Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.Wir haben zwei Nachbesetzungen vorzunehmen, be-vor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Auf Vorschlagder SPD-Fraktion soll der Kollege Siegmund Ehrmannden Platz der ausgeschiedenen AbgeordnetenDr. Angelica Schwall-Düren als ordentliches Mitgliedim Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland“ einnehmen. ImStiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-söhnung“ soll ihr Vizepräsident Dr. h. c. WolfgangThierse als ordentliches Mitglied nachfolgen. Als neuesstellvertretendes Mitglied ist der Kollege DietmarNietan vorgesehen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-sen, und die genannten Kollegen sind damit gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle StundeRedeProjekt Stuttgart 21
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 33a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschrif-ten zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächener-
– Drucksache 17/3183 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussRechtsausschusszungen 7. Oktober 2010.01 UhrAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENRechte der Arbeitsuchenden stärken – Sank-tionen aussetzen– Drucksache 17/3207 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialesc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UteKoczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENPakistan nach der Flut langfristig unterstüt-zen und Schulden umwandeln– Drucksache 17/3206 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfetextHaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. GerhardSchick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi-schen Parlaments und des Rates über Einlagensi-cherungssysteme KOM-Nr. (2010)368 endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-esetzesen bei Finanzinstituten: Dezentrale Si-ngssysteme als Modell für EuropagEinlagcheru– Drucksache 17/3191 –
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6792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBiologische Vielfalt für künftige Generationenbewahren und die natürlichen Lebensgrundla-gen sichern– Drucksache 17/3199 –ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zuder UnterrichtungInitiative für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates über die Europäi-sche Ermittlungsanordnung in StrafsachenRatsdok. 9145/10– Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 –Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingDr. Eva HöglMarco BuschmannRaju SharmaIngrid HönlingerZP 6 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, ReinhardGrindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
der FDPNeuorganisation der Bundespolizei erfolgreichfortsetzen – Bundespolizistinnen und Bundes-polizisten unterstützen– Drucksache 17/3187 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKirgisistan unterstützen – Den Frieden si-chern– Drucksache 17/3202 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaDörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN„Kinder, Küche und Karriere“ – Vereinbar-keit für Frauen und Männer besser möglichmachen– Drucksache 17/3203 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und SozialesZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten UtaZapf, Günter Gloser, Dietmar Nietan, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDGlaubhafte Unterstützung für Serbiens Bei-trittsantrag zur Europäischen Union– Drucksache 17/3175 –ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarieluiseBeck , Volker Beck (Köln), Viola vonCramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSerbiens Beitrittsgesuch an die EuropäischeKommission weiterleiten – Gesamte Region imBlick behalten– Drucksache 17/3204 –ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaMöhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVerpflichtung zur UN-Resolution 1325 „Frauen,Frieden und Sicherheit“ einhalten – Auf Ge-walt in internationalen Konflikten verzichten– Drucksache 17/3205 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen beimAblauf der heutigen Tagesordnung: Die Tagesordnungs-punkte 5 a, b und d sollen abgesetzt und der Tagesord-nungspunkt 5 c ohne Debatte überwiesen werden. Andieser Stelle ist nunmehr die Beratung des Tagesord-nungspunktes 9 vorgesehen. Die nachfolgenden Tages-ordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken dem-entsprechend vor. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarun-gen einverstanden? – Das ist der Fall; ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragteder Bundesregierung für Migration, Flüchtlingeund IntegrationAchter Bericht über die Lage der Auslände-rinnen und Ausländer in Deutschland– Drucksache 17/2400 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6793
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Staatsministerin Frau Professor MariaBöhmer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist gut, dass das Thema Integration endlichwieder da steht, wo es angesichts der drängenden Pro-bleme und Aufgaben hingehört: ganz oben auf der Ta-gesordnung. Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar,dass er sich des Themas Integration mit so großer Inten-sität angenommen hat.
Wir dürfen das Feld nicht Sarrazin mit seinen Halb-wahrheiten und seinen kruden Vererbungstheorien über-lassen.
Als Finanzsenator in Berlin hatte er sieben Jahre langZeit, etwas für die Integration zu tun. Er hat nichts getan.Das waren sieben verlorene Jahre für die Integration inBerlin.
Viele Migranten, die längst in Deutschland heimischsind, fühlten sich in den letzten Wochen unter General-verdacht gestellt und ausgegrenzt. Viele Einheimischehaben Ängste und Sorgen angesichts der Veränderungenin unserem Land. Manche haben auch Angst vor Gewalt.Manche Schülerinnen und Schüler und manche Lehrermüssen sich deutschfeindliche Äußerungen anhören.Wenn sich ein Schüler nicht mehr auf den Pausenhoftraut, wenn Lehrer eingeschüchtert werden oder wennLehrerinnen beschimpft werden, können wir das nichthinnehmen und müssen dagegen angehen.
Jedem, der zu uns kommt, muss von Anfang an klarsein: Wer hier leben will, muss selbstverständlich dasGrundgesetz und unsere Rechtsordnung respektieren.Wer hier leben will, muss sich auch auf unser Land ein-lassen.Ich war sehr beeindruckt von dem Gespräch, das ichmit den Migrantenorganisationen am Dienstag geführthabe. Genau das war der Tenor auch dort: sich auf diesesLand einzulassen, hier zu Hause zu sein, das Gesprächführen zu wollen und dafür zu sorgen, dass wir gemein-sam in eine gute Zukunft gehen. Das zeigt: Was wir inder letzten Legislaturperiode begonnen haben, hat sichbewährt. Wir reden nicht übereinander, sondern wir re-den miteinander. Das ist der entscheidende Punkt.
Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mannund Frau, Religions- und Meinungsfreiheit dürfen nichtnur auf dem Papier stehen, sondern sie müssen gelebtwerden – zuallererst in den Familien. Die Eltern stehenhier in der Verantwortung. Wir wollen sie dabei auch un-terstützen, damit Kinder aus Zuwandererfamilien dieChance haben, in unserer Gesellschaft wirklich anzu-kommen.„Fördern und Fordern“ ist der zentrale Grundsatzunserer Integrationspolitik. Er hat sich bewährt. Wir las-sen niemanden allein. Wir kümmern uns. Aber ich er-warte auch, dass die Integrationsangebote angenommenwerden,
seien es die Teilnahme an Integrationskursen, die Sprach-förderung im Kindergarten, der regelmäßige Schulbesuchoder der Abschluss einer Ausbildung.Ich habe viele kennengelernt, die sich angestrengt ha-ben und die erfolgreich sind. Ich erwähne den Enkel ei-nes, wie wir früher gesagt haben, Gastarbeiters. SeinGroßvater ist aus der Türkei zu uns gekommen und warHilfsarbeiter in einem großen deutschen Unternehmen.Sein Vater wurde Arbeiter. Er selbst hat studiert und ge-hört heute zur Führungsmannschaft in diesem Unterneh-men. Er ist einer der großen Brückenbauer zwischen Mi-granten und Einheimischen in unserem Land. SolcheVorbilder brauchen wir, und solche Vorbilder müssen wirstärken.
2005 standen wir bei der Integration vor einem Bergvon Versäumnissen und Fehlentwicklungen.
Die Integrationspolitik steckte damals noch in den Kin-derschuhen.
Wir haben unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkelmassiv umgesteuert. Denn mit Beliebigkeit und demAusblenden der Wirklichkeit sind die Probleme nicht zumeistern. Multikulti ist gescheitert. Das ist die Wahr-heit.
Wir haben viele Weichen neu gestellt: mit dem Inte-grationsgipfel, der Islamkonferenz und dem NationalenIntegrationsplan als dem ersten Gesamtkonzept mitmehr als 400 Selbstverpflichtungen, die zu einem großen
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6794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Staatsministerin Dr. Maria Böhmer
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Teil erfüllt sind. Wir können heute mit Fug und Recht sa-gen: Deutschland steht im europäischen Vergleich gutda. Ich denke in diesem Zusammenhang an die brennen-den Vorstädte in Frankreich und an die Probleme in denNiederlanden. Rechtspopulisten vergiften dort das Klimaund belasten das Zusammenleben. All das haben wirnicht. Das soll auch so bleiben. Dafür setzen wir uns ein.
Wir sind so manchen unbequemen Weg gegangen. Ichdenke dabei an den Streit um Deutsch auf dem Schulhof.Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Deutschdie Schulsprache sein muss. Ich denke an die Verpflich-tung zum Spracherwerb für Ehegatten im Herkunftsland.Auch hierüber haben wir uns heftig gestritten, aber wirhaben diesen Vorschlag dann gemeinsam nach vorne ge-bracht. Heute ist die Skepsis der Erkenntnis gewichen,dass Spracherwerb ein Gewinn ist und dass so Zwangs-verheiratungen verhindert werden können.
Als es um die Einbürgerungstests ging, gab es auchStreit in unserem Land. Aber heute ist klar – das sagenmir auch viele Migrantinnen und Migranten, die deut-sche Staatsbürger werden wollen –: Es ist von Vorteil,wenn man über unser Land Bescheid weiß, denn manwill hier leben und die Rechte und Pflichten voll wahr-nehmen. Dann gehört es auch dazu, dass man sich aus-kennt.Die Anstrengungen für die Integration haben sich ge-lohnt. Das wird durch den Lagebericht belegt, den ichdem Bundestagspräsidenten im Juli übergeben habe. Daszentrale Ergebnis in diesem Bericht ist: Die Integrationin Deutschland gewinnt an Fahrt, aber wir müssen nochan Tempo und an Intensität zulegen. Wir brauchen dazuauch eine breite Diskussion in der Bevölkerung, damitdas, was wir in Gang gesetzt haben, auch entsprechendmitgetragen wird.Wir haben Fortschritte bei der Sprache, der Bildungund der Ausbildung zu verzeichnen. Das Bildungsniveauhat sich erhöht. Ich sage aber auch, dass es alarmierendist, dass die Zahl der Schulabbrecher nach wie vor zuhoch ist: 13 Prozent bei den Migrantenjugendlichen imVergleich zu 7 Prozent bei den Jugendlichen ohne Mi-grationshintergrund. – Das ist noch weit von der Zusageentfernt, die die Länder uns im Nationalen Integrations-plan gegeben haben, wonach die Quoten bis 2012 ange-glichen sein sollen.Deshalb brauchen wir mehr individuelle Förderungin den Schulen. Wir brauchen mehr Lehrkräfte, wir brau-chen mehr Schulsozialarbeiter, und wir brauchen mehrZeit. Wir brauchen aber auch mehr Ganztagsschulen, umwirklich die individuelle Förderung dieser Kinder voran-zubringen; denn sie sind nicht weniger begabt, sie sindnur weniger gefördert, und sie sollen alle Chancen in un-serem Land haben.
Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus. Vieleder Eltern, die hierhergekommen sind, kennen sich mitunserem Bildungssystem nicht aus. Sie brauchen unsereHilfe und Unterstützung. Deshalb muss die Elternarbeitin Kindergarten und Schule gestärkt werden, müssen In-tegrationskurse gerade dort stattfinden.Wie wollen wir in Zukunft weiter verfahren? Wirmüssen jetzt in eine zweite Phase der Integrationspoli-tik eintreten, in eine Phase von mehr Verbindlichkeit.Dabei kommt der zentralen Integrationsmaßnahme derBundesregierung, den Integrationskursen, große Bedeu-tung zu. Es ist in der Tat das Erfolgsmodell für Integra-tion in unserem Land. Ende des Jahres werden mehr als700 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu zählensein. Was mich besonders freut, ist, dass zwei Drittel da-von Frauen sind und dass viele von denen, die schon seitvielen Jahren – 10, 12, 15 Jahre – in Deutschland leben,jetzt sagen: Wir wollen endlich Deutsch lernen. – UnsereBotschaft, dass Deutsch die Grundlage für ein gutes Zu-sammenleben, für ein gutes Miteinander und für Teil-habe in unserem Land ist, ist angekommen.
Wichtig ist: Jeder, der an einem solchen Kurs freiwil-lig teilnehmen möchte – jeder Zweite tut das –, mussauch in Zukunft die Chance dazu haben. Deshalb habenwir die Haushaltsmittel noch einmal auf jetzt 233 Millio-nen Euro erhöht. Das war angesichts knapper Kassenwahrlich keine einfache Entscheidung, aber das ist einklares Signal dafür, dass wir alles dafür tun möchten,dass die Integration in unserem Land klappt.Ich will Integrationsvereinbarungen auf den Wegbringen; denn ich möchte, dass wir auch hier mehr Ver-bindlichkeit für beide Seiten haben: für die Migranten,die dann wissen sollen, welche Angebote und welcheHilfe sie erwarten können, und auch für uns. Denn wirwollen im Rahmen dieser individuellen Integrationsver-einbarungen festhalten, wo Nachholbedarf besteht: beimSpracherwerb, bei der Bildung, bei der beruflichen Qua-lifikation. Natürlich gehört dazu auch, dass die Elternihre Kinder in den Kindergarten schicken, damit sie inden Genuss der Sprachförderung kommen und damit sie,wenn die Grundschule beginnt, dem Unterricht folgenkönnen; denn nur dann wird sich langfristig für dieseKinder etwas verbessern.
Die frühe Sprachförderung wurde, seitdem wir denNationalen Integrationsplan vorgelegt haben, in allenBundesländern realisiert. Es gibt überall Sprachstands-tests, es gibt überall Sprachförderung. Aber ich bin sehrnachdenklich geworden, als ich erfahren habe, dass trotzalledem beispielsweise in Berlin noch immer 30 Prozentund in Nordrhein-Westfalen 25 Prozent der Kinder ohneausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule kom-men. Da stimmt doch etwas nicht. Hier sind die Ländergefordert, zu überprüfen, wie wirksam diese Sprachför-derung ist.Ich will auch noch einmal an die Eltern appellieren.Wenn Migranteneltern ihre Kinder seltener in den Kin-dergarten schicken, dann heißt das: Gerade die Kinder,die wir fördern wollen, kommen nicht in den Genuss der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6795
Staatsministerin Dr. Maria Böhmer
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Förderung. Deshalb bin ich für ein verbindliches letztesKindergartenjahr. Denn wir dürfen die Kinder nicht al-lein lassen. Sie dürfen nicht diejenigen sein, die unterden Versäumnissen ihrer Eltern leiden.
Wir haben in dieser Legislaturperiode ein großes Vor-haben. Wir wollen es schaffen, dass die vielen Men-schen, die in unser Land gekommen sind und über einenguten beruflichen Abschluss verfügen, die hier arbeiten,sich einbringen und unser Land voranbringen wollen, inihrem Beruf arbeiten können. Es darf nicht mehr sein,dass sie wie früher in den Statistiken der Bundesagenturfür Arbeit als Unqualifizierte geführt werden. Ein Aner-kennungsgesetz für die Anerkennung von im Auslanderworbenen Abschlüssen wird ein Markstein der Integra-tionspolitik in dieser Legislaturperiode sein. Es wird vie-les verändern, was die Annahme der Migranten, das He-ben von Potenzialen und die Anerkennung der Vielfaltangeht. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz schnell.
Es soll bis Dezember vorliegen. Das wird die Wende inder Integrationspolitik deutlich unterstützen.
Bei allem, was wir diskutieren, müssen wir uns auchschwierigen Fragen zuwenden. Schon in der letzten Le-gislaturperiode habe ich immer wieder angemahnt, dassdie Gleichberechtigung von Frauen der Lackmustestist, wenn es um das Gelingen von Integration geht. Dennes darf nicht sein, dass es in unserem Land, wo dieGleichberechtigung von Mann und Frau gilt, immer nochvorkommt, dass Mädchen nicht an allen Unterrichtsfä-chern teilnehmen dürfen und ihnen vom Elternhaus ver-boten wird, zum Schwimmunterricht und zum Sport zugehen oder an Klassenfahrten teilzunehmen. Mädchenmüssen die gleichen Chancen haben wie alle anderen.Deshalb ist es wichtig, dass wir den Eltern sagen, wo dieGrenze liegt, damit die Kinder alle Chancen bekommen,sich auf ein Leben in unserem Land vorzubereiten.
Ganz besonders treibt mich die Tatsache um, dass esauch in unserem Land Zwangsverheiratungen gibt. Ichspreche mich deutlich dafür aus, dass wir jetzt einen ei-genen Straftatbestand Zwangsverheiratung schaffen unddass wir diesen mit einem Rückkehrrecht für die Mäd-chen, die heiratsverschleppt sind, verknüpfen. Denn siesind gut integriert, und wir wollen, dass sie in unseremLand ihren Weg gehen können.
Weil in den letzten Tagen so heftig über den Islam inDeutschland gesprochen worden ist, will ich an einenSatz von Wolfgang Schäuble erinnern: „Der Islam istTeil Deutschlands.“ Dieser Satz bleibt gültig. Es ist abergenauso klar: Die Grundlage unseres Wertesystems undauch unseres Grundgesetzes ist und bleibt die christlich-jüdische Tradition. Klar ist auch: Für einen radikalenIslam, der unsere Werte infrage stellt, ist kein Platz inunserem Land.
Wir haben keine schnellen Antworten. Wir werdenum so manche Frage ringen müssen. Ich nehme dieÄngste und Sorgen unserer Bevölkerung, der Migrantenund der Einheimischen, sehr ernst. Wir brauchen dieDiskussion, die momentan aufgekommen ist. Aber wirmüssen die Diskussion vor dem Hintergrund führen,dass es um die Kernfragen unseres Landes geht: Washält uns zusammen? Wie wollen wir morgen leben? Er-reichen wir wirklich eine Verständigung über diese ent-scheidenden Fragen angesichts von vielfältigen kulturel-len Veränderungen, die vielen jetzt erst deutlich werden?Jeder Einzelne muss sich fragen, was er zum Zusam-menhalt in unserer Gesellschaft beitragen kann. Ichmöchte, dass unser Land ein weltoffenes und tolerantesLand bleibt und dass es ein Land ist, in dem Vielfalt ge-schätzt wird. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Manchmal hilft reden. Insofern war es gut, dass der Bun-despräsident wiederholt hat, was der damalige Innen-minister Schäuble in diesem Deutschen Bundestag voreiniger Zeit sagte: Der Islam ist Teil Deutschlands. – Esist richtig, dass er das gesagt hat. Das wird deutlich,wenn man sieht, wie darauf reagiert wird, wie viele sichjetzt äußern und wie viele gerade auch der politischenAnhänger von Wolfgang Schäuble nicht seiner Ansichtsind. Manchmal muss man solche Reden so lange halten,bis sich alle einig sind.
Reden alleine hilft aber nicht. Gerade was Integra-tionspolitik betrifft, gibt es eine große Kluft zwischenReden und Handeln, zwischen dem, was gesagt wird,und dem, was getan wird. Ja, am Anfang ist es manch-mal so, dass man noch ganz verzaubert zuhört, wenn einkonservativer Politiker oder eine konservative Politike-rin mit mehrjährigem Zeitverzug das richtig findet, wasgegen ihn bzw. sie durchgesetzt wurde.
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6796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Olaf Scholz
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Ich finde, man muss es als großen gesellschaftlichenFortschritt begreifen, wenn das jemand jetzt erkennt unddas als neue Wahrheit verkündet, was bitter, anstrengendund mühselig erreicht werden musste. Aber es istschlecht, wenn man dabei verharrt, wenn es diese „Bishier und nicht weiter“-Strategie gibt, die einen nie in dieLage versetzt, den nächsten Schritt zu tun. Vor allemkommt es darauf an – das gilt gerade im Hinblick auf dieIntegrationspolitik –, dass man das Notwendige tut undnicht nur darüber redet.
Es gibt viele Theorien darüber, wie Politikverdros-senheit in Deutschland entsteht. Meine These lautet:Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist, dass viele Poli-tiker oft das Richtige zu sagen wissen, aber nicht alle esrichtig finden, ihren Reden auch Taten folgen zu lassen.
Gerade in der Integrationspolitik müssen wir die Bun-desregierung und ihr Handeln deswegen kritisieren.Zu den Integrationskursen. Wie wichtig es ist, dassman Deutsch kann, dass man Deutsch lernt und dass In-tegrationskurse angeboten werden, haben wir in den sehraufgeregten Debatten der letzten Wochen und Monategelernt; es ist so. Es war eine rot-grüne Bundesregie-rung, die gegen den Willen konservativer Gegner durch-gesetzt hat, dass es Integrationskurse gibt.
Es war eine von Sozialdemokraten und Grünen getra-gene Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, dass daseine Bundesaufgabe ist, weil sich andere vorher garnicht darum gekümmert hatten.
Nun ist diese Sache aber ein so großer Erfolg gewor-den, dass die Mittel, die bisher dafür eingeplant waren,nicht mehr reichen. Es ist ganz furchtbar – ich sage aus-drücklich: furchtbar –, dass wir eine Debatte über dieFrage führen, ob denn genügend an diesen Kursen teil-nehmen, obwohl wir wissen, dass aufgrund der Tatsache,dass nicht ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird,nicht jeder, der es möchte, an einem solchen Kurs teil-nehmen kann. Es werden einfach nicht ausreichend Gel-der zur Verfügung gestellt.
Das ist das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Wirbrauchen an dieser Stelle Taten und keine Reden.
Herr Grindel, Sie haben gesagt, die Mittel seien sogarerhöht worden. Das stimmt, aber die Mittel müsstennoch viel mehr erhöht werden, wenn man das ernstnimmt. Denn es darf eigentlich nicht sein, dass viele Zig-tausende wie in diesem Jahr die Kurse nicht wahrneh-men können, weil Sie eine Prioritätenliste aufgestellt ha-ben, aufgrund derer viele, die das freiwillig wollen, dasnicht tun können.
Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie sagen, es gebe einedreimonatige Wartezeit. Diese ist in der Realität nämlichnoch viel länger. Das alles ist ein Fehler.Das Gleiche gilt für die aktive Arbeitsmarktpolitik.Sie streichen hier Milliarden, und zwar all die Maßnah-men, die Sie an anderer Stelle in Ihren Reden so richtigfinden, wenn es um Integration geht. Ich sage Ihnen: IhreEntscheidungen die Arbeitsmarktpolitik betreffend – daszeigt der Bundeshaushalt – sind nichts anderes als einaktiver Kampf gegen erfolgreiche Integration in dennächsten Jahren. Es ist falsch, was Sie dort machen. Esmüssen mehr Mittel für Qualifizierung und Arbeitsmarkt-integration zur Verfügung gestellt werden, gerade für dieGruppen, um die es hier geht.
Wie sehr Sie distanziert sind, sieht man an Ihrem an-haltenden und wieder aufflammenden Widerstand gegendie Regelung, dass jeder, der arbeitslos ist, einen Schul-abschluss nachholen kann. Es war übrigens ein sozialde-mokratischer Arbeitsminister, der durchgesetzt hat, dassin jedem Fall derjenige, der nicht über ausreichendeSprachkenntnisse verfügt und arbeitslos ist, zuerst dieSprache erlernen muss und dass es ein entsprechendesAngebot gibt. Wenn das alles so ist, dann darf man nichtnur darüber reden. Dann muss man auch entsprechendhandeln. Bei Ihnen fehlen die Taten. Sie reden nur. Dasist zu wenig.
Es ist notwendig, dass die Betreffenden etwas tun, umsich zu integrieren, dass sie sich anstrengen und bemü-hen. Was wäre ein größeres Zeichen als die Aussage:„Wer in Deutschland einen Schulabschluss macht, derkann seinen Aufenthaltsstatus damit verbessern undmuss als Kind nicht in einem Duldungsstatus verblei-ben“? Wo bleibt Ihre entsprechende Regelung? Wir, diesozialdemokratische Fraktion, haben längst einen ent-sprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Sie reden nur undlassen nicht die notwendigen Taten folgen. Das ist dasProblem.
Das Gleiche gilt für die Thematik des Anerken-nungsgesetzes. In der letzten Legislaturperiode warenSie erst gar nicht dafür; dann waren Sie dafür, eine Rege-lung ohne Gesetz zu machen, bei der sich alle ein biss-chen abstimmen. Dann haben Sie in Ihren Koalitionsver-trag die vorher abgelehnte Regelung hineingeschrieben,und nun ist das Gesetz immer noch nicht da. Jetzt wirdes uns für Dezember angekündigt. Dabei ist die Materieso einfach; das Gesetz hätte längst beschlossen werdenkönnen, wenn es nicht an irgendwelchen Widerständenscheiterte, die Sie bisher offenbar nicht überwinden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6797
Olaf Scholz
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konnten. Wir brauchen ein Anerkennungsgesetz, wirbrauchen Taten und nicht weitere Reden zu diesemThema.
Natürlich ist auch ein Bestandteil dessen, was not-wendig ist, dass wir uns darum kümmern, dass diejeni-gen, die hier als Deutsche aufgewachsen sind, dies auchbruchlos fortsetzen können. Die Optionspflicht, die inunserem Staatsangehörigkeitsrecht enthalten ist, gehörtabgeschafft. Sie ist ein falsches Mal gegen die Integra-tion;
es ist die falsche Botschaft, die an dieser Stelle ausge-sandt wird. Auch hier reden Sie nur darüber, dass mandas einmal prüfen solle. Es wäre eine Tat notwendig, unddas Gesetz ist schnell und einfach gemacht. Wir hättenes längst beschließen können.Das ist es, was wir meines Erachtens hinbekommenmüssen. Wir müssen endlich den vielen Reden, die manständig hört, Taten folgen lassen, damit es stimmt, waswir sagen. Jeder, der jetzt Deutsch lernen und die ent-sprechende Arbeitsmarktintegration erlangen will, derwill, dass sich sein Kind auf der Schule anstrengt, sollwissen, dass es nach unseren Ankündigungen auch Fol-gen geben wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass diesfür jedes Detail zutrifft. Deshalb fordere ich Sie auf: Be-schränken Sie sich nicht allein auf die Rede, sondernwenden Sie sich der Tat zu! Das ist es, was jetzt inDeutschland notwendig ist, und das wäre ein wirklicherFortschritt.
Für die FDP erhält der Kollege Hartfrid Wolff jetztdas Wort.
Hartfrid Wolff (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verbind-lichkeit ist das Schlüsselwort des vorliegenden achtenAusländerberichts. Verbindlichkeit ist das Schlüssel-wort für erfolgreiche Integration und für erfolgreiche In-tegrationspolitik. Die FDP begrüßt den Wandel der Prio-ritäten in der migrationspolitischen Debatte, den Wandelhin zu einem Fördern und Fordern, mit verbindlichenLeistungen von beiden Seiten.Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland.Wer unseren Staat und unser Land immer nur kritischbeäugt, kann nicht erwarten, dass Zuwanderer sich damitidentifizieren. Die kurdischstämmige deutsche Journa-listin Mely Kiyak hob in einem Beitrag für das Goethe-Institut hervor, sie habe keine Angst vor Worten wieKultur, Nation und Deutsch. Diese Worte seien aus ihrerSicht angefüllt mit vielem, was ihr gefällt, mit Goethe,Schiller oder Heine. Sie forderte uns auf, wieder deutlichselbstbewusster mit unseren Worten, unserer Spracheumzugehen.Wir sollten dieses Kompliment an unser Land nichtentwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwande-rer auf ein Maß reduzieren, das diesen Menschen nichtsmehr zutraut. Ich meine, wir sollten sie als freie undkluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unterneh-men, sich in unserer Gesellschaft einzubringen. Wir wol-len sie dabei fördern, aber auch ganz klar etwas von ih-nen fordern. Migranten müssen sich verbindlich inunsere Gesellschaft integrieren, sich mit ihr verbinden,und die Politik muss dafür den verbindlichen Rahmensetzen und die nötigen Hilfestellungen leisten.Die FDP will die Chancen der Zuwanderung in denMittelpunkt stellen. Dabei muss der Zusammenhalt derdurch Zuwanderer bereicherten deutschen Gesellschaftim Zentrum stehen. Wer dauerhaft hier leben möchte,der muss die eigene Integration aktiv voranbringen unddie gebotenen Chancen ergreifen.
Deutschland ist nach der hierzulande gesprochenenSprache benannt. Es ist eine lebendige, eine aufneh-mende und eine einnehmende Sprache. Auch deshalb istdie Kenntnis der deutschen Sprache unerlässliche Vo-raussetzung für die Integration. Sie zu lernen ist für alleZuwanderer verpflichtend und eröffnet Chancen, undzwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Deutsch ist inner-halb der EU die größte Muttersprache. Weltweit spre-chen es rund 110 Millionen Menschen. Im Internet istDeutsch nach Englisch die am meisten benutzte Sprache.Bei Übersetzungen ist Deutsch die größte Ziel- und dritt-größte Quellsprache überhaupt. Die Integrationskursesind das wichtigste Instrument von Bundesseite geradefür den Spracherwerb. Wir haben sie gestärkt und stehenzu diesem außerordentlich wichtigen Beitrag des Bun-des. An der Zielgenauigkeit und Effizienz werden wirweiter arbeiten.Die FDP will Sprachstandstests für alle Kinder imAlter von vier Jahren, damit sie alle die gleichen Chan-cen bekommen. Bei Bedarf sind eine gezielte Sprach-förderung vor Eintritt in die Schule sowie darüberhinausgehende unterrichtsbegleitende Sprachprogrammenotwendig.
In Deutschland gilt die Meinungs- und Religions-freiheit. Dies ist fundamental für unsere Werteordnung,
und dazu gehört auch, Religionen kritisieren und kari-kieren zu dürfen. Religionsfreiheit ist kein Freibrief,sondern findet ihre Grenzen in anderen Grundrechtenunserer Verfassung. Toleranz gegenüber religiösen Über-zeugungen und Praktiken endet da, wo die freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage gestellt wird oder
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6798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Hartfrid Wolff
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Grundrechte verletzt werden. Vermeintlich religiösesBrauchtum oder Traditionen müssen kritisch hinterfragtwerden, wo sie der Kultivierung von Werten dienen, dieim Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzesstehen. Das Bekenntnis zu einer Religion berechtigtnicht zur Aufhebung der Schulpflicht, berechtigt nichtzur Befreiung von ordentlichen Unterrichtsfächern wieSport und Schwimmen oder zur Nichtteilnahme anSchullandheimaufenthalten.Wenn heute der Islam, wie es Bundespräsident Wulffrichtig sagte, zur Wirklichkeit der deutschen Gesell-schaft gehört, so beruht doch das Wertefundament unse-rer Kultur und Rechtsordnung auf der griechischen undrömischen Antike und auf der christlich-jüdischen Tradi-tion. Wer sich dauerhaft in Deutschland niederlässt, ak-zeptiert das mit diesem Schritt. In Deutschland gilt dieGleichberechtigung der Frau, und das ist für alle hier-zulande verbindlich.
Die Zwangsheirat etwa ist damit unvereinbar. Wirwerden noch in diesem Jahr einen eigenständigenStraftatbestand zur Bekämpfung der Zwangsheirat ein-bringen.
Dabei müssen nicht nur die Täter bestraft, sondern auchdie Opfer unterstützt werden, etwa indem wir die Hür-den beim Rückkehrrecht für Zwangsverheiratete ab-bauen.Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwande-rung in einen leeren Raum, sondern in eine in zwei Jahr-tausenden gewachsene Kulturlandschaft. Als Sprach-,Rechts- und Wertegemeinschaft räumen wir Zuwande-rern die Möglichkeit ein, diese Errungenschaften zu nut-zen und zu teilen. Umgekehrt ist niemand gezwungen, inDeutschland zu leben, der das nicht will.
