen dieser
Schädigung auf Antrag eine weitere Versorgung. Die
Praxis in den einzelnen Bundesländern bei der Anerken-
nung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden ist aber
leider sehr unterschiedlich. Während beispielsweise in
Thüringen bis 2009 von 933 Anträgen 220 positiv be-
schieden wurden, sind es in Mecklenburg-Vorpommern
bei 825 Anträgen nur 90 Anerkennungen.

Ich will an dieser Stelle kurz ein Beispiel nennen, da-
mit man sich klarmachen kann, um was es hier eigent-
lich geht. Ein Opfer stellte 1997 in einem westdeutschen
Bundesland einen Antrag auf Beschädigtenversorgung.
Er war als politischer Häftling von 1958 bis 1963 in den
Gefängnissen Bautzen, Neustrelitz und Schwerin inhaf-
tiert. Das zuständige Versorgungsamt lehnte den Antrag
ab mit der Begründung, es sei nicht wahrscheinlich, dass
die geltend gemachten Gesundheitsstörungen durch die
Inhaftierung hervorgerufen worden seien. Schon in der
Kindheit und Jugendzeit sei ein Gemütsleiden auffällig
gewesen. Für das Jahr 1957 finde sich ein Hinweis auf
eine Minderbegabung und Willensschwäche.
Hochproblematisch erscheint hier, dass man dem An-
tragsteller einen Begutachtungstermin verwehrt hat. Au-
ßerdem vernachlässigte man völlig die in den 50er- und
60er-Jahren besonders inhumane Züge tragenden Haft-
bedingungen in der DDR, denen der Betroffene über den
langen Zeitraum von immerhin fünf Jahren ausgesetzt
war. In der Anamnese verweist man mit „Minderbega-
bung“ und „Willensschwäche“ auf zwei Aussagen aus
DDR-Dokumenten. Sie werden kritiklos hingenommen,
zitiert und einem wissenschaftlichen Diagnosebefund
gleichgesetzt.

Wünschenswert wäre hier die Errichtung einer zentra-
len Stelle zur Bewertung verfolgungsbedingter Gesund-
heitsschäden, die man mit Fachleuten, die sich in dieser
Thematik besonders auskennen und damit besondere Er-
fahrungen haben, besetzen könnte. Auch die Union hat
dieser Idee in der letzten Legislaturperiode viel abgewin-
nen können. Wir haben vorhin gehört, dass auch Herr
Kollege Buschmann dieser Idee etwas abgewinnen kann.
Ich hoffe daher, dass unser entsprechender Entschlie-
ßungsantrag auch die Zustimmung der Regierungskoali-
tion findet.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird wohl nicht klappen!)


Mir ist bewusst, dass ein solches Vorhaben nur in Zu-
sammenarbeit mit den Ländern umgesetzt werden kann.

Dem Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung wer-
den wir heute mit Blick auf die Opfer, die diese Besser-
stellung mehr als verdient haben, unsere Zustimmung er-
teilen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706518300

Die Kollegin Andrea Voßhoff hat das Wort für die

Fraktion der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andrea Astrid Voßhoff (CDU):
Rede ID: ID1706518400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-

ginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Steffen, zu
den Forderungen, die Sie hier neben den Forderungen in
Ihrem Entschließungsantrag erhoben haben, möchte ich
Ihnen sagen: Diese SED-Opferpension ist in Zeiten der
Großen Koalition entstanden. Es war damals die SPD,
die bei den Entschädigungsregelungen zu Recht, wie ich
finde, nicht nur nachhaltig dafür geworben, sondern
auch immer darauf bestanden hat, dass wir das mit ande-
rem bestehendem Entschädigungsrecht – Stichwort: NS-
Opferentschädigung – austarieren. Damals waren Sie
aber noch nicht dabei. Das war die Conditio im Rahmen
dieser Opferpension.

Es ist schon gesagt worden: Am vergangenen Sonntag
haben wir nicht nur in Bremen und in Berlin, sondern in
zahlreichen Städten Deutschlands 20 Jahre deutsche Ein-





Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)

heit gefeiert und ihrer gedacht. Wie sagte es der Bundes-
tagspräsident, Dr. Lammert, sehr treffend – ich zitiere –:

Auch bei selbstkritischer Betrachtung der 20 Jahre
seit dem 3. Oktober 1990 haben wir alle miteinan-
der Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


20 Jahre deutsche Wiedervereinigung bedeuten neben
stillem Stolz und lautem Dank aber auch 20 Jahre Aufar-
beitung der Folgen eines 40 Jahre währenden SED-Un-
rechtssystems. Einer der heute vorliegenden Entschlie-
ßungsanträge ist von den Linken. Ich darf Ihnen, meine
Damen und Herren von den Linken, einmal sagen: Zur
Rehabilitierung gehören auch die Nennung der Täter und
Ihr immerwährendes und bis heute nicht erfolgtes ent-
sprechendes Bekenntnis.

Von daher frage ich Sie in Anbetracht Ihrer Forderun-
gen: Was tun Sie eigentlich in den Ländern, in denen Sie
leider mitregieren, im Hinblick auf eine Entschädigung
der SED-Opfer?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Frage ist berechtigt!)


Mir ist keine Initiative, die Sie zu diesem Thema gestar-
tet haben, bekannt.

Für die Union steht das Erinnern im Vordergrund. Für
uns gehören zum Erinnern aber auch die Aufarbeitung
und die Rehabilitierung; das haben wir uns gemeinsam
mit unserem Koalitionspartner vorgenommen, und das
hat sich in unserem Koalitionsvertrag niedergeschlagen.
Dazu liegt Ihnen heute, wie ich finde, ein guter Gesetz-
entwurf vor.

Wir alle wissen – darauf ist heute schon hingewiesen
worden; das sage ich auch mit Blick auf die Entschlie-
ßungsanträge der Opposition –: Es wird nie möglich
sein, ein derartiges 40-jähriges Unrecht vollständig wie-
dergutzumachen. Manche Kollegen beschäftigen sich
seit Jahren mit diesem Thema, und hier im Parlament
gab es in dieser Zeit unterschiedlichste Mehrheiten. Rot-
Grün beispielsweise hätte acht Jahre lang die Gelegen-
heit gehabt, weiter gehende Regelungen zu treffen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Die Große Koalition hatte auch Zeit!)


Aber diejenigen, die regiert haben und entscheiden
mussten, sind immer an Grenzen gestoßen.

Aus Sicht der Opfer ist es verständlich, dass die An-
sprüche immer weiter steigen. Aber es handelt sich auch
um ein Ritual: Diejenigen, die regieren und Verantwor-
tung tragen, wissen, dass es Grenzen gibt und dass die
Opposition – weil sie weiß, dass sie die eigenen Forde-
rungen nicht umsetzen muss – die Gelegenheit nutzt,
weiter gehende Forderungen zu erheben.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Sorge! Wir werden es umsetzen!)

Dass das immer im Interesse der Opfer ist, wage ich zu
bezweifeln. Ich glaube, es hilft auch nicht weiter, Ver-
sprechen abzugeben, die bei Lichte betrachtet und bei
sorgfältiger Prüfung nicht einzuhalten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Marco Buschmann [FDP])


Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass die Große
Koalition im Jahre 2007 – ich erwähnte es – auf Initia-
tive der CDU die sogenannte SED-Opferpension einge-
führt hat. Sie wissen auch, dass mittlerweile fast 50 000
Opfer diese Rente beziehen. Diese Zahl ist beachtlich
und wächst stetig. Sie ist, wie ich finde, erschreckend
hoch und ein Beleg für das Unrechtssystem der DDR.
Dass es uns gelungen ist, die SED-Opferpension einzu-
führen, ist auch aus heutiger Sicht nach wie vor sehr löb-
lich und zu begrüßen.

Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf – die
Details wurden schon genannt –, mit dem konkrete Ver-
besserungen und Erleichterungen beim Bezug der SED-
Opferpension erzielt werden sollen. In der Praxis haben
wir festgestellt, dass es Fehlentwicklungen gab, die wir
heute klugerweise korrigieren. Ich bedanke mich schon
jetzt für Ihre Signale der Zustimmung zu diesem Gesetz-
entwurf; ich weiß, wie intensiv und häufig auch Sie mit
den Opfern reden.

Lassen Sie mich drei Anmerkungen zum vorliegen-
den Gesetzentwurf machen:

Erstens. Ich freue mich – ich sagte es bereits –, dass
es dafür offenkundig eine breite Zustimmung in diesem
Hause gibt. Diese einmütige Zustimmung ist auch ein
wichtiges und nicht zu unterschätzendes Signal an die
Opfer und ihre Verbände, die unsere Diskussion sicher-
lich aufmerksam verfolgen. Ich habe feststellen dürfen,
dass auch die mitberatenden Ausschüsse einstimmig da-
für votiert haben; auch dies ist zu begrüßen.

Im Gegensatz zur Kollegin Steffen bin ich der Mei-
nung, dass wir am letzten Mittwoch konstruktive Be-
richterstattergespräche geführt haben und dass auch nach
Vorlage unserer Änderungsvorschläge am vergangenen
Montag ein weiteres konstruktives Berichterstatterge-
spräch stattgefunden hat. Der Umfang der Gesetzesände-
rungen ist überschaubar, sodass von einem eiligen Ver-
fahren wirklich keine Rede sein kann. Dieser Kritik-
punkt, den Sie, Frau Kollegin Steffen, vorhin erwähnt
haben, ist auch nicht von allen Oppositionsfraktionen
geäußert worden.

Frau Kollegin, mich tröstet diese Kritik insofern, als
ich sagen kann: Wenn man in der Sache keinen Kritik-
punkt findet, weil der Gesetzentwurf richtig gut ist, dann
muss man als Opposition natürlich das Verfahren bean-
standen. Das sei Ihnen auch zugestanden; aber ich
denke, sachlich ist diese Kritik nicht berechtigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens. Mit diesem Gesetzentwurf werden nicht
nur die vom Bundesrat geforderten verwaltungsrechtli-
chen Änderungen beim Bezug der SED-Opferpension
geändert, sondern – der Kollege Buschmann hat es an-
gesprochen – man ist teilweise weit darüber hinausge-





Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)

gangen. Ein Beispiel sind die Regelungen des Kinder-
freibetrages. Für Opferfamilien mit Kindern soll ein
Kinderfreibetrag eingeführt werden. Das Kindergeld
soll bei der Berechnung des Einkommens nicht ange-
rechnet werden. Im Ergebnis sollen Opfer mit Kindern
und Opfer ohne Kinder gleichgestellt werden. Das ist
eine notwendige und gebotene Regelung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind nicht nur froh, sondern auch unseren Haushäl-
tern dafür dankbar, dass sie dieser Regelung trotz des be-
stehenden Konsolidierungsdrucks zugestimmt haben.

Erwähnt wurde auch – das ist nicht unwichtig, son-
dern eine wesentliche Änderung des Gesetzes –, dass die
in den Rehabilitierungsgesetzen enthaltene Härtefallre-
gelung, die bisher nur für die Kapitalentschädigung galt,
jetzt auf die Opferpension ausgedehnt wird; Beispiele
sind bereits genannt worden. Es hat Fälle gegeben, in de-
nen aufgrund der willkürlichen DDR-Verwaltungspraxis
die von uns geforderte Haftzeit von 180 Tagen geringfü-
gig unterschritten wurde. Weil das eine Härte im Sinne
einer Ungerechtigkeit ist, haben wir die besondere Zu-
wendung der Opferpension in die Härtefallregelung des
§ 19 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes auf-
genommen. Auch ist es ein wichtiger und guter Schritt,
dass wir in dieser Frage zu einer Härtefallregelung ge-
kommen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben Klarstellungen vorgenommen, die nicht
nur redaktionell, sondern auch grundsätzlich sind. Wir
haben klargestellt, dass die Mindesthaftzeit 180 Tage be-
trägt. Jeder von uns, der die Gespräche mit den Opfern
und den Opferverbänden geführt hat, weiß, dass das un-
terschiedlich gehandhabt wurde. In einigen Fällen wur-
den volle sechs Monate berechnet, in anderen 180 Tage.
Es gab keine einheitliche Regelung. Das haben wir klar-
gestellt und auch dabei für etwas mehr Gerechtigkeit ge-
sorgt. Jedenfalls weiß ich aus vielen Gesprächen mit Op-
fern, dass das häufig als Problem empfunden wurde.

Auch wurde erwähnt, dass die Länder teilweise anlass-
unabhängige und turnusmäßige Einkommensnachweise
fordern. Das ist von vielen Opfern, insbesondere von den
älteren, als Demütigung empfunden worden, weil sie nur
eine Rente beziehen und sich deshalb die Einkommens-
verhältnisse nicht ändern. Das war vom Bundesgesetz-
geber nie vorgesehen, wird von den Ländern aber prakti-
ziert. Auch deshalb schreiben wir ins Gesetz, dass eine
anlassunabhängige und turnusmäßige Einkommensüber-
prüfung nicht stattfinden soll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Einbeziehung von DDR-Werkhof- und Heimkin-
dern ist genannt worden. Auch sie wurde damals vom
Gesetz intendiert, ist aber in unterschiedlichen Gerichts-
entscheidungen bis zu einer Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts unterschiedlich gehandhabt wor-
den. Deshalb schreiben wir das zur Klarstellung ins
Gesetz.

Auch der Ausschluss Schwerkrimineller ist erwähnt
worden. Frau Kollegin Steffen, Sie hatten in diesem Zu-
sammenhang ein Problem, weil in Mecklenburg-Vor-
pommern die obersten Landesbehörden die Opferpensio-
nen bearbeiten. Klären Sie das doch im Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern.


(Zuruf der Abg. Sonja Steffen [SPD])


Wir können gern gemeinsam ein Schreiben aufsetzen.
Das Land kann das ändern, sodass sich die von Ihnen ge-
schilderte Problematik aus unserer Sicht in der Praxis
gar nicht stellt. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern ist
es unbenommen, auch von den obersten Landesbehör-
den einfache Registerauskünfte einzuholen. Daher ist
das Problem aus meiner Sicht nicht nennenswert.

Die Verlängerung der Antragsfristen ist auch genannt
worden. Wir haben sie häufig in diesem Hause verlän-
gert und immer wieder die Frage aufgeworfen, ob das
notwendig ist. Aber gerade mit der Einführung der SED-
Opferpension im Jahre 2007 haben wir Material erhal-
ten, dem wir entnehmen können, dass die Zahl der Reha-
bilitierungsanträge deutlich nach oben geschnellt ist,
weil die Rehabilitierung Voraussetzung für die dann un-
befristet zu beantragende Rente oder SED-Opferpension
ist. Demzufolge haben wir die Fristen noch einmal bis
2019 verlängert. Wenn wir die Rehabilitierungsantrags-
fristen verlängert haben, haben wir immer auch die ver-
waltungs- und berufsrechtlichen Fristen entsprechend
verlängert. Deshalb haben wir im Lichte des Bericht-
erstattergesprächs, das wir sehr aufmerksam verfolgt ha-
ben, diese Fristverlängerung umgesetzt. Daher denke
ich, dass dieser Gesetzentwurf alles in allem – das ist
heute schon gesagt worden – sehr gut ist.

Gestatten Sie noch einige abschließende Bemerkun-
gen zu den Entschließungsanträgen der Opposition. Ich
sagte eingangs, dass es immer leichter ist, mehr zu for-
dern, wenn man in der Opposition ist, weil man die For-
derungen, da man nicht in politischer Verantwortung ist,
nicht umsetzen muss. Als ich den Entschließungsantrag
der Grünen gelesen habe, habe ich mich etwas gewun-
dert,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na!)


dass er vom Kollegen Montag mitgetragen wird; denn er
hat im ersten Berichterstattergespräch sehr nachdrück-
lich darauf hingewiesen, dass die Entschädigungsrege-
lungen sehr wohl mit Blick auf das gesamte Entschädi-
gungsrecht – das betrifft auch Zahlungen für NS-Opfer –
auszutarieren sind.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben ihn überzeugt!)


Deshalb, Herr Kollege Montag, hat mich Ihr Antrag et-
was gewundert. Aber der Kollege Wieland sagte, Sie
seien überzeugt worden. Vielleicht kann er das noch et-
was ausführen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe offenbar mehr Überzeugungskraft als Sie!)


Abschließend, Frau Kollegin Steffen, sage ich Ihnen
zu dem, was Sie in Ihrem Entschließungsantrag erwähnt





Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)

haben, Folgendes: Sie wissen, dass es der Bund schon
einmal versucht hat, dass sich die Länder an dieser Stelle
nicht einig sind und dass die Länder dazu nicht zu bewe-
gen waren. Ich weiß, dass Sie – leider – sechs Landesjus-
tizminister und sieben Landessozialminister stellen. Frau
Kollegin Steffen, fangen Sie an, diese zu überzeugen.
Wenn Sie all diese hinter sich haben, sollten wir uns über
das Thema noch einmal unterhalten. Wenn die Länder
wollten, könnten sie das Verfahren, das Thüringen prak-
tiziert, umsetzen. Traurig ist, dass das nicht geschieht.
Aber fangen Sie bitte bei Ihren Ministern an, dafür zu
werben. Ich will das gerne auch bei den unsrigen tun.
Aber Sie haben leider Gottes eine größere Anzahl aufzu-
bieten.


(Zurufe von der SPD)


Versuchen Sie bitte nicht, das Problem auf die christ-
lich-liberale Koalition zu schieben. Die Länder sind in
der Pflicht. Die Länder könnten es machen. Thüringen
hat gute Vorlagen dafür geliefert. Ich warte auf Ihre
Rückmeldung, ob Sie Ihre SPD-Kollegen überzeugen
können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706518500

Die Kollegin Wawzyniak hat jetzt das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706518600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich möchte mit dem anfangen, was Frau Steffen
angesprochen hat. Ich hätte mir gewünscht – ich habe
das auch im Ausschuss gesagt –, dass wir mehr Zeit ge-
habt hätten, die Vorschläge der Sachverständigen nach
den zwei Berichterstattergesprächen noch einmal ge-
meinsam im Detail zu prüfen und sie in den Gesetzent-
wurf einzuarbeiten. Sie haben einige Sachen aufgenom-
men, andere Sachen fehlen.

Ich möchte Ihnen heute ein Buch empfehlen, und
zwar das Buch Knastmauke von Sibylle Plogstedt. In
diesem Buch wird die heutige Lage von ehemaligen
Häftlingen in der DDR untersucht, und es werden die
Fragen aufgeworfen, warum diejenigen, die die deutsche
Einheit erkämpft haben, zu Menschen wurden, denen es
heute besonders schlecht geht,


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Frage ist richtig und durchaus berechtigt!)


und inwieweit die schlechtere soziale Situation auf den
traumatischen Störungen als Folge der Haft beruht.

Ich glaube, es ist eine grundsätzliche Frage, ob wir
die Anerkennung der Zivilcourage und die Anerkennung
des Eintretens für Bürgerrechte und Demokratie daran
knüpfen, dass eine Freiheitsentziehung stattgefunden ha-
ben muss, wie Sie es beim Strafrechtlichen Rehabilitie-
rungsgesetz tun.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Gegen Ihre Rechtsvorgänger aufstehen! IM Kuschel ist im Landtag in Thüringen!)


Ich glaube, es ist dringend notwendig, dass wir auch für
andere Formen der Benachteiligung Regelungen finden,
die in Richtung Opferrente gehen. Ich denke beispiels-
weise an Schülerinnen und Schüler, die kein Abitur ma-
chen konnten, weil ihre Eltern in der Kirche waren.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde, der 20. Jahrestag könnte Anlass sein, diesen
Menschen gegenüber ein Symbol zu setzen.


(Marco Buschmann [FDP]: Selbstanklage!)


Trotz der Fehler, die dieser Gesetzentwurf aufweist,
wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf und den Ände-
rungsanträgen zustimmen – aus Verantwortung, die wir
für die DDR-Geschichte tragen, aber auch, weil 3 000
Anspruchsberechtigte mehr in den Genuss der Opfer-
rente kommen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sortieren Sie erst einmal Ihre Stasileute aus!)


Es ist ausgesprochen erfreulich, dass in den Ände-
rungsantrag der Koalition die Jugendwerkhöfe aufge-
nommen wurden. Ich sage es sehr deutlich: Wer sich ein-
mal mit dem geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau
beschäftigt, für den ist klar: Durch diesen Jugendwerk-
hof wird jede Relativierung des DDR-Unrechts delegiti-
miert.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist erfreulich, dass die Fristenregelung ausgeweitet
wird. Dennoch hätten wir uns gewünscht, dass es eine
unbefristete Möglichkeit der Antragstellung gibt, weil
gerade jüngere Menschen in einem Alter von Mitte 40
bis Anfang 50 sind, wenn die Frist ausläuft, und die Er-
fahrung zeigt, dass häufig erst bei Rentenantragstellung
darauf hingewiesen wird oder die Menschen erst dann in
der Lage und bereit sind, einen Antrag nach dem Straf-
rechtlichen Rehabilitierungsgesetz zu stellen.

Mit unserem eigenen Entschließungsantrag gehen wir
ein bisschen über den Gesetzentwurf hinaus. Wir wollen,
dass nicht an den 180 Tagen Haft festgehalten wird. Wir
haben in der Anhörung der Sachverständigen gehört,
dass sehr häufig Menschen nur kurzfristig in Haft ge-
nommen und dann durch Zersetzungsmaßnahmen des
Ministeriums für Staatssicherheit weiteren Repressalien
unterworfen wurden. Wir wollen, dass auch solche Op-
fer in den Genuss der Opferrente kommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir finden das Grundprinzip falsch, dass die Opfer-
rente als soziale Ausgleichsleistung gestaltet ist. Wir fin-
den, für die Zivilcourage und das Engagement für Bür-
gerrechte und Demokratie muss unabhängig vom
Einkommen ein Anspruch auf Opferrente gewährt wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

Wir fordern eine höhere Leistung, und wir fordern vor
allem, dass die Vermutung, dass die Schäden aus der
Haft herrühren, der Regelfall wird und dass nicht die
Opfer beweisen müssen, dass die Schäden Folge der
Haft sind.

Herr Buschmann, Sie haben gesagt, wir legen etwas
vor, was Ihnen nicht gefällt. Hätten wir nichts vorgelegt,
dann hätte Ihnen das auch nicht gefallen. Ich sage Ihnen
ganz ehrlich: Mir ist es egal, was Ihnen gefällt, mir ist
nur unsere Verantwortung gegenüber den Opfern wich-
tig.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Marco Buschmann [FDP]: Das beruht auf Gegenseitigkeit!)


Ich komme zum Schluss. Wir werden diesen Gesetz-
entwurf jetzt hier im Bundestag einstimmig verabschie-
den, wenn die Grünen zustimmen, wovon ich ausgehe.
Die anderen haben das ja schon erklärt. Mir ist wichtig,
dass wir das Thema damit nicht zu den Akten legen, son-
dern dass wir weiter über die weiter gehenden Forderun-
gen auch der Opferverbände nachdenken und das bei
Gelegenheit sehr gerne auch gemeinsam wieder aufgrei-
fen.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Stasi-Unterlagen-Gesetz: Noch dieses Jahr reden wir darüber! Gerne!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706518700

Wolfgang Wieland hat das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706518800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Kollegin Wawzyniak


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Kommen Sie jetzt zu dem Geld?)


– ja, jetzt kommt das mit dem Geld; Sie haben es geahnt,
und auch Ihr Kollege Dietmar Bartsch ist ja wieder hier –,


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Extra gekommen!)


was Sie gesagt haben, war inhaltlich weitestgehend rich-
tig.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Danke!)


Aber die Attitüde, aus Verantwortung für die Opfer zu
handeln, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr richtig!)


Verantwortung für die Opfer heißt zunächst, dass die
Täter finanziell für diese einzustehen und finanzielle
Wiedergutmachung zu leisten haben. Das haben Sie nie
getan. Sie haben Ihre Parteimilliarden veruntreut. Sie ha-
ben sie ins Ausland geschafft und im Inland versickern
lassen. Dazu sollten Sie Stellung nehmen. Herr Bartsch
hat das letztens versucht und sinngemäß gesagt, dass
Ihre Partei notariell erklärt habe: All das Geld, das jetzt
noch auftaucht, geben wir ab. – Das erinnert an einen
Räuber, der seine Beute versteckt hat und sagt: Wenn
doch noch etwas gefunden wird, dann bekommt es der
Staat. – Das ist wirklich großzügig. So billig kommen
Sie hier nicht davon.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der FDP: Täterpensionen werden gezahlt!)


Der Kollege Bartsch war Bundesschatzmeister, als ihm
Gregor Gysi als Vorsitzender Briefe geschrieben hat mit
Tipps, wie man Firmen gründet und Gelder zur Seite
schafft. Der letzte Satz lautete, wie von einem Mafiapa-
ten: Dieses Schreiben bitte vernichten. – Das hat er
zwei-, dreimal versäumt. Deswegen wurde es bei Durch-
suchungen gefunden. Von ihm wird der Satz kolportiert:
Das wird mir Gregor nie verzeihen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


So weit dazu, ob Sie sich ehrlich oder unehrlich verhal-
ten haben, vom Parteivorsitzenden bis hin zum Schatz-
meister.

Jetzt zu dem Gesetz. Frau Kollegin Voßhoff, wir ha-
ben in der Frage der Opferpension nie auf einem hohen
Ross gesessen. Das können wir auch nicht; denn Sie ha-
ben zu Recht gesagt: Weder Schwarz-Gelb unmittelbar
nach der friedlichen Revolution noch Rot-Grün haben
diese Pension zustande gebracht. Es war die Große Ko-
alition. Das erkennen wir an und haben das auch immer
so gesagt.

Nun kommt ein gewisses Aber. Unser Entschlie-
ßungsantrag ist wie die anderen Entschließungsanträge
auch ein Memo, wohin sich das eigentlich weiterentwi-
ckeln müsste. Wenn wir wieder regieren – stellen Sie
sich das einfach einmal vor –


(Lachen bei der CDU/CSU)


– tun Sie das, auch wenn Schwarz bei der Vorstellung
verzweifelt, dann dürfen Sie uns an dieses Memo erin-
nern; denn auch damit haben Sie recht: Das ist ein langer
Prozess, der selten zu einem befriedigenden Ende findet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine echte Opferpension wäre eine Anerkennungs-
und Ehrenpension. Sie wäre mehr als eine Haftentschä-
digung. Die sechs Monate oder 180 Tage – das ist uns
doch allen klar – sind ungerecht gegenüber denen, die
diese Grenze knapp verfehlen. Da könnte man abgestuft
mehr geben. Ich weiß, dass man offene Türen einrennt,
was die Schülerinnen und Schüler, die Dopingopfer und
die Menschen angeht, die in der Zwangspsychatrie wa-
ren. Deswegen erkenne ich an, dass es einen kleinen
Schritt gegeben hat. Der ist gut. Dem stimmen wir zu.

Es bleibt aber sehr viel zu tun. Es gibt immer noch
Opfer, die vergessen wurden. Es gibt immer noch Opfer,
die draußen vor der Tür stehen. Wir alle sind aufgefor-
dert, dies zu ändern. Aber wir sollten aufhören, uns ge-
genseitig vorzuwerfen, wer jeweils mehr bewilligt bzw.
nicht bewilligt hat.





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)

Wie gesagt, es ist ein kleiner Schritt in die richtige
Richtung. Weitere müssen folgen.

In diesem Sinne vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706518900

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen

Dietmar Bartsch das Wort.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Jetzt wollen wir es wissen! Wo sind sie? Wo steht der Koffer?)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706519000

– Jetzt ist es günstig, zuzuhören.

Herr Wieland, Sie wissen sicherlich, dass ich im Ja-
nuar 1991 Schatzmeister geworden bin. Sie wissen auch,
dass die Vermögensfragen der Partei danach abschlie-
ßend geklärt worden sind.

Erstens zum Auslandsvermögen: Das Auslandsver-
mögen ist in einer Bundestagsdrucksache aufgeführt
worden.


(Marco Buschmann [FDP]: Da ist die Verschleierungstaktik aufgeführt, die Sie angewandt haben!)


Wir haben dieses zusammen mit der unabhängigen
Kommission ermittelt, und es ist dem Staatshaushalt zu-
geflossen, wie es das Gesetz für den Aufbau Ost vor-
sieht.

Zweitens. Das sonstige Vermögen der SED ist geprüft
worden – übrigens genau wie das Vermögen der Block-
parteien, weil Sie da drüben so eine große Klappe haben –,


(Beifall bei der LINKEN – Marco Buschmann [FDP]: Verschleierung!)


und das, was auf rechtsstaatliche Weise erworben wurde,
durfte die PDS behalten. Dabei handelte es sich um vier
Immobilien, nicht mehr und nicht weniger, kein Cent
Geldvermögen.


(Marco Buschmann [FDP]: Das lag ja auf Schwarzgeldkonten in Skandinavien!)


Alles, was Sie behaupten, ist schlicht die Unwahrheit.
Denn in allen Verfahren hat es an keiner Stelle auch nur
einen Vorwurf gegen die neue Partei, die PDS, gegeben,
der hätte aufrechterhalten werden können.


(Marco Buschmann [FDP]: Plötzlich ist sie neu! Altes Geld und neue Partei!)


Das Letzte, was ich sagen will, ist: Wenn Sie das
wirklich ernsthaft mit Mafiamethoden vergleichen, dann
muss ich sagen, dass das unter Ihrem Niveau ist, Herr
Wieland. Wir haben Aufklärung geleistet und etwas für
die neuen Länder getan. Das Geld ist verteilt worden.
Die PDS hat im Jahre 1992 den Vorschlag gemacht,
Geld aus dem infrage stehenden Vermögen für die Opfer
bereitzustellen. Aber unser Vorschlag ist im Deutschen
Bundestag abgelehnt worden. Das ist die Realität. Das,
was nun gemacht wird, hätten wir schon lange haben
können. Aber nehmen Sie wenigstens zur Kenntnis, dass
dies die Fakten sind.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706519100

Der Kollege Wieland zur Antwort.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706519200

Herr Kollege Bartsch, ich nehme Ihre Worte zur

Kenntnis. Zutreffend sind sie in keiner Weise. Ihre Partei
ist keine Neugründung gewesen. Sie wurde sogar fortge-
führt, um die Kasse zu retten; so hat es Herr Gysi aus-
drücklich gesagt. Das gilt sowohl im Hinblick auf den
Kaderstamm als auch im Hinblick auf den Milliarden-
schatz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Der Milliardenschatz Ihrer Partei war das Hundertfa-
che dessen, was die sogenannten Blockparteien hatten,
die im Übrigen wie die LDPD sehr schnell auf alles,
auch auf Grundstücke, verzichtet haben. Was haben Sie
als SED gemacht? Sie haben im Jahre 1990 Ihre Betriebe
systematisch umgewandelt und privatisiert sowie dubio-
sesten Privatleuten Darlehen gegeben, die das Geld teil-
weise nie zurückgezahlt haben. Da waren Sie die betro-
genen Betrüger. Sie konnten Ihr Parteivermögen gar
nicht schnell genug verschleudern. Dann haben Sie sich
irgendwann hingestellt und gesagt: Nun haben wir nichts
mehr. – Sie haben alles weggegeben.

Luxemburg und Liechtenstein waren – ich verweise
auf die Putnik-Affäre; über die rote Fini haben wir das
letzte Mal geredet; dabei rümpfen Sie über Zumwinkel
und andere zu Recht die Nase – auch Ihre Anlagepara-
diese. Gesteuert wurden die Aktivitäten von der Partei-
spitze. Da sind nicht irgendwelche Funktionäre aus dem
Ruder gelaufen. Das wurde generalstabsmäßig geplant.
In der Putnik-Affäre wurden Pohl und Langnitschke frei-
gesprochen mit der Begründung, dass sie auf Anweisung
von Gysi und dem Parteivorstand die Gelder nach Mos-
kau bringen wollten.

Seien Sie ganz ruhig! Sie haben alles versteckt und
ausgegeben. Dann haben Sie einen Vergleich abge-
schlossen und gesagt: Wir haben nichts mehr. Nun erklä-
ren wir, dass den Rest, wenn es denn einen gibt, der Staat
bekommt. – Ganz schäbig! Sie haben Volksvermögen,
das Sie sich zu DDR-Zeiten zu Unrecht angeeignet und
das Sie veruntreut haben, in Kanälen versickern lassen,
in denen es heute – so mutmaßen wir – zu Ihnen zurück-
fließt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706519300

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-
rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3233, den Gesetzentwurf des Bundesrates
auf Drucksache 17/1215 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich bitte erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-
antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3236? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ent-
schließungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linken. Dagegen ha-
ben CDU/CSU und FDP gestimmt. Wer stimmt für den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/3237? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Zuge-
stimmt haben die Fraktion Die Linke und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU und
FDP. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3238? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie-
ßungsantrag ist – bei dem gleichen Stimmenverhältnis
wie vorher – ebenfalls abgelehnt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706519400

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Moderne verbraucherbezogene Forschung
ausbauen – Tatsächliche Auswirkungen ge-
setzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen

– Drucksache 17/2343 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu sehe
und höre ich keinen Widerspruch.

Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1706519500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Seit ungefähr zehn Jahren haben wir ein Verbrau-
cherministerium, das dank der von Gerhard Schröder ge-
führten rot-grünen Bundesregierung eingeführt wurde.
Fast parallel dazu hat sich vor zehn Jahren der Verbrau-
cherzentrale Bundesverband gegründet. Einige von uns
waren in dieser Woche beim zehnten Geburtstag des
vzbv.

Die Politik hat sich also des Schutzes und der Interes-
sen der Verbraucher angenommen – einmal mit mehr,
einmal mit weniger Erfolg, derzeit mit etwas weniger.
Doch insgesamt hat sich für die Verbraucherinnen und
Verbraucher einiges bewegt. Dennoch ist die Verbrau-
cherin bzw. der Verbraucher bisher für die Politik ein
wenig bekanntes Wesen; denn während die Anbieter am
Markt viel Geld in die Erforschung des Verbraucherver-
haltens und in entsprechende Werbestrategien investie-
ren, überprüft die Politik bisher kaum, ob ergriffene oder
geplante verbraucherpolitische Maßnahmen auch der
Realität der Verbraucher entsprechen und diese von Nut-
zen sind.

Einen ersten Versuch hat die SPD bereits in der letzten
Legislaturperiode unternommen. Wir haben gegenüber
der CDU/CSU eine Evaluierung des Verbraucherinfor-
mationsgesetzes durchgesetzt, die zeigen sollte, ob das
Gesetz seinen Zweck einer verbesserten Information der
Verbraucher erfüllt. Eine kritische Überprüfung auf Basis
der gesammelten Erfahrungen hatten wir damals zur Be-
dingung für die Zustimmung zum VIG gemacht. Doch
die schwarz-gelbe Bundesregierung will diese Chance
nicht nutzen. Stattdessen droht die Evaluierung als PR-
Event instrumentalisiert zu werden, um zu rechtfertigen,
dass diese Bundesregierung trotz der Unzulänglichkeiten
und Fehlentwicklungen, die die Verbraucherverbände an-
hand ihrer mit dem VIG gemachten Erfahrungen vorwei-
sen können, keinen Handlungsbedarf sieht.

Wie wollen Verbraucher denn informiert werden?
Wie müssen die Informationen aussehen? Wo müssen sie
zugänglich sein, um alltagstauglich – das heißt verständ-
lich und für Verbraucher schnell und unkompliziert – im
Bedarfsfall abrufbar zu sein? Woran orientieren sich
Verbraucherinnen und Verbraucher bei ihren Entschei-
dungen denn tatsächlich? Bisher bleiben solche Fragen
bei dem Vorhaben der Bundesregierung völlig unberück-
sichtigt.

Die SPD fordert ein Gesamtkonzept zum Ausbau der
modernen verbraucherbezogenen Forschung. Neue wis-
senschaftliche Ansätze der Verhaltensökonomik sollten
aufgegriffen und systematisch erforscht werden, um zu
klären, wie das tatsächliche Verhalten von Verbrauchern
durch gesetzliche Regelungen beeinflusst wird. Meine
Fraktion hat einen hierzu vorliegenden Antrag bereits im
Juli verabschiedet. Wir brauchen ein Konzept, eine Sys-
tematik für eine Gesetzesfolgenabschätzung, einen wis-
senschaftsbasierten Verbrauchercheck; denn wenn wir
gute Gesetze machen wollen, brauchen wir mehr empiri-
sches Wissen über das tatsächliche Verhalten der Ver-
braucher. Die Verhaltensökonomie kann hierzu einen
Beitrag leisten. Davon würden nicht nur die Verbraucher





Elvira Drobinski-Weiß


(A) (C)



(D)(B)

profitieren; vielmehr würden Regulierungen auch insge-
samt effektiver werden.

Verbissen hält indes die Bundesregierung am Leitbild
des Homo oeconomicus, des ausschließlich rational ent-
scheidenden Verbrauchers, fest. Informiert soll er sein,
der Verbraucher, und dies, obwohl in vielen Bereichen
die Transparenz fehlt und Informationen gar nicht oder
nur schwer zugänglich sind. Aber Informationen und
Rationalität allein werden dem Verbraucher, der viel-
schichtigen und verschiedensten Einflüssen ausgesetzt
ist, nicht gerecht. Das wissen wir doch alle von uns
selbst und von unseren wahrlich nicht immer rationalen
Kaufentscheidungen. Den Verbraucher, der unentwegt
Kosten-Nutzen-Berechnungen durchführt und zur einzi-
gen Grundlage seiner Kaufentscheidung macht, den gibt
es nicht; von ihm auszugehen, ist unrealistisch.

Gerade deshalb spricht auch die Werbung Verbrau-
cher auf einer ganz anderen Ebene an. Produkte sollen
nicht nur gekauft und benutzt, sondern auch geliebt wer-
den. Bei McDonald’s liebt man es. Die Leute von Edeka
lieben die Lebensmittel, und irgendein Autohersteller
liebt Autos. Das heißt, Einkaufen soll zum Erlebnisshop-
ping werden. Lebensmittel werden nicht mehr gegessen,
sondern mit allen fünf Sinnen genossen. Böse könnte
man dies auch als gezielte Verblödung der Verbraucher
bezeichnen;


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


denn aus der Sicht einiger Anbieter ist der rational kon-
sumierende Verbraucher möglicherweise gar nicht ge-
wünscht.

Umso wichtiger ist es, der Frage nachzugehen, wel-
che Faktoren die Konsumentenentscheidungen beein-
flussen und wie der Verbraucheralltag aussieht, in dem
solche Entscheidungen getroffen werden. Die Wahlmög-
lichkeiten haben nämlich durch technologischen Fort-
schritt und Liberalisierung der Märkte zugenommen.
Gleichzeitig sind Tarifstrukturen und Angebotsbedin-
gungen komplexer und schier unüberschaubar gewor-
den. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Verbrau-
cher oft mehr für Produkte ausgeben als notwendig, dass
sie kaufen, was sie nicht gebrauchen können, oder dass
sie aus Überforderung vor der Angebotsvielfalt gar keine
Entscheidung treffen und so zum Beispiel nicht ausrei-
chend für ihr Alter vorsorgen. Eine stärkere Ausrichtung
auf real existierende Verbraucherinnen und Verbraucher
könnte uns unverständliche Informationsblätter beim
Handel mit Finanzprodukten ebenso ersparen wie un-
durchschaubare Auflistungen von Inhaltsstoffen bei Le-
bensmitteln oder versteckte Kosten bei Handyverträgen.

Für eine stärkere Vernetzung zwischen Verbraucher-
forschung und Politik brauchen wir natürlich auch
Mittel. Wir haben entsprechende Forderungen in die
Haushaltsberatungen eingebracht. Ich kündige hier
schon einmal an: Wir reden heute sicherlich nicht zum
letzten Mal über das Thema Verbraucherforschung.
Ganz im Gegenteil, wir stehen erst am Anfang dieser
Debatte. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-
ten werden nicht lockerlassen. Wir bleiben dran. Ver-
braucherpolitische Instrumente und Maßnahmen müssen
endlich den realen Verbraucher im Blick haben und all-
tagstauglich sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706519600

Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Franz-Josef Holzenkamp (CDU):
Rede ID: ID1706519700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was
gut gemeint ist, ist noch längst nicht gut gemacht. Dies
zeigen Sie heute sehr deutlich mit Ihrem Antrag zur Ver-
braucherforschung. Aber der Antrag behandelt ein wich-
tiges Thema, um das wir uns verstärkt kümmern müssen.
In diesem Punkt sind wir einer Meinung, und ich bin
auch Ihrer Meinung, Frau Kollegin, dass wir tatsächlich
am Anfang der Debatte stehen.

Um welche Frage geht es? Es geht darum, wie wir dem
Verbraucher in den von Schnelllebigkeit, Vielfältigkeit
und Unübersichtlichkeit geprägten globalen Märkten das
notwendige Rüstzeug zu seinem Schutz mitgeben kön-
nen. Ich denke, insoweit besteht Übereinstimmung.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
habe Probleme, den verbraucherpolitischen Geist in Ih-
rem Antrag nachzuvollziehen. Steigen wir einmal in Ih-
ren Antrag ein. Die Basis für Ihre Forderungen zur Ver-
braucherpolitik lautet hier folgendermaßen:

Bisher ging die Verbraucherpolitik mit dem Leitbild
des „mündigen Verbrauchers“ davon aus, dass der
Verbraucher sich im Sinne eines Homo oeconomi-
cus als rationaler Akteur eines perfekten Marktes
verhält, der alle verfügbaren Informationen voll-
ständig verarbeitet, sich dabei zukunftsorientiert
und den eigenen Bedürfnissen entsprechend verhält
und aus seinen Erfahrungen lernt.

Meine Damen und Herren, was für ein Quatsch!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vielleicht haben Sie den Homo oeconomicus als Leit-
bild Ihrer Verbraucherpolitik verstanden, wir garantiert
nicht! Der mündige Bürger und der Homo oeconomicus
als theoretisches, wissenschaftliches Konstrukt haben
nun wirklich gar nichts gemein. Vielleicht passt der Ver-
gleich einer Currywurst mit einer Tofuwurst – mehr aber
nicht.

Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er
für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nach-
redet …

Dieser sehr zutreffende Gedanke von Adorno spiegelt
den Leitgedanken der Union in der Verbraucherpolitik in
diesem Fall sehr gut wider. Natürlich wissen wir, dass
auch der Verbraucher nicht immer rational entscheidet –





Franz-Josef Holzenkamp


(A) (C)



(D)(B)

mit all seinen Folgen. Natürlich wissen wir auch, dass
die Anbieter sich das zunutze machen. Mit Verlaub, das
ist wirklich ein alter Hut.

Nur, was lernen wir daraus, meine Damen und Her-
ren? Sie wollen Ihrem Antrag entsprechend, dass Ver-
braucherverhalten und Verbraucherentscheidungen „in
Einklang stehen mit einer Verbesserung der individuel-
len und gesellschaftlichen Wohlfahrt“.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Oh ja, ganz wichtig!)


Dafür wollen Sie sich der Verbraucherforschung und der
Erkenntnisse der Verhaltensökonomik bedienen. Das
heißt für mich nichts anderes, als dass der Staat den Ver-
brauchern vorschreibt, was und wie sie zu verbrauchen
haben.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Herr Kollege, da haben Sie etwas missverstanden!)


– Die Verbraucher, verehrte Kollegin, werden sich be-
danken.

Das ist nicht unsere Vorstellung von einem mündigen
und freien Verbraucher. Wie eine solche Politik aussieht,
erleben wir doch zum Beispiel bei der Nährwertkenn-
zeichnung. Mit Ihrer Ampel


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das wäre der richtige Weg gewesen!)


wollen Sie den Verbraucher in seinem Ernährungsver-
halten lenken. Offensichtlich sind Sie davon überzeugt,
dass der Verbraucher nicht in der Lage ist, selbst zu ent-
scheiden, was oder wie er letztendlich isst. Ich sage dazu
Nein, Nein und nochmals Nein. Das hat mit moderner
Verbraucherpolitik überhaupt nichts zu tun. Das erinnert
eher an Orwells 1984.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Meine Damen und Herren, es ist nun einmal so: Nie-
mand kann den Menschen zum Homo oeconomicus
formen. Niemand kann die Unsicherheiten, die aus glo-
balisierten Lebenswelten und zunehmender Produkt-
und Angebotsvielfalt kommen, völlig tilgen. Niemand
kann den Verbrauchern die letzte Entscheidung abneh-
men. An dieser Stelle sage ich deutlich: Das wollen wir
auch nicht. Wir in der christlich-liberalen Koalition
trauen den Menschen etwas zu,


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wir auch!)


ganz im Gegensatz zu Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was aber kann und muss Verbraucherpolitik wirklich
leisten? Sie muss Regeln für größtmögliche Markttrans-
parenz schaffen und zielgenaue Informationen bieten.
Das ist ein permanent zu verbessernder Prozess. Sie
muss echte Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Preises
und der Vielfalt des Warenangebots gewährleisten. Nicht
zuletzt muss sie Maßstäbe hinsichtlich gesundheitlicher,
technischer und umweltfreundlicher Produktstandards
setzen.
Verbraucherforschung – hier sind wir uns einig – un-
terstützt dies. Dass dabei auch Erkenntnisse der Verhal-
tensökonomie eingebunden werden können, ist eine
Selbstverständlichkeit.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wunderbar! Dann können Sie dem Antrag ja zustimmen!)


Dies befürworten wir als Fraktion, und das befürwortet
auch das zuständige Bundesministerium. Wie Sie wis-
sen, sind hier eine Menge Aktivitäten im Gange: in der
Anlageberatung,


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, ja!)


bei der Überprüfung von Produktinformationsblättern
und auch beim VIG. Wir fragen jeden Menschen im In-
ternet: Wie groß war der Nutzen? Mehr Transparenz,
meine Damen und Herren, geht überhaupt nicht.

Darüber hinaus startet ab diesem Wintersemester an
der Uni Bayreuth der Studiengang „Rechtlicher Verbrau-
cherschutz“ im Rahmen einer Stiftungsprofessur. Zwei
weitere werden folgen. Eine wird sich mit dem Entschei-
dungsverhalten von Verbrauchern beschäftigen. Parallel
wird das Ministerium den Aufbau eines Netzwerkes zur
Verbraucherforschung vorantreiben.

Sie sehen: Die Bundesregierung ist zum Wohle des
mündigen Verbrauchers gut unterwegs. Hier verhält es
sich wie beim Hasen und dem Igel: Die Bundesregierung
ist längst da, wo die Opposition erst hin will.


(Lachen bei der SPD)


Aus diesem Grunde können wir den Antrag nur ableh-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706519800

Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706519900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Unternehmen geben in Deutschland jährlich
rund 30 000 Milliarden für Marktforschung und Wer-
bung aus – –


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: 30 000 Milliarden? Das kann wohl nicht stimmen!)


Eine enorme Summe dient nur dazu, herauszufinden,
was für die Unternehmen gut ist. Was gibt demgegen-
über der Staat aus, um zu erforschen, was aus der Sicht
der Verbraucherinnen und Verbraucher gut ist? 3 Millio-
nen Euro!

Auch wir als Linke sind der Auffassung, dass hier zu
wenig getan wird und dass die Prioritäten in der For-
schungspolitik falsch gesetzt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich setze die 3 Millionen Euro für die Verbraucherfor-
schung einmal ins Verhältnis zu anderen Ausgaben des





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

Bundes. Es gibt für die Raumfahrt etwa 1 Milliarde
Euro, für die Atomforschung 135 Millionen Euro, und
für Sicherheitstechnologien wie den Nacktscanner sind
immerhin 60 Millionen Euro im Staatssäckel vorhanden.
Zukunftsorientierte Forschungspolitik sieht wirklich an-
ders aus.

In der Tat brauchen wir eine starke und unabhängige
Verbraucherforschung. Verbraucherinnen und Verbrau-
cher verlieren jährlich 20 bis 30 Milliarden Euro allein
durch Falschberatung bei der Geldanlage. Kein Mensch
kann die immer komplexer werdenden Märkte vollstän-
dig überblicken. Globalisierung hat neue Märkte ge-
schaffen. Privatisierung, etwa von Wasser, Energie und
Telekommunikation, hat Bürgerinnen und Bürger zu
Kunden gemacht. Deswegen müssen wir als Politik auch
mehr darüber erfahren, welche Instrumente Verbrauche-
rinnen und Verbraucher benötigen, um sich im Dschun-
gel globaler Märkte zurechtzufinden.

Berlin ist übrigens mit gutem Beispiel vorangegan-
gen. Hier hat die linke Verbrauchersenatorin Katrin
Lompscher den „Verbrauchermonitor“ eingeführt. Berli-
ner Verbraucherinnen und Verbraucher werden gefragt,
wo ihrer Ansicht nach verbraucherpolitisch gehandelt
werden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem werden in Berlin die Auswirkungen von Ge-
setzen auf die Verbraucherinnen und Verbraucher tat-
sächlich überprüft.

Auch die Verbraucherverbände sollten unserer Auffas-
sung nach Bestandteil einer besseren Verbraucherfor-
schung sein; denn sie werden als Erste auf die Missstände
aufmerksam. Jede Förderung, die wir in die Verbrau-
cherverbände stecken würden, wäre wirklich Gold wert.

Anders als Sie, Herr Holzenkamp, finde ich es sehr
gut, dass die SPD in ihrem Antrag sagt: Das Leitbild des
mündigen Verbrauchers ist in dieser Art und Weise nicht
mehr haltbar. Es muss überarbeitet und auch diskutiert
werden. – Die schwarz-gelbe Bundesregierung benutzt
das Leitbild des mündigen Verbrauchers in aller Regel,
um politisch untätig zu bleiben.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Schwache Begründung!)


Deswegen müssen wir diese Leitbilddebatte jetzt führen.


(Beifall bei der LINKEN)


Hier geht es nicht um die Bevormundung. Auch wir
als Linke wollen, dass Verbraucherinnen und Verbrau-
cher selbst entscheiden. Aber die Grundlage der Ent-
scheidung muss stimmen, und diese Grundlage ist häufig
nicht gegeben. Deswegen sind auch wir beispielsweise
für die Nährwertampel. Es muss an der Stelle gesagt
werden, dass Verbraucherforschung wenig nützt, wenn
sich die Regierung an das, was die Forschung herausge-
funden hat, nicht hält. Die Nährwertampel ist ein sehr
gutes Beispiel dafür. Die Wissenschaft hat sie empfoh-
len. Frau Aigner hat sie wider besseres Wissen abge-
lehnt. Stattdessen folgt sie den Lobbyinteressen der Le-
bensmittelindustrie.
Ein anderes Beispiel ist die Finanzberatung. Hier hat
der Sachverständigenrat des Ministeriums eine Reihe
von guten Vorschlägen gemacht. Auf die Umsetzung
durch die Bundesregierung warten wir hier vergeblich.

Meine Damen und Herren, auch in der Verbraucher-
politik betreibt die Koalition Klientelpolitik


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ich habe es fast schon vermisst!)


statt guter Verbraucherpolitik. Wir als Linke wollen Ver-
braucherpolitik mit Weitblick statt eine skandalgetrie-
bene. Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen eine
starke Stimme auf allen Ebenen, in der Politik und auch
in der Forschung. Auf dieser sachlichen Grundlage soll-
ten wir dann den Antrag der SPD in den Ausschüssen
diskutieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706520000

Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1706520100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Lay,
30 000 Milliarden Euro – diese Zahl würde ich noch ein-
mal revidieren. Ich glaube, da sind Millionen und Mil-
liarden durcheinandergekommen.


(Zuruf von der LINKEN)


Ich finde es aber toll, dass wir uns dem Thema jetzt
widmen. Nachdem die SPD in der Opposition angekom-
men ist, ist sie der Meinung, man könne da jetzt etwas
tun. Da muss man sich jetzt schon einmal Gedanken ma-
chen, wie man dazu steht. Wir Liberale bauen auf eine
Stärkung der Menschen am Markt und nicht auf den
Schutz vor dem Markt.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das glaube ich Ihnen!)


Wir trauen den Verbrauchern etwas zu. Die Stichworte
„mündiger Bürger“ und „mündiger Verbraucher“ sind
genannt worden. Wir sind der Meinung, bessere Infor-
mationen und mehr Wissen über Produkte, um dann
selbst entscheiden zu können, sind wichtig. Deswegen
ist für uns Bildung und Information der Verbraucher das
Gebot der Stunde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir sind nicht der Meinung, dass der Verbraucher ein
Wesen mit null Konsumwissen ist, also jemand, der
keine Ahnung hat. Das könnte man aber manchmal den-
ken, wenn man Ihren Antrag liest. Der Verbraucher steht
im Fokus der Forschung. In vielen Studiengängen wird
verbraucherbezogen geforscht, und nicht nur im Sinne
von Verkaufs- und Manipulationsstrategien, wie hier un-
terstellt wird. Ich selbst gebe an der Hochschule Rhein-





Dr. Erik Schweickert


(A) (C)



(D)(B)

Main am Campus Geisenheim Vorlesungen, die sich un-
ter anderem mit Verbraucherländern befassen. Da wird
sehr genau erforscht, was der Verbraucher denn möchte.
Hier richten wir unser Augenmerk insbesondere auf den
informierten Verbraucher. In anderen Fachrichtungen
– Kollege Holzenkamp hat es gesagt – ist es genauso: sei
es in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften
oder auch in den Rechtswissenschaften oder in der Psy-
chologie. An Ergebnissen mangelt es uns hier also nicht.

Aber nicht nur die Forschung, auch der Verbraucher
selbst ist manchmal viel weiter, als es ihm die SPD in ih-
rem Antrag zutraut. Er ist nicht der tumbe Hans-guck-in-
die-Luft. Die Realität sieht anders aus. Der Verbraucher
hat keine Angst vor Innovationen und Wahlmöglichkei-
ten. Im Wettbewerb ist der Verbraucher immer noch Kö-
nig. Das zeigen uns die Rabattschlachten im Einzelhan-
del, die ohne Wettbewerb gar nicht stattfinden würden.


(Zuruf von der SPD: Die haben aber andere Ursachen, Herr Kollege!)


Die Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentest
sind, staatlich gefördert, unverzichtbare Informations-
quellen für den eigenverantwortlich handelnden Bürger.
Mit dem Internet als weiteren Ratgeber hat er ganz tolle
Vergleichs- und Auswahlmöglichkeiten.

Waren Sie schon einmal auf der Funkausstellung? Ich
bin dagewesen. Schauen Sie sich die Begeisterung der
Verbraucher an. Da hat keiner gejammert, dass er nun
zwischen LED-, LCD- und 3D-Fernsehern eine Auswahl
treffen kann. Es ist ja auch kein Zufall, dass genau zeit-
gleich in den Berliner Multimediamärkten diese Pro-
dukte laufen. Die Verbraucher sind also Innovationen
gegenüber aufgeschlossen; ich glaube, viel aufgeschlos-
sener, als es die SPD jemals war. Als Sie von der SPD
1998 in Ihrem Wahlslogan noch den Begriff „Innova-
tion“ benutzten, waren Sie erfolgreich. Ich glaube, ein
erfolgreicher Verbraucher ist der, der an Innovationen
glaubt. Leider hat sich die SPD vom Thema Innovation
wieder ein bisschen entfernt.

Wenn Sie auf Seite 2 Ihres Antrags schreiben, der
Verbraucher habe bisweilen unklare Ziele und handle
nicht im Sinne der gesellschaftlichen Wohlfahrt, kann
ich Ihnen nur entgegnen: Na und? Soll er das doch tun.
Es ist mir wesentlich lieber, der Verbraucher handelt ei-
genverantwortlich, als so, wie es ihm der Staat vor-
schreibt.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Selbstverständlich! So passt es der Wirtschaft!)


Wir wollen den mündigen Bürger und nicht den staatlich
bevormundeten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Verbraucher ist dabei nicht so hilflos, wie die Oppo-
sition behauptet.

Bei einem Punkt, Frau Drobinski-Weiß, gebe ich Ih-
nen allerdings recht. Wir benötigen bisweilen etwas
mehr Evidenzbasierung. Gerade für mich als Wissen-
schaftler ist das Vorgehen der Politik manchmal etwas
ungewohnt und unbefriedigend. Ich habe mich schon oft
gefragt, ob Warnungen vor 1-Cent-Überweisungen für
den Verbraucher wirklich relevant bzw. wichtig sind. Ich
glaube, solche Warnungen kommen daher, dass es an
empirischen Studien darüber mangelt – das wissen wir
als Politiker nämlich häufig nicht –, was die Verbraucher
wirklich wollen und was sie fordern. Der Verbraucher ist
nämlich manchmal weiter, als wir es ihm zugestehen
wollen.

Wir, die Verbraucherpolitiker aller Fraktionen, die
wir hier sitzen, erfahren aus Zuschriften, aus Gesprä-
chen in den Wahlkreisbüros oder aus Gesprächen mit
den Bürgern, wo der Schuh drückt. Es kann aber nicht
schaden, wenn wir durch Umfragen die relevanten The-
men und die tatsächlichen Problemlagen der Verbrau-
cher herauszufiltern versuchen. Ein entsprechender Pos-
ten für sogenannte Entscheidungshilfe-Vorhaben steht
dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz im Haushalt zur Verfügung. Die-
sen sollten wir nutzen.

Wir gehen hier auch auf meine Initiative hin voran.
Frau Lay hat vorhin die sogenannte Berlin-Stichprobe an-
gesprochen. Vielleicht war es früher, als Berlin ein abge-
grenzter Markt war, ausreichend, dort zu fragen, was ge-
wünscht wird. Heute steht Berlin mit seinen ganzen
Problemlagen nicht repräsentativ für die Bundesrepublik
Deutschland. Deswegen stellen wir jetzt die Fragen – wir
haben ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gege-
ben –: Welche Felder können priorisiert werden? Welche
Themen sind für die Verbraucherinnen und Verbraucher
tatsächlich wichtig? Ähnlich wie bei einem Consumer
Board wollen wir feststellen, was den Verbrauchern
wichtig ist. Dann begehen wir nicht mehr den Fehler, vor
Sachen zu warnen – beispielsweise vor 1-Cent-Überwei-
sungen –, die sich nachher als nicht sehr problematisch
herausstellen.

Ich möchte wissen, was für die Verbraucherinnen
und Verbraucher im Fokus steht. Da haben wir wirklich
einen Nachholbedarf. Wir werden hier nachbessern;
denn wir von der christlich-liberalen Koalition setzen
klare Schwerpunkte. Eine evidenzorientierte Politik
bringt den effizienten Verbraucherschutz voran. Wir
brauchen keine neue Forschungsrichtung, keine neuen
Forschungseinrichtungen, Studiengänge oder Markt-
wächter, erst recht keine Bevormundung der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706520200

Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706520300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

den vergangenen Jahren hat die Verbraucherpolitik kon-
tinuierlich an Bedeutung gewonnen, weil sich die Men-
schen auf immer komplexeren, oft globalen Märkten
behaupten müssen. Neue Angebote und technische
Innovationen, aber auch ganz neue Märkte, die durch Li-





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)

beralisierungen oder die Notwendigkeit zur privaten
Vorsorge entstanden sind, machen es uns allen schwer,
den Überblick zu behalten und eine gute Wahl zu treffen.
Natürlich wollen wir den Menschen nicht vorschreiben,
was sie konsumieren; zum Glück können wir das auch
nicht. Es gibt aber durchaus ein Gemeinwohlinteresse an
der guten Wahl.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das wird auch von CDU/CSU und FDP so gesehen. Herr
Holzenkamp und Herr Schweickert, ich will Ihnen zwei
Beispiele nennen:


(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Das ist ja nett!)


Erstes Beispiel: eine Informationskampagne der Dro-
genbeauftragten der Bundesregierung – sie gehört der
FDP-Fraktion an – für schwangere Frauen. Sie rät dazu,
während der Schwangerschaft möglichst keinen Alkohol
zu sich nehmen.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Richtig!)


Das ist nicht wertneutral. Natürlich hat der Staat ein In-
teresse an gesunden Kindern und Müttern. Deshalb be-
einflusst man die Verbraucherinnen und Verbraucher in
eine bestimmte Richtung. Hierbei handelt es sich um
Einflussnahme, auch wenn es mit einem Faltblatt und
damit sehr rückhaltend und vorsichtig geschehen ist.

Zweitens: private Altersvorsorge. Wenn man meint,
man dürfe überhaupt keinen Einfluss nehmen, dann
dürfte man nicht bestimmte Produkte steuerlich günsti-
ger stellen, wie wir es bei der Riester-Rente machen.
Wenn der Staat völlig wertneutral wäre, hätte man sich
auch hier den Schubs in eine bestimmte Richtung ver-
kneifen müssen. Das machen Sie natürlich nicht; es wäre
auch völlig unsinnig, die Menschen von der privaten
Vorsorge fernzuhalten.

Damit will ich sagen: Der Staat ist in der Verbrau-
cherpolitik – auch bei der von FDP und CDU/CSU – na-
türlich nicht wertneutral. Wir schubsen sozusagen die
Verbraucher gemeinwohlorientiert in eine bestimmte
Richtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Leider werden sowohl die Verbraucherinformationen
als auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen oft auf
unzureichenden empirischen Grundlagen erstellt bzw.
geschaffen. Stattdessen geht man von theoretischen Leit-
bildern aus, die oft illusorisch sind; der Homo oecono-
micus wurde hier schon oft gescholten. Es ist leider eine
Illusion, dass Verbraucher immer die für sie günstigste
Entscheidung treffen, alle Informationen aufnehmen und
diese dann auch noch berücksichtigen.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Korrekt!)


Wir Verbraucherpolitiker sind es gewohnt, alltagsem-
pirisch zu diskutieren: Wir kennen Herrn Blesers 85-jäh-
rige Mutter aus den Debatten im Ausschuss.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Marlene Mortler [CDU/CSU]: Ein gutes Beispiel!)

Wir wissen zum Beispiel, dass Kinder Spielzeug in den
Mund nehmen, auch wenn es dafür nicht gemacht ist.
Das heißt, wir argumentieren nicht mit dem Leitbild des
Verbrauchers, sondern beziehen uns auf die gelebte Rea-
lität. Natürlich wäre es noch schöner, wenn wir nicht nur
die gelebte Realität der Mitglieder des Verbraucher-
schutzausschusses berücksichtigen könnten, sondern un-
sere Politik evidenzgeleitet und forschungsbasiert betrei-
ben könnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dafür fehlt uns oft noch die wissenschaftliche Grund-
lage. Wir wissen beispielsweise nicht, ob die Mütter, an
die die Faltblätter Ihrer Kollegin Frau Dyckmans gerich-
tet sind, die Faltblätter auch wirklich lesen. Wir wissen
nicht, ob für diese Personengruppe ein Fernsehwer-
bespot nicht vielleicht geeigneter gewesen wäre.

Es ist sehr wichtig, die vorhandenen Instrumente zur
Verbraucheraufklärung und zur Verbraucherinformation
empirisch abzusichern. Deshalb haben wir Grüne uns
überlegt, dass wir in einem Antrag zum Haushalt
2 Millionen Euro zusätzlich für die verbraucherbezo-
gene Forschung einsetzen wollen. Vielleicht knapsen Sie
diesen Betrag bei der Gentechnikforschung ab.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Damit wäre allen gedient. In diesem Sinne freue ich
mich auf die weiteren Beratungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706520400

Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1706520500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Der Verbraucher ist überfordert. Er
reagiert längst nicht so rational, wie es das Bild des mün-
digen Verbrauchers suggeriert. Er muss gelenkt und sein
Handeln muss erforscht werden. –


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Er muss nicht gelenkt, sondern erforscht werden!)


Dieser unterschwellig sozialistische Ansatz in Ihrem An-
trag


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


deckt sich nicht mit unserem Verbraucher- und Men-
schenbild.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit!)


Wir glauben an den eigenverantwortlichen, an den mün-
digen Verbraucher.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

Ich plädiere an dieser Stelle für Verbraucher- und
Wirtschaftsinteressen auf Augenhöhe. Deshalb ist es un-
ser Ziel, zuverlässige, umfassende, sachliche und klare
Informationen über die Produkte zu erzielen. Ich zitiere
Ihren Antrag:

Die Anbieterseite wendet viele Erkenntnisse der
Verhaltensökonomik bei der Ausgestaltung ihrer
Geschäftsmodelle bereits an.

Das ist richtig.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind mitten im Sozialismus gelandet!)


Die Anbieterseite weiß, wie der Verbraucher tickt. Der
Verbraucher ist kein unbekanntes Wesen. Er trifft seine
Verbrauchsentscheidungen selten rational.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist falsch!)


Als Beispiel will ich Rabatte oder Preisabschläge
nennen. Sie wirken oft – das beobachte ich immer wie-
der – wie eine Droge. Neulich traf ich eine Taxifahrerin,
die mir erzählte, sie habe eine Frau in den Supermarkt
gefahren, weil es dort die Hähnchen im Angebot günstig
gab. Die Taxikosten waren Nebensache.

Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Skandale.
Jedes Jahr im Sommerloch – danach kann man schon die
Uhr stellen – entdecken einschlägige Organisationen das
Geschäft mit der Angst, um ihre eigene Kasse zu füllen.
Pestizide in Paprika, Tomaten oder Trauben, egal in wel-
cher Menge: Hauptsache Skandal. Skandale bringen
Aufmerksamkeit, machen dem Verbraucher Angst und
verunsichern ihn. Um sein Gewissen zu beruhigen, spen-
det er wiederum an diese Organisationen, damit sie wie-
der Skandale produzieren können.

Gutachten werden oft monatelang zurückgehalten.
Ein Beispiel in diesem Jahr war die Verpackung von
Fleisch unter Schutzgasatmosphäre. Wenn es wirklich
gesundheitliche Gefahren gab, dann frage ich mich, wa-
rum Foodwatch seine Erkenntnisse bis zum Sommerloch
zurückgehalten hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein solches Verhalten ist unredlich. Hier besteht akuter
Handlungsbedarf. Deshalb setzen wir auf eine unabhän-
gige Verbraucherberatung. Wir unterstützen die Arbeit
von Stiftung Warentest und des Verbraucherzentrale
Bundesverbands konstant und verlässlich.

Gestatten Sie mir einen kurzen Ausflug, liebe Kolle-
gin Drobinski-Weiß, in die Welt von Mann und Frau.


(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Nach dem Sozialismus die Geschlechterfrage!)


Kürzlich hörte ich: Das Auto ist das moderne Reittier
des Mannes. Es gibt Automarken, die mit den Begriffen
„Freude“ und „Zukunft“ beworben werden. Wollen Sie
dem Mann die Freude wirklich nehmen?


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Miersch [SPD]: Wir sind richtige Spaßbremsen! – Heinz Paula [SPD]: Spaßpartei CSU!)

Für uns Frauen gibt es ein kleines Auto, das das emotio-
nalste Auto der Welt ist. Die Werbung fragt uns Frauen:
„Is it love?“ – Ist es Liebe? –, und wir steigen ein.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können nicht von sich auf andere schließen!)


Menschen kaufen Problemlösungen und Gefühle.
Menschen wollen sich glücklich kaufen. Wer die Herzen
gewinnt, hat heutzutage mit dem Geldbeutel der Kunden
ein leichtes Spiel. Ich gebe es zu.

Aber genau das ist heute der Schlüssel in gesättigten
Märkten. Diese Erkenntnisse will die SPD nun weiter
vertiefen und dem Handel teure Einkaufsstudien erspa-
ren. Das zahlt schließlich der Bund.

Im Ernst: Auch wir sprechen uns für interdisziplinäre
Forschungseinrichtungen und für die Prüfung weiterer
Stiftungsprofessuren aus.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Gott sei Dank!)


Es gibt sie aber schon. An der TU München zum Bei-
spiel gibt es seit 2004 den Masterstudiengang „Consu-
mer Science“. An der Hochschule Calw gibt es die „Stif-
tungsprofessur für Konsumverhalten und europäische
Verbraucherpolitik“.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Mit Ausrichtung Verhaltensökonomie!)


Mein Kollege Holzenkamp hat darüber hinaus bereits er-
wähnt, dass die Uni Bayreuth im Jahr 2010 mit der „Stif-
tungsprofessur Verbraucherrecht“ ausgestattet wurde.
All dies wird mit Mitteln des Bundes finanziert und in
meinem Heimatland Bayern angeboten.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das dachte ich mir! Wo auch sonst!)


Ich will damit nur sagen: Ilse Aigner, unsere Ministerin,
ist schon da.

Die Probleme bestehen nicht in der Gesetzgebung,
sondern sind der Rechtsdurchsetzung geschuldet. Bernd
Krieger, der Leiter des Europäischen Verbraucherzen-
trums, hat das diese Woche beim 14. Tourismusgipfel
hier in Berlin deutlich gemacht. Er sagte außerdem, dass
das Europäische Verbraucherzentrum in den wenigsten
Fällen Beschwerden aus Deutschland erhält.

Wir brauchen sicherlich keine Forschungseinrichtun-
gen. Damit möchte ich noch einmal auf Ihren Antrag und
Ihr schräges Beispiel des Fluggastes zurückkommen, der
mit der Buchung eines Fluges automatisch eine Reise-
rücktrittsversicherung abgeschlossen hat. Hier müssen
andere Maßnahmen greifen.

Der traurige Höhepunkt Ihres Antrages ist aber die
Forderung eines sogenannten Verbraucherchecks für alle
Gesetze.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist doch mal eine vernünftige Maßnahme!)






Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

Sie wollen allen Ernstes alle Gesetze, die in den Deut-
schen Bundestag eingebracht werden, einem Verbrau-
chercheck unterziehen.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wenn Sie den Verbraucher ernst nehmen, dann schon! Ja!)


Schlaumeier in Ihren Reihen sagen auch noch: Was wol-
len Sie denn? Auch Bürokratie schafft Arbeitsplätze.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Frau Kollegin, das haben Sie nicht verstanden!)


Wissenschaftsbasierte Forschung und empirische Un-
tersuchungen sind notwendig und müssen intensiviert
werden; so steht es auch in unserem Koalitionsvertrag.
Ich persönlich bin aber nicht nur Verbraucherin, sondern
auch Unternehmerin.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja! Die Wirtschaft! Natürlich!)


Der Verbrauchercheck, von dem in Ihrem Antrag die
Rede ist, schreckt derart ab, dass man diesen Antrag mit
gutem Gewissen ablehnen kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706520600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2343 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung

– Drucksachen 16/13800, 17/591 Nr. 1.18,
17/3158 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Ulla Burchardt
Patrick Meinhardt
Dr. Rosemarie Hein
Kai Gehring

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Murmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Philipp Murmann (CDU):
Rede ID: ID1706520700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-

reits Erasmus von Rotterdam sagte: Die größte Hoffnung
einer Nation liegt in der richtigen Erziehung ihrer Ju-
gend. – Genau darüber wollen wir heute sprechen. Ich
glaube, Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein,
wenn nicht sogar das Thema für unsere Gesellschaft. In
unserem Beirat haben wir schon darüber gesprochen.
Man kann sicherlich sagen, dass wir uns in vielen Punk-
ten, die wir jetzt vortragen, sehr einig sind.

Unser Ziel ist es, ein ökologisch, ökonomisch und na-
türlich auch sozial intaktes Gefüge an unsere Kinder
weiterzugeben. Die Instrumentarien dafür müssen wir in
unserem Bildungssystem verankern.

Worum geht es dabei? Zunächst einmal geht es da-
rum, Talente und Fähigkeiten zu fördern und den Kin-
dern beizubringen, wo ihre Leistungsgrenzen sind, so-
dass sie die Möglichkeit haben, eine ausgewogene,
selbstkritische und starke Persönlichkeit auszubilden,
um dann das eigene Leben gestalten, das Umfeld mitge-
stalten und etwas zur Gemeinschaft beitragen zu können.
Das gilt natürlich nicht nur für die frühkindlichen Bil-
dungseinrichtungen und die Schule, sondern zieht sich
durch das ganze Leben.

Wir befinden uns in der UN-Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“. Sie läuft seit 2005 und geht
noch bis 2014. Das heißt, wir haben etwas mehr als die
Hälfte hinter uns. Ich denke, wir können schon jetzt auf
einige positive Aspekte zurückblicken. Vier Aspekte
möchte ich kurz anführen:

Erster Bereich: Es gibt tausend erfolgreiche Projekte
zum Thema nachhaltige Entwicklung. Diese Projekte
sind insofern von besonderer Bedeutung, als die prakti-
sche Erfahrung oft wertvoller ist als der theoretische Un-
terricht. Es gibt Schülerprojekte, in denen Wollprodukte
hergestellt werden. Es gibt Schülerfirmen an den Schu-
len, die zum Beispiel Kioske betreiben. Wenn man einen
solchen Kiosk betreibt, muss man sich überlegen, wel-
che Produkte man einkauft. Wo kommen die Produkte
her? Was für eine Qualität haben sie? Welchen Preis
kann ich dafür erzielen? Kann ich einen fairen Preis er-
zielen? Wie kann ich das System so nachhaltig gestalten,
dass an jedem Tag Kinder bei mir einkaufen, und wie
kann ich dafür sorgen, dass sie wiederkommen? Habe
ich auch genug Kinder, die den Schülerkiosk betreuen?
Ich denke, diese Projekte sind besonders wertvoll, weil
die Kinder dadurch viele Erfahrungen im Zusammen-
hang mit dem Thema Nachhaltigkeit machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein weiteres kleines Beispiel, das uns alle angeht: Oft
haben wir hier, im Bundestag, Besuch von Schülergrup-
pen. Hinterher kommen die Lehrer häufig zu mir – ich
denke, das geht Ihnen auch so – und sagen: Theoreti-
scher Unterricht ist das eine, aber es ist etwas anderes,
hier mit den Abgeordneten persönlich über Inhalte der
Politik, über die Struktur des Bundestages und die Auf-
gaben der Parlamentarier zu diskutieren. Dieser Einblick
in die Praxis ergänzt den Unterricht sehr gut; denn, wer
Zusammenhänge erkennt und versteht, der ist eher be-





Dr. Philipp Murmann


(A) (C)



(D)(B)

reit, Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, es muss
auch unser Ziel sein, unsere Jugend zur Verantwortung
zu erziehen.

Zweiter Punkt: persönliches Verhalten und Engage-
ment. Eine Umwelt-AG, die im Bereich „nachhaltige
Pflanzenzüchtung“ schon mehrere Preise gewonnen hat,
hat meine Fraktion angeschrieben. Diese AG hat das
Problem, dass der Lehrer nun in Pension geht und die
Nachfolge noch nicht geregelt ist. Auch die Schüler, die
das Projekt betreiben, verlassen die Schule und haben
ebenfalls noch keine Nachfolger gefunden. Das heißt,
auch diese Schüler müssen sich mit dem Thema beschäf-
tigen, wie eine nachhaltige Struktur verankert werden
kann. Deswegen brauchen wir Leute, die sich über das
normale Maß hinaus für diese Themen engagieren, da-
mit nachhaltige Entwicklung über den normalen Unter-
richt hinaus verankert werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD] und des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich denke, das ist ein gesellschaftliches Thema. Wir
brauchen mehr gesellschaftliches Engagement und vor-
bildhaftes Verhalten in vielen Bereichen. Sie alle kennen
den Werbespruch „Geiz ist …“ Ich will gar nicht sagen,
wie das Wort lautet; das gehört nicht in den Bundestag.
Jeder Konsument muss sich die Frage stellen, inwieweit
er zur Nachhaltigkeit beiträgt, wenn er solchen Parolen
folgt. Inwieweit können Produkte überhaupt nachhaltig
gestaltet sein, wenn man so um den Preis kämpft und mit
solchen Werbelinien agiert? Das kann nicht im Sinn ei-
ner nachhaltigen Politik sein. Insofern müssen wir uns
auch darüber Gedanken machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dritter Bereich: nachhaltige Entwicklung als Teil des
Unterrichts. Ich habe vorhin von den Projekten gespro-
chen, die außerhalb des Unterrichts stattfinden. Natür-
lich müssen wir uns auch die Frage stellen, inwieweit
wir das Thema „nachhaltige Entwicklung“ in den Unter-
richt einbinden können. Dabei geht es natürlich darum,
Elemente der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Fä-
cher einzubinden. Lehren, Lernen und Erleben – diesen
Dreiklang zur Nachhaltigkeit sollten wir verankern.

Der letzte Punkt: Natürlich müssen wir uns auch da-
rüber Gedanken machen, welche Instrumente und wel-
che Infrastruktur wir weiter ausbauen müssen. Wir sind
zwar schon sehr weit gekommen, aber ich denke, wir
müssen dennoch die Instrumente Lehrerausbildung,
Lehrerfortbildung, Schulbücher, Schulmaterialien, Rah-
menlehrpläne und Projektangebote weiterentwickeln.
Bis 2014 haben wir noch etwas Zeit.

Ich denke, die Bundesregierung hat sehr gut damit an-
gefangen. Projekte wie „Jugend forscht“ und die Initia-
tive „Forschung für Nachhaltigkeit“ sind eine gute
Grundlage. Eines ist sicher: Ohne Bildung gibt es keine
nachhaltige Entwicklung. Deswegen ist das Thema so
wichtig und sollten wir hier über alle Fraktionen hinweg
gemeinsam um dieses Thema ringen und daran arbeiten.
Ich danke Ihnen herzlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706520800

Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-

Fraktion.


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1706520900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In Rio de Janeiro haben im Jahr 1992 178 Staaten die
Agenda 21 verabschiedet. Sie ist die Grundlage für die
weltweit nachhaltige Entwicklung bzw. für das Streben
nach dieser nachhaltigen Entwicklung. Man war der
Auffassung, dass die Forderung nach gerechten sozialen
Verhältnissen, nachhaltigen Formen im Umgang mit der
Natur und beim Wirtschaften sowie nach der Partizipa-
tion von Kindern, Jugendlichen und Frauen an den Ent-
scheidungsprozessen nicht ohne neue Kompetenzen und
einen mentalen Wandel umgesetzt werden kann. Dieser
mentale Wandel ist die Grundlage für das, was wir heute
Bildung für nachhaltige Entwicklung nennen. Bei uns
begann die Diskussion in den 90er-Jahren. Man hat ge-
sehen: Es gibt globale, ökologische Probleme, die wir
gar nicht alleine lösen können, es gibt wenig zukunftsfä-
hige Entwicklungen und eine fehlende Generationenge-
rechtigkeit. Das alles sollte eigentlich bekämpft werden;
diese Probleme sollten behoben werden.

Eine Möglichkeit hierzu besteht im Bildungsbereich.
Es ist natürlich sinnvoll, bei den Kindern anzufangen,
wenn man darauf aufbauend Erwachsene erziehen
möchte. Erwachsene umzuerziehen ist, wie wir alle im
politischen Bereich wahrscheinlich erleben, ungleich
schwieriger. Deshalb haben die Vereinten Nationen für
die Zeit von 2005 bis 2014 die Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen. 2004 hat die Bun-
desregierung, vom Bundestag aufgefordert, die Deutsche
UNESCO-Kommission mit der organisatorischen Aus-
gestaltung dieser UN-Dekade beauftragt und finanziell
ausgestattet. Die Ziele wurden im Nationalen Aktions-
plan zusammengefasst.

Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-
lung – er ist schon angesprochen worden –, dem viele
der hier Anwesenden angehören, versucht, Projekte zur
Erreichung der gesteckten Ziele im Konsens zu beschlie-
ßen; meistens gelingt ihm dies. Wir haben uns im März
2008 und im März 2009 mit der Umsetzung der Ziele
beschäftigt und festgestellt, dass weiterhin Ausbau-
potenzial vorhanden ist.

Ich denke, auch die Parteien und Fraktionen sind ge-
fordert. Wir haben als SPD-Fraktion im Mai 2009 eine
Veranstaltung unter dem Titel „Mit guten Beispielen vo-
ran“ durchgeführt. Hier wurden beispielhaft Aktionen
vorgestellt, die in verschiedenen Bundesländern erfolgt
sind, und zwar in den Bereichen Schule, Ausbildung und
Kindergarten bis hin zu städtischen Aktionen im Müllbe-
reich. Wir haben sehr viel gefunden. Das zeigt, dass es
eine ganze Menge an Projekten gibt. Sie haben schon ei-





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)

nige schulische Projekte angesprochen. Ich denke, das
ist durchaus erwähnenswert, aber auch ausbaufähig.

Wir haben das Problem, dass wir hier Werte und Prin-
zipien fördern müssen, die teilweise nicht vorhanden
oder erst im Kleinen angelegt sind. Diese Prinzipien stel-
len jedoch die Basis für nachhaltige Entwicklung dar.

Die Bundesregierung – das haben wir in der Be-
schlussempfehlung geschrieben – wird aufgefordert,
weiterhin an ihrer Zielsetzung festzuhalten und das Pro-
gramm „Transfer 21“, das leider ausgelaufen ist, dahin
gehend weiterzuentwickeln, dass immer mehr Schulen
an Programmen für nachhaltige Entwicklung teilneh-
men. Als Mutter von vier Kindern, deren Kinder in der
Zeit zwischen 1999 und 2004 alle in der Schule waren,
muss ich sagen, dass mir persönlich solche Programme
nicht begegnet sind, obwohl meine Kinder auf unter-
schiedlichen Schulen waren. Im Schülercafé wurde ein
bisschen fairer Handel betrieben, aber mehr Projekte
habe ich nicht erlebt. Das fand ich im Nachhinein ziem-
lich schade. Ich denke, die jetzt betroffenen Eltern soll-
ten das verstärkt einfordern.

Wir fordern die Bundesregierung in unserer Be-
schlussempfehlung auch auf, davon zu berichten, inwie-
weit die Aktionen, die angestoßen und weitergeführt
worden sind und werden, finanziell unterstützt werden.

Im Moment hat der entsprechende Ansatz im Etat des
Bundesministeriums ein Volumen von 450 000 Euro pro
Jahr; dieser Betrag kommt mir, ehrlich gesagt, nicht be-
sonders hoch vor. Davon werden vor allen Dingen Best-
Runner-Projekte ausgezeichnet. Aber auch dies entfaltet,
wie ich finde, nur wenig öffentliche Wirkung. Ich zu-
mindest wüsste nicht, welches das Best-Runner-Projekt
2010 war, und ich weiß nicht, ob es einer meiner Kolle-
gen kennt. Ich denke, hier kann man, auch was die Öf-
fentlichkeitsarbeit angeht, noch eine ganze Menge tun.
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Regie-
rungsmitglieder herausragende Schülerprojekte oder
Schulen auszeichnen. Ich jedenfalls würde mir das wün-
schen.

Des Weiteren ist an die Länder zu appellieren, auf die
Lehrpläne Einfluss zu nehmen und das Projekt „Nach-
haltige Bildung“ nicht nur nachmittags in irgendeiner
AG durchzuführen, sondern man sollte dieses Thema
auch im Unterrichtsplan immer wieder aufgreifen. Es
gibt mehrere Fächer, die sich hierfür anbieten, nicht nur
das Fach Biologie. Ich denke, es gibt viele Fächer, deren
Unterrichtsinhalte auf Nachhaltigkeit hin überprüft und
überarbeitet werden müssten. Dass dies geschieht, müs-
sen wir von den Ländern fordern. Denn wir wissen: Auf-
grund des Föderalismus ist der Bund nur begrenzt in der
Lage, auf die Lehrpläne Einfluss zu nehmen.

Ich plädiere an alle Beteiligten, von der Regierung
über die Kultusministerien bis hin zu uns in den Fraktio-
nen und Parteien, mehr für den Bereich nachhaltige Bil-
dung zu tun. Wir tun das übrigens für uns. Denn wenn
unsere Kinder nachhaltig gebildet sind, dann werden sie
sich später hoffentlich auch um uns kümmern. Themen
wie der demografische Wandel und die Generationenge-
rechtigkeit betreffen nämlich auch uns, nicht nur nach-
folgende Generationen. Wir alle werden immer älter.
Hoffentlich werden wir gesund älter; wenn nicht, müs-
sen wir versorgt werden. Auch deswegen ist die Bildung
unserer Kinder im Hinblick auf Nachhaltigkeit sehr
wichtig. Ich möchte alle Beteiligten bitten, dieses Pro-
jekt zu unterstützen und daran weiterzuarbeiten.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706521000

Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Angelika Brunkhorst (FDP):
Rede ID: ID1706521100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte mit einem Zitat des Präsidenten der Deutschen
UNESCO-Kommission, Walter Hirche, beginnen:

Bildung für nachhaltige Entwicklung vermittelt
Werte, Kompetenzen, Fertigkeiten und Kenntnisse,
die für die verantwortliche Gestaltung der Zukunft
erforderlich sind.

Wir alle merken doch, dass sich weltweit ein starker
gesellschaftlicher und ökologischer Wandel vollzieht. Im
Namen der FDP-Fraktion begrüße ich die vorgelegte Be-
schlussempfehlung und den Bericht der Bundesregie-
rung.

In der zweiten Hälfte der UN-Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ muss das Bewusstsein der
Menschen für Nachhaltigkeit noch mehr gestärkt wer-
den.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Bevölkerung muss das nötige Verständnis und Wis-
sen an die Hand gegeben werden, damit sie die sozialen,
ökologischen und ökonomischen Auswirkungen auf ihr
Handeln verinnerlicht. International, insbesondere aber
in Deutschland, ist das Interesse an Nachhaltigkeitsthe-
men mit Beginn der UN-Dekade „Bildung für nachhal-
tige Entwicklung“ immens gewachsen. Diesen Trend hat
der Staat aufgegriffen und entsprechende Maßnahmen
auf den Weg gebracht.

Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten das National-
komitee und der Runde Tisch. Beide Foren sind für die
Umsetzung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“ unerlässlich. Sie fördern die Vernetzung
und den Austausch der verschiedenen Akteure unterei-
nander. Die im Nationalen Aktionsplan von Bundestag,
Nationalkomitee und Rundem Tisch festgeschriebenen
Ziele, zum Beispiel die Verstärkung internationaler Ko-
operation und die Weiterentwicklung und Bündelung
von Aktivitäten, tragen zur Verbesserung der öffentli-
chen Wahrnehmung von Bildung und Nachhaltigkeit bei.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Besonders wichtig war die Einbindung der Kommu-
nen im Rahmen eigener Dekadeprojekte. Dadurch





Angelika Brunkhorst


(A) (C)



(D)(B)

konnte das Thema in den Köpfen der Bevölkerung vor
Ort verankert werden. Alle deutschen Gebietskörper-
schaften werden in diesen Entwicklungsprozess einge-
bunden. Um eine noch stärkere Verflechtung zu erzielen,
sollten wir uns dafür starkmachen, dass die Kommunen
einen Sitz im Nationalkomitee bekommen. Das wäre
wirklich zielführend.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Bei der Aus- und Weiterbildung spielen Hochschulen
eine zentrale Rolle. Viele Hochschulen bieten inzwi-
schen ein vielfältiges Studienangebot zur Nachhaltigkeit
an und haben innovative Lernkonzepte entwickelt. Ein
exzellentes Beispiel dafür ist die Leuphana-Universität
in Lüneburg. Kürzlich wurde sie mit dem renommierten
International Sustainable Campus Excellence Award
ausgezeichnet.

Herausragend ist darüber hinaus, dass die Leuphana
sogar eine eigene Fakultät für Nachhaltigkeitswissen-
schaften etabliert hat. Das ist ein Ansporn für weitere
Hochschulen in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Als niedersächsische Bundestagsabgeordnete freut es
mich, Ihnen mitteilen zu können, dass insbesondere Nie-
dersachsen ein Impulsgeber beim Thema „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ war und auch ist. So hat der
Niedersächsische Landtag vor knapp drei Jahren einen
Entschließungsantrag angenommen, um den Nationalen
Aktionsplan aktiv zu unterstützen.

Das Schulprojekt „Transfer 21“ – das wurde bereits
erwähnt – wurde mit großem Erfolg umgesetzt. Circa
17 Prozent der niedersächsischen Schulen waren 2008 in
das Programm eingebunden. Dieser Anteil lag weit über
dem Bundesdurchschnitt.

Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde in vielen
Schulen implementiert und sehr praxisbezogen mit dem
landesweiten Projekt „Nachhaltige Schülergenossen-
schaften“ umgesetzt. Insbesondere haben sich Grund-,
Förder-, Haupt- und Realschulen am Programm „Trans-
fer 21“ beteiligt, in denen man in erster Linie praktische
Lerninhalte anbietet und wo eher praktisch orientierte
Schüler gefördert werden. Insofern war dies genau rich-
tig. Schüler konnten Wirkungsketten kennenlernen, in
Teams zusammenarbeiten, ihre Rolle einnehmen, auf ih-
rem Posten Verantwortung übernehmen und – das ist
entscheidend – Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl
generieren.

Warum war dieses Programm gerade in Niedersach-
sen so erfolgreich? Wir haben ein langjähriges und soli-
des Netzwerk gepflegt und als einziges Bundesland ei-
nen Fokus auf die Gründung nachhaltiger Schülerfirmen
gelegt.

Auch die von der Stiftung „Innovations- und Zu-
kunftsfonds Niedersachsen“ finanzierte Beratungs- und
Serviceagentur zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
liefert aus liberaler Sicht entscheidende Impulse gerade
auch für andere Bundesländer. Zehn Bundesländer ha-
ben inzwischen das Multiplikatorenprogramm aus Nie-
dersachsen übernommen. Damit ist die Agentur ein
Leuchtturmprojekt im Bereich der Bildung für nachhal-
tige Entwicklung. Erfreulich ist außerdem die Vernet-
zung einzelner Bundesländer im Rahmen der Norddeut-
schen Partnerschaft zur Unterstützung der UN-Dekade.

Deutschland hat viel im Hinblick auf das Thema „Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung“ erreicht. Das von der
Regierung verabschiedete Lateinamerika-Konzept hat
die Forderung der FDP-Fraktion nach neuen Lernorten
aufgegriffen und entscheidende Weichen auf internatio-
naler Ebene gestellt. Ich begrüße diese Entwicklung und
möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion allen
Anerkennung zollen, die sehr engagiert und mit Leiden-
schaft das Projekt „Bildung für nachhaltige Entwick-
lung“ vorantreiben – und das ebenso ganz nachhaltig.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706521200

Das Wort hat nun Rosi Hein für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706521300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich

möchte mit einem Zitat beginnen:

Bei Nachhaltigkeit geht es um die Erreichung von
Generationengerechtigkeit, sozialem Zusammen-
halt, Lebensqualität und Wahrnehmung internatio-
naler Verantwortung.

So, verehrte Kolleginnen und Kollegen, steht es im „Be-
richt der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhal-
tige Entwicklung“, der bereits vor mehr als einem Jahr
von der damaligen Bundesregierung verabschiedet
wurde. Er beschreibt die Aktivitäten der Bundesregierung
zur Halbzeit der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“. Er hat in der Tat eine Reihe beachtlicher
Ergebnisse aufzuweisen, auch wenn man sagen muss,
dass einiges aus deutlich älteren Programmen stammt.

Insbesondere ist es gelungen, durch zahlreiche Pro-
gramme und Initiativen umweltbewusstes Verhalten bei
Kindern und Jugendlichen deutlich zu fördern. In mei-
nem Wahlkreis in Magdeburg beteiligten sich Schulen
am Fifty-fifty-Programm zur Energieeinsparung. Sie sind
dabei sehr engagiert. Ich finde das gut.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber der Bericht spricht nicht ohne Grund von einem
ganzheitlichen Ansatz für nachhaltige Entwicklung, der
soziale und demokratische Aspekte ebenso umfasst wie
das Wissen um eine umweltbewusste und gesunde Le-
bensweise.

Wer nämlich über kein ausreichendes Einkommen
verfügt, der kann sich trotz besseren Wissens nicht im-
mer umweltbewusst verhalten und gesund leben. Er
kann auch fair gehandelte Produkte oder ökologisch her-
gestellte Produkte unter Umständen nicht erwerben,





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

wenn er die Mittel dazu nicht hat; denn sie sind etwas
teurer.

Gute Bildung ist eine entscheidende Voraussetzung
für soziale Teilhabe, also für die Möglichkeit, auch ent-
sprechend nachhaltig zu handeln. Darum muss Bildung
unbedingt selbst nachhaltig sein, wenn man Bildung für
nachhaltige Entwicklung verwirklichen will,


(Beifall bei der LINKEN)


und das ist sie nur, wenn der Zugang zu Bildung für jede
und jeden gleichermaßen möglich ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Davon ist Deutschland aber weit entfernt.

Hier ist der Nachholbedarf am größten. Individuelle
Förderung schon im Kindergarten und in der Schule, da-
mit Schulabschlüsse nicht mehr nachgeholt werden müs-
sen: Das wäre nachhaltig und zudem preiswerter. –
Hierzu steht in dem Bericht nur eine lapidare Feststel-
lung, aber keine einzige Idee. Das kritisieren wir daran.


(Beifall bei der LINKEN)


Es wundert uns schon, dass im Berichtsteil des Bil-
dungsministeriums nichts zur Notwendigkeit des Nach-
holens von Schulabschlüssen zu finden ist, sondern in
dem des Arbeitsministeriums, so, wie übrigens auch die
Bildungschipkarte im Arbeitsministerium verhandelt
und ausgehandelt wurde und nicht im Bildungsministe-
rium. Wir stellen uns schon besorgt die Frage – ich habe
das in meiner letzten Rede schon einmal getan –, ob sich
das Bildungsministerium für Bildung nicht mehr zustän-
dig fühlt oder sich abschaffen will. Ich finde, darüber
muss man einmal ernsthaft nachdenken.


(Beifall bei der LINKEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig, abschaffen!)


Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass das
Thema „nachhaltige Entwicklung“ und der Beitrag der
Bildung dazu innerhalb der Bundesregierung wenig auf-
einander abgestimmt sind. Die Berichte der einzelnen
Ministerien stehen ziemlich unverfänglich und unabge-
stimmt nebeneinander. So stellt die Bundesbeauftragte
für die Belange behinderter Menschen fest: „Eine Schule
für alle macht ein Umdenken in unserem Bildungssys-
tem erforderlich“. – Eine Schule für alle: Das finde ich
völlig richtig.


(Beifall bei der LINKEN)


Als wir auf diese Aussage hin im Bildungsausschuss
nachgefragt haben, hatten wir aber den Eindruck, dass
das zuständige Bildungsministerium diese Aussage zum
ersten Mal hörte.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Von Ihnen nicht, nein!)


– Wir haben schon öfter darüber gesprochen, aber ir-
gendwie haben wir auf unsere Frage keine Antwort be-
kommen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ist es!)


Wir hatten das Gefühl: Es hat noch gar keiner gelesen,
dass das da drinsteht. – Ich finde es ja gut, dass es drin-
steht, aber das ist offensichtlich noch nicht weiter durch-
gedrungen.

Es geht aber noch weiter: Im Nationalen Aktionsplan
„Für ein kindgerechtes Deutschland 2005–2010“ hat
man sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Dazu gehören ein
„Aufwachsen ohne Gewalt“ und mehr „Beteiligung von
Kindern und Jugendlichen“. Davon muss man in Stutt-
gart noch nichts gehört haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: In der DDR auch nicht!)


Was meinen Sie eigentlich, welche nachhaltigen Demo-
kratieerfahrungen die Schülerinnen und Schüler bei ihrer
angemeldeten Demonstration gewonnen haben? Das,
was durch den Polizeieinsatz dort zerstört wurde, kön-
nen Lehrerinnen und Lehrer in noch so vielen Sozialkun-
destunden nicht wieder reparieren. Wer Belege dafür
sucht, der schaue sich bitte die Internetseiten der Schü-
lerzeitung Spießer an.

Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwick-
lung“ stand in der ersten Hälfte der Dekade jährlich un-
ter einem bestimmten Thema, so zum Beispiel „Wasser“
in 2008, „Energie“ in 2009 und „Geld“ in 2010 – wie
passend. Ich finde, die verbleibenden Jahre sollten ande-
ren Themen gewidmet werden, zum Beispiel dem
Thema „soziale Chancengleichheit“


(Beifall bei der LINKEN)


und dem Thema „demokratische Teilhabe“.

Wenn das ins Zentrum der Bemühungen der Bundes-
regierung gestellt würde, dann würde man auch dem
Eingangsziel, das ich vorhin zitiert habe, der Generatio-
nengerechtigkeit und dem sozialen Zusammenhalt in der
Gesellschaft besser gerecht werden, aber Sie haben die
Themen schon durchgeplant. Vielleicht ist das aber auch
ein Grund, noch einmal darüber nachzudenken.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706521400

Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706521500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zahlreiche Initiativen bemühen sich bundesweit, den Ge-
danken einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in
der Gesellschaft stärker zu verankern. Diesen Pionierin-
nen und Pionieren, den vielen engagierten Lehrern und
Schülern, gebührt fraktionsübergreifend unser Dank, weil
sie dazu beitragen, das wichtige Zukunfts- und Gegen-
wartsthema Nachhaltigkeit noch stärker ins Bewusstsein
der Menschen zu rücken.





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der CDU/CSU)


Die zweite Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nach-
haltige Entwicklung“ ist bereits angebrochen. Es ist da-
her höchste Zeit, dass die Bundesregierung darlegt, wie
ihre zukünftigen Förderstrategien aussehen sollen. Dies
muss sie zügig tun, damit dieser Prozess in der zweiten
Hälfte der Dekade und darüber hinaus mit Schwung wei-
tergehen kann und nachhaltig ist.

Es ist zum Glück unstrittig, dass wir Bildung für eine
nachhaltige Entwicklung brauchen. Wir brauchen sie in
allen Bildungseinrichtungen, also endlich auch stärker in
der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Wir brauchen
sie für alle Generationen im Sinne von lebenslangem
Lernen von Jung bis Alt, und wir müssen nachhaltige
Entwicklung enger mit Themen wie Demografie, Chan-
cen- und Generationengerechtigkeit verknüpfen. Darum
muss es jetzt in der zweiten Hälfte der UN-Dekade ge-
hen.

Wir meinen, dass Projektförderung nur der Auftakt
dazu sein kann, aus den vielfältigen lokalen Ansätzen,
die es gibt, ein breites Netzwerk mit guten Beispielen zu
knüpfen, aus dem ein umfassendes Leitbild zur Umge-
staltung unseres Bildungssystems erwachsen kann.

Gemeinsame Ziele für ein nachhaltiges Bildungssys-
tem müssen sein, die Potenziale und Talente von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen stärker zu erkennen, die
Zahl der Schul-, Ausbildungs- und Studienabbrüche
deutlich zu reduzieren und jedem eine zweite, dritte oder
vierte Chance zu eröffnen sowie mehr individuelle För-
derung, eine höhere Durchlässigkeit und somit auch
mehr Möglichkeiten zum Bildungsaufstieg in unserem
Bildungssystem zu gewährleisten, unabhängig von Her-
kunft und Geldbeutel der Eltern. Das ist ein sehr wichti-
ges Anliegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das wären wichtige Beiträge, um bundesweit zu mehr
Nachhaltigkeit im Bildungssystem zu kommen. Denn
Fakt ist, dass unser Bildungssystem ungerecht, unter-
finanziert und ineffizient ist. Leider werden viel zu viele
Talente vergeudet, und es mangelt an Chancengerechtig-
keit. Das liegt auch an vielen falschen politischen Wei-
chenstellungen in der Bildungspolitik.

Ein aktuelles Beispiel, über das wir immer wieder dis-
kutieren, ist das bildungs- und gleichstellungspolitisch
aberwitzige Betreuungsgeld, an dem Schwarz-Gelb nach
wie vor festhält. Ein weiteres Beispiel ist die frühe Tren-
nung von zehnjährigen oder gar neunjährigen Kindern
nach der vierten Klasse, wenn sie in unterschiedliche
Schulformen aufgeteilt werden, wie es in vielen Bundes-
ländern der Fall ist. Das ist aus unserer grünen Sicht das
glatte Gegenteil einer nachhaltigen Bildungspolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte auch die Nachhaltigkeitsprüfung von Ge-
setzentwürfen ansprechen. Aus unserer Sicht ist das sehr
sinnvoll, und es ist ein wichtiger Schritt. Diskutieren
sollten wir aber über die Aussagekraft der Prüfergeb-
nisse und die Frage, wie sie kommuniziert werden. Ein
aktuelles Beispiel ist das nationale Stipendienprogramm.
Es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, dass den
ungerechten Elitestipendien für wenige das Etikett
„wirkt nachhaltig“ angepappt wird. Ich finde, dazu gibt
es noch Diskussionsbedarf, um zu argumentieren und zu
kommunizieren, was die Nachhaltigkeitsprüfung bedeu-
tet.

Wir meinen, dass Bund und Länder gemeinsam stär-
ker ihrer nationalen und internationalen Verantwortung
gerecht werden müssen, Bildung für eine nachhaltige
Entwicklung zu einem Schwerpunkt zu machen.

Das rot-grüne Ganztagsschulprogramm wurde auch
in dem Bericht interfraktionell als ein Motor für die Ver-
ankerung von Nachhaltigkeitsthemen in Schulen gelobt.
Gleiches gilt für das Modellprojekt „Transfer 21“ der
BLK. All diese fraktionsübergreifend gelobten Initiati-
ven gibt es nicht mehr, weil inzwischen eine verkorkste
Föderalismusreform mit einem Kooperationsverbot in
Kraft gesetzt wurde, das die Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern im Bildungsbereich weitgehend ver-
bietet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb möchte ich – ich denke, ich spreche im Na-
men der gesamten Opposition – Ihnen, meine Damen
und Herren von der Koalition, an dieser Stelle anbieten,
dass wir gemeinsam zu mehr Tatkraft und Kooperation
von der Kita bis zur Weiterbildung insbesondere im
Schulbereich kommen und das Kooperationsverbot im
Grundgesetz wieder aufheben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Sie werden auch nicht klüger!)


Ich gehe davon aus, dass es dafür noch in dieser Le-
gislaturperiode eine Mehrheit im Bundesrat gibt und
dass wir dann die Chance haben, Bildungsblockaden
endlich wieder nachhaltig aufzubrechen. Das wäre ein
großer Beitrag für ein nachhaltiges Bildungssystem und
eine gute Bildungsfinanzierung in Deutschland.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Auf Landesebene falsche Bildungspolitik machen und sie vom Bund finanzieren lassen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706521600

Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1706521700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wäre

enttäuscht gewesen, wenn Kollege Gehring das Koope-
rationsverbot außer Acht gelassen hätte. Aber er hat es in
vier Minuten geschafft, den Bogen zu spannen.

Nun haben schon viele Kollegen zitiert. Ich möchte
– es ist abgesprochen, dass ich das darf – kurz den Kolle-
gen Murmann zitieren. Er hat richtigerweise gesagt: Un-
ser Ziel ist, ein intaktes Gefüge an unsere Kinder weiter-
zugeben. – Das nehme ich gerne auf und darf es um
Folgendes ergänzen: Es ist auch unsere Verantwortung
und unser Ziel, dass wir unsere Kinder in die Lage ver-
setzen, dieses intakte Gefüge weiter zu verbessern. – Das
ist mit Bildung für nachhaltige Entwicklung gemeint.
Wir müssen zielorientiert steuern und Verantwortungs-
bewusstsein für das persönliche Verhalten und Engage-
ment schaffen, wie es Herr Murmann bereits beschrieben
hat.

Der Deutsche Bundestag zeigt eine gewisse Ge-
schlossenheit, wenn es um die Frage geht, wie man
Nachhaltigkeit entwickelt. Das wird auch im Entschlie-
ßungsantrag deutlich. Aber, Frau Hein, nicht alles im Le-
ben ist nachhaltig. Ich erinnere jedenfalls daran, dass der
Deutsche Bundestag bereits 2004, also noch vor Beginn
der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“,
einen Aktionsplan für Deutschland beschlossen hat. Frau
Arndt-Brauer, Kollege Murmann und Herr Gehring ha-
ben Beispiele für das genannt, was seither geschehen ist.
Dabei geht es nicht nur um Schülercafés. Schulen und
Kindertagesstätten haben sich mit dem Thema Ressour-
censchonung befasst. Unter anderem ging es um die
Frage, wie man mit Wasser umgeht. Klimaschutz war
ein Schwerpunkt im Elementarbereich der Kindertages-
stätten. Über 2 500 Schulen – das sind über 10 Prozent –
haben im Rahmen des Programms „Transfer 21“ ein-
zelne Projekte gesteuert. Die Zielvorgabe von 10 Pro-
zent haben wir also deutlich erreicht. Das ist ein gutes
Ergebnis. Auch dass über 800 einzelne Projekte ausge-
zeichnet wurden, spricht für sich.

Es geht nun aber um Verbindlichkeit und die Versteti-
gung von Nachhaltigkeit im Bildungsbereich. Wenn ich
sehe, dass nun Umweltbildung in allen Rahmenrichtli-
nien der Länder verankert ist, dann darf ich feststellen,
dass wir deutliche Schritte nach vorne gekommen sind.
Ziel ist, dieses Thema systematisch und dauerhaft zu
verankern. Die Herausforderung in den nächsten Jahren
wird sein, dafür zu sorgen, dass das gelingen kann. In
den Debatten hier im Deutschen Bundestag müssen wir
aber immer wieder darauf verweisen, dass die Länder in
weiten Teilen die Kompetenzhoheit haben. In Zukunft
müssen die Länder – das ist wichtig – verbindlich nach-
weisen, wie sie Bildung für nachhaltige Entwicklung ge-
stalten wollen.

Wir, die Koalition, haben unser Bekenntnis zur Nach-
haltigkeit im Koalitionsvertrag deutlich formuliert:

Die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ist
Ziel und Maßstab unseres Regierungshandelns, auf
nationaler, europäischer und internationaler Ebene.
Das heißt für uns, im Bildungsbereich Einstellungen län-
gerfristig zu verändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun umfasst Bildung für nachhaltige Entwicklung
noch einen anderen Aspekt, Stichwort „Grundbildung
für alle“. Kollege Gehring von den Grünen hat bereits
das eine oder andere angesprochen, das mit unseren In-
dikatoren im Bildungsbereich korrespondiert, zum Bei-
spiel die Schulabbrecherquote, die Ausbildungsquote,
die Zahl der Studienabschlüsse sowie die Ausgaben für
Bildung und Forschung. Das 10-Prozent-Ziel der Bun-
desregierung passt genau dazu. Um Verständnis für
Nachhaltigkeit zu entwickeln, muss man sich schließlich
auch mit der Frage befassen, wie viel Geld wir als
Gesellschaft – ob privat oder öffentlich – für Bildung
ausgeben. Über Bildungspositionen kann man lange dis-
kutieren, so auch über die Frage, ob die Schulabbrecher-
quote als Indikator geeignet ist. Was nutzen weniger
Schulabbrecher, wenn gleichzeitig die Ausbildungsfä-
higkeit sinkt? Ist nicht alternativ die Frage zu stellen,
welche anderen Indikatoren ebenfalls eine Rolle spielen?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich glaube aber, dass die Indikatoren insgesamt durchaus
geeignet sind, deutlich zu machen, wie sich die Bildung
entwickelt. Ich teile hier nicht – dafür müssen Sie von
der Opposition Verständnis haben – die Meinung des
Kollegen von den Grünen. Die Indikatoren zeigen deut-
lich, dass wir nicht nur wieder mehr Geld ausgeben – es
gibt erneut eine Steigerung um über 7 Prozent –, sondern
dass wir auch deutlich bessere Ergebnisse erzielen als in
den letzten Jahren. Das ist ein Beweis, dass die Bundes-
regierung mit ihrer Bildungspolitik richtigliegt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir über Nachhaltigkeit nachdenken, dann
müssen wir uns auch die Frage stellen, wo 1 Euro den
größten Nutzen bringt. Auch das ist nachhaltig. Wir
müssen – ich denke, darüber herrscht Einvernehmen –
bei der frühkindlichen Bildung ansetzen. Aufgabe der
CDU/CSU-Fraktion wird es in den nächsten Monaten
sein, Nachhaltigkeit unter dem Gesichtspunkt der früh-
kindlichen Bildung zu thematisieren.

Was die Quantität des Krippenausbaus angeht, haben
wir viel erreicht. Im nächsten Schritt werden jetzt auch
die Qualität und Standards zu erörtern sein. Denn es
kommt gerade in Kindertagesstätten darauf an, das The-
mengebiet „nachhaltige Entwicklung“ in den Bildungs-
plänen zu verankern, also das frühe Bewusstsein zu
schaffen, was Nachhaltigkeit heißt. Das ist dann so ba-
nal, als wenn man irgendwann feststellt, dass es Sinn
macht, das Licht auszumachen, wenn man als Letzter ei-
nen Raum verlässt, oder Wasser zu sparen. Dies hat aber
eine unheimlich große Wirkung nicht nur für die Kinder,
sondern auch für die Familien, die teilweise erst dann er-
fahren, was Nachhaltigkeit mit sich bringt. Dabei geht es
auch – darüber kann man diskutieren – um die Frage ei-
nes Kita-TÜVs. Es geht dabei um die Baumaterialien,
die verwendet werden, und um die Frage, ob denn Ener-
gieeffizienz gegeben ist. Weiter geht es darum, die Qua-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

lität von Erzieherinnen unter dem Gesichtspunkt nach-
haltiger Entwicklung zu hinterfragen.

Ich glaube – damit komme ich auch gerne zum
Schluss –, es wird unsere Aufgabe sein, die Länder mehr
und mehr zu fordern. Viele Länder haben gerade in die-
sem Bereich – im schulischen wie auch im vorschuli-
schen Bereich – unter Qualitätsgesichtspunkten viel er-
reicht. Für uns ist es wichtig, dass diese Bereiche
zusammengeführt und stetig weiterentwickelt werden. Es
ist auch eine Aufforderung an die Länder, diese Projekte
im Bereich der Elementarpädagogik oder der Primarpäda-
gogik, die vorhin von vielen Rednern angesprochen wur-
den, zu verstetigen. Daneben muss ein Abgleich von Bil-
dungsplänen möglich werden. Es wird ja immer wieder
darüber diskutiert, wie man bundeseinheitliche Rahmen-
pläne auf freiwilliger Basis – das föderative System
funktioniert, das ist ein gutes System – gestalten kann.

Unterm Strich bleibt festzuhalten: Wir haben weiter
unsere Aufgaben zu machen. Aber insgesamt kann man
sagen, dass wir durchaus zufrieden auf die einzelnen
Punkte zurückblicken können, die wir erreicht haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706521800

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-

nungspunkt.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Bericht der Bundesregierung zur Bil-
dung für eine nachhaltige Entwicklung. Das sind die
Drucksachen 16/13800 und 17/3158.

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche

– Drucksache 17/3173 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Katja Mast für die SPD-Fraktion das Wort.

Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1706521900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wer die Bildungsrepublik ausruft, wird das Echo „faire
Arbeitsbedingungen in der Bildungsrepublik“ bekom-
men. Genau hier, bei fairen Arbeitsbedingungen in der
Bildungsrepublik, versagt Ursula von der Leyen als
Ministerin; denn sie lehnt Mindestlöhne für die Aus-
schreibungen der Bundesagentur für Arbeit ab. Begrün-
dung: Die Mindestlöhne liegen nicht im öffentlichen In-
teresse. Dabei geht es um Löhne von 12,28 Euro für
ausgebildete Fachkräfte, die Kurse im Auftrag der Bun-
desagentur für Arbeit durchführen. Also verhindert
Ursula von der Leyen Mindestarbeitsbedingungen der
Behörde Bundesagentur für Arbeit, für die sie die
Rechtsaufsicht hat, mit der Begründung: kein öffentli-
ches Interesse. Wenn das kein öffentliches Interesse ist,
was soll denn dann öffentliches Interesse sein?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist aus meiner Sicht Bildung nach dem Motto
„Geiz ist geil“, hat aber beim Thema Bildung nichts zu
suchen; denn Bildung bildet Menschen. Da darf es nicht
um „Geiz ist geil“ gehen, sondern da braucht es Qualität.
Es muss darum gehen, dass Qualität ihren Preis hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin dem Diakonischen Werk Württemberg dank-
bar, das Frau von der Leyen, nachdem sie den Mindest-
lohn in der Weiterbildungsbranche abgelehnt hat, dazu
aufgefordert hat, nun doch den Mindestlohntarifvertrag
zu unterzeichnen und damit faire Arbeitsbedingungen in
der Weiterbildungsbranche zu schaffen.

Ich weiß ganz genau, was gleich nach meiner Rede in
Bezug auf den Antrag der SPD passieren wird:


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der Staatssekretär wird sprechen!)


Die nachfolgenden Redner von Schwarz-Gelb werden
sprechen – das ist richtig, Kollege Lehrieder –, und sie
werden Folgendes tun: Sie werden den Mindestlohn in
der Weiterbildungsbranche ablehnen, mit dem Argu-
ment: kein öffentliches Interesse.


(Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Da könnte ja jeder kommen!)


Auf das öffentliche Interesse bin ich in meiner Rede
schon eingegangen. Viel schlimmer als die Ablehnung
des Mindestlohns empfinde ich aber, dass die nachfol-
genden Redner von Schwarz-Gelb


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Christlich-Liberale, Frau Kollegin!)


keine Alternative aufzeigen werden, wie wir zu fairen
Arbeitsbedingungen in der Weiterbildungsbranche kom-
men können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Haben Sie eine Glaskugel dabei?)


Außerdem werden einige sagen: Die SPD hat doch elf
Jahre den Arbeitsminister gestellt. Warum ist es denn so,





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)

wie es heute ist? – Auch da gilt, dass wir heute überhaupt
nur deswegen über einen Mindestlohn für die Weiterbil-
dungsbranche reden können, weil die SPD in der Großen
Koalition dafür gesorgt hat, dass das Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetz auf diese Branche ausgedehnt wurde


(Beifall bei der SPD)


und das Mindestarbeitsbedingungengesetz verabschiedet
worden ist, dass also die rechtlichen Grundlagen für
Mindestlöhne in der Weiterbildungsbranche geschaffen
worden sind.

Ich will an dieser Stelle den Lehrkräften in der Wei-
terbildung danken; denn sie sind es, die durch ihr alltäg-
liches, unermüdliches Engagement für lebenslanges Ler-
nen und Chancenvermittlung in dieser Gesellschaft
sorgen. Sie sind es, die oft trotz schlecht bezahlter Arbeit
dafür sorgen, dass etwa Langzeitarbeitslose, Fachkräfte,
Arbeitsuchende Chancen in dieser Gesellschaft bekom-
men. Hier ein herzliches Dankeschön an die Lehrkräfte
in der Weiterbildungsbranche!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich verspreche Ihnen allen: Wir von der SPD werden
nicht aufhören, für den Mindestlohn zu kämpfen, weder
im Bereich Weiterbildung noch auf dem Gebiet der
Leiharbeit, noch in anderen Branchen. Wir wollen einen
flächendeckenden Mindestlohn.


(Beifall bei der SPD)


Ich weiß, dass Sie, Schwarz-Gelb, das nicht vertreten
können; aber Sie können für faire Bedingungen in der
Weiterbildung über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
sorgen. Sorgen Sie dafür, dass 12,28 Euro zu einem fai-
ren Lohn in der Weiterbildung werden. Das ist unsere
gemeinsame Verantwortung, um die Würde der Arbeit in
der Weiterbildung zu schützen.

In diesem Sinne: Glück auf!


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706522000

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär

Ralf Brauksiepe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1706522100


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Mast, Sie haben, was in der Tat nicht sehr
gewagt ist, angekündigt, dass unmittelbar nach Ihnen
Vertreter der christlich-liberalen Koalition sprechen wer-
den. Jetzt spricht zunächst einmal ein Vertreter der Bun-
desregierung. Dieser Unterschied ist nicht ganz unbe-
deutend. Denn Sie haben als frei gewählte Abgeordnete
in einem freien Land das Recht, hier all Ihre persönli-
chen Befindlichkeiten auszubreiten. Dieses Recht hat die
Bundesregierung, in diesem Fall die Bundesarbeitsmi-
nisterin, beim Erlass von Verordnungen so nicht. Die
Bundesregierung ist an Recht und Gesetz gebunden,
wenn sie Verordnungen erlässt, und nicht nur an ihre Be-
findlichkeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie fordern einen Mindestlohn in der Weiterbildung.
Ich halte diese Forderung im Grundsatz für richtig. Um
dafür den Rahmen zu schaffen, ist das Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz da. Frau Kollegin Mast, die Erwei-
terung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ist in der
letzten Legislaturperiode von der Großen Koalition be-
schlossen worden. Die Große Koalition hat auch eine
Mindestlohnverordnung unter bestimmte gesetzliche Vo-
raussetzungen gestellt, und zwar mit den Stimmen der
SPD-Fraktion. Es waren nicht Sie, die die Branche ins
Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen hat, und
die CDU/CSU-Fraktion, die das an Bedingungen ge-
knüpft hat, sondern die frühere Regierung und die sie
tragenden Fraktionen haben gemeinsam diese Branche
ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen und
gleichzeitig den Erlass einer Mindestlohnverordnung
durch die Regierung an bestimmte, wohldurchdachte Vo-
raussetzungen geknüpft, und die sind leider nicht erfüllt.
Deswegen konnte es hier nicht zum Erlass einer Min-
destlohnverordnung kommen. Das ist die Wahrheit,
meine Damen und Herren, nicht aber die Legendenbil-
dung, die von anderer Seite betrieben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Zweckgemeinschaft von Mitgliedsunternehmen
des Bundesverbandes der Träger Beruflicher Bildung,
die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft und die Ge-
werkschaft Erziehung und Wissenschaft haben am
12. Mai letzten Jahres einen Mindestlohntarifvertrag
abgeschlossen und für diesen Tarifvertrag beim Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales die Allgemeinver-
bindlicherklärung beantragt. Das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales hat unter Leitung des damaligen
Ministers Olaf Scholz den Tarifausschuss an diesem Ver-
fahren beteiligt. Dieser Ausschuss hat sich in seiner Sit-
zung am 31. August letzten Jahres mit diesem Thema
befasst. Die drei Arbeitgebervertreter haben gegen, die
drei Arbeitnehmervertreter für den Verordnungserlass
gestimmt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zu
dem, was gestern von der grünen Fraktion beispiels-
weise im Ausschuss fälschlicherweise behauptet wurde,
nämlich dass das die generelle Linie der BDA und der
Arbeitgeberverbände sei, ist diese Entscheidung im letz-
ten Jahr die Ausnahme gewesen, und zwar die einzige
Ausnahme. Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendege-
setz im letzten Jahr um mehrere Branchen erweitert, und
wir haben in der Großen Koalition vereinbart, dass dieje-
nigen Branchen, die erstmals einen Tarifvertrag schlie-
ßen und die Allgemeinverbindlicherklärung beantragen,
mit ihren Verträgen dann auch durch den Tarifausschuss
müssen. Dies waren fünf Branchen. Es hat im letzten
Jahr drei 6 : 0-Entscheidungen gegeben. Bei den textilen
Dienstleistungen, bei den Bergbauspezialarbeiten und in
der Entsorgungswirtschaft war es Konsens im Tarifaus-
schuss, diese Branchen ins Entsendegesetz aufzuneh-
men, und so ist es passiert. In zwei Branchen gab es kei-
nen Konsens. Bei den Sicherheitsdienstleistungen haben
die Gewerkschaftsvertreter des DGB dagegen gestimmt





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

und damit verhindert, dass Menschen, die im Sicher-
heitsbereich tätig sind, deutlich höhere Mindestlöhne be-
kommen, die der CGB gegenüber den Verdi-Tarifverträ-
gen in verschiedenen Ländern ausgehandelt hat. Das war
die souveräne Entscheidung der Gewerkschaftsvertreter.
Nur bei der Weiterbildungsbranche hat die BDA dage-
gengestimmt. Das Ergebnis der Abstimmungen war also
dreimal 6 : 0 und zweimal 3 : 3; einmal gab es Gegen-
stimmen der Arbeitgeber, einmal Gegenstimmen der Ge-
werkschafter. Das zeigt, dass sich die Mitglieder des Ta-
rifausschusses mit den einzelnen Branchen durchaus
sorgfältig beschäftigt haben.

Es ist Aufgabe des Bundesarbeitsministeriums, zu
prüfen, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung im öf-
fentlichen Interesse liegt. Dabei ist ganz klar das Inte-
resse derer, die die Allgemeinverbindlichkeit beantra-
gen, gegen das Interesse derjenigen abzuwägen, die
durch eine solche Verordnung dann auch gebunden wür-
den. Das war die Aufgabe, die sich für das Bundesminis-
terium für Arbeit und Soziales gestellt hat.

In diesem Zusammenhang spielt selbstverständlich
die Tarifbindung eine wichtige Rolle. Zur Ermittlung der
Tarifbindung hat das Bundesarbeits- und -sozialministe-
rium in einem aufwendigen Verfahren und mit sorgfälti-
ger Prüfung alle erreichbaren Statistiken ausgeschöpft,
was in dieser Branche deutlich schwieriger ist als in an-
deren. Trotz intensiver Prüfung war eine sichere Daten-
basis nicht zu erlangen, aber selbst unter Zugrundele-
gung der von den Tarifvertragsparteien des Mindest-
lohntarifvertrages vorgetragenen und für sie günstigsten
Zahlen ergibt sich, dass die Tarifbindung allenfalls
25 Prozent beträgt. Ein Tarifvertrag mit vergleichbar
niedriger Tarifbindung ist in der Vergangenheit noch nie
Gegenstand einer Verordnung nach dem Arbeitnehmer-
Entsendegesetz gewesen. Das ist keine neue Politik der
christlich-liberalen Koalition, sondern es ist eine Konti-
nuität in der Politik der Bundesregierung auch aus der
vergangenen Zeit, weil jede Bundesregierung an Recht
und Gesetz gebunden ist und nicht an persönliche Be-
findlichkeiten einzelner Akteure. Darum geht es hier.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das geteilte Votum des Tarifausschusses unter-
streicht von daher die Einschätzung, dass die erforderli-
che Repräsentativität der Mitglieder der Zweckgemein-
schaft und damit das erforderliche öffentliche Interesse
am Erlass der Verordnung nicht gegeben sind. Das ist
keine generelle Linie einer Tarifvertragspartei, eines
Teils des Tarifausschusses, sondern das war im letzten
Jahr in diesem Ausnahmefall ein Votum, sicherlich auch
vor dem Hintergrund der Repräsentativität.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706522200

Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern?

Die Kollegin Kramme möchte Ihnen noch eine Frage
stellen.

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1706522300


Sehr gern. Bitte schön.

Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1706522400

Vielen Dank, Herr Brauksiepe. – Ich habe folgende

Frage an Sie: Ist es richtig, dass ein Beamter des Minis-
teriums für Arbeit und Soziales in der Ausschusssitzung
am gestrigen Tag erklärt hat, bei der Auslegung des Be-
griffs „öffentliches Interesse“ gebe es einen politischen
Ermessensspielraum? Ist diese Aussage nur dahin ge-
hend zu verstehen, dass die Möglichkeit besteht, diesen
Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rechtlich besteht die Möglichkeit!)


D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1706522500


Frau Kollegin Kramme, es ist gestern im Ausschuss
von allen damit befassten Vertretern der Bundesregie-
rung zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Be-
griff des öffentlichen Interesses selbstverständlich einer
Ausfüllung bedarf; das ist kein Geheimnis. Nicht nur das
Sozial- und das Arbeitsrecht haben eine Fülle von unbe-
stimmten Rechtsbegriffen. In vielen Gesetzen steht das
Wort „angemessen“, das konkretisiert werden muss. Na-
türlich muss auch der Begriff „öffentliches Interesse“
konkretisiert werden.

Gestern im Ausschuss ist das deutlich geworden, was
ich hier noch einmal sagen will: Für uns ist bei der Beur-
teilung, ob ein öffentliches Interesse besteht, wesentlich
– das ist nichts Neues –: Wer soll über wen entscheiden,
und wie wird das von den branchenübergreifenden Tarif-
vertragsparteien gesehen? – Wenn im günstigsten Fall
25 Prozent über 75 Prozent entscheiden sollen, dann ist
das für uns kein öffentliches Interesse,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


vor allem wenn gleichzeitig im Tarifausschuss keine
Mehrheit ein öffentliches Interesse feststellt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Jetzt hat die Frau Kramme wieder was gelernt!)


Nichts anderes ist gestern im Ausschuss gesagt worden,
und das ist auch sachgerecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Frage von Mehrheit und Minderheit spielt also
eine Rolle. Hier gibt es keine Mehrheit, die tarifgebun-
den ist. Alle diese Fakten sind den Antragstellern seit
mehr als einem Jahr bekannt und sind mehrfach im Ge-
spräch mit ihnen erörtert worden.

Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt gefor-
dert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mitglieder
zu gewinnen, um so zu einer höheren Tarifbindung in
der gesamten Branche zu kommen.

Das Ministerium konnte zum jetzigen Zeitpunkt
nichts anderes tun, als dieses Verfahren mit einer Ableh-
nung abzuschließen,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sagen selber, dass es Ihre Interpretation war!)






Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)

weil es an Gesetz und Recht gebunden ist. Die Bindung
an Gesetz und Recht wird das Handeln des Bundesar-
beitsministeriums auch weiter bestimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Beleidigung der Intellektualität! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwerer logischer Fehler!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706522600

Das Wort hat nun Agnes Alpers für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706522700

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau von
der Leyen hat am Montag den Branchenmindestlohn in
der Weiterbildung beerdigt, einfach so; keine Gespräche
mit den Verbänden, keine ausreichende Begründung.

Gestern hat Herr Staatssekretär Brauksiepe im Aus-
schuss für Arbeit und Soziales die Entscheidung damit
begründet, dass das öffentliche Interesse fehlt. Aller-
dings stellte ein Referent aus dem Ministerium kurz da-
rauf fest, dass das öffentliche Interesse gar nicht defi-
niert ist.

Ich schließe daraus: Sie hätten, wenn Sie gewollt hät-
ten, Herr Brauksiepe, trotz „25 Prozent“ – es ist nicht de-
finiert! – den Branchenmindestlohn durch eine Rechts-
verordnung erlassen können. Sie hätten handeln können.
Sie haben gehandelt, aber politisch. Sie wollen nämlich
keinen Branchenmindestlohn in der Weiterbildung. Dies,
Herr Brauksiepe, erklären Sie doch bitte mal meinen
Kolleginnen und Kollegen in Bremen!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Brauksiepe, erinnern Sie sich noch? Anfang ver-
gangenen Jahres, als die Weiterbildungsbranche ins Ent-
sendegesetz aufgenommen wurde, haben Sie gesagt:

Deshalb ist dieser Tag heute ein großer Tag für die
christlich-soziale Bewegung in Deutschland. … Es
ist immer schon der Anspruch der Christdemokra-
ten gewesen … das Richtige zu tun.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So pathetisch hat er das gesagt?)


Aber hier zählen keine Ansprüche, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU; hier zählen Taten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihre Taten gehen genau in die falsche Richtung. Heute
verhindern Sie den Mindestlohn, und morgen kommt
auch noch Ihr sogenanntes Sparpaket in der Arbeitsför-
derung. Die Bundesregierung will da im nächsten Jahr
um 2 Milliarden Euro kürzen. Die Qualität wird schlech-
ter, der Kampf um den niedrigsten Preis wird härter, und
die Löhne werden geringer. Das ist weder christlich noch
sozial.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Dennoch ist es erstaunlich, dass der vorliegende An-
trag ausgerechnet von der SPD kommt. Noch im Januar
2009 brüstete sich ihr damaliger Arbeitsminister Scholz
mit der Aufnahme der Weiterbildungsbranche in das
Entsendegesetz. Es könne nicht sein, dass ausgebildete
Akademikerinnen und Akademiker zu Löhnen beschäf-
tigt werden, die nicht in Ordnung sind, um Erwerbslosen
gute Berufe beizubringen und zu zeigen, wie man gut ar-
beitet. Irgendwie komisch. Dabei haben Sie unter Rot-
Grün mit der Einführung der Hartz-Gesetze bei den Wei-
terbildungsmaßnahmen im SGB II und III massiv ge-
kürzt und durch das Vergaberecht die Preise gedrückt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann hätte die Frau Kollegin Mast hier gar nicht den Mund so voll nehmen dürfen!)


Seitdem gingen dadurch bundesweit über 30 000 sozial-
versicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. Die übri-
gen Beschäftigten hatten Lohneinbußen von bis zu
30 Prozent.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin entsetzt! – Gegenruf der Abg. Katja Mast [SPD]: Ich auch!)


Nun sitzen Sie hier und spielen den großen Retter der
Weiterbildungsbranche. Dabei hätten Sie doch schon in
der letzten Wahlperiode in der Großen Koalition den
Mindestlohn durchsetzen können.


(Zuruf von der FDP: Das stimmt!)


Ich frage Sie: Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen
und der CDU/CSU sowie der FDP, wenn es um die Taten
geht?


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Gute Frage!)


Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Ab-
lehnung der Einführung eines Mindestlohns in diesem
Bereich rückgängig zu machen und das Vergaberecht der
Bundesagentur zu ändern. Preisdiktate in Ausschrei-
bungsverfahren führen bei Bildungsträgern zwangsläu-
fig zu Qualitätseinbruch und Dumpinglöhnen.

Für uns Linke bleibt es dabei: Einführung eines Min-
destlohns und gute Tarife für alle.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706522800

Das Wort hat Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1706522900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Mast, ich habe mich sehr gefreut, dass
Sie eben so empathisch, ruhig und mit klaren Worten Ih-
ren Antrag vorgebracht haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist noch einmal der Unterschied zwischen empathisch und sympathisch?)


– Empathisch und sympathisch liegen nahe beieinander,
müssen aber nicht immer identisch sein. Ich würde aber
so weit gehen, zu sagen: Bei der Kollegin Mast ist es
identisch.


(Katja Mast [SPD]: Hört! Hört! – Weitere Zurufe von der SPD und der FDP)


– Ich würde mich freuen, wenn mich auch die eigene
Fraktion eventuell zum Thema kommen ließe.

Ich finde aber, dass es nicht angeht, wie sich die SPD
ansonsten zum Thema eingelassen hat. Die Kollegin
Kramme ist zwar immer für deutliche Worte gut; aber
wenn sie sagt, die Regierung verweigere die Unterschrift
oder das sei ein Skandal und ein Schlag ins Gesicht der
Beschäftigten: Sie von der SPD holzen hier schon ziem-
lich.


(Katja Mast [SPD]: Ja!)


Da fällt mir das gute Goethe-Wort ein: „Durch Heftig-
keit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an
Kräften fehlt.“


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! – Weiterer Zuruf von der FDP: Sehr gut!)


Ich habe das Gefühl, das trifft auch hier zu; denn wenn
Sie so heftige Worte wählen müssen, wird es dafür auch
einen Grund geben.

Ehe Sie von Hungerlöhnen sprechen, wäre es viel-
leicht als erster Schritt für eine ernsthaftere Beschäfti-
gung mit dem Thema gut, wenn Sie uns belastbare Daten
zur Lohnsituation in der Weiterbildung vorlegen würden.


(Zuruf der Abg. Anette Kramme [SPD])


Es gab ja eine entsprechende Anfrage der Linken an die
Bundesregierung. Deren Antwort stützt sich auf Daten
aus dem Dezember 2009. Ich möchte nur einige Aussa-
gen daraus vortragen: Wir haben 215 000 Personen in
der Weiterbildung, 155 000 davon arbeiten sozialversi-
cherungspflichtig in Vollzeit, 13 000 davon, ein kleiner,
aber nennenswerter Teil, bezieht ergänzende Leistungen
aus dem Arbeitslosengeld II. All das ist richtig. Es liegen
uns allerdings keinerlei Daten über den Haushaltskon-
text der Betroffenen vor. Wenn man dann berücksichtigt,
dass diese 13 000 Personen im Durchschnitt 700 Euro
ergänzendes ALG II beziehen, ist es wohl eher nicht so,
dass es sich um alleinstehende Personen handelt, die in
Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, aber zu niedrige Löhne
bekommen. Dieses wirkt eher so, als sei der Anspruch
entstanden, weil diese Personen eine Familie mit hohen
Ansprüchen haben und eine große Bedarfsgemeinschaft
bilden.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1 200 Euro für Lehrkräfte!)


Natürlich ist jedes einzelne Lohnproblem eines zu
viel. Aber wenn Sie hier alle über einen Kamm scheren,
von Hungerlöhnen sprechen und behaupten, das Pro-
blem sei mit einem für allgemeinverbindlich erklärten
Mindestlohn zu lösen, dann machen Sie es sich zu ein-
fach.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abg. Katja Mast [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Liebe Kollegin Mast, ich war eben so nett zu Ihnen,
ich möchte aber jetzt an dieser Stelle weiterkommen.
Die Zeit ist durch das kleine charmante Geplänkel eben
leider schon sehr weit fortgeschritten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706523000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Mast?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1706523100

Nein, ich habe ihr gerade erklärt, warum nicht.

Ich will zur nächsten Behauptung kommen: Die Bun-
desregierung verweigere eine Unterschrift. Ich bin gro-
ßer Anhänger der Gewaltenteilung; dazu können wir
gerne politische Positionen austauschen. Die Bundesre-
gierung kann jedenfalls immer noch selbst entscheiden,
ob sie etwas für allgemeinverbindlich erklärt oder eben
nicht. Das muss sie natürlich auf der Grundlage von kla-
ren Kriterien und einer gründlichen Prüfung machen.

Liebe Kollegin Mast, ich würde schon sagen – der
Parlamentarische Staatssekretär hat es eben ausgeführt –,
dass es gute Gründe gibt, im Falle der Weiterbildungs-
branche zu sagen: Hier ist möglicherweise weder Reprä-
sentativität noch öffentliches Interesse gegeben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Tarifausschuss gab es nämlich keine Mehrheit für
eine entsprechende Regelung. Die Kollegin Müller-
Gemmeke wird bestimmt gleich darauf hinweisen, dass
es nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz keine Mehr-
heit im Tarifausschuss geben muss.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Trotzdem muss die Regierung klare Kriterien suchen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn ein Kriterium, wenn nicht das allgemeine Interesse?)


Da liegt es nicht fern, die Kriterien des Tarifvertragsge-
setzes anzulegen. Es macht Sinn, dass es eine Mehrheit
im Tarifausschuss geben muss, bevor irgendetwas für
allgemeinverbindlich erklärt wird.

Der Tarifausschuss wird nicht ohne Grund einge-
schaltet. Er ist dafür da, die volkswirtschaftliche Ge-
samtsicht herzustellen. Der Parlamentarische Staatsse-
kretär hat es ausgeführt: Bei anderen Branchen gab es
auch in letzter Zeit ein einstimmiges Votum im Tarifaus-





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

schuss. Hier war das eben nicht der Fall. Deshalb gibt es
gute Gründe, hier die Allgemeinverbindlichkeit abzuleh-
nen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auch Repräsentativität ist nicht gegeben. Wenn die
Bindungswirkung des Tarifvertrags bei 45 oder 47 Pro-
zent läge, könnte man noch darüber diskutieren, ob man
ihn nicht vielleicht trotzdem für allgemeinverbindlich er-
klären sollte. Hier sind aber maximal 25 Prozent der Ar-
beitnehmer an den Tarifvertrag gebunden. Da ist die Re-
präsentativität nicht fraglich, sondern fern. Es wäre
falsch, wenn hier ein Minderheitsinteresse über das Mehr-
heitsinteresse dominieren würde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deshalb ist es auch unter dem Gesichtspunkt der Reprä-
sentativität richtig, das Ganze abzulehnen.

Liebe Frau Kollegin Mast, ich nehme die Koalitions-
freiheit sehr ernst. Ich finde es gut, wenn sich Arbeitge-
ber und Arbeitnehmer organisieren und gemeinsam für
die Lohnfindung zuständig sind. Ich nehme die Koali-
tionsfreiheit auch dadurch ernst, dass ich nicht politisch
definiere, wann mir das Ergebnis passt. Ich habe das Ge-
fühl, Sie halten den Wert der Koalitionsfreiheit nur dann
hoch, wenn Ihnen das politische Ergebnis zupasskommt.
Das hat nichts mit dem Wert der Tarifautonomie und der
Koalitionsfreiheit in Deutschland zu tun.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir müssen die Tarifautonomie vor der SPD schützen! – Katja Mast [SPD]: Mir geht es um die Würde der Arbeitnehmer!)


– Hier geht es um die Würde der Arbeit. Es geht aber
auch darum, dass wir faire Bedingungen brauchen. Min-
derheitsinteressen dürfen hier nicht Mehrheitsinteressen
diktieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mindestlöhne schaffen faire Bedingungen!)


Deshalb ist es richtig, dass die Allgemeinverbindlichkeit
hier abgelehnt wird.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706523200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schaaf?


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1706523300

Beim Kollegen Schaaf kann ich natürlich nicht Nein

sagen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706523400

Das ist jetzt nicht ganz so charmant.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1706523500

Herr Kollege Vogel, ich danke Ihnen sehr. Ich hätte

zwar mit einer ähnlich charmanten Absage wie bei der
Kollegin Mast gerechnet; aber Sie haben wahrscheinlich
einkalkuliert, dass ich dann eine Kurzintervention hin-
terherschiebe.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1706523600

Das wäre nicht so schlimm. Dann könnte ich ja ant-

worten.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1706523700

Ich möchte eine Anmerkung machen. Das Verhältnis

der Minderheit zur Mehrheit ist so eine Sache. Es gibt in
Bezug auf die Mindestlohnregelung eine Lex FDP. Ei-
gentlich kann der Arbeitsminister oder die Arbeitsminis-
terin einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklä-
ren. In Ihrem Fall – so haben Sie das vereinbart – darf
die Minderheit im Kabinett, nämlich die FDP, das ver-
hindern. Da könnte man fragen: Wie steht es hier um das
Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit? Aber das lasse
ich jetzt einmal.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Frage, die ich konkret stellen und von Ihnen be-
antwortet bekommen möchte, bezieht sich auf das öf-
fentliche Interesse. Hier wurde deutlich gesagt, es gebe
kein besonderes öffentliches Interesse, den Tarifvertrag
für allgemeinverbindlich zu erklären. In diesem Falle ist
es mit dem öffentlichen Interesse so eine Sache; denn
hier werden Dritte im Auftrage des Staates tätig, nämlich
im Auftrag der BA. Hier stellt sich die Frage, ob es ein
besonderes öffentliches Interesse gibt. Würden Sie aus-
drücklich ausschließen, dass das besondere öffentliche
Interesse, das dahinterstecken könnte, darin liegt, dass
die BA höhere Aufwendungen hätte, wenn man in der
Weiterbildungsbranche mehr Geld zahlen würde? Das
könnte das besondere Interesse sein, das zu der politi-
schen Entscheidung geführt hat, hier keine Mindestlöhne
einzuführen.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1706523800

Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie werben immer für

faire Löhne. Ich glaube, wir alle wollen faire Löhne.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da bin ich mir nicht so sicher bei Ihnen!)


Es geht aber auch um faire Regeln in der Demokratie.
Die faire Regel lautet hier: Eine Erklärung der Allge-
meinverbindlichkeit – das ist ein Eingriff – kann es nur
geben, wenn der Verfahrensweg, der vereinbart worden
ist, eingehalten wird, nämlich wenn es zunächst eine Be-
fassung im Tarifausschuss dazu gibt und die Bundesre-
gierung auf der Grundlage dieser Befassung entscheiden
kann. Die Zusammensetzung der Bundesregierung folgt
demokratischen Regeln. Insofern kann ich hier keine
Minderheitsblockade durch die FDP erkennen. Wir ha-
ben nämlich ein vereinbartes demokratisches Verfahren,
das eingehalten wird.


(Beifall bei der FDP)






Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

Insofern glaube ich, dass Ihre Frage ins Leere geht.
Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung klare Kri-
terien hat, um zu definieren, ob ein öffentliches Interesse
vorliegt. Deshalb orientiert sie sich am Votum des Tarif-
ausschusses, der dafür da ist – ich habe es schon gesagt –,
die volkswirtschaftliche Gesamtsicht herzustellen. Auch
in diesem Fall geht es um eine Wirtschaftsbranche, auch
wenn hier öffentliche Auftraggeber im Spiel sind. Sie ha-
ben das Verfahren doch erfunden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)


Es ist richtig, dass wir es vernünftig anwenden und nicht
behaupten, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktie-
ren können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
habe das Gefühl, dass Ihr Antrag – Herr Kollege Schaaf,
Sie können sich setzen; ich komme zum Schluss – insge-
samt eher auf die Innenwirkung abzielt. Ich glaube, es ist
eine Art Olaf-Scholz-Gedächtnisantrag. Sie wollen nach-
träglich legitimieren, dass in der letzten Legislaturperiode
alle Register gezogen wurden, um verschiedene Bran-
chen einzubringen, und täuschen die Öffentlichkeit mit
Ihrem rhetorischen Geholze.


(Katja Mast [SPD]: Aber jetzt so uncharmant, Kollege?)


Das finde ich unredlich.

Sie übersehen, dass alles dagegenspricht: Man kann
weder von grassierenden Dumpinglöhnen in der Branche
sprechen,


(Anette Kramme [SPD]: Ha! Ha! – Katja Mast [SPD]: Reden Sie mal mit den Leuten! Sie haben keine Ahnung!)


noch gibt es eine Repräsentativität. Wir wollen eben
nicht, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktieren. Es
gibt auch kein öffentliches Interesse, weil der Tarifaus-
schuss nicht dafür ist. Insofern freue ich mich auf die
Diskussion im Ausschuss. Es gibt noch spannende De-
tailfragen zu klären. Wir können unseren Disput im Aus-
schuss gerne fortsetzen.


(Katja Mast [SPD]: Werden wir auch!)


Um die Koalition bzw. die FDP von Ihrem Antrag zu
überzeugen, müssen Sie sich schon noch bessere Argu-
mente einfallen lassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706523900

Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Der Weg ist frei für einen Mindest-
lohn, so lautete Anfang 2009 die frohe Botschaft, als die
Weiterbildungsbranche ins Entsendegesetz aufgenom-
men wurde. Nun ist die Euphorie verflogen. Am letzten
Montag ging der Brief der Bundesregierung an die An-
tragsteller heraus. In ihm heißt es lapidar: Ein öffentliches
Interesse liegt nicht vor. Der Mindestlohn ist abgelehnt. –
Es wurde keine Begründung genannt. Da verschlägt es
mir fast die Sprache.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gestern im Ausschuss – es wurde schon angespro-
chen – hat Herr Staatssekretär Brauksiepe auf Nachfrage
das fehlende Interesse mit der niedrigen Tarifbindung
begründet. Ich kann nur sagen: Ich finde es unglaublich,
dass dem Ministerium wohl nicht bekannt ist, welche
Kriterien bei der Prüfung des öffentlichen Interesses an-
gelegt werden müssen. Laut einer Grundsatzentschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre
1977 liegt ein öffentliches Interesse vor, wenn eine Ge-
fährdung des Arbeitsfriedens durch eine Aushöhlung des
Tarifvertrags vorliegt oder wenn durch eine AVE für Au-
ßenseiter, also Beschäftigte ohne Tarifvertrag, angemes-
sene Arbeitsbedingungen gesichert und damit Lohndrü-
ckerei und sogenannte Schmutzkonkurrenz beseitigt
werden können.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Die niedrige Tarifbindung ist also kein Ablehnungs-
grund, im Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegenteil!)


Legt man die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts
an, dann ist der Mindestlohn in der Weiterbildungsbran-
che sehr wohl im öffentlichen Interesse.


(Katja Mast [SPD]: Genau!)


Die Prüfung des Bundesarbeitsministeriums ist also völ-
lig verfehlt.

Ein paar Worte zur Branche selbst. Sie betonen immer
wieder: Bildung, Arbeitsmarktintegration, aber auch der
Fachkräftemangel stehen im Mittelpunkt Ihrer Politik. –
Doch nun müssen viele Lehrkräfte weiter unter schlech-
ten oder sogar prekären Bedingungen arbeiten. Wir dür-
fen nicht vergessen: Wir reden über Beschäftigte, deren
Aufgabe es ist, erwerbslose oder von Arbeitslosigkeit be-
drohte Menschen zu qualifizieren. Ich kenne die Branche.
Ich war nämlich früher dort tätig. Anhaltender Preisver-
fall für Bildungsmaßnahmen, beispielloses Lohndum-
ping und massive Tarifflucht der Arbeitgeber – das ist die
Realität. Die Beschäftigten haben zum großen Teil einen
Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, und doch wer-
den sie behandelt wie Pädagogen zweiter Klasse.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bedenken Sie auch, dass der Mindestlohn nur ein ers-
ter Schritt in die richtige Richtung wäre; denn viele, die
in dieser Branche arbeiten, sind Selbstständige und Ho-
norarkräfte. Auch sie müssen Arbeitsbedingungen und
Honorare hinnehmen, die alles andere als angemessen
sind. Deswegen sind neben Mindestlöhnen auch Min-





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

desthonorare notwendig, um dieser besonderen Branche
gerecht zu werden. Ich appelliere an die Regierungsfrak-
tionen und übrigens auch an die Gewerkschaften: Befas-
sen Sie sich auch mit diesem Thema! Vor allem aber re-
vidieren Sie Ihre Meinung zum Mindestlohn! Setzen Sie
sich für die Einführung des Mindestlohns ein!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU-Fraktion, am letzten Donnerstag sagte Ministerin
von der Leyen bei Maybrit Illner, es sei absolut richtig,
dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Mindestlöhne für
Einzelbranchen aushandeln können.

Warum zeigen Sie eigentlich keine Geschlossenheit?
Warum unterstützen Sie Ihre Ministerin nicht? Warum
setzen Sie sich nicht einmal gegen die FDP durch? Ich
gehe davon aus, dass die FDP auch bei diesem Mindest-
lohn wieder auf der Bremse stand.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)


Zeigen Sie der FDP bei diesem Thema endlich einmal
Kante. Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern: Wir
Grünen werden bei diesem Thema nicht aufgeben. Wir
streiten so lange mit Ihnen, bis Sie endlich die Realität
auf dem Arbeitsmarkt zur Kenntnis nehmen und Min-
destlöhne im Sinne der Beschäftigten einführen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Streiten können Sie ja!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706524000

Liebe Kollegin, Sie haben uns pünktlich zu Ihrem

50. Geburtstag das Geschenk einer Rede gemacht. Herz-
lichen Dank und Gratulation zu Ihrem Geburtstag!


(Beifall)


Ich erteile nun Kollegen Ulrich Lange für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ein sehr guter Mann!)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1706524100

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, auch ich
gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag. Wir be-
schäftigen uns heute mal wieder mit dem Thema Min-
destlohn.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So lange, bis Sie es endlich lernen!)


Frau Müller-Gemmeke, es geht Ihnen nicht nur um die
Weiterbildungsbranche, sondern auch um das Thema
„Mindestlohn im Allgemeinen“.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau!)


Dagegen möchte ich meinen heutigen Beitrag ganz
konkret auf die Branche beschränken. Der Staatssekretär
Brauksiepe hat die Daten bereits vorgelegt. Es steht
keine Entscheidung aus. Der Tarifausschuss hat mit 3 : 3
abgestimmt. 3 : 3 heißt: keine positive Entscheidung.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Bevor wir jetzt in die Diskussion über das öffentliche
Interesse einsteigen, sollten wir uns einem kleinen
Grundlagenseminar zum Thema Tarifrecht widmen. Ich
habe mir gestern Abend die Mühe gemacht, den Kom-
mentar von Däubler zum TVG herauszusuchen. Ich bin
froh, dass ich ihn mitgenommen habe, und hoffe, dass
ich hier nicht in die falsche Ecke gestellt werde.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden aber über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz! Das wissen Sie auch!)


– Ja. Aber wichtig im Zusammenhang mit der Allge-
meinverbindlicherklärung ist die Definition des Begriffs
„öffentliches Interesse“. – Es ist ganz klar festzuhalten,
dass die Exekutive, also das Ministerium, diese Frage in
völlig eigenständiger Verantwortung prüft;


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt!)


das hatte der Herr Kollege Vogel vorhin schon einmal in
aller Deutlichkeit gesagt.

Frau Kollegin Kramme, in der gestrigen Ausschuss-
sitzung waren wir uns alle einig, dass es einen breiten
Beurteilungsspielraum und ein weites normatives Er-
messen gibt. Sie werden dem Ministerium am Ende
nicht vorhalten können – nur dann bestünde der An-
spruch –, dass ein Nullermessen oder ein Ermessensfehl-
gebrauch vorliegt. Ich glaube nicht, dass Sie zu dieser
Einschätzung kommen können. Nur dann, wenn das Er-
gebnis schlechthin unvertretbar ist, würde überhaupt ein
Anspruch auf die Einführung eines Mindestlohnes über
die Allgemeinverbindlichkeit bestehen – sonst nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Agnes Alpers [DIE LINKE]: Lesen Sie mal § 7 Entsendegesetz!)


– Wir sind gerade bei der Definition des öffentlichen In-
teresses.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU], an Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE] gewandt: Haben Sie nicht zugehört, oder was?)


Ich habe gerade gesagt, dass wir im Ausschuss gerne ein
Grundlagenseminar abhalten können, bevor wir hier wirr
durcheinanderreden und über Begriffe reden, die wir
manchmal nicht richtig ausfüllen können.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Schreiben Sie sich bitte ganz dick in Ihr Buch hinein:
Die Allgemeinverbindlichkeit ist Ausdruck der Subsi-
diarität und kann nur in dieser Funktion konkretisiert
werden. Auch das müssen Sie in die Abwägung einbe-
ziehen. Genau das hat das Ministerium getan.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Rahmen dieser Abwägung spielt es natürlich eine
Rolle, ob Repräsentativität gegeben ist oder nicht. Bitte





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

bedenken Sie, dass wir hier über ein grundgesetzlich ge-
schütztes Recht sprechen. Wir reden über die Koalitions-
freiheit, auch über die negative Koalitionsfreiheit, einem
Tarifvertrag nicht beizutreten. Das müssen Sie in die Ab-
wägung einbeziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden nicht die Hand dazu reichen, den Vorrang
der autonomen Regelungsmacht der Tarifvertragspar-
teien durch eine rundum gültige Allgemeinverbindlich-
keit von Tarifverträgen auszuhöhlen. Sie versuchen,
damit durch die Hintertür den gesetzlichen flächende-
ckenden Mindestlohn einzuführen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)


Bitte halten Sie sich an Recht und Gesetz! Manchmal
hilft auch ein Blick in das Grundgesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kollegin Mast, Sie hatten in einem Punkt recht:
Die SPD hatte das BMAS viele Jahre in Händen.