Herr Kollege, schauen Sie bitte gelegentlich auf die
Uhr.
Hartfrid Wolff (FDP):
Vielen Dank, das werde ich tun. – Wir können es er-
reichen, dass statt abgeschotteten Parallelgesellschaften
eine Verbindung zwischen Alteingesessenen und Zu-
wanderern entsteht. Die Koalition wird dieses durch För-
dern und Fordern gestalten und so den Zusammenhalt
unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft
stärken.
Das Wort erhält nun der Berliner Bürgermeister und
Senator Harald Wolf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenin dieser Republik in den letzten Wochen eine intensiveDiskussion über Integration, über Einwanderung ge-führt. Es war eine Diskussion, in der uns viele Beiträgenicht unbedingt klüger gemacht haben.
Das gilt zuallererst für meinen Exkollegen Sarrazin.
Wer eine ganze Bevölkerungsgruppe, wer eine ganzeReligionsgemeinschaft für nicht integrationsfähig er-klärt, wer sagt: „Von denen sind zu viele hier, und diesind per se dümmer als die anderen“, der leistet keinenBeitrag zur Integration, der grenzt aus, der schürtdumme Ressentiments und rassistische Vorurteile, unddas ist alles andere als das, was wir brauchen in diesemLand.
Ich sage aber auch – ich teile vieles von dem, was Siegesagt haben, Herr Scholz –: Wenn eine Partei feststellt,dass es in ihrer Anhängerschaft Sympathien für dieseAuffassung gibt
und sie dann in der Diskussion einen Schwerpunkt da-rauf legt, dass Integrationsverweigerung – das ist janeuerdings das Wort – mit Sanktionen belegt werdenmuss, dann geht sie am eigentlichen Thema vorbei, näm-lich an der Fragestellung: Was sind die Ursachen für dievon ihr beklagte Abschottung, die es bei einzelnen Tei-len der Migrationsbevölkerung in der Tat gibt? Das istnämlich die Tatsache, dass diese Gesellschaft ihnennicht gleiche Rechte, nicht gleiche Teilhabe gewährt undsie in dieser Gesellschaft nicht sozial partizipieren lässt.Da liegt die Ursache, und daran müssen wir arbeiten.
Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesemLand ein Selbstverständnis darüber, dass wir Einwande-rung wollen, dass wir eine positive Grundhaltung zurEinwanderung haben. Das ist auch die Voraussetzungdafür, dass wir die Konflikte, die mit Einwanderung ver-bunden sind, bewältigen, diskutieren und austragen kön-nen.Hier ist mehrfach das Stichwort Zwangsverheira-tung gefallen. Natürlich ist dies etwas, was wir inDeutschland nicht akzeptieren können und was auchnicht akzeptabel ist; darin sind wir uns alle einig. Ichsage aber: Wir müssen auch darüber reden, was alleshinter deutschen Wänden geschieht, welche Gewalt ge-gen Frauen ausgeübt wird. Das ist ein gesellschaftlichesProblem und nicht nur ein Migrationsproblem.
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Senator Harald Wolf
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Ich bin froh, dass der Bundespräsident in seiner Redeeine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hat, um nichtzu sagen, eine Banalität, nämlich die Banalität, dass,wenn wir eine Vielzahl von Menschen haben, die einge-wandert und islamischen Glaubens sind, die Bestandteildieser Gesellschaft sind, damit auch der Islam Bestand-teil dieser Gesellschaft ist. Das ist eine Banalität, meineDamen und Herren, und ich bin erstaunt darüber, dass esangesichts dessen jetzt wieder diese unsägliche Diskus-sion zum Beispiel in den Reihen der CDU/CSU über dieFrage gibt, was denn die Leitkultur in Deutschland ist.Wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zur Leitkultur,dann sagt man diesen Menschen, dass sie nicht zu unsgehören. Genau das ist die Botschaft, die man auch wie-der nicht braucht.
Vielmehr müssen wir klar sagen: Das, was hier Leitkul-tur ist, sind Demokratie und Menschenrechte und sonstnichts, keine Weltanschauungen und keine religiösenAuffassungen.
Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir eine Will-kommenskultur gegenüber Einwanderern in diesemLand brauchen. Dies setzt natürlich auch voraus, dasswir die Immigrantinnen und Immigranten fördern. Siehaben in Ihrer Rede auch gesagt, Frau Böhmer, dass diesnotwendig ist, und an den schönen Leitsatz erinnert, denwir auch aus anderen Bereichen kennen: Fördern undFordern. Ich stelle allerdings fest, dass das Fordern deut-lich stärker als das Fördern betont wird. Herr Scholz hatangesprochen, dass die Mittel für Integrationskurse undDeutschkurse nicht ausreichend sind. Teilweise konntenMaßnahmen in diesem Jahr wegen fehlender Mittel nichtdurchgeführt werden. Deshalb sage ich: Es ist Integra-tionsverweigerung vonseiten der Bundesregierung, wennhier keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestelltwerden.
Ich komme aus einem Bundesland, in dem über40 Prozent der unter 18-Jährigen einen Migrationshin-tergrund haben. Wir können uns Integrationsverweige-rung nicht leisten. Integration ist eine zentrale Zukunfts-frage für unsere Stadt: die Frage, wie wir den Menschen,die eingewandert sind, gleiche Teilhabe, gleiche Chan-cen in unserer Stadt geben können. Das geht allerdingsnur mit entsprechenden Anstrengungen und Maßnah-men. Wir haben zum Beispiel in den letzten sechs Jahrengroße Fortschritte bei der Reduzierung der Anzahl derJugendlichen mit Migrationshintergrund erzielt, diedie Schule ohne Abschluss abgebrochen haben. Inner-halb von sechs Jahren konnte deren Anteil um 50 Pro-zent reduziert werden.
Er ist immer noch zu hoch; aber eine Reduktion um50 Prozent zeigt: Wenn man sich den Menschen zuwen-det, wenn man politische Maßnahmen ergreift, dannkann man auch die Abbrecherquote und das Bildungs-versagen reduzieren.Deshalb haben wir in den zwei Legislaturperioden, indenen diese Koalition in Berlin regiert, zwei Integra-tionskonzepte mit dem Motto aufgelegt: Vielfalt fördern,Zusammenhalt stärken. Das ist unser Motto in der Inte-grationspolitik. Dabei ist die Bildungspolitik eineSchlüsselfrage. Wir brauchen eine Veränderung der In-stitutionen in unserem Bildungssystem. Bildung darfnicht mehr ausgrenzend sein. Wir kommen auch hier, beider Integrationspolitik, wieder zu diesem Thema. Wirbrauchen ein Schulsystem, das nicht die Segregation för-dert, das nicht die Kinder frühzeitig auseinandersortiert:nach Einkommen der Eltern, nach Herkunft, nach Natio-nalität und nach Religion, sondern wir brauchen ein inte-gratives Schulsystem, in dem die Kinder möglichst langegemeinsam lernen, damit sie auch voneinander lernenkönnen und damit die Integration vorangetrieben werdenkann.
Deshalb haben wir uns in Berlin dafür entschieden,die Hauptschule abzuschaffen. Die Hauptschule ist eineRestschule gewesen, in die frühzeitig diejenigen aussor-tiert worden sind, von denen man gesagt hat: Sie habenkeine ausreichende Chance. – Es ist ein Verbrechen anden Kindern gewesen,
ihnen im frühesten Alter zu sagen: Ihr habt keine Per-spektive mehr in dieser Gesellschaft.Das war auch die Grundlage dafür, dass es zu Zustän-den wie an der Rütli-Schule gekommen ist. Wir haben ander Rütli-Schule eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen.Sie ist heute eine Vorzeigeschule, an der es gute Bil-dungserfolge und gute Abschlüsse gibt.Wir haben das Ganztagsangebot ausgebaut. Mit un-serer Schulreform, bei der wir die Sekundarschule einge-führt haben, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule zu-sammengefasst worden sind und die bis zum Abiturführen kann, haben wir ein verbindliches Ganztagsange-bot geschaffen. Im Jahr 2011 werden alle Kitajahre ge-bührenfrei sein. Auch das ist eine wichtige Vorausset-zung für Integration und dafür, dass alle in diesem Landdie gleiche Chance haben.
Bildung ist das eine Thema, Arbeit ist das andereThema. Das Stichwort Berufsabschlüsse ist schon ange-sprochen worden. Wir haben qualifizierte Menschen indiesem Land, die einen Berufsabschluss haben, die indiesem Beruf aber nicht arbeiten können. Das ist unterdem Gesichtspunkt der Integrationspolitik nicht akzepta-bel. Es ist aber auch unter dem Gesichtspunkt der wirt-schaftlichen Zukunft dieses Landes nicht akzeptabel,dass man die Fähigkeiten, die Qualifikationen und dieTalente Zehntausender Menschen ungenutzt lässt und sie
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Senator Harald Wolf
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da vom Arbeiten abhält, wo sie ihre Qualifikationen undihre Fähigkeiten einbringen könnten.
Deshalb brauchen wir dringend die Regelung zur Aner-kennung der Berufsabschlüsse.Wenn Menschen mit einem ungesicherten Aufent-haltsstatus per Gesetz vom Arbeiten abgehalten werden,braucht man sich nicht zu wundern, dass Integrationnicht funktioniert. Wir müssen für die Menschen, diedauerhaft hier leben, auch dann, wenn sie einen ungesi-cherten Aufenthaltsstatus haben, den gleichen Zugangzu Bildung und Arbeit gewährleisten. Das ist eine zen-trale Voraussetzung für Integration und dafür, dass dieEinwanderung in dieses Land gelingt.
Dazu gehört noch etwas, meine Damen und Herren:gleiche politische Rechte in diesem Land. Nur wer hiermitbestimmen kann, nur wer hier an politischen Ent-scheidungen gleichberechtigt mitwirken kann, wird sichauch mit diesem Gemeinwesen identifizieren können.Man kann doch nicht glauben, dass Menschen, die manvom Wahlrecht ausschließt, die politischen Entscheidun-gen, die ohne ihre Mitwirkung getroffen werden können,mit Begeisterung hinnehmen. Selbst von denen, die dasWahlrecht haben, werden nicht alle politischen Entschei-dungen mit Begeisterung hingenommen.
Das heißt, wir brauchen eine Entwicklung, bei der wirden Menschen, die in dieses Land eingewandert sind,gleiche Teilhabe am politischen Geschehen ermöglichen.
Wir brauchen eine Öffnung aller gesellschaftlichenInstitutionen. Wir brauchen mehr Menschen mit Migra-tionshintergrund im öffentlichen Dienst. Wir müssen inden Unternehmen das Bewusstsein dafür schaffen, dasszu ihren Kunden auch Menschen mit Migrationshinter-grund zählen, dass sich das auch in den Belegschaftenund in den Führungsebenen widerspiegeln muss.Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir haben gegenwär-tig in der deutschen Medienlandschaft einen Migrations-anteil von 2 Prozent. Wenn wir der gesellschaftlichenRealität in diesem Land Rechnung tragen würden,müsste dieser Anteil fast zehnmal so hoch sein. Daszeigt, welche Aufgabe wir noch vor uns haben, um in derIntegration weiter voranzukommen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist einegroße Herausforderung, daran zu arbeiten, dass es so-ziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe für alle Men-schen, die in diesem Land leben, gibt. Für uns stellen In-tegration, gleichberechtigte Teilhabe und gleicheChancen für Menschen, die in dieses Land eingewandertsind, eine zentrale Frage der Demokratie und der so-zialen Gerechtigkeit dar. Hiermit sind neue Problemeverbunden, und hierdurch werden neue Fragen aufge-worfen; so besteht etwa ein erheblicher Veränderungsbe-darf auch im Institutionensystem der BundesrepublikDeutschland. Wir können nicht nur Veränderungen beidenen, die die hier eingewandert sind, verlangen; nein,diese Gesellschaft muss sich ändern, damit sie für Men-schen mit Migrationshintergrund aufnahmefähig wirdund ihnen gleiche Chancen eröffnet.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Memet Kilic ist der nächste Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Lagebericht der Integrationsbeauftragten ist zwar er-neut ein profundes Nachschlagewerk, aber man fragtsich auch: Wie will die Bundesregierung die dargestell-ten Probleme lösen? Wofür steht diese Bundesregierungüberhaupt? Diese Fragen drängen sich auf, auch und ge-rade nach der inzwischen fünfjährigen Amtszeit vonFrau Dr. Böhmer. Das Fehlen notwendiger Schlussfolge-rungen aus ihrem Lagebericht ist Ausdruck der Ideen-und Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich FrauDr. Böhmer nicht als Fürsprecherin von Migrantinnenund Migranten versteht, sondern vielmehr als Sprach-rohr der konservativen Regierung. Besonders deutlichwird dies daran, dass gleichzeitig zu der anhaltenden De-batte über vermeintliche Integrationsverweigerer Kür-zungen bei den Integrationskursen vorgenommen wer-den. Im Laufe dieses Jahres hat die Bundesregierungerhebliche Kürzungen bei den Integrationskursen durch-geführt. So wurde insbesondere die Kurszulassung vonfreiwilligen Teilnehmern eingeschränkt, was dazu führt,dass bereits heute 9 000 hochmotivierte Einwanderinnenund Einwanderer auf einen Kursplatz warten müssen.Bis zum Jahresende wird wegen der Einsparmaßnahmender Bundesregierung voraussichtlich sogar 20 000 inte-grationswilligen Personen der Besuch von Deutschkur-sen verwehrt. Was haben Unionspolitiker dagegen ge-tan? Gar nichts! Sie haben nichts Besseres zu tun, alsaufgeregt über weitere Verschärfungen zu reden. Das istein falscher Weg. Das ist ein Irrweg. Das ist unverant-wortlich.
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Memet Kilic
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Erstens wissen wir überhaupt nicht, wie viele Inte-grationsverweigerer es tatsächlich gibt. Nur 40 Prozentder Einwanderer sind zur Teilnahme verpflichtet;60 Prozent besuchen die Integrationskurse freiwillig.Wie viele Einwanderer sich ihrer Teilnahmepflicht auswelchen Gründen entziehen, wird überhaupt nichterfasst. Auf meine schriftliche Frage, wie die Zahl von10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer ermittelt wurde,bekam ich eine hilflos zusammengewürfelte Antwort mitVerweis auf verschiedenste Studien, die diese Aussageallerdings überhaupt nicht stützten. Die Studien sagennichts über den Integrationswillen von Einwanderern ausund beziehen sich überhaupt nur auf bestimmte Teile derEinwanderer.Zweitens gibt es bereits eine Reihe von Sanktions-möglichkeiten. Sie reichen von Bußgeld über die Strei-chung von Sozialhilfe bis hin zur Ausweisung.Solange die Zahl der Integrationsverweigerer unbe-kannt ist und die bestehenden Sanktionsmöglichkeitenangeblich nicht genutzt werden, ist die Forderung nachweiteren Verschärfungen völlig absurd und mehr als är-gerlich. Denn die unseriösen Aussagen über integra-tionsunwillige Migranten prägen zu Unrecht ein negati-ves Bild von Einwanderinnen und Einwanderern. Dasdarf nicht sein. Unsere Mitmenschen haben das nichtverdient, meine Damen und Herren!
Nach jüngsten Umfragen haben 68 Prozent aller deut-schen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unseren Mi-granten positive persönliche Erfahrungen gemacht. Dasist der beste Beweis dafür, dass entsprechende Phantom-debatten nur unserem Zusammenhalt schaden und dasKlima vergiften können. Sie bringen nichts. Deshalbmüssen wir diese Debatten wirklich unterlassen.Auch in anderen Bereichen wie der Einbürgerungund der Bildung, dem Kernstück einer erfolgreichen In-tegrationspolitik, offenbart der Lagebericht den Reform-unwillen der Bundesregierung und die Untätigkeit derIntegrationsbeauftragten. Die ohnehin niedrigen Ein-bürgerungszahlen sind seit 2004 um rund ein Fünfteleingebrochen. In Ihrem Lagebericht findet sich keinWort dazu, inwiefern das Ausklammern des ThemasEinbürgerung bei den Integrationsgipfeln, die Verschär-fung bei den Einbürgerungsmöglichkeiten oder dasideologische Festhalten an der Vermeidung der Mehr-staatigkeit zu dieser Entwicklung beigetragen haben,und kein Vorschlag dazu, wie die Integrationsbeauf-tragte gegensteuern möchte. Keine Meinung, keine Ah-nung, kein Konzept – so sieht es aus!
Der Lagebericht enthält auch keine Vorschläge zuStrukturänderungen und keine Empfehlungen an dieBundesländer für den Bildungsbereich. Nach wie vorverlassen Jugendliche mit Migrationshintergrund dieSchule annähernd doppelt so häufig ohne Abschluss wiedie ohne Migrationshintergrund. Was sind also die Ver-sprechungen der Bundesregierung auf den diversen Inte-grations- und Bildungsgipfeln wert?Wir brauchen ein neues Bildungssystem, das Kinderunabhängig von ihrer sozialen Herkunft dabei fördert,die Schule bis zum Abitur zu besuchen. Das Dreiklas-senschulsystem aus dem 19. Jahrhundert bewirkt mit sei-ner sozialen Selektion genau das Gegenteil. NeunjährigeKinder haben Zukunftsängste, weil sie nicht wissen, beiwelcher Schulart sie landen. Wenn sie auf der Haupt-schule landen, wissen sie, dass sie auf das Abstellgleisgestellt worden sind. Das kann nicht die Zukunft unsererRepublik sein. Wir müssen dieses Schulsystem reformie-ren.
Wer sich jedoch wie die Bundesregierung hartnäckigweigert, hier ein Problem der strukturellen Diskriminie-rung zu erkennen, ist auch nicht in der Lage, adäquateLösungsvorschläge zu entwickeln.Sehr geehrte Frau Böhmer, es ist nicht sachgemäß, dieIntegration auf Sprachkenntnisse zu reduzieren. Integra-tion ist Teilhabe. Wir müssen erklären, was wir mit denjungen Menschen machen, die bereits sehr gut Deutschkönnen. Die Migrantenkinder der dritten Generation ha-ben ein Studium an einer der Universitäten dieses Lan-des absolviert, sind aber oft nur gut genug, um Taxi zufahren.Wir müssen erklären, warum in unserem öffentlichenDienst so wenige Migrantenkinder beschäftigt sind. Diegrößte Parallelgesellschaft in unserem Land ist der öf-fentliche Dienst;
das muss sich ändern.
Frau Dr. Böhmer hat zwar eine Migrantenquote von20 Prozent im öffentlichen Dienst gefordert; aber ihrenschönen Worten folgen keine Taten.
Herr Kollege, bitte werfen Sie einen Blick auf die
Uhr.
Gerne. – Die populistischen Grabenkämpfe zwischen„uns“ und „denen“ helfen uns wirklich nicht; eine Stig-matisierung ist nicht hilfreich. Deshalb meine ich: Wirmüssen ein Wirgefühl entwickeln. Dies ist unser Land;wir Einwanderer und unsere Nachkommen lieben unserLand Deutschland. Wir werden unsere freiheitliche de-
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6802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Memet Kilic
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mokratische Grundordnung mit verteidigen. Wir werdenunser Land Hand in Hand zu einem besseren Deutsch-land machen, in einem besseren Europa und einer besse-ren, friedlicheren Welt; das ist unser Anspruch, unserTraum.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der hessische Ministerpräsident
Volker Bouffier.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hessi-sche Landesregierung hat dem Thema der Integrationseit über zehn Jahren eine besonders wichtige Rolle zu-gewiesen.
Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass unsere Politikbundesweite Anerkennung erfahren hat.
Ich möchte deshalb in dieser Debatte einige Bemerkun-gen machen; sie werden sich unter anderem von dem,was Sie, Herr Senator Wolf aus Berlin, dazu ausgeführthaben, deutlich unterscheiden.Wir haben als Erste in Deutschland auf Landesebeneeinen Integrationsbeirat geschaffen. Wir waren die Ers-ten in Deutschland, die Deutschkurse vor der Einschu-lung für alle Kinder verbindlich eingeführt haben. Wirwaren die Ersten, die – sehr präzise – Einbürgerungs-kurse gefordert haben. Herr Kollege Scholz, ich kannmich sehr gut erinnern, dass diese Forderung damalsheftigst umstritten war, nicht zuletzt bei SPD und Grü-nen. Heute ist das in Deutschland Allgemeingut. Das istgut so. Deshalb können wir zunächst gemeinsam fest-stellen: Wir sind weitergekommen,
nicht zuletzt deshalb, weil manche von Illusionen Ab-schied genommen haben.Überhaupt möchte ich feststellen, dass wir inDeutschland die Herausforderungen der Integration bes-ser bewältigt haben als manche unserer Nachbarländer.
Diese Erfolge sind auch das Ergebnis der Arbeit derBundesregierung
und insbesondere der Beauftragten Frau StaatsministerinBöhmer. Ihnen möchte ich für Ihre Arbeit herzlich dan-ken.
Lieber Kollege Scholz, Ihre Bemerkung war durchausinteressant, aber sie war falsch. Es war nicht die rot-grüne Bundesregierung, sondern die Bundesregierung,die von Angela Merkel geführt wurde, die den Nationa-len Integrationsplan, den Integrationsgipfel und dieIslam-Konferenz eingeführt hat. Dies hätten Sie auchalles tun können. Warum Sie es nicht getan haben, weißich nicht.
Dass es eine christdemokratisch geführte Bundesregie-rung war, die dies eingeführt hat, erwähne ich heute mitDankbarkeit und mit Stolz.
Der vorgelegte Bericht ist Zeugnis vielfältiger Initiati-ven und Aktivitäten. Er bietet eine Fülle von Informatio-nen. Er zeigt Erfolge auf, und er weist auf Defizite hin.Wenn wir die Debatte offen und gründlich führen wol-len, müssen wir alle zugeben, dass wir bei der Integra-tion an vielen Stellen noch am Anfang stehen.
Nicht zuletzt die heftigen Debatten der letzten Wochenhaben uns gezeigt, wie groß die Herausforderungen aufdiesem Wege noch sind.
Viele Menschen in unserem Land empfinden dassichtbare Ausbreiten fremder Kulturen nicht als Be-reicherung, sondern als Bedrohung ihrer Identität. Nichtselten haben die Menschen das Gefühl, dass die Politikihre Sorge nicht ernst nehme,
dass falsch verstandene Political Correctness dafürsorge, dass man über diese Themen am besten nichtspreche.
Nur so kann man sich die massive Wirkung der Theseneines ehemaligen Vorstandsmitglieds der DeutschenBundesbank erklären. Es ist deshalb unsere gemeinsamePflicht, diese Sorgen aufzunehmen und bei den Bürgerndas verlorengegangene Vertrauen wiederzuerwerben. Esist gut, dass wir diese Debatte engagiert und gründlichführen. Ein Klima des Misstrauens kann weder für dieangestammte Bevölkerung noch für die Zuwanderer jene
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6803
Ministerpräsident Volker Bouffier
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Grundlage schaffen, die wir für gelungene Integrationbrauchen.Wir müssen diese Debatte offen, ohne Scheuklappenund ohne Schaum vor dem Mund führen.
Wir müssen klar sagen: Gelungene Integration wird län-ger brauchen, als viele dachten, sie wird schwierigersein, als sich viele erhofften, und sie wird von uns allenmehr Kraft einfordern, als die meisten glauben. Sie wirdund sie kann nur gelingen, wenn wir die Diskussion da-rüber engagiert und sachlich zugleich führen, mit Sorg-falt in der Sprache, mit Klarheit in der Sache und in ge-genseitigem Respekt.Frau Professor Böhmer hat recht – das haben alleRedner eingeräumt –: Es ist eine Schlüsselfrage für un-ser Land, wie es uns gelingt, vom Nebeneinander, vomgelegentlichen Gegeneinander zu einem echten Mitein-ander zu kommen, um gemeinsam die Grundlagen fürErfolg und für friedliche Entwicklung für alle Seiten zulegen.
Wenn das die Aufgabe ist – darauf müssten wir uns ge-meinsam verständigen können –, dann wird uns diesnicht gelingen ohne einen Kompass, der uns anzeigt, wieund wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll.In diesem Zusammenhang ist oft und aus meinerSicht häufig sehr verkrampft auf den Begriff der Leit-kultur verwiesen worden. Ich halte es für eine Selbst-verständlichkeit, dass der Weg in eine gemeinsame Zu-kunft Leitplanken braucht, wenn er nicht zum Irrwegwerden soll. Deshalb: Wir haben eine Leitkultur. Zu die-ser Leitkultur gehört vor allen Dingen die Trennung vonStaat und Kirche.
Sie ist das Gegenmodell zur islamischen Scharia. Darausfolgt zwingend, dass die Scharia nicht die Grundlage ei-ner gelungenen Integration in unserem Land sein kann.
Wir brauchen die Herausbildung eines Islam, denBassam Tibi schon vor etlichen Jahren als europäischenIslam bezeichnete. Es muss uns gelingen, islamgläubi-gen Menschen in unserem Land durch islamische Auto-ritäten ein Religionsverständnis zu vermitteln, das ihreTreue zu ihrer Religion mit den Anforderungen eines sä-kularen Staates des 21. Jahrhunderts versöhnt. Die Poli-tik allein kann das nicht erreichen. Wir können aber hel-fen, Entwicklungen zu fördern, indem wir zum Beispielislamische Theologen an unseren Hochschulen ausbil-den. Wir müssen hier in Deutschland Religionslehrerausbilden, die Deutsch sprechen, mit diesem Land ver-traut sind und sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen.Wenn wir über die Voraussetzungen einer gelungenenIntegration sprechen, müssen wir auch anerkennen, dassdie vielen Menschen islamischen Glaubens zu diesemLand gehören. Dies gilt übrigens auch für die nicht we-nigen Bürgerinnen und Bürger, die bewusst keine reli-giöse Bindung haben. Sie alle gehören zu unserem Landund sind Teil unserer Gesellschaft.
Wenn man nach einem Weg sucht, sehr verehrte FrauKünast, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, dann ist eswichtig, dass wir uns über unsere Identität im Klarensind. Die Grundlagen unserer Gesellschaft und unseresStaatsverständnisses sind die christlich-abendländischeTradition, ihre Kultur und die Aufklärung.
Diese Grundlagen müssen auch in Zukunft gelten. Siemüssen das Fundament unserer Gesellschaft bleiben.Wir würden viel verlieren und nichts gewinnen – das giltinsbesondere für den Respekt der Zuwanderer –, wennwir diese Leitplanken aufgeben. Das bedeutet konkret:Wir dürfen erwarten, dass Menschen, die sich freiwilligentschieden haben, hier zu leben, dieses Land mit seinenGesetzen und Lebensweisen achten.
Wir dürfen erwarten, dass sie zum Wohlstand des Lan-des, von dem sie sich ein besseres Leben erhoffen, bei-tragen, und sich nicht von dessen Bewohnern abgrenzen.Wir müssen erwarten, dass sie selbst ein Teil dieser Ge-sellschaft werden wollen. Sie müssen ihre Herkunft undihre Religion nicht verleugnen. Sie sollen aber auchnicht beabsichtigen, der angestammten Bevölkerung ihreReligion und Kultur aufzudrängen.
Als aufnehmende Gesellschaft können wir Wege wei-sen und Hilfe anbieten. Wir können den Zuwanderernaber nicht die Verantwortung für ihr Leben abnehmen.Zu dieser Verantwortung – darauf könnten wir uns wahr-scheinlich alle gemeinsam verständigen – muss es dochgehören, die Landessprache zu lernen und die Kinder inKindergärten und Schulen zu schicken.Im Hinblick auf unsere Integrationspolitik setzen wirhohe Maßstäbe. Um es mit den Worten von Max Frischzu sagen: Wir wollen denen, denen die Heimat zur
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6804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Ministerpräsident Volker Bouffier
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Fremde, die Fremde aber nicht zur Heimat geworden ist,eine Heimat geben. Wer sich in der Fremde immer wieein Fremder verhält, wird fremd bleiben und diese Hei-mat nicht finden. Heimat wird hier nur der finden, derdiese Heimat annimmt und sich auch klar zu diesemLand bekennt.
Herr Kollege Kilic, das ist ein offenes und faires An-gebot. Es sind klare Leitplanken, die besagen, wie eineZukunft aussehen soll, und zwar gestützt auf die Er-kenntnisse, die wir dem vorgelegten Bericht entnehmenkönnen. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass dieseDebatte intensiv weitergeführt wird und über die Schlag-zeilen des Tages hinaus wirkt. Ich wünsche der Bundes-regierung und vor allem auch Ihnen, Frau ProfessorBöhmer, für Ihre Arbeit viel Erfolg. Die hessische Lan-desregierung wird Sie auch in Zukunft engagiert unter-stützen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Siemich mit einem Punkt beginnen, über den ich mit mei-nem unmittelbaren Vorredner einer Meinung bin: Auchwir möchten Frau Professor Böhmer und all ihren Mit-arbeitern – denen, die hier sind, und auch denen, die dasjetzt im Fernsehen verfolgen – ganz herzlich für die he-rausragende und wirklich gewichtige Arbeit danken. Esist schon gesagt worden, dass es sich um ein recht pro-fundes Datenmaterial handelt. Ich teile – das liegt in derNatur der Sache – nicht alle Schlussfolgerungen, aberdoch manche.
Wenn meine Redezeit dafür reicht, komme ich vielleichtauf das eine oder andere zurück.Es gibt mindestens zwei aktuelle Ereignisse, deretwe-gen mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger ge-haltvoll und mehr oder weniger erkenntnisreich über In-tegration gesprochen wird. Ein Grund – Frau ProfessorBöhmer hat das Thema eingebracht – sind die Thesenvon Herrn Sarrazin. Herr Bürgermeister und SenatorWolf, wir Sozialdemokraten können mit diesem Problemumgehen und benötigen keine hilfreiche Unterstützung,auch nicht von Ihnen.
Zu den Thesen von Herrn Sarrazin hatte ich übrigensschon vor Veröffentlichung dieses Buches eine außer-ordentlich kritische Haltung. Ich darf an den Pullover fürHartz-IV-Empfänger und die Verköstigung von armenKindern erinnern.Es gibt eine weitere aktuelle Begebenheit, die derGrund dafür ist, dass insbesondere in den Reihen derCDU/CSU aufgeregt über Integration und Religion dis-kutiert wird. Ich will mich jetzt nicht nur mit dem ThemaReligion auseinandersetzen, aber man kann es heutzu-tage kaum ausklammern – das haben auch meine Vorred-ner nicht getan –, wenn es um den Bericht über die Lageder Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland geht.Da 45 Prozent aller Muslime in Deutschland längst deut-sche Staatsbürger sind, trifft sie diese Diskussion nicht,aber die anderen vielleicht. Da ich selten das Vergnügenhabe, den Herrn Bundespräsidenten oder die Frau Bun-deskanzlerin gegenüber ihren eigenen Parteifreunden inSchutz zu nehmen, kann ich es mir heute nicht verknei-fen, zu sagen: Ich persönlich bin der Auffassung, dassdas, was Herr Wulff in der Tradition der Äußerungenvon Herrn Schäuble zu dem Thema gesagt hat, eineSelbstverständlichkeit ist. Bei dieser Gelegenheit darfich vielleicht in unser aller Namen die besten Gene-sungswünsche an das Krankenbett von WolfgangSchäuble übermitteln.
Das, was der Bundespräsident zum Thema Islam ge-sagt hat, musste von der Bundeskanzlerin, wenn die Zei-tungen das richtig wiedergegeben haben, in der CDU/CSU-Fraktion erst einmal interpretiert werden. Sie hatgesagt, das bedeute natürlich nicht, dass der Islam dasFundament des kulturellen Verständnisses Deutschlandssei. Das hat der Bundespräsident wohl in der Tat nichtsagen wollen. Da er nur auf ein selbstverständliches Fak-tum hingewiesen hat, ist die Aufregung in der Union fürmich nicht verständlich. Ich denke an die Äußerungenvon Herrn Geis, Herrn Friedrich, Hans-Peter Uhl und– diesbezüglich grenze ich mich ab – von HerrnBuschkowsky aus unseren Reihen. Ich wünsche mirnicht, dass Sie uns eines Tages bezichtigen, die Äuße-rungen des Bundespräsidenten uminterpretiert zu haben,weil er etwas gesagt hat, das Sie nicht für gut und richtighalten.Bevor ich zum sogenannten Ausländerberichtkomme, muss ich eine andere wichtige Klarstellung an-bringen, und zwar zur Rede meines Vorredners, VolkerBouffier: Bei aller Verbundenheit über nunmehr 30 Jahredarf ich auf einen heftigen Gegensatz hinweisen. Ichwäre bis zum heutigen Tage nicht auf die Idee gekom-men, ausgerechnet die hessische CDU dafür zu loben,dass sie seit Jahrzehnten Politik im Zeichen der Integra-tion macht.
Ihr habt in der Tat Nachholbedarf. Dein von mir persön-lich wesentlich weniger geschätzter unmittelbarer Amts-
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vorgänger kam, wenn ich mich richtig erinnere, imLandtagswahlkampf 1998/99 kurz vor Weihnachten aufdie Idee, in jeder Hinsicht gegen die doppelte Staatsbür-gerschaft
mobil zu machen, weil er glaubte, dass nur noch dadurchdas Ruder herumzureißen sei und die Wähler nur durcheine Kampagne gegen Ausländer zu mobilisieren seien.Das war nicht besonders integrationsfreundlich. Das wardas genaue Gegenteil.
Ich erinnere mich nicht nur sehr gut daran, dass es imWinter 2008 ekelhaft kalt war – das war der schlimmsteStraßenwahlkampf überhaupt –, sondern auch daran,dass damals wiederum dein von mir nicht so sehr ge-schätzter Amtsvorgänger am Beispiel krimineller ju-gendlicher Ausländer versucht hat, Wählerstimmen zufangen. Dabei ist er vom Vorsitzenden der CDU-Frak-tion im Land Hessen, Christean Wagner, noch getopptworden. In den letzten 14 Tagen dieses Wahlkampfs ha-ben die beiden, wenn ich das richtig beobachtet habe,überwiegend gegen sich selbst und ihre eigenen Äuße-rungen Wahlkampf geführt. Das war vielleicht der Un-terschied zu 1999.
Ich möchte im Rahmen der kurzen mir noch zur Ver-fügung stehenden Redezeit noch auf etwas hinweisen.Passen Sie bitte in der Debatte jetzt und in Zukunft auf,dass es nicht ausgerechnet die Union ist – und jetztmanchmal auch die FDP –, die sich anhand einer ganzenReihe von Beispielen folgenden Vorwurf, wie ich finde,noch einmal deutlich anhören muss: Seit nunmehr überzwölf Jahren – ich habe das miterlebt, gelegentlich mit-gestaltet, manchmal sogar auch mit gelitten – hat ausge-rechnet die Union zu rot-grünen Zeiten und als Koali-tionspartner in der Großen Koalition entweder hier oderim Bundesrat, den wir praktisch für jede Gesetzesände-rung auf diesem Gebiet brauchen – ausgenommen Inte-grationskurse; da sind Sie nach dem Motto „learning bydoing“ vom Grundsatz her jetzt ganz gut dabei –, verhin-dert, was wir umsetzen wollten.
Sie reklamieren die Integrationskurse jetzt für sich; dasist gut. Wir haben sie gegen Ihren Widerstand durchge-setzt. Wir haben damals die Staatsbürgerschaftsreformnur um den Preis bekommen, dass wir das Verbot derHinnahme von Mehrstaatlichkeit in das Gesetz geschrie-ben haben, was nicht gerade rauschenden Erfolg hatte.Das sieht man, wenn man die Einbürgerungszahlen be-trachtet.
Sie waren es, die bei der Abschaffung von Duldungund Kettenduldung blockiert haben, und zwar mit demErfolg, dass wir uns noch heute über Bleiberechtsrege-lungen und die Frage, inwieweit diese Duldungen undKettenduldungen in der Tat Integrationshemmnisse sind,intensiv Gedanken machen müssen. Dazu gibt es übri-gens interessante Ausführungen in dem Bericht – ichhabe keine Zeit, es vorzulesen – auf den Seiten 483 ff.Sie haben erst jetzt entdeckt – spät ist vielleicht nochnicht zu spät –, dass man bei der Gewährung der elemen-tarsten Menschenrechte für hier in Deutschland illegallebende Menschen vielleicht ein bisschen nachbessernmuss, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob manmit den bestehenden Übermittlungspflichten nicht eineangemessene gesundheitliche Versorgung gerade vonKindern oder den Schulbesuch verhindert. Sie sind esgewesen, die jetzt erst – das war uns in der Großen Ko-alition leider nicht vergönnt – erkannt haben, dass wirein erweitertes Rückkehrrecht der Opfer von Zwangshei-rat haben müssen.Sie sind es übrigens bis zum heutigen Tage, die imBereich des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehö-rige hier in Deutschland heftig auf der Bremse stehen,die das verhindern wollen, die sich stets und ständig da-gegen aussprechen und hier auch dagegen stimmen. Siesind es, denen wir das diskussionswürdige Problem hin-sichtlich des Erwerbs vorheriger Sprachkenntnisse vonEhegatten im Ausland zu verdanken haben.
Schließlich und letztendlich: Sie haben zwar jetzt dieVorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention formal ab-geschafft, aber Sie weigern sich, zur Kenntnis zu neh-men, dass das entsprechende Veränderungen des Aufent-haltsrechtes bei der Frage der Handlungsfähigkeit von16- bis 18-jährigen jungen Leuten hat.Diese ganze Reihe – ich könnte sie beliebig fortset-zen; zwölf Jahre sind eine lange Zeit – zeigt: Sie habenerheblichen Nachholbedarf, wenn es darum geht, durchgesetzliche Änderungen im Aufenthaltsrecht und imStaatsangehörigkeitsrecht die elementarsten Vorausset-zungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ausländi-scher Herkunft in Deutschland überhaupt integrierenkönnen.
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich hoffenicht, dass man im Ergebnis sagen muss und dass Siesich dieses Prädikat anziehen wollen: Wir verweigernvon staatlicher Seite die Integration dadurch, dass wirdie elementarsten Voraussetzungen im Bereich desRechtes, das unserer Beeinflussung unterliegt, nicht ge-schaffen haben. Deswegen hoffe ich, dass Sie im Lichte
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der jetzigen Debatte und dieses profunden Berichtesvielleicht zu anderen Erkenntnissen kommen.
Das können Sie jetzt aber nicht im Einzelnen auflis-
ten.
Herr Präsident, diese Hoffnung wollte ich noch zum
Ausdruck bringen.
Danke für Ihre Geduld.
Der Kollege Serkan Tören ist für die FDP-Fraktion
der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wun-
dere mich sehr, Herr Kollege Veit und Herr Kollege
Scholz, über die Forderungen, die Sie zum Schluss Stück
für Stück aufgezählt haben. Davon haben Sie unter Rot-
Grün nie gesprochen, und Sie haben auch nichts davon
umgesetzt.
Ich finde es sehr interessant, dass Sie jetzt, etwa ein Jahr
seit Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind,
diese Forderungen aufstellen.
Das verstehen Sie unter Integrationspolitik. Übrigens,
Herr Kollege Scholz, reden und nicht handeln, das kann
man Ihnen vorwerfen. Welche Bilanz hatten Sie nach
sieben Jahren? Nennen Sie mir eine einzige Maßnahme
im Bereich der Integrationspolitik, die Sie durchgesetzt
haben. Nennen Sie etwas, das uns weitergeholfen hat.
Dazu findet sich nichts in Ihrer Bilanz, im Gegenteil: Sie
sperren sich auch einer Diskussion, die wir jetzt benöti-
gen. Herrn Buschkowsky hörten Sie meist gar nicht zu;
Sie laden ihn jetzt ein, wo es Ihnen genehm ist. Jahre-
lang war er für Sie gar nicht sichtbar; auch das muss man
einmal feststellen. Erst jetzt, da es Ihnen genehm ist, fan-
gen Sie an, Herrn Buschkowsky zu zitieren oder in Fern-
sehsendungen einzuladen. Entschuldigen Sie, aber das
verstehe ich nicht.
Kollege Tören, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja, gerne.
Herr Kollege Tören, Sie sind ja neu im Hohen Hause.
Wären Sie vielleicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, das wegen der
Neinstimmen aus dem Lager von Union und FDP leider
zwei Anläufe brauchte, das erste Ausländerrecht war, in
dem Integrationskurse für Neuzuwanderer verbindlich
festgelegt wurden – es war ein Rechtsanspruch und eine
Pflicht für die Zuwanderer, innerhalb von zwei Jahren
von diesem Rechtsanspruch Gebrauch zu machen –, dass
wir unter den vorherigen schwarz-gelben Koalitionen
jahrzehntelang ein Ausländerrecht hatten, in dem die In-
tegration in keiner Weise geregelt war, und dass wir die
gesamte Debatte um nachholende Integration nicht füh-
ren müssten, wenn wir das, was wir im Zuwanderungs-
gesetz beschlossen haben, 30 Jahre früher beschlossen
hätten, weil wir die Probleme, über die wir heute reden,
dann gar nicht erst bekommen hätten?
Damals war es Ihre sogenannte bürgerliche Mehrheit,
die sich verweigert hat, zu akzeptieren, dass Zuwande-
rung stattfindet. Sie haben von Gastarbeitern, die wieder
gehen, gesprochen und der Bevölkerung Sand in die Au-
gen gestreut,
statt sich von Anfang an mit dem Thema Integration zu
befassen.
Herr Kollege Beck, Sie wollten eine Zwischenfrage
stellen.
Ja. Das habe ich auch getan.
Ach so. Das war mir nicht aufgefallen. Deswegen
habe ich nur daran erinnern wollen.
Es kam ein Fragezeichen. Ich werde es Ihnen im Pro-
tokoll zeigen.
Herr Kollege Beck, ich merke schon: Die Kritik, dieich gerade geäußert habe, schmerzt Sie. Das, was ich ge-sagt habe, scheint wohl richtig zu sein.
Keine der Maßnahmen, die Herr Veit vorhin genannt hat,haben Sie umgesetzt; das muss man einmal feststellen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6807
Serkan Tören
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„Warum Deutschland an der Integration scheiterte“,so titelte vor ein paar Wochen ein großes deutschesNachrichtenmagazin. Ich sage Ihnen ganz offen: AlsBürger mit Migrationshintergrund, wie es so schönheißt, und Innenpolitiker halte ich diesen Titel für ver-fehlt.
Es ist doch mittlerweile Konsens: Wir haben jahrzehnte-lang versäumt, eine aktive und gestaltende Zuwande-rungspolitik zu machen. Integration passiert nicht ein-fach so. Integration muss begleitet, gefördert und – dassage ich ganz klar – auch eingefordert werden.
Die Versäumnisse sind Mahnung und Begründung fürviele der heutigen Herausforderungen in der Integra-tionspolitik, nicht mehr und nicht weniger. Ewiges La-mentieren und rückwärtsgewandte Debatten bringen unsnicht weiter.
– Genau.Anders als einige Menschen, die Tabubauer und -bre-cher in Personalunion sind, erlebe ich eine sehr offeneDebatte um die Integrationsprobleme in Deutschland.Das ist auch gut so. Denn harte Auseinandersetzungengehören zur Streitkultur in einer demokratischen Ein-wanderungsgesellschaft; es wird mit harten Bandagenund Emotionalität diskutiert. Aber auch hier gilt: Gren-zen einhalten und Spielregeln beachten! Die Grenze istda, wo Menschen einfach nur diffamiert und ausgegrenztwerden. Es ist mühsam und nicht immer einfach, dasdurchzuhalten. Aber wir müssen mehr Pragmatismusund Differenzierung in die Debatte bringen; das ist ganzwichtig. Pauschal von den Integrationsproblemen derAusländer oder der Muslime zu sprechen, bringt unsnicht weiter. Ich bin der Integrationsbeauftragten auf-grund ihres Engagements und der regelmäßigen Publika-tionen für die sehr differenzierte Auseinandersetzungmit den sehr unterschiedlichen Lagen der Ausländerin-nen und Ausländer in Deutschland sehr dankbar.Meine verehrten Damen und Herren, zur Wahrheit ge-hört: Wir haben bereits viele wichtige Antworten gege-ben und Erfolge vorzuweisen; zu nennen sind insbeson-dere die Integrationskurse. Es ist nicht richtig, dass wiran dieser Stelle gekürzt haben – das stimmt nicht –, son-dern wir haben die Mittel sogar erhöht.
Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Natürlich gibt esnoch Verbesserungsbedarf; die Baustellen sind uns be-kannt. Dennoch: Die Integrationskurse sind eine Er-folgsgeschichte. Seit 2005 haben mehr als 600 000 Mi-granten an einem solchen Kurs teilgenommen; weitmehr als die Hälfte davon waren Freiwillige. Das ist einetolle Bilanz. Diese Erfolgsgeschichte wird weitergehen.Trotz angespannter Haushaltslage werden wir hierfür2011 einen Betrag von 218 Millionen Euro zur Verfü-gung stellen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Integra-tionspolitik.Ich möchte ein Thema ansprechen, dem wir uns wie-der viel bewusster stellen müssen; die aktuelle Debatteum die Äußerungen unseres Bundespräsidenten zeigtdiesen Bedarf deutlich. Es geht um die Fragen: Was wol-len wir von unseren Zuwanderern verlangen? Was kön-nen Zuwanderer von uns erwarten? Es geht um Zielstel-lungen und um ein gemeinsames Leitbild. Diese sindunabdingbar für die Motivation von Migranten und ins-besondere auch für unser Gemeinwesen. An dieser Stellewarne ich aber auch vor einer falsch verstandenen Tole-ranz. Sie ist in meinen Augen das andere Spektrum derunsachlichen Debatte.Mitglieder von Migrantengruppen und ihre Nach-kommen verdienen es, als Individuen gleichbehandelt zuwerden. Ich sehe keinen Anlass, ein muslimisches Mäd-chen vor dem Gesetz anders zu behandeln als ein christ-liches oder jüdisches. Das gilt beispielsweise für denSchwimmunterricht, den gemeinsamen Sportunterrichtoder für Klassenfahrten.Wir dürfen uns nicht neutral verhalten und wegsehen,wenn Gruppierungen diese Prämissen nicht akzeptierenund mit Füßen treten. Dann haben diese Menschen inunserer Gesellschaft keinen Platz. Das müssen wir klar-machen.
Mit „wir“ meine ich alle, auch die Zugewanderten, die inder Mehrzahl ihren Platz in Deutschland gefunden ha-ben.Wir müssen uns die Frage stellen: Was kann oder wasmuss das verbindende Glied sein? Vielfältigkeit und To-leranz dürfen nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden.Ich denke, in diesem Saal besteht Einigkeit darüber, dassdas Grundgesetz selbstverständlich die Richtschnur ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland istnicht an der Integration gescheitert, und Deutschlandwird auch nicht an der Integration scheitern. Integrationist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht irgendwannabgeschlossen sein wird, sondern stetig weitergeht. Wieerfolgreich er weiterhin verlaufen wird, hängt von vielenFaktoren ab.Aber der nachhaltige Erfolg hängt vor allem von denAntworten auf folgende Fragen ab: Wie werden wir dieim Grundgesetz formulierten Werte in die Praxis umset-zen und sie durchsetzen? Wie werden wir eine gemein-same Identität jenseits von kulturellen Unterschiedenschaffen können?
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6808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.
Das ist die Herausforderung, der wir uns mit Offen-
heit und Selbstbewusstsein zugleich stellen werden.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bünd-nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Wenn ich eben Frau Böhmer richtig verstan-den habe, hatte sie gemeint, dass die Probleme, die beider Integration von Ausländerinnen und Ausländern inder Bundesrepublik Deutschland bestünden, Rot-Grünoder die Ausländer selbst verursacht hätten, indem siesich nicht integrieren wollten. Sie sprachen von falschverstandenem Multikulti. Ich sage Ihnen – das wurdeeben schon vom Kollegen Veit angesprochen –, was dasHauptproblem der Integrationspolitik in diesem Landeist: Erst unter Rot-Grün wurde zum ersten Mal Integra-tionspolitik in diesem Land gemacht.Sie haben sich auch in dieser Zeit noch verweigert.Sie haben die Sprachkurse im Vermittlungsausschussbekämpft.
Die Grünen und die SPD haben verpflichtende Deutsch-kurse für Ausländerinnen und Ausländer durchgesetzt.Sie wollten das Geld dafür nicht in die Hand nehmen.Sie haben gesagt, die Leute könnten doch zur Volks-hochschule gehen. Sie bekämen schließlich Sozialhilfeund sollten die Kurse davon bezahlen.
Nun zur Zwangsheirat: Auch Sie, Herr Senator Wolf,haben gesagt, das sei nicht akzeptabel. – Zwangsheiratwar in diesem Land noch nie legal. Wer über so etwasüberhaupt nur nachdenkt, ist völlig neben unseremRechtsverständnis.Die rot-grüne Bundesregierung hatte das klargestelltund gesagt: Das ist selbstverständlich ein besondersschwerer Fall der Nötigung und mit bis zu fünf JahrenGefängnis zu bestrafen. Jetzt sagen Sie: Das ist alles „li-rum larum dumdideldarum“;
wir machen einen eigenen Straftatbestand. Dann kann esmit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. – Bis zu fünfJahre Haft? Das ist ja eine grandiose Idee! Sie kommenjetzt mit fünf Jahren Haft; dabei wird es bis jetzt auchschon mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.
Wir müssen etwas gegen Zwangsheirat machen; dasist klar. Es gibt Zwangsheiraten. Allein die Tatsache,dass sie strafbar sind, verhindert sie nicht. Aber wo istdenn da Ihr Konzept? Einen neuen Paragrafen im Straf-gesetzbuch einzuführen, wird keine einzige Zwangshei-rat verhindern.
Jetzt zur Rede des Bundespräsidenten. Wenn ichhöre, dass der Bundespräsident sagt, wir fußen natürlichauf der christlich-jüdischen Tradition, sage ich: Selbst-verständlich, wer hat das Gegenteil behauptet?Wenn er sagt, natürlich seien in diesem Land Millio-nen von Muslimen hinzugekommen, sie blieben auchund würden wohl nicht wieder auswandern, wer könnteihm widersprechen? Da kann ich nur sagen: Ich haltedas, was in der Union dazu gesagt wird, für völlig abwe-gig.Kollege Kauder, der eben noch hier war, hat dazu einInterview gegeben und gesagt: Zu dieser Rede sind „er-klärende Interpretationen notwendig geworden“.
Wie bitte? Zu was ist denn da eine Interpretation not-wendig? – Er sagte:Ein Islam, der die Scharia vertritt und in dessen Na-men die Unterdrückung der Frau geschieht, kannnie und nimmer zu Deutschland gehören.
Der Maßstab für unser Zusammenleben ist dasGrundgesetz, das auf unserem christlich-jüdischenErbe beruht.Ja, hallo? Wo sind wir denn hier?
Was hat denn der Bundespräsident gesagt? – Natür-lich hat er nicht gesagt: Der Islam, der Frauen unter-drückt, gehört zu Deutschland, und wir sind froh, dass erda ist. – So ein dummes Geschwätz habe ich schon langenicht mehr gehört.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6809
Josef Philip Winkler
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Dazu sage ich – auch als Katholik –: Der ApostelPaulus hat gesagt, das Weib schweige in der Gemeinde.Dieser Aspekt des Christentums hat in unserem Grund-gesetz auch nichts verloren – also, bitte schön.
Zusammenfassend kann ich nur sagen: Ich verlangevon Ihnen, dass Sie sich beim Bundespräsidenten ent-schuldigen, dass Sie ihm zuhören, wenn er eine Redehält, und dass Sie das friedliche Zusammenleben der Re-ligionen in unserem Land nie mit solchen Reden – ichsage manchmal sogar fast „Hetzreden“ – stören.Herzlichen Dank.
Nun erhält der Kollege Stefan Müller das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Winkler, eines ist ja sehr beruhigend: DieTatsache, dass Sie den Bundespräsidenten, den Sienicht gewählt haben,
mittlerweile so gut finden, scheint ja Beleg dafür zu sein,dass Sie die Erkenntnis gewonnen haben, dass wir sei-nerzeit genau den richtigen Kandidaten aufgestellt undjetzt einen guten Bundespräsidenten haben.
Wir führen heute ja eine wichtige gesellschaftspoliti-sche Debatte. Ich finde, diese Debatte ist hier im Hausbesser aufgehoben als in irgendwelchen Talkshows oderbei Buchbesprechungen oder Lesungen. Hier im Parla-ment ist die Debatte über Integrationspolitik zu führen.Es ist gut, dass wir das heute Vormittag tun.
Durch den Integrationsbericht wird gezeigt: Die Bun-desregierung nimmt die Integration ernst. Wir werdendas fortsetzen, was in den letzten Jahren auch in der Gro-ßen Koalition auf den Weg gebracht worden ist, dasheißt, auch die guten Initiativen der letzten Wahlperiodewerden fortgesetzt.Herr Kollege Scholz, ich schätze Sie ja. Leider sindSie offensichtlich Opfer von temporärer Amnesie ge-worden. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Sieheute überhaupt kein gutes Haar mehr an dem lassen,was wir in den vergangenen Jahren auch gemeinsam aufden Weg gebracht haben. Ich finde, das kann sich in derTat sehen lassen.Erstens. Es haben drei Integrationsgipfel stattgefun-den –
der vierte steht kurz bevor –, bei denen alle Akteure undalle am Thema Interessierten an einen Tisch gebrachtund verbindliche Vereinbarungen getroffen worden sind.Zweitens. 2007 wurden die Integrationskurse über-arbeitet. Seitdem ist mehr Geld in die Hand genommenworden, und das Angebot an Integrations- und Deutsch-kursen wurde ausgebaut. Bisher haben über 600 000 Per-sonen einen Integrationskurs absolviert, wovon übrigenszwei Drittel Frauen waren. Wenn man also überhaupt ir-gendetwas gemeinsam feststellen kann, dann doch dieTatsache, dass die Integrationskurse wirklich eine Er-folgsgeschichte und ein wesentliches Instrument erfolg-reicher Integrationspolitik sind.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass Sprachkenntnisseschon vor der Einreise erworben werden müssen, weilgerade für uns immer klar war, dass das Beherrschen derdeutschen Sprache die Grundlage für erfolgreiche Inte-gration und für gesellschaftliche Teilhabe ist. Hier kannich Ihnen nur zurufen: Besser spät als nie. – Wir sind sei-nerzeit von Ihnen diffamiert worden. Von Zwangsgerma-nisierung war die Rede, als wir diese Forderung immerwieder erhoben haben. Insofern: Danke schön für dieseEinsicht.
Nun kommt die Nörgelei der Opposition ja nichtwirklich überraschend. Sie kann damit aber auch nichtdarüber hinwegtäuschen, dass es in der Integrationspoli-tik Erfolge gibt und dass Erfolge sichtbar sind. Zum Bei-spiel haben junge Migranten ihren Rückstand aufgeholt,wenn es darum geht, Schulabschlüsse zu erwerben.Heute erwerben mehr junge Migranten einen weiterfüh-renden Schulabschluss. Sie besuchen häufiger weiter-führende Schulen und absolvieren in zunehmendemMaße ein Hochschulstudium. Die Erfolge sind auchnachgewiesen. Der Sachverständigenrat deutscher Stif-
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6810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Stefan Müller
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tungen für Integration und Migration hat erst vor weni-gen Wochen sein Jahresgutachten 2010 vorgelegt. Erkommt zu dem Ergebnis, dass Integration in Deutsch-land besser gelingt, als es zum Teil in der Öffentlichkeitwahrgenommen wird, und vor allem auch besser als invielen unserer europäischen Nachbarländer.
Ich finde, das ist ein Erfolg, auf den wir durchaus ge-meinsam stolz sein können. Auch so etwas muss in einersolchen Debatte angesprochen werden.Angesprochen werden muss aber auch die Tatsache,dass es in der Integration auch Probleme gibt – das wirdniemand bestreiten –: Zum einen ist die Arbeitslosen-quote von Migranten immer noch doppelt so hoch wiedie der deutschen Bevölkerung. Das ist in zweierlei Hin-sicht ein Problem, weil erstens mit Arbeitslosigkeit im-mer ein größeres Armutsrisiko einhergeht und zweitensArbeit mehr bedeutet als den Erwerb von Einkommen.Eine Arbeitsstelle bedeutet nämlich auch gesellschaftli-che Teilhabe, und diese führt letztlich zur Integration.Deswegen ist es wichtig, dass wir mit der Anerken-nung der im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse inDeutschland vorankommen. Das Potenzial, das es inDeutschland gibt, muss auch gehoben werden. Derzeitkönnen nämlich viele Migranten nicht in dem Maße be-schäftigt werden, wie es ihrer Berufsausbildung ent-spricht. Deswegen wird unsere Koalition dieses Themaangehen.
Zum anderen ist auch im Bereich Schule und Ausbil-dung bei allen Erfolgen, die erzielt wurden, nicht zu be-streiten, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wowir hinwollen. Was die Tatsache angeht, dass immernoch zu viele junge Migranten die Schule ohne Schulab-schluss verlassen, sind selbstverständlich die Länder inder Pflicht, entsprechend gegenzusteuern. Dabei mussder Bund mithelfen, wo er dies kann.Bei allen Problemen, die es gibt, muss man aber aucheines feststellen: Integration braucht einen langen Atem.Was in der Vergangenheit nicht rechtzeitig angegangenworden ist, lässt sich nun einmal nicht in fünf Jahrenaufholen. Aber wir sind – das zeigen auch alle Stellung-nahmen und Gutachten – an dieser Stelle auf einem gu-ten Weg.Integration braucht aber auch Konsequenz und Ver-bindlichkeit. Das heißt: Geltendes Recht muss auch an-gewandt werden. Wenn es in Deutschland nachweislichFälle von Integrationsverweigerung gibt und jemand, derstaatliche Fürsorgeleistungen bekommt und im Rahmenseiner Eingliederungsvereinbarung aufgefordert ist, ei-nen Integrationskurs zu besuchen, dies nicht tut, dannkönnen schon heute Sanktionen verhängt und Regelleis-tungen gekürzt werden. Ich finde, dieses Recht mussdurchgesetzt werden. Es gibt ein Vollzugsproblem; auchdas müssen wir ohne Zweifel angehen.
Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Zeit.
Ja. – Zusammenfassend kann man feststellen, dass in
Deutschland in der Integrationspolitik leider zu viel über
Defizite und zu wenig über Erfolge geredet wird
und dass Integration besser gelingt, als dies zum Teil in
der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Man darf aber
trotzdem vor den Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung
nicht die Augen verschließen. Wir müssen gegen Miss-
stände vorgehen. Diese Koalition wird diese Aufgabe
mutig angehen. Ihre Unterstützung würde uns selbstver-
ständlich freuen.
Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Esist überall im Hause angekommen: Deutschland ist einbuntes und vielfältiges Land mit Millionen von unter-schiedlichen Geschichten. Eine dieser Geschichten istdie von Ardalan, um die 40, aus Leipzig. Er ist Lehrerfür Physik und Mathematik. In den 90er-Jahren ist er alsFlüchtling aus dem Irak nach Deutschland gekommen.Er darf in Deutschland nicht als Lehrer arbeiten. SeinDiplom wurde nicht anerkannt. Darum hat er eine Aus-bildung zum Techniker gemacht und sich nach erfolgrei-chem Abschluss um Arbeit bemüht, leider erfolglos.Heute arbeitet er als Fahrscheinkontrolleur bei den örtli-chen Verkehrsbetrieben.Wenn Ardalan seine Geschichte erzählt, dann tut erdas in einem charmanten breiten Sächsisch mit leichtemAkzent. Die Freunde, die ihm damals Deutsch bei-gebracht haben, waren eben waschechte Sachsen. Sprach-kurse für Zuwanderer waren damals noch nicht vorgese-hen.Ardalan ist, wie ich finde, ein sehr gutes Beispiel fürgelungene Integration. Er ist in Arbeitsmarkt und Gesell-schaft integriert. Er beherrscht die deutsche Sprache, en-gagiert sich in Vereinen für seinen Stadtteil und darüberhinaus in einer großen demokratischen Partei. Das sindauch die drei großen Themen, wenn wir über Integrationsprechen: Arbeit, Sprache, soziale Teilhabe. Dass wir inallen drei Bereichen noch riesigen Handlungsbedarf ha-ben, sieht man auch an einem positiven Beispiel wiedem von Ardalan.Beispiel Sprache. Es war erst die rot-grüne Koalition,die 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz endlich Integra-tionskurse eingeführt hat, ein probates Mittel, um erwach-senen Migrantinnen und Migranten den Erwerb der deut-schen Sprache zu ermöglichen, den Schlüssel zur
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6811
Daniela Kolbe
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Teilhabe an unserer Gesellschaft. Diese Kurse sind – dassagen alle – eine Erfolgsgeschichte. Immer mehr Men-schen nehmen teil oder wollen teilnehmen; denn derzeitwarten aufgrund von Zulassungsbeschränkungen min-destens 9 000 Menschen auf einen Integrationskurs – täg-lich werden es mehr –, und das, weil Schwarz-Gelbsehenden Auges nicht ausreichend Finanzmittel zur Ver-fügung stellt.
Etwa 15 Millionen Euro fehlen im laufenden Haushalt.Von diesen 9 000 Menschen sind 4 000 auf Wartelistengelandet. Sie wissen überhaupt nicht, wann ein Kurs be-ginnen soll. Sie wissen nur: dieses Jahr nicht mehr. – Solautet die Mitteilung, die das Bundesamt an sie geschickthat. Das sind gerade diejenigen Menschen, die sichschon lange in Deutschland aufhalten, ohne die deutscheSprache in ausreichendem Maße erworben zu haben.Das sind genau die Menschen, denen die Regierung je-den Tag sagt: Nun integriert euch doch endlich! Aber ei-nen Integrationskurs wird es vielleicht erst nächstes Jahrgeben. – Diese Argumentation ist doch schlicht schein-heilig.
Erwachsene Migranten sind nur eine Gruppe. Fürjunge Menschen mit und auch ohne Migrationshinter-grund entscheidet die Qualität der Bildung darüber, obman sich verständigen und mitmischen kann. Deshalbwurden unter SPD-Regierung sowohl der Ausbau derKitas als auch das Ganztagsschulprogramm auf den Weggebracht. Wo bleibt denn der Beitrag dieser Regierung?Wo bleibt denn die ausreichende Finanzierung des Kita-ausbaus? Was soll denn dieses Betreuungsgeld? Es istnichts anderes als eine Fernhalteprämie und einfach nurbildungsfeindlich.