(Katja Mast [SPD]: Sehen Sie? Wusste ich es doch!)


Ich werde jetzt ein paar Zahlen nennen, um deutlich zu
machen, wie die Situation wirklich ist: 2009, als Sie den
Bundesarbeitsminister stellten, hatten wir in Deutsch-
land rund 71 000 Tarifverträge. 2009 hatten wir 463 für
allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge; das sind
0,65 Prozent. Diese Tarifverträge galten in erster Linie
für die Baubranche im Rahmen von Ausgleichs- und Ur-
laubskassen. Wir haben aber nur – das gilt für Ihre Zeit –
44 Tarifverträge im Entgeltbereich im engeren Sinn; die-
sen Bereich wollen Sie hier regeln. Also tun Sie nicht so,
als hätten wir eine Lücke geschaffen oder als würden wir
eine Lücke nicht schließen. Sie hätten diese Lücke längst
schließen können, wenn Sie damals dieser Ansicht ge-
wesen wären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katja Mast [SPD]: Die Frage ist, was Sie tun, nicht, was Sie sagen!)


Ich fasse zusammen: Bundesarbeitsministerin von der
Leyen hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Sie hat
ordnungsgemäß geprüft. Sie weigert sich aber – wir wei-
gern uns auch –, eine Allgemeinverbindlicherklärung
nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten abzuge-
ben. Nehmen Sie im Sinne von Recht und Gesetz Ihren
Antrag zurück!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706524200

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Michael Gerdes für die SPD-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1706524300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Lange, zunächst einmal herzlichen Dank für die Nach-
hilfe in Sachen öffentliches Interesse. Ich komme gleich
darauf zurück und sage, wie ich das definieren würde.

Wir haben in dieser Woche eine Hiobsbotschaft erhal-
ten: Frau von der Leyen hat es abgelehnt, den Tarifver-
trag für Beschäftigte in der Aus- und Weiterbildung im
Rahmen von SGB II und III für allgemeinverbindlich zu
erklären. Die Regierung lehnt also einen Mindestlohn ab
und schaut damit dem Lohndumping in dieser Branche
tatenlos zu. So muss man das sehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Vogel, da hilft auch kein Zitat von Goethe. Die
Begründung für die Entscheidung des BMAS bleibt
nicht nachvollziehbar. Es liegt kein öffentliches Interesse
vor? Liegt es nicht im öffentlichen Interesse, Bildungs-
anbieter für ihre Arbeit angemessen zu bezahlen? Gute
Bildung braucht Qualität, und – das haben wir gerade
von Frau Mast gehört – Qualität hat ihren Preis. Herr
Staatssekretär Brauksiepe, liegt tatsächlich kein öffentli-
ches Interesse vor, wenn der Tarifvertrag für mehr als
23 000 Beschäftigte gelten würde? Das ist völlig inak-
zeptabel. 23 000 Menschen sind keine kleine Gruppe.
Hier geht es um Tausende Ausbilder, Meister, Lehrkräfte
und Sozialpädagogen. Da hilft kein Schönreden. Was sa-
gen Sie den Betroffenen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir erwarten äußerst viel von der Weiterbildungs-
branche: Sie soll Berufstätige weiterqualifizieren, sie
soll den drohenden Fachkräftemangel abwenden, sie soll
Arbeitslose für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt
fitmachen, und sie soll Menschen mit Migrationshinter-
grund in unsere Gesellschaft integrieren. Kurz gesagt:
Die Branche wird in politischen Sonntagsreden zum
Heilsbringer hochstilisiert und soll helfen, unsere drin-
gendsten gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Weiter-
bildung wird mit Wohlstand und Teilhabe gleichgesetzt.
Da sind wir uns alle einig, im Handeln aber nicht. In der
Praxis können Weiterbilderinnen und Weiterbilder ihre
Aufgaben nicht erfüllen, weil ihnen schlichtweg die Mit-
tel fehlen. Das fängt beim Unterrichtsmaterial an und
hört bei den Gehältern auf. Die notwendigen Investitio-
nen in die Weiterbildung sind unterblieben. Wenn Wei-
terbildung eine echte und tragfähige Säule in unserem
Bildungssystem werden soll, müssen wir für eine solide
Finanzierung sorgen.


(Beifall bei der SPD)


Nachhaltig finanzierte Weiterbildung ist die beste Form
der aktiven Arbeitsmarktpolitik.

Viele hochqualifizierte Lehrkräfte müssen trotz
Hochschulabschluss mit einem Bruttoeinkommen zwi-
schen 1 200 und 1 800 Euro auskommen. Manche sind
gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch Leistungen
nach dem SGB II aufzustocken. Ich frage Sie: Ist das
nicht an der Grenze zum Hungerlohn?


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist Hungerlohn!)






Michael Gerdes


(A) (C)



(D)(B)

– „Das ist Hungerlohn“, sagt mein Kollege.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie sollten nicht alles glauben, was Ihr Kollege sagt!)


Die SPD-Bundestagsfraktion fordert gemeinsam mit
den Gewerkschaften einen Mindestlohn für die Weiter-
bildungsbranche.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe den Eindruck, dass einige Redebeiträge nicht
von praktischer Erfahrung getragen sind. Deswegen
möchte ich meine Gründe für diese Forderung darlegen.
Mindestlöhne sind ein Garant für faire Arbeitsbedingun-
gen, weil sie die Existenz sichern. Mindestlöhne verhin-
dern Lohndumping. Mindestlöhne verhindern Altersarmut
und machen unabhängig von staatlichen Transferleistun-
gen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und die Erde ist eine Scheibe!)


Mindestlöhne wirken sich positiv auf die Marktwirt-
schaft aus, weil sie die Nachfrage stärken. Und Mindest-
löhne fördern die Gleichberechtigung, weil momentan
vor allem Frauen von Niedriglöhnen betroffen sind. So
viele Argumente sind kein öffentliches Interesse?

Zu Ihrer Anmerkung, die Erde sei eine Scheibe,
möchte ich sagen: Dies war über viele Jahre eine aner-
kannte Lehre. Irgendwann hat sich etwas geändert, und
wir haben festgestellt, dass die Erde eben keine Scheibe
ist, Herr Kollege, sondern rund.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben!)


Deswegen haben Sie vielleicht noch die Chance, irgend-
wann festzustellen, dass Mindestlöhne europaweit aner-
kannt sind und in der EU als Selbstverständlichkeit gel-
ten.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ob die FDP das jemals lernt?)


Meine Damen und Herren, Herr Lange, wir werden
jedenfalls nicht mal wieder, sondern immer wieder an
diesem Thema festhalten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706524400

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-

nungspunkt.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3173 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Wei-
den), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP

Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –
Fachkräftepotentiale ausschöpfen

– Drucksache 17/3048 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Strategie statt Streit – Fachkräftemangel be-
seitigen

– Drucksache 17/3198 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1706524500

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Als erster Redner

zu diesem Tagesordnungspunkt


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Letzten werden die Ersten sein!)


– die Letzten werden die Ersten sein; das ist richtig –
möchte ich zum Anfang meiner Rede auf die Debatte
von heute Morgen zurückkommen. Die Staatsministerin
hat zu Recht gesagt, dass ein solches Anerkennungsge-
setz ein Meilenstein in der Integrationspolitik sein wird.
Diese Ansicht teilen wir ausdrücklich.





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Ich komme deswegen auf die Debatte von heute Mor-
gen zurück, weil ich glaube, dass dort, aber auch in der
Integrationsdebatte insgesamt einiges falsch dargestellt
worden ist. Zwei Punkte haben mich besonders geärgert.
Der eine ist, dass von der Opposition immer wieder der
Eindruck erweckt wurde, dass sich in den letzten Jahren
bei der Integration nichts verändert hätte. Da muss man
ganz deutlich sagen: Das ist falsch. Ich zitiere einmal aus
dem Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010.
Dort heißt es:

Sie

– die Integration –

ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Berei-
chen durchaus zufriedenstellend oder sogar gut
gelungen. Zudem stehen beide Seiten der Einwan-
derungsgesellschaft den Anforderungen von Zu-
wanderung und Integration pragmatisch und zuver-
sichtlich gegenüber.

Weiter heißt es:

Die deutschen Regelungen zu Migration und Inte-
gration unterscheiden sich in ihren Grundelementen
kaum mehr von denen der europäischen Nachbarn.

Sie sehen, es gibt einen Prozess, der durchaus zufrie-
denstellend ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706524600

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Alpers von der Linksfraktion?


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1706524700

Ja, bitte.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706524800

Herr Kollege, Sie haben gerade betont, welche Ent-

wicklungen es bei der Integration gab. Ich glaube, auch
Sie haben zur Kenntnis genommen, dass im Berufsbil-
dungsbericht explizit hervorgehoben wurde, dass junge
Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt
einen schlechteren Schulabschluss haben als junge Men-
schen ohne Migrationshintergrund, dass sie aber selbst
dann, wenn sie einen gleichwertigen Schulabschluss
oder sogar gleiche bzw. bessere Noten als Menschen
ohne Migrationshintergrund haben, nicht integriert wer-
den, weil sie zum Beispiel Ali heißen. Im Berufsbil-
dungsbericht wird die Frage aufgeworfen, warum das so
ist. Wie passen diese Fakten zu der von Ihnen erwähnten
massiven Entwicklung bei der Integration?


Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1706524900

Darauf will ich gerne eingehen. Das Zitat, das ich an-

geführt habe, bezog sich auf die Gesamtbetrachtung der
Integration. Für uns ist von elementarer Bedeutung, Ent-
wicklungen zu bewerten. Völlig richtig ist – darauf
wollte ich gerade hinaus –, dass insbesondere bei der
Entwicklung im schulischen Bereich, auch was die Ab-
schlüsse angeht, nach wie vor große Defizite bestehen.
Zum Beispiel ist der Anteil der Jugendlichen mit Migra-
tionshintergrund, der keinen Abschluss hat, doppelt so
hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen Ju-
gendlichen. Der Anteil der Eltern mit Migrationshinter-
grund, der seine Kinder in eine Krippe gibt, ist nur halb
so hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen El-
tern. Hier gibt es, wie gesagt, noch große Defizite.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Sie haben aber gerade das Gegenteil gesagt!)


Ein Problem ist die Anerkennung von im Ausland er-
worbenen Abschlüssen; deshalb will ich jetzt auf diesen
Punkt zu sprechen kommen. An der Debatte heute Mor-
gen hat mich in diesem Zusammenhang etwas geärgert.
Man kann natürlich immer wieder den Vorwurf erheben:
Das kommt alles zu spät; ihr redet doch nur.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Ist ja auch so!)


Ich möchte daran erinnern: Eine Integrationsbeauftragte,
einen Integrationsplan und eine Islam-Konferenz hat es
1992 und 1998 noch nicht gegeben. Hinzu kommt unser
Gesetz, das im Dezember dieses Jahres hoffentlich vor-
liegen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man kann, wie es der Kollege von der SPD heute Mor-
gen getan hat, monieren, dass erst spät gehandelt wird.
Aber jetzt handeln wir. Richtig, das hätte man schon vor
zehn Jahren tun können. Damals haben wir diese Mög-
lichkeit aber leider nicht gehabt.

Ein zentraler Punkt ist, wie gesagt, die Anerkennung
von im Ausland erworbenen Abschlüssen. Ein Problem
dabei ist das mangelnde Bewertungs- und Anerken-
nungsverfahren. Hier sind zwei Ebenen der Betrachtung
voneinander zu unterscheiden.

Zunächst zur gesamtgesellschaftlichen Betrachtung,
die auch eine volkswirtschaftliche ist. Auf einige der ne-
gativen Daten, von denen in diesem Zusammenhang im-
mer wieder die Rede ist, möchte ich kurz eingehen. Die
Erwerbsquote von Zugewanderten beträgt 68 Prozent
und liegt damit deutlich unter der Erwerbsquote von Per-
sonen ohne Migrationshintergrund, die 75 Prozent be-
trägt. Die Arbeitslosenquote von Akademikern mit Mi-
grationshintergrund ist dreimal so hoch wie die der
Deutschen, die einen akademischen Abschluss haben.
Hier geht Potenzial verloren. Das sind volkswirtschaftli-
che Ressourcen, die wir dringend heben müssen.

Die andere Ebene der Betrachtung bezieht sich auf
die Einzelschicksale der betroffenen Personen. Wir alle
kennen entsprechende Fälle, möglicherweise sogar aus
dem Wahlkreis. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen.

Erstes Beispiel. Denken Sie an die Frau, die aus Russ-
land kommt und dort Medizin studiert hat, momentan
aber „nur“ eine Anstellung als Arzthelferin hat. Stellen
Sie sich einmal vor – die meisten von uns haben ja einen
Abschluss –, dass Sie ins Ausland gehen, Ihr Abschluss
dort aber nicht anerkannt wird, und stellen Sie sich die
Frage, welche Folgen es für Sie, Ihre Biografie und Ihre
Psyche hätte, nicht in dem Bereich arbeiten zu können,





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

in dem Sie ausgebildet wurden. Es ist ein Paradoxon,
dass uns 8 600 Mediziner fehlen, gleichzeitig aber junge
ausgebildete Menschen aus Russland oder anderen Län-
dern nicht im Medizinbereich arbeiten können.

Zweites Beispiel. Vergegenwärtigen Sie sich, welche
Entwicklungen im Pflegebereich auf uns zukommen. Im
Jahre 2020 werden uns 200 000 bis 300 000 Pflegefach-
kräfte fehlen. In Deutschland arbeiten viele Menschen
aus dem Ausland, die in dem Beruf, den sie erlernt ha-
ben, nicht arbeiten können. Wir haben also eine volks-
wirtschaftliche Verantwortung. Unter Integrationsge-
sichtspunkten haben wir aber auch eine Verantwortung
für die Menschen und ihre weitere Entwicklung.

Mit Blick auf die bisherige Rechtslage und aufgrund
der Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft ha-
ben wir entschieden, möglichst zügig ein Anerkennungs-
gesetz auf den Weg zu bringen; im Dezember dieses Jah-
res wollen wir einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorlegen. 300 000 Akademikerinnen und Akademiker
sollen derzeit nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten.
Der Grund ist oft, dass kein allgemeiner Rechtsanspruch
auf ein Verfahren existiert. Richtig ist, dass ein Anerken-
nungsverfahren in reglementierten Berufen bisher zu-
mindest für Spätaussiedler und EU-Bürger garantiert
wurde. Alle anderen Personen können zum Beispiel ein
im Ausland erworbenes Examenszeugnis nicht verwen-
den. Sie sind entweder arbeitslos oder arbeiten in Beru-
fen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen.

Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Mit einer
gesetzlichen Regelung müssen wir drei Ziele verfolgen:

Erstens brauchen wir die Verbindlichkeit, dass im
Ausland erworbene Abschlüsse und Qualifikationen zü-
gig, nämlich innerhalb von sechs Monaten, bewertet
werden. Außerdem muss transparent gemacht werden,
welche Kriterien dabei zugrunde gelegt wurden. Es ist
wichtig, diese Bewertung innerhalb von sechs Monaten
vorzunehmen; denn nur so kann Verbindlichkeit ge-
schaffen werden.

Zweitens sollten entsprechende Bescheide über den
Abschluss bzw. über die Qualifikation vorliegen bzw.
ausgestellt werden.

Drittens ist das alles nur sinnvoll, wenn man jedem
Bewerber die Chance gibt, durch Qualifizierung, wo De-
fizite bestehen, nachzuschulen. Das heißt, entsprechende
Angebote müssen vorliegen.

Was sind die Anforderungen an eine gesetzliche Re-
gelung? Wichtigster Regelungsgegenstand eines entspre-
chenden Gesetzes muss die Festlegung eines Rechtsan-
spruchs auf ein Anerkennungsverfahren mit einer
tatsächlichen Besserstellung sein. Im Zusammenhang
damit – ich glaube, dass das sinnvoll und auch notwen-
dig ist – muss die statistische Datenlage für Anerken-
nungsuchende und die zuständigen Stellen verbessert
werden, nicht wegen der Statistik, sondern weil wir se-
hen wollen, wo die Defizite liegen und wo nachgearbei-
tet werden muss, damit die verschiedenen Akteure
– Bund, Länder und andere – wissen, wo Defizite so
schnell wie möglich ausgeräumt werden müssen.
Nur mit einem solchen Gesetz schaffen wir politische
Ernsthaftigkeit. Es wird schon beobachtet werden, ob
wir die mittlerweile achte oder neunte Rede zu diesem
Thema halten.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Tat!)


Wer das tut, wird sagen, „Verbindlichkeit“ bedeute, dass
es auch irgendwann ein Gesetz gebe; denn nur mit einem
Gesetz erreichen wir, dass sich Zugewanderte aufge-
nommen fühlen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen, machen, machen!)


Nur so erreichen wir, dass deren Potenziale unsere Ge-
sellschaft bereichern, und nur so erreichen wir, dass de-
ren intellektuelle Ressourcen unserer Wirtschaft nicht
verloren gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zum Schluss möchte ich noch einige Bemerkungen
zur Qualitätssicherung machen; das war uns auch in der
Diskussion wichtig.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!)


Man kann natürlich die Quote erhöhen, indem man die
Qualität senkt. Das machen wir nicht, sondern wir legen
Wert darauf, dass es den Erhalt der Qualität des deut-
schen Ausbildungssystems weiterhin gibt, gerade weil
wir festgestellt haben, dass diejenigen, die in Deutsch-
land eine Ausbildung gemacht haben, im Ausland er-
folgreich sind, weil die Ausbildungsgänge anerkannt
werden. Deshalb gehen wir den Weg, die Qualifizierung
aufzuwerten und die Standards nicht abzusenken. Dann
haben wir beides erfüllt: Wir haben die Qualitätsstan-
dards gehalten und denjenigen, die nach Deutschland ge-
kommen sind, eine Chance gegeben, in ihrem jeweiligen
Beruf zu arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706525000

Das Wort hat nun der Kollege Swen Schulz für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1706525100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was machen
der Arzt, die Ingenieurin oder der Facharbeiter aus der
Türkei, aus Osteuropa oder aus einem arabischen Staat,
wenn der eigene Abschluss hier nicht anerkannt wird?
Heute früh haben wir den Achten Bericht über die Lage
der Ausländerinnen und Ausländer debattiert. Ge-
schätzte 500 000 Menschen in Deutschland sind von der
Nichtanerkennung ihrer Abschlüsse betroffen. Sie kön-
nen nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten; sie müssen
aber irgendwie zurechtkommen. Sie leben hier legal und
wollen ihre Kenntnisse sowie ihre Fähigkeiten einbrin-





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)

gen, doch sie werden daran gehindert. Das ist eine un-
glaubliche Dummheit. Wir lassen Potenziale ungenutzt
links liegen, obwohl immer lauter und immer drängen-
der über Fachkräftemangel geklagt wird. Es gibt immer
mehr Rufe nach Zuwanderung von Fachkräften, aber wir
kümmern uns nicht um die Menschen, die bereits hier le-
ben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir
ändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Erkenntnis ist nicht neu.

Lieber Kollege Weinberg, zu den Fortschritten sage
ich so viel: In der Großen Koalition hat die SPD dazu
Vorschläge gemacht. CDU und CSU haben sie abge-
lehnt.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Weil sie unbrauchbar waren!)


Im letzten Jahr haben wir Anträge von der SPD, von den
Grünen und von der Linksfraktion diskutiert. Langsam,
ganz langsam kommt die Bundesregierung in die Gänge.
Erst wurde ein sogenanntes Eckpunktepapier der Bun-
desregierung in die Welt gesetzt. Wir haben im Aus-
schuss eine Anhörung durchgeführt und das Thema
mehrfach diskutiert. Neulich hat die Bundesministerin
einen Referentenentwurf für ein Anerkennungsgesetz für
die zweite Oktoberhälfte angekündigt. Im Dezember soll
dann der Gesetzentwurf kommen. Herr Kollege
Weinberg, Sie haben recht: Heute hat Staatsministerin
Böhmer gesagt, dass wir dieses Gesetz ganz schnell
bräuchten. Ich finde es super, wie die Regierungskoali-
tion darauf jetzt endlich kommt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In dieser Situation präsentieren nun auch die Koali-
tionsfraktionen einen Antrag zum Thema. Wow, wir sind
echt beeindruckt, wie engagiert Sie dieses Thema forcie-
ren. Das ist super mutig, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Allein: Der Antrag hilft jetzt nicht weiter, weil wir alle
über den Punkt, dass ganz dringend etwas gemacht wer-
den muss, längst weit hinaus sind. Beim heutigen Stand
der Debatte ist von den Regierungsfraktionen eigentlich
mehr als ihr vorliegender Antrag mit solchen Allgemein-
plätzen zu erwarten. Wenn dann der Gesetzentwurf end-
lich, endlich zur Beratung vorliegt, werden wir sehen,
was der Gesetzentwurf im Einzelnen enthält und ob er
ausreicht.

Was muss getan werden? Wir leiden derzeit unter ei-
nem wahren Anerkennungschaos. Es wird nach Berufs-
gruppen unterschieden, nach Anerkennungszwecken
und danach, ob es sich um Spätaussiedler, um EU-Bür-
ger oder um Drittstaatler handelt. In den einzelnen Bun-
desländern herrschen völlig unterschiedliche Verwal-
tungspraktiken. Wenn man einmal ehrlich ist, dann muss
man sagen: Letztlich blickt niemand wirklich durch. –
Das ist bürokratisch und ungerecht.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist typisch Swen Schulz!)


Nötig ist ein Rechtsanspruch für alle auf Bewertung
der eigenen Abschlüsse und auf Durchführung eines An-
erkennungsverfahrens. Wir brauchen ausreichend viele
Anerkennungs- und Beratungsstellen. Das Verfahren
darf höchstens sechs Monate dauern, damit in absehba-
rer Zeit auch tatsächlich Klarheit herrscht. Das Ziel muss
eine zentrale Steuerung und eine bundesweit verbindli-
che Gleichwertigkeitsfeststellung sein. Wo nur Teilaner-
kennungen ausgesprochen werden können, müssen In-
formationen und Angebote über Nach- und Weiterquali-
fizierungen – auch für die Sprache – verlässlich zur Ver-
fügung gestellt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit diese Angebote tatsächlich angenommen werden
können, sind entsprechende finanzielle Förderinstru-
mente nötig. Es hilft ja nichts, wenn es Angebote gibt,
die Leute sie sich aber gar nicht leisten können. Wir ha-
ben darum schon im letzten Jahr in unserem Antrag ein
Einstiegs-BAföG zur beruflichen Integration vorge-
schlagen. Das wäre dann wirklich ein großer Schritt. Wir
freuen uns – so viel dann doch positiv –, dass die Koali-
tionsfraktionen diesen Punkt in ihrem Antrag aufgegrif-
fen haben, wenn auch mit einer noch etwas zarten For-
mulierung.


(Beifall bei der SPD)


Wie gesagt: Wir sind gespannt auf den Gesetzentwurf
der Bundesregierung. Hier kommt es dann tatsächlich
zum Schwur. Ich hoffe, ich täusche mich nicht; aber da
die Bundesregierung schon die bescheidene BAföG-Er-
höhung fast an die Wand gefahren hat,


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Die dritte BAföG-Erhöhung, nachdem Sie nichts gemacht haben!)


bin ich bei diesem Thema ziemlich skeptisch.

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir spre-
chen hier auch über einen wichtigen Beitrag zur Integra-
tion. Es geht hier um die Anerkennung von Qualifikatio-
nen; das heißt, es geht um die Anerkennung der
Lebensläufe der Menschen. Es geht darum, ihnen zu ver-
mitteln, dass sie auch tatsächlich gewollt sind und ge-
braucht werden, und darum, ihnen die Möglichkeit zu
verschaffen, auf eigenen Beinen zu stehen und sich hier
als aktive, produktive Mitglieder der Gesellschaft einzu-
bringen. Mit einem Wort: Es geht auch um Respekt. Die-
ser Gedanke wird in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU, leider mit keinem
Wort erwähnt. Sie verstehen noch immer nicht, wie
wichtig eine Anerkennungskultur ist.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte noch auf den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen eingehen, den wir heute auch diskutieren.
Selbstverständlich haben Sie recht, liebe Kolleginnen





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)

und Kollegen: Es ist ein Gesamtkonzept mit unterschied-
lichen Maßnahmen zur Behebung des Fachkräfteman-
gels nötig. Natürlich haben auch wir von der SPD um-
fassende Überlegungen angestellt. Sie haben Ihre jetzt in
einem Antrag zusammengeschrieben. Vieles von dem
können wir – zumindest in der Zielrichtung – unter-
schreiben.

Ich will auf einen besonders wichtigen Bereich einge-
hen, nämlich auf die Kindertagesstätten und die Schulen.
Lieber Kollege Weinberg, das hat ja auch eine ganze
Menge mit Integration zu tun.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Ach!)


Ich will einmal daran erinnern, dass es die rot-grüne
Bundesregierung war, die gegen den Widerstand aus der
Union ein Ganztagsschulprogramm in ganz Deutschland
durchgesetzt hat.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD] – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ohne jedes pädagogische Konzept!)


Inzwischen hört sich das bei der CDU und der CSU ganz
anders an. Sie sind hier durchaus positiv gestimmt.
Heute früh hat sogar Staatsministerin Böhmer ausdrück-
lich mehr Ganztagsschulen gefordert. Das ist gut; aber
ich frage: Warum machen Sie dann an dieser Stelle
nichts?

Im Rahmen der Umsetzung des Hartz-IV-Urteils des
Bundesverfassungsgerichts wollen Sie ein paar Bil-
dungsgutscheine verteilen. Was aber fehlt, ist ein Ange-
bot an die Länder und an die Kommunen, die Kinderta-
gesstätten und die Schulen zu verbessern. Es kann doch
nicht darum gehen, Nachhilfe zu vermitteln, wenn alles
schon ganz schwierig ist, sondern die Kitas und die
Schulen müssen so gut werden, dass Nachhilfe unnötig
wird. Das muss doch das Ziel sein.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Fangen Sie in Berlin damit an!)


Es ist ja nicht so, dass Sie sich da nichts vornehmen;
es ist noch schlimmer. Sie torpedieren sogar die Förde-
rung von Kindern.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: In welcher Welt leben Sie eigentlich?)


– Ja, hören Sie mal zu. – Sie halten stur daran fest, den
Eltern ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie auszahlen
zu wollen, dafür, dass sie ihre Kinder nicht in die Kita
schicken.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Weinberg, Sie haben eben beklagt, dass es gerade
im Migrantenbereich an der Stelle Probleme gibt. Ich
glaube, dass das tatsächlich der völlig falsche Weg ist,
der im Übrigen auch Milliarden kosten wird, die viel
besser in die Kitas und in die Schulen investiert wären.

Ob bei der vorschulischen Bildung, den Ganztags-
schulen oder der Anerkennung von im Ausland erworbe-
nen Qualifikationen: Immer und immer wieder sehen
wir, dass die CDU/CSU erst blockiert und dann ganz
mühsam hinterherschleicht. Kommen Sie bitte endlich
einmal voran!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706525200

Nächster Redner ist der Kollege Heiner Kamp für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1706525300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Heute debattieren wir über
ein wesentliches Anliegen verschiedener Politikfelder:
die Bekämpfung des Mangels an Fachkräften und Hoch-
qualifizierten in Zeiten des demografischen Wandels.
Dieser hat den deutschen Arbeitsmarkt bereits mit voller
Wucht erreicht. Fehlende Fachkräfte stellen in vielen
Branchen schon heute ein strukturelles Problem dar.

Der durch den Fachkräftemangel verursachte Wert-
schöpfungsverlust ist gewaltig: Das Institut der deut-
schen Wirtschaft Köln schätzt den Wohlstandsverlust für
unser Land auf rund 15 Milliarden Euro, und das im Kri-
senjahr 2009. Nun müssen wir aufpassen, dass der sich
abzeichnende wirtschaftliche Aufschwung im XL-For-
mat nicht am Mangel an gut ausgebildeten Kräften
scheitert. Insofern freue ich mich über die Wachstums-
prognose des IWF von 3,3 Prozent für 2010. Das ist ein
Anstieg um 1,9 Prozentpunkte, nämlich von 1,4 auf
3,3 Prozent. Über diese schönen Zahlen können wir uns
alle freuen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nun gilt es, dem Fachkräftemangel mit einem breiten
Ansatz zu begegnen, um unsere Wettbewerbs- und Inno-
vationsfähigkeit einerseits und Wachstum und Wohl-
stand andererseits nachhaltig zu sichern. Diese Heraus-
forderung ist vorwiegend eine Querschnittsaufgabe, bei
der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik zu-
sammenwirken müssen. Aber auch Wirtschaft und Ge-
sellschaft müssen diese Problematik ernst nehmen und
frühzeitig bei der Entwicklung von Handlungskonzepten
mitwirken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Fachkräftemangel wird schon allein aufgrund sei-
ner demografischen Dimension alle Wirtschaftsbereiche
betreffen. Wenn wir uns vor Augen führen, dass selbst
Großunternehmen wie die Deutsche Telekom bereits
heute Schwierigkeiten haben, Ausbildungsplätze in den
neuen Bundesländern zu besetzen, wird deutlich, wie
ernst die Lage schon heute ist. In den nächsten zehn Jah-
ren werden 6,5 Millionen Personen mit abgeschlossener
Lehre das Rentenalter erreichen. Zwischen 2020 und





Heiner Kamp


(A) (C)



(D)(B)

2030 werden es sogar 8,4 Millionen sein. Gerade im Be-
reich der Facharbeiter werden wir es also mit einem gra-
vierenden Mangel an entsprechend Qualifizierten zu tun
bekommen.

Auf dem Ausbildungsmarkt werden die Azubis rar.
Vor allem ostdeutsche Ausbildungsunternehmen suchen
händeringend nach Azubis. Da liegt der Gedanke nahe,
sich in der Tschechischen Republik oder Polen nach mo-
tivierten jungen Interessenten umzusehen.

Im Juli 2010 fehlten in Deutschland 36 800 Ingenieure.
Der Fehlbedarf wird in den nächsten Jahren noch dras-
tisch steigen. Der Aufschwung wird die Nachfrage wei-
ter verstärken. Eine solide Wirtschaftspolitik muss auf
dieses Problem aufmerksam machen. Sie darf sich prag-
matischen Lösungsansätzen nicht verschließen. So ver-
wundert es nicht, dass Rainer Brüderle jüngst die Zu-
wanderungsdebatte angestoßen hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In dem heute zur Debatte stehenden Antrag haben die
Koalitionsfraktionen einen wesentlichen Aspekt zur Mil-
derung des Fachkräftemangels aufgegriffen: die Aner-
kennung ausländischer Bildungsleistungen. Wir nutzen
noch zu wenig Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt
und unsere Gesellschaft. Derlei Vergeudung können wir
uns als Gesellschaft und Volkswirtschaft nicht mehr leis-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Überschriften wie „Putzen trotz Promotion“ in der Fi-
nancial Times Deutschland Anfang dieses Monats
möchte ich möglichst nicht mehr lesen.

FDP und Union sind überzeugt, dass der beste Weg zu
erfolgreicher Integration über die Teilhabe am Arbeits-
markt und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung
führt. Wenn zugewanderte Ingenieure Taxi fahren oder
sogar auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind,
ist das einerseits für den Betroffenen frustrierend. Die
Gesellschaft hat andererseits gleich den doppelten Scha-
den: ein unglückliches Mitglied sowie entgangene Steu-
ern und Abgaben.

Wir wollen für Zuwanderer einen Rechtsanspruch auf
eine Bewertung ihrer im Ausland erworbenen Ab-
schlüsse schaffen. Die Regelungen für das Bewertungs-
und Anerkennungsverfahren wollen wir vereinfachen
und das Verfahren selbst – wir halten eine Frist von
sechs Monaten für angemessen; Herr Schulz hat das be-
reits angesprochen – beschleunigen. Beim Verfahren ist
uns insbesondere die Transparenz ein wichtiges Anlie-
gen. Zuwanderer sollen möglichst schon in ihrem Hei-
matland Zugang zu Informationen über das Bewertungs-
und Anerkennungsverfahren betreffend ihren Bildungs-
abschluss in Deutschland haben. In diese Informations-
anstrengungen wollen wir die deutschen Auslandsvertre-
tungen, die Außenhandelskammern und die Goethe-
Institute natürlich einbeziehen.

Mit dem heutigen Antrag machen wir einen weiteren
wichtigen Aufschlag, um dem Fachkräftemangel zu be-
gegnen. Mit den Bildungsketten kümmern wir uns bereits
um bessere Ausbildungschancen für junge Menschen, in-
dem wir bestehende Förderinstrumente zusammenführen
und dann in die Fläche tragen. Sie sind ein wesentlicher
Baustein bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Noch in diesem Monat werden wir den außerordentlich
erfolgreichen Ausbildungspakt mit einer qualitativen
Aufwertung verlängern. Integration gelingt über Teilhabe
und Einbindung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Sozialhilfe-
karrieren zementieren Differenzen, weil sie Abhängigkeit
und Abgeschiedenheit zementieren. Deswegen kann es
nicht richtig sein, unser Sozialsicherungssystem über das
jetzige Maß auszuweiten. Nein, wir müssen die Wege in
die Arbeit erleichtern und durch entsprechende Bildungs-
angebote begünstigen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine kluge und zugleich aktive Zuwanderungspolitik
müssen wir zeitnah auf den Weg bringen. Der mit dem
demografischen Wandel Hand in Hand gehende Fach-
kräftemangel gibt uns hier klare Leitlinien. Wir brauchen
ein modernes Recht, das Zuwanderung über transparente
Kriterien wie Qualifikation, Integrationsfähigkeit und
Bedarf steuert. Mit der Anerkennung ausländischer Bil-
dungsleistungen schaffen wir eine wichtige Vorausset-
zung für die Zuwanderung von Hochqualifizierten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sehen: Diese Koalition packt die Herausforderun-
gen und Zukunftsthemen unserer Gesellschaft an. Die
drei Punkte aus der Überschrift des Koalitionsvertrages
sind dabei der Kompass: Wachstum sehen alle Wirt-
schaftsforschungsinstitute. Bildung bringen wir durch
unsere zahlreichen Initiativen wie die heute vorgestellte
und den größten Mittelaufwuchs in der Geschichte rich-
tig voran. Zusammenhalt erreichen wir durch echte Teil-
habe und Mitwirkungsmöglichkeiten zum Beispiel für
Migranten. Ich lade Sie ein: Machen Sie doch bitte mit!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch was, statt nur zu schauen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706525400

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin

Agnes Alpers.


(Beifall bei der LINKEN)



Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706525500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren! Schon lange verspro-
chen und doch noch immer nicht in Sicht! Herr Kollege,
wir nehmen die Einladung gern an, wenn der Gesetzent-
wurf nur endlich käme und das Ganze nicht dahinschlei-
chen würde. Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD])






Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)

Sie reden immer vom Fachkräftemangel. Aber die
Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsab-
schlüssen kriecht und siecht dahin und liegt eigentlich
noch immer auf Eis. Sie, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und FDP, haben nun einen Antrag vorgelegt,
der schon erahnen lässt, welche Gruppe beim Thema
Anerkennung besonders in den Fokus gerät, Ihnen am
Herzen liegt. Das sind die Akademikerinnen und Akade-
miker, die ihre Abschlüsse im Ausland erworben haben.
Ich war erstaunt, wie schnell Sie die Migrantinnen und
Migranten unter den Tisch fallen lassen, die keinen aka-
demischen, sondern „nur“ einen schulischen oder beruf-
lichen Abschluss haben. Diese werden immer nur am
Rand erwähnt. Damit ignorieren Sie auf einen Schlag
über 2 Millionen Menschen, die ihren Bildungsabschluss
im Ausland erworben und sich inzwischen zusätzliche
Qualifikationen angeeignet haben.

Das alles zeigt für mich eines: Es geht Ihnen gar nicht
darum, alle Migrantinnen und Migranten mit ihren be-
ruflichen Kompetenzen und Leistungen anzuerkennen.
Sie wollen lediglich – ich zitiere aus Ihrem Antrag –
„eine bedarfsorientierte Arbeitsmarktintegration“. Von
Integration zu sprechen und dann nur scharf auf die ver-
wertbaren akademischen Qualifikationen zu sein, das hat
nichts mit Integration zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung grenzt die Gruppe der Berech-
tigten noch weiter ein. Sie ignoriert im Achten Auslän-
derbericht einfach die Gruppe der über 55-Jährigen.
Auch Bildungsabschlüsse, die vor mehr als zehn Jahren
erworben wurden, sind nutzlos bei der Anerkennung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt etliche Abge-
ordnete, die schon über zehn Jahre hier im Parlament
sind. Stellen Sie sich einfach einmal vor, sie bekämen
morgen die Mitteilung, dass all ihre Berufsabschlüsse
nicht mehr gelten. Na, da hätten wir richtig Stimmung
im Parlament.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD])


Ich kann nur feststellen, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und FDP: Sie sind nicht bei
den Sorgen und Nöten der Menschen angekommen.

In Ihrem Antrag ist zu lesen, dass Sie die Kriterien zur
Bewertung bundeseinheitlich regeln wollen. Aber wie
sieht es denn mit den Gesetzen zur Anerkennung aus?
Für jeden gilt etwas anderes. Wir haben insgesamt weit
über 100 Gesetze in den Ländern und im Bund. Wie soll
die Anerkennung denn nun geregelt werden: bundesein-
heitlich oder wieder in Stufen für EU-Bürger, Aussiedler
und Bürger aus Drittstaaten? Und was ist mit den Asyl-
bewerbern? Welche Stellen bewerten denn ihre berufli-
chen Abschlüsse? Wie genau wird die Nachqualifizie-
rung geregelt, und wer ist dafür zuständig? – Fragen
über Fragen. Zu diesen Fragen sagen Sie allerdings
nichts in Ihrem Antrag.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Antwort hat denn die Linke darauf? – Heiner Kamp [FDP]: Den müssen Sie mal lesen, Frau Alpers!)

– Ich habe ihn ausdrücklich drei Mal gelesen.


(Heiner Kamp [FDP]: Dann müssen Sie ihn ein viertes Mal lesen!)


All die wichtigen Fragen, die ungeklärt sind, die wir
auch im Fachgespräch mit Ihnen nicht haben klären kön-
nen, nehmen Sie in Ihrem Antrag nicht auf. Ich glaube,
Herr Kollege, Sie sollten mal Ihren Antrag lesen.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das ist doch kein Gesetzentwurf!)


– Es ist kein Gesetzentwurf. Den haben Sie aber schon
vor einem halben Jahr versprochen.

Bei dem Antrag der Grünen frage ich mich: Warum
lassen Sie sich auf die Diskussion dieser Damen und
Herren ein? Es geht hier doch insgesamt nicht um die
Verwertung auf dem Arbeitsmarkt, sondern um die An-
erkennung von Menschen und ihrer beruflichen Ab-
schlüsse. So eine Schieflage in der Debatte lehnen wir
als Linke ab.


(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke hat 2007 das Thema „Anerkennung“ als

Erste eingebracht. Wir wollen ein Anerkennungsgesetz
für alle – egal ob Akademiker oder Handwerker. Wir
wollen einen Rechtsanspruch auf Anerkennung und
Nachqualifizierung mit einer Verfahrensdauer von maxi-
mal drei Monaten.

Meine Damen und Herren, Migrantinnen und Migran-
ten brauchen endlich berufliche Perspektiven. Aus unse-
rer Sicht haben alle Menschen ein Recht, als Person an-
erkannt zu sein. Ansonsten bleibt Ihr Gerede über
Integration nicht mehr als eine hohle Phrase.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Uwe Schummer [CDU/ CSU]: Würden Sie das zurücknehmen?)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706525600

Krista Sager ist die nächste Rednerin für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706525700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer In-

tegrationsbereitschaft von Migrantinnen und Migranten
einfordert und den demografisch bedingten Fachkräfte-
mangel beklagt, der muss in der Tat dringend etwas tun,
damit das Anerkennungswesen für im Ausland erwor-
bene Qualifikationen und Bildungsabschlüsse in
Deutschland verbessert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben hier gravierende Defizite, und das ist seit lan-
gem bekannt. Hunderttausende Menschen arbeiten un-
terhalb ihres Qualifikationsniveaus oder sind sogar ar-
beitslos, nicht zuletzt wegen Defiziten im deutschen
Anerkennungswesen. Nur: Das wurde schon auf dem
Bildungsgipfel 2008 gemeinsam festgestellt; das ist in-
zwischen zwei Jahre her. Wir sind in Worten weiterge-
kommen, aber leider nicht in Taten.

Die grüne Fraktion hat schon Anfang der Legislatur-
periode einen Antrag mit konkreten Vorschlägen einge-





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)

bracht, die SPD und die Linke ebenfalls. Das alles liegt
vor. Die Bundesregierung hat vor über einem Jahr Eck-
punkte vorgelegt, mit denen sie im Wesentlichen – da hat
der Kollege Swen Schulz vollkommen recht – die Vor-
schläge und Ankündigungen der Vorgängerregierung
wiederholt hat.

Was ist seitdem passiert? Im Grunde nichts! Ange-
kündigt war eine gesetzliche Regelung zum Jahreswech-
sel 2010/2011. Ich habe erhebliche Bedenken, dass die
Bundesregierung eine solche Regelung zustande bringt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, ich bin hier nicht die Einzige, die diese Be-
denken hat. Erst hieß es, der Gesetzentwurf solle im
Sommer kommen; dann hieß es, Ende der Sommer-
pause. Jetzt heißt es, Mitte Oktober werde ein Referen-
tenentwurf vorgelegt. Ein Referentenentwurf ist aller-
dings noch kein Gesetzentwurf im Parlament.

Ich habe den Eindruck, dass auch Ihnen jetzt langsam
mulmig wird. Welchen Sinn hat denn sonst Ihr Antrag?
Er enthält keinen einzigen neuen Gedanken, Herr
Weinberg; inhaltlich kommen wir mit ihm keinen Schritt
weiter. Wenn dieser Antrag nicht nur ein Pausenfüller
sein soll, weil von der Regierung nichts kommt, dann hat
er offensichtlich den Zweck, Druck auf die Regierung
auszuüben. Herr Kamp, es ist schon etwas merkwürdig,
dass Sie meinen, es sei nötig, die Regierung aufzufor-
dern, etwas zu tun, obwohl sie selber sagt, sie arbeite da-
ran ganz intensiv.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So sind sie! Sie können es einfach nicht!)


Es geht offensichtlich darum, dass auch Sie meinen, man
müsse die Regierung jetzt einmal ein bisschen unter
Druck setzen und ihr auf die Sprünge helfen.

Herr Braun, dieses Vorhaben ist in unserem föderalen
System nicht gerade ein leichtes Vorhaben. Das weiß
auch hier inzwischen jeder.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: So ist das!)


Aber was ich bedauerlich finde, ist, dass in Ihrem Antrag
überhaupt keine Hinweise zu finden sind, wie Sie die
kniffligen Fragen, die wir auch in einem Fachgespräch
im Ausschuss behandelt haben, eigentlich beantwortet
haben möchten. Wie schaffen wir es, dass eine Bewer-
tung bundesweit Anerkennung findet? Oder wie schaf-
fen wir es, dass es nicht nur einen Rechtsanspruch gibt,
sondern auch Beratung, Information, Bewertung und
Qualifizierungsanschlussangebote? Ohne all das werden
wir nämlich weiter ganz viele Potenziale verlieren. Vie-
len ist nicht nur mit einem Rechtsanspruch auf ein Ver-
fahren geholfen; vielmehr brauchen sie eben auch Quali-
fizierungsangebote.

In einer Hinsicht bin ich gegenüber dem, was Sie wol-
len, sehr skeptisch: Auch Sie halten nach wie vor an dem
Gedanken fest, dass man im Wesentlichen Dokumente
formal abgleicht, dass man sich im Wesentlichen auf den
Vergleich von Ausbildungswegen und ihrer Gleichartig-
keit konzentriert. Darum kann es aber nicht gehen, son-
dern es geht um die Betrachtung des individuellen Kom-
petenzprofils.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei einem anderen Ansatz werden wir die Integration in
den Arbeitsmarkt nicht schaffen. Die Integration in den
deutschen Arbeitsmarkt muss wirklich im Vordergrund
stehen. Wenn das durch den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung nicht geschieht, dann werden wir weiter
Bildungsressourcen vergeuden und vielen Menschen in
diesem Land mit guten Voraussetzungen nicht gerecht
werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706525800

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Ewa Klamt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ewa Klamt (CDU):
Rede ID: ID1706525900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Herausforderungen, vor denen wir in unserem Land
stehen, sind allgemein bekannt, und sie sind hier auch
benannt worden. Der sich abzeichnende Wandel in der
demografischen Entwicklung führt zunehmend zu einem
Fachkräftemangel. Das Statistische Bundesamt sagt uns,
dass das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland bis zum
Jahr 2030 wegen des Geburtenrückgangs um über
6 Millionen zurückgeht.

Schon heute fehlen 36 000 Ingenieure und 43 000 IT-
Fachkräfte, also Computerfachleute. Gleichzeitig wissen
wir, dass allein rund 300 000 zugewanderte Akademike-
rinnen und Akademiker ihr Wissen und ihre Kompetenz
in unserem Land einbringen wollen; aber ihre ausländi-
schen Hochschulabschlüsse werden in Deutschland nicht
oder nur mit großer Verzögerung anerkannt. Deshalb
müssen wir trotz der Komplexität der Aufgabe alles tun,
damit wir zügig gemeinsam mit den Ländern bundesweit
nachvollziehbare und verbindliche Bewertungskriterien
schaffen. Das gilt für Akademiker und auch für alle an-
deren Berufsgruppen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wie komplex das in Deutschland ist, zeigt sich – auch
Frau Sager hat es schon angesprochen – allein darin,
dass die Gesetzgebungszuständigkeit je nach Beruf beim
Bund oder bei den Ländern liegt, dass hingegen die An-
erkennungsverfahren immer von Länderstellen, also Be-
hörden, Kammern oder beauftragten Stellen, durchge-
führt werden.

Wenn Sie, Herr Kollege Schulz, so unendlich traurig
sind, dass die christlich-liberale Koalition es innerhalb
eines Jahres noch nicht geschafft hat, die Probleme, die
ich eben benannt habe, zu lösen, dann muss man hier im-
mer wieder darauf hinweisen, dass Sie elf Jahre mit in





Ewa Klamt


(A) (C)



(D)(B)

der Regierungsverantwortung waren. Sieben Jahre ha-
ben Sie ohne die böse CDU regiert, die an allem schuld
ist. Wenn Sie das alles so beklagen, wie Sie es hier getan
haben,


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Krokodilstränen sind das!)


frage ich mich schon, warum Sie sieben Jahre gar nichts
auf den Weg gebracht haben. Wir packen es an, Herr
Schulz!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wie viele Abstimmungsprozesse und wie viel Zeit es
erfordert, wenn unterschiedliche Stellen bzw. verschie-
dene Ebenen sich einigen müssen, zeigen uns die Erfah-
rungen mit diesem Thema in der Europäischen Union.
Es hat Jahre gedauert, sich auf europäischer Ebene über
die Anerkennung von Berufsqualifikationen zu einigen,
und dabei ging es ausschließlich um die Anerkennung von
Berufsqualifikationen, die in den inzwischen 27 Mitglied-
staaten erworben werden. Das lag weder am Unwillen
noch am Phlegma der beteiligten Fraktionen oder der
Mitgliedstaaten; vielmehr lag es an den früher sehr
schwer vergleichbaren Studien- und Ausbildungsgän-
gen. Der Durchbruch im Jahr 2005, von dem wir bereits
jetzt alle zehren, gelang im Wesentlichen, weil es inzwi-
schen zu einer weitgehenden Harmonisierung der Aus-
bildungen in der Europäischen Union gekommen ist. Es
sollte allen Bildungspolitikern klar sein, dass es noch
weitaus schwieriger ist, weltweit erworbene Abschlüsse
mit unseren nationalen Qualitätsstandards zu verglei-
chen und Anerkennungskriterien zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn diese Kriterien müssen – auch das gehört zur Lö-
sung dieser Aufgabe – das Qualitätsniveau deutscher Ab-
schlüsse erfüllen; denn mit Recht weisen Gewerkschaf-
ten und Arbeitnehmer darauf hin, dass sonst unsere
hohen Standards unterlaufen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Im Bereich der Hochqualifizierten hat die Europäi-
sche Union unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands
in den letzten beiden Jahren entscheidend zu einer Lö-
sung beigetragen. Die Einigung auf europäischer Ebene
hat zu einem Ergebnis geführt, auf das wir jetzt zurück-
greifen können: Mit der Entscheidung für eine europäi-
sche Bluecard sind einvernehmlich Kriterien für Hoch-
qualifizierte festgelegt worden. Diese Richtlinie befindet
sich derzeit in der Phase der Umsetzung in deutsches
Recht.

Entsprechend der Bluecard gilt als hochqualifiziert,
wer einen Hochschulabschluss nach mindestens dreijäh-
rigem Hochschulstudium an einer staatlichen oder staat-
lich anerkannten Hochschule in dem betreffenden Staat
erworben hat. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, mit
dem Nachweis einer mindestens fünfjährigen einschlägi-
gen Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hoch-
schulabschluss vergleichbar ist, als Hochqualifizierter
anerkannt zu werden.
Deshalb können wir heute mit Fug und Recht sagen,
dass nicht nur wichtige Vorarbeiten für eine zukünftige
Zuwanderung geleistet wurden, sondern gleichzeitig
Kriterien geschaffen wurden, die es der Bundesregierung
ermöglichen, zügig das umzusetzen, was wir in unserem
Antrag „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –
Fachkräftepotentiale ausschöpfen“ fordern. Die Punkte
sind alle bereits von meinen Vorrednern genannt wor-
den; darum erspare ich mir, sie noch einmal aufzuzählen.
Ich möchte aber festhalten, dass wir mit der Umsetzung
dieser Forderungen sowohl dafür sorgen, dass die Poten-
ziale der zum Teil gut qualifizierten Migrantinnen und
Migranten in unserem Land gewürdigt werden, als auch
dafür, dass den Migrantinnen und Migranten in Zukunft
die Möglichkeit gegeben wird, sich hier mit ihrem Kön-
nen und ihren Fähigkeiten einzubringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn fest steht: Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt
ist immer noch der beste und effektivste Weg der Inte-
gration, und sie stellt gleichzeitig auch die gesellschaftli-
che Anerkennung dar, die sich jeder von uns wünscht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706526000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3048 und 17/3198 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein,
Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Sicherung und Bewahrung der Wandbilder
von Prof. Ronald Paris und Prof. Walter
Womacka in Berlin

– Drucksache 17/2020 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Konzept für die Bewahrung kulturhistorisch
bedeutsamer Kunst am Bau der jüngeren Zeit
entwickeln

– Drucksache 17/3186 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. – Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden.

Dann eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerin
hat das Wort die Kollegin Lukrezia Jochimsen für die
Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706526100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jeden Tag verlieren wir Kunstwerke von hohem Rang,
Zeugnisse der jüngeren Kunstgeschichte durch Abriss,
durch Neubauten und durch Privatisierungen öffentli-
cher Gebäude. Das ist ein generelles, bundesweites Pro-
blem, betrifft in den neuen Bundesländern und in Berlin
aber insbesondere das künstlerische Erbe der DDR.

Aktuelles Beispiel für den Umgang mit diesem Erbe
sind die Preisgabe des Wandgemäldes Lob des Kommu-
nismus von Ronald Paris im ehemaligen Zentralamt für
Statistik der DDR und des Emaillewandbildes Der
Mensch, das Maß aller Dinge am ehemaligen Bauminis-
terium der DDR von Walter Womacka aus der öffentli-
chen Hand.

Welch trauriges Zusammentreffen: Walter Womacka
ist heute in Berlin beerdigt worden, ganz in der Nähe
von Käthe Kollwitz. Wie und wo sein Kunstwerk in Ber-
lin wieder einen Platz finden wird, trieb ihn um, bis zu-
letzt.

Das ehemalige Bauministerium und das ehemalige
Zentralamt befinden sich im Besitz des Bundes und wur-
den für viel Geld veräußert. Die bundeseigenen Kunst-
werke wurden im Internet feilgeboten. Die Kosten für
die Abnahme mussten die Käufer tragen. Wieso der
Bund die Käufer seiner Immobilien nicht verpflichtete,
die Kunstwerke angemessen in die Neubauten zu inte-
grieren, ist nicht zu verstehen und nicht zu billigen.


(Beifall bei der LINKEN – Christoph Poland [CDU/CSU]: Ich verstehe das!)


Aufgrund unserer Initiativen wurde versucht, Bundes-
und Landeseinrichtungen zur Übernahme zu bewegen –
vergeblich. Es gelang nicht, diese Werke für die öffentli-
che Hand zu sichern. Sie wurden durch private Initiative
– wohlgemerkt: private Initiative – jetzt gerettet und so
nicht zerstört. Ich finde es großartig, dass übermorgen
das Bild von Ronald Paris im DDR-Museum in Berlin
zu sehen sein wird. Aber für die Zukunft ist ein Bild im
Privatbesitz nie gesichert. Der Eigentümer kann es aus-
stellen oder nicht, kann es verkaufen oder nicht.

Von einem bewussten und verantwortungsvollen Um-
gang mit öffentlichem Kunstbesitz und mit dem künstle-
rischen Erbe der DDR kann in diesen Fällen jedenfalls
keine Rede sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept für den
Umgang mit öffentlichem Kunstbesitz, der sich in Ge-
bäuden befindet, die ihren Zweck verlieren, umgewid-
met oder privatisiert werden, und das im 20. Jahr der
deutschen Einheit.

Wo sind eigentlich die großen Bilder von Tübke,
Heisig, Mattheuer, Sitte und auch Womacka, die im Pa-
last der Republik hingen? Eingelagert, irgendwo, heißt
es. Sie sind unsichtbar geworden, nirgends und für nie-
manden zu sehen. Darf man das Abwertung der DDR-
Kunst nennen oder nicht?


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein!)


Eine Übersicht über das Verlorene gibt es im Westen
wie im Osten bisher genauso wenig wie über die derzeit
gefährdeten Werke. Was fehlt, ist eine flächendeckende,
interdisziplinär vernetzte Recherche. Für die zu erstel-
lende Bestandsübersicht der nach 1945 geschaffenen
baubezogenen Kunstwerke müssten Kriterien zur Syste-
matisierung des Bestandes und seiner Bewertung unter
historischen, sozialen wie künstlerisch-ästhetischen Ge-
sichtspunkten entwickelt werden.

Art. 35 des Einigungsvertrages verpflichtet die Bun-
desrepublik Deutschland, dafür Sorge zu tragen, dass die
kulturelle Substanz im Ostteil Berlins und in den neuen
Bundesländern keinen Schaden nimmt. Die Kunstwerke
von Womacka und Paris befanden sich im Ostteil Ber-
lins. Die gesamtdeutsche Bewahrung und Sicherung von
baugebundener Kunst ist Teil politischer und kultureller
Bildung und wichtig für die nächsten Generationen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ganz besondere Verantwortung hat der Bund in jenen
Fällen, in denen die Kunstwerke Bestandteil seines Im-
mobilienbesitzes sind. Dieser Verantwortung muss der
Bund auch durch die Übernahme der Kosten für die
Pflege und Sicherung der Kunstwerke gerecht werden.
Geschichtsbewusstsein ist eine Aufgabe und Kulturbe-
wusstsein dazu.

Deshalb stellen wir unsere beiden Anträge, den be-
deutenden Schatz der Bau-Kunst in Bundesbesitz zu si-
chern und zu katalogisieren. Ich bitte um Ihre Zustim-
mung.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706526200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Professor Monika

Grütters für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1706526300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren

Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Jochimsen, Sie
haben uns ja den Weg der Wandbilder von Ronald Paris
und Walter Womacka dargelegt. Ich bin zumindest froh,
dass für beide jetzt erst einmal eine Bleibe gefunden ist.
Das Bild von Womacka soll in einem neuen Gebäude der
entsprechenden Wohnungsbaugesellschaft – er war lange
Mieter dort – unterkommen.





Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)

Ich gebe Ihnen aber in einem Punkt recht: Wir müssen
– das zeigen diese zwei Beispiele – grundsätzlich, also
gerade unabhängig von diesen beiden Fällen, Antworten
finden auf die Frage nach dem Umgang mit der Kunst
am Bau, wenn es ebendiesen Bau einmal nicht mehr
gibt. Interessanterweise sind dafür bislang in den ein-
schlägigen Richtlinien kaum Hinweise zu finden. Ich
habe jetzt auch noch einmal mit dem Kunstbeauftragten
des Bundestages, Herrn Kaernbach, sehr intensiv danach
recherchiert. Ich finde nur – insofern greift Ihr Antrag
auch zu kurz –, dass das beileibe nicht nur die DDR-
Kunst betrifft.

Aber noch einmal zu den konkreten Fällen, weil Sie ja
auch den Vorwurf erhoben haben, der Bund habe sich
nicht anständig oder korrekt oder verantwortungsbe-
wusst genug verhalten: Sie haben recht, bei beiden
Wandgemälden handelt es sich um Zeugnisse der Kunst-
geschichte, sowohl das Wandgemälde Der Mensch, das
Maß aller Dinge von Womacka als auch das Wandge-
mälde Lob des Kommunismus von Ronald Paris. Da-
rüber muss man sich jetzt hier nicht in der Sache streiten.
Beide Künstler sind über die Grenzen der DDR hinaus
bekannt und auch anerkannt. Beide Künstler haben die
bildende Kunst der DDR durchaus wesentlich mitge-
prägt. Beide Kunstwerke befinden sich an bzw. in Ge-
bäuden, die jetzt abgerissen werden sollen und von de-
nen eines in der Tat dem Bund gehört, und in beiden
Fällen waren zum Erhalt der Wandgemälde deren Aus-
bau und Verbringung an einen neuen Standort erforder-
lich.

Bevor der Bund diese Kunstwerke dann im Internet
angeboten hat, hat er alle einschlägigen Museen gefragt.
Involviert war übrigens eine Kommission, die sehr hoch-
rangig besetzt war – das wissen Sie auch –: Es waren die
Förderkommission Bildende Kunst, die Stiftung Stadt-
museum, die Berlinische Galerie, die Senatskanzlei Ber-
lin und das Deutsche Historische Museum an diesem
Prozess beteiligt. Das zeigt, dass der Bund nicht verant-
wortungslos, wie Sie sagen, damit umgegangen ist, son-
dern es handelte sich um ein, wie ich finde, durchaus
sehr verantwortungsbewusstes Verfahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir zumindest können den Museen keinen Vorwurf
daraus machen, dass sie dafür keine Verwendung haben,
weil die Restaurierung und Einlagerung natürlich auch
kostenaufwendig ist. So wie man das den Museen nicht
vorwerfen kann, darf die Politik die Museen auch nicht
dazu zwingen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau richtig! – Christoph Poland [CDU/ CSU]: So ist das!)


Ganz abgesehen davon, dass es dafür auch keine ent-
sprechende Handhabe gibt.

Ihr Vorschlag, Frau Jochimsen, dass die Kunstwerke
dann eben am neuen Gebäude angebracht werden müss-
ten, würde, wie ich finde, einer Vergewaltigung der Ar-
chitekten, die das neue Gebäude planen, gleichkommen.
Das darf man denen nicht aufzwingen.

(Christoph Poland [CDU/CSU]: Richtig! Jawohl!)


Das ist also ein nicht handhabbarer Vorschlag.

Ich will aber nicht leugnen, dass hier das Dilemma
deutlich wird, dass es für derartige Fälle keine einschlä-
gigen Richtlinien gibt, weil die öffentliche Hand offen-
sichtlich bisher davon ausgegangen ist, dass es solche
Fälle selten oder gar nicht geben würde. Dabei gibt es
die institutionalisierte Kunst am Bau bereits seit der
Weimarer Republik.

Auch damals lag der Anteil an der Bausumme bei 1, 2
oder 2,5 Prozent. 1993 sollte die Maßnahme ganz abge-
schafft werden. Das haben wir verhindert.

Ich muss einmal sagen: Der Bundestag benimmt sich,
was das angeht, vorbildlich. Im Reichstagsgebäude wur-
den 3 Prozent der Bausumme für Kunst am Bau ausge-
geben; bei den anderen Parlamentsbauten waren es
2 Prozent. Wir müssen uns nicht verstecken.

Ähnliche Vorgänge wie den eben beschriebenen hat
es hier aber auch schon gegeben, beispielsweise im Zu-
sammenhang mit dem Sgraffito von Carl-Heinz
Kliemann an der Wand des Reichstagsgebäudes, das
dem Umbau durch Foster weichen musste. Da hat der
Urheberrechtsgrundsatz gegolten: Zerstören darf man,
wenn das Gebäude – es war an einer Wand, die abgeris-
sen wurde – nicht mehr da ist. Aber man darf es nicht
verändern, wenn die Architektur als Bezugsrahmen ver-
schwunden ist. Allerdings gilt hier – wie überall – auch
der Grundsatz: Rückgabe vor Zerstörung. Das Urheber-
recht sieht zu Recht vor, von der Dauer des Kunstwerkes
auszugehen, aber nicht von der Dauer des Gebäudes.

Ich finde, in solch einem Fall kann das Kunstwerk,
selbst wenn es abgenommen wird und in einem anderen
Kontext, vielleicht irgendwann in einer Ausstellung, und
sei es nur zeitweise, wieder auftaucht, Erzähler einer Ge-
schichte sein, zum Beispiel einer Geschichte des Verlus-
tes. So geschah es mit der Arbeit Kosmos 70 von
Bernhard Heiliger, die im Westeingang des Reichstags-
gebäudes hing. Künftig wird sie im neuen Eingang des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hängen. Daran sieht
man, dass es sich lohnt, immer in eine Einzelfallprüfung
einzutreten.

Sie heben zuallererst auf die Kunst aus der DDR-Zeit
ab. Dazu muss ich sagen: Ja, hier besteht eine besondere
Notwendigkeit, weil auf dem Gebiet der ehemaligen
DDR mehr neu gebaut und damit mehr abgerissen wird.
Aber es ist natürlich nicht nur ein Problem dieses Seg-
ments. Deshalb finde ich, dass wir uns an die Grundsätze
halten sollten, die die Vereinigung der Landesdenkmal-
pfleger in der Bundesrepublik Deutschland niederge-
schrieben hat. Dort heißt es:

Inventarisation ist in allen Bundesländern

– es ist wohlgemerkt vor allen Dingen Sache der Bun-
desländer –

gesetzlicher Auftrag der staatlichen Denkmal-
pflege. … Inventarisation ist Grundlage jeden
denkmalpflegerischen Handelns. … Denkmäler





Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)


(bewegliche und unbewegliche) sind alle Objekte,

die im eigentlichen Sinn des Begriffs einer Erinne-
rung wert sind und deren Erhaltung und Pflege im
öffentlichen Interesse liegen. … Es werden also im
weitesten Sinn materielle Zeugnisse menschlichen
Lebens erfasst, die nicht notwendig

– das muss man übrigens den Kollegen auch einmal sa-
gen –

ästhetische Qualität haben müssen. Auch mit nega-
tiven Erinnerungen besetzte Objekte, wie solche
der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutsch-
lands, gehören in die Reihe der zu bewahrenden
Überlieferungen. Ausschlaggebend ist ihre in der
Geschichte verankerte Bedeutung. Die Denkmalei-
genschaft ist damit nicht von einem festgelegten
Mindestalter des Objekts abhängig.

So schreibt es die Vereinigung der Landesdenkmalpfle-
ger.

Es ist also meines Erachtens nicht nur aus wissen-
schaftlicher Sicht sinnvoll, Kunst am Bau aus 40 Jahren
DDR zu dokumentieren und – das ist vom Denkmal-
schutz im großen Stil gemacht worden – zu katalogisie-
ren. Es gibt einschlägige Veröffentlichungen und Publi-
kationen wie das Handbuch der Deutschen
Kunstdenkmäler und das Buch Die Bau- und Kunstdenk-
male in der DDR.

Sie haben zu Recht Art. 35 des Einigungsvertrages zi-
tiert. Ich finde, das gehört durchaus hierhin. Daraus kann
man aber meines Erachtens nicht – wie Sie es machen –
eine generelle Verantwortung des Bundes oder gar eine
Zuständigkeit des Bundes ableiten. Sie haben die Fälle,
in denen der Bund die Zuständigkeit haben soll, auf jene
Fälle beschränkt, in denen der Bund Gebäudeeigentümer
ist. Ich meine, hier muss man die Länder, die sonst über-
all ihre föderalistische Hoheit bei diesen Themen vertei-
digen, heranziehen. Das wiederum bedeutet Freiheit,
aber auch Verantwortung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Der Bund hat in den letzten 20 Jahren weit über die
Grenzen der Zuständigkeit im Föderalismus hinaus viel
für die Aufarbeitung und Bewahrung der Denkmäler in
der ehemaligen DDR getan: restaurierte Altstädte, Mu-
seen, Bibliotheken, Theater und Opernhäuser. Es wäre
also falsch, hier den Bund anzuprangern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Generell, Frau Jochimsen, gilt außerdem: Wenn wir
die Kunst der DDR musealisieren, ist das eine komplexe
Aufgabe, an der nicht nur die Länder zu beteiligen sind.
Es muss aber um mehr gehen als nur um die Erfassung.
Sie kann nur mit dem Ziel durchgeführt werden, geeig-
nete Vermittlungskonzepte zu entwickeln. Heute gibt es
das DDR-System zum Glück nicht mehr. Umso mehr
müssen wir darauf aufpassen, dass wir Auftragskunst
– die offiziellen Kunstwerke – angemessen interpretie-
ren und sie in der Retrospektive nicht verharmlosen oder
verniedlichen. Deshalb finde ich, dass sie heute nicht in
den Kontext anderer Bauten gehören. Man sollte das
nicht ins Nostalgische schieben. Schließlich haben sich
allzu viele Künstler vor ästhetischer Doktrin, auch vor
der des sozialistischen Realismus, in die Abstraktion,
manche in die innere Immigration geflüchtet. Viele durf-
ten nicht weiterarbeiten. Ich finde, das gehört auf jeden
Fall auch in diesen Kontext. Das spricht gegen eine
simple Verschiebung vom Gestern ins Heute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Denkmalpflege hat genau zu diesem Zweck einen
Kriterienkatalog entwickelt, der im Wesentlichen zwi-
schen einem ästhetischen und einem historischen Wert
differenziert. Das Sammeln ist mit Kosten verbunden.
Schließlich geht es nicht nur um eine einmalige Aktion,
sondern um Restaurierung, Aufbewahrung und wissen-
schaftliche Bearbeitung. Diese Einordnung des Wertes
und der materiellen wie immateriellen Bewertung, finde
ich, sollten wir den Fachleuten überlassen. Einen gene-
rellen Rahmen – auch das muss ich feststellen – müssen
wir in der Politik aber einmal beschreiben.

Frau Kollegin, über die zwei genannten Einzelwerke
– dazu haben Sie Ihren ersten Antrag eingebracht – soll-
ten und brauchen wir nicht mehr abzustimmen, auch
wenn es privaten Initiativen zu verdanken ist, dass die
beiden Arbeiten eine Bleibe gefunden haben. Sie haben
auf ein generelles Desiderat hingewiesen: dass es kaum
Richtlinien für den Verbleib auch öffentlich geförderter
Kunst am Bau gibt. Die Beispiele zeigen: Das kann so
nicht bleiben, selbst wenn bisher dabei vor allem Urhe-
berrechtsrichtlinien oder der Denkmalschutz im Einzel-
fall erfolgreich angewendet wurden.

Eine Verpflichtung zum Handeln liegt aber ganz si-
cher nicht nur beim Bund, und die Problematik gilt si-
cher nicht nur für die Kunst der ehemaligen DDR. Des-
halb finde ich, dass Ihr zweiter Antrag zu kurz greift.
Wenn wir das genereller beschreiben, füllen die von Ih-
nen beklagten Tatbestände auf jeden Fall einen größeren
Rahmen. Im Geiste des Einigungsvertrages – jetzt ist die
richtige Stunde, um darauf hinzuweisen – gilt für uns
alle:

In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur
– trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden
Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbe-
stehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten
im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen
auf dem Weg zur europäischen Einigung einen ei-
genständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung
und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der
Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht
und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso
von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.

In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1706526400

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Thierse

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706526500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegin Jochimsen, ich fürchte, ich werde zu Ihren An-
trägen etwas kritischer sein müssen als die Kollegin
Grütters. Das liegt vermutlich daran, dass ich die DDR-
Kunst wirklich erlebt und erlitten habe und mich deswe-
gen an vieles erinnere.

Ihr erster Antrag, der Antrag zu den Wandbildern von
Ronald Paris und Walter Womacka, ist, wie schon ge-
sagt, in bestimmter Weise bereits erledigt;


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)


denn das Lob des Kommunismus von Ronald Paris
wurde vom privaten DDR-Museum übernommen. Das
ist ein nicht zu beanstandender Vorgang; dieses Bild
wird öffentlich zugänglich bleiben.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau!)


Wenn Ihre Leidenschaft, zum Beispiel für dieses Bild,
wirklich so groß gewesen wäre, wie Frau Kollegin
Enkelmann das hat verlauten lassen – man solle es in
den Bundestag übernehmen –, dann frage ich mich: Wa-
rum haben Sie es nicht in Ihren Fraktionssaal übernom-
men?


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Gute Frage!)


Wir hätten Sie daran nicht hindern können oder wollen.
Das ist ein Beleg von Übereinstimmung von Wort und
Tat.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Das Wandbild Der Mensch, das Maß aller Dinge, das
ich – wenn Sie mir ein persönliches Geschmacksurteil
erlauben – für nicht ganz so gewaltig halte – es ist groß,
aber künstlerisch vielleicht nicht ganz so gewaltig –, ist
von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mit er-
heblichen Kosten abgenommen, gelagert und damit zu-
nächst einmal erhalten worden. Insofern hätten Sie den
Antrag zurückziehen können, aber Sie haben noch ein-
mal nachgelegt und das Problem sozusagen verallgemei-
nert. Sie fordern ein umfassendes Konzept zur Sicherung
der nach 1945 geschaffenen baugebundenen Kunstwerke
im öffentlichen Dienst, aber es geht Ihnen dabei vor al-
lem um das künstlerische Erbe bezogen auf die baubezo-
gene Kunst der DDR. Das verstehe ich. Ja, auch mit die-
sem Erbe sollte man behutsam und auch differenziert
umgehen. Aber – wie soll ich das nennen? – sollen wir
Hegel folgen: Nur weil einmal etwas gewesen ist, war es
auch vernünftig?

Bedeutet das, dass alles, was einmal gebaut oder ge-
schaffen wurde, dauerhaft erhalten bleiben muss? Ich zö-
gere, diesem Grundsatz zu folgen. Nein, nicht jedes
Kunstwerk muss unter Denkmalschutz gestellt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen immer wieder neu und am konkreten Objekt
über die Denkmalwürdigkeit, also den historischen Do-
kumentationscharakter, einerseits und die künstlerische,
ästhetische Qualität andererseits streiten und dann ent-
scheiden.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aber das Schloss muss wieder aufgebaut werden!)


Es geht um Kunst am Bau, und nicht um die allge-
meine bildende Kunst. Kunst am Bau ist immer Auf-
tragskunst, zumal in der DDR. Sie ist also in besonderer
Weise historischer Vergänglichkeit unterworfen. Das ist
ihr Schicksal. Es kann durchaus passieren, dass die Zeit
über den Auftraggeber und auch über die von ihm beauf-
tragte Kunst hinweggeht. Wir haben heute den 7. Okto-
ber. In der ehemaligen DDR wurde an diesem Tag der
Tag der Republik begangen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Richtig!)


Dieser Staat ist verloren gegangen. Wir können nicht
all seine Hinterlassenschaften erhalten. Wir müssen im-
mer wieder neu entscheiden, was wir erhalten wollen.

Kunst am Bau ist immer zweckgebunden und auf den
jeweiligen Raum bezogen. Wenn dieser Raum bzw. das
Gebäude aus Gründen, die nicht immer des Teufels sind,
wegfällt, dann ist das Schicksal baugebundener Kunst
ein anderes als das von Gemälden, die im eigenen, im
künstlerischen Auftrag produziert wurden. Das ist nicht
nur das Schicksal von baugebundener Kunst in der ehe-
maligen DDR. Das gilt generell und ist daher nichts Be-
sonderes.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Genau!)


Es kommt hinzu, dass in der DDR im Hinblick auf die
baugebundene Kunst ein ganz praktisches Problem ent-
standen ist: Sie war etwas groß dimensioniert. Das Wo-
macka-Werk misst 15 mal 6 Meter. Es wiegt 1,2 Tonnen
und besteht aus 360 emaillierten Kupferplatten. Ich er-
wähne das nur, um klarzustellen, dass ich etwas gegen
falsche Verallgemeinerungen habe. Es geht hier um ganz
konkrete Probleme und ihre Lösungen. Folgende ironi-
sche Bemerkung kann ich mir deshalb nicht verkneifen:
Wie wäre es denn, wenn Sie das große Kunstwerk, das
Sie so schätzen, an Ihrer Parteizentrale, dem Karl-
Liebknecht-Haus, anbringen würden? Dann wäre es er-
halten und öffentlich sichtbar.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Die Idee hatten wir auch! – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Nicht nur die Lippen spitzen! Auch pfeifen! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Weil es nicht dranpasst!)


– Eben. Sie geben mir genau die richtige Antwort. Das
Gebäude, für das es einmal geschaffen worden ist, ist
nicht mehr da. Deswegen entsteht das praktische Pro-
blem: Was machen wir nun damit? Wir können nieman-
den auf Dauer verpflichten, es zu erhalten, nur weil es
einmal da war.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage es noch einmal: Nicht alles kann und muss
aufgehoben und aufbewahrt werden. Es darf aber auch
nicht alles beseitigt, abgerissen oder versteckt werden.





Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das entscheiden Sie jetzt!)


Das gilt selbstverständlich sowohl für Kunst aus der
DDR als auch für Kunst aus der alten Bundesrepublik.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die kaufen es sich doch aus dem Parteivermögen!)


Wir müssen uns der Mühe unterziehen, immer wieder
neu zu einer fairen und differenzierten Bewertung von
Kunst – auch aus der DDR – zu kommen.