Wo sind die Ideen für den Ausbau der Ganztagsschulen?Fehlanzeige! Wenn es um Bildungsgerechtigkeit geht,dann setzen Sie entweder gar keine oder die falschen Si-gnale. Sie manifestieren die Ungerechtigkeiten im Bil-dungssystem. Das geht nicht nur, aber auch zulasten derIntegration.Beispiel Arbeitsmarkt. Menschen mit Migrationshin-tergrund haben noch höhere Hürden als wir Deutsche zuüberwinden. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen doppelt sohoch; das wurde schon angesprochen. Es mangelt an An-erkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse.Ardalan ist nur ein Beispiel. Olaf Scholz hat am Ende derletzten Legislaturperiode ein gutes Papier dazu vorgelegt.Seitdem müssen wir uns leider mit Eckpunkten von FrauSchavan – sie verlässt gerade den Saal –
begnügen. Von einem Gesetz ist leider nichts zu sehen.Da hilft auch nicht die wirklich große Anzahl der An-kündigungen. Liebe Bundesregierung, es besteht drin-gender Handlungsbedarf. Bitte gehen Sie das schnell an.Wir vergeuden wertvolle Ressourcen HunderttausenderMenschen.Viele Menschen mit Migrationshintergrund berichtenzudem, dass es für sie schwer ist, einen Arbeitsplatz zufinden. Ardalan ist wieder ein Beispiel dafür. Studien be-legen, dass junge Schulabgänger mit Migrationshinter-grund es selbst bei gleicher Leistung deutlich schwererhaben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Hier findet Dis-kriminierung statt. Das steht auch in dem vorliegendenBericht so knallhart. Was tut denn die Bundesregierung?Seien es anonymisierte Bewerbungsverfahren – diesesind in vielen Ländern üblich – oder sei es eine aktive Ar-beitsmarktpolitik, bei der jetzigen Bundesregierung seheich schwarz. Sie setzen massiv den Rotstift bei der akti-ven Arbeitsmarktpolitik an und konterkarieren jeglicheBemühungen, für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.
Beispiel soziale Teilhabe. Integration wird vor Ort, inden Kommunen, gestaltet, zum Beispiel durch klugeStadtentwicklung. Dazu hat der Bund unter SPD-Beteili-gung wirksame Programme – „Soziale Stadt“ ist das Pro-gramm, das man hier hervorheben kann – entwickelt.Was machen Sie? Sie kürzen die Mittel für die entspre-chenden Programme nicht nur dramatisch. Sie sorgenauch noch für Beschränkungen. Geld aus dem Topf „So-ziale Stadt“ darf zukünftig nicht mehr für – Zitat – „Zwe-cke wie Erwerb der deutschen Sprache, Verbesserungvon Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichensowie im Bereich der lokalen Ökonomie“ eingesetzt wer-den. Der Einzige, der sich darüber wirklich freuen dürfte,ist Patrick Döring; der verkehrspolitische Sprecher derFDP war da und ist inzwischen auch schon gegangen.
Er hat schon im März von dieser Stelle aus in Bezug aufdas Programm „Soziale Stadt“ gesagt – Zitat –:Die Zeit der nichtinvestiven Maßnahmen, zum Bei-spiel zur Errichtung von Bibliotheken für Mädchenmit Migrationshintergrund, ist vorbei …Wenn ich das höre, geht mir das Messer in der Tascheauf.
Liebe Koalition, liebe Regierung, bitte erzählen Sieuns nichts über Integration. Bitte ändern Sie einfach IhrePolitik!Vielen Dank.
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6812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Im Übrigen hoffe ich, dass nicht nur bei Integrations-
debatten die Mitglieder dieses Hauses ohne Messer in
der Tasche, also unbewaffnet, erscheinen.
Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Liebe Frau Böhmer, vielen Dank für den vorgeleg-
ten Bericht, ein dickes Buch, das wirklich lesenswert ist.
Ich möchte diesen Bericht über die Lage der Auslände-
rinnen und Ausländer in Deutschland mit einem beson-
deren Blick auf die Ausländerinnen in Deutschland kom-
mentieren. Dazu spreche ich drei Aspekte an.
Der erste Aspekt ist die Bedeutung der Frauen in
der Integrationspolitik. Wir müssen einfach sehen,
dass sie für den Integrationserfolg von Familien und
ganz besonders von Kindern von großer Bedeutung sind.
Sie sind in der Familie der zentrale Bezugspunkt und in-
sofern eben auch diejenigen, die für die Sprachfähigkeit
in der Familie besondere Verantwortung tragen. Sie sind
diejenigen, die ihren Kindern Sprache vermitteln. Hier-
bei ist es natürlich besonders wichtig, dass sie auch den
Zugang zur deutschen Sprache vermitteln können. Sie
sind daher auch besonders gefordert, selbst die deutsche
Sprache zu beherrschen. Wir verfügen über Lösungsan-
sätze, die mittlerweile erfolgreich sind, beispielsweise
das Programm „Mama lernt Deutsch“. Damit werden
auch Kinder sprachfähig gemacht, weil sie so Deutsch
auch in der Familie sprechen können. Selbstverständlich
ist ebenso, dass sie neben ihrer Muttersprache auch eine
andere Sprache lernen. Wenn sie mehr als Deutsch kön-
nen, sind Kinder aus Migrantenfamilien sicherlich in ih-
rer weiteren schulischen und beruflichen Entwicklung
erfolgreich.
Damit bin ich beim zweiten Aspekt, nämlich dem Zu-
gang von Migrantinnen zum Arbeitsmarkt. Wer arbei-
tet, hat einen wichtigen Zugangsweg zur Gesellschaft
überhaupt. Hierzu müssen wir feststellen, dass gerade
junge Migrantinnen mittlerweile gute Schulerfolge vor-
weisen können, bessere Ergebnisse als die jungen Män-
ner. Dennoch sind sie in der Berufswahl nicht wirklich
konkurrenzfähig. Sie sind in Ausbildung schwächer ver-
treten, sie finden überhaupt schwerer Zugang zu Ausbil-
dung, und entsprechend sind sie dann auch nicht wirk-
lich in der Gesellschaft etabliert und nicht in der Lage,
sich selbstständig in der deutschen Gesellschaft zurecht-
zufinden. Hier muss mehr getan werden. Die Ausbil-
dungsfähigkeit von Frauen ist ein wichtiges Thema, das
im Bericht auch seinen Niederschlag findet.
Ein dritter Aspekt ist mir wichtig; dies ist das Thema
Gewalt gegen Frauen. Dem Familienministerium wur-
den drei Studien vorgelegt, in denen zum Ausdruck
kommt, dass bestimmte Gruppen von Migrantinnen häu-
figer von Gewalt betroffen sind. Das sind insbesondere
Frauen türkischer Herkunft und Frauen aus Ländern der
ehemaligen Sowjetunion. Man muss deutlich sagen, dass
Migrantinnen sehr viel weniger Zugang zum Hilfesystem
und weniger Beratungserfahrung haben, seltener psycho-
soziale Unterstützungseinrichtungen aufsuchen und inso-
fern in ihrer Situation als gewaltbetroffene Frauen häufig
allein bleiben. Hier muss mehr geschehen. Wir können es
nicht nur damit bewenden lassen, beispielsweise die
Zwangsheirat unter besondere Strafe zu stellen, was rich-
tig ist; wir brauchen aber darüber hinaus entsprechende
Beratung, damit Frauen aus diesem Teufelskreis heraus-
finden können.
Die Situation von Migrantinnen ist sozusagen die
Spitze des Eisbergs der gesamtgesellschaftlichen Situa-
tion. Gewalt gegen Frauen darf in keinerlei Hinsicht hin-
genommen werden und schon gar nicht aus religiösen
Gründen.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Scholz, Sie haben gesagt: Den Reden müs-sen Taten folgen. – Ich will Ihnen einmal den „SPD-Inte-grationsexperten“ Sigmar Gabriel zitieren. Er hat sichvor kurzem gegenüber Spiegel Online so geäußert:Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt,der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wievom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.Ich kann Ihnen nur sagen: Es war die SPD in der GroßenKoalition, die sich mit Händen und Füßen dagegen ge-wehrt hat, dass wir genau das ins Aufenthaltsrechtschreiben. Nur so viel zum Thema „Übereinstimmungvon Reden und Taten“.
Was ich auch nicht verstehe, lieber Kollege Veit, ist,dass Sie plötzlich sagen, es sei ein Problem, dass wirjetzt Deutschkenntnisse von denjenigen verlangen, dieauf dem Wege des Familiennachzugs zu uns kommen.Was spricht denn dagegen, dass als Beitrag zur Integra-tion einfache Deutschkenntnisse vor der Übersiedlungnach Deutschland verlangt werden? Durch eine Evaluie-rung dieser Vorschrift ist nachgewiesen, dass wir damitin Einzelfällen Zwangsehen bekämpfen.
Aber was noch wichtiger ist: Durch diese Vorschriftenerreichen wir, dass wir in die Familien, die bisher einen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6813
Reinhard Grindel
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weiten und großen Bogen um Integrationsangebote ge-macht haben, zum ersten Mal die klare Botschaft hinein-senden: Ohne Deutsch geht es nicht. Das ist ein Beispieldafür, wie man durch ein Gesetz ganz praktische Integra-tionspolitik gestalten kann.
Herr Senator Wolf, Sie haben den Begriff der Leit-kultur kritisiert. Ich frage mich: Warum dürfen wir nichtErwartungen formulieren und gemeinsame Grundlagenfür unser Zusammenleben definieren? Zur Integrationgehört, dass wir von muslimischen Eltern erwarten dür-fen, dass sie ihre Kinder auf der Grundlage unserer ge-meinsamen Rechts- und Werteordnung erziehen. UnsereAufgabe ist es, dass wir denjenigen entschlossen entge-gentreten, die andere daran hindern, sich zu integrieren,die Jugendklubs bekämpfen, weil dort Muslima ihreFreizeit verbringen wollen, die etwa systematisch isla-mischen Religionsunterricht bekämpfen, weil er unterder Regie der deutschen Schulverwaltung stattfindet,und die, wie es Moscheevereine tun, Eltern zwingen,ihre Kinder dort herauszunehmen und in Koranschulenanzumelden. Wir müssen genauer hinhören, was in Mo-scheen gepredigt wird. Wir müssen ein Interesse daranhaben, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden.Unser Bundespräsident hat sich sehr zutreffend zurLebenswirklichkeit des Islam in Deutschland geäußert.Ich möchte seiner Rede einen zusätzlichen Gedanken an-fügen: Ja, der Islam gehört zu Deutschland; aber funda-mentaler Islamismus gehört nicht zu Deutschland. Ihmmüssen wir entgegentreten, und zwar entschlossen.
Wir haben bei der Integration keine Erkenntnispro-bleme; wir haben Umsetzungsprobleme. Die Wahrheitist doch, dass wir vielfältige gesetzliche Vorschriften ha-ben, um den Grundsatz „Fördern und Fordern“ tatsäch-lich umzusetzen. Wir haben viel mehr Sanktionsmög-lichkeiten, als man nach der Lektüre des Buches vonHerrn Sarrazin vermuten würde. Es muss nur auf allenstaatlichen Ebenen an konsequenter Integration gearbei-tet werden. Es reicht eben nicht aus, wenn die Auslän-derbehörden nur zu einem Integrationskurs verpflichten.Es muss auch kontrolliert werden, ob der Ausländer tat-sächlich diesen Integrationskurs besucht. Die Hartz-IV-Behörden müssen die Chance nutzen, Langzeitarbeits-lose, die schon deshalb nicht vermittelt werden können,weil sie nicht hinreichend Deutsch sprechen, zu ver-pflichten, an Integrationskursen teilzunehmen.Ich sage in aller Deutlichkeit: Wenn nicht alle Ebenen– Bund, Länder und auch Kommunen – gemeinsam dieChancen, Integration umzusetzen – sie sind bereits jetztgesetzlich verankert –, nutzen, dann können wir hier imBundestag beschließen, was wir wollen; wir werdennicht erfolgreich sein. Wir brauchen alle staatlichen Ebe-nen.
Für mich gehört dazu, an dieser Stelle einmal dieIntegrationsarbeit unserer Sportvereine zu würdigen.Am Vortag des Europameisterschaftsqualifikationsspielszwischen Deutschland und der Türkei darf man sicherdarauf verweisen. Was Trainer und Betreuer bei der Inte-gration von Ausländern und Aussiedlern leisten, ist ein-fach beeindruckend und fabelhaft. Dafür auch von dieserStelle ein herzliches Wort des Dankes.
Einen Gedanken lassen Sie mich gerade mit Blick aufunsere ausländischen und insbesondere unsere türki-schen Mitbürger formulieren, wenn morgen Abend imOlympiastadion das Spiel angepfiffen werden wird: Imdeutschen Team stehen Spieler mit Migrationshinter-grund, die gut integriert sind und ihren Weg gemacht ha-ben. Aber auch im türkischen Team stehen Spieler, diehervorragend Deutsch sprechen und sich bei uns inte-griert haben. Integration bedeutet eben nicht Aufgabeder eigenen Identität. Aber morgen Abend werden siealle nach denselben Spielregeln spielen, und daraufkommt es an.Herzlichen Dank.
Ich hatte gehofft, Herr Kollege Grindel, Sie würdenuns auch noch das Ergebnis dieses Spiels mitteilen. Aberdarauf werden wir dann doch wohl noch einen Tag war-ten müssen.Ich schließe die Aussprache.Die Vorlage auf Drucksache 17/2400 soll an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-kundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,gratuliere ich der Kollegin Müller-Gemmeke – sie sitztim Moment links neben mir – zu ihrem heutigen rundenGeburtstag.
Liebe Kollegin, Sie beginnen ein neues Lebensjahrzehntin prominenter Umgebung und besonders guter Gesell-schaft. Dies lässt für die nächsten Jahre die schönstenHoffnungen zu. Alle guten Wünsche für das neue Le-bensjahr!Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
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6814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Pitterle, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEAuswege aus der Krise: SteuerpolitischeGerechtigkeit und Handlungsfähigkeit desStaates wiederherstellen– Drucksache 17/2944 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auchfür diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion DieLinke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Wir haben gezeigt, was in uns steckt“, gabFrau Merkel in ihrer Haushaltsrede freimütig zu. Ja, unddas steckt in ihrer Politik: das sinnlose Auftürmen neuerSchulden, sinnlose Ausgaben für Kriegseinsätze undWaffen, massive Kürzungen im Sozialbereich. Die Be-gründung ist die alte Leier: Wir könnten nur ausgeben,was wir erwirtschaften, und wir hätten über unsere Ver-hältnisse gelebt.Hier stellt sich die Frage, wer über seine Verhältnissegelebt hat. Die Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen viel-leicht, die Alleinerziehenden oder die Menschen, dietrotz Arbeit ihre miesen Löhne aufstocken müssen? DieLinke sagt: Sie verhöhnen all diese Menschen. Dabeimachen wir nicht mit.
Die Wahrheit ist, dass Sie in den nächsten Jahren wei-terhin massiv Schulden anhäufen werden; insgesamtsind 218 Milliarden Euro geplant. All dies wollen Sieuns nun als alternativlose Politik verkaufen, gar als „Zu-kunftspaket“. Pardon, das klingt doch wie Hohn.
Sie haben gezeigt, was in Ihnen steckt. Wir zeigen Ih-nen mit unserem Antrag, was in linker Politik steckt:eine wirkliche Alternative zu Ihrer Politik. Es gibt Alter-nativen; aber nur, wenn man die alles entscheidendeFrage stellt: Wie verteilt man gerecht, was erwirtschaftetwird?
Statt immer wieder bei den Menschen zu kürzen, diesowieso wenig haben, brauchen wir endlich ein politi-sches und wirtschaftliches Umdenken. Es kann dochnicht sein, dass auf der einen Seite die Vermögen einigerweniger immer weiter in die Höhe schießen und auf deranderen Seite die Zahl der armen Familien und Kinderzunimmt. Die Vermögen in Deutschland wachsen näm-lich schneller als die Schulden; dies halte ich für sehr in-teressant. Der Schuldenzuwachs pro Jahr beträgt derzeitetwa 70 Milliarden Euro, der Vermögenszuwachs proJahr rund 220 Milliarden Euro. Das zeigt doch wohl ein-deutig, dass eine Umverteilung von oben nach unten er-folgen muss und dass die Aussage „Wir haben über un-sere Verhältnisse gelebt“ reiner Unfug ist.Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie demSachverständigen Professor Bofinger! Deutschland, sosagte er, habe gesamtwirtschaftlich unter seinen Verhält-nissen gelebt. Er plädiert für durchschnittlich 3 ProzentLohnzuwachs; die Löhne müssten wieder gemäß demProduktivitätsfortschritt und der Teuerungsrate ange-passt werden. – Na bitte!
Aber da, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, hören Sie weg – ebenso wie bei den Hinweisen derEU-Kommission. Sie sollten aber hinhören, wennChristine Lagarde und Dominique Strauss-Kahn deutlichauf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europahinweisen, denn die deutsche Exportstrategie, getragendurch Lohndumpingpolitik und Steuersenkung, hat einegroße Mitschuld daran. Ich frage Sie von der Koalition:Wo leben Sie eigentlich? Wie kann man in dieser Situa-tion noch sagen, wie Frau Merkel, Deutschland werdeseine Stärken nicht aufgeben? Durch die Lohndumping-politik, die Sie mit zu verantworten haben, werden dieMenschen, die den Reichtum dieser Gesellschaft erar-beiten, von diesem immer weiter abgekoppelt. Ein flä-chendeckender Mindestlohn muss her – und das schnell!
Während die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 invielen EU-Staaten zum Teil stark stiegen, gingen sie inDeutschland sogar um 0,8 Prozent zurück. Das belegteine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Die Linke sagt:Das ist ein Skandal.Durch die Politik der Steuersenkung für Reiche undUnternehmen werden diese sogar doppelt bevorzugt.Kapital wird bevorzugt, unter anderem – das ist allge-mein bekannt – durch die Abgeltungsteuer. Sie gebenden Reichen und nehmen den Menschen, die Sie ohne-hin schon immer abzocken.Sie wissen genau, dass zwischen den Vermögen Wel-ten liegen. So besaß laut einer DIW-Studie aus dem Jahr2007 jeder Deutsche ein individuelles Geld- und Sach-vermögen von rund 88 000 Euro, mit Pensions- undRentenanwartschaften rund 150 000 Euro. Gehen Sieeinmal auf die Straße und fragen Sie zum Beispiel dieLeute bei mir in Leipzig, ob sie sich da wiederfinden!Fragen Sie die Verkäuferin, den Fernfahrer, Handwerkeraus kleinen und mittelständischen Betrieben, Rentnerin-nen und Rentner!
Viele von ihnen, genau 27 Prozent, verfügen über garkein individuelles Geld- und Sachvermögen. Sie sindzudem oftmals noch verschuldet. Viele Menschen müs-sen beim Amt aufstocken – trotz Vollzeitarbeit. Dabraucht man sich nicht zu wundern, wenn das reichste
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6815
Dr. Barbara Höll
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Zehntel der Bevölkerung über ein Netto-Geld- und Sach-vermögen von mindestens 222 000 Euro verfügt. Es istnicht so, dass wir ihnen das nicht gönnen,
aber wir sind strikt der Ansicht, dass allen Menschenhierzulande ein Leben in Würde, mit Chancen für dieZukunft ihrer Kinder zusteht.
Noch eines. Frau Merkel ist zwar nicht da, aber ichsage es trotzdem. Ein Fakt, der Frau Merkel als aus demOsten stammender Frau doch wirklich die Schamesröteins Gesicht treiben müsste, ist: Die Vermögensunter-schiede zwischen Ost und West sind im Jahr 20 der deut-schen Einheit immer noch wie Tag und Nacht.
Während das Nettovermögen von 2002 bis 2007 inWestdeutschland um rund 11 Prozent stieg, sank es inOstdeutschland um knapp 10 Prozent.
Da ist Ihre Forderung an die Menschen, privat für dasAlter vorzusorgen, doch glatter Unfug. Wovon sollen dieMenschen denn das bezahlen, frage ich Sie. Sollen siedas von den Niedriglöhnen bezahlen, die Sie politischzulassen?Offensichtlich fragen sich immer mehr Menschen:Was macht die Regierung da oben? Hat sie überhauptnoch eine Ahnung von unserem Leben? Was machen dieda in Stuttgart, wo gegen den Willen vieler Bürgerinnenund Bürger sinnlos Milliarden verbuddelt werden?
Wieso stimmen Sie zu, wenn die Atomlobby sich Sonder-gewinne in Milliardenhöhe organisiert? Frau Merkel,liebe Koalition, hier wieder die Frage: Haben Sie einmaldie Hartz-IV-Empfängerin gefragt, wie sie bei der 5-Euro-Erhöhung Geburtstagsgeschenke für ihre Kinder kaufenkann, wie sie sich mit dieser minimalen Erhöhung ein-richten soll, wie sie da mit ihrer Menschenwürde „zu-rechtkommen“ soll?Zum Glück ändern sich die Zeiten. Ich sage Ihnen:Wir brauchen endlich eine sozial gerechte und ökono-misch wie ökologisch sinnvolle Politik. Genau das willauch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
Mit Ihrer Steuersenkungsideologie, die Sie, meine Da-men und Herren von Schwarz-Gelb, seit den 90er-Jahrenimmer wieder vor sich her chauffieren, haben Sie zu ver-antworten, dass wir in den letzten zwölf Jahren Steuer-mindereinnahmen in Höhe von etwa 335 MilliardenEuro hatten. Das ist ein Skandal. Wenn Sie endlich ein-mal vom hohen Ross der Arroganz Ihrer Macht abstei-gen und zuhören würden, was die Menschen in unseremLande denken, hätten wir vielleicht alle wieder dieChance, dass eine vorwärtsweisende Politik betriebenwird.Wir brauchen vernünftigerweise erstens eine Vermö-gensteuer. Auf Basis unseres Vorschlags einer Vermö-gensteuer, nämlich 5 Prozent auf das Nettovermögen ab-züglich eines Freibetrages von 1 Million Euro – ichwiederhole: 1 Million Euro –, könnten bis zu 80 Milliar-den Euro eingenommen werden,
80 Milliarden Euro, die die Bundesländer dringend füröffentliche Investitionen brauchen.
Wissen Sie eigentlich, wie viele Vermögensmillionäre esim vergangenen Jahr in der Bundesrepublik gab? Nacheinem Report von Merrill Lynch waren es 861 000, fast50 000 mehr als noch vor zwei Jahren. So sehen die Zah-len aus. Ich finde, auch die Vermögensmillionäre müssenihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leis-ten.
Wir brauchen zweitens eine Reform der Erbschaft-steuer. Bei der Reform vor zwei Jahren haben Sie be-wusst darauf verzichtet, mehr Geld einzunehmen.
Selbst wenn man diese Reform so durchführte, dassOma ihr klein Häuschen geschützt bleibt und kein Unter-nehmen im Erbfall pleitegeht, könnten trotzdem6 Milliarden Euro eingenommen werden. Der entspre-chende Vorschlag liegt auf dem Tisch.
Liebe Dame und liebe Herren der FDP, wir könntentatsächlich die Bezieherinnen und Bezieher kleiner undmittlerer Einkommen steuerrechtlich entlasten, nämlichdrittens durch eine Reform der Einkommensteuer.Nach unserem Vorschlag würden im Vergleich zum Tarif2010 alle Menschen mit einem zu versteuernden Ein-kommen bis zu 70 245 Euro im Jahr entlastet werden;alle Menschen, deren zu versteuerndes Einkommen da-rüber liegt, würden belastet werden. Das ist ganz einfachdurch eine Neugestaltung des Tarifs zu erreichen. Wirschlagen Ihnen vor, ausgehend von einem Eingangssteu-ersatz von 14 Prozent und einem Grundfreibetrag von9 300 Euro eine linear-progressive Gestaltung, hochge-führt bis zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent,vorzunehmen und durch diese Korrektur die Einkom-mensteuer gerecht auszugestalten.
In aller Deutlichkeit: Durch die Umsetzung unsererVorschläge – im Antrag sind ja noch mehr aufgeführt;ich kann sie jetzt nicht alle erläutern – würde die wirt-schaftliche Entwicklung nachhaltig gestärkt werden,
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6816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Dr. Barbara Höll
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denn dadurch würde die Binnennachfrage angekurbeltund die Kassen der Kommunen wären nicht mehr soklamm. Werfen Sie endlich Ihre absurde Steuersen-kungspolitik über Bord. Sie gefährdet den Zusammen-halt der Gesellschaft. Wohin Gier und Spekulation füh-ren, haben wir in der Finanzkrise gesehen. Ich sageIhnen: Vermögenskonzentration befördert Spekulation.Lassen Sie mich persönlich enden: Wenn mich meinesiebenjährige Tochter fragt, warum einige Kinder in ih-rer Schule arm sind, dann möchte ich ihr eigentlich nichtmehr sagen müssen, dass das noch lange so bleibt. TunSie etwas, damit ich das nicht mehr sagen muss! Tun Sieendlich etwas; denn dieses Land gehört allen Menschen,nicht nur den Reichen, den Lobbyisten und den Regie-renden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Die Fraktion Die Linke fordert als Ausweg aus derKrise, wie wir gerade gehört haben, zwölf steuerpoliti-sche Maßnahmen, darunter vor allem Steuererhöhungen:
die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Erhöhungder Körperschaftsteuer um 60 Prozent, ganz allgemeindie Besteuerung von Extraprofiten, die Einführung einerKerosin- und einer Schiffsbenzinsteuer, eine Erhöhungder Erbschaftsteuer,
eine Boni-Steuer in Höhe von 50 Prozent, die Erhebungder Vermögensteuer und nicht zuletzt die Anhebung desSpitzensteuersatzes in der Einkommensteuer.
Offensichtlich ist es das Allheilmittel der Linken gegenalles, den Menschen in diesem Land immer mehr Geldaus der Tasche zu ziehen.
Nun muss man kein Wirtschaftswissenschaftler sein, umzu erkennen, dass die von Ihnen jetzt – in der Phase desAufschwungs – geplanten massiven Steuererhöhungenden Aufschwung beenden würden.Sie beklagen in Ihrem Antrag die Steuersenkungender letzten Jahre. Sie sprechen gar von „Steuerdumping“in unserem Land. Sie haben vorhin die Hartz-IV-Emp-fänger angesprochen. Haben Sie schon einmal die Men-schen, die in diesem Land Steuern zahlen, die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die denKarren ziehen, gefragt, ob sie das Gefühl haben, in ei-nem Niedrigsteuerland zu leben?
Die jährlichen Steuereinnahmen sind in den letztenfünf Jahren um 72 Milliarden Euro gestiegen. Das sind72 Milliarden Euro Mehreinnahmen.
Schauen wir uns einmal die Steuer- und Abgabenquotean: Eine Familie in Deutschland bezahlt Abgaben undLohnsteuern in Höhe von etwa 40 Prozent. Damit sindwir im internationalen Vergleich an dritter Stelle derRangliste der Belastungen. Bei der Unternehmensbe-steuerung, bei der Sie beklagen, dass sie zu niedrig ist,liegt Deutschland mit einer tariflichen Gesamtbelastungfür Kapitalgesellschaften von knapp über 30 Prozentweltweit auf Rang acht in der Hitliste der Höchststeuer-länder.Sie behaupten, Folge des angeblichen Steuerdum-pings seien unsoziale Ausgabensenkungen.
Schauen wir uns doch einmal die Sozialausgaben derletzten Jahre an: Sie sind allein beim Bund von50 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf heute, imJahr 2010, 173 Milliarden Euro gestiegen.
Die Ausgaben im sozialen Bereich haben sich also mehrals verdreifacht. Die Staatsquote ist nicht etwa gesunken.Nein, sie ist auf über 50 Prozent gestiegen.
Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie? Wenn manden Antrag der Linken liest, dann hat man, mit Verlaub,das Gefühl, einige von Ihnen denken immer noch, umdieses Land herum wäre eine Mauer. Wachen Sie auf!Wir stehen im internationalen Wettbewerb; wir befin-den uns mitten in der Globalisierung. Das gilt auch fürden Bereich der Steuern.
Man kann das beklagen. Ja, Wettbewerb ist unange-nehm. Man muss sich anstrengen. Man kann nicht han-deln, als wäre man auf einer einsamen Insel.
Die Globalisierung führt auch dazu, dass wir in der Poli-tik manchmal Getriebene sind. Das ist nicht schön; aberes ist eine Tatsache. Da können Sie den Kopf nicht inden Sand stecken: Wir sind in eine internationale Ent-wicklung eingebettet, der wir uns als einzelne Nationnicht verschließen können. Wir müssen reagieren, um
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6817
Olav Gutting
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dieses Land im internationalen Wettbewerb vorne zuhalten. Nur wenn wir in diesem internationalen Wettbe-werb mithalten, können wir die Arbeitsplätze in diesemLand sichern und den breiten sozialen Wohlstand in die-sem Land erhalten.Wir haben uns in der Regierung, auch in der Vorgän-gerregierung, angestrengt, und zwar mit Erfolg: Zu Be-ginn der letzten Legislaturperiode sind wir mit5 Millionen Arbeitslosen in diesem Land gestartet;heute, fünf Jahre später, liegt die Zahl bei 3 Millionen,Tendenz weiter sinkend.
In Baden-Württemberg haben wir sogar Vollbeschäfti-gung. Das ist soziale Gerechtigkeit. Wir werden interna-tional dafür bewundert, wie wir diese Krise meistern,wie wir sie bisher überstanden haben. Auch unsere Steu-erpolitik hat dafür gesorgt, dass dieses Land zurzeitboomt und viele Menschen in diesem Land, nämlich2 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren, wieder aus-kömmliche Arbeit finden.
Sie hinken mit Ihrem Antrag zur Überwindung dieserKrise ziemlich hinterher.
Mittlerweile liegen die Prognosen für das Wirtschafts-wachstum für das laufende Jahr bei über 3 Prozent.
Wir haben Wachstum, es entstehen neue Arbeitsplätze,es gibt Lohnerhöhungen, und die Binnenkonjunkturzieht an. Lesen Sie die Statistiken: Die Verbraucherstim-mung in unserem Land ist wieder hervorragend.Mit den Steuererhöhungsorgien, die Sie vorschlagen,machen Sie einen doppelten Salto rückwärts direkt in dieKrise.
Was glauben Sie denn, was passiert, wenn Sie eine fünf-prozentige Abgabe auf Vermögen mit einem Wert vonüber 1 Million Euro einführen? Das klingt zunächst herr-lich gut: Ich nehme es den Reichen und gebe es den Ar-men; Robin Hood lässt grüßen.
Aber es gilt der Grundsatz: Sie machen die Schwachennicht stark, indem Sie die Starken schwächen. – Sieschlagen vor, eine jährliche, fünfprozentige Steuer aufVermögen zu erheben. Wissen Sie, wie hoch die durch-schnittliche Immobilienrendite ist? Wenn man ein Im-mobilienvermögen hat – in Ihren Augen sind das diebösen Menschen –, dann erzielt man eine durchschnittli-che Rendite von 3,5 Prozent pro Jahr. Sie wollen nun5 Prozent abgreifen; damit nehmen Sie den Menschennicht nur den Gewinn, sondern Sie enteignen sie.
Ich frage mich: Wer investiert dann noch in unseremLand? Wer soll dann die Mietwohnungen bauen?
Wer soll in Mietwohnungen investieren? Sie schaden mitIhrem Vorschlag genau denjenigen, denen Sie eigentlichhelfen wollen.
Zusätzlich zur Vermögensteuer wollen Sie nun auchnoch den Spitzensteuersatz erhöhen.
Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass in diesem Land10 Prozent der Bezieher der oberen Einkommen bereitsmehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent, des gesamtenSteueraufkommens schultern?
Ich mag dieses Land. Ich lebe gern in Deutschland.Wie viele andere Menschen in diesem Land zahle ichklaglos meine Steuern, weil ich weiß, dass unser Landviel bietet.
Wir haben eine gute Infrastruktur, wir haben Sicherheitund gute Bildung. Wir leben in Freiheit, wir haben einehervorragende Gesundheitsversorgung, soziale Gerech-tigkeit und breiten Wohlstand. Wenn Sie die Steuerlastund die Abgabenlast immer weiter nach oben schrauben,wenn sich Leistung in diesem Land nicht mehr lohnt,
wenn das Steuerrecht zur Enteignung pervertiert, dannsind die Grenzen in diesem Land offen. Dann werdenSie erleben, dass immer mehr Leistungsträger in unse-rem Land den Verlockungen anderer Gesellschaften undanderer Staaten nicht mehr widerstehen.
Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem Leistung undGegenleistung in keinem Verhältnis mehr stehen. Diemeisten Menschen sind so – Sie mögen das beklagen –:Sie strengen sich nicht an, wenn es sich nicht lohnt.
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6818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Olav Gutting
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Das müssen Sie akzeptieren. Sie müssten das am bestenwissen. Haben Sie nicht das Experiment mit Ihrem realexistierenden Sozialismus gemacht? Hat Ihnen das nichtdie Augen geöffnet? Menschen sind, wie sie sind. Esmuss sich lohnen, dann strengt man sich an.
Unser Weg aus der Krise sieht anders aus. Mit denKonjunkturpaketen und dem Wachstumsbeschleuni-gungsgesetz sowie dem Bürgerentlastungsgesetz habenwir gezeigt, wie wir dieser Krise begegnen, und zwar er-folgreich, wie man an den aktuellen Zahlen erkennenkann.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich hätten wir es in dieser Debatte über Steuer-politik verdient, ein bisschen weniger Ideologie von bei-den Seiten präsentiert zu bekommen.
Herr Michelbach fragt mich gerade: Was ist denn Ideolo-gie? Wenn Herr Gutting sagt: „Leistung muss sich wie-der lohnen“ – und damit die Steuerlast anspricht –, dannvergisst er dabei völlig, dass Menschen, die Vollzeit ar-beiten und zum Sozialamt müssen, um eine Aufstockungzu bekommen, nicht den Eindruck haben, dass sich ihreLeistung lohnt. Dazu hat er überhaupt nichts gesagt. Ichfinde, das ist ganz schön viel Ideologie.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt so aufgeregt sind.Man merkt schon manchmal: Wenn die Hündchen bel-len, sind sie getroffen. Das müssen Sie aber mit sichselbst klären.Die Debatte heute könnte eigentlich Anlass sein, da-rüber nachzudenken, warum wir Steuern brauchen. Daswäre eine spannende Debatte, aufgrund derer dann damitaufgehört würde, dass die einen möglichst viele Steuernals gut und die anderen niedrige Steuern als Freiheits-ideal per se bezeichnen. Darum geht es nämlich nicht.Die Menschen haben es verdient, dass wir einmal genauüberlegen, warum wir überhaupt Steuern brauchen.
Daraus muss dann die Schlussfolgerung gezogen wer-den, wie viele Steuern wir brauchen. Wenn ich von „wir“spreche, meine ich damit nicht uns hier vor Ort. Wer mit„wir“ gemeint ist, sollte in der Steuerdebatte öfter the-matisiert werden. Es geht um die Gesellschaft. Wir wol-len dafür sorgen, dass eine solidarische Gemeinschaftentsteht. Das „wir“ steht nämlich für diejenigen, die hierleben, die hier arbeiten, die hier aufwachsen und die hierArbeitsplätze schaffen.Bei der Analyse kann man zu unterschiedlichenSchlussfolgerungen kommen. Ich finde es allerdingsschade – das habe ich bei beiden Rednern heute hier ge-merkt –, dass vorher keine ordentliche Analyse erfolgtist.
Wir gehen sehr kritisch mit der Frage der Steuerlast um. –Herr Gutting, bei den Niedrigeinkommen ist es übrigensdie Abgabenlast, die zu den 40 Prozent führt, und nichtallein die Steuerlast.
Darüber können wir reden. Sie sagen aber immer: Eineniedrige Steuer ist gut. Ob die Steuern niedrig oder hochsind, ist für Geringverdiener nicht die Problematik; siewerden Sie durch Ihre Einsparungen auch nicht entlas-ten.Wir müssen deutlich machen, dass uns bewusst ist,dass es sich bei den eingenommenen Steuern um dieMittel der Menschen handelt, die arbeiten. Diese Steuernbrauchen wir für die Gemeinschaft. Das bedeutet – ichhabe das schon gesagt –: Wenn es um die Höhe der Steu-ern geht, müssen wir uns daran orientieren, wie viel derStaat braucht. Der Staat ist in diesem Fall ausdrücklichnichts Negatives. Der Staat ist in unserer gesellschafts-politischen Betrachtungsweise derjenige, der durch Aus-gleich für gleiche Chancen für alle Menschen sorgenkann. Das ist der entscheidende Punkt. Dazu gehört fürmich auch, dass Menschen, unabhängig von ihrer Her-kunft, von Anfang an Chancen auf Bildung und Aufstieghaben.
In Bezug darauf sind Steuern nichts Negatives. Durchsie können wir organisieren, dass Menschen Chancenauf Bildung und Aufstieg haben.
Meine Schlussfolgerung lautet: Es ist falsch, Steuer-senkungen und möglichst niedrige Steuern als Selbst-zweck hinzustellen. Es ist auch falsch, möglichst hoheSteuern nur wegen der Umverteilungswirkung alsSelbstzweck hinzustellen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6819
Nicolette Kressl
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Ich möchte trotz meiner kurzen Redezeit eine Ana-lyse einbringen. Ich finde, dass die Höhe der verteiltenSteuern kein Kriterium für die Beurteilung sein kann,wie gerecht es in einem Staat zugeht. Damit es keinMissverständnis gibt: Die Frage der Verteilung der Steu-erlast ist sehr wohl ein Kriterium für die Frage, wie ge-recht es in einer Gesellschaft zugeht.
– Herr Michelbach, ich weiß, dass Sie immer mit demprogressiven Tarif kommen.
Der entscheidende Punkt bei der Analyse ist, dassman sich nicht nur auf die Frage der Einkommensbesteu-erung konzentrieren darf. Zu einer Gesamtanalyse ge-hört die Frage, wie die Steuerlast in Deutschland insge-samt verteilt ist.
Herr Michelbach, bei der Analyse hilft ein Blick auf dieStatistik der OECD.
Das ist interessant, Herr Michelbach. Weil Ihnen dieStatistik der OECD nicht passt, behaupten Sie einfach,sie sei falsch.
Mit dieser Statistik – ich sage das, damit alle verste-hen, worüber wir sprechen – hat die OECD Deutschlandeindeutig bescheinigt, dass im internationalen Vergleichnicht die Einkommensteuer, die Sie immer als Alibi an-führen, sondern die Vermögensbesteuerung weit unterdem Durchschnitt liegt. Deswegen muss man zwar nichtgleich nach einer Steuererhöhung schreien; aber es ge-hört selbstverständlich zu unserer Pflicht, darüber nach-zudenken, wie wir diese Schieflage verändern können.Das gehört einfach zu unseren Pflichten.
Bei der Analyse der Situation muss man sich einigeFragen stellen. Wir Sozialdemokraten fragen uns zumBeispiel: Können Kommunen im Moment optimale Bil-dungs- und Fördermöglichkeiten für unsere Kinderanbieten? Können die Kommunen gute Lebens- und Ar-beitsbedingungen für Unternehmen und Einwohner si-cherstellen? Ich sage Ihnen: Bei einem Finanzierungsde-fizit von 12 bis 15 Milliarden Euro, das die Kommunenerwarten – das sind ihre eigenen Angaben –, könnendiese Fragen nicht mit Ja beantwortet werden. Deswegenhaben wir als Steuergesetzgeber die Pflicht, uns zu über-legen, wie wir das ändern können.
Wir sagen deswegen nicht, dass bei der Gewerbesteuerin den letzten Jahren der falsche Weg eingeschlagenwurde. Sie tun immer so, als seien nur die Gewerbesteu-ereinnahmen eingebrochen. Die Zahlen sagen etwas an-deres. Sie zeigen, dass die Gewerbesteuereinnahmentrotz kleiner Einbrüche ständig steigen. Deshalb sagenwir Sozialdemokraten: Mit uns wird es eine Abschaf-fung der Gewerbesteuer nicht geben. Wir wollen eineStabilisierung und nicht das, was Sie auf den Weg brin-gen wollen.
Wir müssen auch fragen: Können die Länder mit denderzeitigen Steuereinnahmen ein optimales Bildungs-angebot schaffen? Wir finden, dies ist nicht nur eineFrage der individuellen Chancengerechtigkeit, sondernauch eine ökonomische Frage. Wenn wir uns im Bil-dungsbereich nicht bewegen, werden wir wirtschafts-politisch in wenigen Jahren am Ende des Zuges ange-kommen sein. Das können wir uns nicht leisten. Wirmüssen ehrlich miteinander umgehen und nicht mög-lichst niedrige Steuern als Wert an sich propagieren.Wir müssen auch fragen: Ist die Bundesebene in derLage, ihre Aufgabe, eine gute Infrastruktur für Bürgerund Unternehmen zu schaffen, zu erfüllen? Können wirtatsächlich genügend wirtschaftspolitische Impulse set-zen? Können wir genügend Geld für Investitionen undForschung ausgeben? Können wir tatsächlich für einepositive Konjunkturentwicklung sorgen? Können wirdafür sorgen, dass wir in Zukunft ökologisch und nach-haltig wirtschaften? Das sind die Fragen.Ich finde, es steht uns in der Politik gut an, einzuge-stehen bzw. klarzumachen, dass sich die Analyse ändernkann. Wir befinden uns in der Zeit nach der Wirt-schafts- und Finanzmarktkrise. Deswegen sehen ei-nige Schlussfolgerungen jetzt anders aus; das ist dochklar. Wir haben massiv mit Steuermitteln eingreifenmüssen. Das wurde von großen Teilen dieses Parlamentsakzeptiert; aber das hat alle staatlichen Ebenen belastet.Also müssen wir jetzt überlegen, welche Konsequenzenwir daraus ziehen müssen.Wir sind der Überzeugung, dass Ziel der Steuer- undAbgabenpolitik ist, für eine angemessene und verlässli-che Finanzierung der Aufgaben aller staatlichen Ebenenzu sorgen. Auch die Verteilung der Lasten auf dem Wegzu diesem Ziel muss gerecht sein.
Deshalb sprechen wir uns – ich habe das schon ange-sprochen – für eine stärkere Besteuerung der privatenVermögen aus. Aber, Frau Höll, ehrlich gesagt: 80 Mil-liarden Euro durch 5 Prozent – das ist illusorisch. Das istvöllig daneben und wirtschaftsfeindlich. Ich finde, wennman über eine gerechte Verteilung redet, muss man auchdie Arbeitsplatzwirkung im Kopf haben. Deswegen sageich: Weder die Ideologie von links noch die von ganz
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6820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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rechts passt. Wir müssen überlegen, was wir tun können,um unser Land nach vorne zu bringen, und zwar auchsteuerpolitisch. Für uns gehört die verstärkte Vermö-gensbesteuerung dazu, aber nicht in dem Ausmaß, wieSie sich das vorstellen.
Wir wollen – das hat die Sozialdemokratie beschlos-sen – bei der Einkommensbesteuerung einen höherenSpitzensteuersatz greifen lassen, jedoch später als jetzt.Er soll bei verheirateten Paaren ab einem zu versteuern-den Einkommen von 200 000 Euro greifen. Wir glauben,das ist ein guter, aber gemäßigter Weg, der in diesemFall auch dafür sorgen kann, dass Aufgaben besser er-füllt werden. Ich habe vorhin schon gesagt – ich möchtees jetzt bei der Darstellung des Gesamtpakets wiederho-len –, dass wir auch eine Stärkung der Gewerbesteuerwollen. Im Übrigen – das finde ich ganz wichtig, wennwir über Föderalismus reden – wollen wir, dass der Steu-ervollzug der bestehenden Gesetze besser durchgeführtwird; denn auch das gehört zur Steuergerechtigkeit.
Der entscheidende Punkt wird sein, das Ganze zu einemstimmigen Paket zusammenzufügen:
solidarische Finanzierung auf der einen Seite, Möglich-keit für Investitionen in Bildung, Forschung und Wirt-schaft auf der anderen Seite.Beim Begriff „stimmig“ lohnt sich ein Blick in denAntrag der Linken; das kann ich Ihnen nicht ganz erspa-ren. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass da-rin steht: Viel ist auf jeden Fall gut. – Auf den zweitenBlick finde ich es noch interessanter. Dort steht zum Bei-spiel: Wir wollen 10 Milliarden Euro Steuern wenigereinnehmen, indem wir in vier Bereichen einen ermäßig-ten Mehrwertsteuersatz einführen. – Ich verstehenicht, dass Sie nicht lernfähig sind. Spätestens ein Jahrnachdem die Koalition diese grandiose Hotelsteuerermä-ßigung beschlossen hat, wissen Sie doch, dass das Geldnicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an-kommt.
Sie fordern zum Beispiel ernsthaft, bei Medikamentenauf 4 Milliarden Euro Steuereinnahmen zu verzichten,obwohl wir nach der Erfahrung mit der Hotelsteuerermä-ßigung davon ausgehen müssen, dass das Geld bei deninternationalen Konzernen hängen bleibt. Was soll darangerecht sein? Ich bitte Sie!
Die Forderung bezüglich einer Umsatzsteuerermäßi-gung, die, wie wir wissen, nicht bei den Verbrauchernankommt, ist nicht nur populistisch, sondern, ehrlich ge-sagt, steuerpolitisch ganz schön naiv und blind. Deshalbwerden wir diesem Antrag nicht zustimmen können.
Das ist nicht das, was wir für nötig halten, nämlich einausgewogenes Verhältnis von sinnvollen Investitionenund gerechter Steuerverteilungspolitik.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Selbst die SPD sagt, dass Ihre Forderung nach
einer Vermögensteuer, die 80 Milliarden Euro Steuer-
mehreinnahmen ergeben soll, bestenfalls lächerlich ist.
Frau Kollegin Höll, finanzieren können Sie mit dieser
Luftbuchung in diesem Staat gar nichts.
Sie können damit der Wirtschaft schaden, Sie können
diesem Standort schaden, Sie können Arbeitsplätze ge-
fährden, aber Sie können so überhaupt nichts erreichen.
Das gilt für Ihren gesamten Antrag. Sie haben nicht
ein positives Wort über die Menschen geschrieben, die
den Sozialstaat finanzieren. Sie haben kein positives
Wort über Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geschrie-
ben.
Ihre Devise ist: Wer in diesem Land viel arbeitet, der soll
sich schämen und möglichst hohe Steuern zahlen, damit
die Linken das verteilen können. Das ist der Geist Ihres
Antrags.
Herr Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Birkwald?
Ja, bitte.
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Herr Kollege Wissing, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass die Kollegin Dr. Barbara Höll vorhin in
ihrer Rede deutlich gemacht hat, dass die Linke auch für
die Einkommensteuersenkung all derer eintritt, die null
bis 70 000 Euro brutto im Jahr verdienen und dass wir
damit selbstverständlich die Leistung derjenigen goutie-
ren, die viel und gut arbeiten? Denn für wenig Arbeit be-
kommt man ein solches Einkommen nicht. Nehmen Sie
auch zur Kenntnis, dass wir insofern einerseits die Partei
der sozial Benachteiligten, andererseits auch die Partei
der Mittelschicht sind?
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie die ungeheuerliche
Behauptung aufstellen, dass die Linke die Partei der
Mitte sein möchte.
Das nehme ich zur Kenntnis. Ich weise das aber, Herr
Kollege, mit aller Entschiedenheit zurück; denn Sie ha-
ben in diesem Parlament bisher nur Anträge vorgelegt,
die einen Angriff nach dem anderen auf die Mitte dieses
Landes darstellen. Diese Angriffe wehren wir entschlos-
sen ab, weil wir der Meinung sind, dass die leistungsfä-
hige Mitte dieses Landes
nicht durch die Linken in diesem Hause beschädigt wer-
den darf. Sie braucht vielmehr Unterstützung, weil die
Leistungsträgerinnen und Leistungsträger der Bundesre-
publik Deutschland ungerecht besteuert werden. Es gibt
einen Mittelstandsbauch
und eine kalte Progression. Dieses Problem müssen wir
angehen. Man löst es aber nicht, indem man diese Men-
schen ständig beschimpft, so wie Sie es tun, und man
löst es auch nicht, indem man für die Bezieher von mitt-
leren Einkommen ständig noch höhere Steuern fordert.
Sie sind nicht ansatzweise eine Partei für den Mittel-
stand. Sie sind auch keine Partei für die Mitte. Wenn
man sich vergegenwärtigt, Herr Kollege, dass Sie
80 Milliarden Euro jährlich
– lassen Sie mich doch antworten! – durch eine Vermö-
gensteuer aus der deutschen Wirtschaft und dem deut-
schen Mittelstand
– ich bin noch nicht fertig – herausziehen möchten, dann
können Sie sich nicht hinstellen und behaupten, Sie
seien eine Partei, die sich für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer einsetzt. Denn das Schlimmste, was man
den Menschen antun kann, ist, ihren Arbeitsplatz zu ge-
fährden. Das tun Sie mit Ihrem Antrag.
Lassen Sie uns über den Geist Ihres Antrags reden.
Wenn der Kollege Gutting, bezogen auf unser Steuersys-
tem – nur darüber hat er gesprochen –, völlig zu Recht
sagt, dass sich Leistung lohnen muss, dann hat er die
Wahrheit gesagt und eine Kernaussage der sozialen
Marktwirtschaft betont. Dass die Sozialdemokraten dem
widersprechen und das als Ideologie diffamieren, zeigt,
wohin Sie sich entwickeln, meine Damen und Herren.
Sie haben das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht
verstanden. Leistung ist nämlich nichts Schlechtes, son-
dern Leistung ist der Kern, auf dem dieses System be-
ruht. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur Verteilen,
sondern vor allem erst einmal Erwirtschaften, bevor es
etwas zu verteilen gibt. Dass die Linke das nicht ver-
steht, wundert uns nicht. Dass die SPD zunehmend ins
gleiche Horn bläst, ist bedauerlich.
Ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind im
Kern unsozial. Sie reduzieren den Sozialstaat auf einen
Verteilungsstaat;
deswegen hat auch Frau Kressl nur vom Verteilen ge-
sprochen. Ihr Sozialstaat ist auch kein aktivierender,
sondern er ist vor allen Dingen ein kassierender Sozial-
staat.
Was Sie auf der Verteilungsseite an sozialer Gerechtig-
keit erreichen wollen, konterkarieren Sie durch soziale
Ungerechtigkeiten auf der Steuerseite.
Herr Kollege Wissing, gestatten Sie noch eine Zwi-schenfrage des Kollegen Troost?
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6822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(C)
(B)
Ja. Auch der Kollege Troost darf eine Zwischenfrage
stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Wissing, auch unter Ihrer Mitwirkung
hat Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Die Frage ist: Hat
sich Leistung damals gelohnt oder nicht? Wenn wir
heute noch das Steuersystem von 1998 hätten, hätten die
öffentlichen Haushalte jedes Jahr um über 50 Milliarden
Euro höhere Steuereinnahmen. Insgesamt ist über eine
halbe Billion Euro durch die Steuersenkungspolitik, die
seitdem gemacht wurde, verloren gegangen.
Ist es tatsächlich so, dass wir diejenigen sind, die Leis-
tung bestrafen? Oder kann man nicht, wenn man Steuer-
mehreinnahmen erzielt, auch für mehr Steuergerechtig-
keit sorgen?
Herr Kollege, Ihre Frage beruht auf einem Irrtum.Das Problem der Linken ist: Sie nehmen immer irgend-welche Zahlen, glauben, Sie könnten diese Zahlen derRealität überstülpen und würden dann ein auch nur an-satzweise realistisches Ergebnis erzielen. Das ist, wiegesagt, ein Irrtum der Linken.
Fakt ist, dass sich die Wirtschaft in diesem Land unterder Regierung von Helmut Kohl positiv entwickelt hat.Fakt ist, dass sich die Wirtschaft unseres Landes auchunter dieser christlich-liberalen Koalition sehr positiventwickelt. Der IWF hat die Wachstumszahlen erneutnach oben korrigiert.
Was auch Sie freuen sollte – hier sollten Sie wirklich et-was Positives für die Regierung übrig haben –, ist, dassdie Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt.
Das ist die Messlatte, an der wir uns messen lassen wol-len. Das sind die ersten Erfolge unserer wachstumsorien-tierten Politik. Ihre Vergleiche hinken.Fest steht: Die Bundesrepublik Deutschland ist auf ei-nem guten Weg, weil diese christlich-liberale Koalitionwie eine Eins zur sozialen Marktwirtschaft steht. Sie tunes nicht.
Meine Damen und Herren, Sie stellen Steuergerech-tigkeit und soziale Gerechtigkeit immer wieder als Wi-derspruch dar. In Wahrheit sind Steuergerechtigkeit undsoziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille.
Ein gerechtes Steuersystem ist ein ganz erheblicher Bei-trag für soziale Gerechtigkeit. Da Sie in Ihrem Antragwieder schreiben, dass das Steuerrecht Spitzensteuer-satzzahler bevorzuge, will ich Ihnen die Fakten vorhal-ten. Seit 1958, Frau Kollegin Höll, wurde bei nahezu je-der Steuerreform der Einkommensfreibetrag angehobenund der Eingangssteuersatz gesenkt. Das ist die Ent-wicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinu-ierlich wurde immer mehr für die Bezieher der unterenEinkommen getan.
1958 lag der Einkommensfreibetrag bei rund 860 Eurobei einem Eingangssteuersatz von 20 Prozent. Heuteliegt er bei 8 004 Euro bei einem Steuersatz von 10 Pro-zent. Sie beklagen, dass sich die Entwicklung für dieEmpfänger niedriger Einkommen negativ und für Spit-zensteuersatzzahler positiv darstelle.
Jetzt reden wir über die Einkommensgrenze beimSpitzensteuersatz. 1958 lag sie bei 56 000 Euro, wäh-rend sie heute bei 52 000 Euro liegt. Das ist die gegen-teilige Entwicklung.
Der Staat hat den Spitzensteuersatz immer mehr zu ei-nem Steuersatz der Mitte gemacht.Sie behaupten, dass Spitzensteuersatzzahler reicheLeute seien. Das ist Unfug. Sie können das so oft wie-derholen, wie Sie wollen. Sie führen die Leute damithinter die Fichte. Der Spitzensteuersatz in Deutschlandist der Steuersatz für Facharbeiter und für gut ausgebil-dete Angestellte. Das ist nicht der Steuersatz von reichenLeuten oder von Millionären.
Deswegen sind Sie keine Partei, die sich um die Mittein Deutschland bemüht. Sie sind eine Partei, die dieMitte in Deutschland angreift, weil Sie sie abkassierenwollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6823
Dr. Volker Wissing
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(B)
Ihre falschen Behauptungen führen darüber hinaus dazu,dass die Leute Ihnen auch noch glauben.
Klargestellt werden muss, dass der Spitzensteuersatz derSteuersatz für Facharbeiter und der Steuersatz der Mitteist. Eine Partei, die hier Hand anlegt, kann nichts mit so-zialer Gerechtigkeit im Sinn haben, meine Damen undHerren.
Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dassstarke Schultern viel tragen. Bei Ihnen lautet die eigent-liche Forderung, starke Schultern sollten alles tragen undauch alles ertragen. Wir sagen: Auch dabei gibt es Gren-zen. Für mittlere Einkommen und für die aufstrebendeMitte in Deutschland muss es noch Luft zum Atmen ge-ben. Sie braucht die soziale Marktwirtschaft.
Dort ist Leistungsbereitschaft vorhanden. Dort wird un-ser Wohlstand erwirtschaftet.Hören Sie auf, diese Leute zu diffamieren. Sagen Siedoch einmal Danke an alle Empfänger mittlerer Einkom-men in Deutschland,
die hohe Steuern zahlen und die mit Mittelstandsbauchund kalter Progression auch während der Krise dazu bei-getragen haben, dass der Staat handlungsfähig bleibt unddass sich das Steueraufkommen positiv entwickelt. Dasist die Leistung der Mitte in Deutschland.
Dass man diese Leute gegenwärtig nicht entlasten kann,ist bedauerlich. Denn die Krise, Frau Kollegin Kressl,liegt noch nicht hinter uns. Wir sind noch mitten in derKrise. Aber man darf auch einmal der Mitte in Deutsch-land danken:
danke für die Leistungsbereitschaft, danke für die Finan-zierung dieses Staates und des Sozialstaates. Das hätte inIhrem Antrag stehen müssen.
5 Prozent der oberen Einkommensschichten erwirt-schaften heute bereits 42 Prozent des Einkommensteu-eraufkommens.
: 35 Prozent
der Gesamteinkommen!)Sie können natürlich sagen: Warum erwirtschaften5 Prozent nur 42 Prozent? Sie können sagen: Die sollenalles machen.
Das ist eben die Frage. Irgendwann kippt die Gerechtig-keitsfrage.
In Deutschland darf gesagt werden – Herr KollegeGutting hat es ausgeführt –: Leistung darf sich lohnen;Leistung muss sich lohnen. Man darf sich mit den Men-schen freuen, die sich in Deutschland anstrengen, die ih-rer Arbeit nachgehen, die Risiken auf sich nehmen unddie investieren. Ich denke dabei an mittelständische Un-ternehmen, an Handwerker, die auch in der Krise Risi-ken eingehen, die an dieses Land und den Zusammenhaltin dieser Gesellschaft glauben.
Man darf diesen Leuten danken und muss nicht fordern,immer mehr abzukassieren. Ihre Umverteilungsfantasiensind schlicht und einfach nicht finanzierbar.
Selbst wenn Sie Ihren Angriff auf die Mitte inDeutschland durchsetzen könnten, wären Ihre Umvertei-lungsfantasien immer noch nicht finanzierbar.
Deswegen: Hören Sie auf, dieses Ziel weiterzuverfol-gen. Dafür finden Sie keine Mehrheiten in diesem Land.Das ist gut so, weil Sie den Wohlstand in der Bundesre-publik Deutschland in Wahrheit abbauen und nicht auf-bauen helfen.
Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, dass dieLinke für höhere Sozialleistungen durch höhere Steuernkämpft. Die CDU/CSU und die FDP kämpfen dafür,dass die Menschen Lohn und Arbeit haben, damit sie aufSozialleistungen nicht angewiesen sind. Das ist unsereVorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Wir verfolgensie weiter. Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlensprechen für sich. Deswegen brauchen wir Ihre nichteinmal sinnvollen, geschweige denn gut gemeinten Rat-schläge nicht.Sie führen die Menschen mit falschen Informationenhinter die Fichte
und leisten keinen Beitrag zur Stärkung des Wohlstandesdieses Landes. Deswegen lehnen wir Ihren Antragselbstverständlich ab.
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6824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Nun hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ichden Antrag gelesen habe, habe ich auch kurz darübernachgedacht, wie man mit diesem Antrag eigentlich um-gehen soll. Man kann es so machen wie Frau Kressl: einbisschen Nachdenklichkeit darüberschütten.
Der Grund ist, dass wir von Bündnis 90/Die Grünen dieZiele, die Sie mit dem Antrag vorgeblich versuchen zuerreichen, dass wir unser Land gerechter machen wollen,dass wir die gewachsene Umverteilung zwischen Armund Reich umkehren müssen und dass wir die Binnen-konjunktur stärken wollen, natürlich teilen.
Ich habe Ihren Antrag gelesen und mich, weil IhrKonzept von einer Umsetzbarkeit wirklich so weit ent-fernt ist wie das Wasser von der Wüste, dermaßen da-rüber geärgert, dass ich mich doch einmal inhaltlich mitIhrem Antrag auseinandersetzen muss.
Sie legen das ja als Ihr steuerpolitisches Gesamtkonzeptvor. Das muss man dann auch entsprechend würdigen.Was schlagen Sie vor? Eine Aneinanderreihung vonSteuererhöhungen und eine Liste, in der Sie zum Teilpseudogenau, an anderen Stellen, wie zum Beispiel beiden ökologischen Steuern und bei der Einkommensteuer,dagegen erstaunlich vage Angaben darüber machen, wiehoch die Steuereinnahmen ausfallen werden. Unter demStrich haben Sie sich sage und schreibe 179 MilliardenEuro zusammengerechnet. Wie das allerdings mit IhremZiel, die Binnenkonjunktur zu stärken, zusammenpassensoll, wenn Sie 179 Milliarden Euro an Kaufkraft entzie-hen, ist zumindest für jeden Volkswirt, den ich kenne,ein Rätsel.
– Das steht da aber nicht. – Ich habe noch einmal in Ih-ren Pressemitteilungen nachgesehen. Sie schlagen einKonjunkturprogramm von 30 Milliarden Euro vor. Dasist eine Mininummer gegenüber diesen 179 MilliardenEuro. Das passt also schon einmal hinten und vornenicht zusammen.
Jetzt könnte man natürlich beschwichtigend einwer-fen: Wenn man diese 179 Milliarden Euro nicht ernstnimmt, sondern sich Ihre Steuervorschläge im Einzelnenansieht und versucht, das noch einmal seriös durchzu-rechnen, dann kommt man vielleicht auf 50 MilliardenEuro. Gut, aber, werte Kolleginnen und Kollegen vonder Linkspartei, was sollen wir denn nun tun? Sollen wirIhre Steuervorschläge inhaltlich ernst nehmen, aber dieFinanzierungszahlen nicht, oder sollen wir die Finanzie-rungszahlen ernst nehmen, aber Ihre Steuervorschlägenicht? Wie man es dreht und wendet: Dieser Antrag istschlichtweg nicht ernst zu nehmen.