(Zuruf von der LINKEN: Genau das tun Sie gerade nicht!)


Das kann allerdings nicht von oben diktiert und ge-
wissermaßen per Dekret durch die Bundesregierung
durchgesetzt werden. Das ist unweigerlich – wie immer
bei der Kunst – Aufgabe und Gegenstand der öffentli-
chen Debatte und des Streits. Dann muss man sich zu ei-
nigen versuchen. Wir Bundespolitiker können nicht ein-
fach so allgemeine ästhetische Maßstäbe festlegen.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das finde ich auch! Das sollten wir Fachleuten überlassen!)


In dieser Hinsicht bin ich ein gebranntes Kind der
DDR. Damals hat das Politbüro der DDR solche Dinge
festgelegt. Alle naselang wurde ein zentraler For-
schungs- und Publikationsplan der Gesellschaftswissen-
schaften verabschiedet, und zwar nicht von den Wissen-
schaftlern, sondern vom Politbüro. Ich habe vor solchen
Dingen Angst und wünsche mir sehr – das ist mein An-
liegen –, dass im Angesicht des einzelnen Kunstwerkes,
vor Ort debattiert und am Schluss entschieden wird. Ich
bin eher skeptisch, ob das über das hinaus, was Kollegin
Grütters in Bezug auf unser Verständnis von Erbe und
Dokumentationscharakter gesagt hat, gelingt. Aber wir
können in dieser Sache miteinander streiten.

Das wirkliche Motiv Ihres Antrags wird in der Be-
gründung deutlich. Ich zitiere:

Hintergrund für die anhaltende Zerstörung von
Bauwerken und baugebundener Kunst der DDR ist
die nach wie vor vorhandene Abwertung und Dele-
gitimierung der DDR und ihrer Kunst.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Mann, Mann, Mann, wenn man das hört! Da wird sich wirklich auf alles bezogen!)


Ich höre das öfters von Ihnen. Ich kann nur daran erin-
nern – so ist Geschichte –: Die DDR ist 1989/90 von ei-
ner Mehrheit ihrer Bevölkerung durch die friedliche Re-
volution und die erste freie Wahl delegitimiert worden.
Das ist so.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christoph Poland [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)


Trotzdem weiß ich genau um den Unterschied zwi-
schen dem System und der Kunst, die in der DDR ent-
standen ist.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aha!)

Das ist wichtig.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aha!)

Aber da gibt es einen Unterschied zu Ihnen. Sie wollen
alles erhalten, während ich sage: Schauen wir genau hin;
streiten wir darüber, was erhaltenswert ist, wer dafür zu-
ständig ist und wie das verantwortet werden kann. Ich
habe etwas gegen ästhetischen Zentralismus.

Art. 35 des Einigungsvertrages – an den halten wir
uns – spricht von der Erhaltung kultureller Substanz. Da
ist in den vergangenen 20 Jahren sehr viel geschehen.
Auf diesem Gebiet muss zwar weiterhin allerhand ge-
schehen, aber wir müssen auch immer wieder neu da-
rüber diskutieren, was des Erinnerns wert ist. Ich glaube
nicht, dass das durch eine von der Bundesregierung ein-
gesetzte Kommission definiert werden kann. Das ist ein
offener Prozess des demokratischen Streits miteinander.
Da gehört es hin.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706526600

Das Wort erhält nun der Kollege Reiner Deutschmann

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Reiner Deutschmann (FDP):
Rede ID: ID1706526700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Die uns heute vorliegenden
Anträge der Fraktion Die Linke greifen ein Thema auf,
das sicherlich Emotionen hervorruft. Beim Thema Kunst
liegen Zustimmung und Ablehnung, leider oftmals auch
Desinteresse nah beieinander. Der öffentlichen wie der
privaten Hand kommt in diesem Spannungsbogen die
Aufgabe zu, besonders schützenswerte Kulturgüter über
Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte für die Nachwelt zu
bewahren. Dabei haben Kulturgüter nicht nur ästhetische
Qualitäten. Sie sind auch Objekte des historischen Ge-
dächtnisses von Kulturräumen.

Walter Womacka und Ronald Paris, um die es in dem
einen Antrag geht, haben prägende Kunstwerke geschaf-
fen. Es gibt wohl kaum jemanden, der in der DDR auf-
gewachsen ist und das Bild Womackas „Am Strand“ von
1962 nicht kennt. Es hing in Schulen und öffentlichen
Einrichtungen, zierte Bücher und Kalender und sogar
eine Briefmarke. Heute befindet es sich in den Staatli-
chen Kunstsammlungen Dresden. Sein Fries „Unser Le-
ben“ am Haus des Lehrers auf dem Berliner Alexander-
platz aus dem Jahr 1964 wurde nach der Wende
aufwendig restauriert. Das von Ronald Paris für den ehe-
maligen Palast der Republik geschaffene Wandbild „Un-
ser die Welt – trotz alledem“ aus den 70er-Jahren befin-
det sich heute im Deutschen Historischen Museum.
Diese Beispiele zeigen, dass die Kunstwerke beider
Künstler auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung in
unserem Land durchaus geschätzt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie be-
rufen sich in Ihrer Partei auf ein Erbe und damit auf eine
Tradition, die mit überlieferter Kunst und Kultur oftmals
nicht gerade zimperlich umging.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Reiner Deutschmann


(A) (C)



(D)(B)

Schließlich ließ die Staatsführung der DDR unliebsame
Kulturdenkmäler ersten Ranges vernichten, weil sie
nicht in die Staatsideologie passten.


(Beifall bei der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau! Keine Kunstfreiheit!)


So mussten architektonisch bedeutsame Schlösser und
zahlreiche Sakralbauten weichen. Die Sprengung der
Potsdamer Garnisonkirche sowie der Leipziger Univer-
sitätskirche, die von Martin Luther geweiht wurde, ris-
sen Lücken in die städtebauliche Identität von Potsdam
und Leipzig, die nur mit Mühe geschlossen werden
konnten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ein Skandal war das! – Christoph Poland [CDU/CSU]: Jawohl!)


Gerade Walter Ulbricht, der Förderer Womackas, hat
ohne Rücksicht auf kulturelle Belange vernichten lassen,
was über Jahrhunderte bewahrt worden ist.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aber das eine macht doch das andere nicht besser!)


Gefördert wurde im Gegenzug eine Kunst und Kultur,
die den Arbeiter- und Bauernstaat hochleben ließ, aber
nicht die Wirklichkeit widerspiegelte. Dabei wurde auch
noch versucht, die Künstler auf Linie zu bringen. Ich
verweise nur auf den Bitterfelder Weg.

Ihr Antrag zur Sicherung der zwei Wandbilder ist in-
zwischen überholt. Die Werke haben eine neue Nutzung
bekommen – das steht so gut wie fest – und erhalten so
eine Aufwertung. Erlauben Sie mir aber trotzdem zwei
Bemerkungen dazu.

Sie schreiben in Ihrem Antrag:

Es gelang nicht, diese Werke für die öffentliche
Hand zu sichern.

Ich muss fragen: Muss denn immer die öffentliche Hand
alles richten?


(Ulrike Flach [FDP]: Nein!)


Es ist einfach, nach dem Staat zu rufen und dessen Han-
deln einzufordern. Dabei ist es gerade durch das von uns
Liberalen immer wieder eingeforderte bürgerschaftliche
Engagement gelungen, diese Bilder zu bewahren und zu-
künftig einer noch prominenteren Nutzung zuzuführen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nicht nur in Zeiten knapper öffentlicher Kassen ist dies
eine Leistung, die gewürdigt werden muss. Ich wünsche
mir mehr solch privates Engagement in allen Bereichen
der Kultur.

Mit Ihrem zweiten Antrag verfolgen Sie einen allge-
mein gehaltenen Ansatz, aber eigentlich geht es Ihnen
um die Wahrung sozialistischer Kunst aus DDR-Zeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das wollen wir nicht!)

Bevor ich exemplarisch drei Punkte aus Ihrem Antrag
herausgreife, möchte ich darauf verweisen, dass das
Bundesbauministerium bei baubezogener Kunst keinen
Unterschied zwischen Ost- und Westkunst macht.


(Christoph Poland [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)


Ich komme zu den drei Punkten.

Erstens. Muss der Bund eine Bestandsaufnahme aller
nach 1945 geschaffenen baubezogenen Kunstwerke er-
arbeiten und ein Rechercheprojekt auf den Weg bringen?
Der Einigungsvertrag, den Sie zitieren, bindet nicht nur
den Bund, sondern auch die Länder. Der Bund kann nur
tätig werden, wenn ihm kraft Grundgesetzes die Kompe-
tenz erteilt wurde. Im vorliegenden Fall sind überwie-
gend die Länder und Kommunen zuständig, insbeson-
dere wenn es um Denkmalschutz geht. Denkmalschutz
ist Ländersache.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja, Berlin muss ran!)


Zweitens. Muss der Bund Kriterien zur Systematisie-
rung und Bewertung des Bestands entwickeln? Auch das
liegt nicht in seiner Zuständigkeit.

Drittens. Muss der Bund Strategien zur Sicherung von
Kunst am Bau entwerfen? Dazu verweise ich auf den
Leitfaden „Kunst am Bau“, der durch das Bundesbau-
ministerium herausgegeben wurde. Dieser verdeutlicht
den baukulturellen Anspruch des Bundes als Bauherrn
und verbindet diesen mit der Notwendigkeit angemesse-
ner und praktikabler Verfahren. Darin ist auch der Um-
gang mit Kunstwerken an Gebäuden geregelt, die vom
Abriss bedroht sind.

Im Übrigen gibt es unter Federführung des Bundesbau-
ministeriums die Veranstaltungsreihe „Werkstattgesprä-
che“, in deren Rahmen seit November 2007 an verschie-
denen Orten über den Umgang mit architekturbezogener
Kunst diskutiert wird. So fand in Leipzig ein Werkstatt-
gespräch unter dem Titel „Kunst am Bau als Erbe des ge-
teilten Deutschlands“ statt. Sie sehen, obwohl es nicht zu-
ständig ist, nimmt sich das Bundesbauministerium dieses
Themas an.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, über den einen oder anderen Punkt in Ihrem An-
trag kann man sicherlich reden. Ich will aber darauf ver-
weisen, dass vom Bund geförderte Einrichtungen wie
das Deutsche Historische Museum schon jetzt mit der
Sicherung von DDR-Kunst betraut sind. Die Aufbewah-
rung der Bilder des ehemaligen Palastes der Republik
habe ich schon erwähnt.

Über Kunst kann man trefflich streiten, nicht nur über
ästhetische Fragen. Wo hört der Schutzauftrag des Staa-
tes auf, und wo muss man auf privates Engagement set-
zen? Ich denke, der Bund tut das in seinen Möglichkei-
ten Stehende zur Erhaltung und Erschließung der DDR-
Staatskunst. Der Bund ist jedoch nicht in der Pflicht, alle
Werke zu bewahren, die von der DDR-Führung als be-
sonders wertvoll eingestuft wurden.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Richtig!)






Reiner Deutschmann


(A) (C)



(D)(B)

Allein durch die Kosten der hier geforderten Maßnah-
men würden wir die tagesaktuelle Kulturförderung ge-
fährden. Das Geld der Steuerzahler ist endlich. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das sollten
Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es steht Ihnen aber frei, Ihre Forderung exemplarisch im
Land Berlin umzusetzen; denn dort sind Sie schließlich
Mitregierende.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706526800

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.


Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706526900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Kunst am Bau, das ist ein sperriges Thema,
und darüber sprechen wir jetzt auch noch zu so später
Stunde. Dabei ist es ein ganz altes Thema. Seit über
90 Jahren hat sich der öffentliche Bauherr in Deutsch-
land verpflichtet, 1 bis 2 Prozent einer Bausumme in
Kunst am Bau zu investieren. Im Rahmen der baugebun-
denen Kunst – das ist ein schöner Fachbegriff – sind
Kunstwerke, Objekte und Skulpturen entstanden. Dabei
wurde sehr viel Geld investiert. Sehr viele Objekte sind
über die Historie entstanden. Dabei sind öffentliche Gel-
der verwendet worden. Für diese Gelder haben wir Ver-
antwortung. Wir haben Verantwortung für die Steuergel-
der, die dort hineingeflossen sind, aber wir haben auch
eine Verantwortung vor den Künstlern, die diese Objekte
erstellt haben.

Jetzt muss ich Ihnen leider sagen: Wenn ich an mei-
nen Wahlkreis denke, fällt es mir sehr schwer, ein Bei-
spiel für Kunst am Bau zu nennen. Mir fällt nur ein Ob-
jekt ein: ein Bergmann, vier bis fünf Meter hoch, in
Fliesen an einer Wand in einem alten Rathaus. Er ist do-
kumentiert worden. Er fristet ein trauriges Dasein; aber
er hängt dort noch. Selbst an diesem kleinen Beispiel
kann ich erkennen, dass der Umgang mit Kunst am Bau
sehr schwierig ist.

Wir sollten an dieser Stelle vorsichtig sein und uns
nicht auf eine reine DDR-West-Diskussion einlassen,


(Beifall bei der LINKEN)


sondern wir sollten es als Ganzes betrachten. Denn wir
haben auch in den anderen Bundesländern ein Erbe, das
Unterstützung benötigt; dort sehen wir durchaus Bedarf.

Wir haben ein historisches Erbe, das Respekt und
Wertschätzung verdient. Es dokumentiert unsere Wur-
zeln. Wir müssen vorsichtig sein, wenn es um die Frage
geht, welchen Maßstab wir anlegen. Ich bin der Kollegin
Grütters sehr dankbar dafür, dass sie sehr stark die fach-
liche Ebene, den Denkmalschutz, dargelegt hat, aber
auch auf die Bewertung von Kunstwerken eingegangen
ist.
Ich glaube, dass wir heute nicht unbedingt über den
ersten Antrag der Linken reden müssen; er hat sich erüb-
rigt. Wir müssen aber über den zweiten Antrag der Lin-
ken reden, in dem eine grundsätzliche Dokumentation
verlangt wird.

Lassen Sie mich zuvor einen Schlenker machen und
über dieses Gebäude sprechen. Gerade hier im Reichstag
gibt es einige Bau- und Kunstobjekte, die ich sehr beein-
druckend finde und die ich nur ungern missen würde.
Jetzt sind sie aktuell. Aber wir wissen nicht, wie in
20 oder 30 Jahren über sie gedacht wird. Mit dieser
Frage müssen wir uns beschäftigen und Regulative fin-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eigentümerwechsel, die Unkenntnis der Bauherrin,
aber auch die Ignoranz von Politik und Verwaltung füh-
ren in vielen Kommunalverwaltungen, Landesbauver-
waltungen und Bundesbauten zum Verlust von Kunst-
objekten. Wir müssen unserer Verantwortung für diese
Objekte gerecht werden. Insofern muss überprüft wer-
den, ob die Dokumentation, die bisher stattfindet, ausrei-
chend ist. Ich verstehe den Antrag der Linken so, dass es
Ihnen darum geht, dass wir über diese Frage noch einmal
nachdenken sollten.

Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein,
dass wir nicht nach Himmelsrichtung entscheiden dür-
fen, sondern uns grundsätzlich über das Thema „Kunst
am Bau“ unterhalten müssen. Es kann nicht sein, dass
Hausmeister über ein Kunstobjekt entscheiden – hop
oder top –, sondern es muss katalogisiert und bewertet
werden. Die Entscheidung, ob man es archiviert und für
unsere Nachkommen bewahrt oder nicht, kann man, wie
ich denke, ruhig Fachleuten und Künstlern überlassen.
Darüber müssen nicht wir Politiker entscheiden.

Das Erbe, das wir haben, ist ein relativ großes, und es
ist von ganz unterschiedlicher Qualität. Aber diese Frage
steht im Moment, wie ich glaube, nicht im Mittelpunkt.
Im Moment geht es vor allem darum, ein Bewusstsein
dafür zu schaffen, dass wir dieses Erbe bewerten und uns
genau überlegen: Was davon wollen wir erhalten und für
unsere Nachkommen sichern? Dies ist ein Gedanke, den
wir aufgreifen sollten. Wie wir wissen, ist das Bauminis-
terium an diesem Thema durchaus interessiert. In den
verschiedenen Werkstattgesprächen hat es in den letzten
Jahren einiges bewegt. Auf diesem Weg sollte man wei-
tergehen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706527000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/2020 und 17/3186 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen

– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Todesstrafe weltweit abschaffen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Abschaffung der Todesstrafe weltweit

– Drucksachen 17/2331, 17/2114, 17/2131,
17/3181 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Angelika Graf (Rosenheim)

Marina Schuster
Annette Groth
Ingrid Hönlinger

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD

Folter bekämpfen und Folteropfer unterstüt-
zen

– Drucksachen 17/2115, 17/3180 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Ingrid Hönlinger

Zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
ren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1706527100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Todesstrafe gehört weltweit geächtet und
abgeschafft. Denn sie negiert auf berechnende und zu-
gleich kaltblütige Art und Weise das elementarste Men-
schenrecht: das Recht auf Leben. Menschliches Leid
kann durch sie weder gutgemacht noch ungeschehen ge-
macht noch zukünftig verhindert werden. Im Gegenteil,
die Todesstrafe verursacht neues Leid und offenbart ein
Gesellschaftsverständnis, das wir ablehnen. Sie ist mit
unseren Werten nicht vereinbar.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Iran werden
Menschen zu Tode gesteinigt. Allein in den ersten zwei
Monaten nach der Präsidentenwahl 2009 sind dort nach
Schätzungen von Amnesty International 112 Menschen
hingerichtet worden. Unter Ahmadinedschad sollen im
Iran im letzten Jahr insgesamt 388 Menschen hingerich-
tet worden sein, auch durch grausame Steinigung.

Ähnlich geschockt hat uns die Hinrichtung durch ein
Erschießungskommando in den USA. Unabhängig von
der Tat, unabhängig davon, ob schuldig oder gar un-
schuldig, und losgelöst von der martialischen Art und
Weise der Vollstreckung ist für uns klar: Die Todesstrafe
gehört geächtet und abgeschafft.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch die erbarmungslose Hinrichtung eines briti-
schen Staatsbürgers in China hat uns zutiefst bestürzt.
Ich könnte hier und heute noch viele weitere Beispiele
nennen. Nach den Schätzungen von NGOs werden meh-
rere Tausend Personen jedes Jahr hingerichtet, wobei wir
oftmals nicht davon erfahren. Auch gibt es oft keine
Pressemeldung dazu.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, worauf
ich hinauswill. Anders als die Anträge der Opposition
wollen wir den Schwerpunkt auf den Kern des Problems
legen. Je mehr man versucht, eine Debatte durch Gesich-
ter oder durch die Nennung von einigen Namen plakativ
zu machen, desto mehr gerät man in gefährliches Fahr-
wasser.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir dürfen uns nicht den Anschein geben, als würden
wir priorisieren. Wir dürfen nicht eine Debatte führen,
als könnte uns ein Mensch wichtiger sein als ein anderer,
der von Todesstrafe bedroht ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie sich schon einmal die Tagesordnung der nächsten Sitzungswoche angeguckt?)


Das ist gefährlich. Deswegen habe ich einen Wunsch in
Richtung Opposition: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Dann haben wir ein klares Signal aus diesem Haus.





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christoph Strässer [SPD]: Das Thema ist zu ernst, Frau Schuster!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesaußenminis-
ter Westerwelle hat erst am Montag bei seiner Rede vor
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
zur Menschenrechtspolitik gesprochen, unter anderem
die Todesstrafe verurteilt und die Ablehnung deutlich
gemacht.

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung,
Markus Löning, setzt sich ganz besonders für die Ab-
schaffung der Todesstrafe ein.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er würde unserem Antrag sicher zustimmen, wenn er dürfte!)


Er hat jüngst in seinem Bericht im Ausschuss für Men-
schenrechte und humanitäre Hilfe vom Menschenrechts-
dialog mit China berichtet. Ein erstes kleines und positi-
ves Zeichen aus China ist die Reduzierung der Zahl von
Straftatbeständen, die mit dem Tode geahndet werden
können. Das gilt insbesondere für Wirtschaftsverbre-
chen.

Das ist natürlich nur ein kleiner Schritt. Da ist noch
viel zu tun.


(Christoph Strässer [SPD]: Das ist eine Priorisierung!)


Der Kampf für die weltweite Ächtung und Abschaffung
der Todesstrafe ist und bleibt ein Kraftakt. Ein Punkt ist
mir dabei wichtig: Ob ein Staat die Todesstrafe abschafft
oder nicht, hängt nicht davon ab, ob er reich oder arm ist,
sondern hängt allein vom politischen Willen der Verant-
wortlichen ab.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist richtig!)


Daher müssen wir die politisch Verantwortlichen in un-
seren Gesprächen immer wieder zur Abkehr bewegen
und sie von der Todesstrafe abbringen.

Ich sage ganz ehrlich: Ich finde es schade, dass wir
keinen interfraktionellen Antrag haben. Umso bedauerli-
cher ist, dass die Opposition für einen gemeinsamen An-
trag die Nennung eines ganz bestimmten Namens zur
Bedingung gemacht hat.


(Christoph Strässer [SPD]: Das ist doch Unsinn!)


Die Herausstellung Einzelner wird der Tragweite des
Unrechts nicht gerecht. Wir möchten, dass die vielen
Namenlosen, die weder eine prominente Stimme noch
eine große Pressewirksamkeit haben, gehört werden und
zur Geltung kommen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb reden wir über niemanden, damit alle gleichermaßen nicht gehört werden?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die FDP ist klar:
Das Todesstrafen- und Folterverbot muss umfassend und
absolut gelten. Der Koalitionsantrag verfolgt ein wichti-
ges Ziel. Die Bundesregierung unternimmt im weltwei-
ten Kampf gegen Folter und für Folterprävention bereits
große Anstrengungen. So setzt sich die Bundesregierung
unter anderem durch Demarchen für die Ratifizierung
des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention ein.
Entsprechende Erfolge werden sichtbar: Die Zahl der
Ratifizierungen steigt. Das ist eine gute Nachricht, aber
wir dürfen nicht lockerlassen.


(Christoph Strässer [SPD]: Was ist mit Deutschland?)


Zusammen mit unserem Antrag „Menschenrechte
weltweit schützen“, den wir im Dezember 2009 in die-
sem Hohen Hause beraten haben, bildet unser Antrag
das Fundament für unsere Arbeit gegen Todesstrafe und
Folter weltweit. Wir sind auf dem Weg. Wir halten Kurs.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706527200

Christoph Strässer ist der nächste Redner für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1706527300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

hatte mir heute eigentlich vorgenommen, mich bei die-
sem ernsten und wichtigen Thema nicht aufzuregen,


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja!)


insbesondere nicht bei Ihren Ausführungen, Frau Kolle-
gin Schuster. Diese waren aber wirklich an der Grenze
dessen, was noch mit der Wahrheit zu tun hat; das will
ich ganz deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch der Abg. Marina Schuster [FDP])


Erlauben Sie mir zwei Bemerkungen zum Thema
Wahrheit. Der erste Versuch, einen gemeinsamen, inter-
fraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen, kam in ers-
ter Linie aus der Fraktion der Grünen und ist dann ge-
meinsam mit uns in der Position eingebracht worden,
einen Kompromiss zu finden, den wir alle gemeinsam
tragen können. Wenn Sie jetzt sagen, wir sollten einfach
Ihren Antrag abschreiben, ist das pure Geschichtsklitte-
rung.


(Widerspruch bei der FDP)


Tatsache ist: Drei Viertel Ihres Antrags wurden bei Rot-
Grün abgeschrieben. Ich denke, das muss man denjeni-
gen, die hier zuhören, auch einmal zur Kenntnis bringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb ist Ihr Antrag nicht insgesamt falsch; das will
ich hier gar nicht behaupten. Ihre Begründung, die Sie
hier heute vorgetragen haben, will ich Ihnen aber gerade
in Vorbereitung des Internationalen Tages gegen die To-
desstrafe doch einmal vorführen, weil ich glaube, Sie
machen hier einen riesengroßen Fehler. Wir machen
diese Veranstaltung nämlich nicht für uns und nicht für
die Galerie, sondern wir setzen uns gerade am





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

10. Oktober für die Menschen ein, die weltweit in Knäs-
ten sitzen – zum Teil seit vielen Jahren – und mit der To-
desstrafe bedroht sind. Denen wollen wir helfen.

Jetzt muss ich Ihnen wirklich sagen: Ich kann Sie
nicht begreifen; Sie haben sich ja nicht auf diese eine
Person kapriziert.


(Marina Schuster [FDP]: Sie haben sich darauf kapriziert!)


Wir haben im Wege des Kompromisses einen Vorschlag
gemacht – hören Sie mir bitte zu –, den ich nach wie vor
für richtig halte und der dem Thema auch angemessen
ist. Wir haben gesagt: Wir wollen diese eine Person
exemplarisch, aber doch nicht wertend benennen. Wenn
jemand in China, im Iran, im Irak, im Jemen oder in den
USA hingerichtet wird, dann ist das nicht weniger
schlimm, als wenn jemand in anderen Regionen dieser
Welt hingerichtet wird. Ich finde aber, man muss in einer
solchen Debatte auch einmal Klartext reden und sagen,
dass im Iran – Sie haben es gesagt – 388 Menschen hin-
gerichtet wurden: schwangere Frauen, Behinderte, Min-
derjährige. Sollen wir dazu schweigen?


(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Im Gegenteil! – Marina Schuster [FDP]: Nein!)


Sollen wir so tun, als sei das ein Problem, mit dem wir
gar nichts zu tun haben?

Sie haben auch den Irak nicht angesprochen. Wir ho-
len Menschen aus dem Irak zurück, weil sie dort bedroht
sind. Dort sind 120 Menschen hingerichtet worden. Dür-
fen wir im Deutschen Bundestag in einer Resolution
zum Internationalen Tag gegen die Todesstrafe nicht
mehr den Namen „Irak“ erwähnen? Ich bitte Sie allen
Ernstes! Ich finde, das kann nicht sein.

Sie haben jetzt China angesprochen. Ich weiß über-
haupt nicht, warum Sie unserem Antrag nicht zuge-
stimmt haben, obwohl Sie die einzelnen Länder, um die
es geht, jetzt hier in dieser Debatte als Beispiel anführen.
Ich sehe keine Begründung dafür, warum Sie dies hier
nicht tun. Ich sage ganz deutlich: Es ist insgesamt – ich
schließe das ganze Haus hier ein, aber insbesondere Sie,
weil Sie nicht kompromissbereit gewesen sind; das ist
der Punkt – ein wirklich schlechtes Zeugnis für den
Deutschen Bundestag, dass er zum ersten Mal, seit es
diesen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe gibt,
nicht zu einer gemeinsamen Resolution gefunden hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will das noch einmal sagen: Sie haben all diese
Einzelfälle angesprochen. Entschuldigung! Um was geht
es denn eigentlich? Glauben Sie denn allen Ernstes, dass
Menschen, deren Namen wir nicht kennen und die ir-
gendwo in irgendeinem Knast auf dieser Welt auf ihre
Hinrichtung warten – zum Teil seit mehr als 20 Jahren –,
uns hier nicht zuhören, wenn Sie uns sagen, hier werde
priorisiert, wenn einzelne Beispiele genannt werden?

Ich bin völlig anderer Meinung als Sie. Es geht da-
rum, in der Öffentlichkeit Interesse zu wecken und Mei-
nungen herzustellen. Dabei geht es nicht darum, ab-
strakte Themen zu diskutieren und auf hohem Niveau
die Einhaltung internationaler Vereinbarungen einzufor-
dern. Es geht dabei vielmehr um Menschen, um Gesich-
ter und um Geschichten. Um diese Geschichten müssen
wir uns heute kümmern. Deshalb sind die Beispiele, die
wir angeführt haben, überhaupt nicht dafür geeignet,
dass irgendein anderes Schicksal vernachlässigt wird.
Wir müssen diese Beispiele nennen, damit sich die Öf-
fentlichkeit von diesen Menschen ein Bild machen kann,
damit wir in der Öffentlichkeit Wirkung erzielen. Darum
und um nichts anderes geht es.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Frank Heinrich [CDU/CSU]: Sie werten und gewichten aber doch ganz bewusst!)


Ich will jetzt noch ein anderes Thema ansprechen, da
wir auch einen Antrag zum Folterverbot debattiert ha-
ben. Der Kollege Heinrich hat sich schon beim letzten
Mal interessanterweise dazu geäußert – so wie Sie jetzt
auch wieder, Frau Schuster. Sie haben einen entspre-
chenden Antrag vorgelegt. Es wird zwar viel geredet,
aber dann heißt es: Damit brauchen wir uns gar nicht
mehr zu beschäftigen.


(Marina Schuster [FDP]: Nein, stimmt doch gar nicht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Arbeit
im Ausschuss auch komplett einstellen. Wenn Sie sagen,
Sie haben einen Koalitionsantrag gemacht, in dem alle
Punkte irgendwie erwähnt sind, dann brauchen wir hier
gar nicht mehr zu sitzen.

Ich darf aber einmal darauf hinweisen, dass wir mit
unserem Antrag auf konkrete Ereignisse, und zwar nicht
irgendwo anders, sondern hier in Deutschland, Bezug
genommen haben. Dabei geht es zum Beispiel um die
Frage, wie wir eigentlich das von Ihnen angesprochene
und sehr wichtige Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-
Konvention umsetzen.

Ich darf Sie einmal ganz aktuell darauf verweisen
– das konnten Sie in Ihrem damaligen Antrag leider noch
nicht berücksichtigen –: Es gibt seit wenigen Wochen den
ersten Bericht der Bundesstelle zur Verhütung von Folter.
Der Leiter dieser Stelle, der uns nicht sehr nahe steht, der
Kollege Lange-Lehngut, hat ganz deutliche Dinge dazu
gesagt. Er hat gesagt: Wir als Bundesstelle müssen
300 Gewahrsamseinrichtungen begutachten. – Er ist eh-
renamtlicher Chef, und die Bundesstelle verfügt über
eine gewisse Ausstattung. Er hat für diese Aufgabe zwei
Stellen in Wiesbaden und 200 000 Euro zur Verfügung.

Herzlichen Glückwunsch! Wenn wir mit erhobenem
Zeigefinger auf die Menschenrechtsverletzungen in der
ganzen Welt zeigen, aber eine Präventionsstelle zur Ver-
hinderung von Folter, die beispielhaft für solche Stellen
in anderen Ländern sein soll, so ausstatten, dann ist das
für Deutschland und diese Bundesregierung schlicht und
ergreifend peinlich. Das ist der eine Punkt, um den es
geht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)






Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb werden wir das möglicherweise in den Haus-
haltsberatungen aufgreifen. Es geht schließlich nicht um
weltbewegende Größenordnungen. Wir wollten das
Thema wieder auf die Tagesordnung bringen. Wir haben
erst einmal eine Erhöhung der Mittel um 30 000 Euro
gefordert, um deutlich zu machen, dass wir uns mit die-
sem Thema befassen. Aber selbst dabei sind Sie nicht
bereit, sich zu bewegen. Wenn wir aber selbst unsere
Hausaufgaben in diesem wichtigen Punkt nicht machen,
dann ist es nicht in Ordnung, auf die Welt um uns herum
zu blicken und dafür zu sorgen, dass andere Länder et-
was unterschreiben, was wir zwar auch unterschrieben
haben, aber ungenügend umsetzen. Das ist die Wahrheit.
Darum geht es an dieser Stelle.

Der letzte Punkt, der auch eine aktuelle Dimension
hat, ist die Frage, wie wir mit den sogenannten diploma-
tischen Zusicherungen umgehen. Auch das ist in den Be-
richten der Bundesregierung kritisch angesprochen wor-
den. Diplomatische Zusicherungen sind Vereinbarungen
auf Regierungsebene über Menschen, die in Deutschland
unter Terrorismusverdacht festgenommen und inhaftiert
worden sind und die aufgrund von Zusicherungen aus-
ländischer Regierungen in bestimmte Länder überstellt
werden, in denen sie sonst nicht nach völkerrechtlichen
Standards behandelt würden.

Ich sage: Es kann Überstellungen geben, aber sie dür-
fen nicht auf der Basis von relativ unverbindlichen di-
plomatischen Zusicherungen erfolgen. In dem „hochde-
mokratischen“ Land Syrien zum Beispiel werden, wie
wir mittlerweile wissen, Terrorverdächtige bei einer
Rückführung unmittelbar nach ihrer Ankunft wieder ver-
haftet und in bestimmten Einrichtungen gefoltert. Des-
halb kann diese Bundesregierung, die sich auf einem gu-
ten Weg sieht, aus meiner Sicht nur sagen: Wir machen
nur dann beim Antiterrorkampf mit, wenn völkerrechtli-
che Standards eingehalten werden. Sofern es noch die
Praxis der Überstellung aufgrund diplomatischer Zusi-
cherungen gibt, muss sie beendet werden. Aus meiner
Sicht können Menschen nicht in Staaten zurückgeführt
werden, in denen es noch Folter gibt.

Das ist eine konkrete Forderung. Ich lade Sie gerne
ein, mit uns darüber zu diskutieren. Ansonsten hoffe ich,
dass wir uns trotz aller möglichen Missverständnisse im
Vorfeld und Streitigkeiten, die wir jetzt haben, bei dem
Thema einig sind. Ich bin sicher, dass die Todesstrafe
insgesamt abgeschafft wird. Das Folterverbot muss welt-
weit, also auch in Deutschland, gelten. Dafür müssen wir
mit den Instrumentarien, die wir zur Verfügung haben,
sorgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706527400

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Frieser für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1706527500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich unterstelle dem Kollegen Strässer immer das
Beste. Das gilt gerade für diese Debatte, in der es um die
Todesstrafe geht. Allerdings halte ich die Aufregung für
etwas gespielt, insbesondere im Hinblick auf den histori-
schen Kontext, in dem wir uns bewegen.

Am Anfang stand der Antrag „Menschenrechte welt-
weit schützen“ der Koalitionsfraktionen, in dem bereits
auf die Ächtung der Todesstrafe in den betreffenden
Ländern eingegangen worden ist. Ich will das kurz auf-
rollen, damit nichts unverstanden bleibt. Daraufhin hat
die Fraktion Die Linke einen zu einem großen Teil wort-
gleichen Antrag vorgelegt. Die Grünen haben sich ent-
schlossen, diesen Antrag abzulehnen und einen eigenen
Antrag einzubringen. Dann gab es ein Problem. Wir sind
nämlich der Auffassung, dass wir einen gemeinsamen
Grundlagenantrag zur Ächtung der Todesstrafe erarbei-
ten sollten. Das hat nichts mit fehlender Kompromissbe-
reitschaft oder Ähnlichem zu tun. Das Thema ist und
bleibt grundsätzlich immer aktuell; denn für uns sind
Menschenrechte unteilbar und universell, und die Todes-
strafe ist die ultimative Form der Menschenrechtsverlet-
zung. Deshalb muss man immer wieder grundsätzlich
feststellen, dass sich kein Mensch als Richter über Leben
und Tod aufspielen kann, weil er damit auch immer ein
Stück weit über sich selbst urteilt. Deshalb müssen Sie,
Herr Strässer, damit leben, dass Sie immer, wenn Sie ei-
nen Einzelfall herausgreifen, werten und gewichten
müssen.


(Christoph Strässer [SPD]: Das stimmt nicht!)


Ich unterstelle Ihnen beste Absichten. Sie tun das
selbstverständlich nicht, um unbedingt eine andere Kon-
notation mitschwingen zu lassen und eine andere Aus-
einandersetzung zu führen. Ein gemeinsamer Antrag ist
aber definitiv gescheitert, weil wir nicht bereit sind, an-
hand von Einzelfällen eine Form von Landeskritik, die
ideologisch getragen ist, zu üben. Wir sind der Auffas-
sung, dass wir als Mitglieder des Bundestages, wenn wir
ein Land besuchen, selbst Kritik üben können oder dass
die Exekutive auf der Grundlage eines Antrages dieses
Bundestages das tun soll. Aber wir lassen uns nicht in-
strumentalisieren. Wenn es um Einzelfälle geht, machen
wir nicht Politik in dem betreffenden Land, und das auch
noch ideologisch verbrämt. Dann können Sie mit unserer
Zustimmung nicht rechnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die generelle Ablehnung der Todesstrafe eint uns si-
cherlich. Ich glaube auch, dass wir an dieser Stelle Gott
sei Dank nicht sehr weit auseinanderliegen. Ich kann Ih-
nen aber nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass sich
unsere grundsätzlichen Denkansätze unterscheiden. Das
mag nicht immer hinlänglich klar sein. Aber die Verant-
wortungsethik im Max Weber’schen Sinn besagt, dass
der nächste Schritt der wesentliche ist und dass es um
das Bohren dicker Bretter geht. Wir können durchaus da-
rauf verweisen, dass es weltweit Erfolge gibt. Es gibt im-
mer mehr Staaten, die entweder auf die Todesstrafe ver-
zichten oder zumindest ihre Anwendung aussetzen und
sie nicht mehr praktizieren. Dieser Weg ist lang und stei-





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

nig. Aber ich glaube, dass wir kleine Schritte machen
müssen und bilaterale Gespräche der bessere Weg sind.
Eine ideologische Auseinandersetzung sollte in diesem
Kontext nicht geführt werden.


(Christoph Strässer [SPD]: Wo ist denn hier die Ideologie?)


Ich kann nicht sagen, dass das Ganze durch den Än-
derungsantrag, den die Grünen heute kurzfristig einge-
bracht haben, besser wird. Dort wird auf noch mehr Dra-
maturgie gesetzt. Natürlich verträgt der Einsatz gegen
die Todesstrafe durchaus etwas Dramaturgie und Pathos.
Trotzdem bin ich der Auffassung: Wenn wir Staaten auf-
fordern, sich diesem Thema im kulturhistorischen Kon-
text zu nähern, dann sollten wir das, vor allem wenn es
um Einzelfälle geht, auf bilateraler Ebene tun. Herr
Strässer, wenn Sie ein Land besuchen, können Sie den
entsprechenden Einzelfall anprangern. Aber Sie müssen
auch damit leben, dass es im Einzelfall nicht einfacher
wird, wenn man auf ihn hinweist. Die Situation kann
auch schlimmer werden.

Im Grunde dürfte es Ihnen nicht schwerfallen, das
grundsätzliche Anliegen des Koalitionsantrages zu un-
terstützen; denn das tut Ihrem Anliegen keinen Abbruch.
Ich hoffe, dass wir weiterhin darin geeint sind, dass das
Thema, über Tod und Leben zu entscheiden, gleichzeitig
auch eine Frage der Existenz ist. Aber im Einzelfall kann
dies nur ein Thema sein, wenn ich dem Betreffenden von
Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe und etwas für
ihn erreichen kann. Wir sind der Auffassung, dass wir
das mit unserem Grundlagenantrag besser können als
mit Ihrem. Deshalb werden Sie mit unserer Ablehnung
Ihres Antrags leben müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706527600

Niema Movassat ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706527700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! „Die Todesstrafe ist das bezeichnende und ewige
Merkmal der Barbarei“, schrieb Victor Hugo. Dieser Ge-
danke wohnt auch dem Grundgesetz inne; denn die To-
desstrafe verstößt gegen Art. 1, die Unantastbarkeit der
Würde des Menschen. Darin sind sich alle Fraktionen in
diesem Haus einig.

Einig sind sich zumindest SPD, Grüne und Linke in
ihren Anträgen auch bei Mumia Abu-Jamal. Der politi-
sche Gefangene und Journalist Mumia kämpft in den
USA seit 29 Jahren um ein neues Verfahren. Im Novem-
ber gibt es eine mündliche Anhörung über die Frage der
Todesstrafe gegen ihn. Was wir schon im Dezember
2009 hier gefordert haben, bleibt damit aktuell. Die ge-
gen ihn ausgesprochene Todesstrafe muss in eine Haft-
strafe umgewandelt und der Fall frei von Rassismus er-
neut untersucht werden.


(Beifall bei der LINKEN)

Nach China sind der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die
USA und der Jemen die Länder mit den meisten Exeku-
tionen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen – das wurde
schon gesagt – erwähnt dies mit keinem Wort. Mit vier
dieser fünf traurigen „Tabellenführer“ unterhält Deutsch-
land umfangreiche Programme zur Polizei- und Militär-
kooperation, liefert Technologie und Ausrüstung oder
tauscht personenbezogene Daten zur sogenannten Ter-
rorbekämpfung aus. Das ist nicht der Weg, mit dem man
seinen Protest gegen eine so krasse Menschenrechtsver-
letzung wie die der Todesstrafe glaubwürdig vertritt.


(Beifall bei der LINKEN)


Leider geht auch niemand von Ihnen in den Anträgen
auf extralegale bzw. gezielte Tötungen ein. Das ist eine
andere Form der Todesstrafe. Diese Abwandlung der
klassischen Todesstrafe hat in den letzten Jahren im Rah-
men von Kriegen und Konflikten erschreckende Aus-
maße angenommen.

Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten verbietet aber nicht nur die Todesstrafe,
sondern erlaubt auch keine Abweichungen in Notstands-
fällen wie beispielsweise im Krieg. Im Zuge des soge-
nannten Krieges gegen den Terrorismus ist aber offen-
sichtlich jedes Mittel recht.

Am Montag berichteten zahlreiche Medien von der
Hinrichtung mutmaßlicher deutscher Terroristen in Pakis-
tan durch US-Drohnen. Seit 2008 sind schon 1 150 Men-
schen so hingerichtet worden: kein Prozess, keine Be-
weisführung, kein rechtsstaatliches Urteil, vielmehr
Todesstrafe auf Verdacht und Knopfdruck. Das ist men-
schenverachtende Willkür und wird von der Fraktion
Die Linke in aller Deutlichkeit verurteilt.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung betont gerne, dass die Bundes-
wehr in Afghanistan nicht direkt an extralegalen Tötun-
gen beteiligt ist, sondern lediglich Personen benennt, die
gefangen genommen werden sollen. Aber zum einen
weiß auch die Bundesregierung, dass diese Personen
schon einmal getötet statt gefangen genommen werden,
zum anderen hat das Bundesverteidigungsministerium
im August 2010 mitgeteilt, dass entsprechend dem
ISAF-Regelwerk eine Liste mit Zielpersonen geführt
wird, bei denen die Möglichkeit besteht – ich zitiere –
„die Anwendung gezielt tödlich wirkender militärischer
Gewalt zu empfehlen“. Also leistet die Bundeswehr
doch indirekte Unterstützung für gezielte Tötungen
durch andere ISAF-Truppen. Das ist ein unhaltbarer Zu-
stand.


(Beifall bei der LINKEN)


Extralegale und gezielte Tötungen sind im sogenann-
ten Krieg gegen den Terror zu einem Standardmittel der
sogenannten westlichen Wertegemeinschaft geworden.
Dabei sind Exekutionen ohne jedes Gerichtsurteil erst
recht ein Rückschritt in die Barbarei. Wer gibt einer klei-
nen Gruppe von Politikern, Geheimdienstlern und Mili-
tärs das Recht, über Leben und Tod von Menschen zu
entscheiden? Diese Vorgehensweise widerspricht ein-
deutig rechtsstaatlichen Grundsätzen. Dies sieht übri-





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

gens auch Wolfgang Bosbach so, Mitglied der CDU/
CSU-Fraktion und Vorsitzender des Innenausschusses.
Ich zitiere aus seinem Interview mit dem Deutschlandra-
dio aus dem Jahr 2007:

Die gezielte Tötung halte ich für mehr als proble-
matisch, denn dafür sehe ich keine Rechtsgrundlage
… Und selbst wenn man sagen würde, hier geht es
nicht um Strafe, sondern um Gefahrenabwehr, …
kann ich mir … keine Rechtsnorm vorstellen, wo
wir das vorsätzliche Töten zum Zwecke der Gefah-
renabwehr in das Gesetzbuch nehmen …

Es gilt: Auch in einem sogenannten Krieg gegen den
Terrorismus dürfen zivilisatorische Werte und men-
schenrechtliche Errungenschaften nicht über Bord ge-
worfen werden. Wer dies tut, begibt sich auf das Niveau
derjenigen, die er vorgibt bekämpfen zu wollen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706527800

Das Wort erhält der Kollege Volker Beck, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706527900

Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag

ist sich einig in der Frage, dass wir die Todesstrafe welt-
weit abschaffen und zurückdrängen wollen. Bei der Ab-
schaffung der Todesstrafe geht es einerseits darum,
rechtliche Prinzipien durchzusetzen und für sie interna-
tional zu werben, andererseits geht es um konkrete
Schicksale und konkrete Menschen, die unmittelbar von
der Todesstrafe bedroht sind. Sich für diese einzusetzen,
ist auch für Konservative, Christdemokraten in anderen
Parlamenten – wie dem Europäischen Parlament – eine
Selbstverständlichkeit. Dort gibt es dauernd Resolutio-
nen zu Einzelfällen. Auch diese Christdemokraten reden
über Einzelfälle.

Ich darf Sie auf die Tagesordnung der nächsten Sit-
zung hinweisen. Da liegt ein Antrag der Koalition, ein
Antrag der Grünen und ein Antrag der Linken zu Frei-
heit und zur Freilassung von Gilad Schalit vor, einem is-
raelischen Gefangenen, der vor vier Jahren von der
Hamas verschleppt wurde und seitdem gefangen gehal-
ten wird. Natürlich reden wir da über einen Einzelfall
und nicht über ein abstraktes Prinzip, weil es bei dem
Schutz der Menschenrechte immer um ganz konkrete
Menschen geht, für die wir uns einsetzen müssen und für
die sich auch die Bundesregierung einsetzt. Ich muss sa-
gen: Sie als Koalition blamieren sich, weil unsere Bun-
desregierung weitaus besser ist, als es Ihre Anträge ver-
muten lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Selbstverständlich hat sich die Europäische Union zum
Beispiel im Fall von Teresa Lewis in den letzten Wochen
massiv gegen deren Tötung eingesetzt. Selbstverständ-
lich kämpft man weltweit darum, Frau Aschtiani vor der
Steinigung zu retten.


(Christoph Strässer [SPD]: Alles Ideologie!)

Selbstverständlich geht es um Einzelfälle. Es ist kein
Schaden, wenn Personen im Rahmen einer solchen
Kampagne prominent werden, weil sie das unter Um-
ständen vor der Vollstreckung der Todesstrafe schützt.
Deshalb ist unsere Strategie richtig.

Aber Sie gehen noch weiter. 14 Tage nachdem wir un-
seren Antrag eingebracht hatten, haben Sie ihn übernom-
men und einfach Punkte herausgestrichen. Da möchte
ich Sie schon fragen, was der Sinn Ihrer Streichungen
ist. Sie fordern in Ihrem Antrag zu Recht zwei Mitglied-
staaten der Europäischen Union und Russland auf, die
die Abschaffung der Todessstrafe betreffenden Zusatz-
protokolle zur Europäischen Menschenrechtskonven-
tion zu unterschreiben.

Aber warum haben Sie unsere Forderung an China
aus dem Antrag gestrichen,


(Christoph Strässer [SPD]: Hört! Hört!)


seine Zusage – es hat sie im Rahmen der Olympiade ge-
macht und immer wiederholt –, endlich den UN-Zivil-
pakt, durch den die Todesstrafe wesentlich zurückge-
drängt, wenn auch nicht ganz abgeschafft würde, zu
unterschreiben? Weil Ihnen das Urheberrecht und das
Markenrecht in China und gute Beziehungen wichtiger
sind, als hier Klartext zu reden?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Warum haben Sie aus Ihrem Antrag die Aufforderung an
den Iran herausgenommen, der den UN-Zivilpakt zwar
unterschrieben hat, sich aber einen feuchten Kehricht um
seine Einhaltung kümmert? Wir wissen doch, dass
Frauen und Homosexuelle im Iran für einfache Sexual-
und Moraldelikte reihenweise erhängt oder gesteinigt
werden. Warum sprechen Sie den Iran hier nicht direkt
an, obwohl das ein ganz konkretes Thema ist? Liegt es
vielleicht ebenfalls an den guten wirtschaftlichen Bezie-
hungen, die Deutschland zum Iran hat, dass man hier
nicht Ross und Reiter nennt? Warum, obwohl wir gerade
den Fall Lewis diskutiert haben, erinnern wir unseren
Bündnispartner Vereinigte Staaten von Amerika nicht
explizit daran, dass wir von ihm erwarten, dass er sich,
wenn er eine Führungsrolle in der Welt für sich bean-
sprucht, auch bei der Beachtung der Menschenrechte im
eigenen Land an die Maßstäbe hält, die er von anderen
Ländern immer selbstverständlich einfordert?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Warum schweigen Sie in Ihrem Antrag zu diesen Fäl-
len, obwohl Sie andere Länder durchaus benennen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Da fragt man sich: Welcher Gedanke steckt hinter die-
sem selektiven Abschreiben unseres Antrages? Ich muss
sagen: Heute ist kein guter Tag für die Menschenrechte.
Das zeigt sich darin, dass wir uns bei einer solchen Frage
über den Text nicht einigen konnten, obwohl wir das
versucht haben.


(Christoph Strässer [SPD]: Genau!)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte etwas zu der Partei sagen, die in ihrem
Namen ein großes C trägt, was ich respektiere. Sie reden
in letzter Zeit viel über das christliche Menschenbild und
machen sich darüber Gedanken. Um etwas zu den Ein-
zelfällen zu sagen, möchte ich gerne mit einem Wort aus
der Bibel schließen:

Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt,
das habt ihr mir getan.

Oder auch nicht. Matthäus 25, 40.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706528000

Frank Heinrich ist der letzte Redner in dieser Debatte

für die CDU/CSU-Fraktion.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1706528100

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich habe nicht erwartet, dass nicht
ich, sondern mein Vorredner einen Vers aus der Bibel
– ich habe sie zu Hause; ich war Pastor – vorliest. Ich
werde darauf gleich noch kurz eingehen. Ich glaube, da-
rin steckt die Botschaft, dass es einen Unterschied gibt
zwischen dem, was wir als ganzes Haus machen und re-
präsentieren, und dem, was einer einem Geringsten ge-
tan hat.


(Iris Gleicke [SPD]: Jetzt wird es aber widerlich!)


Ich will damit einfach vorwegnehmen: Ich glaube, dass
wir als Einzelne sehr wohl in der Lage sind, die Men-
schenrechte hochzuhalten, Einzelpersonen zu nennen.

Ich möchte auf den zweiten Schwerpunkt dieser De-
batte zu sprechen kommen. Er ist von Ihnen, Frau
Schuster, und von anderen am Rande erwähnt worden.
Es geht nicht nur um die Todesstrafe, sondern auch um
die im Antrag der SPD und in der Beschlussempfehlung
behandelte Folter.

Die weltweite Bekämpfung der Folter ist eine der
wichtigsten menschenrechtlichen Aufgaben.

Das ist der letzte Satz im ersten Absatz Ihres Antrags,
den wir heute abschließend beraten. Ja, vollkommen un-
terstütze ich ihn. Ich betone: ein ausdrückliches und
deutliches Ja. Folter erniedrigt, entwürdigt, entrechtet
die Opfer. In aller Entschiedenheit müssen wir Folter be-
kämpfen und Folteropfer unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD])


Deswegen hat die Koalition ganz zu Beginn der Le-
gislaturperiode den eben erwähnten Antrag „Menschen-
rechte weltweit schützen“ eingebracht und sehr deutlich
formuliert: Das Folterverbot gilt absolut für alle, und es
darf nicht gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden.
Trotzdem ist Folter in 81 Staaten – Sie schreiben von
111 Staaten, Amnesty spricht von 81 Staaten – traurige
Realität. Ich erinnere mich, dass auch Freunde von mir
damals hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang gefol-
tert wurden. Einmal war ich sehr wahrscheinlich der An-
lass, weil ich einen Fehler gemacht hatte, und mein
Freund wurde danach von der Securitate aufgesucht, ab-
geholt, verhört – und ich weiß nicht und möchte mir
auch nicht vorstellen, was noch folgte.

Gravierend ist die Lage – das haben wir bereits von
Frau Schuster und auch von anderen gehört – im Iran.
Hauptbeweismittel in den dortigen Verfahren sind oft
Geständnisse, die regelmäßig und systematisch durch
Folter erzwungen werden. Politische Häftlinge reden
von Misshandlungen, Schlafentzug, Vergewaltigungen,
Drohungen gegen die Familie. Unsere Fraktion wird da-
her einen gesonderten Antrag zur Lage im Iran vorlegen.


(Christoph Strässer [SPD]: Das ist aber jetzt eine Einzelheit! Da müssen Sie vorsichtig sein!)


Dass neben Industriestaaten wie Italien, Spanien und
den USA auch wir, die Bundesrepublik Deutschland, auf
der Amnesty-Liste erscheinen, ist erschütternd und lässt
sich letztlich nicht rechtfertigen. Mit der Einrichtung der
Bundesstelle für Verhütung, die Sie auch in Ihrem An-
trag erwähnen, verfügt die Bundesrepublik allerdings
über einen wirksamen Präventionsmechanismus.


(Christoph Strässer [SPD]: Nein, nicht wirksam!)


Noch ist keine Länderkommission zur Verhütung von
Folter eingerichtet. Sie wird aber, wie Sie in Ihrem An-
trag richtig sagen, in nächster Zeit konstituiert.

Dem ersten Jahresbericht – Herr Strässer, Sie haben
darauf hingewiesen –, der in diesem September erschie-
nen ist, ist zu entnehmen, dass die Überprüfung von Ein-
richtungen aufgrund der personellen Ausstattung nur
stichprobenartig erfolgen kann. Das kann man in metho-
discher Hinsicht infrage stellen. Man kann es aber auch
begrüßen;


(Christoph Strässer [SPD]: Was?)


denn flächendeckende Untersuchungen bringen unter
Umständen eher geschönte Ergebnisse hervor, als das
bei Stichproben der Fall ist.

Die Ergebnisse dieser Überprüfungen zeigen auf je-
den Fall – auch das steht im jetzt erschienenen Jahresbe-
richt –, dass die menschenrechtliche Lage in den Ge-
wahrsamseinrichtungen der Bundesrepublik erfreulich
positiv ist. Daher ist es, finden wir, nicht legitim, die
Ausstattung der deutschen Präventionsstelle zur Verhü-
tung von Folter mit denen anderer Länder zu verglei-
chen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun.

Weiterhin enthält der Antrag die Forderung, Flücht-
linge und Schutzbedürftige nicht in Staaten abzuschie-
ben, in denen gefoltert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Forderung ist inhaltlich richtig, allerdings, wie wir
finden, sachlich überflüssig. Für die Ausländer in unse-
rem Land gibt es das Asylrecht und das Ausländerrecht.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706528200

Herr Kollege, wollen Sie noch eine Zwischenfrage

des Kollegen Beck beantworten?


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1706528300

Ich bitte Sie, Herr Beck.


(Michael Frieser [CDU/CSU]: Jetzt wird sogar das Thema Folter benutzt und instrumentalisiert!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706528400

Ich finde es sehr gut, dass wir uns darüber verständi-

gen, dass wir keine Flüchtlinge in Länder abschieben,
wo gefoltert wird. Wir haben gegenwärtig den Fall, dass
ein deutscher Staatsbürger in Syrien verschwunden ist.
An diesem Fall können wir sehen, wie der syrische
„Rechtsstaat“ funktioniert. Trotzdem ist vor einiger Zeit
mit den Stimmen dieser Koalition das deutsch-syrische
Rücknahmeabkommen geschlossen worden. Wir erleben
regelmäßig, dass politische Oppositionelle oder Teile der
kurdischen Minderheit, die wir nach Syrien zurückschie-
ben, dort verschwinden. Stimmen Sie mir zu, dass man,
wenn man nach Ihren Worten verantwortlich handeln
will, nach Syrien keine Kurden, keine Oppositionellen
und keine Menschen, die dort womöglich strafrechtlich
verfolgt werden, zurückschieben darf?


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Es reicht eine kurze Antwort!)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1706528500

Ich gebe Ihnen recht; ich habe selber mit syrischen

Staatsbürgern gesprochen. Es gibt im Hinblick auf Aus-
länder, die wegen bestimmter Angelegenheiten in ihrem
Herkunftsland mit Problemen – unter anderem solchen,
wie Sie sie beschrieben haben – zu rechnen haben, in-
zwischen dieses Rücknahmeabkommen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Leute verschwinden am Flughafen ins Gefängnis!)


Wir haben aber die deutliche Aussage, dass in Asylver-
fahren, die die unmittelbare Rückführung zur Folge ha-
ben könnten – Sie sprachen Syrien an –, vorerst auf Ab-
lehnung verzichtet werden soll. Da ist also vonseiten
unseres Innenministeriums schon eingeschritten worden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir schieben aktuell dahin ab, und die Leute verschwinden!)


Die Innenbehörden unseres Landes wurden zudem
aufgefordert, jeden Einzelfall der Rückführung beson-
ders sorgfältig zu prüfen. Das heißt, man ist sich dessen
in einem gewissen Maße bewusst und verändert seine
Haltung dazu.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Im vorliegenden Antrag – ich komme darauf zurück –
wird die stille Diplomatie teilweise direkt oder indirekt
kritisiert. Ich kann mich daran erinnern, dass vor zwei
Wochen der Außenminister bei uns im Ausschuss war
und anschaulich, wie ich finde, klargemacht hat, dass ge-
rade das Mittel der stillen Diplomatie sehr effektiv sein
kann und Opfer schützt, weil sich Staaten so nicht brüs-
kiert fühlen müssen.

Noch einmal zum Iran. Dort wird beispielsweise den
Bahai oft vorgeworfen, Spionage zu betreiben. Von ähn-
lichen Anschuldigungen gegen christliche Organisatio-
nen hören wir auch. Wir in Chemnitz haben das im
Zusammenhang mit der verstorbenen Daniela Beyer
schmerzlich erfahren müssen. Dieser Vorwurf wurde
auch mit ihr in Verbindung gebracht. Wenn so etwas
überhöht und in der Öffentlichkeit laut geäußert wird,
unter anderem von unserer Ebene, dann kann das für Be-
troffene zu noch stärkeren Repressalien führen. Die stille
Diplomatie ist ein unverzichtbarer Teil sowie die andere
Seite der Medaille, auf deren erster Seite der Aufdruck
„Menschenrechte weltweit schützen“ steht.

Herr Strässer, Sie haben gesagt: exemplarisch und
nicht wertend. – Wir befürchten, dass das dann passiert.
Wir nehmen keine Wertung vor, aber die Länder, die wir
verurteilen, nehmen eine Wertung vor. Die sagen dann
mit Blick auf die Namen, die nicht genannt werden: Auf
die brauchen wir nicht ganz so genau zu achten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch des Abg. Christoph Strässer [SPD])


NGOs, einzelne Abgeordnete und viele Bürger sollten
sich dafür einsetzen, dass Sachverhalte und Personen ge-
nannt werden – das ist wirklich zu begrüßen –; aber im
Rahmen einer öffentlichen Stellungnahme dieses Hauses
wäre das fehl am Platze.


(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Wie lange redet der denn noch?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706528600

Herr Kollege.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1706528700

Deshalb begrüßen wir jeden Antrag, in dem wir uns

generell gegen Folter aussprechen. Damit handeln wir,
schaffen wir Handlungsmaximen, die Resolutionscha-
rakter besitzen und den Bezugsrahmen für einzelne Akti-
vitäten darstellen können.


(Iris Gleicke [SPD]: Jetzt sind es schon neun Minuten, und es wird nicht besser!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706528800

Herr Kollege.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1706528900

Das halten wir für selbstverständlich.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706529000

Ich schließe die Aussprache.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Bevor wir nun zu einer Reihe von Abstimmungen
kommen, bedanke ich mich bei all den Kolleginnen und
Kollegen, die die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse
für das Präsidium übersichtlicher gestaltet haben, als es
noch vor wenigen Minuten der Fall war.


(Heiterkeit)


Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 17/3181. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
der Drucksache 17/2331 mit dem Titel „Todesstrafe
weltweit ächten und abschaffen“. Hierzu liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor,
über den wir zuerst abstimmen.

Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 17/3235?


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist die qualitative Mehrheit!)


– Das ist jedenfalls nicht die Mehrheit. Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist
mit Mehrheit abgelehnt.

Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung ab.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit Mehrheit angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2114 mit
dem Titel „Todesstrafe weltweit abschaffen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die Be-
schlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2131
mit dem Titel „Abschaffung der Todesstrafe weltweit“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die
Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.

Unter dem Tagesordnungspunkt 17 b geht es um die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-
rechte und Humanitäre Hilfe zum Antrag der SPD-Frak-
tion mit dem Titel „Folter bekämpfen und Folteropfer
unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/3180, den Antrag
der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/2115 abzulehnen.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die
Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver
Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirt-
schaftsgesetzes
– Drucksache 17/3182 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Dazu
gibt es offenkundig keine Einwände. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß,
Dr. Georg Nüßlein, Rolf Hempelmann, Klaus Breil,
Dorothée Menzner und Oliver Krischer.1)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 17/3182 an die in der Tages-
ordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es andere Vorschläge, Einwände, Widerstände? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 18:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes

– Drucksachen 17/2866, 17/3034 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/3169 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Ute Vogt
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Hans-Josef Fell

Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu
geben. – Einwände sind nicht erkennbar. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Dr. Michael Paul, Ute Vogt, Michael Kauch, Ralph
Lenkert und Hans-Josef Fell.2)

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3169, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 17/2866 und 17/3034 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –

1) Anlage 5
2) Anlage 6





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Der Gesetzentwurf ist mit gleicher Mehrheit gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Biologische Vielfalt für künftige Generationen
bewahren und die natürlichen Lebensgrundla-
gen sichern

– Drucksache 17/3199 –

Die hierzu vorgesehenen Reden sollen zu Protokoll
gegeben werden. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest.
Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kol-
legen Josef Göppel, Dr. Matthias Miersch, Angelika
Brunkhorst, Sabine Stüber und Undine Kurth.1)

Wir kommen zur Abstimmung.

Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 17/3199? – Alle beteiligten Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke ist dieser Antrag angenommen.

Tagesordnungspunkt 19:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, René Röspel, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die richtigen Lehren aus dem Ausbruch des is-
ländischen Vulkans Eyjafjallajökull ziehen –
Klimaforschung und Geowissenschaften stär-
ken und die Voraussetzungen für ein nationa-
les und europäisches Krisenmanagement im
Luftverkehr schaffen

– Drucksache 17/3174 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Wichtel,
Ulrike Gottschalck, René Röspel, Torsten Staffeldt,
Herbert Behrens und Winfried Hermann.


Peter Wichtel (CDU):
Rede ID: ID1706529100

Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö-

kull war eine Naturkatastrophe besonderen Ausmaßes,
die sowohl die Bundesregierung als auch die Beteiligten
der Luftverkehrsbranche vor dem Hintergrund der Kon-
taminierung des deutschen Luftraumes mit Vulkanasche
vor bis dahin noch unbekannte Herausforderungen ge-
stellt hat. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion
fordert nun dazu auf, die richtigen Lehren aus dieser
Ausnahmesituation zu ziehen.

1) Anlage 7
Ich wiederhole an dieser Stelle zunächst gerne, dass
die Vorgehensweise der Entscheidungsträger angemes-
sen und zu jedem Zeitpunkt richtig war. Der Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat sich
bei seinen gemeinsam mit der Deutschen Flugsicherung
und dem Deutschen Wetterdienst abgestimmten Ent-
scheidungen zur Sperrung des Luftraums an den interna-
tionalen rechtlichen Rahmenbedingungen orientiert. Die
für den weltweiten zivilen Luftverkehr geltenden Sicher-
heitsstandards der Internationalen Zivilluftfahrtorgani-
sation, die in einer Ausnahmesituation wie dem Vulkan-
ausbruch gelten, haben die Freigabe der betroffenen Ge-
biete aufgrund der Kontaminierung des Luftraums nicht
zugelassen. Auch der im Lage- und Informationszentrum
der Deutschen Flugsicherung eingerichtete Krisenstab
konnte nicht zuletzt durch den Zugriff auf die vor Ort vor-
handene technische Infrastruktur und den unmittelbaren
Kontakt mit dem BMVBS, dem Bundesaufsichtsamt für
Flugsicherung, dem Deutschen Wetterdienst, allen DFS-
Niederlassungen und Eurocontrol entscheidend zum Ma-
nagement der Ausnahmesituation beitragen. Nicht zu-
letzt hat insbesondere die schnelle und unbürokratische
Realisierung von eigenen Messflügen des Deutschen
Zentrums für Luft- und Raumfahrt mit dem Forschungs-
flugzeug „Falcon“ die Ermittlung aussagekräftiger und
verlässlicher Messwerte ermöglicht.

Diese Maßnahmen belegen das hervorragende Kri-
senmanagement der Bundesregierung, die zu jedem
Zeitpunkt der Krisensituation der Sicherheit der Passa-
giere allerhöchste Priorität eingeräumt hat. Die Vorbe-
halte im vorliegenden Antrag, die Reaktion der Regie-
rung sei unzureichend und eine politische Führung sei
nicht vorhanden gewesen, sind dementsprechend halt-
los. Gerade weil der Vulkanausbruch für alle beteiligten
Entscheidungsträger eine neue Situation dargestellt hat,
ist das gelungene Krisenmanagement der Regierung
umso höher zu bewerten.

Rückblickend betrachtet hat die Naturkatastrophe
Deutschland und ganz Europa überraschend getroffen
und Regelungslücken sichtbar gemacht, die vorher nicht
ersichtlich waren. Die betreffenden Herausforderungen
im zukünftigen Umgang mit Vulkanausbrüchen werden
nun seit der Wiederaufnahme des regelmäßigen Flugbe-
triebes entschieden und konsequent verfolgt. Der Bun-
desverkehrsminister hat hierzu eine Expertenrunde in-
stalliert, die einen entsprechenden Maßnahmenkatalog
entwickelt und bereits spürbare Fortschritte erzielt hat.
Der Zirkel, der neben Entscheidungsträgern der Minis-
terien und Verbände auch den DWD, die DFS, die Luft-
verkehrswirtschaft und Triebwerkshersteller vereint, ist
erst vor wenigen Wochen im September zu seiner dritten
Sitzung zusammengekommen und wird auch weiter ef-
fektiv und nachhaltig arbeiten. Zudem werden im Bun-
desministerium derzeit in einer verkehrsträgerübergrei-
fenden Arbeitsgruppe Notfallkonzepte und Strategien
zur Krisenbewältigung erarbeitet, die insbesondere ein
koordiniertes Vorgehen und die Optimierung des Infor-
mationsmanagements für den Fall eines Komplettaus-
falls eines Verkehrsträgers zum Inhalt haben.

Der Anschein des vorliegenden Antrages, die Lehren
aus dem Ausbruch des Vulkans seien bisher nicht gezo-

Peter Wichtel


(A) (C)



(D)(B)

gen worden, ist dementsprechend nicht richtig. Der Bun-
desverkehrsminister hat seit der Ausnahmesituation ge-
meinsam mit seinem Haus mit Nachdruck an den
bestehenden Herausforderungen gearbeitet und wird
dies auch weiterhin tun. Dieses Engagement wird von
der CDU/CSU-Fraktion anerkannt, begrüßt und nach-
haltig unterstützt.

Die Zielsetzungen der installierten Expertenrunde
verdeutlichen das konsequente und plausible Vorgehen
der beteiligten Akteure. So benötigt der Luftverkehr ge-
sicherte Erkenntnisse und zuverlässige Vorhersagen
über die Ausbreitung und Konzentration von Vulkan-
asche, die nur durch ein dichtes Messnetz, die Verknüp-
fung von Messdaten und die Verbesserung von Modell-
berechnungen erreicht werden können. Erste Vorschläge
der Expertengruppe skizzieren ein nationales Mess-
system, das Teil eines auf EU-Ebene diskutierten ein-
heitlichen europäischen Messsystems sein könnte. Die
fortgeschrittenen Bestrebungen für ein nationales Mess-
netz fußen auf dem bereits existierenden Ceilometer-
Messnetz des Deutschen Wetterdienstes, das für die Auf-
gabe einer Messung von Vulkanaerosolen qualifiziert
ist. Zudem sollen Hochleistungslidarsysteme helfen, die
Ceilometermessungen zu kalibrieren und verlässliche
Aussagen über die Vulkanaschebelastung der Luft zu er-
möglichen. Zusätzlich soll mit Satellitensensorik die flä-
chenhafte Verteilung der Vulkanasche überwacht und
mit den Ergebnissen der Computersimulationen vergli-
chen werden. Auch Flugzeugmessungen sollen durchge-
führt und mit Messungen der bodengestützten Systeme
sowie der Flächeninformation aus Satellitendaten ver-
glichen werden.

Dieser Einblick verdeutlicht das Engagement der
Bundesregierung, ein dichtes Messnetz, die Verknüpfung
aller Mess- und Modellinformationen sowie die Verbes-
serung computergestützter Ausbreitungsprognosen für
eine zuverlässige Bewertung der Gefährdung der Luft-
fahrt durch Vulkanasche zu installieren. Dieses Vorha-
ben, das in stetiger Abstimmung mit den europäischen
Entscheidungsträgern umgesetzt wird, unterstützen wir
ausdrücklich.

Neben den gesicherten Erkenntnissen und zuverlässi-
gen Vorhersagen über die Ausbreitung und Konzentra-
tion von Vulkanasche benötigt der Luftverkehr zudem
verlässliche Angaben über die Auswirkungen von Vulkan-
asche auf die Flugzeuge, insbesondere auf die Trieb-
werke. Eine Festlegung verbindlicher Grenzwerte für
sichere Betriebsbedingungen von Triebwerken und Luft-
fahrzeugen im Falle einer Kontamination der Luft mit
Vulkanasche ist ebenso hilfreich wie notwendig. Wir be-
grüßen vor diesem Hintergrund die auf europäischer
Ebene bereits sichtbaren Bestrebungen, gemeinsam mit
der Europäischen Agentur für Flugsicherheit mögliche
Grenzen für eine akzeptable Vulkanaschekontamination
zu ermitteln. Die Anhebung eines Grenzwertes von 2 mg/m3
auf 4 mg/m3 Asche durch einzelne EU-Mitgliedstaaten
ohne nachvollziehbare, methodisch belastbare Ableitung
wird von der Bundesregierung allerdings zu Recht nicht
mitgetragen. Auch die Hersteller von Flugzeugtriebwer-
ken stützen dies ausdrücklich nicht.
Zu Protokoll
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund betonen wir
deutlich unsere Auffassung, dass in erster Linie die
Flugzeug- und Triebwerkhersteller in der Verantwor-
tung stehen, sichere Betriebsbedingungen für ihre Pro-
dukte zu bestimmen. Intensive Forschungsbemühungen
seitens der Industrie sind unerlässlich für das Gewinnen
von belastbaren Grenzwerten. Nur so können die Aus-
wirkungen von Vulkanasche auf Triebwerke und die
Flugsicherheit erarbeitet und eine europaweite Festle-
gung auf verbindliche Grenzwerte vorangetrieben wer-
den. Wir begrüßen dementsprechend ausdrücklich, dass
die Expertenrunde des Bundesverkehrsministeriums
hierzu eng mit den Herstellern von Triebwerken zusam-
menarbeitet. Ich betone diesen Aspekt bewusst deutlich,
da wir die Generierung verlässlicher Angaben zu siche-
ren Betriebsbedingungen der Triebwerke als zentralen
Bestandteil der Vorsorgemaßnahmen für die Zukunft
verstehen. Wir teilen dabei die Ansicht der Bundesregie-
rung, dass eine letztendliche Festlegung belastbarer
Grenzwerte von der EASA in enger Abstimmung mit den
Herstellern vorgenommen werden sollte.

Ein dritter und zentraler Punkt, den wir ebenso wie
die Bundesregierung und das Expertengremium als we-
sentlich im Bezug auf die zukünftige Vorgehensweise bei
Vulkanausbrüchen erachten, ist ein international ein-
heitliches Vorgehen der Luftfahrtbehörden. Vor dem
Hintergrund des internationalen Charakters des Luft-
verkehrs müssen einheitliche Verfahren entwickelt wer-
den, um in einer vergleichbaren Situation wie im April
dieses Jahres angemessen und rechtssicher reagieren zu
können.

Erste richtungsweisende Maßnahmen, die bereits we-
nige Wochen nach der Naturkatastrophe auf europäi-
scher Ebene durch das Engagement des Bundesver-
kehrsministers und dessen Amtskollegen aus den EU-
Staaten getroffen wurden, begrüßen wir an dieser Stelle
ausdrücklich. So orientieren sich die Luftüberwa-
chungsbehörden aller EU-Länder gegenwärtig an dem
vom Londoner Vulcan Ash Advisory Center und Euro-
control entwickelten „Drei-Zonen-Modell“, das eine an-
gemessene Risikobewertung und Entscheidungsfindung
im Falle eines Vulkanausbruches ermöglicht. Das Sys-
tem definiert je nach der vorhergesagten Aschekonzen-
tration drei Gebiete, die sich in eine Flugverbotszone,
eine Zone mit erweiterten Verfahren und eine Normal-
zone aufteilen und alle sechs Stunden neu definiert wer-
den. So wird ein größerer Zugang zum europäischen
Luftraum unter uneingeschränkter Gewährleistung des
höchsten Sicherheitsniveaus ermöglicht, und alle EU-
Mitgliedstaaten sind in der Lage, auf gemeinsamer Ba-
sis ihrer Verantwortung bezüglich ihres Luftraumes und
einer Entscheidung über die Luftraumschließung nach-
zukommen.

Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
unterstützt diese Methodik ebenso wie das Vorhaben der
Europäischen Kommission, das gegenwärtig als Emp-
fehlung für die Mitgliedstaaten bestehende System ge-
setzlich zu verankern. Auch die Bundesregierung hat im-
mer wieder mit Nachdruck darauf gedrängt, ein
einheitliches Vorgehen aller Luftfahrtbehörden auf die
Grundlage abgestimmter Verfahren zu stellen. Wir be-



gegebene Reden

Peter Wichtel


(A) (C)



(D)(B)

grüßen es daher ausdrücklich und bewerten es als weite-
ren Erfolg, dass Deutschland in der momentan laufen-
den 37. Versammlung der Internationalen Zivilluftfahrt-
Organisation in Montreal darauf hingewirkt hat, dass
auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse inter-
national einheitliche Verfahren zum Umgang mit Luft-
kontaminationen herbeigeführt werden. Auch wenn die
ICAO-Versammlung zurzeit noch läuft, ist bereits er-
sichtlich, dass die von der EU vorgeschlagene ICAO-
Strategie zum Umgang mit Gefährdungen der Luftfahrt
durch Vulkanasche angenommen wurde. Die besagte
Strategie schreibt der ICAO eine Führungsrolle mit dem
Ziel zu, ein weltweit harmonisiertes Vorgehen zu ermög-
lichen. Die geltenden ICAO-Vorschriften werden nun
dementsprechend überarbeitet.

Die Rolle der Bundesregierung bei den Verhandlun-
gen auf europäischer Ebene und in der Versammlung
der ICAO ist an dieser Stelle gesondert hervorzuheben.
Bundesminister Dr. Ramsauer hat gemeinsam mit sei-
nem Haus seit der Ausnahmesituation im April überaus
engagiert auf ein zeitnahes einheitliches Vorgehen der
Luftfahrtbehörden hingearbeitet und mit der von der
ICAO angenommenen Strategie einen weiteren großen
Schritt in diese Richtung getan. Ich betone ausdrücklich,
dass die CDU/CSU-Fraktion diesen Einsatz begrüßt,
unterstützt und zu schätzen weiß.

Zusammenfassend betrachtet wird deutlich, dass die
Bundesregierung ebenso engagiert wie erfolgreich da-
ran arbeitet, ein effektives und nachhaltiges nationales
Konzept für den Umgang mit einer vergleichbaren Aus-
nahmesituation zu installieren. Durch den Aufbau einer
Expertengruppe und einer verkehrsträgerübergreifen-
den Arbeitsgruppe werden die drei vorrangigen Ziele ei-
nes zur Bewertung der Gefährdung benötigten dichten
Messnetzes, verlässlicher Angaben über die Auswirkun-
gen von Vulkanasche auf Triebwerke und eines einheitli-
chen Vorgehens der europäischen Luftfahrtbehörden mit
Nachdruck verfolgt. Die ersten Ergebnisse des Engage-
ments, die teilweise bereits wenige Wochen nach der Na-
turkatastrophe vorzuweisen waren, belegen den Erfolg
der Arbeit des Bundesverkehrsministeriums. Die Wei-
chen für nachhaltige Vorsorgemaßnahmen zur Reduzie-
rung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum
sind gestellt, die Entwicklungen werden auch weiterhin
konsequent verfolgt werden. Die Fraktion der CDU/
CSU begrüßt das bisherige Engagement der Bundesre-
gierung und unterstützt deren weitere Vorgehensweise.

Zugleich wird ebenso deutlich, dass der vorliegende
Antrag dem Engagement der Bundesregierung und allen
Beteiligten nicht gerecht wird. Nicht nur die Argumenta-
tion, das Krisenmanagement sei unzureichend gewesen,
sondern insbesondere der erweckte Eindruck, die Leh-
ren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyja-
fjallajökull seien bisher noch nicht gezogen worden, de-
cken sich nicht mit den Tatsachen. Zwar sind nicht alle
Ziele der Bundesregierung bis heute voll und ganz er-
reicht worden. Das ist aber schlicht der Tatsache ge-
schuldet, dass die zu bewältigenden Aufgaben in jegli-
cher Hinsicht komplex sind. Ein verbindlicher
Grenzwert für sichere Betriebsbedingungen von Trieb-
werken lässt sich ebenso wenig in kurzer Zeit ermitteln,
Zu Protokoll
wie sich komplexe gesetzgeberische Rahmenbedingun-
gen für ein europaweites oder gar internationales Vor-
gehen der Luftfahrtbehörden nicht kurzfristig installie-
ren lassen. Das Zusammenspiel zwischen Politik,
Forschung und Industrie oder zwischen Entscheidungs-
trägern auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene kann nicht nach wenigen Wochen bereits ab-
schließende und rechtssichere Resultate liefern. Dass
aber mit Nachdruck an den Herausforderungen gearbei-
tet wird, belegen die überaus ermutigenden Resultate,
die zum jetzigen Zeitpunkt bereits vorliegen. Nicht zu-
letzt die hervorragende Arbeit der Expertenrunde des
Bundesministeriums verdeutlicht, dass sowohl die Ziel-
setzungen als auch die Realisierung der Vorhaben abso-
lut stimmig sind. Aus diesem Grund werden wir den vor-
liegenden Antrag ablehnen.

Die Bundesregierung hat es als ihre Aufgabe verstan-
den, die Lehren aus der Vulkanaschewolke zu ziehen und
sich nachhaltig mit den Vorsorgemaßnahmen und Vorge-
hensweisen in der Zukunft auseinanderzusetzen. Nicht
zuletzt die erfolgreiche Arbeit des Bundesverkehrsminis-
ters belegt, dass dies geschehen ist und die Sicherheit
der Passagiere – die von Beginn an immer im Mittel-
punkt des Engagements gestanden hat – auch in Zukunft
gewährleistet sein wird.


Ulrike Gottschalck (SPD):
Rede ID: ID1706529200

Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö-

kull liegt jetzt einige Monate zurück. Die Auswirkungen
dieses Naturereignisses beschäftigen uns heute noch.
Die durch diesen Vulkanausbruch notwendig geworde-
nen Flugverbote haben Schätzungen zufolge 1,2 Millio-
nen Passagiere pro Tag betroffen. Wir müssen davon
ausgehen, dass die volkswirtschaftlichen Kosten dieses
Ausbruchs mehrere Milliarden Euro betragen. Allein die
Luftverkehrsunternehmen hatten laut Schätzungen
1,3 Milliarden Euro Verlust zu verkraften.

Ein wesentliches Kennzeichen dieses Naturereignis-
ses war das Fehlen politischer Führung in der Krise.
Keiner wollte die Verantwortung übernehmen, bis sie
schließlich abgewälzt wurde auf die schwächsten Glie-
der der Kette, die sich nicht entziehen konnten, weil sie
Angst um ihren Job hatten. Diese Glieder der Kette wa-
ren die Fluglotsen und die Flugkapitäne. Wir alle haben
noch den Begriff kontrollierte Sichtflugverfahren im
Ohr. Während der Beeinträchtigungen des deutschen
Luftverkehrs haben die deutschen Fluggesellschaften
Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren beim Luft-
fahrt-Bundesamt beantragt und durchgeführt. Das Luft-
fahrt-Bundesamt ist dem Bundesministerium für Ver-
kehr, Bau und Stadtentwicklung nachgeordnet. Es hat
diese Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren als un-
bedenklich gewertet. Der Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung Herr Dr. Peter Ramsauer hat
sich jedoch im ARD-Magazin „Report München“ am
17. Mai 2010 von der Zustimmung zur Durchführung
dieser kontrollierten Sichtflüge distanziert.

Dieses Szenario dokumentiert die Hilflosigkeit und
Führungslosigkeit, denen wir in dieser Krise ausgesetzt
waren. Ein einheitliches und koordiniertes Krisenma-



gegebene Reden

Ulrike Gottschalck


(A) (C)



(D)(B)

nagement fand weder innerhalb Deutschlands noch auf
europäischer Ebene statt. Die Einführung eines so ge-
nannten Drei-Zonen-Modells der europäischen Flug-
sicherungsorganisation Eurocontrol hatte lediglich
empfehlenden Charakter. Zu dem unkoordinierten Han-
deln auf politischer Ebene kam das Fehlen von Fakten-
wissen, mangels fundierter und wissenschaftlich beleg-
ter Daten und Fakten als notwendige Grundlage für
politische Entscheidungen zum Beispiel über die Not-
wendigkeit der Durchsetzung oder Aufhebung von Flug-
verboten – hinzu.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol-
len aus den Erfahrungen in dieser Krise lernen und die
notwendigen Vorkehrungen treffen, damit zukünftig auf
ähnliche Ereignisse professioneller und für alle Beteilig-
ten zielführender reagiert werden kann. Wir setzen uns
daher in dem vorliegenden Antrag für die Stärkung der
Klimaforschung und Geowissenschaften und für die
Schaffung eines nationalen und europäischen Krisenma-
nagements im Luftverkehr ein.

Der Ausbruch des Eyjafjallajökull war, wenn auch
der spektakulärste und bekannteste Vorfall, nur einer
von insgesamt vier bekannt gewordenen Ereignissen, bei
denen es im Luftverkehr zu Problemen mit Vulkanasche
gekommen ist. In der Sondersitzung des Verkehrsaus-
schusses des Deutschen Bundestages am 20. April 2010
wurde sehr deutlich, dass vor allem zu wenig Erkennt-
nisse darüber vorliegen, welche Folgen Vulkanasche auf
Flugzeugtriebwerke hat und welche Faktoren – zum Bei-
spiel Flugdauer, Partikelkonzentration usw. – sich in
welcher Form qualitativ wie quantitativ auswirken. Die
Einrichtungen der Atmosphären- und Klimaforschung
sowie der Geowissenschaften und der Deutsche Wetter-
dienst haben die Herausforderung durch den Ausbruch
des Eyjafjallajökull angenommen und wichtige Daten
und Fakten zur Fundierung weitreichender, politischer
Entscheidungen gesammelt. Es hat sich aber ganz deut-
lich gezeigt, dass die vorhandenen Kapazitäten und
Strukturen nicht ausreichen.

In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass die Bun-
desregierung die Forschungsförderung zum Klima-
wandel in den nächsten drei Jahren um zusätzliche
255 Millionen Euro erhöhen will. Die Förderung der Er-
forschung des Klimawandels und der Geowissenschaf-
ten kann uns nicht nur darin unterstützen, koordinierter
durch unerwartete Krisen, wie einen Vulkanausbruch, zu
kommen, sondern trägt auch zur Stärkung des Innova-
tionsstandortes Deutschland bei.

Wir fordern die Bundesregierung auf, die Grenzwerte
für Luftfahrzeuge und Triebwerke wissenschaftlich fun-
diert und verbindlich auf Ebene der EU festzulegen und
diese Definition auf internationaler Ebene rechtsver-
bindlich zu verankern. Eine gute Gelegenheit hierfür
wäre die Generalversammlung der Internationalen
Zivilluftfahrt-Organisation gewesen, die gegenwärtig in
Montreal tagt und morgen endet. Auf diese Art hätte eine
wichtige rechtliche Regelungslücke geschlossen werden
können.
Zu Protokoll
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten for-
dern in dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung
auf, die Voraussetzungen für ein nationales, europäi-
sches und internationales Krisenmanagement zu schaf-
fen. Für den Fall eines erneuten Ausbruchs eines Vul-
kans in Europa soll die Bundesregierung einen
nationalen Krisenstab beim Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung entwickeln und einrichten.
Wir fordern die Erarbeitung und Festlegung eines ein-
heitlichen Messystems zur Erhebung von Messdaten
über Konzentration, Verbreitung und örtlicher Verände-
rung von Vulkanasche. Wir müssen die Umsetzung des
Einheitlichen Europäischen Luftraums – Single Euro-
pean Sky – vorantreiben und dafür Sorge tragen, dass
der Abschluss des Staatsvertrages zur Errichtung des
funktionalen Luftraumblocks FABEC noch in diesem
Jahr erfolgt.

Besonders wichtig ist die Unterstützung von For-
schungsprojekten und die Entwicklung von Maßnahmen,
die bei zukünftigen Vulkanausbrüchen und dem Auftre-
ten von Aschewolken eine Gefährdung des Luftverkehrs
vermeiden und solch ein Ausmaß an Chaos und Vakuum,
wie wir es im April und Mai diesen Jahres erleben muss-
ten, verhindern. Durch verstärkte auch finanzielle Un-
terstützung der Forschung sowie durch eine bessere Zu-
sammenarbeit national, international, politisch und
zwischen den Fachleuten, Ingenieuren und Wissen-
schaftlern können wir bei zukünftigen Vulkanausbrü-
chen und ähnlichen Krisen für eine sichere Flugplanung
sorgen und Aschekonzentrationen besser vorhersagen.
Außerdem müssen wir für die betroffenen Passagiere
bessere Möglichkeiten für alternative Transportwege
finden und für sie fundierte Informationen und Unter-
stützung bereitstellten. So können wir es möglich ma-
chen, bei einer ähnlichen Krise nicht wieder so hilflos zu
sein wie beim Ausbruch des Eyjafjallajökull in diesem
Frühjahr.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1706529300

Anfang des Jahres brach der Vulkan Eyjafjallajökull

auf Island aus und ganz Europa stand still – nun ja, still
vielleicht nicht. Es war über den europäischen Flughä-
fen stiller als sonst, auf Autobahnen und Bahnhöfen
herrschte hingegen Hektik bis Chaos. Denn der gesamte
Flugverkehr in Europa musste aufgrund der Vulkan-
asche für mehrere Tage eingestellt werden. Die plötzli-
che Ruhe freute die Anwohner von Flughäfen. Die pro
Tag circa 1,2 Millionen betroffenen Fluggäste fanden es
hingegen weniger angenehm, von den Fluggesellschaf-
ten und von den vom Flugverkehr abhängigen Industrie-
zweigen ganz zu schweigen. Insgesamt geht man heute
davon aus, dass die mehrtägige Luftraumsperrung einen
finanziellen Schaden von mindestens 1,3 Milliarden
Euro verursacht hat.

Hätte man dieses Chaos vermeiden können? Ja und
nein. Ja, weil, wie meine Kollegin Ulrike Gottschalck in
ihrem Redebeitrag darstellen wird, auf der Ebene des
Bundesministeriums in den Tagen einiges schiefgelaufen
ist und enormer organisatorischer Verbesserungebedarf
besteht. Nein, da vonseiten der Forschung alles zu die-
sem Zeitpunkt Machbare getan wurde.



gegebene Reden

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

Es ist nicht das erste und ganz bestimmt nicht das
letzte Mal, dass in Europa Vulkane ausbrechen. Jeder
Vulkanausbruch ist aber anders. Das Außergewöhnliche
an dem Ausbruch von Eyjafjallajökull war die Produk-
tion besonders kleinkörniger Asche, die wiederum län-
ger als andere Vulkanasche in der Luft blieb. Hinzu kam
die Windrichtung, welche die Aschewolke über das euro-
päische Festland trieb.

Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, ei-
nem Institut der Helmholtz-Gemeinschaft, wurde diese
Entwicklung frühzeitig wahrgenommen. Ihre Erkennt-
nisse erhielten sie durch den von DLR maßgeblich ent-
wickelten und betriebenen Erdbeobachtungssatelliten
TerraSAR-X. Den Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern war klar, welche Auswirkungen die Asche-
wolke für den europäischen Flugverkehr haben könnte.
Neben Satelliten betreibt das DLR mehrere Forschungs-
flugzeuge. Eines davon, die Falcon 20E, war bereits in
Saharastaub geflogen und bot sich deshalb für die
Durchführung von Tests in der Nähe der Aschewolke an.
Die Mitarbeiter des DLR machten sich sofort an die
Arbeit, um das Flugzeug, das ansonsten für andere For-
schungszwecke genutzt wird, mit den nötigen Instrumen-
ten zu bestücken.

In dieser Situation erwies es sich als großes Glück,
dass das DLR aufgrund der Forschungsgelder des Bun-
des im Bereich Atmosphärenforschung gut aufgestellt
ist. Denn erst durch die Messdaten der Falcon konnten
die im Modell berechneten Eckdaten der Aschewolke
überprüft werden. Die Ergebnisse wurden dann an die
nationalen, europäischen und internationalen Luftfahrt-
stellen weitergegeben, führten am Ende zur Festlegung
von Grenzwerten und zur Öffnung des Luftraums. Ohne
den Einsatz des deutschen Forschungsflugzeugs wäre
der Luftraum wohl noch viel länger geschlossen geblie-
ben. Den vielen helfenden Händen im DLR gilt deshalb
unser besonderer Dank.

Was bedeutet der Vulkanausbruch forschungspoli-
tisch für die Zukunft? Es zeigt einmal mehr, dass Er-
kenntnisse der Grundlagenforschung sehr schnell auch
in der Anwendung konkrete Bedeutung erlangen können.
Die Grundlagenforschung finanziell auszubauen und
dabei auch „Orchideenfächer“ wie die Vulkanologie zu
unterstützen, ist deshalb dringend geboten. Die schnelle
Einsatzbereitschaft der Falcon war ein Glücksfall und
ist dem Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des DLR zu verdanken. Es fehlt aber eine institutionelle
Lösung. Denn für Vulkanausbrüche – aber auch Wald-
brände oder Großunfälle können ähnliche Wolken her-
vorbringen – besitzen wir keine jederzeit einsetzbaren
Forschungsflugzeuge. Krisenmanagement und For-
schung eng miteinander zu verzahnen, hat sich in diesem
Fall als großes Glück erwiesen. Die Stationierung eines
solchen Flugzeugs, wozu immer eine Crew und erfah-
rene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Aus-
wertung von Daten gehören, bei einem Forschungsinsti-
tut wie dem DLR macht deshalb Sinn. Dafür müsste das
DLR aber einen klaren Auftrag aus der Politik erhalten,
der sich auch finanziell im Budget niederschlägt. Jetzt
müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden.
Deutschland ist im Bereich Forschungsflugzeuge und
Zu Protokoll
der dazugehörigen Wissenschaften dank der For-
schungsförderung des Bundes sehr gut aufgestellt.
Eyjafjallajökull hat aber auch gezeigt, welche Bereiche
weiter ausgebaut werden müssen. Ich bitte Sie deshalb,
unserem Antrag zuzustimmen, damit die vor uns lie-
gende Arbeit schnell angepackt werden kann. Denn der
Nachbarvulkan von Eyjafjallajökull scheint ebenfalls
nicht zu schlafen.


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1706529400

Der Eyjafjallajökull hat uns in dramatischer Art und

Weise vor Augen geführt, wie schnell unsere hochtech-
nologisierte, arbeitsteilig organisierte Welt in Bedräng-
nis gebracht werden kann. Wir sollten dies nutzen, um
innezuhalten und uns die Frage zu stellen, ob und wie
wir mit derartigen „Ausbrüchen“ umgehen können.
Dazu gibt es selbstverständlich unterschiedliche mögli-
che Reaktionsweisen: von Fatalismus – nach der
Devise: „Da kann man nichts dran machen“ – bis zu
aufgeregtem Aktionismus, wie er im Antrag der SPD
festzustellen ist. Wir als FDP halten eine sachgerechte
und realistische Betrachtung der Vorgänge für nötig.
Wir halten das Ableiten von vernünftigen Maßnahmen
aus den Vorgängen im April für sinnvoll, und wir sind si-
cher, dass diese Regierung und der Bundesverkehrs-
minister Peter Ramsauer auch genau dies machen.

Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Aufgrund ei-
ner bisher nicht erlebten Sicherheitslage ist im April des
Jahres der Luftraum über Deutschland zeitlich befristet
gesperrt gewesen. Dies ist verantwortliches Handeln.
Alles andere hätte in Anbetracht der Lage, für die es
keine Erfahrungswerte gab, zu Recht einen Aufschrei
der Bevölkerung und des Parlaments bewirkt. Daraus zu
schlussfolgern, dass das Krisenmanagement unzurei-
chend war oder politische Führung fehlte, ist durchsich-
tiges Oppositionsgetöse. Die Einrichtung eines nationa-
len Krisenstabes, wie gefordert von der SPD, ist blanker
Aktionismus, der nichts, aber auch gar nichts an der
Lage und den Entscheidungen geändert hätte. Man kann
vermuten, dass SPD-Politiker solche Situationen gerne
nutzen, um sich als Retter in der Not darzustellen. Bei-
spiele dafür gibt es ja bei den Überschwemmungs-
katastrophen zu Genüge. In solchen Situationen geht es
nämlich nicht darum, sich als Retter medial zu inszenie-
ren, sondern sachgerechte, fundierte Entscheidungen zu
treffen. Das können die Deutsche Flugsicherung und
das BMVBS mit den beteiligten Fachleuten sicher bes-
ser.

Andere Länder wie die Schweiz, die im Übrigen nur
einen äußerst geringen Bereich des deutschen Luft-
raums über die Schweizer Flugsicherung Skyguide ab-
deckt, mögen zu anderen Ergebnissen kommen, insbe-
sondere auch, da der Süden weniger beeinträchtigt war.
Im Übrigen sollte Skyguide, wie der Unfall über Über-
lingen vom 1. Juli 2002 bedauerlicherweise bestätigte,
nicht unbedingt als Referenz für verantwortliches Han-
deln herangezogen werden.

Die weitere Argumentation des SPD-Antrags läuft
ähnlich weiter. Mit einer gefährlichen Mischung aus
Halbwissen, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten



gegebene Reden

Torsten Staffeldt


(A) (C)



(D)(B)

und populistischen Forderungen versucht dieser Antrag
den Eindruck zu erwecken, dass das Handeln der Ver-
antwortlichen nicht sachgerecht war. Das weise ich mit
Empörung zurück. Denn nachträglich erlangtes Wissen
über die Bedrohung des Flugverkehrs zu nutzen, um
situationsgerechte Entscheidungen anzugreifen, ent-
spricht nicht einer vernünftigen Aufarbeitung. Die Op-
position vergibt hier die Chance, darzulegen, dass sie
zur Übernahme von Verantwortung fähig ist.

Denn es muss doch festgestellt werden: Es gab und
gibt bisher so gut wie keine Erkenntnisse über das Ver-
halten von Flugzeugtriebwerken beim Einflug in Vulkan-
aschewolken. Es gab und gibt glücklicherweise wenig
vulkanische Eruptionen, anhand derer man die nötigen
Versuche an Flugzeugtriebwerken durchführen könnte.
Selbst bei Befolgung der im SPD-Antrag aufgelisteten
zusätzlichen kostenintensiven Maßnahmen gibt es Rest-
risiken, die nicht erfasst werden können, wie zum Bei-
spiel die chemische Zusammensetzung von Vulkan-
aschen unterschiedlicher Vulkane, die meteorologische
Vorhersage von Aschewolken, deren Absinkverhalten in
Abhängigkeit der Teilchendichte und -größe, mögliche
chemische Reaktionen in Wasserwolken, die Auswurf-
höhe der Vulkane usw.

Die Vorschläge sind populistisch, zielen darauf, ein
gigantisches Programm mit hohen Kosten aufzusetzen,
versteigen sich gar darauf, eine Professur für Vulkano-
logie zu fordern, und führen am Ziel vorbei. Vor allem
aber sind sie ohne vernünftige Abwägung des nutzbaren
Erkenntnisgewinns zu den eingesetzten Mitteln. Dies
sind wir von der SPD gewohnt, die aus fehlender Sach-
kenntnis heraus Steuermillionen in der Vergangenheit,
und wenn es nach ihr gehen würde, auch in der Zukunft,
aus dem Fenster werfen würde, und das, weil einmal in
100 Jahren ein Vulkan ausbricht.

Das BMVBS unter Minister Ramsauer handelt ver-
antwortungsvoll, zieht die notwendigen Schlüsse aus
dem Vorgang und bereitet mit Augenmaß die notwendi-
gen Änderungen vor. Dazu zählen die auf der Verkehrs-
ministerkonferenz am 6. und 7. Oktober des Jahres und
vorher vorgestellten Vorsorgemaßnahmen zur Reduzie-
rung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum.
Das ist Politik mit Augenmaß und Verstand. Das Gegen-
teil davon ist dieser SPD-Antrag.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706529500

Am 20. März brach der isländische Vulkan Eyjafjalla-

jökull aus und überzog den europäischen Luftraum mit
der sogenannten Aschewolke. Dies ist Grund genug,
sich als Gesetzgeber mit den Folgen zu beschäftigen.

Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull war ein
Akt höherer Gewalt und hat drei Probleme deutlich wer-
den lassen: Erstens. Unsere hochtechnisierte Gesell-
schaft ist sehr anfällig; sie ist ein sensibles System ohne
Netz und doppelten Boden, wenn kein entsprechendes
Krisenmanagement für Notfälle zur Verfügung steht.
Zweitens. In Europa sind Verfahren zur effizienten Be-
wertung meteorologischer Probleme noch nicht genü-
gend entwickelt, und es fehlt an Krisennotfallplänen.
Drittens. Dr. Ramsauer, Verkehrsminister der Koalition,
Zu Protokoll
hat als starker Mann mit der Wiederfreigabe des Luft-
raums politische Entscheidungen getroffen, also Ent-
scheidungen auch zugunsten der Luftfahrtindustrie, zu-
gunsten der gestrandeten Reisenden, jedoch nicht
zugunsten der Piloten. Hier wurde keine vernünftige
Abwägung vollzogen. Wir lernen daraus, dass der
Minister noch einen Kurs in Krisenmanagement belegen
müsste. Darauf werden wir in Zukunft unser spezielles
Augenmerk richten.

Die Bedrohung der modernen Welt durch immer kom-
pliziertere Netze in Verkehr, Kommunikation, Logistik
und Elektrizität wird heute nicht durch ausreichende
staatliche Notfallpläne abgedeckt. Im Zuge des Vulkan-
ausbruchs kam es zu einer Kettenreaktion, Tausende Ur-
lauber saßen auf den Flughäfen, warteten auf die Aufhe-
bung der Luftraumsperrung und stritten um die vorhan-
denen Steckdosen, um Handys, Laptops, iPhones und
andere Geräte zu laden. Geschäftsreisende erreichten
ihre Kunden nicht, Luftfracht blieben liegen, bei BMW
in Dingolfing standen die Bänder still. Die Komplexität
unserer hochtechnisierten Welt wurde selbst zum Sicher-
heitsrisiko. Geradezu unverschämt war vor diesem Hin-
tergrund das Auftreten von Lufthansachef Mayrhuber,
der das Aschechaos benutzte, die Aussetzung des Emis-
sionshandels für den Luftverkehr zu fordern.

Erst seit dem Jahr 1991 wissen wir, dass Vulkanaus-
brüche eine Gefahr für den Luftverkehr darstellen kön-
nen. An dieser Stelle helfen weder Demutsgesten ange-
sichts der übermächtigen Mutter Natur noch das starke
Mann Gehabe von Verkehrsminister Ramsauer. Wie im
Antrag der SPD richtig angemerkt wurde, fehlt es an
Grundlagenforschung. Verschiedene Meldungen, was
die Aschepartikel. genau in den Turbinen, auf der Au-
ßenhaut und an den Instrumenten der Flugzeuge anrich-
ten können, widersprachen sich erheblich. Das einzige,
was man relativ klar feststellen konnte, war, dass siche-
rer Flugverkehr nicht mehr zu gewährleisten war.
Grundlagenforschung nicht nur in Bezug auf meteorolo-
gische Phänomene, sondern auch in Bezug auf ihre kon-
krete Auswirkung auf den Luftverkehr – ist dringend not-
wendig. Die Einschätzung, die das Verkehrsministerium
nach der Veröffentlichung des Falcon-Reports traf,
wurde nicht von allen Meteorologen geteilt.

Wir teilen die Einschätzung der SPD-Fraktion, dass
das deutsche Krisenmanagement schwach war. So wur-
den beispielsweise eigene Messdaten zu spät erhoben, es
wurde kein richtiger Krisenstab gebildet und Fluglot-
senkapitäne und die Gewerkschaftsvereinigung Cockpit
e.V. kritisierten die Übertragung der alleinigen Verant-
wortung auf die Piloten. Die Schweizer Flugsicherung
Skyguide wickelte über deutschem Hoheitsgebiet weiter-
hin den vollständigen Flugverkehr ab, eine Praxis, die
unserer Meinung nach nicht mit dem Grundgesetz
vereinbar ist. Die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft, die
unter ihrem Dach das Deutsche Zentrum für Luft- und
Raumfahrt und damit die besten deutschen Wissen-
schaftler beherbergt, ist als Betreiberin der Asse leider
bereits negativ aufgefallen. Aufgrund der aktuellen
Debatte um Atomendlager und Standortauswahl müsste
man noch einmal überlegen, ob sie tatsächlich als Dach



gegebene Reden

Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

für deutsches Krisenmanagement in ähnlichen Fällen
fungieren kann.

Kurz und gut: Wir unterstützen den Antrag der sozial-
demokratischen Fraktion, auch wenn wir einige Schwer-
punkte anders setzen würden.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706529600

Die Grundaussage des hier zu behandelnden Antrags

ist richtig: Die Politik muss aus dem Geschehen rund um
den Ausbruch eines isländischen Vulkans im April dieses
Jahres einige Lehren ziehen, institutionelle Strukturen
etablieren, politische Handlungskonzepte präzisieren
und die Forschung rund um das Themenfeld Gefährdung
öffentlicher Infrastrukturen durch Naturkatastrophen
deutlich stärken.

Gleichwohl schießt die SPD mit ihrem Angriff auf das
politische Management in der Krise weit über das Ziel
hinaus. Denn seien wir doch mal ehrlich: Bis zum
Ausbruch des Eyjafjallajökull war kein deutscher Ver-
kehrsminister egal welcher Parteienzugehörigkeit, kein
Deutscher Bundestag oder eine deutsche Flugsiche-
rungsorganisation mit einer derartigen Situation groß-
flächiger Kontamination des deutschen Luftraumes
durch Aschepartikel. konfrontiert. Alle einschlägigen
politischen Akteure, auch die Airlines, die Flughäfen
und nicht zuletzt die betroffenen Passagiere wurden von
der Vulkanaschewolke nachgerade überrascht.

Vor diesem Hintergrund war die rasche Einrichtung
des bestehenden Krisenstabes bei der für den Luftraum
verantwortlichen Deutschen Flugsicherung, DFS, in
Langen der richtige Schritt. Schließlich verfügt die Zen-
trale der DFS im Gegensatz zum Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Berlin über die
entsprechende technisch-instrumentelle Infrastruktur,
auch die Einbindung des Deutschen Wetterdienstes, des
Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung, des BMVBS
und der Maastrichter Kontrollzentrale Eurocontrol
wurde so sichergestellt.

Das politische Management in der Aschekrise war
geprägt vom „Handeln unter den Bedingungen größt-
möglicher Unsicherheit“ in Bezug auf folgende Fragen:
Wie bewegt sich die Aschewolke, welche Konzentration
von Partikeln enthält sie, wie gefährlich ist welche Kon-
zentration für Flugzeugturbinen etc. Insofern war die
Entscheidung, den Luftraum zu sperren und so der
Sicherheit von Flugpersonal und Passagieren höchste
Priorität einzuräumen und dabei kein Risiko einzuge-
hen, die richtige Entscheidung!

Zweifellos ist bei der großflächigen Kontamination
des europaweiten Luftraumes eine EU-weite Abstim-
mung notwendig. Ein einheitliches Verfahren in solchen
Krisenfällen garantiert nicht nur eine bessere Abschät-
zung der Gefahrenlage und die größtmögliche Sicher-
heit des europäischen Luftverkehrs, sondern ist auch un-
ter wettbewerblichen Gesichtspunkten der richtige Weg.

Dass in Europa unterschiedliche politische Entschei-
dungen mit Blick auf Öffnung oder Sperrung von hoheit-
lichen Lufträumen gefällt wurden, hat viele zu Recht
verwirrt. An dieser Stelle ist ein eindrückliches Plädoyer
Zu Protokoll
für den einheitlichen europäischen Luftraum SES ange-
bracht! Denn nur so können sich zukünftig einheitliche
Verfahren bei der Datenerhebung und Messung, Abstim-
mungen im Flugverkehrsmanagement und Luftraum-
sperrungen auf der Basis gemeinsam verabredeter
Grenzwerte durchsetzen.

Weitere Lehren sind aus den Ereignissen zu ziehen.
Etwa muss zukünftig sichergestellt werden, dass Mess-
und Beobachtungssysteme und entsprechend ausgerüs-
tete Flugzeuge – wie die Falcon des DLR – bereit stehen.
Und nicht, wie in der Krise dankeswerter Weise gesche-
hen, von einer Vielzahl von Ingenieuren des DLR unter
anderem Institutionen unter Hochdruck erst umgerüstet
werden müssen. Möglicherweise brauchen wir EU-weit
eine kleine Flotte solcher Messflugzeuge, die miteinan-
der vernetzt jederzeit aufsteigen können. Selbstverständ-
lich müssen für die Zukunft dann aber auch Mittel be-
reitgestellt werden, die etwa das DLR in die Lage
versetzen, ein solches Flugzeug mit der entsprechenden
technischen Ausrüstung und hochqualifiziertem Perso-
nal quasi abrufbar vorzuhalten.

Es gab zur recht Irritationen angesichts unterschied-
licher Vorgaben der UN-Zivilluftfahrtbehörde, ICAO,
bei der Unterscheidung von Sichtflug und Instrumenten-
flug. Kein Wunder, ist doch in einer bestimmten Höhe
und bei bestimmtem Wetter (freier Sicht) der sogenannte
Sichtflug auch im kontaminierten Luftraum erlaubt, hin-
gegen der Instrumentenflug nicht. Hier müssen Wider-
sprüche im Regelwerk der ICAO entsprechend aufgelöst
und im Sinne konsistenter und sicherheitswirksamer
Regeln geändert werden. In Zukunft müssen ICAO und
Flugüberwachsungsbehörden wie die europäische
EASA klare Vorgaben zu Grenzwerte für Stoffeinträge

(Asche) im Triebwerk machen können.


Die europäischen Verkehrsminister haben in diesem
Jahr eine Reihe von Maßnahmen zur Festlegung einer
neuen europäischen Methodik, eines kohärenten Vorge-
hens bei der Bewertung und dem Management von
Sicherheitsrisiken, zur Definition einheitlicher Grenz-

(mit Blick auf den risikofreien Betreib von Triebwerken)

logischer Instrumente der ICAO verabschiedet bzw. auf
den Weg gebracht. An diesen Vorhaben muss mit Kon-
zentration weitergearbeitet werden. Auch wurden mit
dem Szenario „Option 3“ drei Flugzonen mit unter-
schiedlichen Risiken für Flüge definiert. Im Kern der
Emissionswolke der No-Fly Zone mit einer Aschekon-
zentration über 4 000 Mikrogramm je Kubikmeter bleibt
der Flugverkehr künftig vollständig untersagt, abgestuft
kann Flugbetrieb in den anderen beiden Zonen erfolgen.

Wesentlich ist darüber hinaus die beschleunigte Um-
setzung des luftverkehrswirtschaftlich in vielerlei – etwa
klimapolitischer – Hinsicht bedeutsamen Projektes
Single European Sky, SES II, sowie die Einrichtung
funktionaler Luftraumblöcke und Verbesserung des
Europäischen Air Traffic Managements, ATM. Durch
den Vulkanausbruch auf Island und die Folgen für den
Flugverkehr in Europa ist überdeutlich geworden, dass
es über das Gefährdungspotenzial durch Vulkanasche
zahlreiche Erkenntnis- und Wissenslücken gibt. Diese



gegebene Reden





Winfried Hermann


(A) (C)



(D)(B)

bestehen vor allem an den Schnittstellen zwischen ver-
schiedenen Disziplinen und Technikwissenschaften.
Gleichwohl haben insbesondere die Einrichtungen der
Atmosphären- und Klimaforschung sowie die Observa-
torien des Deutschen Wetterdienstes in engerer Koordi-
nation und Kooperation mit ihren europäischen und
internationalen Partnern in beeindruckender Weise ge-
zeigt, wie wichtig trans- und interdisziplinäre Grundla-
genforschung auch für aktuelle Ereignisse sein kann.

Systematische Forschungen in diesem Schnittstellen-
bereich müssen gestärkt werden. Weiter gilt es spezielle
Studien zu Grenzwerten und Aschewirkungen in Trieb-
werken auf den Weg zu bringen. Denn Forschungsdefi-
zite führten ja bisher zu erheblichen Problemen bei der
Festsetzung von Grenzwerten. Das konkrete Gefähr-
dungspotenzial hängt dabei von vielen Faktoren ab: zum
Beispiel davon, welchen Ursprungs und Beschaffenheit
die Asche ist, welche Konzentration vorliegt, ebenso
vom Zeitraum in dem die Triebwerke der Asche ausge-
setzt sind oder welche Art von Triebwerk überhaupt be-
troffen ist. Es steht unter den betroffenen Akteuren heute
außer Frage, dass die Wissens- und Erkenntnisdefizite
ausgeräumt werden müssen, um zukünftig angemessen
reagieren zu können. Hier sind allerdings auch Eigen-
leistungen in der Forschung bei den Triebwerksherstel-
lern gefragt.

Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür verbes-
sern, dass zum Beispiel überschneidende Forschungs-
bereiche wie Vulkanologie, Meteorologie und Luft-
fahrttechnik bei ihren Forschungstätigkeiten verstärkt
miteinander zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse ab-
stimmen können. Dabei ist von zentraler Bedeutung und
vielerorts längst Praxis, dass nicht jedes Land isoliert
an den wissenschaftlich relevanten Fragestellungen ar-
beitet, sondern in Absprache und in Kooperation mit den
internationalen Partnern vorgeht. Forschungsbedarfe
und neue Bedarfe an Forschungsinfrastruktur und For-
schungsprogrammen sollten daher international we-
nigstens aber EU-weit abgestimmt werden.

Zwar gibt es durch die europäischen Forschungsrah-
menprogramme gute Möglichkeiten, Messgeräte und
Messungen im Rahmen von zeitlich begrenzten Projek-
ten finanziell zu fördern. Wenn die Förderung aber aus-
läuft, fehlt häufig die Kontinuität, die man für eine
dauernde Überwachung bräuchte. Bei Messungen und
Datenerfassung brauchen wir also deutlich mehr Verste-
tigung.

Zum Schluss benötigen wir – auch das ist für mich
eine wichtige Konsequenz – einen Plan B für mögliche
Katastrophen dieser Art. Wir haben quasi kein Konzept
für den Fall, dass der Luftverkehr oder der Bahnverkehr
in einer Region oder in einem Staat plötzlich komplett
ausfällt. Man kann daraus lernen, dass auch, mit Blick
auf die Sicherheit und Verfügbarkeit von Infrastruktu-
ren, Konzepte entwickelt werden müssen, die dann rasch
abrufbar und einsetzbar sind und auch solche Fragen
beantworten, wie: wer ist zuständig und wer wickelt die
zum Beispiel die Rückführung von Passagieren ab, die
fern der Heimat gestrandet sind. Wir müssen daher auch
über die Verbrauchersituation und die Kundenrechte
nachdenken. Es hat sich gezeigt, dass sich manche Re-
geln an Einzelfällen orientieren und dass es keine flä-
chendeckende Lösung gibt. Auch hier gilt es nachzuar-
beiten.

Fazit: Wesentliche Fragen sind in dem Antrag der
SPD angesprochen, die Herausforderungen müssen jetzt
aufgearbeitet werden.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706529700

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

der Drucksache 17/3174 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einwände? –
Keine. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Zusatzpunkt 5:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung

Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Europäi-
sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen

Ratsdok. 9145/10

– Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Hierzu hatten eigentlich die Kolleginnen und Kolle-
gen Ansgar Heveling, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann,
Raju Sharma und Jerzy Montag reden wollen. Sie geben
ihre Reden zu Protokoll.1) – Einwände dazu sind nicht
erkennbar.

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf der Drucksache 17/3234, in Kenntnis
der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfeh-
lung einstimmig angenommen.

Hierbei handelt es sich um keinen Routinevorgang.
Darauf möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen.
Unbeschadet der Frage, ob und wann ein dazu in den
Verträgen vorgesehenes Quorum zustande kommt,
macht damit der Deutsche Bundestag zum ersten Mal
einvernehmlich Bedenken gegen eine Regelungsabsicht
der Europäischen Kommission deutlich. Wir erwarten,
dass unabhängig von den statistischen Relationen die
Europäische Kommission diesen Hinweis so ernst
nimmt, wie er von diesem Parlament offenkundig ge-
meint ist.


(Beifall im ganzen Hause)


1) Anlage 8





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:

20 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Evaluierung der Neuorganisation der Bundes-
polizei durch einen wissenschaftlichen Sach-
verständigen

– Drucksache 17/3068 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela

(RemsMurr)

der FDP

Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich
fortsetzen – Bundespolizistinnen und Bundes-
polizisten unterstützen

– Drucksache 17/3187 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss

Die Reden der Kollegen Günter Baumann, Stephan
Mayer, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Petra Pau und
Wolfgang Wieland werden zu Protokoll gegeben.


Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1706529800

Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen

sicher leben und stellen mit Recht die Forderung an den
Staat, dass dieser alles in seiner Macht Stehende hierfür
unternimmt. Unter den verschiedenen Sicherheitsbehör-
den nimmt die Bundespolizei auch aufgrund ihrer beson-
deren bundesländerübergreifenden Kompetenz eine
Schlüsselposition ein. Ich möchte heute hier an dieser
Stelle die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Bundes-
polizistinnen und Bundespolizisten für ihre hervorra-
gende Arbeit, die sie täglich für unser aller Sicherheit
leisten, zu bedanken.

Zu den verschiedensten Aufgaben der Bundespolizei
gehören Kontrollen an den Binnengrenzen des Schen-
genraumes, bahnpolizeiliche Aufgaben, Kontrollen an
Flughäfen, die Unterstützung von besonderen Einsätzen,
wie zum Beispiel bei Fußballspielen oder bei Fanmei-
len. Erwähnt werden muss auch, dass die Bundespolizei
nicht nur im Inland ihre wichtige gesetzliche Aufgabe
erfüllt, sondern in vielen Auslandseinsätzen unter ver-
schiedenen Mandaten tätig ist.

Durch die Schengen-Osterweiterung sind entschei-
dende Veränderungen der Bundespolizei und damit eine
umfangreiche Neuorganisation notwendig geworden.
Die hierzu am 25. Januar 2008 im Deutschen Bundestag
beschlossene Reform war richtig, und es gab hierzu
keine Alternative. Die Bundespolizei stand jedoch damit
in wenigen Jahren vor ihrer dritten Reform, wobei diese
nun die Beschäftigten der Bundespolizei vor die größten
und einschneidendsten Veränderungen und Herausfor-
derungen in ihrer Aufgabenwahrnehmung gestellt hat.
Ziele der Neuorganisation sind unter anderen: keine Re-
duzierung der Personalstärke und durch Aufgabenbün-
delung „mehr Personal auf die Straße“ und somit mehr
Effektivität.

Bei mehreren Besuchen bei den Bundespolizistinnen
und Bundespolizisten vor Ort habe ich neben der guten
Arbeit und hohen Motivation auch eine teilweise auf-
kommende negative Stimmung zu einzelnen Folgen der
Neuorganisation registriert. Darunter kann natürlich
sehr leicht auch das Engagement der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter leiden.

Da verschiedene Kritikpunkte über die Umsetzung
der Reform an die Bundestagsabgeordneten aller Frak-
tionen herangetragen wurden, fand im Deutschen Bun-
destag am 5. Juli 2010 eine öffentliche Anhörung zur
Thematik der Neuordnung der Bundespolizei statt. Alle
angehörten Fachexperten waren der Meinung, dass die
eingeleitete Reform notwendig war und diese auch bis
zum Ende durchgeführt werden muss. Ein Nachjustieren
in einzelnen Punkten ist jedoch notwendig.

Hierzu gehört nicht nur die Stärkung in den Ballungs-
räumen und auf den Flughäfen, sondern auch eine aus-
reichende personelle Besetzung der Inspektionen in den
ländlichen Räumen und in den Grenzregionen. Gerade
der Freistaat Sachsen, mit seinen 139 Kilometern
Grenze zur Republik Polen und 453 Kilometern Grenze
zur Tschechischen Republik, ist von einem deutlichen
Anstieg der Kriminalität, insbesondere bei Autodieb-
stählen und Einbrüchen, im Grenzbereich betroffen. In
diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die
Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei, Landespolizei
und Zoll in der Praxis schon gut gelingt, jedoch muss
man auch hier weitere Verbesserungen erreichen, um
Doppelarbeit und Reibungsverluste zu vermeiden.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundes-
polizei wird ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt.
Dies ist ein selbstverständlicher Teil des Berufsbildes,
da die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten mit
dem Wissen leben, dass ihr Einsatzort in ganz Deutsch-
land sein kann. Jedoch muss die letzte Phase der Struk-
turreform in der Bundespolizei gerade im Hinblick auf
die Um- und Versetzungen sozialverträglicher gestaltet
werden. Sicherlich müssen Bundesbeamte bundesweit
einsetzbar sein, jedoch sollte der lokale Bezug zukünftig
bei der Nachwuchsgewinnung eine größere Rolle spie-
len. Deshalb sehe ich das in Frankfurt geplante Modell-
projekt des Bundesministeriums des Innern als einen
Schritt in die richtige Richtung.

Im Zuge der Neugründung des Bundespolizeipräsi-
diums in Potsdam sind Aufgaben aus dem Bundesminis-
terium des Innern dahin übertragen worden. Wichtig ist
in diesem Zusammenhang, dass ein Gleichgewicht zwi-
schen einer Zentralisierung und Entscheidungsbefugnis-
sen für ein sachkundiges Vorgehen vor Ort vorherrschen
muss. Es kann nicht sein, dass ein Einsatzfahrzeug von
der grünen Grenze zur Reparatur 120 Kilometer in die
Werkstatt des zuständigen Präsidiums geschickt wird,
wenn es vor Ort eine Werkstatt gibt.

Günter Baumann


(A) (C)



(D)(B)

Das heißt, dass nunmehr zum einen in der letzten
Phase der Bundespolizeireform die Kernkompetenzen
des Bundespolizeipräsidiums durch das Bundesministe-
rium des Innern klar umrissen und gestärkt werden
müssen. Zum anderen sollte jedoch auch das Subsidiari-
tätsprinzip bei der Aufgabenwahrnehmung wesentlich
stärker als bisher in den Fokus rücken.

Ich möchte nur eine Bemerkung zum Antrag der SPD
machen, einen wissenschaftlichen Sachverständigen mit
einer weiteren Evaluierung zu beauftragen. Wir haben
eine öffentliche Anhörung mit sieben Fachexperten ab-
gehalten, die die Vorzüge, aber auch die Probleme und
Sorgen der Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
dargelegt haben. Hierauf haben wir mit unserem Antrag
reagiert. Eine weitere Evaluierung auf Kosten der Steu-
erzahler halte ich für obsolet. Deshalb kann man den
Antrag der SPD nur ablehnen. Der Antrag von CDU/
CSU und FDP weist in die Richtung, um die begonnene
Bundespolizeireform erfolgreich abzuschließen.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1706529900

Es ist unstrittig, dass die Bundespolizei über eine

sehr hohe Kompetenz verfügt, national wie internatio-
nal. Diese Kompetenz gilt es nicht nur zu erhalten, son-
dern auch für die Zukunft zu sichern und auszubauen.

Der Wegfall der stationären Grenzkontrollen zu
Polen und Tschechien sowie die immer knapper werden-
den Haushaltsmittel haben in den vergangenen Jahren
den Reformdruck auf die Bundespolizei erhöht. Die im
März 2008 begonnene Bundespolizeireform war daher
logische Konsequenz dieser vorgenannten Ereignisse.
Ziel der Neuorganisation der Bundespolizei war es, die
Strukturen zu straffen, um Personalressourcen für ope-
rative Aufgaben zu gewinnen. Durch die Zusammenfas-
sung und Aufwertung der bisherigen Bundespolizeiäm-
ter wurden die regionalen Zuständigkeiten auf allen
Ebenen gebündelt und die vorhandenen Kräfte auf die
Schwerpunkte der bundespolizeilichen Arbeit verteilt.
Die vorgenannten Reformziele haben sich bisher insbe-
sondere auf die Behördenstruktur und somit natürlich
auch auf die Beschäftigten ausgewirkt.

Sowohl die Stellungnahme des Bundesministeriums
des Innern als auch die Anhörung im Innenausschuss am
5. Juli 2010 haben gezeigt, dass die Umsetzung der Re-
form nach wie vor andauert. Auch wenn viele Strukturen
bereits aufgebaut wurden – beispielsweise das Bundes-
polizeipräsidium in Potsdam –, befinden wir uns derzeit
erst in der dritten von vier Phasen der Personalumset-
zung. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum jetzt
durch einen unabhängigen Sachverständigen eine um-
fassende Evaluation vorgenommen werden soll. Eine
umfangreiche Bewertung käme aus meiner Sicht allen-
falls nach Abschluss der Reform in Betracht, aber doch
nicht mitten in der Phase der Personalumsetzung. Daher
ist der Antrag der SPD-Fraktion schlicht abzulehnen. Er
ist zur Unzeit gestellt und würde nur zu einer Behinde-
rung des weiteren Vollzuges der Reform führen. Er ist
somit keineswegs dienlich.

Im Übrigen haben wir sowohl durch den Bericht des
Bundesministeriums des Innern als auch durch die öf-
Zu Protokoll
fentliche Anhörung im Innenausschuss bereits ein sehr
gutes Abbild der derzeitigen Situation bei der Bundes-
polizei erhalten. Ergänzend darf ich anmerken, dass wir
zudem als CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag
stets intensiven Kontakt zu den Inspektionen und Direk-
tionen vor Ort unterhalten.

Eine Versetzung stellt einen tiefgreifenden Einschnitt
in den persönlichen Lebensabschnitt eines Beamten dar.
Aber auch eine zeitweilige dienstliche Abordnung, die
mit mehrstündigen täglichen Reisezeiten verbunden sein
kann, kann letztlich zum gleichen Ergebnis führen – ei-
ner hohen psychischen und physischen Belastung für
den Beamten und sein Umfeld. Auch wenn vielen Bun-
despolizisten ihre Verpflichtung zur Mobilität und Flexi-
bilität bewusst ist, stellt sie die derzeitige Situation vor
große Herausforderungen. Lassen Sie mich das in einem
Beispiel näher ausführen: Selbst wenn sie einem festen
Standort im ländlichen Raum, wie beispielsweise Rosen-
heim, fest zugewiesen sind, kann für Sie die Verpflich-
tung bestehen, täglich am Flughafen München tätig zu
werden. Dies beruht auf dem nach wie vor vorhandenen
Personalmangel – zahlreiche Dienstposten sind auch in
der Bundespolizeidirektion München unbesetzt –, aber
auch den noch nicht abgeschlossenen Versetzungsmaß-
nahmen als Bestandteil der Reform der Bundespolizei.
Der vorliegende Antrag der christlich-liberalen Koali-
tion geht auf diese Belange ein und versucht, die für
viele unbefriedigende Situation kurz- und mittelfristig zu
verbessern. Er ist daher für mich ein richtiges Signal zur
richtigen Zeit.

Angesichts dessen, dass die meisten Aufgriffe von un-
erlaubt Eingereisten derzeit an deutschen Flughäfen er-
folgen, ist auch das im Antrag angeregte besondere Au-
genmerk auf die Personalsituation an den Flughäfen
nachvollziehbar. Schließlich reisten alleine am Flugha-
fen Frankfurt am Main und dem Flughafen München in
den ersten sechs Monaten dieses Jahres fast 2 000 Men-
schen unerlaubt ein. Mehr als 100 davon wurden von or-
ganisierten Schleuserbanden in die Bundesrepublik
Deutschland geschickt. Da in den nächsten Jahren mit
einem weiteren Anstieg der Passagierzahlen im grenz-
überschreitenden Flugverkehr zu rechnen ist, wird die
Situation an den Flughäfen sicher weiter fortbestehen.

Ich warne jedoch davor, dass die Stärkung der Flug-
häfen zum Nachteil des ländlichen Raumes geschieht.
Gerade die Aufgriffszahlen der Bundespolizeidirektion
München für die deutsch-österreichische Grenze bele-
gen, dass nach wie vor auch im ländlichen Raum viele
Aufgriffe erfolgen. Alleine an dieser Grenze werden
40 Prozent aller illegal nach Deutschland auf dem
Landweg einreisenden Personen aufgegriffen. Aber
nicht nur die Vielzahl, sondern auch die Qualität der
Aufgriffe ist von besonderer Bedeutung. So konnten bei-
spielsweise mehrere Mitglieder der italienischen Mafia
in den letzten Monaten in Südbayern aufgegriffen wer-
den.

Insgesamt stieg die Anzahl der erfassten Verdächti-
gen im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vergleichs-
zeitraum im Vorjahr sogar um fast 300 Prozent in Bay-
ern. In absoluten Zahlen sind dies 2 364 Verfahren, die



gegebene Reden

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

nach durchgeführten Kontrollen eingeleitet werden
konnten. Vergleicht man diese Zahl mit der vorgenann-
ten Zahl an illegal Eingereisten an den beiden größten
deutschen Flughäfen Frankfurt am Main und München,
wird die Relevanz der Kontrollen im ländlichen Raum
sichtbar. Hinzu kommt, dass alle Routen illegaler Mi-
gration, sei es über Italien oder den Balkan, letztlich
über die deutsch-österreichische oder aber die deutsch-
tschechische Grenze nach Bayern führen. Es ist bekannt
und belegt, dass diese Routen vornehmlich für illegalen
Drogen- und Menschenhandel genutzt werden. Die Auf-
griffszahlen aus dem letzten Jahr und den ersten Mona-
ten dieses Jahres belegen dies nachdrücklich.

Für mich muss daher auch der ländliche Raum aus
der Reform der Bundespolizei gestärkt hervorgehen. Die
Höhe der Aufgriffszahlen belegt, dass die Kompetenz
und Erfahrung der Bundespolizei auch dort unverzicht-
bar ist.


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1706530000

Anfang März dieses Jahres legte uns das Bundesin-

nenministerium einen „Evaluationsbericht“ zur Neuor-
ganisation der Bundespolizei vor. Den Begriff „Evalua-
tionsbericht“ muss man an dieser Stelle mit Absicht mit
Anführungszeichen versehen, denn er ist kaum das Pa-
pier wert, auf dem er steht. Neben der dürftigen Fakten-
lage, mit der er aufwartet, wird eines sehr deutlich: Die
Schlüsse, die der Bericht aus den erhobenen Fakten
zieht, stimmen in keiner Weise mit den polizeilichen Rea-
litäten der Beamtinnen und Beamten vor Ort überein.
Da sprechen die Ergebnisse der Beerlage-Studie der
Hochschule Magdeburg-Stendal vom September 2009,
die jedem vierten Angehörigen der Bundespolizei das
Burn-Out-Syndrom attestiert, eine andere Sprache.
Nach dieser Studie fühlen sich 65 Prozent der Beamtin-
nen und Beamten zu wenig mit ihrer Organisation ver-
bunden. Die umfangreiche Umstrukturierung der Orga-
nisation, die mit der Reform einherging, hat diese
Probleme noch verschärft. Denn den Beamtinnen und
Beamten wird mit Abordnungen, Mehrarbeit und der Er-
bringung von Kennzahlen sehr viel zugemutet. Die Zu-
friedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war zu
keinem Zeitpunkt relevantes Organisationsziel der Re-
form, die sich damit gravierend negativ von den Organi-
sationszielen der Länderpolizeien unterscheidet. Im vor-
liegenden Bericht wird demnach auch nicht auf die
Mitarbeiterzufriedenheit eingegangen.

Der damalige Bundesinnenminister Schäuble be-
gründete die Reform mit der veränderten Sicherheits-
lage im Zuge des weltweiten Terrorismus und des
fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses.
Insbesondere die Tatsache, dass Deutschland seit 2007
nur noch von Ländern, die dem Schengen-Abkommen
angehören, umgeben ist und deshalb die Grenzkontrol-
len wegfallen, war der Anlass, die bisherigen Strukturen
zu überdenken und zu verschlanken.

Jedoch wurde im Zuge der Reform eins nicht getan:
Es wurde nicht evaluiert, wie sich die Lage nach der Öff-
nung der Grenzen verändern würde. Nun, mit Vorlage
dieses Berichts, lässt sich unschwer erkennen, dass es
Zu Protokoll
falsch war, die Präsenz im ehemaligen Grenzgebiet zu
reduzieren, denn es gibt einen signifikanten Anstieg von
Eigentumsdelikten und illegaler Migration. Von dem
weiteren Reformziel, der so oft zitierten Bekämpfung des
internationalen Terrorismus, spricht der Bericht schon
gar nicht mehr.

An dieser Stelle ist bereits festzustellen, dass der
Zweck der Reform nicht erreicht wurde. Aber auch die
organisatorischen Ziele wurden weitestgehend nicht um-
gesetzt. Mit der Reform sollte die operative Basis deut-
lich gestärkt werden. Die Präsenz in der Fläche sollte
spürbar ansteigen. Die Losung lautete, 1 000 Beamtin-
nen und Beamte mehr auf die Straße zu bringen. Den-
noch wurde die Anzahl der Inspektionen von 128 auf 77
reduziert. Damit betreuen die Beamtinnen und Beamten
flächenmäßig ein viel größeres Gebiet; eine stärkere
Präsenz in der Fläche ist damit nicht zu erreichen. Die
zusätzlichen Reviere können dabei nur wenig Abhilfe
schaffen. Denn weil viele Aufgaben vom Bundespolizei-
präsidium in Potsdam gesteuert werden, wird der Ver-
waltungsaufwand für die Beamtinnen und Beamten vor
Ort deutlich größer.

Erschwerend kommt hinzu, dass eine große Anzahl
von Beamtinnen und Beamten an Flughäfen abgeordnet
wird – etwa 450 – oder im Auslandseinsatz – etwa 400 –
ist. Außerdem gibt es zu wenig Neueinstellungen, sodass
sich die personelle Situation der Bundespolizei insge-
samt verschärft. Ausweislich des Bundeshaushaltes
2005 Einzelplan 06 hatte die Bundespolizei im Jahr
2004 nur 648 eingerichtete Beamtenplanstellen nicht
besetzt. Nach dem Bundeshaushaltsgesetz 2010 sind
diese unbesetzten Beamtenplanstellen im Jahr 2009 auf
inzwischen 1 195 Stellen angewachsen. Durch dieses ge-
stiegene Fehl kann kaum von einer „Stärkung der ope-
rativen Basis“ die Rede sein. Darüber hinaus hat die
Bundespolizei 500 Dienstposten – Funktionen im ODP –
mehr eingerichtet, als sie haushaltsmäßig über Planstel-
len verfügt. Im Ergebnis werden dadurch nach der
kompletten personalwirtschaftlichen Umsetzung der
Neuorganisation mehr als 1 800 eingerichtete Arbeits-
plätze nicht besetzt sein.

Das Ziel, mehr Polizisten auf die Straße zu bringen,
wurde somit deutlich verfehlt. Es gibt eine Organisa-
tionsstruktur, die bezogen auf die breite Fläche misslun-
gen ist. Dort, wo jetzt Inspektionen sind, wären Reviere
vielleicht angebrachter und umgekehrt. Sicherheitsdefi-
zite sind vorprogrammiert. Dem steht entgegen, dass die
Anzahl der Plätze in den Direktionen, in den Leitungs-
stäben und anderswo zum Teil um bis zu 200 Prozent
aufgestockt wurde. Das ist ein krasses Missverhältnis
und steht im Gegensatz zu dem, was Ansatz der Bundes-
polizeireform war.

Da die Aufgaben der früheren Präsidien nun einfach
auf die neuen Direktionen übertragen werden, führte die
Abschaffung der Bundespolizeipräsidien als Mittelbe-
hörde nicht zum gewünschten Erfolg. Die operative Ba-
sis wurde nicht gestärkt. Es gibt entgegen der Ankündi-
gung vor der Reform weniger Präsenz in der Fläche.
Die Neuorganisation hat zu einem organisatorischen



gegebene Reden

Wolfgang Gunkel


(A) (C)



(D)(B)

und personellen Chaos geführt, das schnellstmöglich
beendet werden muss.

Dem drohenden Personalkollaps innerhalb der Bun-
despolizei muss dringend Einhalt geboten werden. Es
kann nicht sein, dass immer weniger Beamtinnen und
Beamte eine immer größere Fülle von Aufgaben erledi-
gen müssen. Der Bereich der Neueinstellungen wurde
sträflich vernachlässigt. Hier gilt es, anzusetzen und
verstärkt um Anwärterinnen und Anwärter zu werben.

Die Sozialverträglichkeit der Umsetzung war eine
große Überschrift der Reform, sie wird aber nicht er-
reicht. In Wirklichkeit verspielt das Bundesinnenminis-
terium mit dieser Reform die Einsatzfähigkeit der Bun-
despolizei. Die Darstellung des Bundesinnenminis-
teriums, dass mit dem Abschluss von Dienstvereinbarun-
gen für die Beamten und Tarifbeschäftigten die Neuor-
ganisation sozialverträglich umgesetzt wird, entspricht
nicht dem bisherigen Verlauf der Umsetzung der Neuor-
ganisation. Dass die Dienstvereinbarungen im Maßstab
1 : 1 umgesetzt wurden, ist einzig und allein den zustän-
digen Personalvertretungen zu verdanken. Bei Ab-
schluss des ersten und zweiten Schrittes der Reform war
jeweils ein Beschluss des Bundespolizeihauptpersonal-
rates erforderlich, um vor Beginn des nächsten Umset-
zungsschrittes die vereinbarten Bilanzierungen durchzu-
führen. Es gibt eine Vielzahl berechtigter Beschwerden
und Klagen von Beamtinnen und Beamten, die aus so-
zialen Gründen nicht versetzt werden wollen, trotzdem
aber versetzt werden sollen, um die Fehlorganisation
auszugleichen.

Die soziale Betroffenheit derjenigen, die nach dem
sozialen Ausleseprozess von heimatferner Verwendung
betroffen sind und noch betroffen sein werden, mildern
diese Vereinbarungen allerdings nicht. Besonders Be-
schäftigte in unteren und mittleren Einkommensgruppen
laufen dabei Gefahr, ihre Existenz und ihre finanzielle
Zukunft zu riskieren. Das ist in unseren Augen keine So-
zialverträglichkeit, sondern in vielen Fällen eine Zumu-
tung. Wenn sich Bedienstete dann gegen Zwangsverset-
zungen wehren oder krank werden, bleiben wichtige
Planstellen unbesetzt.

Extrem defizitär ist die Situation in der Aus- und
Fortbildung. Dieser Bereich wurde im Zuge der Vorbe-
reitung der Neuorganisation nicht tiefgründiger analy-
siert, was sich nun rächt. Die Bundespolizei hat seit Jah-
ren schlichtweg zu wenig Nachwuchs eingestellt und ist
auch mit ihrer Struktur der Personalwerbung und der
Schwerpunktbestimmung von Werberäumen hoffnungs-
los abgehängt. Insgesamt besteht das Problem der
Überalterung der Bundespolizei, so sind über 2 500 Po-
lizeiobermeister älter als 40 Jahre.

Inzwischen gibt es extreme Kapazitätsengpässe. So
waren die Kapazitäten der Bundespolizeiakademie und
der Aus- und Fortbildungszentren bereits im Jahr 2008
zu 84 Prozent mit Ausbildungsaufgaben ausgelastet, im
Jahr 2009 zu 92 Prozent. Das führt dazu, dass bereits
heute kaum noch zentrale Fortbildungsmaßnahmen an-
geboten werden können. Es droht eine sich permanent
wandelnde Bundespolizei, die ihre Mitarbeiter aus Ka-
pazitätsgründen nicht fortbilden kann. In der Folge
Zu Protokoll
kommt es zum Entzug von Polizeibeamten – vor allem
des gehobenen Dienstes – aus der operativen Linie und
ihren Abordnung in die Ausbildungsorganisation, um
die Ausbildung sicherstellen zu können.

Wir Sozialdemokraten wollen, dass das Bundesinnen-
ministerium das Versprechen von der sozialverträgli-
chen Umsetzung einhält und die Beamtinnen und Beam-
ten zu ihrem Recht kommen. Wir fordern die schnellst-
mögliche Besetzung der 1 195 unbesetzten Stellen bei
der Bundespolizei, um die Überbelastung der Beamtin-
nen und Beamten abzubauen.

Die Arbeitszeit – besonders für Schichtdienstleis-
tende – muss wieder auf ein erträgliches Maß zurückge-
führt werden. Wir fordern eine regelmäßige Untersu-
chung der sozialverträglichen Umsetzung in Intervallen
von sechs Monaten. Aus unserer Sicht müssen sofort
Maßnahmen ergriffen werden, welche die Bezeichnung
„sozialverträglich“ auch verdienen. Der Bundesrech-
nungshof bestätigt mit seinem Prüfbericht, dass der
Personalbedarf der sogenannten bundespolizeilichen
Schwerpunktdienststellen – wie Bahnhöfen und Flughä-
fen – nicht auf Dauer durch Abordnungen aus Dienst-
stellen in den Personalabbaubereichen abgefedert wer-
den kann. Die massenhaften Abordnungen durch das
Bundespolizeipräsidium müssen ein Ende haben und
dürfen nicht noch stetig gesteigert werden. Familien
dürfen nicht vierteljährlich und wiederholt getrennt
werden. Wenn Abordnungen erfolgen, dann müssen sie
ein logisches polizeitaktisches System erkennen lassen.
Die Verwaltungsservicestellen, die bisher befristet wer-
den, sind umgehend zu entfristen und im ODP der Bun-
despolizei auf Dauer einzurichten.

Mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforde-
rungen im Ausland und dem Wegfall der östlichen
Schengen-Außengrenzen leiden die Flughäfen unter be-
sonderen Belastungen. Zum einen sind sie nun an Stelle
der alleinig bisherigen Landesgrenzen neue Schengen-
Grenze, auf der anderen Seite bedienen überwiegend die
Flughafendienststellen die Auslandseinsätze der Bun-
despolizei.

Das Ergebnis der Organisationsüberprüfung aus dem
Jahr 2008 wurde bis heute nicht umgesetzt, der Organi-
sations- und Dienstpostenplan dementsprechend nicht
angepasst. Das hat zur Folge, dass die Flughafendienst-
stellen mit einem Organisations- und Dienstpostenplan
ausgestattet sind, der auf Daten zurückliegender Jahre
basiert. Auf wechselnde Bedingungen, wie zum Beispiel
Ausbauplanungen in Berlin und Frankfurt am Main und
damit verbundene steigende Fluggastzahlen, kann somit
nicht reagiert werden. Im Ergebnis muss das Bundes-
polizeipräsidium regelmäßig auf Abordnungen aus an-
deren Dienststellen oder der Bundesbereitschaftspolizei
zurückgreifen, um die Flughafendienststellen zu ver-
stärken. Die im Bericht angesprochenen Abordnungen
von Beamtinnen und Beamten aus den sogenannten Per-
sonalüberhangbereichen der Direktionen Bad Bram-
stedt, Berlin und Pirna an die Flughäfen sind kritisch zu
betrachten.

Das bitter notwendige Umsteuern im System der Per-
sonalgewinnung und -steuerung für die Flughafen-



gegebene Reden

Wolfgang Gunkel


(A) (C)



(D)(B)

dienststellen wurde zwei Jahre lang nicht bearbeitet.
Insgesamt sind gegenwärtig circa 850 Polizeibeamtin-
nen und -beamte innerhalb ihrer Direktionen und circa
450 Polizeibeamtinnen und -beamte zu Dienststellen au-
ßerhalb ihrer Direktionen – Flughäfen – abgeordnet.
Das entspricht in etwa dem Personalfehl, welches durch
sträfliche Vernachlässigung von Neueinstellungen ent-
standen ist.

Das Bundesinnenministerium versichert in seinem
Bericht, dass die Anzahl der erforderlichen Polizeivoll-
zugsbeamten grundsätzlich jährlich nach einheitlichen
Kriterien und auf Grundlage bundesweit gültiger Fach-
konzepte überprüft werde. Dem steht entgegen, dass seit
den Vorfällen im Dezember 2009 – Stichwort: Detroit –
keine großen Veränderungen, die zur Verbesserung der
Sicherheit beigetragen hätten, erfolgt sind. Damit ist
diese Aussage des Bundesinnenministeriums anzuzwei-
feln. Sollte es wirklich eine derartige jährliche Überprü-
fung geben, so müsste im Ergebnis zutagetreten, dass
der Organisations- und Dienstpostenplan und der damit
verbundene Dienstpostenansatz zukünftig anzupassen
ist.

Die Aufgabenwahrnehmung an den Flughäfen ist
eine Kernkompetenz der Bundespolizei; sie muss auch
als solche behandelt werden. Wir wollen, dass die Stel-
len langfristig fest besetzt sind und nicht durch Abord-
nungen aus anderen Bereichen ersetzt werden. Die Per-
sonalzumessung muss so gestaltet sein, dass die Anzahl
der Abordnungen so gering wie möglich ausfällt. In der
Konsequenz fordern wir eine gezielte regionale Einstel-
lungspolitik. Wir favorisieren dabei regionale Werbe-
maßnahmen zur Personalgewinnung für die Bundespoli-
zei. Der Dienst nach der Ausbildung muss schon in der
Ausbildung regional planbar sein. Freie Dienstposten,
die bis heute nicht vollständig besetzt sind, obwohl die
finanziellen Mittel, nämlich Planstellen, schon lange
vorhanden sind, müssen als Erste besetzt werden.

Es gibt noch viele Baustellen bei der Umsetzung die-
ser Reform, einer Reform, die ich schon von Anfang an
kritisch begleitet und als überstürzt betrachtet habe. Die
von mir angesprochenen Problempunkte wurden von mir
bereits vor zweieinhalb Jahren benannt. Die Sachver-
ständigenanhörung am 5. Juli hat zum großen Teil
meine Ansichten bestätigt. Die Anhörung belegte zudem
sehr deutlich, dass die Evaluierung der Reform nur sehr
unzureichend gelungen ist, der Bedarf an einer sachge-
rechten Bewertung ist sogar noch größer geworden. Es
steht nicht zu erwarten, dass eine erneute interne Unter-
suchung objektivere Ergebnisse bringt. Wir fordern des-
halb, dass die Bundespolizeireform durch einen wissen-
schaftlichen Sachverständigen untersucht wird, der im
Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bestellt
wird. Ich bitte um Unterstützung dieser Forderung und
unseres Antrags.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1706530100

Die Bundespolizei befindet sich derzeit noch in der

dritten großen Strukturreform. Reformen bringen immer
Unruhe, Verwirrungen und Unzufriedenheit mit sich.
Die Reform ist noch nicht abgeschlossen, aber wir wol-
Zu Protokoll
len auch keine Dauerreform der Bundespolizei. Wir wol-
len, dass die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
im Interesse unserer Sicherheit ihren Job machen kön-
nen. Das brauchen wir – und nicht Unruhe und Unzu-
friedenheit.

Diese Unruhe und Unsicherheit liegt vielleicht auch
daran, dass die Reformvorhaben erst zu spät bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Beamtinnen
und Beamten angekommen sind, diese also quasi vor
vollendete Tatsachen gestellt wurden.

Weil wir nicht wollen, dass nun auf die Reform die
Reform der Reform folgen soll und alles wieder auf den
Kopf gestellt wird, ist die christlich-liberale Koalition
der Überzeugung, dass Fehlentwicklungen begegnet
werden muss, aber innerhalb des nun vorgegebenen
Konzepts. Denn das, was vielleicht in der Wirtschaft
üblich ist, dass eigentlich die Reorganisation der Nor-
malfall ist, das wollen wir den Mitarbeitern der Bundes-
polizei nicht zumuten, und das können wir nicht verant-
worten, weil es um die Sicherheit zum Beispiel an den
Grenzen und an den Flughäfen geht, die Verlässlichkeit
braucht.

Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf – und
wir wissen, dass diese Forderungen vom Bundesinnen-
ministerium aufgegriffen werden –, die Dinge zu ändern,
die aus der Reform einen Erfolg machen können.

Wenn ich hier auf die SPD-Position schaue, dann
muss ich mir hingegen verwundert die Augen reiben. Ich
frage hier mal: Wer hat es erfunden? Das waren doch
Sie, die SPD, in der vorigen Wahlperiode. Das waren
doch Sie, die SPD, die eine Reform mitgetragen hat, die
die Mitarbeiter nicht mitgenommen hat. Wo waren denn
da Ihre mahnenden Worte? Wo war denn die gelebte So-
zialdemokratie, als es um die Belange der Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter ging, die vor den Kopf gestoßen
wurden? Jetzt verlangen Sie scheinheilig eine externe
Evaluation. Da hätten Sie vielleicht vorher mal – ganz
intern – in sich gehen können, bevor Sie so ein Projekt
absegnen.

Wir, die FDP-Fraktion, haben die Bundespolizeire-
form skeptisch gesehen. Das will ich gar nicht verheh-
len. Aber wir wollen die Bundespolizistinnen und Bun-
despolizisten, die sich gerade in der neuen Struktur
zurechtfinden wollen und müssen, nicht nochmals vor
eine Reorganisation im Stile einer Umwälzung stellen.
Vielmehr wollen wir nun ihre Bedenken, ihre Erfahrun-
gen, ihre Anregungen aufnehmen, um es besser zu ma-
chen.

Denn die Bundespolizei muss ihre Aufgaben wahr-
nehmen können – und dazu braucht sie engagierte Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in ihrer Organi-
sation angenommen fühlen und sich einbringen, die ihre
Arbeit gut machen wollen und können. Genug zu tun gibt
es für die Bundespolizei dabei: Nach der Schengen-
Osterweiterung sind die Aufgaben an den östlichen Bun-
desgrenzen ja nicht auf einmal weggefallen, sondern die
Bundespolizei steht vor neuen Herausforderungen.
Durch die Zunahme des Reiseverkehrs an Flughäfen und
die zunehmende Zahl von Menschen in Ballungsräumen



gegebene Reden

Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)

stehen die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
vor anspruchsvollen Aufgaben, für die stetig ausrei-
chend Personal vorhanden sein muss.

Notwendig ist auch ein langfristiges Personalent-
wicklungskonzept, damit die Bundespolizei sich für die
Zukunft richtig aufstellen kann. Dazu gehören die Nach-
wuchswerbung ebenso wie die Aufstiegschancen inner-
halb der Bundespolizei, die Auslandseinsätze ebenso
wie die Spezialisierung, die in einer zunehmend komple-
xen Welt bei den Sicherheitsbehörden allenthalben er-
forderlich ist.

Verantwortung muss man übernehmen – und man
muss dafür auch die entsprechenden Freiräume haben,
um sie auszufüllen. Deshalb wollen wir, dass das Bun-
despolizeipräsidium in seinen Kernaufgaben gestärkt
wird, um seiner Verantwortung eigenständig auch nach-
kommen zu können, zugleich aber die Entscheidungs-
ebenen vor Ort in angemessener Weise berücksichtigt
werden, denn vieles muss nicht zentral geregelt werden.
Wir setzen uns nicht für zentralisierte Entscheidungen
fernab der Belange vor Ort, fernab der Belange und der
Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer
alltäglichen Arbeit ein, sondern wollen die Entschei-
dungskompetenz da verorten, wo sie hingehört.

Die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten ver-
dienen unseren Respekt und unseren Dank für die Wahr-
nehmung vielfältiger Aufgaben. Der Antrag der christ-
lich-liberalen Koalition gibt diesem Ausdruck.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706530200

Die Reform der Bundespolizei, über die wir heute re-

den, wurde 2008, vor nunmehr zweieinhalb Jahren, vom
Bundestag beschlossen. Im Juni 2010, also vor vier Mo-
naten, fand im Innenausschuss eine Expertenanhörung
statt. Das Fazit: Keins der vorgegebenen Reformziele
wurde erreicht. Wie ein Sachverständiger es zuspitzte:
Die Geschichte dieser Reform ist ein Paradebeispiel da-
für, wie man es nicht machen sollte. Kurzum, das Urteil
der Fachleute war mehr oder weniger vernichtend.