Das bedauere ich wirklich; denn bei der Aufgabe, vorder wir in Deutschland stehen, nämlich die wachsendeSchere zwischen Arm und Reich in diesem Lande wie-der zu schließen, brauchen wir Verbündete, aber esbraucht nun einmal ernst zu nehmende Verbündete.Die Aufgaben sind eben nicht klein: Bis heute leistetdie Finanzwirtschaft, die vom Steuerzahler teuer vordem Kollaps gerettet werden musste, eben keinen Bei-trag zur Finanzierung der Kosten der Krise. Bis heute– so hat das Umweltbundesamt ausgerechnet – leistetsich Deutschland jährlich 48 Milliarden Euro an umwelt-schädlichen Subventionen. Bis heute sind Finanzämter,insbesondere in schwarz-gelb regierten Bundesländern,personell so unterbesetzt, dass Steuerhinterziehung in-zwischen zum Volkssport geworden ist und die Finanz-ämter nicht in der Lage sind, für einen gleichmäßigenSteuervollzug zu sorgen. Diese Liste lässt sich fast un-endlich fortführen. Das ist nicht hinnehmbar.
Die Stimmung in Deutschland ist prekär geworden.Am 3. Oktober 2010 hat beispielsweise die JournalistinTissy Bruns, sicherlich stellvertretend für viele, ange-sichts der wachsenden Ungleichheit, die viele Menschenverunsichert, stresst und entmutigt, im Tagesspiegel sehrgrundsätzlich noch einmal die Frage aufgeworfen:Sind wir noch das Land der sozialen Marktwirt-schaft, das Spitzenprodukt des europäischen Sozial-staatsmodells?Nicht weniger als der Grundkonsens unserer Gesell-schaft ist inzwischen dank Schwarz-Gelb gefährdet. Da-rauf brauchen wir Antworten, aber keine scheinkonkre-ten, sondern tatsächlich machbare und umsetzbareVorschläge, werte Kolleginnen und Kollegen von derLinksfraktion.
Besonders geärgert habe ich mich über Ihre soge-nannte Millionärsteuer. So nennen Sie ja Ihre Vermö-gensteuer. Endlich gibt es in dieser Gesellschaft wiedereine aufkommende Bereitschaft, ernsthaft über die Erhe-bung einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe, diewir fordern, zu reden. Vermögende tun sich zusammen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6825
Lisa Paus
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werben öffentlich für die Idee und schalten Anzeigen.Andere Bündnisse beginnen sich zu sammeln. In dieserSituation legen Sie einen Antrag vor, in dem Sie allenErnstes vorschlagen, eine Vermögensteuer mit einemSteuersatz von 5 Prozent einzuführen. Aber damit nichtgenug: Zusammen mit Ihrem Einkommensteuerkonzeptmüssen Millionäre sichere Durchschnittsrenditen vonnicht 5 Prozent, nein, von 11 Prozent erzielen, um dieSteuern zahlen zu können und bei plus/minus null he-rauszukommen. Das heißt, jeder Anleger macht mit sei-ner Vermögensanlage im besten Fall keinen Verlust. ImNormalfall zahlt er, egal bei welcher Anlage, drauf. Dasfreut natürlich jeden Schwundgeldtheoretiker.
Aber ich frage Sie allen Ernstes: Was soll der Quatsch?
Sie müssten wissen, dass Vermögen seinen Marktwertverliert, wenn keine Erträge erwirtschaftet werden. Beieiner Vermögensteuer von 5 Prozent wäre der Preisver-fall bei Aktien, Häusern, Unternehmen und Betriebsver-mögen gigantisch. Ein Verfall von mindestens 80 Pro-zent ist nicht unrealistisch. Das würde, ehrlich gesagt,nicht nur die Börsenspekulanten sehr nervös machen.Mein Problem ist: Mit solchen steuerpolitischen Kon-zepten schaden Sie nicht nur sich und Ihrer politischenGlaubwürdigkeit – das kann mir herzlich egal sein –,sondern Sie diskreditieren damit die gesamte Idee einerVermögensteuer oder Vermögensabgabe.
Sie stellen sich damit schlichtweg außerhalb einer je-den ernsthaften Debatte um das Wie einer stärkeren Be-steuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Mitdiesem Antrag erweisen Sie deshalb sich, aber vor allemder Sache, einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit, einenBärendienst. Deswegen fordere ich Sie ernsthaft auf:Ziehen Sie den Antrag zurück! Fangen Sie noch einmalneu an!
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Dr. Höll.
Danke, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kollegin
Paus, ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Sie in
der Auseinandersetzung versuchen, unseren Antrag als
unernst zu bezeichnen. Wir können festhalten, dass wir
als Linke seit Jahren dafür kämpfen, wieder eine Vermö-
gensbesteuerung einzuführen. Sie, die SPD und die
Grünen, waren die ganze Zeit absolut nicht dafür. Es
freut mich, dass Sie inzwischen dazugelernt haben und
das Thema wieder angehen wollen.
Wir können uns gerne über die Höhe streiten. Wir ha-
ben jetzt 5 Prozent vorgelegt. Man kann darüber streiten.
Sie können auch 1 Prozent oder 2 Prozent vorschlagen.
Aber das ist eine andere Frage. Ich denke, es sollte poli-
tisch darum gehen, zu zeigen, dass die Vermögen besteu-
ert werden müssen.
Es wird auch nicht alles wegbesteuert. Wir haben ei-
nen Freibetrag von 1 Million Euro vorgeschlagen. Sie
wissen selbst, dass es riesige Unterschiede gibt. Es geht
um Privatvermögen, Herr Gutting und Herr Wissing.
Das haben Sie vorhin nicht ganz richtig mitbekommen.
Wer großes Vermögen hat, kann hier oftmals ganz an-
dere Renditen erwirtschaften.
Ich persönlich finde es bei einem Freibetrag von
1 Million Euro nicht sakrosankt – das ist damals selbst in
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht einheit-
lich abgelehnt worden –, wenn man mit einer Besteue-
rung zu einer Umverteilung kommen will und vielleicht
auch ein kleines bisschen an die Substanz herangeht. Da-
rüber sollte man tatsächlich nachdenken. Aus welchen
Gründen sollen riesige Vermögen so aufgehäuft bleiben
und als sakrosankt erklärt werden?
Hier ist über die Leistungsträger gesprochen wor-
den. Dazu möchte ich sagen: Erstens haben wir eine Ver-
schiebung. Über 50 Prozent der Steuern, die eingenom-
men werden, kommen aus der indirekten Besteuerung.
Jede Hartz-IV-Bezieherin und jede alleinerziehende
Mutter, die für ihr Kind einkauft, muss indirekte Steuern
zahlen. Das heißt, alle zahlen einen großen Beitrag.
Auch alle, die leider keine Arbeit haben oder so niedrig
bezahlt werden, dass sie Sozialleistungen beziehen müs-
sen, zahlen Steuern. Sie zahlen nämlich Verbrauchsteu-
ern. Das muss man vorneweg stellen.
Herr Wissing, ich verlange, dass Sie den Antrag rich-
tig lesen. Wir haben darin aufgenommen, was wir in der
letzten Legislaturperiode gefordert haben, nämlich die
Streichung des Waigel-Bauches, den die schwarz-gelbe
Koalition eingeführt hat.
Ein linear-progressiver Tarif bedeutet eine Entlastung der
mittleren Einkommensgruppen. Wir entlasten bis zu ei-
nem zu versteuernden Einkommen von über 70 245 Euro.
Wir gehen mit unserer Verschiebung nämlich auch auf
die kalte Progression ein.
Frau Kollegin, ich darf Sie unterbrechen. Die Rede-
zeit für die Kurzintervention beträgt nur drei Minuten.
Das ist eine ordentliche Politik für die Bezieher mitt-lerer Einkommen. Das können Sie nicht einfach beiseite-wischen. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das dieUnwahrheit.
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6826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Dr. Barbara Höll
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(B)
Danke.
Zur Erwiderung, Frau Paus.
Frau Dr. Höll, ich will mit Ihnen darüber diskutieren,
wie Umverteilung gehen kann, allerdings anhand von
machbaren Konzepten. Deswegen ärgert mich Ihr jetzi-
ger Vorschlag. Darüber haben wir schon im Februar
dieses Jahres geredet. Selbst wenn Ihr versammelter
Sachverstand es vorher nicht bemerkt hat, sollten Sie
spätestens nach der Debatte über die von Ihnen vorge-
schlagene Millionärsteuer im Februar eigentlich in sich
gegangen sein. Sie selber rühmen sich mit Ihrem Sach-
verstand. Die Linksfraktion hat einen Chefvolkswirt,
Herrn Schlecht. Die Linksfraktion hat in ihren Reihen ei-
nen emeritierten Professor der Volkswirtschaftslehre,
Herrn Dr. Schui. Die Linksfraktion hat einen promo-
vierten Volkswirt, der gerade neben Ihnen sitzt, Herrn
Dr. Axel Troost. Dieser versammelte Sachverstand
kommt zu dem unsinnigen Ergebnis, dass eine Vermö-
gensteuer in Höhe von 5 Prozent ein Aufkommen in
Höhe von 80 Milliarden Euro bringen soll. Wenn ein sol-
cher Unsinn erzählt wird, dann ist irgendwann – es tut
mir leid – die Grenze der Diskussionsfähigkeit erreicht.
Ich möchte mit Ihnen darüber reden, wie wir Deutsch-
land tatsächlich sozial gerechter gestalten können, aber
anhand von machbaren Vorschlägen. Ich möchte mich
mit den unsinnigen Vorschlägen der schwarz-gelben Ko-
alition auseinandersetzen. Aber Sie leisten uns einen Bä-
rendienst und spielen der Koalition in die Hände, weil
Sie Vorschläge machen, die nicht funktionieren.
Das nutzt niemandem. Deswegen habe ich hier die Gele-
genheit ergriffen, zu sagen: Kehren Sie zu einer vernünf-
tigen Grundlage zurück, auf der man diskutieren kann!
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Frank Steffel für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleichtsollte die Opposition ihre Bewertung und Kritik nocheinmal untereinander klären. Normalerweise sollten Op-position und Regierung hier miteinander ringen.
Ich will auf einen Punkt hinweisen – ich habe der De-batte sehr intensiv gelauscht –, der mir auffällt. Ich habeden Eindruck, dass sich vier Fraktionen sehr ernsthaftbemühen, im Detail darum zu ringen, welches der rich-tige Weg hin zu sozialer Gerechtigkeit ist, welche dierichtige Verteilung der Lasten ist – das betrifft letztend-lich rund 82 Millionen Deutsche –, die dazu beiträgt,dass die Politik ihrem Auftrag, soziale Gerechtigkeitherzustellen – Starke müssen gefordert und Schwachegefördert werden –, nachkommen kann. Keiner von unshat heute die Lösung für die nächsten zehn Jahre. DieWelt verändert sich. Wir müssen uns anpassen. Deutsch-land muss sich anpassen. Die Politik muss sich anpassen.Europa muss sich auf neue Herausforderungen einstel-len. Deswegen ist die Debatte zwischen den vier genann-ten Fraktionen aus meiner Sicht zielführend und richtig.Es lässt uns alle nicht kalt, wenn wir wissen, dass dieSchere zwischen Arm und Reich in Deutschland – übri-gens am stärksten unter Rot-Grün – immer weiter aus-einandergeht. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wis-sen, dass Alleinerziehende mit geringem Einkommen esin diesem Land verdammt schwer haben, ihren Kinderneinen Lebensweg, einen Berufsweg und eine Perspektivezu eröffnen. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wis-sen, dass 58-, 59- und 60-jährige Menschen unverschul-det ihren Job verlieren und dann am Rand der Gesell-schaft, am Rand des sozial Zumutbaren in diesem Landleben müssen. Wir alle gemeinsam sind mit der Beant-wortung der Frage befasst, was wir tun können. Woherkönnen wir Geld nehmen, das wir dringend brauchen,wohlwissend, dass Schulden zulasten der nächsten Ge-neration nicht die richtige und verantwortungsvolle Ant-wort sein können?
Im Übrigen haben Sie intensiv gegen die Einführung derSchuldenbremse gearbeitet; das sei nur erwähnt.Ich gebe Ihnen recht, Frau Höll. Sie haben gesagt– ich fand diesen Satz ein Stück weit entlarvend; Sie fan-den ihn wahrscheinlich ehrlich –: Es gibt eine Alterna-tive. – Ja, den Eindruck habe ich auch. Es gibt vier Par-teien, die um die Ausgestaltung des Erfolgsmodellssoziale Marktwirtschaft ringen. Es gibt eine Partei, dieeine Alternative hat. Sie haben eine Alternative, die mitder heutigen sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun hat.Sie wollen Sozialismus. Sie wollen Kommunismus. Ichwerfe Ihnen das nicht vor; das ist völlig legitim.
Dafür werden Sie gewählt. Das ist Ihre Alternative. Ichsage Ihnen: Erstens. Diese Alternative ist gescheitert. Sieist nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Weltgescheitert.
Zweitens. Wir wollen diese Alternative nicht. Auch dasgehört zur Wahrheit. Wir haben eine andere Vorstellungvon dieser Gesellschaft.Man könnte es sich sehr leicht machen. Ich habe denletzten Wahlkampf aufmerksam verfolgt. Die Linke hatdamals an der einen Laterne plakatiert – Sie erinnern sichvielleicht –: „Reichtum für alle“. An der nächsten La-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6827
Dr. Frank Steffel
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terne hing ein Plakat: „Reichtum besteuern“. Ja, meineDamen und Herren, das heißt im Ergebnis höhere Steu-ern für alle.
Es disqualifiziert Sie und zeigt, worum es Ihnen wirklichgeht. Zumindest hat es mit seriöser Politik überhauptnichts zu tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es auchmit den Fakten. Es ist eine wichtige und eine schwierigeDebatte, und ich habe den Eindruck, dass zumindest zumTeil ein falsches Bild von diesem Land gezeichnet unddamit ein falscher Eindruck erweckt wird. Ich weißauch, Frau Kressl, dass Lohn- und Einkommensteuernicht alles sind; das ist völlig klar. Wir haben Unterneh-mensteuern, sowohl bei Körperschaften als natürlichauch bei Privatunternehmen, die übrigens sehr massivdazu beitragen, dass in diesem Land und gerade in denKommunen erhebliche Steuermittel zur Verfügung ste-hen. Außerdem gibt es in Deutschland Erbschaftsteuern.Das ist eine ganz schwierige Debatte; wir alle kennenaus unseren Wahlkreisen, aus dem familiären Umfelddas Argument, das sei ja alles schon einmal versteuert,man habe es gespart und müsse jetzt noch einmal Steu-ern bezahlen. Das sind ganz schwierige Themen.Aber lassen Sie uns bei Lohn- und Einkommensteu-ern bleiben. Dazu nenne ich noch einmal drei, vier Zah-len, auch für unsere zumeist jungen Zuschauer. MeineDamen und Herren, 10 Prozent der Steuerpflichtigen inDeutschland schultern 55 Prozent unserer Lohn- undEinkommensteuern.
Diese Zahl müssen wir einfach einmal ganz nüchtern zurKenntnis nehmen.
Ich nenne in diesem Zusammenhang die zweite Zahl:50 Prozent der Steuerpflichtigen – das sind übrigens auchfleißige Menschen, die in diesem Land jeden Morgen auf-stehen und arbeiten – zahlen nur 5 Prozent der Lohn- undEinkommensteuern in Deutschland. Die Hälfte der Men-schen trägt also nur mit 5 Prozent bei. Wer jetzt den Ein-druck erweckt, das wäre ein ungerechtes Steuersystem,der streut den Menschen bewusst Sand in die Augen.
Ich will einen zweiten Punkt nennen. Durch die Ent-scheidung dieser schwarz-gelben Koalition ist seit die-sem Jahr der Grundfreibetrag für Kinder auf 7 000 Euroerhöht, und gleichzeitig können Krankenversicherungs-beiträge abgesetzt werden.Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass eineFamilie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern inDeutschland bis zu 36 000 Euro Jahreseinkommen kei-nen Cent Steuern mehr bezahlt. Auch das ist eine ganzsoziale und gerechte Politik. Man könnte sagen, gerech-ter und sozialer geht es zumindest für diesen Teil der Ge-sellschaft schon überhaupt nicht mehr.
Herr Kollege Steffel, der Herr Kollege Troost würde
gern eine Zwischenfrage stellen.
Nein. – Wir haben weitere Fakten, die spannend sind.Was ist der Spitzensteuersatz? Ich will Ihnen auch daskurz vortragen. Diesen Steuersatz hat übrigens Rot-Grüngesenkt. Als Rot-Grün 1998 antrat, betrug der Spitzen-steuersatz 53 Prozent, übrigens primär, um nach derdeutschen Einheit die Lasten Ihrer SED-Erbschaft zu be-wältigen, um das auch einmal klar zu sagen.
Der Spitzensteuersatz wurde von Rot-Grün von 53 Pro-zent bis 2005 auf 42 Prozent gesenkt. Ich sage auch dasnur zur Versachlichung der Debatte.Er liegt heute bei 42 Prozent. Wir haben 3 ProzentReichensteuer, wir haben 5,5 Prozent Soli. Das sind47,48 Prozent. Hinzu kommt – dies möchte ich auch ein-mal erwähnen –, dass 55 Millionen Deutsche Mitgliedeiner Kirche sind. 61,3 Prozent der Steuerzahler oderfast 25 Millionen Deutsche zahlen zusätzlich 9 ProzentKirchensteuer, die übrigens vielfach auch für sehr sinn-volle soziale Dinge eingesetzt wird. Das heißt im Ergeb-nis: 51 Prozent ist der Spitzensteuersatz für diese Men-schen. Oder um es umzudrehen: Von jedem Euro, denman verdient, wird die Hälfte weggesteuert. Auch dasgehört zur Wahrheit in diesem Land.
Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen. Sie reden vonMillionären. Jetzt sage ich einmal für unsere jungen Zu-schauer, wovon wir eigentlich reden. 2002 gab es inDeutschland 9 462 Menschen, die mehr als eine Millionverdient haben. 2003 gab es 8 509 und 2004 gab es9 524 Menschen, die in Deutschland mehr als eine Mil-lion verdient haben. Ich will gar nicht beurteilen, ob siezu viel verdienen oder zu wenig oder ob es gerade rechtist. Ich sage nur eines: Selbst wenn Sie diese Menschenbrutal enteigneten, trüge das zur Gerechtigkeit und zumSozialstaat überhaupt nichts bei. Die Wahrscheinlich-keit, dass diese Menschen eher unser Land verlassen undin die Schweiz oder in andere Länder gehen, halte ich fürgrößer. Deshalb ist auch hier Sachlichkeit in der Debattehilfreich und nicht Polemik gegen vermeintliche Millio-näre.Ich will Ihnen auch einen zweiten Punkt nennen, indi-rekte Steuern. Meine Damen und Herren, was gibt esGerechteres, als Folgendes zu sagen: Für die Waren destäglichen Bedarfs, insbesondere Lebensmittel, zahlt manin diesem Land etwa ein Drittel der Mehrwertsteuer,nämlich 7 Prozent, der 19 Prozent, die man ansonstenfür alle anderen Dinge bezahlt. Auch hier haben wir inden letzten Jahren immer darauf geachtet, dass diese
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6828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Dr. Frank Steffel
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7 Prozent nicht erhöht wurden. Egal was wir mit derMehrwertsteuer tun, ist völlig klar, dass Lebensmittel– das betrifft gerade Menschen in Deutschland, die we-nig Geld haben – weiterhin nur mit 7 Prozent besteuertwerden. Auch das ist ein Teil einer sozial verantwor-tungsvollen und gerechten Politik.Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass von denSteuern, über die wir hier alle reden und streiten, imBundeshaushalt 56 Prozent für Soziales aufgewandtwerden. Mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen derBundesrepublik Deutschland wird für Sozialtransfers,wird für die Unterstützung von Menschen aufgewandt,die unser aller Unterstützung bedürfen und die wir ihnenübrigens alle gerne geben.Da ich gerade über das Erfolgsmodell soziale Markt-wirtschaft rede: Lassen Sie mich mit einem Gedankenvon Ludwig Erhard enden. Ludwig Erhard hat, wie ichfinde, zu Recht darauf hingewiesen, dass am Ende desVersorgungsstaates der soziale Untertan steht und nichtder eigenverantwortliche Bürger. Ich glaube, wir tunnach über 60 Jahren Erfolgsgeschichte der Bundesrepu-blik Deutschland gut daran, unseren Bürgern Freiheit zu-zutrauen, ihnen aber durch das Modell der sozialenMarktwirtschaft Sicherheit zu geben und sie nicht durchpermanente Umverteilung zu sozialen Untertanen zumachen, was erstens Leistung und Leistungsbereitschafthemmt und zweitens nach meiner Einschätzung diesesLand im weltweiten Wettbewerb zurückwirft und nichtvoranbringt.Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Troost.
Ich fasse mich kurz. Es geht in der Tat um Statistik.
Ich fordere alle auf, die das interessiert, sich auf meiner
Internetseite einfach einmal die entsprechenden Tabellen
anzuschauen. Es ist zwar immer schön, zu sagen: „So-
undso viel Prozent bringen soundso viel Prozent der
Steuereinnahmen“; aber man muss auch einmal zur
Kenntnis nehmen, wie die Vermögens- und Einkom-
menskonzentration in diesem Land ist. Wenn diejenigen
10 Prozent der Bevölkerung, die für 50 Prozent des
Steueraufkommens sorgen, über 60 Prozent des gesam-
ten Vermögens haben, dann ist das, was wir wollen, eben
keine riesige Umverteilung, sondern nur gerecht. Man
kann also nicht immer nur bestimmte Zahlen nennen,
sondern man muss auch sagen, wie Vermögen und Ein-
kommen in der Bundesrepublik verteilt sind. Da sieht
man eben eine ganz starke Konzentration. Das Ganze ist
eine Frage der Empirie, und die sollte man sich einfach
einmal genau anschauen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Hinz für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist ein Armutszeugnis – das muss ich in der Tat so sa-gen –, dass hier von der Regierungskoalition immerwieder deutlich gemacht wird, dass sich Leistung lohnenmuss.
– Herr Wissing, melden Sie sich.
Ansonsten ist es für alle anderen schwierig, nachzuvoll-ziehen, was Sie sagen. Die Zeit zur Beantwortung einerZwischenfrage nehme ich mir gerne. – In der Tat müssenMenschen, die den ganzen Tag arbeiten und von dem,was sie durch ihre Arbeit erhalten, letzten Endes nichtleben können, ihre Familie nicht ernähren können, an-schließend aufstocken. Diesen Menschen sagen Sie bittenoch einmal, und zwar vis-à-vis, also ins Gesicht: Leis-tung muss sich lohnen.
Auch wenn ich nicht weiß, ob es parlamentarisch istoder nicht, traue ich mich einfach, zu sagen: Ich finde esmenschenverachtend.
Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise gab eshier Situationen, in denen ich in der Tat den Eindruckgewinnen konnte, dass wir gemeinsam über alle Fraktio-nen hinweg die Krise bewältigen wollen, dass wir hiergemeinsam erkannt haben, was die Krise unter anderemverursacht hat. Wir können sicherlich nicht alle Punkteder Krise im Einzelnen beschreiben und national bewäl-tigen. Ich hatte schon den Eindruck, dass alle Fraktionenhier mit der Wirtschafts- und Finanzkrise fertig werdenwollten. Doch was jetzt nach der Bundestagswahl hiervon der Regierung – zu einem gewissen Zeitpunkt hatteich das Gefühl, es handele sich teilweise um einenSelbstfindungsklub – auf den Weg gebracht worden ist,war, muss ich sagen, alles andere als steuerfreundlich fürdie Menschen, obwohl Sie unbedingt für die Leistungs-träger Politik machen wollen.Ich möchte das ganz gerne einmal herunterbrechenauf die kommunale Ebene. All das, was auf EU-Ebeneoder auf dieser Ebene beschlossen wird, hat letzten En-des Konsequenzen auf der kommunalen Ebene. Frau vonder Leyen hat uns noch vor kurzem hier im Rahmen derHaushaltsdebatte mitgeteilt, wie sozial sie eingestellt ist;es müsse ein Bildungsgutschein eingeführt werden; die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6829
Petra Hinz
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Kinder brauchten einen Gutschein dafür, dass sie inSportvereine und woandershin gehen können.
Aber wissen Sie, warum die Kommunen in dieser Fi-nanzsituation stecken?
Sie haben im Rahmen der Finanz- und Wirtschafts-krise jetzt noch einen draufgesetzt und mit den ganzenBeschlüssen, die Sie hier gefasst haben – Klientelpolitikund Geschenke –, den Kommunen in dieser schwierigenSituation noch zusätzlich Finanzkraft entzogen. Weil al-les so schön ist, müssen jetzt diejenigen, die am wenigs-ten haben, aufgrund der neuerlichen Abgaben- und Ge-bührensteigerungen noch mehr zahlen. Das ist das Endevom Lied.Auch hier bemühe ich gar nicht meine Statistikenoder Erfahrungen aus meiner Kommune, sondern dafürgibt es offizielle Zahlen, die jetzt schon deutlich machen,dass 46 Prozent der Kommunen in Deutschland darübernachdenken, ihren Grundsteuerhebesatz zu erhöhen, umeine einigermaßen erträgliche Einnahmesituation vorzu-finden. Wenn Sie über Abgaben keine ausreichendenEinnahmen erreichen, werden sie ihre Gebühren fürBibliotheken, Kultureinrichtungen wie Theater undsonstige Bereiche erhöhen, die von Frau von der Leyenach so sozial gefördert werden sollen. Sie geht ja förm-lich in der Aufgabe auf, dass all unsere Kinder eine Bil-dungschance haben. Ich muss Ihnen sagen: Das istheuchlerisch, weil Sie auf der einen Seite den Kommu-nen und damit den Menschen vor Ort die Gelder nehmenund auf der anderen Seite so tun, als gäben Sie ihnenganz generös, ganz großzügig Gelder zurück. Das sinddann diejenigen, von denen Sie sagen, es seien keineLeistungsträger, sondern Menschen, die alimentiert wür-den.Sie hätten in den zurückliegenden Monaten, seitdemSie die Verantwortung haben oder wenigstens hättenübernehmen sollen – Sie sollen endlich einmal dazu ste-hen, dass Sie Verantwortung haben –, dazu beitragenkönnen, dass die Kommunen entlastet werden. Abernein, was machen Sie? Sie setzen eine Kommission ein,die letzten Endes keinen anderen Auftrag hat, als die Ge-werbesteuer abzuschaffen.
In der zurückliegenden Wahlperiode haben wir gemein-sam alle Gutachter gehört, die es zu diesem Thema über-haupt gibt, und dann festgestellt, dass es keine Alterna-tive zur Gewerbesteuer gibt.
Jetzt bin ich gespannt, was aus diesem großen Überra-schungspaket herauskommen wird; denn wir bekommenim Fachausschuss, dem Finanzausschuss, auf die Nach-frage, wie weit der Stand der Umsetzung sei, immer nureinen Brosamen hingelegt, ohne dass wir tatsächlich da-rauf reagieren könnten. Wir haben in der Großen Koali-tion dafür gesorgt, dass in unserem Land ordentlich mitder Finanz- und Wirtschaftskrise umgegangen wurde.Nicht zuletzt war es unser Finanzminister PeerSteinbrück, der sehr intelligente Konzepte auf den Tischgelegt hat, etwa das Konjunkturpaket, aber auch intelli-gente Konzepte, um die Kommunen zu entlasten.Das einzige, was in dieser Wahlperiode bei IhrerKlientelpolitik herausgekommen ist, ist die Entlastungder Hoteliers. Außerdem haben Sie dazu beigetragen,dass die Kommunen weitere Steuerausfälle hinnehmenmussten. Auch im Bereich der Unternehmensteuern ha-ben Sie entsprechende Kürzungen zulasten der Kommu-nen vorgenommen. Ihre Steuer- und Finanzpolitik ist ab-solute Klientelpolitik.
– Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedrig-lohnbereich, weil Sie sich doch standhaft weigern, einenMindestlohn einzuführen. Sie sagen zwar immer, wirbrauchten ihn nicht, weil Tarife eingehalten würden;aber wenn doch alles so klar ist, warum trauen Sie sichdann nicht, diesen Schritt mit uns zu gehen und einenMindestlohn einzuführen? Wissen Sie denn eigentlich,wie viele Steuern und Abgaben ein Alleinstehender, dergerade einmal 8,50 Euro bekommt – das wäre gerade soeben ein Mindestlohn – zu leisten hat? Davon haben Siegar keine Idee, weil Sie sich in ihn gar nicht hineinver-setzen können.
Dieser Alleinstehende, der gerade einmal 8,50 Euro ver-dient – es muss richtig heißen: erhält; er verdient eigent-lich mehr –, zahlt 270 Euro an Abgaben und 70 Euro anSteuern. Wenn wir über ein Konzept reden, dann gehö-ren die Abgaben und Steuern dazu, um tatsächlich denMenschen helfen zu können.Zum Antrag der Linken muss ich Ihnen sagen – –
– Damit Sie alle mitbekommen, was der Herr hier lä-chelnd gesagt hat: Endlich komme ich zum Antrag. –Wissen Sie mein lieber Kollege, wenn Sie so mit denNöten der Menschen umgehen, dann wundert es michauch nicht, dass Sie nicht nachvollziehen können, wa-rum wir einen Mindestlohn brauchen.
Damit Menschen von ihrer Arbeit leben können! Überdiese Menschen müssen wir uns unterhalten
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6830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Petra Hinz
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und nicht über die, die sehr viel Vermögen haben und fürdas Gemeinwohl etwas geben können. Nur dann, wennwir insgesamt das Gemeinwohl stärken, können wir allesdas angehen, was meine Kollegin schon sehr deutlichangesprochen hat: Bildung, Sicherheit vor sozialen Not-lagen, öffentliche Infrastruktur.
Zum Antrag der Linken ganz kurz. Auch ich musssagen: Er ist leider ein Sammelsurium von vielen Punk-ten, über die man im Einzelnen reden müsste.
Die eine oder andere Darlegung, die Sie im Rahmen Ih-rer Statistik gemacht haben, ist für uns nicht ganz nach-zuvollziehen. Insofern bin ich auf die Diskussion imAusschuss gespannt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Daniel Volk.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren Kollegen! Frau Hinz, ich fand es ge-rade sehr faszinierend,
dass Sie aufgezählt haben, was wir in den letzten zwölfMonaten alles nicht gemacht haben,
aus Ihrer Sicht aber hätten machen müssen.
Sie hatten elf Jahre Zeit, um all das, was Sie hier alsWunschkalender aufgeblättert haben, in Regierungsver-antwortung umzusetzen. Angesichts dessen war Ihr Bei-trag in diesem Hause ein großes Armutszeugnis.
– Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie nicht allein regie-ren durften, kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Siesich einmal an, wie wir in der christlich-liberalen Koali-tion in bester Partnerschaft Regierungspolitik zumWohle unseres Landes gestalten,
im Gegensatz zu der Finanzpolitik Ihrer SPD-Finanz-minster – einer ist jetzt bei der Linkspartei; das ist so –,gerade im Bereich der Kommunalfinanzen.Sie beklagen jetzt, dass die Kommunen zu wenigEinnahmen hätten, zu wenig Finanzmittel zur Verfügunghätten.
Diese Situation war bereits im Jahre 2009 gegeben, unddas war ja wohl noch zur Zeit Ihrer Regierungsverant-wortung.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass dieÜbertragung von Aufgaben an die Kommunen, ohne ih-nen gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel zurVerfügung zu stellen, ein sehr beliebtes Projekt der da-maligen rot-grünen Bundesregierung war. Das müssenSie der Ehrlichkeit halber auch einmal erwähnen.