Im Bundesinnenministerium sah man das natürlich
anders. Die interne Überprüfung habe ergeben, dass die
Reform der Bundespolizei im Großen und Ganzen gelun-
gen sei. Wir kennen dieselben Fehleinschätzungen auch
von anderen Beispielen, etwa von Überprüfungen der
Sicherheitsgesetze. Deshalb noch mal ganz klar: Über-
prüfung bedeutet nicht, dass sich das Bundesinnen-
ministerium selbst bescheinigt, es sei alle Zeiten super.

Ich will hier nur die offensichtlichsten Mängel kurz
auflisten. Erstens, die Präsenz der Bundespolizei in der
Fläche ist ebenso wenig gesichert wie die Sicherheit an
Brennpunkten, seien es Flughäfen oder Bundesgrenzen
im Süden und im Osten. Zweitens, es gibt einen eklatan-
ten Widerspruch zwischen dem, was an Personal und
Ausstattung nötig wäre, und dem, was an Personal und
Ausstattung gewährt wird. Drittens, beide Diskrepan-
zen, die mangelnde Präsenz und die Unterausstattung,
werden auf Kosten der Beschäftigten und zulasten ihrer
Familien übertüncht. Viertens, praktisch unbeantwortet
ist auch die Frage, wie der Beruf einer Bundespolizistin
Zu Protokoll
bzw. eines Polizisten auch künftig attraktiv sein könnte.
Es fehlt ein Zukunftsplan.

Fehlende Ressourcen, demotiviertes Personal, man-
gelnde Perspektiven und löchrige Sicherheit – ein
schlechteres Zeugnis kann man einer sogenannten Re-
form nicht aussprechen. Ich will als Linke nicht uner-
wähnt lassen: einer Reform unter CDU-Führung. Die
Fraktion Die Linke fordert daher dreierlei: Erstens, die
Ergebnisse bzw. Mängel der bisherigen Reform der Bun-
despolizei sind durch unabhängige Sachverständige zu
überprüfen. Zweitens, die Fehlentwicklungen, insbeson-
dere die, die zulasten der Beschäftigten gehen, sind un-
verzüglich zu korrigieren. Drittens, bei allen weiteren
Schritten sind die Beschäftigten und ihre Gewerkschaf-
ten endlich ernst zu nehmen und einzubeziehen.

Abschließend will ich für die Fraktion Die Linke al-
lerdings noch einmal grundsätzlich unterstreichen: Alle
Gelüste, die öffentliche Sicherheit zunehmend privaten
Anbietern anzudienen und die Polizei zweckfremd einzu-
setzen, werden wir nicht hinnehmen. Ich sage das so all-
gemein und für manche auch kryptisch, weil bisher nie
offen gesagt wurde, welchem Sinn und Zweck diese Re-
form der Bundespolizei eigentlich folgte und welche
politischen Absichten möglicherweise wirklich dahinter
stecken. Wir erleben immer wieder Vorstöße, mit denen
die Trennungsgebote des Grundgesetzes zwischen Poli-
zeien, Bundeswehr und Geheimdiensten aufgeweicht
werden sollen. Die Linke wird daher auch alle weiteren
Reformen der Bundespolizei mit genau diesem Argwohn
begleiten.


Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706530300

Als der damalige Bundesinnenminister Wolfgang

Schäuble die Bundespolizeireform in Gang setzte, da
dachte er, er bräuchte für dieses Vorhaben noch nicht
einmal ein Gesetz. Dem Organisationserlass folgte dann
doch noch ein Gesetz und Anfang des Jahres dann die
erste Beurteilung der Folgen der Reform. In dieser Be-
urteilung kommt das Bundesinnenministerium – man
kann das ruhigen Gewissens so zusammenfassen – zu
dem Ergebnis: Alle Ziele sind erreicht oder mindestens
sehr weit gediehen, ein richtiger Plan wurde gut umge-
setzt, und die Zeit wird vielleicht doch noch verbliebene
Wunden schon heilen.

Den Leser dieser Bewertung beschlichen von Anfang
an die Zweifel, dass so ein großes Projekt so problemlos
umgesetzt werden kann. Denn mit der Reform wurde
gleichzeitig dreierlei getan: Erstens wurde die Organi-
sation massiv umgekrempelt, es wurden Standorte ge-
nauso verändert wie die ganze Struktur und die Zustän-
digkeiten. Zweitens wurde die Leitung neu gestaltet und
vom Ministerium in eine neue Oberbehörde verlegt –
das Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Drittens wur-
den die Ziele und Aufgaben teilweise neu definiert. Das
hat zur Folge, dass eine große Zahl von Polizistinnen
und Polizisten neue Aufgaben an einem neuen Ort über-
nehmen müssen, dass Verwaltungsabläufe neu gestaltet
werden müssen, dass Stellen noch zu besetzen sind.

Dass alles im Fluss ist, spiegelt sich auch in den vie-
len, vielen Zuschriften und Stellungnahmen, die wir In-



gegebene Reden





Wolfgang Wieland


(A) (C)



(D)(B)

nenpolitiker erhalten haben. Praktiker aus den Inspek-
tionen und den Revieren haben eine sehr viel kritischere
Einschätzung als das Innenministerium. Sie klagen über
einen regelrechten Bürokratieverhau an Vorgaben, For-
mularen, zu sammelnden Kennzahlen, über unbesetzte
Stellen und darüber, dass die Reform insgesamt dazu ge-
führt hat, dass mehr Zeit am Schreibtisch verbracht wird
und darunter die eigentliche Kernaufgabe, nämlich Si-
cherheit zu schaffen, leidet. Nicht zuletzt leiden auch
viele Beamtinnen und Beamte unter der Reform, sei es
durch Umzüge oder durch Überstunden.

Dass es diese Probleme gibt, haben unisono alle
Sachverständigen bestätigt, die wir im Juli im Innenaus-
schuss angehört haben. Immerhin hat diese Einstimmig-
keit bei der Bundesregierung zu der Einsicht geführt,
dass wohl doch nicht alles von alleine geht. Das räumen
die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag ja auch mehr
oder weniger freimütig ein.

Um die Probleme nun ehrlich angehen zu können,
braucht es aber nicht das, was die Koalition will, näm-
lich mehr Selbstbeurteilung des Ministeriums. Das führt
vielleicht zur Lösung der auffälligsten Probleme. Aber
es ist nicht der richtige Weg, um wirklich zu erfassen, wo
die Probleme stecken und wie die Lösung aussehen
könnte. Deswegen unterstützen wir die Forderung der
SPD, wissenschaftlichen Sachverstand hinzuzuziehen,
um eine umfassende, professionelle Evaluierung durch-
zuführen. Das darf nicht nur heißen, dass jemand das
BMI berät, wie es sich am besten selbst evaluiert. Es
muss bedeuten: Sachverständige evaluieren Organisa-
tion und Praxis der Bundespolizeireform. Nur so lassen
sich die Missstände wirklich angehen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706530400

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen

auf den Drucksachen 17/3068 und 17/3187 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 21:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für eine Normalisierung der Beziehungen der
Europäischen Union zu Kuba

– Drucksache 17/3188 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Holger
Haibach, Dr. Egon Jüttner, Klaus Barthel, Marina Schuster,
Sevim Dağdelen und Hans-Christian Ströbele ihre Reden
zu Protokoll.

Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1706530500

Das politische und wirtschaftliche Modell Kubas ist

nicht zukunftsfähig und dringend reformbedürftig. Zu
dieser Einsicht ist mittlerweile sogar die kubanische
Führung selbst gelangt und hat daher kürzlich beschlos-
sen, stärker auf marktwirtschaftliche Elemente im Wirt-
schaftssystem des Landes zu setzen. In vielen Bereichen
der Wirtschaft ist nunmehr privates Unternehmertum
möglich, gleichzeitig wird die aufgeblähte Zahl der
Staatsbediensteten drastisch reduziert. Manche Kom-
mentatoren sehen hierin bereits den Beginn einer kuba-
nischen Perestroika. Einzig die Fraktion Die Linke stellt
sich gegen die Zeichen der Zeit und legt uns heute einen
Antrag vor, der sich liest, als wären wir noch in den
sechziger Jahren und als würde sich das kommunisti-
sche und planwirtschaftliche System Kubas immer noch
als eine ernsthafte Konkurrenz zu liberalem Rechtsstaat
und sozialer Marktwirtschaft in der Region präsentie-
ren. Das kubanische System ist aber von Grund auf ma-
rode und eine grundlegende Verbesserung der Beziehun-
gen zwischen Europa und Kuba kann nur die Folge
tiefgreifender Reformen und einer Öffnung des Landes
sein.

Es ist ja richtig, dass sich Kuba bemüht, uns ein Stück
weit entgegenzukommen. So muss wohl jedenfalls die
Freilassung der in dem Antrag erwähnten 52 Dissiden-
ten verstanden werden. An sich wäre diese Freilassung
ja auch zu begrüßen, wenn ihre Begleitumstände nicht
so tragisch wären. Was die Kollegen von der Linksfrak-
tion in ihrem Antrag unter den Tisch fallen lassen, ist
nämlich, dass diese 52 Dissidenten nicht einfach nur aus
ihren Zellen entlassen wurden. Sie wurden vielmehr di-
rekt nach ihrer Freilassung nach Spanien abgeschoben
und ihnen wurde de facto die Staatsbürgerschaft entzo-
gen. Solange das kommunistische Regime in Kuba
herrscht, werden diese Menschen ihre Heimat nicht wie-
dersehen können. Einen solchen Umgang mit unliebsa-
men Menschen durch eine kommunistische Diktatur ken-
nen wir Deutschen aus unserer eigenen Geschichte, und
er ist weder zu begrüßen, noch sollte er von uns oder der
EU belohnt werden. Wir müssen vielmehr weiterhin auf
Kuba einwirken, alle politischen Gefangenen bedin-
gungslos freizulassen und das Regime zu demokrati-
schen Reformen ermutigen. Das ist auch kein Verstoß
gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot,
wie es in dem Antrag behauptet wird. Das Eintreten für
die weltweite Durchsetzung von Demokratie und Men-
schenrechten sollte vielmehr eine Selbstverständlichkeit
für alle Demokraten sein, und ich dachte bisher auch,
dass es in diesem Haus darüber einen breiten und stabi-
len Konsens zwischen allen Fraktionen gibt. Wenn es
aber wirklich die Meinung der Fraktion der Linken ist,
dass die Forderung nach Demokratie und Freilassung
von politischen Gefangenen in Kuba ein illegitimer Ein-
griff in die staatliche Souveränität des Landes ist, dann
wirft sie damit die aktive Menschenrechtspolitik um
vierzig Jahre zurück. Mit solchen Ansichten können Sie
im 21. Jahrhundert keine glaubhafte Außenpolitik mehr
betreiben.

Auch die Beurteilung der Rolle Kubas in der regiona-
len Integration stellt das Ausmaß der Realitätsverweige-

Holger Haibach


(A) (C)



(D)(B)

rung der Antragsteller heraus. Es ist eben so, dass
zunehmend deutlich wird, dass die ALBA keine Organi-
sation ist, von der Wachstumsimpulse für ihre Mitglieder
ausgehen, wie das in der EU der Fall ist, sondern dass
dies eine Organisation zur gemeinsamen Verwaltung des
Mangels ist. Der Einfluss, den Kuba auf die Region zu
nehmen versucht, ist unter diesen Vorzeichen eher als
schädlich zu betrachten. Versuche der kubanischen Re-
gierung, ihr System in andere Staaten zu exportieren,
müssen zum Scheitern verurteilt sein.

Vollends skurril wird die Argumentation des Antrags,
wenn es um die Forderung nach einer Freilassung der
sogenannten Miami Five geht. Diese Menschen werden
nicht „in der USA gefangen gehalten“, wie es hier ge-
schrieben steht. Sie wurden in einem rechtsstaatlichen
Verfahren wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum
Mord zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sie hatten einen
unabhängigen Richter, frei gewählte Verteidiger und ein
faires Verfahren mit der Möglichkeit, gegen die Urteile
in Berufung zu gehen. All dies sind Dinge, von denen die
in Kuba eingekerkerten Dissidenten nicht einmal zu
träumen wagen können. Irgendwelche Parallelen zwi-
schen den „Miami Five“ und den eingesperrten Dissi-
denten in Kuba zu ziehen, ist daher mehr als hanebü-
chen und eine Verhöhnung derjenigen Kubaner, die sich
unter Einsatz ihrer persönlichen Freiheit und auch ihrer
Gesundheit für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in
ihrem Land einsetzen.

Aus all diesen Gründen ist der Antrag abzulehnen.
Kuba ist kein normales Land, sondern immer noch eine
Diktatur, in der Menschen, die die Regierung kritisieren,
weggesperrt werden. Solange noch über 200 Menschen
aus politischen Gründen in Kuba eingesperrt sind, so-
lange Menschen wie Juan Carlos Herrera Acosta und
die anderen Mitglieder der „Gruppe der 75“ in Haft
bleiben, weil sie sich für Demokratie und Menschen-
rechte einsetzen, solange kann die EU ihre Beziehungen
zu Kuba nicht normalisieren. Es ist nur zu begrüßen,
dass sich die Bundesregierung entsprechenden Bestre-
bungen vonseiten mancher unserer Partner entschlossen
entgegenstellt. Der Gemeinsame Standpunkt der EU
muss daher bestehen bleiben.


Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1706530600

Mit ihrem Antrag möchte die Fraktion Die Linke er-

reichen, die Beziehungen der Europäischen Union zu
Kuba zu normalisieren. Selbst wenn man die politische,
wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Kuba in den
vergangenen Monaten mit viel Wohlwollen betrachtet,
kann dem unter keinen Umständen zugestimmt werden.
Eine Normalisierung der Beziehungen würde der aktuel-
len Lage in Kuba in keiner Weise gerecht werden: So sind
die bürgerlichen und politischen Rechte in Kuba weiter-
hin stark eingeschränkt. Regierungskritiker werden nach
wie vor inhaftiert. Freigelassene Häftlinge berichten,
dass sie während der Haft geschlagen worden seien. Ein-
schränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung
sind an der Tagesordnung. Das Recht auf Vereinigungs-
und Versammlungsfreiheit ist stark beschnitten.
Zu Protokoll
Die menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und politi-
schen Rahmenbedingungen in Kuba lassen eine Norma-
lisierung der Beziehungen nicht zu. Bei der aktuellen
Lage der Presse in Kuba kann man nicht von einer Ein-
schränkung der Pressefreiheit sprechen. Bei einer zu
100 Prozent staatlichen Presse ist die Pressefreiheit
nicht eingeschränkt, sondern es gibt schlicht und einfach
keine Pressefreiheit. Der Freiheitsgrad der Presse auf
Kuba liegt bei null. Die absolute staatliche Kontrolle er-
streckt sich auf sämtliche Presseorgane. Sie macht auch
vor dem Internet nicht halt. Die Behörden sperren nach
wie vor den Zugang zu Internetseiten von Bloggern und
Journalisten, die der Regierung kritisch gegenüberste-
hen. Sobald regierungsabweichende Publikationen im
Internet erscheinen, werden die Urheber unwürdiger
Verfolgung ausgesetzt. Nach wie vor hindert die Ein-
schränkung der Bewegungsfreiheit Journalisten, Men-
schenrechtsverteidiger und politisch engagierte Bürger
an der Ausübung rechtmäßiger und friedlicher Aktivitä-
ten.

Es mag zwar sein, dass sich dank der Vermittlung des
spanischen Außenministers Moratinos und der katholi-
schen Kirche die Situation in den letzten Wochen und
Monaten etwas gebessert hat und über 50 politische Ge-
fangene freigekommen sind. Man darf aber nicht verges-
sen: Die menschenrechtliche Situation im Jahre 2009
und in der ersten Jahreshälfte 2010 hat sich extrem ver-
schlechtert. Ein Beispiel dafür ist der Tod des politi-
schen Gefangenen Orlando Zapata Tamayo. Er starb im
Februar dieses Jahres infolge eines Hungerstreiks.

Natürlich begrüßen wir die Freilassung politischer
Gefangener. Es ist aber nicht so, dass die Freigelasse-
nen nun unbehelligt in Kuba leben können und dort frei
ihre Meinung äußern dürfen. Nein, sie müssen vielmehr
ihr Land verlassen. Sie haben mehrheitlich in Spanien
Zuflucht gefunden.

Ist es nicht bezeichnend, dass gerade die freigelasse-
nen Dissidenten, die ihre Dankbarkeit gegenüber Spa-
nien durchaus zum Ausdruck gebracht haben, dennoch
deutlich klar gemacht haben, dass sie den Vorstoß der
spanischen Regierung, die Beziehungen zu Kuba zu ent-
spannen, strikt ablehnen? Sie haben sowohl Spanien als
auch die gesamte Europäische Union zu mehr Härte ge-
genüber Kuba aufgefordert. Auch uns ist es nicht ver-
ständlich, dass nun die Fraktion Die Linke eine Norma-
lisierung der Beziehungen verlangt, während diese
Dissidenten aus eigenem Erleben des Systems einen här-
teren Umgang mit dem kommunistischen Inselstaat for-
dern.

Eine Normalisierung der Beziehungen ist auch im
Hinblick auf das derzeitige Engagement der EU in Kuba
nicht erforderlich. Allein zwischen 1993 und 2003 hat die
Kommission 145 Millionen Euro an Hilfsmaßnahmen fi-
nanziert, davon 90 Millionen Euro im humanitären Be-
reich. Im Jahre 2009 hat Kuba weitere 36 Millionen Euro
für die Bereiche Wiederaufbau, Grundversorgung mit
Nahrungsmitteln, Umwelt und Klima sowie Management
und Kultur erhalten. Und schließlich hat die Europäische
Kommission erst kürzlich 20 Millionen Euro für 2011 bis
2013 im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in



gegebene Reden

Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)

Aussicht gestellt. Hinzu kommt noch Soforthilfe, um auf
Notlagen durch Hurrikane zu reagieren. Man kann des-
halb nicht behaupten, die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten sähen weg, wenn es um das Leiden der
kubanischen Bevölkerung geht.

Wir halten den im Jahre 1996 festgelegten „Gemein-
samen Standpunkt“ der EU weiterhin für richtig. Das
heißt: Kuba muss die Menschenrechte wahren, bevor ein
direkter Dialog mit seiner Regierung eröffnet wird. Von
einem politischen oder gar von menschenrechtlichem
„Tauwetter“ auf Kuba zu sprechen, halten wir für ver-
fehlt. Über eine Normalisierung nachdenken können wir
erst, wenn diese fundamentalen Bedingungen erfüllt
sind. Der „Gemeinsame Standpunkt“ verstößt entgegen
der Behauptung der Linken in dem Antrag auch nicht
gegen das Nichteinmischungsverbot der Charta der Ver-
einten Nationen. Es ist legitim, an eine enge politische
und wirtschaftliche Kooperation Bedingungen zu knüp-
fen. Nichts anderes macht der „Gemeinsame Stand-
punkt“ aus dem Jahre 1996 mit seiner Forderung an die
kubanische Seite, die Menschenrechte zu achten.

Der Vergleich mit den Beziehungen der Europäischen
Union zu anderen lateinamerikanischen Ländern wie
Mexiko oder Kolumbien, den die Fraktion Die Linke in
ihrem Antrag aufstellt, kann so nicht hingenommen wer-
den. Meine Damen und Herren von den Linken, Sie las-
sen dabei außer Acht, dass die staatliche Integrität die-
ser Länder durch Drogenkartelle und terroristische
Organisationen ernsthaft gefährdet wird. Gerade Ko-
lumbien sieht sich seit Jahren mit einer terroristischen
Organisation konfrontiert, die eine ernsthafte Bedro-
hung für den Staat darstellt. Dennoch befinden sich
diese Länder auf einem guten Weg und sind im Unter-
schied zu Kuba bemüht, trotz erheblicher Bedrohungen
freie Wahlen abzuhalten. Die Situation in Kuba ist doch
wirklich eine völlig andere. Dort regiert eine Partei, und
wer sich ihrem Diktat nicht beugt, der ist nicht hinnehm-
baren, menschenverachtenden Einschränkungen ausge-
setzt.

Eine Normalisierung der Beziehungen, wie sie in dem
Antrag gefordert wird, wäre deshalb unseres Erachtens
ein falsches Signal an die kubanische Führung.

Wir werden dem Antrag der Linken nicht zustimmen.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1706530700

Kaum ein Land erhitzt seit über 50 Jahren weltweit

die Gemüter so wie Kuba. Für Freund und Feind übt die
Insel eine besondere Faszination aus. Dies ist nicht die
Stelle, das zu analysieren und sich in die Ursachen zu
vertiefen.

Auch die EU – sonst in vielen Fragen der internatio-
nalen Politik durchaus differenziert aufgestellt – hat es
für nötig befunden, zu Kuba einen „Gemeinsamen
Standpunkt“ zu formulieren. Das ist durchaus eine be-
sondere Ehre für so ein kleines Land in weiter Ferne.
Aus europäischer Sicht wäre es sicher wünschenswert,
für wichtigere Fragen in der internationalen Politik ei-
nen Gemeinsamen Standpunkt zu entwickeln und umzu-
setzen.
Zu Protokoll
Der Gemeinsame Standpunkt zu Kuba ist jetzt
14 Jahre alt und war damals von aktuellen Entwicklun-
gen geprägt, vor allem von einer Zuspitzung wirtschaft-
licher Probleme, von Konflikten und staatlichem Druck
in Kuba, aber auch von Stimmungen und Strömungen
neuer Mehrheiten und neuer Regierungen in der EU, die
ein außenpolitisches Profil suchten. Die Frage, ob der
europäische Standpunkt damals, 1996, angemessen war,
kann aber heute offen bleiben.

Heute besteht eine andere Situation. Selbst die USA
überprüfen ihre Blockadepolitik. Eine Blockade übri-
gens, die bei sämtlichen UN-Vollversammlungen fast
einstimmig, mit den Stimmen einzelner EU-Mitglied-
staaten, immer wieder verurteilt wurde, über die aber im
Gemeinsamen Standpunkt nichts zu lesen ist. Auch die
Entwicklung in Kuba selbst muss man zur Kenntnis neh-
men. Alle Hoffnungen bzw. Befürchtungen, man könne
durch äußeren Druck, durch wirtschaftlichen Boykott,
durch außenpolitische Isolierung, durch Einmischung
von außen einen Systemwechsel herbeiführen, sind ge-
scheitert, auch nach weiteren 14 Jahren EU-Sanktionen.
Die Freilassung von 52 Gefangenen ist vor allem auf ei-
nen innerkubanischen Dialog unter Beteiligung der ka-
tholischen Kirche zurückzuführen, bei dem die spani-
sche Regierung hilfreich vermitteln konnte. Die
kubanische Regierung selbst setzt wirtschaftliche Refor-
men in Gang. Kuba wächst schließlich mehr und mehr in
die Staatengemeinschaft Lateinamerikas hinein. Längst
ist die Isolation in dieser Region durchbrochen und ei-
ner Integration in regionale Bündnisse gewichen.

Der uns vorliegende Antrag der Linksfraktion fordert
daher zu Recht eine Korrektur der europäischen Kuba-
Politik und weist damit in die richtige Richtung. Auch
wir kritisieren die Haltung der Bundesregierung, entge-
gen den Bestrebungen Spaniens und anderer Mitglieds-
länder am bestehenden Standpunkt festzuhalten. Das ist
plumpe Kalte-Krieg-Mentalität, die belegt, dass CDU
und CSU rechtskonservatives Lagerdenken noch lange
nicht überwunden haben. So kann man aber keine inter-
nationale Politik machen. Und, ganz nebenbei, Außen-
minister Westerwelle kann seine Lateinamerika-Strate-
gie damit gleich wieder vergessen.

Die Menschen, die sozialen Bewegungen und die Re-
gierungen in der gesamten Region haben genug davon,
von den USA oder Europa gesagt zu bekommen, was sie
zu tun und zu lassen haben. Dialog, Bi- und Multilatera-
lität, gleiche Augenhöhe – das wird heute von uns er-
wartet. Das heißt nicht, dass wir kritikwürdige Zustände
nicht kritisieren dürfen oder dass wir Verstöße gegen
Demokratie und Menschenrechte einfach hinnehmen
oder verschweigen dürfen. Das gilt dann aber auch für
alle Länder, nicht nur für Kuba.

Insoweit können wir der Intention des Antrags folgen.
Zweifel können erlaubt sein, ob es realistisch ist, die
Aufhebung des Gemeinsamen Standpunktes zu fordern.
Erstens würde der geforderte bilaterale Ansatz ja eben-
falls einen Gemeinsamen Standpunkt erfordern, zwar ei-
nen anderen, einen überarbeiteten, aber eben doch ei-
nen solchen Standpunkt. Zweitens wäre es schon ein
großer Fortschritt, wenn der künftige EU-Standpunkt



gegebene Reden

Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)

wenigstens eine Öffnung zugunsten eigener Aktivitäten
und Beziehungen der Mitgliedstaaten enthielte – was
ohnehin der Realität entspräche. Dann würde sich sehr
schnell eine neue Dynamik in den Beziehungen von EU-
Mitgliedstaaten zu Kuba entwickeln. Wir begrüßen es
auch, dass die Linksfraktion – meines Wissens erst-
malig – von „inhaftierten Dissidenten in Kuba“ spricht,
ein Stück mehr Realismus auch an dieser Stelle.

Was Punkt I.7 bzw. II.4 des Antrags betrifft, kann man
zwar dem Wunsch nach Freilassung der „Miami Five“
folgen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was das
mit der Korrektur des europäischen Standpunktes zu tun
haben soll. Vieles wäre einfacher, wenn die Linke bei be-
rechtigten Anliegen darauf verzichten würde, das Anlie-
gen selbst durch parteipolitische Profilierungssucht zu
belasten.

Vielleicht gibt es ja im Zuge der Beratungen noch hier
und da ein Einsehen. Gespannt bin ich vor allem darauf,
wie die Koalitionsfraktionen zur Haltung der Bundes-
regierung stehen und ob letztlich Kanzleramt oder
Außenministerium die Kubapolitik bestimmen – oder
vielleicht das Parlament. Es könnte dem Deutschen Bun-
destag als Ganzem gut anstehen, ein deutliches Signal
nach Brüssel zu senden und damit von seinen neuen
Rechten in der europäischen Politik Gebrauch zu ma-
chen.


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1706530800

Betrachtet man die gesellschaftspolitische Lage auf

Kuba, muss man nüchtern feststellen:

Der Sozialismus unter Palmen ist endgültig geschei-
tert. Zu diesem Schluss ist selbst Fidel Castro gekommen
und gibt offen zu, dass der kubanische Sozialismus nicht
mal mehr auf Kuba funktioniert. Ich zitiere: „Das kuba-
nische Modell funktioniert nicht einmal mehr bei uns.“
Zitatende. Diese Erkenntnis ist ebenso richtig wie längst
überfällig.

Schauen wir uns die Tatsachen an: In Kuba nimmt
der Staat eine zu große Rolle im Wirtschaftsleben ein. So
kontrolliert der Staat mehr als 95 Prozent der Wirtschaft
und zahlt den Arbeitern einen Lohn von etwa 20 Dollar
pro Monat. Die immer mal wieder angekündigten wirt-
schaftlichen Reformen müssen nun endlich auch ange-
packt und in die Tat umgesetzt werden. Kuba ist durch
die Weltwirtschaftskrise und Unwetterkatastrophen,
aber auch durch Korruption und sozialistische Miss-
wirtschaft in eine schwere Krise geraten. Das Land
muss unter anderem Lebensmittel für umgerechnet über
1 Milliarde Euro importieren.

Die Pläne zur Aufweichung der Planwirtschaft, in-
dem in 178 verschiedenen Bereichen Kubaner künftig
selbstständig werden können, sind begrüßenswert. Je-
doch müssen wir sehen, dass sie auch aus der Not ge-
wachsen sind: Damit muss auch die angekündigte Ent-
lassungswelle im Staatsdienst abgefedert werden; und
was diese bedeutet, zeigen folgende Zahlen: Nach den
Plänen der Regierung verlieren in den ersten drei Mona-
ten des kommenden Jahres rund 500 000 Angestellte aus
unproduktiven staatlichen Betrieben ihren Job – das ist
Zu Protokoll
jeder zehnte staatlich Beschäftigte. Begründet werden
beide Maßnahmen mit einer Stärkung der Planwirt-
schaft. Da tun sich mir einige große Fragezeichen auf,
denn unter anderem ist doch auch die sozialistische
Planwirtschaft ein Grund für die wirtschaftliche Misere.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,
neben dieser offensichtlichen Widersprüchlichkeit der
kubanischen Wirtschaftspolitik wird doch eines wieder
einmal offensichtlich: Ihre Doppelstandards in Ihrer
Menschenrechtspolitik. Sie kritisieren zum Beispiel die
Vereinigten Staaten von Amerika für deren Hilfsmaßnah-
men nach der Erdbebenkatastrophe auf Haiti. Aber dass
man mal ein Wort der Kritik hört, wie die kubanischen
Verantwortlichen mit Regimekritikern und Menschen-
rechtsverteidigern umgehen, dazu kommt dann nicht
viel. Sie begrüßen in Ihrem Antrag, dass die kubanische
Regierung inhaftierte Dissidenten freigelassen hat, und
das ist auch richtig so. Aber Sie verurteilen nicht, dass
diese Menschen wegen ihrer politischen und gesell-
schaftlichen Kritik überhaupt in Haft saßen. Politische
Gefangene gehören leider zum System auf Kuba, und
das ist entschieden zu verurteilen.

Vor allem hört man dann oft von Ihnen: Ja, dafür hat
Kuba aber gute Lehrer und Ärzte. – Das mag ja so sein,
nur heißt das doch nicht, dass man deswegen auf Mei-
nungsfreiheit und auf die Gewährung von Menschen-
rechten verzichten kann.

Zudem möchte ich, dass wir uns als Parlamentarier
die jüngsten Freilassungen genau ansehen. Und ich
möchte einen Punkt zu bedenken geben: Die Freilassung
von Oppositionellen, um sie dann nach Spanien zu drän-
gen, um sich damit quasi der lästigen Opposition zu ent-
ledigen, ist keine echte Freilassung. Mit einer Freilas-
sung, die wahren Willen zur Versöhnung zeigt und den
Weg für Reformen ebnet, hat das nicht viel zu tun. Mit
„Freilassung“ meine ich echte Freilassung aller politi-
schen Häftlinge. Die Freiheit darf nicht an Bedingungen
geknüpft werden. Es darf nicht sein, dass die Regierung
von Raul Castro die Dissidenten vor die Wahl „Gefäng-
nis oder Exil“ stellt. Es darf nicht sein, dass die Men-
schen nur deswegen ihre Freiheit zurückerhalten, weil
sie danach nicht mehr in ihrem Heimatland am Erstar-
ken der kritischen Stimmen in der Zivilgesellschaft teil-
nehmen können.

Ich erwarte, dass das kubanische Regime endlich Re-
formen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
einleitet, die der kubanischen Bevölkerung zugutekom-
men, und aufhört, die Menschenrechte zu verletzen.

Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, sollten endlich aufwachen und der Reali-
tät ins Auge sehen, statt auf dem linken Auge blind zu
sein. Ihre Gesamtposition gegenüber Kuba ist unausge-
wogen und einseitig. Denn wir müssen unseren Blick
auch werfen auf die desolate Lage der Menschenrechte,
den Druck auf Dissidenten, die rechtswidrige Inhaftie-
rung der politisch Andersdenkenden, deren inhumane
Behandlung in den Gefängnissen und die Übergriffe auf
deren Familienangehörige. Die FDP wird nicht zulas-
sen, dass man dies außer Augen lässt. Uns geht es da-
rum, Kuba auf dem Weg in eine freie, demokratische Zu-



gegebene Reden

Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)

kunft zu unterstützen, um das Leid der kubanischen
Bevölkerung endlich zu beenden.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706530900

Die geografische Nähe Kubas zu den USA hat für den

Inselstaat bislang wenig Gutes bedeutet. Doch auch die
geografische Ferne der EU und der Bundesrepublik
Deutschland hat nicht gerade zu einer rationaleren Be-
ziehung geführt. Dafür wäre es notwendig, dass die
Sanktionen der EU nicht nur ausgesetzt, sondern end-
gültig aufgehoben werden. Der Gemeinsame Standpunkt
der EU zu Kuba, der nach wie vor gültige Grundlage der
Politik der EU gegenüber Kuba ist, muss endlich aufge-
geben und durch einen neuen Ansatz ersetzt werden. Die
Zeichen stehen gut. Denn die spanische Regierung drängt
nach der Freilassung von 53 Inhaftierten auf Kuba vehe-
menter auf eine Abschaffung des Gemeinsamen Stand-
punktes. Seit 1996 verknüpft der Gemeinsame Stand-
punkt die Bereitschaft der EU zur politischen und
wirtschaftlichen Kooperation mit Kuba ausdrücklich mit
dem Ziel eines Systemwechsels. Die, die an diesem Ge-
meinsamen Standpunkt festhalten, wollen, dass Kuba
seine Suche nach einem eigenständigen Entwicklungs-
weg, nach einer Alternative zum profitorientierten
Gesellschaftsmodell aufgibt. Für die Linke ist die ag-
gressive politische Intervention, die im Gemeinsamen
Standpunkt zum Ausdruck kommt, keine akzeptable
Grundlage für eine Zusammenarbeit.

Bisher konnte Kuba seine Souveränität gegen vielfäl-
tige Widerstände verteidigen. Und das ist gut so. Aufge-
ben würde Kuba mit einem Systemwechsel seine für die
meisten Länder der sogenannten Dritten Welt beispiel-
haften Errungenschaften auf dem Gebiet des Bildungs-,
Sozial- und Gesundheitswesens. Diese Errungenschaf-
ten hat es trotz US-Embargo und gravierender wirt-
schaftlicher Schwierigkeiten bis heute aufrechterhalten.
An den Errungenschaften des kubanischen Bildungs-
und Gesundheitswesens hat nicht nur die kubanische
Bevölkerung teil. So wurde durch das seit Dezember
1998 andauernde Engagement medizinischer Fach-
kräfte aus Kuba in vielen haitianischen Gemeinden erst-
mals ein Zugang zu medizinischer Versorgung ermög-
licht.

Diese Hilfe kam der Bevölkerung Haitis zuletzt bei
der Erdbebenkatastrophe zugute. Diese einmalige,
schnelle und unbürokratische Solidarität ist es, die Ku-
bas Ansehen insbesondere in den Ländern des Trikont
ausmacht und die darüber hinaus gute Anknüpfungs-
punkte für die Kooperation mit Kuba bietet – im Sinne
einer trilateralen Kooperation, von der ärmere Dritt-
staaten wie Haiti profitieren könnten. Leider wurde der
Appell des damaligen kubanischen Präsidenten Fidel
Castro von 1998 an die Industriestaaten, das kubanische
Engagement in Haiti mit eigenen Beiträgen wie der Be-
reitstellung von Medizintechnik, Material und Medika-
menten zu unterstützen, seinerzeit nicht aufgegriffen.
Die Linke begrüßt aber sehr, dass Ende Januar 2010 die
norwegische Regierung ein Abkommen mit Kuba unter-
zeichnete, demzufolge Norwegen die Arbeit der kubani-
schen Ärztinnen und Ärzte in Haiti mit knapp
900 000 US-Dollar unterstützt. Und wir begrüßen, dass
Zu Protokoll
mittlerweile die Diskussion um eine solche trilaterale
Kooperation auch in der EU-Kommission angekommen
ist. Millionen Menschen könnten davon profitieren,
wenn ich zum Beispiel an die äußerst effektiven kubani-
schen Alphabetisierungsprogramme und die Augenbe-
handlungen durch kubanische Ärzte in vielen Ländern
Lateinamerikas denke.

Doch statt dem Beispiel Norwegens zu folgen, ver-
sucht die Bundesregierung, Kuba in altbekannter Art
und Weise zu diskreditieren. Und sie versucht, die sich in
vielen EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer Aufhebung
des Gemeinsamen Standpunktes ändernde Haltung ge-
genüber Kuba zu blockieren.

Vorgeschobener Grund für diese negative Haltung
gegen Kuba ist die heuchlerische und selektive Behand-
lung der Menschenrechte. Das haben wir erst kürzlich
wieder erlebt, als die Bundesregierung ihr neues Latein-
amerika-Konzept vorgestellt hat. Als einziges Land mit
problematischer Menschenrechtslage wird dort Kuba
explizit genannt. Honduras, wo vor anderthalb Jahren
ein Militärputsch stattgefunden hat, wo seither Hun-
derte Menschen ermordet, Tausende willkürlich verhaf-
tet und teilweise schwerer Gewalt ausgesetzt worden
waren; Kolumbien, wo weltweit die meisten Gewerk-
schafter ermordet und Menschenrechtsverteidiger jeden
Tag bedroht werden, wo extralegale Hinrichtungen an
der Tagesordnung sind und nicht geahndet werden; oder
Mexiko, wo die tödliche Gewalt zum Alltag für Millionen
geworden ist – diese Länder werden nicht kritisch er-
wähnt. Im Gegenteil: Sie sind Partner der deutschen La-
teinamerika-Politik gegen den sozialen Aufbruch, der
sich derzeit in Lateinamerika vollzieht. So war es nach
der FDP-Unterstützung für den Putsch in Honduras be-
sonders bemerkenswert, dass sich die Bundesregierung
im Gegensatz zu Spanien, Frankreich und anderen Staa-
ten zu dem letzte Woche in Ecuador stattgefundenen
Putschversuch gegen den demokratisch gewählten Prä-
sidenten Rafael Correa erst nach dem Scheitern des Put-
sches erklärte. Diese Erklärung beinhaltete aber noch
nicht einmal eine eindeutige Verurteilung des Putsch-
versuchs.

Wer Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie in
Afghanistan und im Südsudan meint, wer politische
Rechte für Bürgerinnen und Bürger in anderen Staaten
einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in denen
ihnen Folter droht, wer zur Flüchtlingsabwehr mit Regi-
men wie in Libyen kooperiert, wer Meinungsfreiheit an-
derswo einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder
vorbereitet, der verwandelt den Kampf um Menschen-
rechte in ein Instrument von Sozialraub, Krieg und im-
perialer Politik. Menschenrechte sind nur dann von
Dauer, wenn sie auf einer Wirtschafts- und Sozialord-
nung beruhen, die die strukturellen Ursachen der an-
dauernden Menschenrechtsverletzungen beseitigen.

Wie Venezuela ist auch Kuba ein wichtiger Motor des
sozialen Wandels und der lateinamerikanischen Integra-
tion und leistet dabei einen wichtigen Beitrag zur
Durchsetzung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller
Menschenrechte.



gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich in-
nerhalb der Europäischen Union dafür einzusetzen, end-
lich den Gemeinsamen Standpunkt zu Kuba aufzuheben
und diesen durch einen bilateralen Ansatz zu ersetzen.
Es sollen Verhandlungen mit Kuba über ein Koopera-
tionsabkommen eingeleitet werden, die gleichberechtigt,
ohne Vorbedingungen und mit vollständigem Respekt für
die Souveränität der beteiligten Partner und das Nicht-
einmischungsgebot der VN-Charta geführt werden.
Auch sollte die Bundesregierung mit der kubanischen
Regierung ohne Vorbedingungen Gespräche über Ent-
wicklungszusammenarbeit aufnehmen und dabei auch
die Möglichkeit trilateraler Zusammenarbeit zugunsten
Dritter erörtern.

Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung gegen-
über der Regierung der USA dafür einsetzt, dass diese
eine ähnliche humanitäre Geste zeigt, wie dies Kuba mit
der Freilassung der 53 Inhaftierten getan hat, damit die
seit 1998 in den USA inhaftierten und als „Miami Five“
bekannt gewordenen kubanischen Gefangenen Antonio
Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo
Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar und René
González Sehwerert freigelassen werden. Bis zu dem
Zeitpunkt ihrer Freilassung muss die Bundesregierung
humanitäres Handeln der US-Regierung einfordern.
Dazu zählt, dass die Ehefrauen der kubanischen Inhaf-
tierten Besuchsrecht erhalten.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mein ganzes politisches Leben lang stand ich auf der
Seite Kubas, wenn es darum ging, Versuche des mächti-
gen Nachbarn USA abzuwehren, Kuba mit militärischer
Gewalt, Mord und Totschlag oder Wirtschaftsboykott in
die Knie zu zwingen. Das sehe ich auch heute nicht an-
ders, zumal das Embargo der USA und die Bedrohung
Kubas ja andauern. Aber Solidarität mit Kuba heißt
doch nicht, Menschenrechtsverletzungen und Misswirt-
schaft zu übersehen und totzuschweigen. Vielmehr ge-
hört es dazu, solche Missstände zu kritisieren und sich
für die einzusetzen, die wegen ihrer Kritik in Gefäng-
nisse gesteckt wurden und werden. Dies gilt unabhängig
davon, dass Kuba seit Jahrzehnten unter der massiven
Bedrohung von außen, unter Boykott und Blockade lei-
det.

Aus Kuba hören wir jetzt Bemerkenswertes. Fidel
Castro verurteilt die frühere Verfolgung von Homosexu-
ellen im Land und kritisiert das alte verkrustete Wirt-
schaftssystem scharf, das nicht mehr in der Lage sei, den
Lebensstandard der Bevölkerung zu sichern. Aber die
Verletzungen von Menschenrechten sind nicht nur dann
Menschenrechtsverletzungen, und Missstände der Wirt-
schaft nicht erst dann zu kritisieren, wenn der ehemalige
Präsident Kubas dies öffentlich eingesteht.

Damit gibt er den Kritikern im eigenen Land, die für
solche Äußerungen verfolgt wurden und im Gefängnis
leiden, ebenso wie internationalen Menschenrechtsor-
ganisationen und auch der Europäischen Union recht.

Mit dem vorliegenden Antrag soll erreicht werden,
dass der „gemeinsame Standpunkt“ der EU zu Kuba von
Zu Protokoll
1996 aufgehoben wird. Der Antrag geht von unzutreffen-
den Voraussetzungen aus. Ziel dieses Standpunktes war
explizit, „einen Prozess des Übergangs in eine pluralis-
tische Demokratie und die Achtung der Menschenrechte
und Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige Erholung
und Verbesserung des Lebensstandards der kubanischen
Bevölkerung“ zu erreichen. Es ging also um die Intensi-
vierung eines Dialoges vor allem zur Förderung der
Achtung der Menschenrechte, insbesondere des Rechts
auf freie Meinungsäußerung. Von einem „Systemwech-
sel“ ist keine Rede. Zwangsmaßnahmen wurden aus-
drücklich ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung der
Entwicklung in Kuba und der massiven Kritik interna-
tionaler Organisationen wie Amnesty International an
den skandalösen Menschenrechtsverletzungen dort wie
der Inhaftierung von Dutzenden sogenannter Dissiden-
ten und gar der Hinrichtung von drei Flüchtlingen im
Jahr 2003 ist diese Forderung nach wie vor aktuell.
Auch nach der Freilassung von 52 Inhaftierten befinden
sich noch zahlreiche „Dissidenten“ im Gefängnis, die
Meinungsfreiheit ist nicht gewahrt und freie politische
Betätigung ist nicht möglich.

Die Kritik und die Forderung nach der Achtung der
Menschenrechte verstoßen auch nicht gegen ein Gebot
der Nichteinmischung. Die Vereinten Nationen haben in
Resolutionen immer wieder festgestellt, dass es eine Ver-
antwortung aller Staaten für die Wahrung der Men-
schenrechte auch in anderen Staaten gibt und die Souve-
ränität eines Staates und das Nichteinmischungsgebot
dem keineswegs entgegenstehen. Das Argument kann
die Antrag stellende Fraktion auch nicht ernsthaft vor-
bringen. Damit widerspricht sie eigenen Anträgen etwa
zur Menschenrechtssituation in Kolumbien oder im
Gaza-Streifen. In diesen hat sie selbst die Einmischung
Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft in
die Belange anderer Staaten zur Wiederherstellung und
Wahrung von Menschenrechten befürwortet und gefor-
dert.

Die Forderung nach der Achtung der Menschen-
rechte und der politischen Freiheitsrechte bleibt von
zentraler Bedeutung. Die Verletzung dieser Rechte kann
auch nicht durch eine Bedrohungslage gerechtfertigt
werden. Zusammenarbeit und kritischer Dialog – auch
bilateral – sind jetzt die richtige Option, wie es auch der
Entwicklungsausschuss des EU-Parlaments gefordert
hatte. Dabei sind die Entwicklungen in der Region und
die bilateralen Kooperationserfahrungen Frankreichs
und Spaniens von Bedeutung. Ein Einwirken der EU auf
die USA für ein Ende der Embargo-Politik wäre eine
wichtige Unterstützung. Der EU-Rat hat sich bei Ver-
besserungen im Menschenrechtsbereich auch zum Dia-
log bereit erklärt. Die Entlassung und Ausreise eines
großen Teiles der Inhaftierten ist ein erster wichtiger
Schritt zur Wahrung der Menschenrechte.

Eine Politik der Entspannung kann eher zu einer
Demokratisierung der Verbesserung der Menschen-
rechtslage beitragen, als Kuba zu isolieren. Das waren
auch die deutschen Erfahrungen vor der Wende. Vor-
dringlichste Aufgabe der EU und bilateral muss sein,
auf allen Ebenen vorbehaltlos alle Möglichkeiten und
Gespräche mit Regierungsstellen und Sektoren der Ge-



gegebene Reden





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

sellschaft für Bemühungen zur sofortigen Freilassung
der übrigen Dissidenten zu nutzen.

Zur Unteilbarkeit der Forderung nach der Achtung
der Menschenrechte gehört auch der Einsatz für die
Freilassung der sogenannten Miami Five aus US-Ge-
fängnissen. Rechtsstaatliche Haftbedingungen, wozu
auch die Besuchsmöglichkeiten für die Ehefrauen gehö-
ren, sind unerlässlich. Richtig ist deshalb die Aufforde-
rung des Parlaments an die Bundesregierung, sich bei
der EU einzusetzen auch dafür, dass diese auch mit die-
sem Ziel tätig wird.

Wir verkennen nicht, dass auch in anderen Staaten
Lateinamerikas schlimmste Menschenrechtsverletzun-
gen begangen wurden und werden, häufig mit viel mehr
Opfern und Leiden der Bevölkerung, etwa in Kolumbien
oder Mexiko. Wir haben deshalb auch Anträge im Bun-
destag eingebracht, die die Bundesregierung auffor-
dern, sich etwa in Kolumbien und Venezuela für die Ein-
haltung dieser Rechte einzusetzen. Aber gerade weil
Kuba das Land in Lateinamerika ist, an das ich selbst
lange Zeit hohe Erwartungen und Hoffnungen gesetzt
hatte und partiell noch setze und auf das noch heute
viele Völker Lateinamerikas hoffnungsvoll schauen, ist
es so wichtig, nicht nachzulassen und die Einhaltung der
Menschenrechte und der politischen Rechte gerade dort
immer wieder einzufordern.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706531000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3188 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Einwände sind
nicht erkennbar. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 22:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth (Augsburg), Volker Beck (Köln), Agnes
Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stiftungszweck der Stiftung Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung erfüllen

– Drucksache 17/3064 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas
Strobl, Klaus Brähmig, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Lars
Lindemann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Claudia Roth
ihre Reden zu Protokoll.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1706531100

Zum dritten Mal ergreife ich in dieser Legislatur-

periode das Wort, um auf die Stiftung „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ einzugehen. Dies ist nötig, weil
Gegner der Stiftung nach wie vor den Stiftungszweck be-
zweifeln, ohne dies wirklich begründen zu können. Ins-
besondere die Grünen, von denen der Antrag stammt,
über den wir heute diskutieren, suchen mit notorischer
Penetranz angebliche Haare in der Suppe des Projekts
Aufarbeitung der Vertriebenengeschichte.
Dabei geht es ihnen weder um die Sache noch ernst-
lich um Inhalte oder Personen. Sie wollen lediglich tak-
tisch motivierte Spielchen spielen, um Sand ins Getriebe
einer Sache zu streuen, die ihnen ideologisch verhasst
ist.

Davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen. Wir
unternehmen alles, um der Stiftung nun ein rasches Be-
ginnen ihrer Arbeit zu ermöglichen, damit der Zweck des
Ganzen erfüllt wird: Versöhnung unter den Völkern dau-
erhaft herzustellen.

In der Hoffnung, dies zu erreichen und alle Be-
denkenträger endgültig von der Sinnhaftigkeit des ver-
dienstvollen Unterfangens zu überzeugen, möchte ich
noch einmal den Sachverhalt beschreiben, der zur Stif-
tungsgründung führte.

In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deut-
sches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezem-
ber 2006 wurde die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen
Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist
die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations-
und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der national-
sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wachzuhalten.

Die bisherige Stiftungsarbeit hatte indes gezeigt, dass
die Komplexität der Aufgabenstellung und des Mei-
nungsspektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates
und eine Modifizierung des Berufungsverfahrens für den
Stiftungsrat angezeigt erscheinen ließen.

Die zentrale Neuerung der im Mai verabschiedeten
Novelle ist, die Berufung der Mitglieder in den Stiftungs-
rat fortan dem Bundestag zu übertragen, also der Legis-
lativen, statt sie wie bisher der Exekutiven anheimzustel-
len. Dies verbreitert die Entscheidungsbasis erheblich
und objektiviert den Berufungsprozess.

Auch die Einbeziehung verschiedener Gruppen wie
etwa der Kirchen und des Zentralrats der Juden bürgt
für Offenheit und Pluralität der gesamten Stiftungs-
arbeit.

Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja gewollte
Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlossen. Und
genau das ist die Absicht der von uns erarbeiteten Neu-
zusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung.“

Noch einmal: Keine qualitativ-inhaltlichen Änderun-
gen zur ersten Fassung des Gesetzes von 2008 waren be-
absichtigt. Bei der im Mittelpunkt der Novelle stehenden
unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ ist es um rein organisatorische, also formale
Änderungen gegangen. Beispielsweise hat sich der Stif-
tungsrat von 13 auf 21 Mitglieder erhöht, und auch dem
wissenschaftlichen Beraterkreis gehören nun mehr Per-
sonen an, nämlich bis zu 15, statt bis zu 9 wie bisher. Da-
durch ist die gewünschte Verbreiterung des wissen-

Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

schaftlichen Spektrums erreicht worden, insbesondere
auch mit Blick auf eine internationale Besetzung.

Für die Aufnahme weiterer Gruppen, wie nun von den
Grünen gefordert, besteht kein Anlass.

Der oberste Stiftungszweck Versöhnung wird nach
meiner festen Überzeugung bei den gegebenen Verhält-
nissen in bestmöglicher Form erreicht. Wir sollten die
Stiftung deshalb nun ihre Arbeit tun, ihr Versöhnungs-
werk vollbringen lassen, ohne ständig stets von neuem
Details der Ausgestaltung zu hinterfragen. Das wäre
nicht zielführend und dem hehren Zweck der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in keiner Weise an-
gemessen.


Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1706531200

Das 20. Jahrhundert könnte zukünftig als das „Jahr-

hundert der Vertreibungen“ in die Geschichtsbücher
eingehen. An seinem Beginn stand der Genozid an den
Armeniern durch die Türken 1915, an seinem Ende stan-
den „ethnische Säuberungen“ im zerfallenden Jugosla-
wien Anfang der 90er-Jahre: insgesamt mussten 50 bis
70 Millionen Menschen fliehen, ihre Heimat für immer
verlassen, wurden vertrieben oder deportiert. Die Ver-
treibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrie-
ges stellt dabei die größte Zwangsmigration der Ge-
schichte dar. Zwischen 1945 und 1949 sind über
14 Millionen Deutsche aus Ost-, Mittel- und Südost-
europa geflohen oder vertrieben worden, bis zu zwei
Millionen Menschen kamen dabei ums Leben.

„Es ist eines der erstaunlichen Phänomene der vielen
Jahre, die seither vergangen sind“, resümierte der
Schriftsteller Arno Surminski in einem Aufsatz 2004 tref-
fend, „dass ein so gewaltiger Stoff, ein Drama von bibli-
schen Ausmaßen, das nahezu jede Familie in Mittel- und
Osteuropa direkt oder indirekt berührt hat, nur am
Rande behandelt wurde“. Daher hat der Deutsche Bun-
destag mit dem Beschluss 2008, die „Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin zu errichten, einen
historischen Meilenstein für die Bewältigung unserer
nationalen Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrie-
ges gesetzt. Ich betone noch einmal: Diese mit breiter
Mehrheit getroffene Entscheidung war ein historischer
Meilenstein!

Es liegt in der Natur der Sache, dass über die Form
des angemessenen Erinnerns an die Vertreibungen eine
öffentliche Debatte absehbar war. Jeder konstruktive
Beitrag ist dabei willkommen und jeder vernünftige Dis-
kutant kann zum Versöhnungsgedanken beitragen, in-
dem er sich tatsächlich an der historischen statt an einer
ideologischen Wahrheit orientiert.

Aber was soll man davon halten, wenn, wie jüngst ge-
schehen, die innenpolitische Sprecherin der Linksfrak-
tion im Bundestag, Ulla Jelpke, der Präsidentin des
Bundes der Vertriebenen unterstellt, sie hätte die deut-
sche Schuld am Zweiten Weltkrieg relativiert? Erika
Steinbach hat dies nachweislich nie getan! Noch in ihrer
diesjährigen Rede zum Tag der Heimat erklärte sie aus-
drücklich: „Jeder im Land weiß, wer den Zweiten Welt-
krieg begonnen hat. Jeder im Land kennt die Barbareien
Zu Protokoll
des nationalsozialistischen Deutschland und das gren-
zenlose Leid, das dadurch über Europa gekommen ist.
Mein tiefes Mitgefühl gilt diesen Opfern.“ Die BdV-Prä-
sidentin hat außerdem beim Jubiläum 60 Jahre Charta
der Heimatvertriebenen betont, dass vom Nationalsozia-
lismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut nie-
mals Eingang in ihre Verbandspolitik gefunden habe.
Trotzdem versucht die Linke, mit unsäglichen Nazi-Ver-
gleichen Erika Steinbach in die rechte Ecke zu stellen.
Wieder wird völlig vergessen, dass Frau Steinbach es
war, die den Bund der Vertriebenen in die Mitte der Ge-
sellschaft gebracht und in der Eigentumsfrage eine Null-
lösung propagiert hat. Ich weise deshalb nochmals sol-
che Diffamierungen auf das Schärfste zurück!

Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zielt nun in dieselbe Richtung wie ein Ände-
rungsantrag der Linken im Kulturausschuss des Bundes-
tages: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
soll keinen „Neustart“ hinlegen – die Bundesvertriebe-
nenstiftung soll am besten für immer gestoppt werden!
Laut den Grünen habe etwa die „nicht abreißende Kette
von Provokationen und Verwerfungen um die Stiftung“
dazu geführt, dass alle ausländischen Vertreter den wis-
senschaftlichen Beirat verlassen hätten. Erstens wird
hier einfach unter den Teppich gekehrt, dass es die Op-
position ist, welche kräftig die Debatte anheizt mit der
Absicht, das ganze Projekt zu torpedieren. Ich will an
dieser Stelle daran erinnern, dass im Dezember 2009 die
Gegner der Vertriebenenstiftung selbst vor drastischen
Fälschungen nicht zurückschreckten: So wurden eine
gefälschte Internetseite der Bundeseinrichtung ins Netz
gestellt und Pressemitteilungen unter falschem Namen
versandt. Zweitens ist die Aussage über die ausländi-
schen Experten schlicht unwahr. Denn der ungarische
Wissenschaftler Dr. Kristián Ungvary sitzt nach wie vor
im Beirat.

Zudem wird in dem Antrag Positives über die Stiftung
völlig ausgeblendet. So taucht an keiner Stelle der Hin-
weis auf das dreitägige internationale Symposium auf,
welches der Direktor Professor Kittel mitorganisiert
hatte und an dem auch Wissenschaftler aus Polen oder
Tschechien teilgenommen haben. Dort stellte er die Eck-
punkte der Konzeption für die Dauerausstellung vor,
welche eine erfreuliche Resonanz fanden. Selbst die
„Frankfurter Rundschau“ räumte ein, dass Professor
Kittel sich „streng an dem noch von der schwarz-roten
Koalition auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf für
die Stiftung“ orientierte.

Die Kritik der Opposition, hier gehe ferner es um
„Erpressung“ durch den BdV oder Geschichte solle um-
geschrieben werden, ist vollkommen ungerechtfertigt.
Denn die Novellierung berührt weder die Mehrheitsver-
hältnisse – der BdV kann mit lediglich sechs von
21 Stimmen nicht dominant sein – noch den Stiftungs-
zweck.

Die christlich-liberale Koalition hat mit der Novellie-
rung des Stiftungsgesetztes die nationale Bedeutung die-
ser Erinnerungseinrichtung und ihre staatliche Aufgabe,
das millionenfache Schicksal der deutschen Heimatver-



gegebene Reden

Klaus Brähmig


(A) (C)



(D)(B)

triebenen zu dokumentieren, unterstrichen und wird sich
durch solche Ablenkungsmanöver nicht beirren lassen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706531300

Über die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“

haben wir hier schon so oft gesprochen, dass mittler-
weile alle Argumente ausgetauscht sind. Wir teilen die
Kritik der Grünen an den vom BdV benannten stellver-
tretenden Stiftungsratsmitgliedern Arnold Tölg und
Hartmut Saenger. Das haben wir in der Bundestagssit-
zung am 8. Juli, in der die Liste der Stiftungsratsmitglie-
der beschlossen wurde, kritisiert. Genauso hat die SPD
die Erweiterung des Stiftungsrates und das Wahlverfah-
ren scharf kritisiert. Wir haben aber auch immer wieder
deutlich gemacht, dass wir grundsätzlich hinter dem
Projekt Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ste-
hen. Deshalb sind wir gegen ein Moratorium, wie es die
Grünen fordern. Deshalb sind wir auch gegen die voll-
ständige Streichung der Mittel für die Stiftung.

Nichtsdestotrotz halten auch wir die 2,5 Millionen
Euro, die im Haushalt für die Stiftung eingestellt sind,
für viel zu hoch. Bisher ist nicht ersichtlich, wofür die
Stiftung die Mittel verwendet, denn bisher liegt noch im-
mer kein Konzept für die Ausstellung vor. Wenn die Stif-
tung schon jetzt 2,5 Millionen Euro erhält, wie viel soll
sie bekommen, wenn sie erst mal richtig anfängt zu ar-
beiten?

Auch wir haben unsere Unterstützung für die Stiftung
davon abhängig gemacht, dass sie den im Stiftungsge-
setz festgeschriebenen Zweck erfüllt – nämlich „im
Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Geden-
ken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im
historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der
nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungs-
politik und ihren Folgen wachzuhalten“.

Die bisherigen Querelen haben diesem Zweck extrem
geschadet. Mit dem Beharren auf Erika Steinbach und
der Benennung der beiden Stellvertreter hat der BdV der
Legitimität der Stiftung massiv geschadet und damit
auch die Arbeit vieler Vereine des BdV, die aktive Ver-
söhnungsarbeit leisten, in Misskredit gebracht. Der BdV
muss endlich begreifen, dass die Stiftung „Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung“ nicht das „Zentrum gegen Ver-
treibung“ ist. Die Stiftung ist ein Projekt des Bundes.
Mit dem Beschluss im Jahr 2008 hat der Bundestag die
Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu seiner Sache
und damit zur Angelegenheit der gesamten Gesellschaft
gemacht.

Wenn der BdV nicht möchte, dass die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ scheitert, muss er
die beiden kritisierten Stellvertreter zurückziehen. Das
ist Voraussetzung dafür, dass der Zentralrat der Juden
wieder für eine Mitarbeit gewonnen werden kann. Hier
ist die Regierungskoalition in der Verantwortung!

Das Ärgerliche an der Debatte um die Stiftung ist,
dass die Diskussion über die Themen Flucht und Vertrei-
bung bereits viel weiter ist. Es gibt gemeinsame Histori-
kerkommissionen mit Polen, Tschechen, Slowaken, die
seit vielen Jahren gemeinsam an den Themen Flucht und
Zu Protokoll
Vertreibung arbeiten. Kürzlich wurde ein Ausstellungs-
konzept vorgestellt, das in Zusammenarbeit mit Histori-
kern aus Polen, Tschechien und der Slowakei erarbeitet
wurde. Es gibt viele Vereine und Initiativen, die Versöh-
nung leben.

Das letzte, was die Stiftung jetzt braucht, ist ein Mo-
ratorium – das wäre ihr Ende. Die Stiftung muss endlich
anfangen, richtig zu arbeiten, und sollte sich dabei nicht
von fatalen Äußerungen von Mitgliedern des BdV behin-
dern lassen.

Für die Stiftungsratssitzung am 25. Oktober ist end-
lich die Vorlage des Ausstellungskonzepts angekündigt.
Es ist wichtig, dass das Konzept im wissenschaftlichen
Beirat und in der Öffentlichkeit und der Fachwelt disku-
tiert wird, bevor der Stiftungsrat dem zustimmt. Für den
wissenschaftlichen Beirat müssen renommierte Wissen-
schaftler gewonnen werden – nur so kann die Stiftung
Vertrauen und Legitimität gewinnen. Seit Beginn der
Debatte um die Stiftung fordern wir, dass es eine inter-
nationale Tagung gibt, bei der zusammen mit Wissen-
schaftlern aus verschiedenen Ländern diskutiert wird,
was in der Ausstellung gezeigt werden soll. Diese Ta-
gung muss nach Vorlage des Konzepts endlich stattfin-
den. Damit ließe sich verlorenes Vertrauen wieder auf-
bauen – aber nur, wenn auch die Bereitschaft da ist,
Anregungen in das Ausstellungskonzept aufzunehmen.
Das Konzept der Regierung, auf das sich der Stiftungs-
direktor Manfred Kittel immer beruft, bildet nur den
Rahmen, innerhalb dessen das eigentliche Ausstellungs-
konzept erarbeitet und dann im wissenschaftlichen Be-
ratungsgremium diskutiert werden soll. Gerade die wis-
senschaftliche Expertise ist Voraussetzung dafür, dass
die Ausstellung der Stiftung Akzeptanz auch bei unseren
Nachbarn finden wird.

Der Antrag der Grünen wird in den Fachausschüssen
weiter diskutiert. Ich sage schon jetzt: ein Moratorium
ist der falsche Weg. Die Stiftung muss endlich in die in-
haltliche Offensive kommen und Offenheit für die inhalt-
liche Diskussion beweisen.


Lars Lindemann (FDP):
Rede ID: ID1706531400

Der Antrag 17/3064 der Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen beginnt mit der Forderung, zwei stellvertretende
Mitglieder des Stiftungsrates auszuschließen. Diese bei-
den stellvertretenden Mitglieder – Hartmut Sänger und
Arnold Tölg – haben sachlich betrachtet die Arbeit des
Stiftungsrates vollumfassend gesehen und nicht nur ein-
seitig beleuchtet. Die Aufgabe und das Ziel der Arbeit
des Stiftungsrates bestehen darin, dass ein sichtbares
Zeichen im Geiste der Versöhnung gesetzt wird, für alle
noch immer Betroffenen.

Beide betonen, dass die Nazis schlimme Verbrechen
an anderen Völkern begangen haben, aber auch nicht
vergessen werden darf, dass als Folge dieser Verbrechen
Deutsche ebenfalls vertrieben, zwangsumgesiedelt und
an ihnen Verbrechen verübt wurden. Es wird damit
nichts verharmlost oder gar herabgesetzt. Der Hinweis
der beiden darauf, dass auch Deutsche von Vertreibung,
Zwangsumsiedlung und Verbrechen am Ende des Zwei-



gegebene Reden

Lars Lindemann


(A) (C)



(D)(B)

ten Weltkrieges betroffen waren, lässt einen Ausschluss
aus dem Stiftungsrat nach meiner Auffassung nicht zu.

Sinnvoll und angebracht wäre es derzeit, wenn end-
lich alle Stiftungsratsmitglieder und auch die Stellver-
treter mit der eigentlichen Arbeit beginnen könnten.
Sollte sich dann im Verlauf der eigentlichen Tätigkeit
herausstellen, dass der eine oder andere – aus welchen
Gründen auch immer – für die Arbeit im Stiftungsrat un-
tragbar ist, kann über ein mögliches Ausschlussverfah-
ren zu jedem Zeitpunkt gesprochen werden. Vorerst je-
doch stellt sich weder die Notwendigkeit noch die
Dringlichkeit, Mitglieder und stellvertretende Mitglie-
der auszuschließen. Vielmehr sollen hier durch den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Vorhinein
einzelne Beiträge für die gemeinsame Aufgabe in der
Stiftung ausgeschlossen werden.

Ich vermisse an dieser Stelle die Sachargumente mei-
ner Kollegen von der Faktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sie verhindern mit ihren Vorhaltungen den Beginn der
eigentlichen Arbeit des Stiftungsrates. Ich bin darüber
hinaus weiter der Auffassung, dass jetzt zunächst der
Stiftungsrat die Diskussion darüber zu führen hat. Dies
ist auch – aber nicht nur – eine Aufgabe der breiten Me-
dienöffentlichkeit. Würden wir dies zulassen, könnte der
Stiftungsrat nie mit der eigentlichen Arbeit beginnen.
Der Antrag ist daher zurückzuweisen.

Weiter fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
dass der Bundestag der Stiftung ein Moratorium aufer-
legt. Ihre Forderung bedeutet im Klartext, dass die Stif-
tung nicht arbeiten kann. Dies ist weder im Sinne der
Bundesregierung noch der Stiftung noch der Mehrheit
hier im Bundestag. Die Stiftung hat einen klaren Auftrag
erhalten. Sie als Antragsteller wollen eine weithin an-
haltende medienöffentliche Diskussion über Personen,
aber nicht in der Sache!

Nicht nur der Direktor der Stiftung, Herr Professor
Dr. Kittel, sondern auch Kommissionsmitglieder aus
Deutschland, Polen, der Slowakei und Tschechien haben
bereits erste Konzeptionen für die Stiftungsarbeit entwi-
ckelt. Diese werden am 25. Oktober 2010 dem Stiftungs-
rat vorgestellt.

In dieser Konzeption, beispielsweise von Professor
Dr. Kittel, fokussieren sich inhaltliche Vorschläge zur
Schaffung einer Dauerausstellung und Dokumentations-
stätte, die in einem chronologischen Rundgang von der
Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die Zeit nach 1989 auf-
gebaut sein sollen. Fallstudien aus einzelnen Regionen
sollen darin eingebettet werden.

So weit der aktuelle Diskussionstand, lassen sie uns
darüber sprechen.

Als ebenfalls unsinnig ist darum der Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen zu werten, die Mittel für die
Stiftung zu streichen. Würde diesem Antrag stattgege-
ben, könnte die Stiftung ihre Arbeit nicht fortsetzen. Das
Ziel der Stiftung, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen,
das Bewusstsein um das tiefe menschliche Leid wachzu-
halten und die junge Generation an dieses Thema he-
ranzuführen, wäre mit einer Streichung der Finanzie-
rungsmittel nicht mehr durchführbar. Die Stiftung
Zu Protokoll
müsste ihre Arbeit aufgeben. Wir verlieren damit wert-
volle Zeit.

Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen empfehle ich
dringend einen Blick in das Gesetz, konkret in § 19 des
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung. Der Deutsche
Bundestag wählt Abgeordnete, die im Stiftungsrat tätig
werden sollen, aus. Somit ist gewährleistet, dass der
Deutsche Bundestag Mitglieder aus allen Fraktionen
vorschlagen kann. Eine Änderung des Gesetzes ergibt
daher keinen Sinn, da die geforderte Möglichkeit bereits
besteht.

Auszug aus § 19 des Gesetzes:


(3) Die oder der Beauftragte der Bundesregierung

für Kultur und Medien leitet die Vorschläge nach
Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 bis 4 und Satz 2 mit ei-
nem entsprechenden Antrag zur Wahl der Präsiden-
tin oder dem Präsidenten des Deutschen Bundesta-
ges zu. Der Deutsche Bundestag wählt auf Grund
der Vorschläge nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 bis 4
und Satz 2 die Mitglieder und stellvertretenden Mit-
glieder.

Auch wenn es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gerne anders darstellt, es gibt die Möglichkeit, einzelne
Personen nicht zu wählen. Es mag sein, dass nur ein Ge-
samtvorschlag angenommen oder abgelehnt werden
kann, dies bedeutet jedoch nicht, dass bei Ablehnung des
Gesamtvorschlages einzelne Mitglieder nicht wieder
aufgestellt werden können.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vollumfäng-
lich zurückzuweisen ist. Wir werden dem nicht zustim-
men.


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706531500

Für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“

muss ein Neuanfang gefunden werden. So wie bisher
geht es nicht weiter. Das müsste allen Beteiligten inzwi-
schen klar sein. Die Fraktion Die Linke hat bereits in ei-
nem Änderungsantrag zum Einzelplan 04 gefordert, die
für die Stiftung für 2011 vorgesehenen Mittel von
2,5 Millionen Euro zu streichen. Das bedeutet praktisch
ein Moratorium. Und dieses Moratorium sollte genutzt
werden, die Stiftung in einem einvernehmlichen europäi-
schen Rahmen und im Geiste der Versöhnung neu zu
positionieren.

Um diese Neupositionierung zu ermöglichen, fordert
die Fraktion Die Linke:

Eine Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien
mit internationalen Wissenschaftlern, insbesondere aus
den Nachbarländern Polen, Tschechien und der Slowa-
kei. Außerdem sollte die Historikergruppe um Professor
Schulze-Wessel eingeladen werden, die in Zusammenar-
beit mit der „Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slo-
wakischen Historikerkommission“ sowie der „Deutsch-
Polnischen Schulbuchkommission“ bereits ein Ausstel-
lungskonzept zum Thema „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ vorgestellt hat.



gegebene Reden





Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)

Auch sollte im Rahmen der Anhörung geprüft werden,
ob nicht doch ein anderer Standort für die Stiftung ge-
funden werden kann, zum Beispiel Görlitz/Zgorzelec
oder Wroclaw.

Den in der Gesetzesnovelle vom 14. Juni 2010 festge-
legten Berufungsmechanismus für den Stiftungsrat im
Blockwahlverfahren aufzuheben. Die rein quantitative
Vergrößerung des Gremiums sollte durch eine qualita-
tive Besetzung ersetzt werden. Neben Vertretern der
christlichen Kirchen sowie des Zentralrates der Juden in
Deutschland sollte eine Vertretung der Sinti und Roma
sowie der muslimischen Mitbürger gewährleistet sein.
Wenn es um Vertreibungen im 20. Jahrhundert geht, kön-
nen besonders diese beiden Bevölkerungsgruppen Wich-
tiges für die Stiftungsarbeit beitragen. Außerdem finden
auch wir, wie im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen verlangt, dass alle Fraktionen des Bundestages
im Stiftungsrat vertreten sein sollten.

Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
stimmen wir zu.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Der Streit um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ beschäftigt seit vielen Monaten den Bundes-
tag und die breite Öffentlichkeit. Im Abstand von weni-
gen Wochen brechen immer wieder neue Konflikte auf,
die die Arbeit der Stiftung und den Stiftungszweck der
Versöhnung mit unseren Nachbarländern infrage stel-
len. Inzwischen sind zwei Vertreter des Bundes der Ver-
triebenen in den Stiftungsrat gewählt worden, die offen
revanchistische Positionen vertreten. Wir haben die Re-
gierungskoalition vor der Wahl von Arnold Tölg und
Hartmut Saenger eindringlich gewarnt und auf die Fol-
gen hingewiesen, die das für die Stiftung und für das
Ansehen unseres Landes haben würde. Die Regierungs-
koalition hat unsere Warnungen nicht ernst genommen.
Sie ist voll verantwortlich für die inakzeptable Zusam-
mensetzung des Stiftungsrats.

Wenn Arnold Tölg, Landesvorsitzender des Bundes
der Vertriebenen in Baden-Württemberg, in einem Inter-
view der rechtsextremen „Jungen Freiheit“ gegen die
Zwangsarbeiterentschädigung wettert und die Schuld
des NS-Regimes gegenüber Zwangsarbeitern mit dem
Verweis relativiert, dass andere Länder auch „Dreck am
Stecken haben“, dann dient das nicht der Versöhnung,
sondern der Verhöhnung von NS-Zwangsarbeitern und
Ländern, die Opfer der NS-Aggression geworden sind.
Und wenn Hartmut Saenger, der Sprecher der Pommer-
schen Landsmannschaft, in einem Zeitungsbeitrag die
Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Welt-
krieges relativiert – Äußerungen, die Vertriebenenpräsi-
dentin Erika Steinbach mit den Worten unterstützt: „Ich
kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im
März 1939 mobil gemacht hat“ –, dann ist endgültig die
Grenze überschritten, an der der Bundestag die Not-
bremse ziehen muß.

Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man die Dinge
nicht einfach weiter treiben lassen darf. Der Zentralrat
der Juden in Deutschland und das Dokumentations- und
Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma haben das
sehr deutlich gemacht, als sie ihre Mitarbeit im Stif-
tungsrat einstellten. Der Bundestag muss dringend han-
deln, zumal die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel
in dieser Frage offenkundig handlungsunfähig sind.
Sonst hätten sie das schändliche Schauspiel um die Stif-
tung schon längst gestoppt.

Wir brauchen jetzt ein Moratorium, während dem die
Arbeit der Stiftung ruht und die Haushaltsmittel, die für
sie vorgesehen sind, gestrichen werden. In dieser Zeit
muß der Bundestag klären, ob und in welcher Form die
Arbeit der Stiftung noch einen Sinn macht. Denn von der
ursprünglichen Idee, hier einvernehmlich in einem euro-
päischen Netzwerk das Thema Flucht und Vertreibung
im 20. Jahrhundert aufzuarbeiten, ist ja nicht mehr viel
übriggeblieben.

Die ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler, die ursprünglich mitgearbeitet haben, sind
längst aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung
ausgetreten. Und Frau Steinbach betrachtet die Stiftung
inzwischen als Privatbesitz ihres Vertriebenenbundes.
Sinti und Roma oder Muslime als Opfer von Flucht und
Vertreibung in Europa kommen nicht vor.

Wenn die Arbeit der Stiftung noch einen Sinn machen
soll, dann muß der gemeinsame europäische Rahmen für
die Arbeit geschaffen werden. Wer die Stiftung einfach
so weiterlaufen lässt, der ist mitverantwortlich dafür,
dass hier ein wahrer Schwelbrand in den Beziehungen
zu unseren Nachbarländern entsteht.

Ebenso dringlich ist die Abberufung von Tölg und
Saenger aus dem Stiftungsrat. Dafür muss der Bundes-
tag die rechtlichen Voraussetzungen schaffen – und da-
bei auch das undemokratische Blockwahlverfahren ab-
schaffen, in dem der Bundestag nur en bloc über eine
Liste von Stiftungsratskandidaten abstimmen kann, frei
nach dem Motto: „Friss, Vogel, oder stirb!“ Dieses
Blockwahlverfahren hat es erleichtert, dass ungeeignete
Kandidaten in den Stiftungsrat gelangen konnten.

Die Zusammensetzung des Stiftungsrates ist insge-
samt so zu verändern, dass alle Gruppen, die von Flucht
und Vertreibung betroffen sind, angemessen berücksich-
tigt werden. Und wir brauchen eine Vertretung aller
Fraktionen des Bundestages im Stiftungsrat. Was in vie-
len anderen Bereichen ganz problemlos geht, muss auch
in einem Bereich möglich sein, in dem demokratische
Mitwirkung besonders wichtig ist.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706531600

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3064 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.

Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Die Friedens- und Konfliktforschung stärken –
Deutsche Stiftung Friedensforschung finan-
ziell ausbauen

– Drucksache 17/1051 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Anette
Hübinger, René Röspel, Dr. Peter Röhlinger, Kathrin
Vogler und Krista Sager ihre Reden zu Protokoll.


Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1706531700

Die Deutsche Stiftung Friedensforschung, DSF, mit

Sitz in Osnabrück ist als gemeinnützige Stiftung bürger-
lichen Rechts politisch und auch finanziell unabhängig.
Sie verfolgt als Einrichtung der Forschungsförderung
den Zweck, die außen- und sicherheitspolitische Bedeu-
tung der Friedensforschung insbesondere in Deutsch-
land dauerhaft zu stärken und zu ihrer politischen und
finanziellen Unabhängigkeit beizutragen.

Zehn Jahre nach ihrer Gründung können wir eine po-
sitive Bilanz ihrer Förderaktivitäten ziehen. Insgesamt
stellte die DSF in diesem Zeitraum fast 13 Millionen
Euro an Fördermitteln für die Friedens- und Konflikt-
forschung bereit. Dabei ist die DSF mit ihren Förderan-
geboten auf eine sehr positive Resonanz in der Fach-
community gestoßen. Ihre Förderstandards haben breite
Anerkennung gefunden. Diese Leistungen sind unstrittig
und dementsprechend zu würdigen.

Neben der DSF sind in Deutschland aber eine Reihe
weiterer Akteure – wie die Hessische Stiftung Friedens-
und Konfliktforschung, HSFK, oder das Institut für Frie-
densforschung und Sicherheitspolitik an der Universität
Hamburg, IFSH, in diesem Forschungsfeld tätig. Allen
Akteuren, gleich ob Fördernde oder Forschende, ist der
Umstand gemein, mit mehr oder weniger begrenzten
Mitteln auskommen zu müssen. Dies liegt in der Natur
der Sache.

Darüber hinaus gibt es weitere Förderangebote des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die un-
mittelbar die Kompetenzen der Friedens- und Konflikt-
forschung ansprechen, wie die Förderung der Regional-
studien im Rahmen der Förderinitiative „Freiraum für
die Geisteswissenschaften“ und die Förderung von For-
schung zum Klimawandel im Rahmen des Programms
„Forschung für nachhaltige Entwicklungen“.

Des Weiteren ist die Verankerung der Friedens- und
Konfliktforschung im deutschen und europäischen Si-
cherheitsforschungsprogramm ein wichtiges Anliegen
der Bundesregierung. So fördert das BMBF aktuell die
Konferenz „Internationales Symposium Religionen und
Weltfrieden. Zum Friedens- und Konfliktlösungspoten-
tial von Religionsgemeinschaften“, die vom 20. bis
23. Oktober 2010 in Osnabrück stattfindet. Dies ist eine
von vielen Maßnahmen, um die Erkenntnisse der Frie-
dens- und Konfliktforschung in die gesellschaftliche und
politische Praxis einfließen zu lassen. In diesem Kontext
sind auch die schon vorhandenen Fördermöglichkeiten
im Rahmen des nationalen und europäischen Sicher-
heitsforschungsprogramms, die Verankerung des The-
mas im 7. Forschungsrahmenprogramm – Thema 8: So-
zial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften – und das
Engagement der DFG in dieser Thematik zu sehen.

Stiftungen sind in ihrer Fördertätigkeit in erster Linie
auf ihre jährlichen Erträge aus ihrem Stiftungsvermögen
angewiesen, aus denen die aufkommenden Ausgaben be-
stritten werden. Die Lage am Finanzmarkt hat damit
nicht unwesentlichen Einfluss auf die Höhe der Erträge.
Neben der Einnahmeseite ist natürlich auch die Ausga-
benseite zu betrachten. Hier hat es, wie im Antrag rich-
tig angeführt, in den letzten Jahren gestiegene Personal-
und Sachleistungskosten gegeben. Die Kombination bei-
der Faktoren kann eine Stiftung vor Probleme stellen.
Auch dies ist unstrittig, trifft allerdings nicht nur auf die
DSF zu.

Natürlich sollten die aufgezeigten Faktoren bei einer
Stiftungsgründung berücksichtig werden und das Stif-
tungskapital in seiner Höhe angemessen ausgestaltet
sein. Ich unterstelle einmal, dass auch die damalige rot-
grüne Bundesregierung diese Weitsicht besessen hat, als
sie die Stiftung ins Leben gerufen und mit einem Startka-
pital in Höhe von damals 50 Millionen DM ausgestattet
hat.

Geht man also davon aus, dass durch das vorhandene
Stiftungsvermögen und die daraus zu erwartenden Er-
träge grundsätzlich eine ausreichende Finanzausstat-
tung vorlag, stellt sich für mich die Frage, wie temporä-
ren Schwierigkeiten – beispielsweise durch niedrigere
Erträge in Folge der Finanzmarktentwicklung – oder
dauerhaften Kostensteigerungen im Forschungsbereich
begegnet werden sollte. Eine Möglichkeit ist es natür-
lich, mehr Geld zu fordern. Dieser verständliche Reflex,
dem hier die Kollegen der SPD folgen, ist nicht meine
erste Devise. 5 Millionen Euro Finanzspritze durch den
Bund sind nun mal kein Pappenstiel.

Wer sich nach Alternativen umschaut, wird schnell in
der Satzung der DSF fündig. Dort ist nachzulesen, dass
auf Beschluss des Stiftungsrates aus dem Stiftungsver-
mögen für die Aufgaben der Stiftung jährlich bis zu
5 Millionen DM – in Euro also 2,56 Millionen – ver-
wandt werden können. Dieser Passus beinhaltet die Ein-
schränkung, dass mindestens 10 Millionen DM, dies
entspricht nach heutigem Stand 5,11 Millionen Euro, des
Stiftungsvermögens als Mindestbetrag ungeschmälert zu
erhalten sind. Für zeitlich beschränkte Schwierigkeiten
wäre dies ein Weg, den man gehen könnte.

Aktuell beläuft sich das Stiftungskapital der Stiftung
auf eine Höhe von 25,57 Millionen Euro. Es kann also
nicht davon gesprochen werden, dass eine finanzielle
Notlage vorliegt, die eine Finanzspritze des Bundes un-
abdingbar macht. Zu berücksichtigen ist auch, dass das
ursprüngliche Stiftungskapital in der Vergangenheit
schon mehrfach aufgestockt wurde.

Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)

Wenn im vorliegenden Antrag attestiert wird, dass die
DSF über keine zusätzlichen Mehreinnahmen verfügt,
um die Anhebung ihrer Förderhöchstbeträge zu stem-
men, ist dies zwar nicht falsch, die Konsequenz aus die-
ser Feststellung muss aber nicht zwangsweise in nur
eine Richtung laufen. So kann die Einnahmeseite zusätz-
lich durch Drittmittel gestärkt werden. Dazu ist in der
Satzung vorgesehen, dass alle Zuwendungen Dritter
dem Stiftungsvermögen zufließen. Auch hier gilt: Erst
sollte diese Möglichkeit der Mittelbeschaffung ausge-
reizt werden.

Schwerpunktsetzungen und Aufgabenkritik sind in
Bezug auf die eigenen Forschungsfördertätigkeiten wei-
tere Punkte, die dabei helfen können, mit den vorhande-
nen Mitteln auszukommen. Schwerpunktsetzungen und
die damit verbundenen Entscheidungen für oder gegen
bestimmte Projekte sowie die strategische Ausrichtung
der Stiftung betreffend sind zwar nicht immer leicht,
doch nach dem in der Satzung verankerten Grundsatz
der sparsamen Mittelverwendung geradezu geboten.

Wie aus den Gremien der DSF zu vernehmen ist, ist
eine Diskussion über die künftige Positionierung der
Stiftung als Einrichtung der Forschungsförderung ange-
laufen. Dieser Prozess ist gerade im Rückblick auf die
zurückliegende zehnjährige Fördertätigkeit zu begrü-
ßen. Der angestoßene Diskussionsprozess rund um die
zukünftige Ausrichtung der DSF kann nur förderlich
sein.

Wie eingangs schon lobend festgestellt, hat die DSF
in den letzten zehn Jahren eine gute Arbeit geleistet. Ein
zehnjähriges Jubiläum ist dabei aber auch eine geeig-
nete Wegmarke, um einerseits Bewährtes zu identifizie-
ren und andererseits Schwachstellen in der eigenen Aus-
richtung aufzudecken. Eine solche Aufgabenkritik kann
eine Institution nur weiterbringen und kann – wie schon
gesagt – auch dazu führen, mit dem vorhandenen Budget
auszukommen. Dazu ist eine ausbalancierte Förder-
struktur vonnöten, die sich beispielsweise stärker auf
kleinere Vorhaben konzentrieren könnte, die es bei ande-
ren Förderern schwerer haben. Der aktuelle Diskus-
sionsprozess innerhalb der DSF rund um das zukünftige
Förderrepertoire der Stiftung wird dazu beitragen, die
DSF fit für die Zukunft zu machen.

Die DSF ist mit dem derzeitigen Stiftungsvermögen
gut aufgestellt. Sie kann mit den vorhandenen Mitteln
auch weiterhin alle Satzungsziele umsetzen, ohne in fi-
nanzielle Bedrängnis zu geraten. Eine weitere Mittelauf-
stockung ist somit nicht notwendig. Daher lehnen wir als
CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag der SPD-
Fraktion ab.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1706531800

Letzten Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der

Deutschen Einheit gefeiert. Er symbolisiert auch das
Ende des Kalten Krieges. Im Deutschen Bundestag
mussten wir in den seither vergangenen zwanzig Jahren
trotzdem oft über Gewalt und Krieg sprechen. Denn mit
dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Welt leider
nicht friedlicher geworden. Laut dem Heidelberger Kon-
fliktbarometer hat die Zahl der Konflikte weltweit seit
Zu Protokoll
1990 sogar zugenommen. Bei den Debatten über aktu-
elle Konflikte suchen wir Abgeordneten Antworten auf
die Fragen von Gewalt. Dabei empfinden wir mitunter
das Gefühl, nur noch zwischen Nichtstun und dem Mittel
der Gegengewalt entscheiden zu können. Denn wenn wir
uns im Plenum mit Krieg und Gewalt beschäftigen, ist
das Kind meist bereits in den Brunnen gefallen. Wir ver-
suchen dann die Symptome des Konflikts zu bekämpfen,
um deren Ursachen wir uns hingegen oft nicht oder erst
später kümmern können, weil die Symptome in Form von
Gewalt meist so brutal und unglaublich erscheinen und
für anderes keine Zeit mehr bleibt. Oft sind uns die ge-
nauen Ursachen des Konflikts aber auch unklar, oder es
fehlt die nötige Sensibilität, die Zeit, das Geld oder das
Durchhaltevermögen.

Verantwortungsvoller, humaner und deutlich effekti-
ver und kostengünstiger, nicht nur fiskalpolitisch gese-
hen, ist es, den Frieden bereits in Friedenszeiten zu un-
terstützen und zu festigen. Denn neben den Frieden
gefährdenden Mechanismen existieren zum Glück auch
Strukturen, die den Frieden stärken und Konflikte ver-
hindern können. Dabei spielen demokratische und
transparente Entscheidungsprozesse, soziale Rechte und
die gerechte Verteilung von Ressourcen und Gewaltfrei-
heit eine wichtige Rolle. Wir Parlamentarier wissen aus
unserer Arbeit, wie wichtig diese Aspekte auch für un-
sere Demokratie in Deutschland sind. Diese Prozesse
und die dazugehörigen Strukturen hier und weltweit zu
unterstützen, das ist Friedensarbeit.

Wie und unter welchen Umständen diese Strukturen
aufgebaut, erhalten und gestärkt werden können, damit
beschäftigt sich die Friedens- und Konfliktforschung.
Dazu suchen die Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler die Ursachen für Konflikte, aber auch die sta-
bilisierenden Faktoren einer friedlichen Gesellschaft.
Dabei gibt es grundlegende Aspekte, die in allen Gesell-
schaften ähnlich sind. Jede einzelne Gesellschaft hat
aufgrund ihrer Tradition und Geschichte aber auch ei-
gene Strukturen der Friedenssicherung bzw. des Gewalt-
potenzials. Diese gilt es ebenfalls herauszufinden.

Um die Friedens- und Konfliktforschung in Deutsch-
land weiter zu festigen und zu unterstützen, wurde vor
zehn Jahren durch die damalige rot-grüne Bundesregie-
rung die „Deutsche Stiftung Friedensforschung“ ge-
gründet. Diese Stiftung betreibt keine eigene Forschung,
sondern wählt förderwürdige Projekte aus und unter-
stützt diese finanziell. Seit Gründung der Stiftung wur-
den über 46 große und über 100 kleine Forschungs-
vorhaben finanziert. Darunter sind zum Beispiel
Forschungsarbeiten zum Thema Parlamentsbeteili-
gungsgesetz, der Verwendung von nichtletalen Waffen
und der Rolle von Religion oder von föderalistischen
Strukturen in Konflikten.

Neben der Finanzierung von Forschungsprojekten
unterstützt die DSF auch Tagungen und Publikationen.
Denn Aufgabe der Stiftung ist es auch, die Ergebnisse
der geförderten Forschungsvorhaben in die politische
Praxis und Öffentlichkeit zu vermitteln. Für die parla-
mentarische Ebene veranstaltet die DSF zum Beispiel in
regelmäßigen Abständen Parlamentarische Abende zu



gegebene Reden

René Röspel


(A) (C)



(D)(B)

aktuellen Themen. Letzte Woche konnten wir Abgeord-
neten uns zum Beispiel mit den Experten aus der Wissen-
schaft über die Chancen und Risiken der Einbindung
von Gewaltakteuren in den Friedensprozess informie-
ren. Die Friedensforscherinnen und Friedensforscher
zeigten dabei anhand der Taliban- und Hamas-Gruppie-
rungen, welche Chancen für eine Einbindung dieser
Gruppen in den politischen Prozess bestehen, aber lei-
der auch, welche Chancen zum Beispiel in Afghanistan
bereits vertan wurden.

Das sicherlich bekannteste Buchprojekt, das durch
die DSF finanziell unterstützt wird, ist das „Friedens-
gutachten“. Herausgeber sind die fünf großen deutschen
Friedensforschungsinstitute. In der aktuellen Ausgabe
beschäftigen sich die Autoren zum Beispiel mit der Situ-
ation in Afghanistan, dem Umgang mit Gewaltakteuren,
der Vision einer nuklearfreien Welt und den sicherheits-
politischen Konsequenzen aus der Weltwirtschaftskrise.
Es ist wie immer ein sehr lesenswertes Jahrbuch – nicht
nur für Außen- und Sicherheitspolitiker.

Einige Friedens- und Konfliktforscherinnen und -for-
scher beschäftigen sich sehr intensiv mit den Themen
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.
Dabei spielen neue wissenschaftliche Erkenntnisse und
neue Technologien eine große Rolle, einerseits als Mittel
der Begrenzung der Bedrohung, andererseits als mögli-
che Instrumente des Missbrauchs. Die DSF hat in die-
sem Bereich zum Beispiel eine Bewertung der Nanotech-
nologien und einen Bericht über das Proliferationsrisiko
von Spallationsneutronenquellen finanziell unterstützt.
Da diese beiden Forschungsbereiche auch durch das
Bundesforschungministerium finanziert werden, sollten
wir Forschungspolitiker uns diesen Berichten ebenfalls
widmen.

Ich denke, alle hier Anwesenden sind mit mir einig,
dass alle von der DSF finanzierten Projekte relevante
Forschungsfragen bearbeiten. Die Ergebnisse daraus
sind für eine wissensbasierte politische Entscheidungs-
findung im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik, der
Entwicklungszusammenarbeit, der Forschungspolitik,
aber auch anderen Politikbereichen äußerst hilfreich.
Auf der politischen Ebene existieren bereits erfolgreiche
Instrumente, in die diese Ergebnisse einfließen können.
Diese müssen dann nur noch nachjustiert bzw. richtig
eingesetzt werden. Einige Instrumente werden zum Bei-
spiel durch das Auswärtige Amt finanziert. Dass die
schwarz-gelbe Regierung im aktuellen Haushaltsent-
wurf die Mittel für Krisenprävention, Friedenserhaltung
und Konfliktbewältigung um fast 40 Millionen Euro kür-
zen will, ist deshalb eine Schande und absolut kurzfristig
gedacht. Leider überraschen die Haushaltskürzungen
nicht. Bereits in der Haushaltsdebatte 2009 hat die
SPD-Bundestagsfraktion unter anderem eine Erhöhung
des Stiftungskapitals für die DSF gefordert. Diese For-
derung wurde von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Be-
reits damals begann die Kürzungspolitik, die sich jetzt in
den Budgets anderer Ministerien fortsetzt.

Mit unserem heute debattierten Antrag fordern wir
eine Erhöhung des Stiftungskapitals der DSF um
5 Millionen Euro. Diese Forderung haben wir auch mit
Zu Protokoll
einem entsprechenden Änderungsantrag zum Haushalt
flankiert. Diese Erhöhung ist nötig, damit die satzungs-
gemäßen Ziele der Stiftung weiterhin erfüllt werden kön-
nen. Derzeit reicht das Geld nicht aus, um zum Beispiel
die wichtige Nachwuchsförderung fortzuführen. Grund
für die Finanzlücke sind unter anderem die in den letzten
Jahren allgemein gestiegenen Kosten bei Sachleistun-
gen und Personal. Hier muss nun bei der DSF finanziell
nachgezogen werden.

Wir hoffen, dass dieses Jahr in den Reihen von CDU/
CSU und FDP doch ein wenig mehr Vernunft als letztes
Jahr vorherrscht und sie in der Haushaltsbereinigungs-
sitzung für die DSF-Erhöhung stimmen. Denn die Gel-
der für die Friedens- und Konfliktforschung bereichern
die deutsche Forschungslandschaft. Die Ergebnisse
wiederum liefern wichtige Entscheidungshilfen zur welt-
weiten Friedenssicherung und können kostspielige und
wenig effiziente Symptombekämpfung vermeiden. Wenn
Friedens- und Konfliktforschung auch nur einen Kon-
flikt verhindern, abmildern oder beenden kann, so hat
sich jeder Euro dafür gelohnt. Aber leider gibt es dafür
viel weniger Geld als für Waffen und Militär.


Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1706531900

Nicht erst seit den weltweit zu spürenden Folgen des

Terroranschlages vom 11. September 2001 auf das
World Trade Center in New York hat die Friedens- und
Konfliktforschung die wissenschaftliche Bühne betreten.
Als Kind des Kalten Krieges und einer Zeit, in der die
europäischen Kolonialmächte ihre ehemaligen Kolonien
in die Freiheit entließen, rückte sie schnell in das Be-
wusstsein der Nach-Weltkriegs-Gesellschaften.

Was sind die Ursachen von Konflikten, wie können sie
am Verhandlungstisch gelöst werden, und warum müs-
sen Staaten auch heute noch zum letzten Mittel, dem
Krieg, greifen? Ist der Krieg überhaupt noch das letzte
Mittel der Wahl? Ist die Aussage des preußischen Gene-
rals Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz, „Der Krieg
ist eine bloße Fortsetzung der Politik unter Einbezie-
hung anderer Mittel“ – siehe „Vom Kriege“, Buch I,
Kap. 1, Abschnitt 24 –, noch gültig? Ich meine Ja, denn
der Krieg ist so der Politik immer untergeordnet. Die
Verantwortung liegt also im wahrsten Sinne des Wortes
in unserer Hand. Der Deutsche Bundestag hat in jüngs-
ter Zeit hierzu weitreichende Beschlüsse gefasst. Ich
denke dabei vor allen an die Einsätze der Bundeswehr in
Afghanistan.

Die Friedens- und Konfliktforschung unserer Tage
entwickelte sich in dem Maße, wie sich die Menschen
der Gefahren einer atomaren Bewaffnung von sich ideo-
logisch entgegenstehenden Staaten und ihren Bündnis-
systemen bewusst wurden. Der Kalte Krieg jener Jahre
ist spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer und der
Vollendung der deutschen Einheit vorbei. Aber leider ist
auch unsere Zeit nicht gewaltfrei, auch wenn in ihren
zentralen Regionen weitgehend Friede herrscht!

Nicht zu übersehen sind heute noch die Folgen des
Kalten Krieges. Nach wie vor tragen Länder, die durch
das eine oder andere Lager in dessen jeweilige Interes-



gegebene Reden

Dr. Peter Röhlinger


(A) (C)



(D)(B)

senshemisphäre einbezogen wurden, ein schweres Erbe
und sind Schauplätze brutaler regionaler Kriege.

Auch in unserer Zeit muss der Frieden bzw. die Frie-
denssicherung täglich neu erkämpft werden! Das führt
mir zumindest deutlich vor Augen: Der Frieden ist nicht
allein durch die Abwesenheit von Krieg gekennzeichnet.
Vielmehr muss er auch zum Beispiel durch ökonomische
Teilhabe der Länder der sogenannten Dritten Welt,
durch Gleichberechtigung der Geschlechter, durch Sä-
kularisierung und durch die Überwindung nationaler
und ethnischer Stereotype sicherer gemacht werden. Das
bedeutet auch, Konfliktursachen genau zu untersuchen,
zu beschreiben und daraus Schlüsse zu ziehen.

Was kann heute nicht alles Bedrohungsängste und
Angriffslust auslösen? Weltweit identifizierte Konflikt-
felder, die internationale Terrorismusbekämpfung durch
die Vereinten Nationen, der forcierte Unilateralismus
der USA, aber auch der Wandel der Bündnisverpflich-
tungen innerhalb der NATO setzen eine objektive wis-
senschaftliche Begleitung, Betrachtung und Wertung
durch die Friedensforschung in Deutschland voraus.

Friedens- und Konfliktforschung muss auch ein In-
strument wissenschaftlicher Politikberatung sein. Der
Einsatz der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan
und die daraus resultierenden möglichen Veränderun-
gen der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten bedingen ei-
nen zeitnahen und effizienten Transfer von Forschungs-
ergebnissen zu den politischen Entscheidungsträgern.

Dabei darf es nicht nur darum gehen, den wissen-
schaftlichen Erkenntnisgewinn den Bedürfnissen von
Entscheidungsträgern in Regierungen, Parlamenten,
Parteien und Organisationen anzupassen und ihn darauf
abzustimmen. Vielmehr muss die Friedensforschung
Theorien über die Ursachen von Krisen und Konflikten,
über Krisenprävention und Konfliktbewältigung entwi-
ckeln, der Politik Empfehlungen zu Handlungsmöglich-
keiten geben und deren Konsequenzen aufzeigen.

Die Friedens- und Konfliktforschung ist konkret. Je
genauer die Fragestellungen, desto klarer sind die Ant-
worten. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit
möchte ich an dieser Stelle einige Fragen stellen:

Welche Auswirkungen hat zum Beispiel das scheinbar
freie Spiel der Kräfte auf den Finanzmärkten für die Sta-
bilität der Volkswirtschaften und für den Welthandel?
Welche Schlussfolgerungen müssen aus den Auswirkun-
gen der Finanzkrisen mit Blick auf die Weltpolitik gezo-
gen werden? Welche Gefahren sind mit der geringen
Verfügbarkeit von Trinkwasser in bestimmten Gebieten
unserer Erde verbunden? Welche Folgen bringt die Ver-
knappung von Rohstoffen und vor allem ihre geopoliti-
sche Verfügbarkeit für die Industrieländer mit sich? Auf
welchen seltenen Rohstoffen basieren die neuen Techno-
logien und wie wird die Versorgungssicherheit der Wirt-
schaft gewährleistet?

Die deutsche Friedensforschung ist gut aufgestellt.
Sie hat zu einer objektiven und interdisziplinären Beur-
teilung der Konflikte beigetragen. Sie hat belastende
ökonomische, ideologische, konfessionelle und religiöse
sowie ethnische Strömungen in der Welt aufgezeigt.
Zu Protokoll
Hierzu gehören die Erkenntnisse und Erklärungsmo-
delle der verschiedenen Disziplinen, wie zum Beispiel
das Staats- und Völkerrecht, die Spieltheorie des strate-
gischen Verhaltens und die Wachstumstheorie sowie de-
ren Abgleich untereinander. Die Friedens- und Konflikt-
forschung hat im deutschen Wissenschaftssystem einen
festen Platz eingenommen. Sie wird zum großen Teil auf
gutem Niveau durch die öffentliche Hand des Bundes
und der Länder finanziert.

Jetzt komme ich zum Antrag der SPD. Sicherlich hat
Rot-Grün in seiner Regierungszeit mit der Gründung
der Deutschen Stiftung Friedensforschung, DSF, ein
redliches Ziel verfolgt. Die Stiftung hat durch ihre Arbeit
und durch ihre Vermittlertätigkeit zwischen den Institu-
tionen der Friedens- und Konfliktforschung und durch
direkte Projektförderung einen anerkennenswerten Bei-
trag geleistet. Sie hat durchaus eine institutionelle Lücke
zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Politik ge-
schlossen.

Meine Fraktion hat aber bereits in den Gründungs-
jahren immer wieder gesagt: Die Stiftung muss ihren
Beitrag für ihre politische und finanzielle Unabhängig-
keit leisten und sie darf dieses Ziel nie aus dem Auge
verlieren. Die Stiftung wurde mit dem notwendigen
Grundkapital in Höhe von 25,57 Millionen Euro ausge-
stattet. Der Bund hat auch danach noch „zugestiftet“.
Jetzt ist sie finanziell und politisch unabhängig. Sie fi-
nanziert sich aus Erträgen des Stiftungskapitals und
durch Zustiftungen. In dieser Phase muss sie zeigen, wie
tief sie im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist.
Die Anerkennung zeigt sich heute letztendlich im bür-
gerschaftlichen Engagement der Stifter, in ihrer persön-
lichen Identifikation mit dem Stiftungsgedanken und in
ihrem persönlichen Beitrag.

Sicherlich sollten wir gemeinsam über die Stellung
der Stifter und deren Behandlung weiter nachdenken.
Und genau dafür treten auch unsere Stiftungsratsmit-
glieder, wie der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Herr Dr. Werner Hoyer, die Parlamentarische Staatsse-
kretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung, Frau Gudrun Kopp,
und die Kollegin Frau Marina Schuster ein.

Meine Damen und Herren von der SPD, von einer auf
Dauer angelegten Subventionierung durch die öffentli-
che Hand war nie die Rede. Daher können wir dem An-
trag der SPD nicht unsere Zustimmung geben.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706532000

Für die Fraktion Die Linke bedanke ich mich beim

Kollegen Röspel und der SPD-Fraktion für diesen An-
trag. Ich will begründen, warum ich ihn für notwendig,
aber nicht hinreichend halte. Friedensforschung ist für
uns untrennbar verbunden mit großen Wissenschaftlern
wie Albert Einstein, Joseph Weizenbaum bis hin zu
Hans-Peter Dürr und den Göttinger Achtzehn. Dies sind
Menschen, die sich aus humanistischer und pazifisti-
scher Überzeugung in ihrer Wissenschaft und der Frie-
densforschung über alle Anfeindungen hinweg für den
Frieden forschend und lehrend engagierten. So heißt es
in der Erklärung der Göttinger Achtzehn von 1957, zu



gegebene Reden

Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

denen unter anderem die Nobelpreisträger Heisenberg,
Hahn und Born sowie Carl Friedrich von Weizsäcker
zählten: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichner be-
reit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem
Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteili-
gen.“

Eine solche Absage ist heute aktueller denn je. Nach
Auskunft des Friedensforschungsinstituts SIPRI werden
jedes Jahr in Deutschland zwischen 5 und 7 Milliarden
Euro öffentliche Mittel für die Rüstungsforschung an öf-
fentlich geförderten Instituten ausgegeben. Gegenüber
diesen Milliarden wirkt der Antrag der SPD-Fraktion
von einmalig 5 Millionen Euro für die Deutsche Stiftung
Friedensforschung noch deutlich zu bescheiden. Die
Stiftung wird im Jahr 2011 für friedenswissenschaftliche
Projekte circa 600 000 Euro ausgeben können, für
Kriegsforschung stehen Milliardenbeträge bereit.

Finanzielle Prioritäten zeigen den politischen Willen
der Handelnden. Wieder werden nach Bertolt Brecht
mehr „erfinderische Zwerge, die man für alles mieten
kann“, an den Hochschulen herangezogen als enga-
gierte junge Menschen, die sich zu Hause und in der
Welt für den Frieden engagieren. Es hat doch nicht erst
des gescheiterten Krieges in Afghanistan bedurft, um er-
neut zu beweisen, dass Krieg und damit auch Kriegsfor-
schung kein Problem dieser Welt löst.

Die Friedensforschung steht heute vor der großen
Aufgaben. Die Zusammenhänge zwischen Klimaverän-
derung, Ernährungsunsicherheit, Wasser- und Ressour-
cenknappheit, ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen
erfordern neue Konzepte und Lösungsansätze im Sinne
ziviler Krisenprävention und nichtmilitärischer Kon-
fliktbeilegung. Das sind enorme Zukunftsherausforde-
rungen für Generationen junger Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler. Und wir diskutieren über eine Ka-
pitalerhöhung von 5 Millionen Euro, die pro Jahr nicht
mehr als 200 000 Euro Ertrag für Projekte bringen
würde. Notwendig und sachgerecht wäre schon jetzt eine
Verdopplung des Stiftungskapitals um 25 auf 50 Millio-
nen Euro. Ein Zigfaches solcher Summen haben die ver-
schiedenen Mehrheiten dieses Hauses in den letzten
Jahren etwa für die Kostensteigerungen bei den Rüs-
tungsprojekten Eurofighter, Kampfhubschrauber oder
Airbus A400M, ohne mit der Wimper zu zucken, durch-
gewinkt.

Ein deutlicher Anstieg der Förderung für die Frie-
densforschung gehört für die Linke zu dem notwendigen
Paradigmenwechsel deutscher Politik hin zu einer zivil
ausgestalteten, aktiven Friedenspolitik. Dazu sollten
nach meiner Auffassung auch Friedenswissenschaft und
Friedensbewegung noch enger zusammenarbeiten.
Dazu gehört auch, dass sich die Friedenswissenschaft
noch stärker grundsätzlicheren friedenspolitischen Fra-
gen widmet, etwa der Erforschung der großen, vom
Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat formulierten
Vision, „die Institution Krieg von diesem Planeten zu
verbannen“.

Trotz der geringen Mittel leistet die Friedensfor-
schung heute schon Beeindruckendes. Erinnert sei nur
an die Ausarbeitung der Nuklearwaffenkonvention. Die-
Zu Protokoll
ses Modell für ein umfassendes Vertragswerk zur Ab-
schaffung aller Atomwaffen wurde bei der letzten Über-
prüfungskonferenz von der großen Mehrheit der Staaten
der Welt unterstützt – leider noch nicht von der Bundes-
regierung, trotz der wiederholten Bekenntnisse von Au-
ßenminister Westerwelle zu einer atomwaffenfreien
Welt.

Ganz persönlich wünsche ich mir ein großzügig ge-
fördertes, interdisziplinäres Forschungsprogramm für
eine „Bundesrepublik Deutschland ohne Armee“. Die
Linke setzt sich dafür ein, dass die Vorschläge der For-
scherinnen und Forscher auch in der politischen Praxis
berücksichtigt werden. Friedensforschung ist keine El-
fenbeinturmwissenschaft, sondern Anleitung zum Han-
deln für eine bessere, friedlichere Welt.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706532100

Es war ein mühseliger Prozess, bis es im Jahr 2000

zur Errichtung der Deutschen Stiftung Friedensfor-
schung kam. Mein ehemaliger Kollege Winfried Nachtwei,
der sich sehr für die Stiftung eingesetzt hat, könnte da-
von sicher manches Liedchen singen. Umso erfreulicher
ist es, dass sich dieses rot-grüne „Baby“ so positiv ent-
wickelt hat und inzwischen als wohlgeratenes Kind einer
parteiübergreifenden Großfamilie angesehen wird.

Wenn der Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik
der CSU Fachgespräche mit der Stiftung Friedensfor-
schung durchführt, kann man wohl davon ausgehen,
dass die Kompetenz der Stiftung inzwischen allgemein
anerkannt ist.

Die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensfor-
schung fiel nicht zufällig in eine Zeit, in der – nach
Überwindung der Blockkonfrontation – durch eskalie-
rende ethnische und nationalistische Konflikte die Frage
nach der Prävention und Friedenserhaltung verstärkt
ins politische Bewusstsein gerückt war.

Der krisenpräventive Ansatz spielt nach wie vor eine
zentrale Rolle in der Mission und Arbeit der Stiftung. Wie
kann die gewaltsame Eskalation von Konflikten vermie-
den und wie kann nach einer gewaltsamen Auseinander-
setzung wieder eine friedliche Entwicklung ermöglicht
werden? Diese Themen sind für die wissenschaftliche
Forschung von ungeschmälerter Relevanz.

Mit der Gründung einer gemeinnützigen Stiftung Bür-
gerlichen Rechts wurde eine möglichst große Unabhän-
gigkeit für die Stiftung Friedensforschung angestrebt,
und zwar sowohl politisch, wissenschaftlich, aber auch
finanziell. Um dies zu gewährleisten, wurde die DSF mit
einem Stiftungskapital ausgestattet, das diese Unabhän-
gigkeit zumindest ein Stück weit sichert, dessen Erträge
aber keine großen Sprünge erlauben. Durch steigende
Sach- und Personalkosten werden die Spielräume für
neue Forschungsprojekte zunehmend eingeschränkt, ob-
wohl mit dem Stiftungskapital durchaus sorgsam umge-
gangen wurde.

Dabei sind die Erwartungen und Ansprüche an die
Stiftung eher gewachsen. So ist es zu begrüßen, dass die
Stiftung neben der Projektförderung auch mit Stiftungs-
professuren und Masterstudiengängen institutionelle



gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)

Lehr- und Forschungsstrukturen geschaffen hat, die zur
nachhaltigen Etablierung der Friedenswissenschaft bei-
tragen. Es wäre höchst bedauerlich, wenn die Stiftung
sich gezwungen sähe, sich zum Beispiel aus der Promo-
tionsförderung für den wissenschaftlichen Nachwuchs
dauerhaft zurückzuziehen.

Die Stiftung leistet auch wichtige Beiträge zu aktuel-
len Debatten, zum Beispiel mit dem internationalen
Symposium „Religionen und Weltfrieden“, und riskiert
unerwartete, aber interessante Perspektiven, wenn sie
nach dem Friedens- und Konfliktlösungspotenzial von
Religionsgemeinschaften fragt. Dies sind gute Gründe,
weshalb wir uns immer wieder dafür eingesetzt haben,
die Handlungsmöglichkeiten der Stiftung zu erhalten
und zu fördern. Auch in den diesjährigen Haushaltsbe-
ratungen haben wir einen entsprechenden Antrag einge-
bracht.

Mit Sorge haben wir aber auch in den letzten Jahren
beobachtet, dass die Unterstützung für die Stiftung im-
mer wieder im Parteienstreit unterzugehen drohte. Das
wäre wirklich schade, und das hätte die Stiftung Frie-
densforschung auch nicht verdient. Sowohl ihre Unab-
hängigkeit als auch ihre gute wissenschaftsgeleitete
Praxis hat sie inzwischen hinlänglich unter Beweis ge-
stellt.

Sie verfügt über einen sinnvollen Mix an Förderins-
trumenten, einen 18-köpfigen wissenschaftlichen Beirat,
hat ein professionelles Begutachtungsverfahren eta-
bliert und orientiert sich konsequent an Exzellenz. Sie
gibt Anregungen, macht aber keine Vorgaben, sorgt aber
zum Beispiel dafür, dass nationale und internationale
Friedensforscher auf Fachtagungen und Konferenzen
einen intensiven Austausch pflegen können.

Dass durch die Arbeit der Stiftung Friedensforschung
ein erweitertes Sicherheitsverständnis und die zivile Kri-
senprävention und -bearbeitung ein stärkeres außen-
politisches Gewicht bekommen haben, ist ebenfalls zu
begrüßen und dürfte sicher kein parteipolitisches Son-
deranliegen sein. Ich würde mich deshalb freuen, wenn
im Zuge der weiteren Beratungen es doch noch zu einer
gemeinsamen Unterstützung der Deutschen Stiftung
Friedensforschung durch alle Fraktionen des Deutschen
Bundestages kommen sollte.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706532200

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1051 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch das ist offen-
kundig einvernehmlich. Dann können wir die Überwei-
sung so beschließen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Barnett,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Die Steinkohlevereinbarung gilt

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für einen geordneten und sozialverträglichen
Ausstieg aus dem subventionierten Stein-
kohlebergbau

– Drucksachen 17/3043, 17/3044, 17/3231 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Fritz Kuhn, Markus Tressel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Subventionierten Steinkohlebergbau sozialver-
träglich beenden

– Drucksache 17/3201 –

Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas
Bareiß, Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Ulla Lötzer und
Oliver Krischer ihre Reden zu Protokoll.


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1706532300

Wieder einmal reden wir über ein energiepolitisches

Thema, das die Opposition instrumentalisiert. Dieses
Mal ist die Steinkohle und deren Subventionierung Ge-
genstand der Diskussion. Die SPD und die Linken for-
dern in ihren Anträgen die Bundesregierung auf, sich in
Brüssel für ein Weiterbestehen des Steinkohlefinanzie-
rungsgesetzes einzusetzen. Der Antrag der Grünen zielt
darauf ab, die Förderung des Steinkohlebergbaus früh-
zeitig zu beenden.

Wie in den anderen zahlreichen Anträgen im energie-
politischen Bereich sieht die Opposition die Thematik
allerdings zu kurzsichtig.

Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinan-
zierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalition
darauf geeinigt, die subventionierte Förderung der
Steinkohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht zu diesem Ent-
schluss. Der Ausstiegsplan ist sozial ausgereift und wird
von Bund und Ländern getragen. Es gibt keinen Grund,
von diesem Fahrplan abzuweichen.

Bereits im Jahr 2007, als das Steinkohlefinanzie-
rungsgesetz von der Großen Koalition auf den Weg ge-
bracht wurde, war allerdings allen Beteiligten klar, dass
für den Zeitraum 2011 bis 2018 keine beihilferechtliche
Genehmigung der EU vorlag. Mit einer Entscheidung
der EU zum Ende des Jahres 2010 musste daher gerech-
net werden. Diese sieht nun in Form des aktuellen EU-
Kommissionsvorschlags ein Auslaufen der deutschen
Subventionierung von Steinkohle bereits im Jahr 2014
vor.

Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

Ich begrüße den Vorstoß unseres Bundeswirtschafts-
ministers Rainer Brüderle, zu prüfen, ob ein vorzeitiger
Ausstieg aus der Steinkohlesubventionierung zum Jahr
2014 überhaupt Geld einspart.

Die Absatzbeihilfen, gegen die die EU-Kommission
vorgehen will, gehen kontinuierlich zurück. Dagegen
wachsen die Zuschüsse zu Stilllegungen und zu dem Auf-
wand für die Alt- und Ewigkeitslasten. In den Jahren
2015 bis 2018 würden die vom Steinkohlefinanzierungs-
gesetz gesicherten Absatzbeihilfen in der Summe nur
noch circa 2 Milliarden Euro erreichen. Ein vorzeitiger
Ausstieg hätte frühzeitige Stilllegungen und betriebsbe-
dingte Kündigungen von mehreren Tausend Bergleuten
zur Folge. Hinzu kommen weitere Faktoren, wie prakti-
sche und technische Probleme, die Bergwerke früher zu
schließen.

Es ist also durchaus erst einmal infrage zu stellen, ob
der von der EU-Kommission vorgesehene Ausstieg aus
den staatlichen Hilfen für den Steinkohlebergbau bereits
2014 tatsächlich günstiger wird. Vor diesem Hinter-
grund hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt ein-
gelegt.

Entscheidungen sollten nämlich erst getroffen wer-
den, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst
dann macht es Sinn, über weitere Schritte nachzuden-
ken. Die Oppositionsanträge leisten hierbei keinen kon-
struktiven Beitrag und müssen daher abgelehnt werden.

Nochmals will ich hervorheben, dass nicht in erster
Linie inhaltliche Gründe im Vordergrund stehen, son-
dern vor allem verfahrenstechnische. Der Zeitpunkt der
Entscheidung über das weitere Vorgehen wird noch
kommen. Gerne will ich aber natürlich unabhängig von
diesen beiden Anträgen auf die Thematik eingehen. Da-
bei möchte ich zunächst das Thema Kohle grundsätzlich
in den Rahmen des von der Bundesregierung jüngst be-
schlossenen Energiekonzepts setzen.

In dem Energiekonzept stehen die drei Eckpfeiler Kli-
mafreundlichkeit, Verlässlichkeit und Wirtschaftlichkeit
im Vordergrund. Trotz ihres oftmals schlechten Rufs wird
Kohle auch mittelfristig aus verschiedenen Gründen
noch eine bedeutende Rolle im Energiemix einnehmen.

Die Verlässlichkeit spielt dabei eine große Rolle,
schließlich ermöglicht der starke Ausbau der erneuerba-
ren Energien in Deutschland zwar höhere Minderungs-
ziele für den CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber
auch den Neubau von hocheffizienten Kohlekraftwerken
notwendig. Diese werden als Grundlastkraftwerke zur
Ergänzung des je nach Sonnen- oder Windaktivität
schwankenden Angebots an erneuerbaren Energien
dringend gebraucht und ersetzen alte ineffiziente Kraft-
werke.

In unserem Energiekonzept haben wir dies berück-
sichtigt: Zur Modernisierung des fossilen Kraftwerks-
parks wird die im europäischen Energie- und Klimapa-
ket vereinbarte Möglichkeit genutzt, ab 2013 den Neu-
bau von CCS-fähigen, hocheffizienten Kraftwerken mit
bis zu 15 Prozent der Investitionskosten zu unterstützen.
Zu Protokoll
Vor dem Hintergrund des Klimaschutzes spielt in die-
sem Zusammenhang die CCS-Technologie – Carbon
Capture and Storage – eine wichtige Rolle. Deshalb
müssen wir jetzt alles daransetzen, dass das CCS-Gesetz
so schnell wie möglich verabschiedet wird, um in einem
ersten Schritt erste Demonstrationsvorhaben zu ermög-
lichen. Hinzu kommt, dass viele Staaten auch in Zukunft
bei ihrer Energieversorgung auf Kohle setzen werden.

Dabei bieten sich im Bereich der CCS-Technologie
für die deutsche Wirtschaft zukunftsträchtige Ex-
portchancen. In China gehen jede Woche mehrere Koh-
lekraftwerke ans Netz. Obwohl die Chinesen bereits der
größte Steinkohleförderer weltweit sind, importieren sie
sogar Steinkohle aus anderen Ländern. Auch die massi-
ven Investitionen der USA in CCS und die Entscheidung
der EU für CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Stein-
kohle im Zusammenhang mit CCS durchaus Zukunft hat.
Deutschland darf als Exportnation diesen technologi-
schen Trend nicht verschlafen und muss technologiefüh-
rend bleiben.

Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das Thema
Steinkohleförderung im Plenum. Schließlich ist es nicht
zuletzt auch ein sehr emotionales. Dies hat verschiedene
Gründe. Zum einen entsteht diese Emotionalisierung
durch die große Bedeutung von Kohle in unserem der-
zeitigen Energiemix und zum anderen durch die langjäh-
rige Tradition in Deutschland und ihre Bedeutung als
langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrge-
biet.

Immerhin liegt Deutschland bei der Steinkohleförde-
rung hinter Polen auf Platz zwei in Europa. In unserem
deutschen Energiemix hat die Steinkohle einen Anteil
von rund 18 Prozent an der Bruttostromerzeugung. Ge-
meinsam mit der Braunkohle beträgt der Anteil am
Stromkuchen über 40 Prozent.

Insbesondere die Menschen in der Region haben eine
besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem
historische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeu-
tendsten deutschen und europäischen Industrieregionen.
Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie möglich gewe-
sen. Die heimische Steinkohle hat über Jahrzehnte ent-
scheidend zum Aufbau unseres Landes und der Steige-
rung unseres Wohlstandes beigetragen.

Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Steinkohle-
finanzierungsgesetz und dem Auslaufen der Steinkohle-
förderung sagen. Mit dem Gesetz aus dem Jahr 2007
wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzent-
scheidung getroffen und der größte Subventionsabbau
seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen. Deutsch-
land ist damit das einzige Land, das ein schlüssiges, so-
zialverträgliches und wirtschaftliches Gesamtkonzept
zur Beendigung der heimischen Steinkohleförderung
hat.

Der deutsche Steinkohlebergbau ist seit vielen Jahren
aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedingungen
international nicht mehr wettbewerbsfähig. Milliarden-
schwere Subventionen, fast 2 Milliarden Euro pro Jahr
in den letzten Jahren, waren bisher notwendig, damit der
deutsche Steinkohlebergbau wettbewerbsfähig bleibt.



gegebene Reden

Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt be-
reits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle
in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht er-
reichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirt-
schaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit
aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies soll
nicht heißen, dass die Förderung von Steinkohle in
Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist, sondern
dass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaft-
lichkeit stehen muss, was übrigens für alle Energieträ-
ger gilt.

Der Ausstiegsbeschluss von 2007 war somit richtig
und wichtig und stellt meines Erachtens einen gelunge-
nen Kompromiss zwischen der Notwendigkeit des Sub-
ventionsabbaus und dem Schutz der Arbeitnehmer in
dieser Branche dar.

Mit der Kommissionsentscheidung stehen wir nun vor
einer neuen Situation, die wir besonnen zu prüfen haben
werden, wie ich eingangs bereits erwähnt habe. Ein sich
anbahnender Kompromiss mit der Kommission könnte
lauten, dass die Förderung, wie im Steinkohlefinanzie-
rungsgesetz vereinbart, bis zum Jahr 2018 – und nicht
wie von der EU gefordert bis 2014 – ausläuft.

Im Gegenzug müsste die Revisionsklausel des Geset-
zes überdacht werden. Diese Klausel besagt, dass dem
Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 ein
Bericht zugeleitet wird, auf dessen Grundlage nochmals
geprüft wird, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung
der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung
der Energieversorgung und der übrigen politischen
Ziele über das Jahr 2018 hinaus gefördert werden soll.

Wie ich in Gesprächen mit Brüsseler Kollegen erfah-
ren haben, könnte sich die Kommission vorstellen, die
Förderung bis 2018 zu erlauben, wenn die Option der
Revisionsklausel gestrichen wird. Damit könnte die För-
derung wie geplant bis 2018 laufen.

Ich denke, dass eine solche Förderung unter diesen
Umständen Sinn machen würde. Schließlich ist eine der
wichtigsten Komponenten der Wirtschaftspolitik, stabile
Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich die Unter-
nehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen können. Es
wurde seinerzeit eine gute Regelung getroffen, auf die
sich die Region und die Menschen dort verlassen. Die-
sen Vertrauensschutz und die Planungssicherheit sollten
wir auf keinen Fall gefährden. Im Sinne einer verlässli-
chen Wirtschaftspolitik halte ich ein Festhalten an einer
Förderung bis 2018 daher für richtig.

Mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007
wurde ein historischer Schritt in Richtung Subventions-
abbau getan. Damit wurde ein vernünftiger Konsens mit
allen Beteiligten – Beschäftigten, Unternehmen und
Politik – geschlossen, der seine Berechtigung hat. Diese
Regelung beendet die Subventionierung im deutschen
Steinkohlebergbau auf sozialverträgliche Weise. So
stellt der vereinbarte Ablaufzeitraum bis 2018 sicher,
dass betriebsbedingte Kündigungen im Steinkohleberg-
bau vermieden werden können.

Ferner sollten wir die durch langwierige politische
Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und
Zu Protokoll
die damit entstandene Planungssicherheit und das Ver-
trauen in die getroffene Regelung nicht zerstören.

Angesichts der Größe der Branche, über die wir re-
den, brauchen wir einen sozialverträglichen Ausstieg
aus der Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen
Menschen eine vernünftige Perspektive bieten will.

Wegen der genannten Gründe würde ich es für sinn-
voll erachten, an dem im Jahr 2007 beschlossenen Aus-
stieg aus der Steinkohleförderung bis 2018 festzuhalten.
Wie ich zu Beginn dargelegt habe, müssen wir jetzt auf-
grund der aktuellen Entwicklungen in Brüssel besonnen
agieren und einen vernünftigen Kompromiss anstreben,
der eine Förderung bis 2018 weiter ermöglicht. Der von
der Bundesregierung gewählte Weg des Prüfvorbehalts
ist in diesem Zusammenhang richtig.

Eine Entscheidung sollte erst getroffen werden, wenn
die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst dann kann
über mögliche weitere Schritte entschieden werden. Da-
bei bin ich sehr zuversichtlich, dass es uns gelingen
wird, mit Brüssel auf einen gemeinsamen Nenner zu
kommen.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1706532400

Wir beraten heute gleich drei Anträge zum deutschen

Steinkohlebergbau – von SPD, Grünen und von der Lin-
ken. Das allein zeigt schon den Stellenwert des Themas
für alle Parteien bis auf die der Regierung angehörigen
Fraktionen. Die Bundesregierung hat es verschlafen,
auf EU-Ebene eine Folgegenehmigung ab 2011 für den
vereinbarten Anpassungsprozess im deutschen Steinkoh-
lebergbau bis zum Jahr 2018 zu erwirken.

Die Europäische Kommission hatte sich bislang
grundsätzlich offen gezeigt, die laut Steinkohlevereinba-
rung bis 2018 auslaufende subventionierte Förderung
auch über 2011 hinaus zu genehmigen. Nach der Neube-
setzung des EU-Gremiums scheint jedoch nunmehr das
Kostenargument ausschlaggebend zu sein. Der im Juli
vorgelegte Verordnungsentwurf stützt sich allein auf das
Vorhaben, staatliche Beihilfen abzubauen, und sieht ein
vorzeitiges Auslaufen der Steinkohleförderung im Jahr
2014 vor. Die Kommission argumentiert, ein vorzeitiger
Ausstieg liege „auch im Interesse des Steuerzahlers und
der stark strapazierten Staatskassen“.

Anderen Gesichtspunkten wird offensichtlich keine
Beachtung geschenkt. Unbeachtet bleibt, dass es sich
bei unserem Steinkohlekompromiss um einen sorgsam
austarierten Kompromiss handelt, der einen sozialver-
träglichen Übergang gewährleistet. Außen vor bleibt
auch, dass die Steinkohlevereinbarung einen Weg auf-
zeigt, wie ein Auslaufpfad bis 2018 einschließlich der
sogenannten Ewigkeitslasten des Steinkohlebergbaus in
unternehmerischer Verantwortung von der RAG AG be-
wältigt werden kann. Schließlich spielt auch die in einer
Studie festgestellte Klimaneutralität der Steinkohleför-
derung keine Rolle, die daher rührt, dass die in EU-Län-
dern nicht mehr abgebaute Steinkohle lediglich durch
Importkohle aus Drittländern ersetzt werden wird. Die
Beendigung der heimischen Steinkohleförderung wird
damit nicht automatisch zu einer Reduzierung der fossi-



gegebene Reden

Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

len Stromerzeugung und der damit zusammenhängenden
Treibhausgasemissionen führen.

Das Kostenargument aber relativiert sich mit Blick
auf den in Deutschland seit den 1990er-Jahren eingelei-
teten Subventionsabbau bei der Steinkohle. Die Förde-
rung wurde bis 2009 um mehr als die Hälfte reduziert.
Eine weitere Zahl macht die Dimensionen greifbar: Der
Anteil der Steinkohlehilfen am gesamten Subventionsvo-
lumen in Deutschland lag nach den Untersuchungen des
Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Kiel, bereits 2007 un-
ter 2 Prozent.

Gegen potenzielle Einsparungen für den Bundes-
haushalt müssen ehrlicherweise auch die sozialen Kos-
ten eines überstürzten Abbaus der Förderung, der Ver-
lust an Versorgungssicherheit und die Gefährdung des
Finanzierungsfahrplans für die Ewigkeitslasten in An-
schlag gebracht werden. Diese Risiken wiegen schwer.
Und manches, wie Arbeitsplatzverlust und Perspektivlo-
sigkeit, in die Bergleute und Beschäftigte der nachgela-
gerten Branchen mit einem frühzeitigen Ausstieg aus der
Vereinbarung gestürzt würden, lässt sich nicht in Zahlen
ermessen. Vor diesem Hintergrund ist es mir unver-
ständlich, in welche Lage uns die Bundesregierung auf
EU-Ebene manövriert hat.

Es ist unglaublich, dass der deutsche EU-Kommissar,
der fachlich auch noch für das Energieressort zuständig
ist, bei den entscheidenden Abstimmungsprozessen mit
Abwesenheit glänzte! Und es ist untragbar, dass es die
aktuelle Bundesregierung zulässt, dass die Steinkohle-
vereinbarung von 2007 von den eigenen Reihen ausge-
höhlt wird. Wo andere betroffene EU-Länder wie Rumä-
nien und Spanien ihre Interessen mittels Widerspruch
klar verteidigen, legte Brüderle lediglich einen Prüfvor-
behalt ein, und das, obwohl die Datenlage doch lange
klar ist. Der FDP-Wirtschaftsminister sitzt das ihm un-
angenehme Thema also aus.

Der Energiekommissar fabuliert kurz vor Zwölf über
mögliche Wege, die Vereinbarung so aufzuweichen, dass
sie auf EU-Ebene noch durchzubringen sei. Im Interview
mit der „Bild“-Zeitung sagte er kürzlich: „Ich schlage
vor, diese Revision in den nächsten Wochen schnell vor-
zuziehen und den Ausstieg 2018 zu bekräftigen. Das
würde auch die Skeptiker überzeugen, dass keine weitere
Verlängerung beantragt wird.“ Das heißt, der Kommis-
sar wünscht sich formal eine vorgezogene Überprüfung
des Steinkohlebeschlusses, gibt aber gleichzeitig schon
das Ergebnis vor – den endgültigen Ausstieg im Jahr
2018. Damit wird die „Revision“ ad absurdum geführt.

Mit Blick auf die Lage an den Weltmärkten wäre es
ein Armutszeugnis, die Revisionsklausel leichtfertig den
Verhandlungen mit EU-Mitgliedsländern preiszugeben.
Die Wahrung einer Fortführungsperspektive der heimi-
schen Steinkohleförderung ist eine Frage der Versor-
gungssicherheit. Auf den Weltmärkten verschärft sich
die Verknappungssituation für energetische und nichten-
ergetische Rohstoffe. Die wachsende Lücke zwischen
Angebot und Nachfrage führt zu teilweise erheblichen
Preissteigerungen, die den Erhalt eines Sockelbergbaus
wirtschaftlich machen könnten.
Zu Protokoll
Das von EU-Kommissar Oettinger vorgeschlagene
„deutliche Zeichen aus Deutschland …, dass 2018 end-
gültig Schluss ist mit den Beihilfen“, werten wir aller-
dings als ein Signal dafür, dass die Revisionsklausel in
Brüssel bereits auf der Kippe steht. Die Regierung hat
den Karren so weit vor die Wand gefahren, dass die un-
ter massivem Handlungsdruck stehenden Beteiligten,
aber auch die Betroffenen, am Ende sogar bereit sein
werden, auf die Revisionsklausel zu verzichten, um noch
schlimmeres Übel zu verhindern. Denn letztlich wird es
darum gehen, die Sozialverträglichkeit eines Auslauf-
pfads bis 2018 zu wahren und die Finanzierungsbasis
von RAG-Stiftung und der heutigen Evonik Industries
AG nicht zu gefährden.

Als SPD-Fraktion stehen wir zu den im Steinkohlefi-
nanzierungsgesetz verankerten Vereinbarungen. Der
Steinkohlekompromiss darf weder der Haushaltskonso-
lidierung geopfert noch gegen den Klimaschutz ausge-
spielt werden. Die Gründe dafür habe ich bereits ge-
nannt.

Die Bundesregierung steht jetzt in der Pflicht, zu han-
deln. Sie hat sich in eine äußerst heikle Lage gebracht,
die erfordert, dass eine Nachfolgeregelung für die Ende
2010 auslaufende Verordnung des Rates über staatliche
Beihilfen im Steinkohlebergbau unter erschwerten Be-
dingungen und unter massivem Zeitdruck durchgesetzt
wird.

Wir erwarten von der Bundeskanzlerin, dass sie in-
nerhalb ihres Kabinetts zügig für eine einheitliche Linie
sorgt und auf EU-Ebene mit allen Mitteln gegen eine
vorzeitige Beendigung der Steinkohlebeihilfen vorgeht.

Es ist der Regierung nicht anzuraten, die Debatte um
die Zukunft der Kohleförderung wieder aufzumachen.
Diesen Knoten hatten wir 2007 unter Beteiligung aller
Betroffenen – der damaligen Bundesregierung und der
Landesregierungen NRW und Saarland, der Industrie-
gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und der RAG
AG – gelöst. Die Steinkohlevereinbarung von 2007 darf
nicht einfach aufgekündigt werden.

Es ist absehbar, dass die Kanzlerin diesen Job Mitte
Dezember auf dem Europäischen Rat selbst erledigen
muss. Wir erwarten, dass sie das durchsetzt, was wir in
Deutschland beschlossen haben und was die Kommis-
sion zwischenzeitlich schon einmal zu ihrer eigenen
Politik gemacht hatte.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1706532500

Mit dem Kohlekompromiss ist 2007 in Deutschland

das Auslaufen des subventionierten heimischen Stein-
kohlebergbaus zum Ende des Jahres 2018 beschlossen
worden.

Damit wurden einvernehmlich zwei Ziele umgesetzt:

Zum einen soll die Beendigung des Steinkohleabbaus
sozialverträglich erfolgen: Auf betriebsbedingte Kündi-
gungen wird verzichtet.

Zum anderen wird mit der Gründung der RAG-Stif-
tung das Ziel verfolgt, Kapital anzusammeln, mit dem
die sogenannten Ewigkeitskosten des Bergbaus bedient



gegebene Reden

Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)

werden. Gemeint sind hier die Kosten für Maßnahmen,
die für die Nachsorge eines Bergwerkes nötig sind: Vor
allem Wasserhaltung und Versorgung der betroffenen
Flächen.

So wurde ein richtungsweisender Anpassungsprozess
ermöglicht. Mithilfe aller zur Verfügung stehenden so-
zial- und personalpolitischen Instrumente werden die
Konsequenzen des Ausstiegs für die Bergleute aufgefan-
gen. Zudem sollen die betroffenen „Kohlerückzugs-
gebiete“ ausreichend Zeit haben, die regionalökono-
mischen Folgen eines Auslaufbergbaus abzufedern. Die
Vorgaben dieses Rahmens werden seit Jahren nun unter-
nehmerisch schrittweise umgesetzt. Darüber hinaus
wurde beschlossen, die Option auf den Erhalt eines So-
ckelbergbaus offen zu halten – will heißen, dass der
Deutsche Bundestag den Auslaufbeschluss im Jahr 2012
revidieren kann.

Dies alles haben wir Ende 2007, Anfang 2008 durch
das neue Steinkohlefinanzierungsgesetz und ein beglei-
tendes Vertragswerk rechtlich fixiert. Bedeutsam dabei
ist, dass hier in einmaliger Weise das Ende einer Sub-
ventionierung im industriellen Bereich beschlossen
wurde. Man tauschte Subventionen gegen soziale Si-
cherheit und wurde sich einig.

Hier sollten wir – meine ich – einen Moment innehal-
ten und uns darüber klar werden, welche paradigmati-
sche Ausstrahlung von diesem Kompromiss ausgeht. Zu-
dem möchte ich einen berühmten und unvergessenen
Politiker aus meinem Wahlkreis zitieren, der den alten
römischen Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ in
den Mittelpunkt einer politischen Diskussion rückte: Es
ging seinerzeit um die Ostverträge. Diese mündeten
dann bekanntlich in der deutschen Wiedervereinigung.
Auch wir sollten an geschlossenen Verträgen festhalten!

Der nun vorliegende EU-Verordnungsvorschlag
wurde Ende September dieses Jahres in der Ratsarbeits-
gruppe Wettbewerb auf Fachebene beraten. Zur Diskus-
sion steht, Subventionen für nicht wettbewerbsfähige eu-
ropäische Steinkohlebergwerke bereits 2014 auslaufen
zu lassen. Festzuhalten ist dabei, dass es bisher bei wei-
tem keine europäische Einigkeit hinsichtlich eines End-
datums für diese Betriebsbeihilfen gibt. Sehr dankbar
bin ich diesbezüglich, dass die Bundesregierung alles
unternimmt, hier eine einvernehmliche Lösung zu fin-
den. Sie hat in diesem Zusammenhang auf den deutschen
Steinkohlekompromiss hingewiesen und einen Prüfvor-
behalt zur Frage des Enddatums eingelegt.

Auch unser EU-Energiekommissar Günther
Oettinger lässt positiv aufhorchen, wenn er in der Presse
verlautbaren lässt: „Für die deutschen Kumpel ist noch
nicht Schicht im Schacht“. Seinen Hinweis, es gebe gute
Argumente für die Kohleförderung bis 2018 – vor allem
wenn der Ausstieg zum besagten Datum glaubwürdig ist –,
sollten wir auf jeden Fall sehr ernst nehmen. Insofern
liegt es insbesondere an uns, deutliche Zeichen zu set-
zen, dass 2018 auch wirklich Schluss ist:

Wir sind also wieder beim „pacta sunt servanda“.
Der Einwurf des SPD-Antrages, einen Sockelbergbau
Zu Protokoll
auch nach 2018 betreiben zu wollen, ist hier mehr als
kontraproduktiv und schädlich.

Gleichwohl liegt es bei den Mitgliedstaaten der EU
und beim Europäischen Parlament, eine gangbare Eini-
gung zu finden. Und wir können nicht die Europäische
Einigung allseits fordern, bei konkreten Maßnahmen
aber behaupten, dies ginge uns nichts an, oder wie es
der Antrag der Linken fordert, unseren nationalen Ver-
trägen auf der EU-Ebene – gefälligsterweise – Geltung
zu verschaffen.

Anders sieht es da bei dem Antrag der Grünen aus:
Sie stehen zum Ausstieg 2018, zumindest im Bund. In
NRW allerdings sieht für die Grünen die Sache wieder
einmal ganz anders aus. Hier zeigt sich ihre janusköp-
fige Gesinnung: Vorne „hü“, hinten „hott“! Will doch
der rot-grüne Regierungspakt in NRW nichts Geringe-
res, als dass die Optionen auf Beendigung und Fort-
setzung der Steinkohleförderung gleichberechtigt bei
weiteren Aktivitäten und Planungen des Bergbaues bei-
behalten werden.

Für die FDP liegt die Situation eindeutig auf der
Hand – die Entscheidungsträger sind klar benannt.
Diesbezügliche Anträge erübrigen sich. Auch deshalb
lehnen wir diese ab. Sollte nun die EU aber das Auslau-
fen der Beihilfen für 2014 vorgeben, wird die christlich-
liberale Koalition die Kumpel nicht im Regen stehen las-
sen.


Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706532600

Es handelt sich um eine Premiere: Die Linke im Bun-

destag bringt heute einen CDU-Antrag aus dem Landtag
NRW ein, der dort mit den Stimmen von CDU, SPD,
Grünen und Linken verabschiedet wurde. Nur die FDP
sprach sich im Landtag dagegen aus, am Steinkohle-
kompromiss festzuhalten, und nimmt damit Massenent-
lassungen bei den Bergleuten in Kauf. Die Bergleute ha-
ben letzte Woche machtvoll in Brüssel demonstriert.
Mittlerweile gibt es klare Beschlüsse des Bundesrates,
und gestern hat auch der DGB noch einmal das Festhal-
ten am Steinkohlekompromiss gefordert.

Die Vorgänge um das Steinkohlefinanzierungsgesetz
zeigen nicht nur die Inkompetenz der Bundesregierung
bei der Interessenvertretung in den europäischen Insti-
tutionen. Sie zeigen auch zum wiederholten Male die
Ignoranz des Bundeswirtschaftsministers gegenüber
dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der Bedeutung
von Industriearbeitsplätzen, wobei Nordrhein-Westfalen
stets besonders schlecht wegkommt. Herr Brüderle nutzt
das jahrelange europarechtliche Vakuum, das die Bun-
desregierung geschaffen hat, um sich über die deutsche
Gesetzeslage hinwegzusetzen. Das ist ein seltsames De-
mokratieverständnis und das ist ein weiterer Schlag ins
Gesicht der Bergleute.

Der über Jahrzehnte für NRW und das Saarland prä-
gende Bergbau und seine Zulieferer brauchen die Zeit
bis 2018, um den Strukturwandel zu schaffen. Die Linke
im Bundestag will diesen Strukturwandel ohne Entlas-
sungen bewältigen. Die Linke will die ökologischen Alt-
lasten des Bergbaus verantwortlich und möglichst ohne



gegebene Reden

Ulla Lötzer


(A) (C)



(D)(B)

weitere Belastung der öffentlichen Kassen in Bund und
Ländern angehen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche
und strukturpolitische Aufgabe, denn die Wirtschaftsge-
schichte Deutschlands war nun einmal lange von Stein-
kohle, Koks, Eisen und Stahl geprägt. Der notwendige
Übergang zu nichtfossilen Energieträgern muss sozial-
verträglich erfolgen, der Übergang zur nachhaltigen
Produktion muss die Facharbeiterinnen und Facharbei-
ter und die Ingenieurinnen und Ingenieure mitnehmen
und darf sie nicht auf die Straße setzen.

EU-Kommissar Oettinger erklärte vorgestern, es sei
noch nicht Schicht im Schacht; er sehe gute Chancen für
eine Verlängerung der Steinkohlesubvention bis 2018.
Umso wichtiger wäre eine gemeinsame Erklärung aller
Fraktionen im deutschen Bundestag, sich hinter die Ver-
einbarungen im Steinkohlekompromiss zu stellen und ein
deutliches Signal nach Brüssel zu geben. Ich wollte ih-
nen gestern im Ausschuss die Möglichkeit dazu mit dem
verabschiedeten Antrag aus NRW geben. Stattdessen ist
die CDU im Ausschuss aus Koalitionsdisziplin und Par-
teiinteressen eingeknickt. Zehntausende Bergleute in
NRW und im Saarland hatten sich auf das Gesetz verlas-
sen. Es geht deshalb nicht nur um Kohlepolitik, es geht
um Vertragstreue und Verlässlichkeit der Demokratie.
Die Schuld dafür trägt aber nicht zuerst die EU-Kom-
mission, wie uns Herr Brüderle gerne glauben lassen
möchte. Die beiden Bundesregierungen und auch
Schwarz-Gelb in NRW haben es in den letzten Jahren
verschlampt – anders kann man es nicht sagen –, das
Gesetz auch europarechtlich abzusichern. Ex-Wirt-
schaftsminister Glos hatte klugerweise bereits in der
Presseerklärung vom 28. Dezember 2007 vermerkt:
„Die Beihilfen stehen unter dem Vorbehalt der Geneh-
migung durch die EU-Kommission. Die Bundesregie-
rung hat das gesamte Auslaufpaket mit einer konkreten
Planung für die bis zum Ende des Jahres 2018 stillzule-
genden Steinkohlebergwerke bei der EU-Kommission
notifiziert.“ Und was ist danach passiert? Offensichtlich
nichts, bis die EU-Kommission dann im Juli 2010 nach
einer Reihe von Konsultationen die Schließung der
Bergwerke für den 1. Oktober 2014 vorschlägt und da-
mit die Beihilfen eben nicht bis 2018 notifiziert. Warum
dann in der Regierungskoalition ein offener Konflikt
zwischen dem zuständigen Wirtschaftsminister Brüderle
und der Kanzlerin losbricht, ist hingegen mehr als
durchschaubar. Wie schon im Falle Opel macht die
Kanzlerin auf der innenpolitischen Bühne Zusagen, die
ihr marktwirtschaftlicher Wirtschaftsminister einfach
nicht umsetzt. Sogar das Handelsblatt schreibt wörtlich,
dass Deutschland bei den Verhandlungen in Brüssel
nicht das beste Bild abgegeben habe. Anstatt die Pläne
für 2014 klar zu stoppen, legt der Wirtschaftsminister ei-
nen schwächlichen Prüfvorbehalt ein. So weit zum skan-
dalösen Agieren der Bundesregierung und, an vorders-
ter Front mal wieder, des Bundeswirtschaftsministers.

Wichtig bei dem Thema ist – und das sage ich vor al-
lem an die Adresse von Herrn Trittin und den Grünen,
die sich in ihrem Antrag mit der FDP verbünden –, dass
die Steinkohlebeihilfen nichts mit Kohlekraftwerken und
damit der Verstromung von Kohle zu tun haben. Keines
der längst überwiegend mit billiger Importkohle betrie-
Zu Protokoll
benen Steinkohlekraftwerke ginge auch nur einen Tag
früher vom Netz, wenn sich die EU mit ihrer Kahlschlag-
politik durchsetzt. Wer von Kanzlerschaft träumt, der
sollte zumindest einen Grundkurs in sozialer Verantwor-
tung belegen. Ich empfehle zur innergrünen Weiterbil-
dung dazu die Rede des Fraktionsvorsitzenden der Grü-
nen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Rainer
Priggen. Die Steinkohlebeihilfen können ein wichtiger
Baustein sein, um die Energiewende hin zu regenerati-
ven Energieträgern sozialverträglich, das heißt ohne
Massenentlassungen, zu organisieren. Das ist zukunfts-
fähige Industriepolitik auch für die Zulieferer und nicht
wie bei den Grünen so oft einfach Marktgläubigkeit und
bloße Hoffung auf große Exportoffensiven für neue
Technologien.

Die Linke im Bundestag lehnt jeden Kuhhandel mit
Brüssel ab. Die Revisionsklausel steht nicht zur Debatte.
Schauen Sie sich doch einmal an, wie die Kokspreise in
den letzten Monaten gestiegen sind. Fragen sie doch
einmal nach bei den Zechen, wie begehrt das technolo-
gische Know-how weltweit ist. Wir fordern in den nächs-
ten Wochen ein deutliches, abgestimmtes Auftreten der
Bundesregierung in Brüssel mit dem Ziel, Massenent-
lasssungen im Bergbau zu verhindern. Das deutsche
Steinkohlefinanzierungsgesetz muss endlich europa-
rechtlich abgesichert werden. Die Kanzlerin muss end-
lich von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen.
Der deutsche EU-Kommisar muss endlich aufhören,
schwäbisch zu schwätzen und handeln. Eine gemein-
same Erklärung im Parlament wäre ein guter Schritt
dorthin. Deshalb fordere Sie alle auf, ihre Entscheidung
im Wirtschaftsausschuss zu revidieren und dem Antrag
zuzustimmen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706532700

Mal ehrlich: Es gibt eine Debatte über den Steinkoh-

lebergbau, und die antragstellende SPD lässt zu Proto-
koll geben. Früher hätten Sie das zur Kernzeit gemacht
und die Bergleute zur Demo herangekarrt. Ist das ein
weiteres Indiz, dass die SPD bei ihrem Traditionsthema
langsam, aber sicher in der Realität ankommt? Der Sa-
che wäre es zu wünschen.

Aber der Reihe nach. Es ist gut, dass die Debatte der
EU-Kommission am 20. Juli dieses Jahres über das
Ende der Steinkohlesubventionen in Deutschland eine
große Diskussion ausgelöst hat. Das war überfällig. Wir
brauchen in Deutschland endlich eine definitive Ent-
scheidung, wann Schluss ist mit dem subventionierten
Steinkohlebergbau.

Auch der zuständige deutsche EU-Energiekommissar
Günther Oettinger scheint die Bedeutung des Themas
erkannt zu haben. Noch im Juli glänzte er mit Abwesen-
heit bei der entscheidenden Sitzung der EU-Kommission
und schien die Bedeutung des Themas völlig falsch ein-
geschätzt zu haben. Dass so etwas passiert, ist eine
desolate Handwerksleistung der Bundesregierung. Of-
fensichtlich ist die Brisanz des Themas in der Bundesre-
gierung überhaupt nicht präsent – frei nach dem Motto:
Die EU wird schon tun, was Deutschland will. Ein



gegebene Reden

Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

schlimme Fehleinschätzung und eine Arroganz gegen-
über den europäischen Institutionen.

Immerhin fand jetzt Herr Oettinger – fast drei Monate
nach der Kommissionsentscheidung – in einem Zei-
tungsinterview klare Worte: Er spricht sich für das Vor-
ziehen der Revisionsklausel im Steinkohlebeihilfenge-
setz noch in diesem Jahr aus und fordert das definitive
Ende der Steinkohlesubventionen bis 2018.

Wir begrüßen diese Linie von Herrn Oettinger. Bei
der Steinkohle ist er auf dem richtigen Weg. Genau das
sagt auch der Antrag der grünen Bundestagsfraktion,
der heute zur Abstimmung steht. Und wenn wir es schaf-
fen, sozialverträglich und ohne zusätzliche Kosten auch
schon vor 2018 aus dem subventionierten Bergbau he-
rauszukommen, umso besser.

Die Debatte zeigt, dass Deutschland offensichtlich
den Druck aus Brüssel braucht, um sich endgültig von
der teuren und schädlichen Subventionierung des Stein-
kohlebergbaus zu verabschieden.

Im Jahr 2007 hatten sich die damalige Große Koali-
tion im Bund, die Länder, RAG und IG BCE auf eine Be-
endigung des subventionierten Steinkohlebergbaus bis
zum Jahr 2018 geeinigt. Zwischen 2007 und 2018 sollen
demnach 13,9 Milliarden Euro Subventionen für den
Steinkohlebergbau bereitstehen. Insgesamt arbeiten in
den letzten fünf Zechen noch 25 000 Beschäftigte. Die
damalige Bundesregierung und auch die damalige
schwarz-gelbe Landesregierung in NRW haben es dabei
jedoch versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungs-
gesetz von 2007 auch europarechtlich abzusichern – ob-
wohl es vonseiten der EU-Kommission eine Zustimmung
für ein Fortführen der Subventionen nur bis 2011 gab.
Die Haltung, die EU wird schon tun, was Deutschland
sagt, rächt sich nun. 2014 ist angesichts dessen schon
ein Entgegenkommen der EU-Kommission.

Das Datum 2014 wirft in Deutschland jedoch auch
Probleme auf. Denn es bedeutet, dass die bis heute ver-
bliebenen fünf Bergwerke mit über 25 000 Beschäftigten
in nur vier Jahren geschlossen werden müssen, mit all
den Konsequenzen für die Beschäftigten. Ob dieses
überhaupt praktisch umsetzbar ist und im Ergebnis für
die öffentliche Hand billiger wird, erscheint angesichts
der notwendigen Kosten zur Gewährleistung der Sozial-
verträglichkeit zumindest fraglich. Die Verantwortung
für die Verunsicherung der Bergleute und der betroffe-
nen Kommunen trägt damit die Bundesregierung, die
sich vorwerfen lassen muss, hier fahrlässig untätig ge-
wesen zu sein. Anstatt sich zunächst um einen Konsens
mit der Kommission und eine Mehrheit im Rat zu küm-
mern, wurde nach dem Motto geplant: Europa hat das zu
akzeptieren, was Deutschland entscheidet. Die Empfeh-
lung der EU-Kommission, die Steinkohlesubventionen
2014 auslaufen zu lassen, ist aus Sicht anderer Länder
bereits ein Kompromiss. Die jetzige EU-Regelung sieht
lediglich eine Beihilfe bis zum 31. Dezember 2010 vor.

Wir diskutieren heute hier über den sozialverträgli-
chen Ausstieg aus den Steinkohlesubventionen, der nicht
nur ökonomisch, sondern auch ökologisch sinnvoll er-
scheint. Doch der heute zur Abstimmung stehende An-
Zu Protokoll
trag der SPD „Die Steinkohlevereinbarung gilt“ ist da-
bei ein Schritt in die falsche Richtung. Die Forderung
des Sockelbergbaus konterkariert den vereinbarten Aus-
stieg aus den Steinkohlesubventionen und die damit ver-
bundene Entlastung für den Steuerzahler. Diese Position
ist nicht realitätstauglich; denn der deutsche Steinkohle-
bergbau ist aufgrund der immer schwieriger werdenden
geologischen Verhältnisse in den Lagerstätten meilen-
weit davon entfernt, zu Weltmarktpreisen produzieren zu
können. Es ist angesichts der Lage der öffentlichen
Haushalte unverantwortlich, einen dauerhaften steuer-
finanzierten Sockelbergbau zu wollen, der zudem immer
neue Alt- und Ewigkeitslasten produziert, wo wir schon
heute nicht sicher sein können, ob die Mittel der RAG-
Stiftung zur Finanzierung der bis heute aufgelaufen Alt-
und Ewigkeitslasten ausreichen.

Der Antrag, den die Linken hier stellen, ist im We-
sentlichen der Beschluss des Landtags NRW auf Antrag
von CDU, SPD und Grünen. Es ist ihr gutes Recht, wenn
auch nicht gerade ein feiner Stil, ohne Hinweis auf die
Urheberschaft hier die breit getragenen Beschlüsse an-
derer Parlamente einzubringen, die naturgemäß Kom-
promisse sind. Deshalb werden wir uns deshalb bei die-
sem Antrag enthalten.

Ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
ken, wäre es, wenn Sie hier auch Ihren Entschließungs-
antrag aus dem Landtag von NRW eingebracht hätten.
Die Linken im Landtag von NRW fordern nämlich noch
offener als die SPD einen steuerfinanzierten nationalen
Steinkohlesockel. Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen der Linksfraktion: Wem soll man denn nun Glauben
schenken? Mit Ihrem heute zur Abstimmung vorliegen-
den Antrag machen Sie sich unglaubwürdig. Sagen Sie
uns die Positionen der Linken im Bundestag: Wollen Sie
wie Ihre Kollegen in NRW einen nationalen Steinkohle-
sockel?

Wie schon erwähnt, begrüßen wir die Positionierung
des Energiekommissars Oettinger zum Ausstieg aus den
Steinkohlebeihilfen. Unser Antrag „Subventionierten
Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden“, der
heute zur Abstimmung steht, entspricht im Kern genau
dieser Position. Diesem Antrag zuzustimmen und damit
ein Signal in Richtung EU zu senden, dass spätestens
2018 mit dem Steinkohlebergbau Schluss ist und die Re-
visionsklausel fällt, wäre genau das, was alle Beteiligten
brauchen, um das Problem zu lösen. Die Anträge von
SPD und Linken sind da keine Hilfe.

Von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktio-
nen erwarten wir, dass sie dann schnell darangehen, die
deutsche Rechtslage endlich in Übereinstimmung mit
den Rechtsgrundlagen der Europäischen Union zu brin-
gen. Das heißt: endgültiger Schluss spätestens 2018 und
ernsthafte Überprüfung, ob nicht auch ein früherer Aus-
stieg möglich ist. Dies würde auch ein Ende der reali-
tätsfremden Träumereien von SPD und Linken von
einem sogenannten dauerhaft steuerfinanzierten natio-
nalen Steinkohlesockel bedeuten. Vor allem aber dürfen
durch einen fortgesetzten Bergbau über 2018 hinaus
nicht immer neue und zusätzliche Altlasten und Ewig-
keitskosten produziert werden.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706532800

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf der Drucksache 17/3231.

Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
SPD-Fraktion auf Drucksache 17/3043 mit dem Titel
„Die Steinkohlevereinbarung gilt“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit der
Mehrheit der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3044 mit dem Ti-
tel „Für einen geordneten und sozialverträglichen Aus-
stieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen.

Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 17/3201 mit dem Titel „Sub-
ventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich been-
den“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mehrheitlich
abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens
einstellen – Militärische Zusammenarbeit be-
enden – Atomwaffenfreie Zone befördern

– Drucksache 17/2481 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss

Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Joachim
Hörster, Roderich Kiesewetter, Heidemarie Wieczorek-
Zeul, Christoph Schnurr, Wolfgang Gehrcke und Katja
Keul werden zu Protokoll gegeben.


Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1706532900

Der Antrag der Fraktion Die Linke liefert keine

neuen Erkenntnisse und übersieht meines Erachtens ei-
nen entscheidenden Punkt, nicht durch den Stopp von
Rüstungsexporten wird ein tragfähiges Sicherheits- und
Friedenskonzept für den Nahen Osten auf den Weg ge-
bracht, sondern nur durch den Willen der Konfliktpar-
teien, sich zum Frieden zu bekennen und ihn auch durch-
setzen zu wollen.

Des Weiteren halte ich die offenkundig einseitigen
Forderungen bezogen auf den Staat Israel, gerade vor
dem Hintergrund der besonderen Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel sowie der historischen Verant-
wortung Deutschlands, für nicht vertretbar. Die beson-
deren Beziehungen zwischen Deutschland und Israel
sind ein tragender Pfeiler der deutschen Außenpolitik.
Eine Aufkündigung der Zusammenarbeit hätte weitrei-
chende und nachteilige Folgen für das Gleichgewicht in
der Region des Nahen Ostens, insbesondere bei der fort-
schreitenden Aufrüstung des Irans und der von ihm
angestrebten Profilierung als Hegemonialmacht. Die
unerträglichen verbalen Angriffe des iranischen Präsi-
denten Ahmadinedschad gegenüber Israel müssen
höchste Wachsamkeit auslösen.

Mögliche Szenarien eines mit Nuklearwaffen ausge-
statteten Iran waren Inhalt einer vor kurzem in Berlin
abgehaltenen Konferenz des Aspen-Instituts. Dabei
wurde festgestellt, dass sich die Machtgeometrie der
Welt insgesamt verändern würde, wenn der Iran seine
möglicherweise dann atomar bestückten Trägerraketen
gegen die benachbarten Araber und Israelis, die USA
oder gegen Europa richtet. Infolge wäre der Atomwaf-
fensperrvertrag nur ein nutzloses Stück Papier, und ein
nukleares Wettrüsten in den dem Iran benachbarten ara-
bischen Staaten würde einsetzten. Auf der anderen Seite
ist nicht davon auszugehen, dass das Regime im Iran in
absehbarer Zeit ein Testverbot von Nuklearwaffen ratifi-
zieren wird. Die gesamte arabische und westliche Welt
ist deshalb in großer Sorge und aufs Äußerste darauf be-
dacht, eine dauerhafte und sichere Lösung des Konfliktes
herbeizuführen. Aus diesem Grund ist es sehr zu begrü-
ßen, dass die Bundesregierung trotz der Ausführungen
des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad auf der
diesjährigen UN-Vollversammlung in New York weiter-
hin auf einen offenen Dialog mit dem Iran setzt und sich
auch die NATO in ihrem neuen Strategiekonzept für eine
Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit der
iranischen Führung ausspricht.

Die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen
Osten, die auf ägyptische Initiative seit 1974 betrieben
wird und die seit 1990 auf das von der Bundesregierung
unterstützte Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien
Zone Naher Osten erweitert wurde – „Mubarak-Initia-
tive“ –, kam angesichts der Lage in der Region auch
2009 nicht voran. Sowohl in der Internationalen Atom-
energie-Organisation als auch im NVV-Überprüfungs-
prozess – NVV: Vertrag über die Nichtverbreitung von
Kernwaffen – drängen die arabischen Staaten, und hier
vor allem Ägypten, mit zunehmender Vehemenz auf Fort-
schritte, während Israel weiterhin auf eine zuvor erfor-
derliche Friedenslösung verweist. Die 8. Überprüfungs-
konferenz, die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York
tagte, hat sich erstmals seit dem Jahr 2000 wieder im
Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt, das ei-
nen vorwärtsschauenden Aktionsplan mit konkreten
Schritten zu allen drei Pfeilern des Vertrags – nukleare
Abrüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung –
sowie zur Schaffung einer von Kernwaffen und anderen
Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen Osten
enthält.

Die Bundesregierung ihrerseits übt neben einer kon-
fliktlösenden Außenpolitik eine verantwortungsvolle
Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexporten aus. Sie
entscheidet im jeweiligen Einzelfall nach einer sorgfälti-
gen Prüfung unter Berücksichtigung aller vorliegenden

Joachim Hörster


(A) (C)



(D)(B)

Umstände. Grundlage dafür sind die „Politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom
19. Januar 2000 und der Verhaltenskodex der EU vom
8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame
Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat
verabschiedet wurde. Wesentlicher Bestandteil der Poli-
tischen Grundsätze ist die rechtliche Regelung des deut-
schen Rüstungsexportes durch das Grundgesetz, das Ge-
setz über die Kontrolle von Kriegswaffen und das
Außenwirtschaftsgesetz in Verbindung mit der Außen-
wirtschaftsverordnung. Wichtige Kriterien jeder Ent-
scheidung sind dabei die Konfliktprävention sowie die
Kriegsgefährdung in der jeweiligen Region.

Von einer akuten Kriegsgefährdung, welche alle ara-
bischen Staaten des Nahen Ostens einschließt, ist nicht
auszugehen, da gerade auch die arabische Seite erkannt
hat, dass ein Frieden in der Region nur durch eine aktive
Beteiligung bei der Lösung des Nahostkonfliktes zu er-
reichen ist. Das beste Beispiel ist die Friedensinitiative
aus dem Jahr 2002, auf die ich mich in jeder meiner Re-
den zur Lösung des Nahostkonfliktes beziehe. Diese Ini-
tiative kann zum Erfolg führen, denn sie ist nicht vom
Westen übergestülpt.

Der damalige saudische Kronprinz und heutige sau-
dische König Abdallah präsentierte im Jahr 2002 beim
Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut einen Frie-
densplan, der entscheidende Neuerungen zu allen frühe-
ren Erklärungen erkennen ließ. Der Plan sieht vor, dass
Israel sich vollständig aus allen 1967 besetzten Gebie-
ten zurückzieht: dem Westjordanland, dem Gaza-Strei-
fen und Ostjerusalem. Dort soll ein unabhängiger
Palästinenserstaat mit Ostjerusalem als Hauptstadt ge-
gründet werden. Was die im Krieg von 1948 aus dem
heutigen Israel vertriebenen Araber angeht, soll eine
„faire Lösung“ für die Rückkehr in ihre Heimat gefun-
den werden. Jeder weiß, dass eine Rückkehr in das heu-
tige Israel ausgeschlossen ist, da dies den Staat Israel in
seinen Fundamenten zerstören würde. Aber eine „faire
Lösung“ eröffnet auch andere Möglichkeiten als Rück-
führung. Jedenfalls steht das Existenzrecht des Staates
Israel für uns alle in diesem hohen Hause außer Frage.

Der Abdallah-Friedensplan wurde auf verschiedenen
Gipfeltreffen im März und Juni 2007 in Riad und
Scharm-el-Scheich wiederbelebt und floss auch in die
Internationale Nahost-Friedenskonferenz in Annapolis
im November 2007 mit ein, wo die Verpflichtung der is-
raelischen und palästinensischen Behörden gegenüber
der internationalen Gemeinschaft zur Wiederaufnahme
über alle Fragen, die den Endstatus der palästinensi-
schen Gebiete betreffen, eingegangen wurde und die
Zweistaatenlösung in direkten Gesprächen innerhalb ei-
nes Jahres herbeigeführt werden sollte.

Aufgrund des Scheiterns der Annapolis-Gespräche
begrüße ich umso mehr das aktuelle Engagement der
Bundesregierung, die zusammen mit dem Nahost-Quar-
tett erstmals nach zwei Jahren wieder gemeinsame Ge-
spräche zwischen Israelis und Palästinensern initiieren
konnte. Seit dem 2. September 2010 fanden wieder di-
rekte Verhandlungen statt, in denen man sich darauf ver-
Zu Protokoll
ständigte, innerhalb von 12 Monaten ein Rahmenab-
kommen zu den Endstatusfragen zu erarbeiten. Eine
nachhaltige Lösung des Konflikts im Nahen Osten kann
nach deutscher und europäischer Auffassung nur in
einer Zweistaatenlösung und der Anerkennung Israels
durch seine arabischen Nachbarstaaten liegen. Ob die
Gespräche nach dem Ende des Siedlungsbaumoratori-
ums für das Westjordanland weitergehen, entscheidet
sich nach den Beratungen zwischen dem Palästinenser-
präsidenten Abbas und der Arabischen Liga in diesem
Monat.

Neue Bemühungen um innerpalästinensische Aussöh-
nung nach der Zurückweisung des letzten von Ägypten
vorgelegten Vermittlungsvorschlags durch die Hamas
2009 zeigen sich in den aktuellen Gesprächen im Sep-
tember 2010 zwischen Hamas-Führung und Fatah-De-
legation in Damaskus. Hamas-Chef Chalid Maschal
sagte dazu am 27. September: Beide Gruppen haben
„ernste und tatsächliche Schritte“ in Richtung Aussöh-
nung unternommen. Der Ausgang dieser Gespräche ist
offen.

Fest steht jedoch, dass die Bundesregierung bzw. die
EU auch weiterhin mit den regionalen Akteuren zusam-
menarbeiten muss, um auf eine dauerhafte und sichere
Lösung des Nahostkonfliktes hinzuwirken. In seiner Er-
klärung vom 21. September 2010 wies der Europäische
Rat auf Initiative Deutschlands ausdrücklich darauf hin,
dass „gerechter, dauerhafter und umfassender Friede im
Nahen Osten“ nur unter Einbindung der arabischen
Staaten möglich ist. In einer ausschließlich umfassenden
Friedensordnung liegt die Lösung der Konflikte im Na-
hen Osten.

Der Antrag der Linken ist nicht geeignet, den Frieden
in der Region auch nur einen Schritt näher zu bringen.


Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1706533000

Das Bundeskabinett hat am 31. März 2010 den vom

Bundesminister für Wirtschaft und Technologie vorge-
legten zehnten Bericht über die Exportpolitik für kon-
ventionelle Rüstungsgüter der Bundesregierung für das
Berichtsjahr 2008 verabschiedet und dem Bundestag zu-
geleitet. Hier wird deutlich:

Genehmigungen wurden erst nach eingehender Prü-
fung im Einzelfall erteilt und nachdem insbesondere si-
chergestellt wurde, dass deutsche Rüstungsgüter nicht
für Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden
oder zur Verschärfung von Krisen beitragen. Die Geneh-
migungsentscheidungen richteten sich nach dem Ge-
meinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren, der
im Dezember 2008 verabschiedet wurde und den Verhal-
tenskodex der EU zu Rüstungsexporten aktualisiert,
ergänzt und rechtlich verbindlich gemacht hat. Ferner
gelten die teilweise noch strikteren Politischen Grund-
sätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport von
2000.

Zu Israel und dem Nahen Osten kann für uns als
Union Folgendes festgehalten werden: Israels legitime
Sicherheitsinteressen müssen vollständig gewahrt wer-
den. Deutschland hat in der Frage der Sicherheit Israels



gegebene Reden

Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

eine historische Verpflichtung, eine besondere Verant-
wortung gegenüber Israel als jüdischem Staat. Es ist
nach unserer tiefen Überzeugung Teil der deutschen
Staatsräson, die Sicherheit des Staates Israel zu garan-
tieren.

Wie aus dem Jahresabrüstungsbericht 2009 hervor-
geht, hat Israel seine militärischen Schwerpunkte auf
den Kampf gegen den Terrorismus und die Bedrohung
durch Massenvernichtungswaffen gesetzt. Drei vorran-
gige Ziele wurden definiert: Steigerung der taktischen
und strategischen Aufklärungsfähigkeit, Verbesserung
der Präzision der Waffensysteme, vor allem im Bereich
der Landstreitkräfte, und Digitalisierung sowie Be-
fähigung zur vernetzten Operationsführung der Land-
streitkräfte. Ferner ist Israel auch an dem Erwerb von
Abwehrsystemen für den Einsatz gegen ballistische
Flugkörper kurzer Reichweite interessiert.

Der zugrunde liegende Konflikt, der auch zu stetigen
Rüstungsimporten in der gesamten Region führt, kann
nur durch einen politischen Prozess auf der Grundlage
der Roadmap, den Initiativen des Nahost-Quartetts und
der arabischen Friedensinitiative gelöst werden. Nur so
kann ein tragfähiger Frieden im Nahen Osten erreicht
werden. Wir fordern daher die Bunderegierung auf, die
von den USA initiierten „Proximity Talks“ zu unterstüt-
zen und sich gegenüber Israel und den Palästinensern
dafür einzusetzen, dass beide diese konstruktiv führen,
damit eine rasche Aufnahme direkter Friedensgesprä-
che mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung möglich
wird.

Deutschland ist an Israels Seite. Der Iran missachtet
seit Jahren die Auflagen des Sicherheitsrates der Verein-
ten Nationen und der Internationalen Atomenergie-Or-
ganisation. Das Land schafft keine Transparenz über
sein Atomprogramm. Die Resolution des Sicherheitsra-
tes zum iranischen Atomprogramm ist eine klare und
ausgewogene Antwort auf die anhaltende Weigerung des
Iran, die Zweifel an der friedlichen Natur seines Atom-
programms auszuräumen. Dabei hatte die Staatenge-
meinschaft dem Iran über einen langen Zeitraum hinweg
immer wieder die Möglichkeit gegeben, Klarheit zu
schaffen.

Als Partner und als Freunde Israels haben wir Deut-
sche vor dem Hintergrund der Drohgebärden des Iran in
dieser Frage eine ganz besondere Verantwortung. Die
Resolution ist ein deutliches Signal der internationalen
Gemeinschaft, dass eine atomare Bewaffnung des Iran
nicht akzeptabel ist. Die Resolution richtet sich nicht ge-
gen die Menschen im Iran, sondern gegen die staatli-
chen Träger des Nuklearprogramms.

Unser aller Ziel bleibt aber eine diplomatische Lö-
sung. Die Tür für Zusammenarbeit und Transparenz ist
weiter offen. Es ist jetzt an der Zeit, dass alle Staaten des
Nahen Ostens endlich ihrer Verantwortung gerecht wer-
den und zur Entspannung beitragen.

Die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York tagende
8. Konferenz der Vertragsparteien zur Überprüfung des
Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen hat
Zu Protokoll
sich im Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt.
Ein vorausschauender Aktionsplan mit konkreten Schrit-
ten zu allen drei Pfeilern des Vertrags – nukleare Ab-
rüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung der
Kernenergie – sowie zur Schaffung einer von Kernwaf-
fen freien Zone im Nahen Osten ist das Ergebnis.

Dieser Erfolg stärkt den NVV als Fundament der in-
ternationalen Nichtverbreitungs- und Abrüstungsarchi-
tektur und überwindet die infolge der gescheiterten
Überprüfungskonferenz von 2005 und Belastung des
NVV durch Proliferationsfälle eingetretene Stagnation.

Das Ergebnis war angesichts erheblicher inhaltlicher
Positionsunterschiede unter den Teilnehmern und Belas-
tung durch die Entwicklungen im Iran bis zum letzten
Moment offen. Der Abschluss eines neuen START-Ver-
trags im April und die Ankündigung zur Offenlegung des
US-Nukleararsenals durch Außenministerin Clinton zu
Konferenzbeginn trugen jedoch zu einer sachorientier-
ten Debatte bei.

Wichtige Elemente des Aktionsplans und damit auch
für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen
Osten sind die klare Zielsetzung der vollständigen Ab-
schaffung aller Kernwaffen unter Einbeziehung aller
Arten von Nuklearwaffen in den weiteren Abrüstungs-
prozess sowie das Bekenntnis zur Reduzierung der Rolle
von Kernwaffen in den Sicherheitsstrategien der Kern-
waffenstaaten.

Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der
Überprüfungskonferenz war die Einigung zur Ingangset-
zung eines Prozesses, die – vor allem von den arabischen
Staaten angemahnte – Verpflichtung der Verlängerungs-
konferenz von 1995 zur Schaffung einer massenvernich-
tungswaffenfreien Zone Nahost konkret anzugehen. An
einer unter anderem vom Generalsekretär der Vereinten
Nationen 2012 auszurichtenden Konferenz sollen alle
Staaten der Region teilnehmen.

Die EU hat mit dem erstmaligen Auftritt der Hohen
Repräsentantin Catherine Ashton in der Generaldebatte
sowie den erfolgreich arbeitenden Vorsitzenden der
Unterausschüsse zu nuklearer Abrüstung und zur Nah-
ost-Frage Profil gezeigt. Zentrale Forderungen aus dem
zur Überprüfungskonferenz verabschiedeten EU-Stand-
punkt und dem darin auf Initiative Deutschlands hin ver-
ankerten Prioritätenkatalog konnten umgesetzt werden.
Deutschland hat sich stark für Präsenz und geschlosse-
nes Auftreten der EU eingesetzt, ein wirksamer diploma-
tischer Erfolg für unser Land. Die deutsche Delegation
hat auch in der schwierigen Endphase der Verhandlun-
gen zum Konferenzerfolg beigetragen.

Langfristig sollten wir gemeinsam mit unseren Part-
nern intensiv an einer massenvernichtungswaffenfreien
Zone im Nahen Osten arbeiten. Die Unterstützung der is-
raelischen konventionellen Verteidigungsfähigkeit liegt
allerdings in unserem ureigensten sicherheitspolitischen
Interesse; deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion
Die Linke „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Os-
tens einstellen – Militärische Zusammenarbeit beenden –
Atomwaffenfreie Zone befördern“ ab.



gegebene Reden

(A) (C)



(D)(B)


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1706533100

Viele der Beschlusspunkte des Antrags teilen wir

nicht. Ich möchte aber die Beratung des Antrags in ers-
ter Beratung zum Anlass für zwei grundlegende Bemer-
kungen zur Frage der Genehmigungspraxis für Waffen-
exporte und zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone
im Nahen Osten machen. Im schwarz-gelben Koalitions-
vertrag kündigt die Bundesregierung an, die Genehmi-
gungspraxis in der EU für Rüstungsgüter „auf hohem
Niveau harmonisieren“, „bürokratische Hemmnisse ab-
bauen“ und „Verfahren beschleunigen“ zu wollen.
Diese Aufweichung der politischen Grundsätze soll an-
geblich „faire Wettbewerbsbedingungen“ ermöglichen
und lässt eine gefährliche Steigerung der Rüstungs-
exporte befürchten. Als Maßgabe wird auch nur noch
von einer „verantwortungsbewussten“ und nicht mehr
von einer „restriktiven“ Genehmigungspolitik gespro-
chen. Damit besteht die Gefahr, dass die politischen
Grundsätze, die Frieden sichern und Gewaltprävention
ermöglichen sollen, schlicht übergangen beziehungs-
weise real ausgehöhlt werden.

Die notwendige Transparenz der Rüstungsexportpoli-
tik muss hergestellt werden, indem das Parlament nicht
nur nachträglich und auf verschlungene Weise über ge-
troffene Exportentscheidungen informiert wird. Die Mit-
wirkung des Deutschen Bundestages muss gestärkt
werden. Dies kann erreicht werden, indem Kriegswaf-
fenexporte gegenüber dem Auswärtigen Ausschuss und
dem Wirtschaftsausschuss offengelegt werden müssen
oder indem, nach dem Vorschlag der Gemeinsamen
Konferenz Kirche und Entwicklung der evangelischen
und katholischen Kirche (GKKE), der Unterausschuss
„Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Ge-
nehmigungsverfahren einbezogen wird.

Vom 3. bis zum 28. Mai hat dieses Jahr in New York
die 8. Überprüfungskonferenz des Vertrages über die
Nichtverbreitung von Atomwaffen stattgefunden. Eines
der innovativsten Ergebnisse der Konferenz ist die For-
derung nach einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Os-
ten. Der UN-Generalsekretär erhält dazu den Auftrag,
einen Koordinator für eine von Nuklear- und allen ande-
ren Massenvernichtungswaffen freie Zone zu bestimmen.
Dieser Koordinator soll eine Konferenz der Staaten der
Region für 2012 vorbereiten. Außerdem wird im Be-
schluss der Friedensprozess im Nahen Osten begrüßt
und als ein Beitrag zur Schaffung einer kernwaffenfreien
Zone im Nahen Osten anerkannt. Die Bundesregierung
ist aufgefordert, diese Perspektiven nachhaltig und mit
eigenen Initiativen zu unterstützen.


Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1706533200

Die Fraktion der Linken hat einen Antrag vorgelegt,

der vorgeblich zur Verminderung der politischen Span-
nungen im Nahen Osten die deutschen Rüstungsexporte
in die Region – insbesondere nach Israel – und die deut-
sche Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbe-
reich beenden will. Auch wenn das Ziel einer nachhalti-
gen politischen Entspannung im Nahen Osten von allen
Fraktionen im Deutschen Bundestag geteilt wird, ist der
von der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu
Zu Protokoll
völlig ungeeignet. Wenn der Antrag suggeriert, dass
deutsche Rüstungsexporte in die Region, die sich insbe-
sondere auf Israel fokussieren, zum arabisch-israeli-
schen Konflikt beitrügen, ist dies völlig verfehlt.

Lassen Sie mich daher zunächst einige grundsätzli-
che Bemerkungen zur deutschen Rüstungsexportpolitik
machen. Danach möchte ich auf die Rolle deutscher
Rüstungsexporte in den Nahen Osten – insbesondere
nach Israel – eingehen. Ferner werde ich einige Bemer-
kungen machen zur Frage der Verbreitung von Massen-
vernichtungswaffen in der Region. Ich werde schließen
mit einigen grundsätzlichen Anmerkungen zur aktuellen
Situation im Nahen Osten.

Wie wir alle wissen, unterliegen deutsche Rüstungs-
exporte neben den Vorgaben aus dem Außenwirtschafts-
gesetz, dem Kriegswaffenkontrollgesetz und den Politi-
schen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern auch
den Bestimmungen des Gemeinsamen Standpunktes der
EU zu diesem Bereich.

Die christlich-liberale Bundesregierung wird – wie
auch die Vorgängerregierungen – insbesondere den Ex-
port von Rüstungsgütern in Länder, die nicht Mitglied
der NATO und der Europäischen Union oder diesen
Ländern gleichstellt sind, weiterhin restriktiv handha-
ben. Die Genehmigung für eine Ausfuhr wird, wenn
überhaupt, nur nach intensiver Einzelfallprüfung erteilt
werden.

Eben diesem Verfahren unterliegen auch Entschei-
dungen über Rüstungsexporte in die Region des Nahen
und Mittleren Ostens. Sie werden daher nur nach sorg-
fältiger Abwägung der außen-, sicherheits- und mensch-
rechtspolitischen Belange im Einzelfall getroffen.
Deutschland hat als einer der weltweit größten Rüs-
tungsexporteure eine besondere Verantwortung zu Zu-
rückhaltung und Augenmaß, auch mit Blick auf eine
langfristig angelegte Sicherheitspolitik.

Im Hinblick insbesondere auf Israel möchte ich un-
terstreichen, dass Deutschland vor dem Hintergrund
seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für die
Existenz und Sicherheit des Staates Israel hat. Deutsch-
land hat sich stets offen zu dieser Verantwortung be-
kannt. Daher ist diese deutsche Rolle auch von allen
Ländern der Region akzeptiert und bildet das Funda-
ment für die hohe Glaubwürdigkeit, die Deutschland bei
allen Konfliktparteien genießt.

Diese deutsch-israelische Sonderbeziehung schließt
ein, dass Deutschland eine enge Zusammenarbeit mit Is-
rael auch im Verteidigungsbereich betreibt. Der Antrag
der Linken berücksichtigt in keiner Weise diese Sonder-
beziehungen, die Deutschland mit dem Staat Israel
pflegt. Diesen Aspekt zu unterschlagen, ist schlicht un-
verantwortlich und nicht redlich. Insbesondere aus die-
sem Grund werden wir den Antrag ablehnen. Deutsch-
land muss an seiner Verantwortung für die Sicherheit
Israels festhalten und in diesem Zusammenhang auch
den Export von Rüstungsgütern nach Israel fortsetzen.

Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel möchte
ich jedoch noch die Bemerkung machen, dass dies keine



gegebene Reden

Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)

Einbahnstraße ist. Auch Deutschland profitiert von der
Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbereich.
Die in Israel hergestellten Drohnen, welche die Bundes-
wehr nutzt, tragen wesentlich zur Verbesserung des La-
gebildes der Bundeswehr in Afghanistan und somit zur
Erhöhung der Sicherheit unserer Soldatinnen und Sol-
daten im Einsatzgebiet bei. Hierauf zu verzichten, wäre
rücksichtslos gegenüber der Bundeswehr.

Der Antrag der Linken behandelt ferner Aspekte der
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Nahen
Osten. Diese Problematik ist in größerem Kontext zu
analysieren. Die Überprüfungskonferenz zum nuklearen
Nichtverbreitungsvertrag im vergangenen Mai war ein
elementarer Erfolg. Die Stärkung aller drei Säulen des
Vertrages – Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und
friedliche Nutzung der Kernenergie – durch das einstim-
mig verabschiedete Abschlussdokument ist ein wichtiger
und zukunftsweisender Schritt auf dem Weg in eine Welt
ohne Kernwaffen.

Das zentrale Vorhaben im Abschlussdokument ist die
Initiative zur Durchführung einer UN-Konferenz zur
Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone
im Nahen und Mittleren Osten. Die Bundesregierung hat
dieses Ziel begrüßt, und ich bin überzeugt, dass der Bun-
desaußenminister sich intensiv sowohl bilateral als auch
im Rahmen der EU dafür einsetzen und daran arbeiten
wird, dass alle Staaten in der Region an der Konferenz
teilnehmen werden.

Denn das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien
Zone im Nahen und Mittleren Osten kann nur durch das
konstruktive Engagement und die Mitwirkung aller
Staaten der Region – auch Israels – gelingen.

Bereits die ersten Schritte zur Realisierung einer sol-
chen Zone können vertrauensbildende Wirkung entfalten
und so einen Beitrag zur Stabilisierung und zum Abbau
von Spannungen in der Region leisten. Gerade deshalb
müssen wir uns dagegen verwahren, dass dieses wich-
tige Vorhaben vonseiten Irans instrumentalisiert und zur
Ablenkung von der mangelnden Einhaltung seiner nicht-
verbreitungspolitischen Verpflichtungen genutzt wird.
Hier gilt es wachsam zu sein und nicht auf das Taktieren
aus Teheran hereinzufallen.

Grundsätzlich befindet sich der Friedensprozess im
Nahen Osten derzeit in einer entscheidenden Phase. Der
offene Dialog zwischen Israelis und Palästinensern über
die Modalitäten einer Zweistaatenlösung sind der ein-
zige Weg, um zu einer nachhaltigen Friedenslösung zu
gelangen. Nur durch Kompromissbereitschaft auf beiden
Seiten wird ein Ende der jahrelangen Gewaltspirale zu
bewerkstelligen sein. Dieser Verhandlungsprozess erfor-
dert von allen Beteiligten Geduld, diplomatisches
Fingerspitzengefühl und guten Willen. Jetzt geht es un-
mittelbar darum, nach dem Ende des israelischen Bau-
stopps in der Westbank einen vorzeitigen Abbruch des
gerade erst aufgenommenen direkten Gesprächsfadens
zu verhindern. Hier wird Deutschland gemeinsam mit
seinen europäischen Partnern seinen Anteil zur vertrau-
ensvollen Vermittlung leisten. Auch vor diesem Hinter-
grund ist der Antrag der Linken schädlich, denn er
Zu Protokoll
würde die Verlässlichkeit der deutschen Politik in der
Region durch eine abrupte Kehrtwende gefährden.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Deutschland
eine verantwortungsvolle und zurückhaltende Rüstungs-
exportpolitik verfolgt. Dies gilt insbesondere für den
spannungsgeladenen Nahen Osten. Im Verhältnis zu Is-
rael verbindet uns eine vor dem Hintergrund unserer
Geschichte gewachsene Sonderbeziehung, die sich auch
auf den Sicherheitsbereich erstreckt. Diese infrage zu
stellen, wie die Linken es in ihrem Antrag vorschlagen,
wäre in höchstem Maße unverantwortlich. Daher wer-
den wir den Antrag ablehnen.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706533300

Wer Waffen in ein Spannungsgebiet liefert, zündelt an

einem brüchigen Frieden. Dass der Frieden im Nahen
Osten brüchig ist, wird niemand bestreiten. Verschie-
denste Konflikte überlagern sich und bewegen sich ne-
beneinander und gegeneinander. Es sind Konflikte in
den Gesellschaften wie zum Beispiel in Ägypten, Jorda-
nien, im Libanon, Iran, Irak und in vielen anderen Län-
dern. Zunehmend werden solche Konflikte auch in der
israelischen Gesellschaft sichtbar. Es sind auch Kon-
flikte zwischen Staaten, und es gibt Konflikte, die aus
vergangenen Kriegen resultieren. Israel hält entgegen
allen Beschlüssen der Vereinten Nationen noch immer
palästinensische Gebiete in der Westbank und in Jerusa-
lem besetzt, die syrischen Golanhöhen oder das Gebiet
der Shabaa-Farm, das zum Libanon gehört. Die israeli-
sche Besatzungspolitik ist ein Kern der Spannungen im
Nahen Osten.

Die Linke verfolgt eine Politik, Spannungen abzu-
bauen und im konkreten Fall durch eine Zwei-Staaten-
Lösung zumindest ein geregeltes Nebeneinander von
Israel und Palästina zu ermöglichen. Auch deshalb ist
unsere Forderung: keinerlei deutsche Waffenlieferungen
in den Nahen Osten und Beendigung aller Formen mili-
tärischer Zusammenarbeit mit Staaten in dieser Region!
Dazu haben wir einen Vorschlag eingebracht.

Wer Waffen liefert, das Geschäft mit dem Tod betreibt,
ist ungeeignet als Vermittler. Deutschland kann vermit-
teln. Deutschland könnte dazu beitragen, dass eine Ver-
einbarung über Sicherheit und Frieden durch Koopera-
tion zwischen den Staaten in Nahost zustande kommt.
Unser Vorschlag für eine Konferenz über Sicherheit und
Zusammenarbeit im Nahen Osten ist nicht neu, aber er
ist richtig. Wer aber im Waffengeschäft steckt, ist un-
tauglich, solche Vorschläge zu kommunizieren.

Israel verlangt von der Palästinensischen Autono-
miebehörde, die besetzten Gebiete zu entwaffnen. Abge-
sehen davon, dass diese dazu gar nicht in der Lage ist,
wäre ein vernünftiger Vorschlag aus meiner Sicht, einen
Vertrag über Gewaltverzicht mit klaren Schutzregeln für
die ganze Region auf die Tagesordnung zu setzen. Da-
rüber sollte nachgedacht und verhandelt werden. Wer
aber Waffen liefert, ist nicht glaubwürdig, wenn es um
Gewaltverzicht geht.

Ein wichtiger Beschluss der UNO-Überprüfungskon-
ferenz zum Atomwaffensperrvertrag aus dem Mai dieses



gegebene Reden

Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

Jahres ist der Vorschlag zu einer Konferenz über eine
atomwaffenfreie Zone in Nahost. Die Linke will nicht,
dass der Iran und andere Staaten zu Atomwaffen greifen,
und wir wollen auch nicht, dass Israel an seinen Atom-
waffen festhält. Es wäre wichtig, dass sich Deutschland
für eine solche Konferenz einsetzt. Ein von Atomwaffen
freier Naher Osten ist der Weg, auch die Konflikte mit
dem Iran zu lösen. Nicht Drohungen und Sanktionen,
sondern Verhandlungen Schritt für Schritt helfen voran.
Wie kann man aber glaubwürdig für ein anderes, nicht
militärisches Sicherheitskonzept werben, wenn man
selbst Waffen liefert bzw. Waffenlieferungen zulässt.
Warum hat die deutsche Regierung nicht längst und
ganz deutlich dem US-Präsidenten gesagt, dass das ge-
plante Waffengeschäft mit Saudi-Arabien in Höhe von
fast 20 Milliarden Dollar Rüstung im Nahen Osten neu
ankurbeln muss?

Unser Antrag richtet sich an alle Konfliktparteien im
Nahen Osten. Oftmals wird Die Linke kritisiert, sie sei
einseitig. Ja, diese Feststellung ist richtig. Wir sind ein-
seitig – für Frieden, für Abrüstung und für Gerechtig-
keit. Wir müssen uns zum Beispiel nicht entscheiden zwi-
schen Israel und Palästina. Wir müssen uns aber
entscheiden, Nein zu sagen, wenn vorhandene Spannun-
gen durch immer neue Waffenlieferungen nur weiter an-
geheizt werden. Der Nahe Osten braucht politische Lö-
sungen und nicht immer neue Waffenexporte.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706533400

Niemand wird bestreiten, dass der Nahe Osten durch

einen Konflikt geprägt ist, der in seiner Komplexität
kaum zu übertreffen ist. Kein anderer Konflikt strahlt in
vergleichbarer Weise politisch und religiös so weit über
die betroffene Region hinaus. Mit mehr oder weniger
Elan bemüht sich die internationale Gemeinschaft seit
Jahrzehnten um eine Verhandlungslösung. Einen nach-
haltigen Erfolg konnte sie jedoch bisher nicht verzeich-
nen. Mauern – ob real oder in den Köpfen – verhindern
eine effektive Friedensregelung. Positiv zu bewerten ist,
dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Obama der
Region wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen.
In Abwesenheit eines neuen strategischen Ansatzes für
die Wiederbelebung eines zielführenden Friedenspro-
zesses ist ein Durchbruch jedoch noch nicht absehbar.

Die Linke greift in ihrem Antrag unter anderem die
wichtige Frage nach der Vertretbarkeit von Rüstungs-
exporten in diese Region auf. Die Rüstungsexportrichtli-
nien der Bundesregierung erlauben den Export von Rüs-
tungsgütern in Länder, die weder EU- noch NATO-
Mitglieder sind, also auch in den Nahen Osten nur, wenn
die Belange der Sicherheit, des friedlichen Zusammenle-
bens der Völker oder der auswärtigen Beziehung nicht
gefährdet sind. Bei bewaffneten internen Auseinander-
setzungen oder dem hinreichenden Verdacht, dass die
Güter für Menschenrechtsverletzungen oder innere Re-
pression missbraucht werden, ist der Export von Rüs-
tungsgütern jeder Art nicht genehmigungsfähig. Noch
strikter ist die Regelung für Kriegswaffen wie beispiels-
weise U-Boote. Derartige Exporte sind nur im Einzelfall
bei besonderen außen- oder sicherheitspolitischen Inte-
ressen der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise
Zu Protokoll
genehmigungsfähig. Wo bestehende Spannungen und
Konflikte durch den Export aufrechterhalten oder ver-
schärft werden oder der Ausbruch bewaffneter Aus-
einandersetzungen droht, dürfen solche Waffen nur im
Selbstverteidigungsfall nach Art. 51 der VN-Charta ge-
liefert werden.

Der Libanonkrieg 2006 und der Gazakrieg 2009 ha-
ben deutlich gemacht, dass dies der Maßstab ist, der für
Exporte in den Nahen Osten angewendet werden muss.
Bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts darf
und muss sich Israel auf Deutschlands Unterstützung
verlassen können. Deutschland hat vor dem Hintergrund
seiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegen-
über dem Existenzrecht Israels und der Sicherheit seiner
Bürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet jedoch nicht,
dass Deutschland alle Forderungen der israelischen Re-
gierung erfüllen muss. Es gibt keine historische Ver-
pflichtung, Israel aufzurüsten. Waffen können auch de-
stabilisierend und langfristig gewaltfördernd wirken.

Die Entscheidung über den Export von Rüstungsgü-
tern in den Nahen Osten muss einer äußerst kritischen
Prüfung unterliegen. Voraussetzung ist dabei, dass die
Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Standards
für alle gleichermaßen verpflichtend ist. Der Einsatz aus
Deutschland gelieferter Rüstungsgüter in den Sied-
lungsgebieten oder unter Verletzung des Kriegsvölker-
rechts muss ausgeschlossen werden.

Hermesbürgschaften für Rüstungsexporte oder gar
staatliche Finanzierung von Kriegswaffenexporten wie
im Falle von U-Booten für Israel lehnen wir ab. Die Be-
gründung für eine Genehmigung muss durch die Bun-
desregierung in jedem Einzelfall detailliert dargelegt
werden. Wichtig sind dabei transparente Entscheidungs-
verfahren. Wir Grünen fordern daher schon seit langem,
dass mit der Geheimniskrämerei der Bundesregierung
bei der Genehmigung von Rüstungsexporten endlich
Schluss ist. Der Bundestag muss besser informiert und
eingebunden werden. Ein Widerspruchsrecht des Parla-
ments, wie es bereits in anderen Ländern besteht, muss
eingeführt werden.

Frieden im Nahen Osten wird nachhaltig nicht durch
militärische Mittel gewährleistet werden können. Politi-
sche Initiativen müssen darauf abzielen, die Rahmenbe-
dingungen für eine umfassende Abrüstung der Region zu
schaffen. Ein Friedensschluss ist dafür unabdingbare
Voraussetzung. Durch positive und negative Anreize
müssen die Konfliktpartien dazu bewegt werden, zu di-
rekten und substanziellen Friedensgesprächen zurück-
zukehren. Den Sicherheitsbedürfnissen der Konfliktpar-
teien muss begegnet werden, um ihnen die gefühlte
Notwendigkeit der Entwicklung und Beschaffung neuer
tödlicherer Waffen zu nehmen.

Die Ratifizierung der Bio- und Chemiewaffenkonven-
tionen und vor allem der Beitritt zum Nichtverbreitungs-
vertrages für Atomwaffen durch die Länder der Region
sind wichtige Meilensteine mit dem Ziel eines atomwaf-
fenfreien Nahen Ostens fest im Blick. Diesen Weg einzu-
schlagen, hatten bereits die Teilnehmer der NVV-Über-
prüfungskonferenz gefordert. Die Bundesregierung ist



gegebene Reden





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)

aufgefordert, hier nun aktiv und mit Nachdruck zu unter-
stützen.

Der Antrag enthält viele richtige Forderungen. Wir
unterstreichen allerdings das Selbstverteidigungsrecht
Israels und unterstützen die vom Libanon und von Israel
gemeinsam gewünschte UNIFIL-Mission. Vor diesem
Hintergrund werden wir diesen Antrag in unserer Frak-
tion ergebnissoffen diskutieren.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706533500

Die Fraktionen schlagen die Überweisung der Vorlage

auf Drucksache 17/2481 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vor. – Das Plenum ist offenkundig
auch mit diesem Vorschlag einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.

Schließlich rufe ich Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt,
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden

– Drucksachen 17/1580, 17/3115 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Poland
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Agnes Krumwiede

Hierzu haben die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang
Börnsen, Christoph Poland, Dr. Wolfgang Thierse, Reiner
Deutschmann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Agnes
Krumwiede nachdenkenswerte Reden vorbereitet, die
alle im Protokoll nachgelesen werden können.


Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1706533600

Allein der Titel des Antrages der Fraktion Die Grü-

nen, über den wir heute beraten, unterstellt, dass das
„Parlament der Bäume“ nicht ausreichend geschützt ist.
Dies entspricht nicht der Wirklichkeit, und deshalb be-
darf es gleich zu Beginn einiger wichtiger Klarstellun-
gen.

Wir haben in den vergangenen Jahren immer – intern
und öffentlich – das große persönliche Engagement und
Verdienst von Herrn Ben Wagin und seines Lebenswer-
kes „Parlament der Bäume“ anerkannt. Auf dem Ge-
lände im Regierungsviertel befinden sich Originalreste
der Berliner Mauer, um die Bäume gepflanzt wurden.
Eingravierte Namen erinnern an die Mauertoten, die
Bäume symbolisieren den Frieden. Es ist ein Mahnmal
gegen Krieg und Gewalt.

Das „Parlament der Bäume“ – und in Person Herr
Ben Wagin – leistet damit einen einzigartigen Beitrag
für unsere Erinnerungskultur, die gerade uns Christde-
mokraten am Herzen lag und liegt.
Sowohl die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als auch
die unionsgeführte Bundesregierung haben dieses Pro-
jekt stets nicht nur wohlmeinend begleitet, sondern auch
dort insgesamt unterstützt, wo es rechtlich möglich war,
allen voran unser Bundestagspräsident Norbert
Lammert, der erst im vergangenen Jahr erklärt hat, dass
diese Fläche bis mindestens 2019 geschützt ist, und der
sich auch für die Förderung dieses Platzes verwandt
hat. Wir sehen deshalb keinen aktuellen Handlungsbe-
darf.

Das „Parlament der Bäume“ kann sich auch unserer
finanziellen Unterstützung gewiss sein. Für die Umge-
staltung des Ortes hat der Bund fast 50 000 Euro, das
Land Berlin weitere 190 000 Euro zur Verfügung ge-
stellt. Mithilfe dieser Unterstützung konnten wichtige
Baumaßnahmen, Gartenarbeiten sowie die Einzäunung
des Areals und die Verlegung von Wasserleitungen reali-
siert werden. Auch das klingt nicht nach einer Gefähr-
dung des Gedenkortes.

Es ist gerade einmal eine Woche her, da hat sich Kul-
turstaatsminister Bernd Neumann, MdB, bei der Wieder-
eröffnung des Ortes wie folgt geäußert: „Mit seiner ein-
zigartigen Mischung aus Charme, Begeisterung und
Hartnäckigkeit hat Ben Wagin für die Umsetzung seines
Projektes viele Mitstreiter gewonnen – so auch mich.“

Das Gelände „Parlament der Bäume“ befindet sich
auf dem Grundstück des Deutschen Bundestages. Es ist
planungsrechtlich durch den Bezirk Mitte von Berlin für
Erweiterungsbauten des Deutschen Bundestages ausge-
wiesen.

Die zuständige Kommission des Ältestenrates des
Deutschen Bundestages für Raumangelegenheiten hat
im April 2003 einstimmig – also mit den Stimmen aller
Fraktionen, das heißt der Fraktionen von SPD, CDU/
CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP – folgenden Be-
schluss gefasst:

Die Raumkommission hält daran fest, dass das
Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parla-
ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befin-
det, wie bisher als Sondergebiet zur Bebauung für
Zwecke des Deutschen Bundestags ausgewiesen
wird. Darüber hinaus bekräftigt die Raumkommis-
sion die Feststellung der Baukommission vom
12. Juni 2002, dass das Kunstwerk in absehbarer
Zeit nicht gefährdet ist.

Dieser einstimmige Beschluss erfolgte auf Vorschlag
der damaligen Vorsitzenden der Kommission, der Abge-
ordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Mitglied der an-
tragstellenden Fraktion Die Grünen.

Dieser Beschluss hat offensichtlich für die heutige
Fraktion Die Grünen keine Gültigkeit mehr, für uns, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, schon.

Warum werden die gewichtigen Gründe, die
Irmingard Schewe-Gerigk damals leiteten, heute von
derselben Partei vom Tisch gewischt?

Auch der derzeitige Vorsitzende der Kommission, der
SPD-Kollege Wolfgang Thierse, hat verlauten lassen,
dass es derzeit keiner neuen Beschlussfassung bedürfe.

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)



(A) (C)



(D)(B)

Daher ist dieser Beschluss für uns bindend, solange kein
anderer Beschluss gefasst wird.

Man mag gefühlsmäßig und aus Kunstneigung für
das Projekt sein – alles zugestanden –, aber die Kultur
befindet sich wie alle Politikfelder nicht in einem rechts-
freien Raum. Gerade als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages haben wir eine Vorbildverantwortung für
rechtsklares Handeln.

Es gibt aktuell auch keinerlei Anlass zu der Befürch-
tung, dass etwaige Bebauungspläne des Bundes den Ge-
denkort gefährden. Ganz im Gegenteil: In der Antwort
auf die Anfrage der Grünen vom 23. September 2010
stellt der Bund aktuell klar – so wörtlich –: „Derzeit
werden keine Veräußerungsflächen für die benannte
Fläche angestellt.“

Nicht nur der Bund steht bei diesem Projekt in der
Verantwortung und Pflicht, sondern auch das Land Ber-
lin. Der Berliner Senat hat das „Parlament der Bäume“
bisher nicht unter Denkmalschutz gestellt. Nach deren
Einschätzung ist das „Parlament der Bäume“ ein ent-
wicklungsoffenes, sich stets veränderndes Kunst-
ensemble.

Allein aus Respekt vor der Verfassungsentscheidung,
dass die Kompetenz im Bereich Denkmalschutz bei den
Ländern liegt, kann und wird der Bund hier nicht aktiv
werden.

Ich fasse zusammen: Diese Klarstellungen führen aus
unserer Sicht hoffentlich dazu, dass über die Zukunft des
Gedenkortes „Parlament der Bäume“ objektiver und
differenzierter diskutiert und berichtet wird. Dazu ge-
hört auch gegenseitiger Respekt. Niemand von uns lässt
sich gern als „Trillerpfeife“ bezeichnen, wie es unlängst
Herr Wagin getan hat. Dafür nehmen wir – da spreche
ich sicher für alle Kollegen und Kolleginnen hier im Ho-
hen Haus – unsere Aufgabe und unsere Mehrheitsbe-
schlüsse viel zu ernst. Was die Kunst- und Kulturförde-
rung der Bundesregierung angeht, belegen allein die
Haushaltszahlen für 2011, dass hier sehr wohl Verant-
wortung wahrgenommen wird.

Wir sind daher für eine sachliche Debatte und stim-
men der Beschlussempfehlung des Kulturausschusses
zu.


Christoph Poland (CDU):
Rede ID: ID1706533700

Das „Parlament der Bäume“ wurde von Ben Wagin

in der Wendezeit 1989/1990, genauer am 9. November
1990, gegenüber dem Reichstag am Schiffbauerdamm
ins Leben gerufen, anlässlich der ersten Plenardebatte
des wiedervereinigten Bundestages. Auf dem Gelände
lagern sowohl 58 originale Mauersegmente als auch
Steinplatten mit den Namen von 258 der über 900 Men-
schen, die an der innerdeutschen Grenze von 1948 bis
1989 getötet wurden. Damit ist es nach der East-Side-
Gallery das längste Mauerstück an originaler Stelle. Es
ist aber auch der einzige Gedenkort im Regierungsvier-
tel, der authentisch an die deutsche Teilung und die
Mauertoten erinnert. So findet sich auf einer Fläche von
1 450 Quadratmetern ein Mahnmal, das eine Installa-
tion aus Bäumen, ehemaligen Grenzanlagen, Gedenk-
Zu Protokoll
steinen, Sachzeugnissen, Bildern und Texten ist. Es
handelt sich um Umwelt- oder Aktionskunst, die das Ver-
hältnis der Menschen zur Natur thematisiert. Darin
spiegelt sich die künstlerische Arbeit von Ben Wagin wi-
der, die seine Arbeit seit Jahrzehnten prägt. Ben Wagin
feierte in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag und enga-
giert sich bereits seit 20 Jahren für dieses Projekt. Wir
möchten ihm an dieser Stelle in Anbetracht seiner lang-
jährigen Verdienste danken.

Das „Parlament der Bäume“ befindet sich auf einer
Fläche, die im Bebauungsplan als Sondergebiet zur Be-
bauung für Zwecke des Bundestages ausgewiesen ist.
Aufgrund des notwendig gewordenen Neubaus des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, wurde das „Parlament
der Bäume“ geringfügig verkleinert und einige der
Bäume wurden umgesetzt. Ziel der Grünen ist es, das
bundeseigene Grundstück des „Parlaments der Bäume“
aus der Bauvorhabenplanung des Bundes herauszuneh-
men und den Gedenkort zum Kulturdenkmal zu erklären.
Sollte das „Parlament der Bäume“ unter Denkmal-
schutz gestellt werden, hat dies Einschränkungen der
Bebauungsmöglichkeiten des Grundstücks zur Folge.
Das Anliegen Ben Wagins kann man durchaus nachvoll-
ziehen, aber die sich daraus ergebenden Einschränkun-
gen für den Bund bei einem Filetgrundstück in der Mitte
Berlins sind ebenfalls zu berücksichtigen.

Auf jeden Fall genießt das Denkmal auf zehn Jahre
Bestandsschutz. Zu erwähnen ist ebenfalls: Der Bund
kümmert sich schon um die Anlage. Im November 2009
gab der Beauftragte für Kultur und Medien, Staatsminis-
ter Bernd Neumann, die Zusage, mit 49 500 Euro die
Komplementärfinanzierung für die bauliche Unterhal-
tung des „Parlaments der Bäume“ zu sichern. Aus die-
sen Mitteln konnten Toranlage, Heckeneinfriedung, Be-
leuchtung, Wasseranschluss und Bodenmodellierung für
das Denkmal am historischen Ort finanziert werden.
Weitere 190 000 Euro wurden von Berlin über die
Lottostiftung mitgetragen. Entsprechend hat 2008
Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundes-
tages, versichert, dass der Bund die Zugänglichkeit zum
„Parlament der Bäume“ sicherstellen und die Anlage
gärtnerisch pflegen wird.

Deswegen halte ich abschließend fest: In der Sitzung
der Kommission des Ältestenrates für die Raumvertei-
lung vom 2. April 2003 ist festgelegt worden, dass das
Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parlament
der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befindet, wie bis-
her als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des
Deutschen Bundestages ausgewiesen wird. Darüber hi-
naus bekräftigt die Raumkommission die Feststellung
der Baukommission vom 12. Juni 2002, dass das Kunst-
werk in absehbarer Zeit nicht gefährdet ist.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1706533800

Vor einer Woche wurde das „Parlament der Bäume

gegen Krieg und Gewalt“ von Ben Wagin feierlich wie-
dereröffnet, nachdem es mit Geldern der Stiftung Klas-
senlotterie und des BKM umgestaltet wurde. Ben Wagin
hat 1990 Mauerteile gesichert, Bäume gepflanzt und da-
mit auf dem ehemaligen Grenzstreifen ein Erinnerungs-



gegebene Reden

Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

zeichen gegen Krieg und Gewalt geschaffen. Dafür gilt
ihm Dank und Respekt. Für sein großes Engagement hat
Ben Wagin den Verdienstorden des Landes Berlin erhal-
ten.

Der Bundestag hat das Werk Ben Wagins für weitere
zehn Jahre gesichert. Ziel des Antrags der Grünen ist es
jetzt, das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge-
walt“ dauerhaft zu sichern und es unter Denkmalschutz
zu stellen. So sehr ich das Anliegen nachvollziehen
kann, bin ich skeptisch, ob das „Parlament der Bäume“
als Erinnerungsort durch Denkmalschutz dauerhaft ge-
sichert werden sollte. Warum? Aus meiner Sicht ist nicht
ganz klar, was das „Parlament der Bäume gegen Krieg
und Gewalt“ eigentlich sein will und als was es dauer-
haft geschützt werden soll. Ist es ein Kunstwerk oder ein
Gedenkort? Erinnert es an die Mauer und die Mauerto-
ten oder an die Opfer von Krieg und Gewalt? Für beide
Anliegen gibt es in unmittelbarer Nähe weitere Gedenk-
orte. An Opfer von Krieg und Gewalt wird mit der Neuen
Wache gedacht, der zentralen Gedenkstätte der Bundes-
republik Deutschland für die Opfer von Krieg und Ge-
waltherrschaft. Außerdem gibt es das Holocaust-Mahn-
mal, das Homosexuellen-Mahnmal und das Mahnmal
für die ermordeten Sinti und Roma.

Ebenso viele Mauergedenkstätten gibt es in der Nähe.
Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus ist ein Teil des Denk-
mals von Ban Wagin integriert. Das Mauermuseum am
Checkpoint Charly ist nicht weit. Im U-Bahnhof Bran-
denburger Tor gibt es eine Erinnerungsstätte. Demnächst
wird im „Tränenpalast“ vom Haus der Geschichte eine
Ausstellung zu Teilung und Grenze im Alltag der DDR
errichtet. In der Bernauer Straße befindet sich die zen-
trale Mauergedenkstätte. Hier ist der Schrecken der
Mauer am ehesten erfahrbar, weil ein langer Teil des To-
desstreifens sichtbar ist, und hier wird darüber infor-
miert, was die Mauer im Leben der Menschen bedeutete,
was es hieß, in einer geteilten Stadt zu leben.

Es ist nicht einfach, für ein Denkmal eine passende
Sprache, eine passende Gestalt zu finden. Das zeigen die
vielen künstlerischen Wettbewerbe zur Gestaltung von
Denkmälern und die Debatten darum. Ich denke dabei
an das Holocaust-Mahnmal oder erst kürzlich an das
Freiheit- und Einheitsdenkmal. Hier war der erste Wett-
bewerb gescheitert, weil die Aufgabe – gleichzeitig an
die deutsche Freiheitsgeschichte und an die friedliche
Revolution von 1989 zu erinnern – eine außerordentli-
che Herausforderung ist.

Beim „Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge-
walt“ hat es keinen Wettbewerb gegeben. Ich vermute,
dieser wäre auch gescheitert, denn die Aufgabe, sowohl
an die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern als auch
an den Mauerfall, ist eine ebenso große Herausforde-
rung. Das Mahnmal befindet sich zwar an einem authen-
tischen Ort und besteht teilweise aus historischen Teilen,
aber das Denkmal selbst ist nicht authentisch. Die Be-
malung der Mauerteile ist nicht historisch, sie wurde
von Künstlern gestaltet. Die Zusammenstellung der
Mauerteile mit anderen Elementen des Grenzstreifens
entspricht nicht der Geschichte – für Besucher aber ent-
steht der Eindruck, dass so der Grenzstreifen ausgese-
Zu Protokoll
hen hat. Der ist, erheblich authentischer, in der Ber-
nauer Straße nachgezeichnet.

Aus diesen Gründen bin ich skeptisch, ob das Kunst-
werk von Ben Wagin unter Denkmalschutz gestellt wer-
den sollte. Deshalb hat sich die SPD bei der Abstimmung
im Kulturausschuss der Stimme enthalten. Nichtsdesto-
trotz gilt dem Engagement von Ben Wagin und seiner un-
ermüdlichen Ausdauer, mit der er sich für seinen Erinne-
rungsort einsetzt und ihn pflegt, meine Hochachtung.

Als Vorsitzender der Bau- und Raumkommission muss
ich aber auch auf die Interessen des Bundestages hin-
weisen. Die Fläche befindet sich im Eigentum des Bun-
des und wird freigehalten für einen Erweiterungsbau.
Solange nicht gebaut wird, kann das „Parlament der
Bäume“ weiter dort bleiben. Es ist ja für mindestens
zehn weitere Jahre gesichert – aber es ist eben kein au-
thentisches Denkmal, das für immer gesichert werden
muss.


Reiner Deutschmann (FDP):
Rede ID: ID1706533900

20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands

sind die Spuren von über 40 Jahren deutscher Teilung
kaum noch zu erkennen. Der Todesstreifen, der sich wie
eine menschenverachtende Narbe durch unser Land ge-
zogen hat, ist inzwischen zu Europas längstem Grün-
streifen geworden. In Berlin, der Stadt der Teilung, kann
man die Mauer nur noch sehen, wenn man genau weiß,
wo man suchen muss. Man findet sie zwar als Markie-
rung auf Straßen und Gehwegen, doch nur wenige Mau-
erreste sind noch am Originalschauplatz zu besichtigen:
so zum Beispiel an der Gedenkstätte Berliner Mauer in
der Bernauer Straße, in der Nähe der Topographie des
Terrors in der Niederkirchnerstraße oder an der East-
sidegallery in Berlin-Friedrichshain.

Zu den wenigen Orten mit Mauerresten gehört aber
auch „Das Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge-
walt“ im Berliner Regierungsviertel. Ben Wagin hat die-
ses beindruckende Kunstwerk unter Einbeziehung der
Mauer Anfang der 90er-Jahre geschaffen. Ohne sein En-
gagement wäre vielleicht auch dieses Stück Berliner
Mauer nicht mehr existent. Ben Wagin erinnert mit sei-
nem Projekt an die Mauertoten und mahnt zugleich zum
Frieden, versinnbildlicht durch verschiedene Baum-
arten. Zu Recht kann man hier vom Lebenswerk Wagins
sprechen, der weltweit über 50 000 Bäume gepflanzt
bzw. dazu angeregt hat.

Leider musste das „Parlament der Bäume“ für einen
Erweiterungsbau des Deutschen Bundestages bereits
einmal verkleinert werden. Dies geschah unter Einbezie-
hung und mit Zustimmung Ben Wagins. Damals wurde
deutlich gemacht, dass eine nochmalige Verkleinerung
des Projekts nicht in Betracht zu ziehen ist.

Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrück-
lich das Parlament der Bäume und wird sich für dessen
Weiterbestand einsetzen.

Der vergangene Woche nach der Umgestaltung wie-
dereröffnete Park ist einzigartig in Deutschland und wo-
möglich in Europa. Dass sich dieses Kunstwerk in un-
mittelbarer Nachbarschaft zum Deutschen Bundestag



gegebene Reden

Reiner Deutschmann


(A) (C)



(D)(B)

befindet, macht seinen ganz besonderen Reiz aus und
schafft eine gute Erreichbarkeit auch für Besucher der
Bundeshauptstadt, die zuvor zum Beispiel das Reichs-
tagsgebäude besucht haben. Der Bund hat ein deutliches
Zeichen für den Erhalt dieses Ensembles gesetzt, indem
er den Umbau mit knapp 50 000 Euro gefördert hat.

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum „Parla-
ment der Bäume“ beschreibt die Wichtigkeit und Einma-
ligkeit des Werkes von Wagin zutreffend. Inhaltlich ist
dem Antrag nicht zu widersprechen. Er hat meine volle
Sympathie. Allerdings halten wir Liberale die Denkmal-
schutzforderung derzeit für nicht notwendig. Auch wenn
das Grundstück dem Deutschen Bundestag gehört und
dieser rein theoretisch dort kraft eines Bebauungsplanes
Gebäude errichten könnte, hat doch die Bau- und Raum-
kommission des Deutschen Bundestages mit Beschluss
vom April 2003 ganz deutlich gemacht, dass das Kunst-
werk auf absehbare Zeit nicht gefährdet ist, da der Deut-
sche Bundestag keine Pläne habe, das Grundstück für
eine bauliche Verwendung freizugeben. Dieser Be-
schluss ist immer noch gültig.

Der Deutsche Bundestag hat keine Einwände gegen
die Nutzung des Areals für das „Parlament der Bäume“,
übernimmt vielmehr sogar im Rahmen der Möglichkei-
ten die Pflegearbeiten des Grundstückes.

Die FDP-Bundestagsfraktion wird darauf achten,
dass dieser Beschluss weiterhin gültig bleibt und dass
auch in Zukunft von einer Bebauung abgesehen wird.

Positiv ist zu werten, dass die Stiftung Berliner Mauer
ihre Bereitschaft erklärt hat, ab 2011 eine Patenschaft
für das Kunstwerk Wagins zu übernehmen. Die FDP-
Bundestagsfraktion begrüßt dieses Engagement aus-
drücklich, verfügt die Stiftung doch schon über eine be-
sondere Expertise in Angelegenheiten der Pflege und
Bewahrung von Mauerresten, wie sie eindrucksvoll an
der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße
unter Beweis stellt. Damit ist das „Parlament der
Bäume“ sicherlich in guter Betreuung.

Bei aller Sympathie für den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen wird die FDP-Bundestagsfraktion wegen
der derzeit gesicherten Rechtslage und den Zusicherun-
gen des Deutschen Bundestages den Antrag ablehnen.

Ein tibetisches Sprichwort sagt: „Ein Baum, der fällt,
macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.“ Wir sor-
gen dafür, dass die Bäume weiter in Ruhe gedeihen kön-
nen. Lärm gibt es im politischen Berlin schon genug.


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1706534000

Am 30. September ist das in Berlin einmalige Denk-

mal „Parlament der Bäume“ in neuer Gestaltung wie-
dereröffnet worden.

Der von Ben Wagin auf einem Reststück der ehemali-
gen innerstädtischen Grenzmauer mit Bildern, Skulptu-
ren, einem Baumhain und Steinplatten entlang des ehe-
maligen Patrouillenweges angelegte Ort der Erinnerung
gedenkt deutscher und sowjetischer Soldaten des Zwei-
ten Weltkrieges und Menschen, die an der innerdeut-
schen Grenze getötet wurden.
Zu Protokoll
Das „Parlament der Bäume“ ist „ein Kunstwerk am
authentischen Ort, einzigartig in der Haltung gegen
Krieg und Gewalt“, wie es in der Begründung des vor-
liegenden Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
so richtig heißt.

Bei der feierlichen Wiedereröffnung hat Staatsminis-
ter Neumann viele Worte des Lobes gefunden, und es
wäre mehr als passend gewesen, wenn er – dem vorlie-
genden Antrag entsprechend – dem Gedenkort auf dem
Grundstück des Bundestages eine Sicherstellung für die
Zukunft hätte garantieren können; denn diese Sicher-
stellung gibt es nicht.

Aus dem Jahr 2003 stammt ein Beschluss der Bau-
und Raumkommission des Ältestenrates, dass das Kunst-
werk „auf absehbare Zeit“ nicht gefährdet ist. Das ist
sieben Jahre her. Was heißt heute „absehbare Zeit“?
Und wenn dieser Beschluss heute noch so gilt wie vor
sieben Jahren, dann kann man doch ohne Schwierigkeit
jetzt einem Gesetzesantrag zustimmen, der das „Parla-
ment der Bäume“ von jeglicher Bebauung in Zukunft
freihält.

Aber: Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP ver-
weigern sich dem Anliegen. Im Frühjahr sollte ein frak-
tionsübergreifender Gruppenantrag das „Parlament der
Bäume“ schützen. Dieser Plan wiederum scheiterte an
der SPD, die sich nun auch bei der ersten Abstimmung
über den vorliegenden Antrag im Kulturausschuss ent-
halten hat – während ein Tag später der Berliner SPD-
Kulturstaatssekretär André Schmitz öffentlich das Pro-
jekt enthusiastisch feierte.

Das alles verstehe, wer will. Das „Parlament der
Bäume“ muss für alle Zukunft gesichert und geschützt
sein. Es müssten geregelte Besuchszeiten für dieses ein-
malige Denkmal organisiert werden. Zurzeit kann es nur
besucht werden, wenn der Künstler selbst oder ehren-
amtliche Helfer anwesend sind. Ein Unding für solch ei-
nen historischen Gedenkort.

Die Fraktion Die Linke unterstützte den Antrag der
Grünen, das „Parlament der Bäume“ dauerhaft zu
schützen, jedenfalls von Anfang an und tut das auch
heute.


Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1706534100

Als Theaterstück inszeniert, wäre die jüngste Ge-

schichte um Ben Wagins „Parlament der Bäume“ eine
entlarvende Satire auf den schwarz-gelben Regierungs-
stil. In der Realität gibt es Buhrufe für diese schlechte
Daily-Soap live aus dem Deutschen Bundestag: Es ist
ein politisches Trauerspiel.

Letzte Woche haben die Vertreter der Koalitionsfrak-
tionen im Ausschuss für Kultur und Medien einstimmig
gegen unseren Antrag zur dauerhaften Unterschutzstel-
lung des „Parlaments der Bäume“ votiert. Unser Antrag
enthielt die Forderungen, das „Parlament der Bäume“
durch eine entsprechende Bauleitplanung zu schützen
und die Aufnahme als Kulturdenkmal in die Landesdenk-
malliste Berlin anzuregen.



gegebene Reden





Agnes Krumwiede


(A) (C)



(D)(B)

Einen Tag später fanden die Feierlichkeiten zur Neu-
gestaltung des „Parlaments der Bäume“ statt. Die Ent-
scheidung der Koalition vom Tag zuvor gegen einen
dauerhaften Erhalt des Kunstwerks schien vergessen:

Vor den Vertretern der Presse und in Anwesenheit Ben
Wagins würdigte Kulturstaatsminister Neumann sal-
bungsvoll die Arbeit des Künstlers. Am selben Tag er-
klärte der Kulturstaatsminister, dessen Parteifreunde
24 Stunden zuvor den dauerhaften Schutz des „Parla-
ments der Bäume“ abgelehnt hatten, in einer Pressemit-
teilung: „Für die Umsetzung seines Projekts gewinnt
Ben Wagin mit seiner einzigartigen Mischung aus
Charme, Begeisterung und Hartnäckigkeit – so auch
mich.“ Eine Würdigung in Worten allein wird jedoch
nichts zum dauerhaften Schutz des „Parlaments der
Bäume“ beitragen. Oder, um es mit Ben Wagins Worten
zu sagen: „Die schwingen immer alle nur große Reden,
aber wenn es drauf ankommt, kneifen sie.“

Es sind nicht schöne Worte, sondern unsere Hand-
lungen, die Veränderungen bewirken. 1990 war der
Aktionskünstler Ben Wagin einer, der durch sein Han-
deln das heutige „Filetstück“ beim Elisabeth-Lüders-
Haus künstlerisch verändert hat. Trotz der Euphorie
über die Deutsche Wiedervereinigung setzte er sich ge-
gen den Abriss dieses Mauerstücks ein und bewahrte da-
mit einen im Regierungsviertel einzigartigen Erinne-
rungsort deutscher Geschichte.

In der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich
für das Niemandsland des Grenzstreifens keiner verant-
wortlich fühlte, entstand gegenüber dem Reichstag am
Schiffbauerdamm das „Parlament der Bäume gegen
Krieg und Gewalt“. Hier verwandelte Ben Wagin ein
Reststück der ehemaligen innerstädtischen Grenzmauer
zu einem „Erinnerungsgarten“. Es entstand eine krea-
tive Geschichtsoase aus Bildern, Skulpturen, einem
Baumhain und Steinplatten mit den eingravierten Na-
men der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen
Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden.

Außerdem hält das „Parlament der Bäume“ den Tod
Tausender Soldaten in Erinnerung, die am Ende des
Zweiten Weltkriegs bei der Erstürmung des Reichstags
von einer SS-Einheit hinterrücks erschossen wurden. In
der Nachkriegszeit wurden hier Kartoffeln angebaut.
Den einzig übrig gebliebenen Baum, eine Eiche, will
Ben Wagin unter Denkmalschutz stellen.

Ben Wagins Werk ist ein Beispiel für die friedvolle
Macht der Kunst, die länger währt als Diktaturen. Das
Kunstwerk ist an seinem authentischen Ort einzigartig
in der Haltung gegen die Trennung der Stadtteile und ein
Mahnmal gegen Krieg und Gewalt und auch ein Mahn-
mal gegen die Mauern in unseren Köpfen. Das „Parla-
ment der Bäume“ ist eine künstlerische Erinnerungs-
stätte gegen das Vergessen.

Trotz des Zuspruchs, den Ben Wagin und sein Werk
seit seiner Entstehung erfahren, ist das „Parlament der
Bäume“ dauerhaft in seiner Existenz bedroht. 2001
mussten von ursprünglich 400 gepflanzten Bäumen
300 für neu entstandene Bundesgebäude weichen; denn
das Kunstwerk befindet sich auf Baugrund des Bundes.
Seit Jahren kämpft Ben Wagin dafür, solche Eingriffe
in sein Werk für die Zukunft auszuschließen – bislang
ohne Erfolg.

Zu Ben Wagnis 80. Geburtstag im März dieses Jahres
häuften sich die Lippenbekenntnisse von Politikern, das
„Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz stellen zu
wollen. Sogar ein Gruppenantrag aller im Bundestag
vertretenen Parteien war geplant. Viel Lärm um nichts:
Das Zustandekommen des Gruppenantrags scheiterte
an den Mehrheiten aus Reihen der CDU/CSU und der
SPD.

Wenn es um die verbindliche Zusage zur dauerhaften
Unterschutzstellung des Kunstwerkes geht, kneifen die
verantwortlichen Politiker. Das hat die schwarz-gelbe
Koalition erst letzte Woche mit der Ablehnung unseres
Antrags im Kulturausschuss demonstriert. Auch anläss-
lich des 20. Jahrestages der deutschen Einheit wird es
folglich keinen Denkmalschutz für das „Parlament der
Bäume“ geben.

Das „Parlament der Bäume“ darf keine Baulandre-
serve und kein „Gedenkort auf Zeit“ bleiben. Die Bun-
desregierung muss endlich dafür sorgen, das Grund-
stück, auf welchem sich das „Parlament der Bäume“
befindet, in Zukunft von der Bauleitplanung auszuneh-
men und Ben Wagins „Parlament der Bäume“ unter
Denkmalschutz zu stellen. Mündliche Versprechungen
zur Unterschutzstellung des Kunstwerkes bis 2018 rei-
chen uns nicht. Das „Parlament der Bäume“ muss als
Erinnerungsstätte für nachfolgende Generationen er-
halten bleiben. Dafür ist eine verbindliche schriftliche
Zusage vonseiten der Regierung notwendig.

Andernfalls schweben die Baukräne des Bundes wie
ein Damoklesschwert über Ben Wagins „Parlament der
Bäume“.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1706534200

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 17/3115. Bevor ich darüber abstimmen
lasse, weise ich darauf hin, dass es eine Erklärung nach
§ 31 der Geschäftsordnung der beiden Kolleginnen Petra
Merkel und Monika Grütters zu diesem Tagesordnungs-
punkt gibt.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen auf der Drucksache 17/1580. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit der Mehr-
heit der Koalition angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola

(Bremen)

und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kirgisistan unterstützen – Den Frieden si-
chern

– Drucksache 17/3202 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Manfred Grund, Franz Thönnes, Michael Link, Sevim
Dağdelen und Viola von Cramon-Taubadel haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3202
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse

vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 8. Oktober 2010,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen gemütlichen Abend.