Ich fand die bisherige Debatte sehr faszinierend. Eshat sich gezeigt, was eine rot-grüne oder rot-grün-roteRegierung in diesem Land machen würde.
Frau Kressl hat uns dargelegt
– pastoral –, man müsse sich zunächst Gedanken darübermachen, wie viel Geld der Staat brauche,
erst danach müsse man überlegen, wie hoch die Steuer-belastung sein müsse.
Ich kann dazu nur sagen: Jeder Bürger dieses Landessollte bei einem solchen Ansatz Angst bekommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6831
Dr. Daniel Volk
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Sie haben in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüneMinderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei.
Das Erste, was diese rot-grüne Minderheitsregierung un-ter Duldung der Linkspartei macht, ist, deutlich – ganzdeutlich – in die Erhöhung der Neuverschuldung zu ge-hen.
Das ist keine seriöse Finanzpolitik. Sie würden Selbigesauf Bundesebene genauso machen. Sie würden wahr-scheinlich das eine oder andere Lieblingsprojekt derLinkspartei finanzieren, damit die Linkspartei Sie dul-det.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht unser Ansatz-punkt.
Unser Ansatzpunkt ist zunächst, sich zu überlegen,wie eine Balance, ein vernünftiger Ausgleich
zwischen den staatlichen Aufgaben und der Steuerlastder Bürger aussieht.
Ich will einmal ganz klar sagen, was Sie machen wür-den. Sie haben ja die Maßnahmen genannt.Es würde eine Vermögensabgabe geben. Sie, FrauPaus, haben ja bestätigt, dass Sie eine Vermögensabgabeeinführen wollen.
Sie würden also auf die Vermögen zugreifen. Ich findees übrigens sehr putzig, dass die Linkspartei eine Vermö-gensteuer in Höhe von 5 Prozent will. Das würde dazuführen, dass diejenigen, die ihr Geld relativ sicher bzw.konservativ anlegen – Kollege Gutting hat es ausgeführt –,aus der Rendite gar nicht die Steuern bezahlen könnten.Sie würden damit die Vermögenden zu hochriskantenSpekulanten machen.
Ihnen bliebe gar nichts anderes übrig. Das ist ja etwas,was Sie ansonsten bekämpfen und verurteilen.
Frau Kressl hat dann gesagt, was in einem anderenBereich kommen würde, wenn es eine linke Mehrheit indiesem Land geben würde und diese an die Macht käme.Diese würde – Sie sagen das so schön – für eine Versteti-gung der Gewerbesteuer sorgen.
Aber was steckt hinter der Forderung nach einer Verste-tigung der Gewerbesteuer? Eine massive Substanzbe-steuerung.
Damit gefährden Sie Arbeitsplätze. Damit gefährden SieBetriebe. Sie provozieren damit, dass Betriebe inDeutschland Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland zie-hen. Nur so wäre für sie nämlich eine wirtschaftliche Be-triebsführung überhaupt noch möglich.
Es ist also sehr interessant, was passieren würde,wenn eine linke Mehrheit in diesem Land die Machtübernehmen würde: Wir hätten eine Vermögensteuer, esgäbe eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, übrigensmit entsprechenden Folgen auch für die darunterliegen-den Einkommensklassen.
Über die Gewerbesteuer würde eine Substanzbesteue-rung vorgenommen. Im Übrigen gäbe es bei der Erb-schaftsteuer vermutlich eine derartige Verschärfung,dass Erben von solchen Kleinunternehmen, die inner-halb der Familie weitergegeben werden sollen, so starkzur Kasse gebeten werden, dass sie gezwungen wären,diese Unternehmen plattzumachen.
Das ist keine wirtschaftlich sinnvolle Politik.Was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist, zeigt dieseBundesregierung. Schauen Sie sich die Arbeitsmarktda-ten an. Dann sehen Sie, was wirtschaftlich sinnvollePolitik ist. Leistung muss sich wieder lohnen. Leistungkann erbracht werden, wenn die Arbeitslosenzahlen sin-ken. Das ist der Kurs unserer christlich-liberalen Koali-tion.Vielen Dank.
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6832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Nun hat das Wort der Kollege Dr. Thomas Gambkefür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Frau Paus hat esschon gesagt: Angesichts der Mehreinnahmen in Höhevon 179 Milliarden Euro, davon 40 Milliarden Euro vonden Unternehmen, könnte man für Nichtbefassung plä-dieren und sagen: Wir reden nicht weiter darüber. Aberdie Themen Steuergerechtigkeit und solide Finanzierungdes Staates haben eine große Bedeutung. Ich will des-halb zu zwei Punkten etwas sagen: Unternehmensteuernund Reform der ermäßigten Umsatzsteuersätze.Unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit istes natürlich richtig, dass Unternehmen einen Beitragzur öffentlichen Daseinsvorsorge, zur kommunalen In-frastruktur leisten. Eine Verlagerung dieser Steuerlastvon den Unternehmen auf die Bürgerinnen und Bürgerist inakzeptabel.
Unsere Kommunen stellen die Infrastruktur für die Un-ternehmen bereit. So ist es nur angemessen und gerecht,wenn die Unternehmen auch an den Kosten beteiligtwerden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Fachkräfte-mangel begegnet man mit besserer Bildung; diese mussfinanziert werden. Unternehmen brauchen schnelle Da-tennetze; auch diese müssen finanziert werden. Es istalso ein Gebot der Steuergerechtigkeit, Unternehmen ander Finanzierung der entsprechenden Ausgaben zu betei-ligen.
– Hören Sie zu.So ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlageder Gewerbesteuer auf die freien Berufe überfällig.
Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein Architekt für eineStatikberechnung keine Gewerbesteuer zahlt, aber einIngenieurbüro für dieselbe Leistung gewerbesteuer-pflichtig ist.
Herr Volk, natürlich muss die Anrechenbarkeit der Ge-werbesteuer auf die Einkommensteuer berücksichtigtwerden; natürlich ergibt sich dadurch eine Verschiebungder Steuereinnahmen von Bund und Ländern zu denKommunen.
Unter der Maßgabe der Aufkommensneutralität würdeein geringes Mehraufkommen vielleicht sogar Spielraumfür eine Senkung der Gewerbesteuer schaffen. Ich per-sönlich bin der Auffassung, dass mit der Erweiterung aufdie freien Berufe der Druck bei der Hinzurechnung ge-nommen würde.Steuergerechtigkeit heißt, alle Gewerbetreibenden zurFinanzierung der kommunalen Infrastruktur heranzuzie-hen und dabei auch die Leistungsfähigkeit der Unter-nehmen zu berücksichtigen.
Es geht um eine faire Belastung von Konzernen undkleinen Unternehmen. Es gibt Hinweise darauf, dasszum Beispiel die Sparkassen und Genossenschaftsban-ken einen größeren Anteil an der Gewerbe- und Körper-schaftsteuer zahlen als die Geschäftsbanken. Auch beiden Unternehmensteuern müssen wir auf einen fairenAusgleich achten. Wir müssen die großen Konzerne ge-nauso heranziehen wie die kleinen Unternehmen. Esmuss ausgewogen sein; dort, wo es nicht ausgewogenist, müssen wir Steuergerechtigkeit herstellen.
Kommen wir zur Umsatzsteuer. Ich hätte vermutet,dass uns der ordnungspolitische Sündenfall der Koali-tion vor weiteren Maßnahmen bewahren würde. Dennwir wollen nicht weiter in das Gestrüpp der Ausnahmen,der verminderten Mehrwertsteuersätze, gehen. Mankann es fast als amüsant bezeichnen, dass sich die Frak-tion der Linken hier zum Sprachrohr der Pharmalobbymacht,
wenn es nicht solch eine fatale Fehleinschätzung wäre.
Das Gleiche gilt für die Forderung nach einer Ermäßi-gung bei Kinderartikeln. Nein, die Umsatzsteuer ist nichtdas geeignete Instrument, um zielgerichtet zu fördernund zu unterstützen; sie ist das falsche Instrument. Daswissen wir doch letztendlich aus der Diskussion um dieHotelbeglückungssteuer.
Wir Grüne schlagen eine sofortige Abschaffung derrein branchenspezifischen und nicht ausreichend begrün-deten Ermäßigungen bei der Umsatzsteuer vor. Dazuzählen wir die Ermäßigung auf Übernachtungen in denvon Ihnen beglückten Hotels, die von der CSU durchge-setzte Ermäßigung für Skilifte sowie Ermäßigungen fürSchnittblumen und Sportpferde. Durch eine Abschaf-fung erzielen wir zusätzliche Steuereinnahmen von 3 bis4 Milliarden Euro. Das wäre ein schneller, sofort zu re-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6833
Dr. Thomas Gambke
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alisierender Beitrag zur Steuergerechtigkeit und zur Sta-bilisierung der staatlichen Einnahmen.
Herr Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Lutze?
Gerne.
Herr Kollege, Sie haben schon einige Bereiche aufge-
zählt, in denen Sie die Ermäßigung der Mehrwertsteuer
aufheben wollen. Ist Ihnen klar, dass Sie damit auch den
öffentlichen Nahverkehr treffen, bei dem zurzeit ein
ermäßigter Steuersatz erhoben wird?
Mir ist vollkommen klar, dass hier ein ermäßigter
Steuersatz erhoben wird. Wenn Sie mir noch etwas zuhö-
ren, werden Sie meine Aussage dazu hören.
Herr Dautzenberg von der CDU/CSU zitiert richtig
aus dem Beschluss der Bundestagsfraktion der Grünen
vom Juli dieses Jahres. Er sagt nämlich: Wir müssen Le-
bensmittel, den öffentlichen Nahverkehr und die Kultur
bei der Streichung von Mehrwertsteuerermäßigungen
ausnehmen.
Natürlich müssen wir nach einem ersten Schritt der
Abschaffung von Branchensubventionen – Hotelbeglü-
ckung – die verbleibenden Abgrenzungsschwierigkeiten
lösen. Sie können aber Herrn Finanzminister Schäuble
davon leider nicht überzeugen. Zudem verteidigt die
CSU – so hört man – noch immer eifrig ihre Klientelge-
schenke.
Die Koalition drückt sich vor Reformen in diesem
schwierigen Feld.
Das gilt für die überfällige Reform der Mehrwertsteu-
ersätze genauso wie für die staatliche Forschungsförde-
rung. Angesichts der Kürzungen im sozialen Bereich im
Rahmen der Sparbeschlüsse der Bundesregierung ist es
schlicht ein Skandal, hier nicht weiterzumachen.
Lassen Sie mich zum Schluss auf das eigentliche An-
liegen der Linken zurückkommen. Ja, wir müssen um
mehr Steuergerechtigkeit kämpfen. Ja, ein wichtiger
Beitrag dazu kann sein, weniger Ausnahmen bei der
Umsatzsteuer zuzulassen, ebenso eine Gewerbesteuer,
die um die freien Berufe erweitert ist, und ein Unterneh-
mensteuerrecht, das kleine und mittlere Unternehmen
fördert und die Steuergestaltung der großen Konzerne
verhindert. Das müssen wir umsetzen.
Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Hans Michelbach ist der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! HerrGysi wirft in diesen Tagen seiner Partei Selbstbeschäfti-gung vor. Er muss den vorliegenden Antrag gemeint ha-ben. Interessant und bunt wird es, wenn sich die verei-nigte Opposition darüber streitet, wer am bestenUmverteilungsorgien gestalten kann.
Wir sollten dabei nicht mitmachen. Der einzige Vorteildieses Antrages ist, dass wir über die Zukunftsfähigkeitder Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik debattierenkönnen.Ich sage frank und frei – das möchte ich für dieUnionsfraktion festhalten –: Die CDU/CSU-Fraktionmöchte nach wie vor eine aktive Steuerpolitik betreiben,um den gezielten Konsolidierungs- und Wachstumskurszur Krisenbekämpfung erfolgreich zu gestalten. Dazugehört für uns prioritär zunächst einmal eine Verbesse-rung unseres Steuersystems durch eine umfassendeSteuervereinfachung. Wir werden im Januar des kom-menden Jahres hierzu einen konkreten Vorschlag unter-breiten. Die Arbeiten dafür sind von vielen, auch von derKollegin Tillmann und unserer Arbeitsgruppe, intensivvorbereitet worden.Wir wollen eine neue ordnungspolitische Linie imSteuersystem, sowohl bei der Mehrwertsteuer als auchbei der Einkommensteuer erreichen, Herr Gambke. Wirwerden eine Kommission einsetzen.
Wir werden die Abgrenzungen und die neuen Weichen-stellungen mit einer Mehrwertsteuerreform bei den er-mäßigten Mehrwertsteuersätzen vornehmen. Wir werdendie Mehrwertsteuerreform zügig angehen und nicht aufdie lange Bank schieben, weil die momentane Situationnicht so bleiben kann. Nun zu sagen: „Es waren dieWünsche der einzelnen Fraktionen, die zu den schwieri-gen Abgrenzungen geführt haben“, ist falsch. Ich kannmich an die lange, intensive Diskussion mit der KolleginScheel über Schnittblumen noch sehr gut erinnern. Siemüssen beachten, wer zu welchem Sachverhalt beigetra-gen hat.
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6834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Dr. h. c. Hans Michelbach
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Wenn der ermäßigte Mehrwertsteuersatz künftig aufden Bereich der Daseinsvorsorge – Lebensmittel undkulturelle Leistungen; auch den öffentlichen Personen-nahverkehr halte ich für wichtig – beschränkt werdenwürde, könnten wir dadurch erzielte Einsparungen ver-wenden, um die kleinen und mittleren Einkommen inVerbindung mit einer Steuervereinfachung zu entlasten.Wir müssen auf ein Volumen in Höhe von etwa5 Milliarden Euro kommen, um die unteren und mittle-ren Einkommen, insbesondere was den Mittelstands-bauch anbelangt, zu entlasten. Das muss unser Ziel sein.Ohne einen Leistungsanreiz werden wir nicht dieWachstumsziele erreichen, die wir erreichen wollen. Esmuss unser Ziel sein, unser Konzept konzentriert voran-zubringen, und das werden wir auch tun.
Wir haben mit dem Haushaltsbegleitgesetz unserVorhaben in ein Konzept eingebunden. Es geht nichtohne Ausgabenreduzierungen. Man kann die Überschul-dung nicht nur über die Einnahmeseite bekämpfen.
Auch die Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenredu-zierung gehört dazu. Deswegen wollen wir auf beidenSeiten etwas tun. Bei den Verbrauchsteuern haben wirdort eine Erhöhung vorgesehen, wo wir es für sinnvollund notwendig erachten, aber wir wollen keine Ertrag-steuererhöhungen, weil letzten Endes dadurch dieGrundsätze für die Zukunftsgestaltung, die Eigenkapital-bildung sowie die Konsummöglichkeit gestaltet werden.Es wäre absolut kontraproduktiv, wenn wir in diesemBereich etwas tun würden.Wir haben bereits – das war wesentlich für die Kri-senbekämpfung – die unteren und mittleren Einkommenentlastet. Was wir getan haben, ist familienfreundlich.Eine Familie mit zwei Kindern wird durch die hohenFreibeträge erst ab einem Einkommen von 36 000 Euroin die Besteuerung kommen. Das ist gute Steuerpolitik.
Wir wollen, dass wir mehr Steuerzahler und wenigerTransferempfänger haben. Ich habe den Eindruck, dassSie grundsätzlich mehr Transferempfänger haben wol-len.
Das ist natürlich ein völlig falscher Ansatz, den Sie auchin Ihrem Antrag verfolgen.Unser Ziel ist es, den Haushalt zu konsolidieren, dieSchuldenbremse einzuhalten und die Staatsfinanzen zu-kunftsfest zu machen, auch um Währungssicherheit zuschaffen. Unser Ziel ist es auch, Arbeit und Wohlstandfür alle zu erreichen. Das geht nur mit einer gerechtenBesteuerung, die Leistungswillige und Leistungsfähigenicht überfordert. Es ist notwendig, Leistungsanreize zuschaffen. Leistung muss sich lohnen.
Wenn Leistung sich lohnt, dann lohnt sie sich auch fürden Fiskus. Nur so wird ein Schuh daraus. Jede Steuer-statistik zeigt, dass der Fiskus die besten Ergebnisse ver-zeichnet, wenn der Wirtschaftskreislauf funktioniert.Unser Fiskus steht im internationalen Steuerwettbe-werb. Dem müssen wir uns stellen. Man kann nicht ein-fach so tun, als wäre man allein auf der Welt.
Der von Ihnen eingebrachte ideologische Gegenentwurfist kein Ausweg aus der Krise. Er ist ein Irrweg. IhrKonzept führt nicht aus der Krise, sondern es ist eher einWeg zurück.
Wir dürfen uns nicht den Dingen widmen, die viel-leicht zurück zu einer Kommando- und Staatswirtschaft,sonst aber zu keinem Ergebnis führen. Schauen Sie sichdie Statistik über die Steuerzahler und die Belastungs-wirkungen an. Die Verbrauchsteuern betreffen alle Men-schen gleichermaßen. Wer einen Verbrauch hat, zahlt na-türlich dafür. Derjenige, der mehr Geld zur Verfügunghat und somit mehr konsumiert, muss natürlich mehrVerbrauchsteuern zahlen. Wichtig ist deshalb die Grund-lage der Einkommensteuerstatistik. Es ist so, wie derKollege Dr. Steffel gesagt hat:
Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler zahlen 5 Pro-zent, die oberen 50 Prozent zahlen 95 Prozent des Steu-eraufkommens.
Das ist die Realität.Jetzt sagt Herr Troost, dass die Einkommenskonzen-tration betrachtet werden muss. Es gibt in diesem Land9 500 Einkommensmillionäre. Wenn diese über Anlage-oder Betriebsvermögen verfügen, dann leisten sie auchautomatisch eine Gemeinwohlarbeit; denn sie stellen Ar-beitsplätze zur Verfügung. Sie können diese Menschennicht einfach aus dem Land treiben. Gönnen Sie ihnendoch, dass sie mehr haben. Sie tragen auch mehr Risikound mehr Verantwortung für dieses Land. Sie sind sichim Großen und Ganzen – wir müssen sie im Einzelnenbetrachten – ihrer Verantwortung gegenüber dem Ge-meinwohl und den Arbeitsplätzen in diesem Land sehrwohl bewusst. Wir können es nicht zulassen, dass dieseLeute an den Pranger gestellt werden.
Ob Spitzensteuersatz, Solidaritätszuschlag oder auchdie Vermögensteuer: Sie wollen, dass wir die Leute invielen Bereichen mit einem Satz von über 50 Prozent be-steuern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6835
Dr. h. c. Hans Michelbach
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Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist zu kurz gedacht. WennSie zum Beispiel die Vermögensteuer auf Anlagevermö-gen und Immobilien erheben, dann führt das zu einer Er-höhung auch der Mieten; das muss man ganz klar sehen.Wenn die Menschen zusätzlich belastet werden, dannreichen sie die Kosten dafür natürlich weiter. Es ist alsoalles zu kurz gedacht. Das ergibt in diesem Fall alles kei-nen Sinn.Gleiches gilt für die Gemeindewirtschaftsteuer, dieSie anstelle der Gewerbesteuer fordern. Dazu kann ichIhnen nur sagen: Wenn die Betriebe keinen Gewinn ma-chen, es also zur Substanzbesteuerung kommt, dannmüssen sie die Steuern praktisch aus ihren liquiden Mit-teln zahlen. Das kommt einem Anschlag auf diese Be-triebe gleich. Das kann nicht sein. Sie müssen mit Ver-nunft an die Steuerpolitik herangehen. Natürlich brauchtder Staat Geld. Die Leistungsfähigkeit muss aber erhal-ten bleiben. Das kann nur durch Leistungsanreize ge-schehen. Leistung muss sich lohnen. Dafür ist die Steu-erpolitik eine wesentliche Voraussetzung. Steuerpolitikist Gesellschaftspolitik. Wir wollen Wohlstand und Ar-beit für alle. Das geht nur mit einer Steuerpolitik derVernunft, wie wir sie betreiben.Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörer! Aus dem Sammelsurium an Vorschlägenfür Steuererhöhungen möchte ich einen herausnehmen,der die Kommunalpolitik betrifft. Sie haben heute erneutversucht, Fakten zu schaffen und die Gewerbesteuer zuverändern,
ohne die Ergebnisse der Gemeindefinanzkommissionabzuwarten. Ich weiß nicht, warum Sie so viel Angst vorden Ergebnissen der Gemeindefinanzkommission habenund warum Sie nicht die Ruhe haben, die Ergebnisse, dieim Herbst vorliegen sollen, abzuwarten. Ich finde esdenjenigen gegenüber, die in der Kommission viel Zeitund Mühe investieren und Vorschläge erarbeiten, unfair,die Ergebnisse nicht abzuwarten. Herr Kollege Troost,erst recht finde ich es unfair, dass wir die Debatte hierführen, wo die kommunalen Vertreter nicht mitdiskutie-ren können. In der Kommunalkommission dürfen siemitgestalten. Es ist das gute Recht der Vertreter derKommunen und der kommunalen Spitzenverbände, überdie Zukunft der kommunalen Steuern mitzuentscheiden.
Wir werden diese Ergebnisse abwarten und mit den Ver-tretern der Kommunen und der kommunalen Spitzenver-bände gemeinsam nach Lösungen suchen.Auch inhaltlich kann ich Ihrem Antrag nichts abge-winnen. Sie wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemein-dewirtschaftsteuer umarbeiten
und sprechen in diesem Zusammenhang von Mehrein-nahmen in Höhe von 7 Milliarden bis 14 Milliarden Euro.
Da kann ich Frau Kollegin Paus nur zustimmen: Sie ge-hen mit den Milliardenbeträgen recht locker um. Für dieUnternehmer spielt es schon eine Rolle, ob sie 7 oder14 Milliarden Euro Steuern mehr zahlen sollen.
Ich hätte mich gefreut, wenn dieser Antrag etwas seriö-ser ausgestaltet gewesen wäre. Dann hätte man sich in-haltlich besser mit ihm befassen können.
Es wird behauptet, dass die Hinzurechnung der Ge-werbetreibenden dazu führt, dass die Schwankungen beider Gewerbesteuer nicht so hoch ausfallen. Die Erfah-rungen zeigen aber genau das Gegenteil: Die Hinzurech-nung der Finanzierungsaufwendungen führt nicht zu ei-ner Stabilisierung des Gewerbesteueraufkommens. DieUnternehmen werden dadurch vielmehr zusätzlich in dieKrise geführt, und zwar nicht die reichen Unternehmen,die Sie immer besteuern wollen, sondern die Unterneh-men, die geringe Gewinne oder gegebenenfalls sogarVerlust machen. Diesen Unternehmen wollen Sie in derVerlustphase zusätzliche Steuern aufbürden, was mit Si-cherheit Arbeitsplätze gefährden würde. Das werden wirnicht mitmachen. Ganz im Gegenteil: Wir werden versu-chen, die ertragsunabhängigen Komponenten zurückzu-nehmen, und hierfür einen Ausgleich für die Kommunenfinden. Dazu werden wir gemeinsam mit der Kommis-sion Vorschläge unterbreiten.
Herr Kollege Gambke, ich bin kein großer Fan derAusweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler, undzwar nicht, weil ich als Steuerberaterin selbst davon be-troffen wäre – Sie wissen selbst, dass mich das aufgrundder Anrechnung auf die Einkommensteuer nicht belastenwürde –, sondern weil wir uns in anderen Gremien vielMühe machen, um die Bürokratiekosten zu senken. Waswürde die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberuflerbedeuten? Wir haben in Deutschland 1 Million Freiberufler.Das würde 1 Million zusätzliche Gewerbesteuererklärun-gen, 1 Million zusätzliche Gewerbesteuermessbescheideund 1 Million zusätzliche Gewerbesteuerbescheide be-deuten. Das wären 3 Millionen zusätzliche Vorgänge,durch die keine Mehreinnahmen erzielt würden;
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6836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Antje Tillmann
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denn in ganz großem Umfang würde das über die Ein-kommensteuer ausgeglichen werden. Dazu sage ich Ih-nen sehr ernsthaft: Es wäre besser, wenn der Bund dasGeld einfach so an die Kommunen überweist. Die Büro-kratie und die damit verbundenen Kosten könnten wiruns dann sparen.
– Das darf er sehr wohl. Natürlich kann er das. Er kannden Kommunen Aufgaben entziehen und in die eigeneZuständigkeit überführen. Wir sind verfassungsrechtlichbeschlagen genug, um Möglichkeiten dafür zu finden. Inder Krise hat er das ja auch getan.Frau Kollegin Hinz, ich bin froh, wenn Wahrheitenkomplett dargestellt werden. Es wäre nett, wenn Sie mirzuhören würden, wenn ich mit Ihnen rede. Sie könnendas aber auch im Protokoll nachlesen. Es gab keinePhase, in der die Kommunen stärker belastet wurden alszwischen 2002 und 2005.
SPD-Regierungen haben die Kommunen fast in den Ruingetrieben. Erst seit 2005 verbessert sich die Einnahmesi-tuation der Kommunen wieder, nicht zuletzt aufgrund der10 Milliarden Euro, die mit dem Konjunkturpaket zurVerfügung gestellt wurden, durch das CO2-Gebäudesa-nierungsprogramm und durch die Arbeit der Gemeinde-finanzkommission. Ich glaube, wir alle sind sicher, dasswir die Arbeit dieser Kommission nicht ohne Ergebnisbeenden können.Herr Kollege Troost, ich komme zum Thema Gewer-besteuerumlage. Auch diesbezüglich teile ich die Aus-sage der Kollegin Paus: Es macht keinen Spaß, sich mitIhnen auseinanderzusetzen. Sie hören einfach nicht zu.Selbst wenn Sie ein Argument aufgegriffen haben, hältSie das nicht davon ab, den gleichen Blocksatzantrag,den Sie hier schon fünfmal gestellt haben, ein weiteresMal zu stellen. Die Gewerbesteuerumlage hilft natürlichnur den Kommunen, die viel Gewerbesteuer abführen.Vom Bund kämen dann zwar 1,2 Milliarden Euro, 2 Mil-liarden Euro von den Ländern. Ich kenne keinen einzi-gen Antrag der Linken in den Ländern, in dem darumgebeten wird, auf die Gewerbesteuerumlage zu verzich-ten. Sie machen das hier immer sehr öffentlichkeitswirk-sam, aber Fakten schaffen Sie nicht.Ich bin sehr gespannt, ob Sie diesmal in den Haus-haltsberatungen den Antrag stellen, der Bund solle auf1,2 Milliarden Euro verzichten. Ich möchte ein Beispielnennen, das zeigt, wie sich das auswirken würde: DieStädte Coburg und Frankfurt am Main hatten beispiels-weise im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen proEinwohner von 2 600 bzw. 2 700 Euro; Weimar und Del-menhorst liegen hier bei 190 Euro. Wenn Sie also dieGewerbesteuerumlage abschaffen würden, würden SieStädten helfen, die sowieso ein hohes Gewerbesteuerauf-kommen haben; Städten, die erhebliche finanzielle Sor-gen haben, würde das gar nicht nützen.
Das Blöde an der Diskussion ist, dass Sie so etwas zuge-stehen. Sobald die Kameras abgestellt sind, sagen Sie,dass genau das das Problem ist. Einen Monat später aberlegen Sie denselben Antrag mit denselben Vorschlägen,die Sie vorher als unsinnig dargestellt haben, erneut vor.
Während Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen derLinken aus dem Finanzausschuss, sich als Retter derKommunen üben, werfen Ihre Sozialpolitiker die Haus-halte der Kommunen verbal komplett über den Haufen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Troost?
Gerne.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Tillmann, es ist in der Tat so – das wis-
sen wir –, dass das Gewerbesteueraufkommen zwischen
den Kommunen, zwischen unterschiedlichen Strukturen
von Städten, zwischen Großstadt und Umlandgemeinden
und auch zwischen Ost und West sehr stark differiert.
Deswegen sagen wir aber nicht, dass wir jetzt keine Ge-
werbesteuer mehr wollen. Wir wollen vielmehr eine eher
gerechtere Verteilung.
Daher fordern wir die Einführung einer Gemeindewirt-
schaftsteuer, bei der die freien Berufe einbezogen wer-
den, die wesentlich weniger streuen als Gewerbebe-
triebe. Das werden auch die Ergebnisse der Kommission
zeigen. Es ist nicht unser Konzept, sondern das Konzept
des Deutschen Städtetages, das wir hier vortragen. Na-
türlich profitieren erst einmal diejenigen Kommunen be-
sonders, die ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben
bzw. dieses schon immer hatten. Die anderen bekommen
durch andere Zuweisungen mehr. Das würde zu einer
ersten Entlastung der Kommunen führen; denn es gibt
keine anderen Schritte, um die Haushalte auf der kom-
munalen Ebene für 2011 und 2012 einigermaßen zu sta-
bilisieren.
Lieber Kollege Troost, selbstverständlich gibt es an-dere Schritte, und wir werden Ihnen zusammen mit derGemeindefinanzkommission diese Schritte aufzeigen.
Ich hatte gehofft, dass Sie mir jetzt erklären, warumSie immer noch bei Ihrem Antrag zur Abschaffung derGewerbesteuerumlage bleiben. Das haben Sie jetzt nichtgetan.
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Antje Tillmann
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– Dazu haben Sie jetzt nichts gesagt. – Ich würde jetztgern auf Ihre Frage reagieren. Sie haben behauptet, dassdie Verwerfungen bei freiberuflichen Einkommen nichtso stark sind wie bei Gewerbetreibenden. Das kann ichnicht nachvollziehen. Sowohl die Ärzte als auch dieSteuerberater und die Wirtschaftsprüfer in den neuenLändern erzielen natürlich andere Einkommen als die inden alten Ländern. Also werden die Verwerfungen blei-ben. Wir können diese Diskussion gern fortführen.
Ich glaube, dass Sie übersehen haben, dass die Gewerbe-steuerumlage eingeführt worden ist, um die Verwerfun-gen bei der Gewerbesteuer zwischen den Gemeinden zuändern. Sie nicken; Sie wissen das. Sie ziehen darausaber keine Schlüsse. Ich finde nach wie vor, dass dieserAntrag sinnlos ist. Sie haben in den Haushaltsberatungenja die Möglichkeit, dies erneut zu beantragen.
– Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich auf dem einen Ohrnicht ständig Ihre Zwischenrufe hören müsste; denn daslenkt mich von meiner Rede ab.Lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt anspre-chen. Ich wiederhole: Während Sie als Finanzpolitikersich als Retter der Kommunen darstellen, schmeißen IhreSozialpolitiker die Haushalte der Kommunen vollendsüber den Haufen. Ich lese, dass Ihr Parteivorsitzender ei-nen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 500 Euro fordert.Schon die Erhöhung des Regelsatzes um 5 Euro kostetdie Kommunen jährlich 143 Millionen Euro. Jede Erhö-hung bei Hartz IV hat natürlich Folgen beim SGB II undbei der Grundsicherung im Alter. Eine Regelsatzerhö-hung auf 500 Euro würde die Kommunen jährlich 4 Mil-liarden Euro kosten. Schon diese 5 Euro, jährlich143 Millionen Euro, führen in vielen Kommunen zu mas-siven Problemen. Wir werden auch das in der Kommis-sion besprechen müssen.Das von Frau Hinz und anderen heftig kritisierte Bil-dungspaket ist aber genau das Gegenteil; dadurch wer-den die Kommunen tatsächlich entlastet. Ich nehme daskostenlose Mittagessen als Beispiel. Zahlreiche Kom-munen finanzieren auch heute schon für bedürftige Kin-der ein kostenloses Mittagessen in Kindergärten undSchulen. Die Kosten in Höhe von 2 Euro pro Kind undMahlzeit übernimmt in Zukunft der Bund; dafür inves-tiert er 120 Millionen Euro. In vielen Städten gibt es So-zialtickets, durch die bedürftige Kinder bei dem Besuchvon kulturellen Veranstaltungen oder bei der Partizipa-tion in Sportvereinen unterstützt werden. Auch hier wirdder Bund im Rahmen des Bildungspakets in ZukunftKosten übernehmen. Für diesen Bereich stehen insge-samt 500 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Geldkommt bei den Menschen auch tatsächlich an.Am Beispiel der Stadt Erfurt kann ich das nachwei-sen. Erfurt ist eine Stadt mit 200 000 Einwohnern. Fürdas kostenlose Mittagessen zahlt die Stadt 800 000 Euro,die Kosten für die Verpflegung in den Kitas betragen1,5 Millionen Euro, die Kosten für die Unterstützungvon Kindern in einer Musikschule belaufen sich auf150 000 Euro, und die Kosten für die Förderung bedürf-tiger Kinder in einer Schülerakademie beziffern sich auf40 000 Euro. Diese insgesamt über 2 Millionen Eurowerden der Stadt künftig über die Bundesagentur für Ar-beit vom Bund erstattet. Dies führt entweder dazu, dassdie Kommunen entlastet werden, oder dazu – das würdeich mir wünschen –, dass diese Angebote ausgeweitetwerden können, sodass alle Kinder, auch Kinder ausNiedriglohnfamilien, sie in Anspruch nehmen können.
Das sind keine Einzelfälle. Seitdem wir diese Debatteführen, wissen wir, dass solche Angebote in vielen Städ-ten gemacht werden. Diese Städte können künftig aufdie Unterstützung des Bundes hoffen.Ich kann alle Kommunalpolitiker, Bürgermeister undStadträte nur bitten, sich sehr intensiv in diese Debatteeinzubringen; denn es gibt entsprechende Gestaltungs-möglichkeiten vor Ort. Das Bildungspaket kann nur sogut werden, wie es Bund und kommunale Vertreter ge-meinsam gestalten. Ich bin guter Hoffnung, dass dadurchdas eine oder andere Problem in den Kommunen gelöstwird. Ich kann auch Sie nur auffordern, sich an der Dis-kussion zu beteiligen und das Bildungspaket nicht stän-dig zu zerreißen.Danke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/2944 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 lund 5 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord-nung des Arzneimittelmarktes in der gesetzli-chen Krankenversicherung
– Drucksachen 17/3116, 17/3211 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Sozialesb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 24. Oktober 2008 zwi-
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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schen der Regierung der BundesrepublikDeutschland, der Regierung des KönigreichsBelgien, der Regierung der Französischen Re-publik und der Regierung des Großherzog-tums Luxemburg zur Einrichtung und zumBetrieb eines Gemeinsamen Zentrums derPolizei- und Zollzusammenarbeit im gemein-samen Grenzgebiet– Drucksache 17/3117 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussFinanzausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbe-reich des Bundesministeriums für Ernährung,Landwirtschaft und Verbraucherschutz imHinblick auf den Vertrag von Lissabon– Drucksache 17/3118 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Rechtsausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-
– Drucksache 17/3119 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für TourismusHaushaltsausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-barung vom 20. April 2010 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschlandund der Regierung von Quebec über SozialeSicherheit– Drucksache 17/3120 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialesf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demEuropa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommenvom 12. Dezember 2006 zwischen der Europäi-schen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaateneinerseits und dem Königreich Marokko ande-
– Drucksache 17/3121 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungg) Beratung des Antrags der Abgeordneten MartinDörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBetroffene Kultureinrichtungen nach Fre-quenzumstellung für drahtlose Mikrofone an-gemessen entschädigen– Drucksache 17/3177 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussh) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarleneRupprecht , Dr. Hans-Peter Bartels,Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDGesundes Aufwachsen von Kindern und Ju-gendlichen fördern– Drucksache 17/3178 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussi) Beratung des Antrags der Abgeordneten HolgerOrtel, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDDie Reform der Gemeinsamen Fischereipolitikzum Erfolg führen– Drucksache 17/3179 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENChancen der EU-Fischereireform 2013 nutzenund Gemeinsame Fischereipolitik grundle-gend reformieren– Drucksache 17/3209 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionk) Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleMaisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm,
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVerbraucherschutz auf Finanzmärkten nach-holen– Drucksache 17/3210 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieFederführung strittigl) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
InnovationsreportBlockaden bei der Etablierung neuer Schlüs-seltechnologien– Drucksache 17/2000 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union5 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedHermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. ValerieWilms, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSchaffung von Rechtssicherheit für Car-sharing-Stationen und Elektrofahrzeug-Stell-plätze– Drucksache 17/3208 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusZP 2 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschrif-ten zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächener-
– Drucksache 17/3183 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb) Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENRechte der Arbeitsuchenden stärken – Sank-tionen aussetzen– Drucksache 17/3207 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialesc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UteKoczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENPakistan nach der Flut langfristig unterstüt-zen und Schulden umwandeln– Drucksache 17/3206 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Zunächst kommen wir zu einer Überweisung, bei derdie Federführung strittig ist; es geht dabei um denTagesordnungspunkt 33 k. Interfraktionell wird Über-weisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf Finanzmärk-ten nachholen“ auf Drucksache 17/3210 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschenFederführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Aus-schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz.Zunächst stimmen wir über den Überweisungsvor-schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißtFederführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthal-tungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit abge-lehnt.Nun stimmen wir über den Vorschlag der Fraktionender CDU/CSU und der FDP ab, das heißt Federführungbeim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überwei-sungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Der Überweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-tung der Fraktion Die Linke angenommen.Nun kommen wir zu den unstrittigen Überweisungen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Zu dem Gesetzentwurf zur Neuordnung desArzneimittelmarktes auf Drucksache 17/3116 – Tages-ordnungspunkt 33 a – liegt zwischenzeitlich auf Druck-sache 17/3211 die Gegenäußerung der Bundesregierungvor, die an dieselben Ausschüsse wie der Gesetzentwurfüberwiesen werden soll. Sind Sie mit all dem einverstan-
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6840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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den? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 34 abis 34 q. Es handelt sich um die Beschlussfassung zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 34 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die weitere Bereinigung von Bundesrecht– Drucksache 17/2279 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/3109 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas SilberhornDr. Edgar FrankeMarco BuschmannJens PetermannIngrid HönlingerDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/3109, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2279 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun dieje-nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassungzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke undEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und derSPD-Fraktion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie beider zweiten Beratung angenommen.Tagesordnungspunkt 34 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom19. März 2010 zwischen der Regierung derBundesrepublik Deutschland und der Regie-rung von Anguilla über den steuerlichen In-formationsaustausch– Drucksache 17/3026 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/3200 –Berichterstattung:Abgeordnete Daniela Kolbe
Dr. Birgit ReinemundDr. Thomas GambkeDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/3200, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3026 an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undEnthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 34 c:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verord-nung des Europäischen Parlaments und desRates über Finanzbeiträge der EuropäischenUnion zum Internationalen Fonds für Irland
– Drucksache 17/2629 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/3232 –Berichterstattung:Abgeordneter Dieter JasperDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/3232, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/2629 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei derzweiten Beratung, nämlich mit den Stimmen des ganzenHauses, angenommen.Tagesordnungspunkt 34 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu der Verord-nung der BundesregierungZweite Verordnung zur Änderung der Maut-höheverordnung
– Drucksachen 17/2891, 17/2971 Nr. 2.3, 17/3161 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Anton HofreiterDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/3161, der Verordnung aufDrucksache 17/2891 zuzustimmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6841
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derOppositionsfraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung zur Umsetzung der Dienstleis-tungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umwelt-rechts sowie zur Änderung umweltrechtlicherVorschriften– Drucksachen 17/2821, 17/2971 Nr. 2.1, 17/3170 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas GebhartDr. Matthias MierschJudith SkudelnyRalph LenkertDorothea SteinerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/3170, der Verordnung aufDrucksache 17/2821 zuzustimmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktionen derSPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 f:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zuder UnterrichtungGrünbuch zur Corporate Governance in
KOM 284 endg.; Ratsdok. 10823/10– Drucksachen 17/2408 Nr. A.8, 17/3112 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Patrick SensburgBurkhard LischkaMarco BuschmannRaju SharmaIngrid HönlingerDer Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-tung eine Entschließung anzunehmen. Ich lasse überdiese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? –
– Herr Kollege, ich registriere die Mehrheiten auch ohneIhre Kommentare. Ich danke Ihnen.
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen ange-nommen.Tagesordnungspunkt 34 g:Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung desWahlprüfungsausschusseszu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahlzum 17. Deutschen Bundestag am 27. Septem-ber 2009– Drucksache 17/3100 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolfgang GötzerMichael Grosse-BrömerBernhard KasterChristian Lange
Stephan ThomaeDr. Dagmar EnkelmannJosef Philip WinklerDazu liegt eine persönliche Erklärung der KolleginDr. Enkelmann nach § 31 unserer Geschäftsordnungvor.1)Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 34 h:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der
SPDDie Fußballweltmeisterschaft – Eine Chancefür Südafrika– Drucksachen 17/1959, 17/2493 –Berichterstattung:Abgeordnete Hartwig Fischer
Dagmar FreitagMarina SchusterJan van AkenKerstin Müller
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/2493, den Antrag der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/1959 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-tion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen derSPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungendes Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 34 i bis34 q.Tagesordnungspunkt 34 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 138 zu Petitionen– Drucksache 17/3069 –1) Anlage 2
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6842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 138 ist mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 34 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 139 zu Petitionen– Drucksache 17/3070 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Auch die Sammelübersicht 139 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 34 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 140 zu Petitionen– Drucksache 17/3071 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und derFraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 141 zu Petitionen– Drucksache 17/3072 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmender SPD-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 34 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 142 zu Petitionen– Drucksache 17/3073 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undder Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 34 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 143 zu Petitionen– Drucksache 17/3074 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke beiGegenstimmen der SPD-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 o:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 144 zu Petitionen– Drucksache 17/3075 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion undder Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 34 p:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 145 zu Petitionen– Drucksache 17/3076 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 145 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionder SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undEnthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 34 q:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 146 zu Petitionen– Drucksache 17/3077 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.Damit haben wir alle diese Abstimmungen über dieBühne gebracht.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Reinhard Beck , Peter Altmaier,Michael Brand, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenElke Hoff, Rainer Erdel, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPVerbesserung der Regelungen zur Einsatzver-sorgung– Drucksachen 17/2433, 17/3229 –Berichterstattung:Abgeordnete Henning OtteLars KlingbeilElke HoffHarald KochAgnes Malczak
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6843
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stundedarüber zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver-standen. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion dasWort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Antrag der Regierungskoalition zur Verbesse-rung der Regelungen zur Einsatzversorgung unsererSoldaten ist notwendig, richtig und angemessen. Warum?Weil die Erfahrung im Umgang mit der Versorgung vonSoldaten im Einsatz ungerechtfertigte Versorgungslückenfür Berufssoldaten, insbesondere für Zeitsoldaten, fürfreiwillig länger Dienende und für Reservisten deutlichgemacht hat.Die versorgungsrechtlichen Regelungen für Solda-ten, die im Rahmen von Auslandseinsätzen zu Schadenkommen, sind in den letzten Jahren bereits wesentlichverbessert worden. Auf Initiative unseres früheren Bun-desministers der Verteidigung, Franz Josef Jung, wurdeim Jahr 2007 mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetzdie notwendige Ergänzung des Einsatzversorgungsgeset-zes beschlossen. Das Einsatzversorgungsgesetz regeltdie finanzielle Absicherung und das Einsatz-Weiterver-wendungsgesetz die Weiterbeschäftigung geschädigterSoldaten.Die Erfahrungen aus den Einsätzen haben uns ge-zeigt, dass eine Anpassung dieser Regelungen notwen-dig ist, um deutlich gewordene Versorgungslücken ge-rechtigkeitshalber und fürsorgehalber zu schließen. Dashaben wir in der CDU/CSU erkannt und als Verteidi-gungspolitiker in dem vorliegenden Antrag umgesetzt.Auch das ist Ausdruck einer Parlamentsarmee.In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen, sehr ge-ehrter Herr Minister zu Guttenberg, und Ihrem Ministe-rium dafür, dass Sie bei allen notwendigen Entscheidun-gen um die Sicherheit unseres Landes immer das Wohlunserer Soldaten im Blick haben und uns auch in dieserAngelegenheit unterstützen.
Ich danke an dieser Stelle auch dem Deutschen Bun-deswehrVerband, der auf diese Regelungslücken hinge-wiesen hat. Es ist eine besondere Geste, dass Sie, lieberHerr Oberst Kirsch, als Vorsitzender des Bundeswehr-Verbandes dieser Debatte beiwohnen. Das ist ein deutli-ches Zeichen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Ar-beit zum Wohle unserer Soldaten.
Worum geht es bei diesem Antrag? Im Kern geht es inder Fortentwicklung erstens darum, die Beiträge der ein-maligen Entschädigung zu erhöhen, da der jetzige Be-trag der Höhe nach keine angemessene Entschädigungdarstellt. Zweitens sind die Schadensausgleichszahlun-gen auch an juristische Personen zu gewährleisten, damitpraxisnah, zum Beispiel bei abgetretenen Versicherungs-ansprüchen, eine Auszahlung erfolgen kann. Drittens istdie Höhe des anspruchsbegründenden Schädigungsgra-des von 50 auf 30 Prozent zu reduzieren, weil bei psy-chischen Erkrankungen die Erwerbsminderung nicht äu-ßerlich erkennbar ist und zusätzlich die Kausalität indieser Höhe schwer nachzuweisen ist. Deswegen mussder Grundsatz gelten: Im Zweifel für den verwundetenSoldaten.
Eine bessere Nachversicherungsregelung sowie dieRückführung der Stichtagsregelung auf den Beginn derAuslandsmandate rundet diese Regelung ab. Es sollteauch das Ziel sein, eingesetztem Zivilpersonal mit be-sonderen Auslandsverwendungen ähnliche Erleichterun-gen zu verschaffen.Ich danke an dieser Stelle den mitberatenden Aus-schüssen, die mit ihrer fraktionsübergreifenden Zustim-mung der Annahme unseres Antrages zugestimmt ha-ben, leider stets mit Ausnahme der Fraktion Die Linke,die bekanntermaßen ein gespaltenes Verhältnis zu unse-rer Bundeswehr und damit zu Sicherheit, Recht und Ord-nung in unserem Staat hat.
Die Union ist die Partei der Bundeswehr. Das hat siebei ihren Entscheidungen zur Gründung der Bundes-wehr, zum Beitritt der NATO und bei der Entwicklungzur Armee der Einheit erfolgreich unter Beweis gestellt.Das Gleiche gilt auch für die aktuelle notwendige Struk-turreform sowie für den heute zu beratenden Antrag.Der Deutsche Bundestag beschließt die Entsendungvon Soldatinnen und Soldaten in Krisengebiete undKonfliktregionen nach Europa, Afrika und Asien. Dendaraus erwachsenden Herausforderungen müssen wir inbesonderem Maße Rechnung tragen. Denn militärischeund zivile Auslandsverwendungen in Krisengebietensind mit hohen Gefahren für Leib und Leben verbunden.Mit Entsetzen müssen wir heute erfahren, dass wiedereiner unserer Soldaten gefallen ist und weitere verwun-det worden sind. Das bedrückt uns sehr.Unsere Bundeswehr stellt bis zu 7 000 Soldaten undbildet damit den Schwerpunkt dieser militärischen undzivilen Missionen, die auch der Sicherheit unseres Lan-des dienen. Die besonderen Dienstbelastungen – auch inKampfhandlungen unter Einsatz von Leib und Leben –stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. Die-ser besonderen Situation wollen wir mit unserem Antraggerecht werden.Die Bundeswehr steht im Rahmen der notwendigenStrukturreform vor der Herausforderung, auch zukünftigein noch attraktiverer Arbeitgeber zu sein. Dafür mussdie Versorgungssicherheit gewährleistet sein. UnsereSoldaten verpflichten sich, der Bundesrepublik Deutsch-land treu zu dienen sowie das Recht und die Freiheit tap-fer zu verteidigen. Sie stehen zu ihrer übernommenenVerantwortung für die Sicherheit unseres Landes. Dafür
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6844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Henning Otte
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danken wir Ihnen, liebe Soldatinnen und Soldaten, herz-lich.
Wir in der Union stehen zu unseren Soldaten aus Ver-antwortung, aus Fürsorge und aus politischer Überzeu-gung und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.
Der Bundesminister der Verteidigung, Herr zu
Guttenberg, hat um das Wort gebeten, um eine Mittei-
lung zu machen.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mich hat soeben eine sehr traurige Nachricht erreicht.
Wir haben offenbar bei einem Selbstmordanschlag auf
eine ISAF-Patrouille unserer Soldaten nördlich von Pol-i-
Khumri nach derzeitigem Stand einen gefallenen Solda-
ten und sechs verwundete Soldaten zu beklagen. Es ist
eine erste Information, die ich Ihnen in diesem Hohen
Hause geben muss und geben will.
Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Soldaten
und ihren Familien. Wir werden natürlich, sobald wir
Weiteres wissen, Sie alle entsprechend informieren. Der
gefallene Soldat und die verwundeten Soldaten befanden
sich in einem Einsatz, der unserer Sicherheit dient und
der in diesem Hause beschlossen wurde. Ich glaube, es
gehört sich, diese Information weiterzugeben. Unsere
Gedanken und Gebete sind bei den Familien und bei den
Soldaten.
Ich danke Ihnen.
Herzlichen Dank, Herr Minister.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-ehrter Herr Minister, diese furchtbare Nachricht, die unsaus Afghanistan erreicht, sollte uns alle dazu bringen, in-nezuhalten und noch einmal über die Verantwortungnachzudenken, die wir als Parlamentarier gegenüber un-seren Soldatinnen und Soldaten haben. Ich denke, ichspreche im Namen aller, wenn ich sage, dass unser allerMitgefühl und unsere Gedanken den Familien des Gefal-lenen und der Verwundeten gelten.Sehr geehrte Damen und Herren, es steht jeder Abge-ordneten und jedem Abgeordneten frei, sich für oder ge-gen die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten in ei-nen Auslandseinsatz zu entscheiden. Diese Entscheidungmüssen wir letztendlich mit unserem Gewissen vereinba-ren. Das, was dieses Haus jedoch einen sollte, sind dieAnerkennung, der Respekt und die Fürsorge für das, wasunsere Soldaten tagtäglich unter Einsatz ihres Lebensleisten.
Wir als Abgeordnete sind es, die unsere Soldaten aufschwierige Missionen schicken. Wir sind es, die Fami-lien für einen langen Zeitraum auseinanderreißen. Wirsind es, die gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaftfür unsere politischen Entscheidungen ablegen müssen.Wir sind es aber auch, die eine Fürsorgepflicht gegen-über den Soldaten und ihren Familien wahrzunehmenhaben. Wir haben diese Fürsorgepflicht vor, währendund nach dem Einsatz.Kommt ein Soldat im Einsatz etwa durch einen Unfallzu Schaden, müssen wir gewährleisten, dass es umfang-reiche, schnelle und unbürokratische Hilfe für den Sol-daten und seine Familie gibt. Es ist deshalb richtig, dasswir heute hier im Bundestag eine wegweisende Ent-scheidung der rot-grünen Regierung und vor allem desehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck weiter-entwickeln und das Einsatzversorgungsgesetz in wichti-gen Kernpunkten verbessern. Peter Struck war es, derdie Notwendigkeit erkannte, der veränderten Auftragsre-alität der Bundeswehr einen neuen Rechtsrahmen zu ge-ben und die Fürsorge des Staates gegenüber den Solda-ten erheblich zu verbessern. Hierfür gebührt ihm auchnachträglich unser aller Dank.
Die Weiterentwicklung des Gesetzes, wie sie heutehier von den Regierungsfraktionen eingefordert wird,findet in allen Punkten unsere Unterstützung. Wir hättenuns gewünscht, dass ein solcher Vorstoß aus dem Minis-terium kommt, und wir hätten uns auch gewünscht, dassversucht worden wäre, diesen Antrag gemeinsam mitden Oppositionsfraktionen zu formulieren. Das wäre einwichtiges Zeichen gewesen, das wir hier im Bundestaghätten setzen können.
Ich bin aber dankbar für Ihre Zusage gestern im Aus-schuss, Frau Hoff, dass wir im konkreten Gesetzge-bungsverfahren eine gemeinsame Linie entwickeln wer-den. Meines Erachtens sollten die Gemeinsamkeiten imVordergrund des Wirkens in diesem Hause stehen, wennes um unsere Soldatinnen und Soldaten geht.Gerade für Nichtberufssoldaten wird mit dem Forde-rungskatalog eine erhebliche Verbesserung erreicht. DieAusgleichszahlungen werden erhöht, die rechtliche Stel-lung der Soldatinnen und Soldaten wird verbessert, unddie Einsatzzeiten werden künftig höher angerechnet. Dassind wichtige Schritte, die wir hier als Parlamentarier ge-hen wollen. Die ersten deutschen Soldaten wurden 1992ins Ausland geschickt. Der heutige Antrag formuliertdeutlich die Gleichbehandlung aller Einsätze. Auch diesist ein notwendiger Schritt.Die Verantwortung des Staates gegenüber unserenSoldaten bedeutet auch, die Bewältigung der posttrau-matischen Belastungsstörungen endlich entschlossen an-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6845
Lars Klingbeil
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zugehen. Immer mehr Soldaten kommen mit solchenStörungen aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse ausdem Einsatz zurück. Viele Soldaten haben Grauenhafteserlebt, Bilder, die sie jahrelang nicht vergessen, die sienachts nicht schlafen lassen und die tagsüber einen gere-gelten Alltag nicht zulassen. Diese seelischen Verwun-dungen haben erst in den letzten Jahren die Aufmerk-samkeit erhalten, die sie verdienen. Dass dies nun so ist,ist – das sage ich hier ganz deutlich – zu einem großenTeil das Verdienst des ehemaligen WehrbeauftragtenReinhold Robbe, der immer unermüdlich dafür ge-kämpft hat, dass die posttraumatischen Belastungsstö-rungen die ihnen angemessene Aufmerksamkeit finden.Auch ihm gebührt unser Dank.
Es ist richtig, dass wir die Situation der an PTBS er-krankten Soldaten verbessern und wir beispielsweise dieVerfahrensdauer drastisch reduzieren wollen. Aber auchhier gehört zur Wahrheit: Wir stehen noch am Anfang.Unsere Maxime im konkreten Gesetzgebungsverfahrenmuss lauten, dass jeder Soldat und jede Soldatin, die inden letzten 18 Jahren im Ausland verletzt wurde, egal obkörperlich oder seelisch, die bestmögliche Behandlungerhalten. Das müssen wir als Parlamentarier garantieren;wir werden im Gesetzgebungsverfahren auch die Ver-bände und Experten einbeziehen müssen, um hierfür diebestmögliche Regelung zu finden.Es sind große Schritte für die Anerkennung der Leis-tung der Soldaten und für den Respekt gegenüber denSoldaten, die wir heute unternehmen. Ich sage aber auch:Das reicht nicht! Es reicht nicht, wenn dieses Parlamentsich nach der Verabschiedung des heutigen Antrags zu-rücklehnt, sich auf die Schulter klopft und sagt: Jetzt ha-ben wir etwas für die Soldaten getan. – Denn es bleibtnoch viel zu tun.Der Anerkennung, dem Respekt und der Fürsorgehätte es auch gedient – das will ich hier deutlich sagen –,den Soldaten wieder das volle Weihnachtsgeld auszu-zahlen, wie die Kanzlerin es versprochen hatte.
Wenn der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes in die-sem Zusammenhang von einem Wortbruch spricht, dannmuss ich ihm recht geben. Man muss sich an dieserStelle fragen: Welches Signal kommt eigentlich bei denSoldaten an, wenn wir sie einerseits in immer gefährli-chere Einsätze schicken und andererseits hier zu Hauseauf ihrem Rücken Sparmaßnahmen umsetzen? Ich hoffe,dass im Rahmen der Haushaltsberatungen die Regie-rungskoalition noch zur Einsicht kommt. Aber ich sageheute: Verantwortungsvolle Politik sieht an dieser Stelleanders aus.Herr Minister, ich hätte mir von Ihnen dazu deutli-chere Worte gewünscht.
Sie sind der derzeit populärste Politiker in Deutschland.Warum nutzen Sie dieses politische Gewicht nicht, umsich vor die Truppe zu stellen und in diesem Punkt Ver-besserungen für die Soldaten zu fordern? Das wäre einwichtiges Zeichen auch für die Anerkennung der Truppegewesen.Das Weihnachtsgeld gehört zur Attraktivität des Sol-datenberufs. Wir alle wissen doch, dass es darauf an-kommt, in den nächsten Monaten maßgebliche Schrittezur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr zu ge-hen. Gerade dann, wenn die Wehrpflicht fällt und wir dieNachwuchsgewinnung ausbauen müssen, brauchen wireinen attraktiveren Dienst in der Bundeswehr. Deswegensage ich für uns Sozialdemokraten, dass im Rahmen derBundeswehrstrukturreform ein Programm zur Steige-rung der Attraktivität zwingend notwendig ist. Nur dann,wenn wir auch die Attraktivität des Dienstes in der Bun-deswehr erhöhen, wird eine Strukturreform gelingen.Da ich beim Thema Reform bin, will ich hier deutlichsagen: Herr Minister, reden Sie Klartext hinsichtlich derStandzeiten im Auslandseinsatz. Reden Sie Klartext da-rüber, welche Standzeiten Sie für die Bundeswehrpla-nung zugrunde gelegt haben. Derzeit sind es vier Monate.Die Befürchtungen bei uns, aber auch in der Truppe sinddoch aber, dass wir mit einer personell reduzierten Bun-deswehr zu erheblich höheren Standzeiten kommen wer-den. Hier sind Sie bisher jede Antwort schuldig geblie-ben. Sagen Sie der Truppe, sagen Sie dem Parlament, inwelche Richtung Ihre Planung geht. Auch das sind Sieden Soldatinnen und Soldaten schuldig.
Ich sage auch: Zur Fürsorge gehört eine optimale Ein-satzvorbereitung. Die Vorbereitung, mit der wir unsereSoldaten in den Einsatz schicken, reicht nicht. Hier ha-ben wir als Politik eine große Verantwortung. Wir schi-cken Soldaten nach Afghanistan, obwohl wir wissen,dass sie an den Fahrzeugen, die dort für den Schutz ihresLebens wichtig sind, nicht ausreichend ausgebildet sind;daher müssen wir hier dringend nachbessern. Auch eineoptimale Einsatzvorbereitung gehört zur Fürsorgepflicht,die wir als Parlament haben.Ich will an alle 622 Abgeordneten hier noch einmalappellieren. Wir sind diejenigen, die Verantwortung fürdie Soldaten tragen, und wir müssen uns jeden Tag fra-gen: Werden wir dieser Verantwortung gerecht? Wir ver-langen von unseren Soldaten viel, und wir sind in derPflicht, ihnen das Versprechen zu geben, dass wir ihneneine optimale Vorbereitung, Nachbereitung und auchVersorgung im Einsatzland auf dem höchstmöglichenNiveau garantieren. Das, was wir heute beschließen, istein wichtiger erster Schritt. Aber ich sage auch: Es müs-sen weitere Schritte folgen. Wir dürfen uns nicht ausru-hen.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
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6846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Hin-
tergrund der Ereignisse, die Herr Minister zu Guttenberg
eben vorgetragen hat, ist es wenig erfreulich, hier heute
eine politische Auseinandersetzung zu führen. Ich
möchte an dieser Stelle auch für meine Fraktion die tiefe
Betroffenheit, das tiefe Bedauern zum Ausdruck bringen
sowie den Familien, den Freunden und den Angehörigen
die tiefste Anteilnahme aussprechen.
Tragisch ist das Zusammentreffen dieser Ereignisse.
Wir führen heute eine Debatte über etwas, was gerade
der Verbesserung der Situation für aus dem Einsatz zu-
rückgekehrte verwundete Soldatinnen und Soldaten die-
nen und die nötige Tiefe, die politische Seriosität und
auch den gemeinsamen Willen unterstreichen soll. Bei
allen unterschiedlichen Auffassungen in Einzelpunkten
bin ich deshalb froh, dass nach der Rede des Kollegen
Klingbeil sehr deutlich geworden ist, dass hier ein ge-
meinsamer Wille besteht, der Verantwortung gegenüber
unseren Soldaten, die wir als Parlamentarier haben, ge-
recht zu werden.
Ich freue mich auch, dass heute Betroffene bei uns
sind. Diese Soldaten sind heute hier, weil sie an der Dis-
kussion, die wir hier im Parlament führen, teilhaben wol-
len. Ich darf ihnen an dieser Stelle persönlich und auch
im Namen vieler Kollegen danken, dass sie den Mut ha-
ben, an die Öffentlichkeit zu gehen, und dass sie uns
ganz deutlich gemacht haben, wie bestimmte Lücken im
Gesetz und vielleicht auch eine falsche Zurückhaltung
an manchen Stellen ihr Leben sehr nachteilig und sehr
negativ beeinflusst haben. Ich finde es deswegen großar-
tig, dass sie uns heute als Staatsbürger in Uniform durch
ihre Präsenz ein Stück weit den Weg weisen.
Meine Damen, meine Herren, ich bin froh, dass es uns
gelungen ist, viele Punkte, durchaus gegen Widerstände
von Kollegen in anderen Fachausschüssen, auf einen
Weg zu bringen, der zeigt, dass wir die Verantwortung
übernehmen. Ich finde, ein wesentlicher Aspekt dieses
Antrags ist in jedem Fall eine Veränderung der Stich-
tagsregelung. Es ist nämlich in hohem Maße ungerecht,
dass die Soldatinnen und Soldaten, die sich von Anfang
an für unser Vaterland eingesetzt und die ihre Gesund-
heit aufs Spiel gesetzt haben, nicht in den Genuss von
Vergünstigungen kamen. Was mich persönlich besonders
erschreckt hat, ist, dass wir ein Stück weit vergessen ha-
ben, was mit unseren Soldaten auf Zeit und mit den
Reservisten passiert. Viele Einsätze, geprägt von schlim-
men Szenarien, können heute ohne den Einsatz von Re-
servisten und ohne Soldaten auf Zeit in der Form nicht
mehr durchgeführt werden. Ich bin sehr froh darüber,
dass wir hier die Weichen gestellt haben.
Ich hoffe sehr – das sage ich auch an die Kollegen der
Opposition gerichtet –, dass wir sehr rasch in das Ge-
setzgebungsverfahren eintreten. Es reicht nämlich in der
Tat nicht aus, dass wir heute nur den politischen Willen
dokumentieren. Darüber hinaus müssen wir als Parla-
ment jetzt unsere Aufgabe erfüllen. Herr Minister, ich
habe gar keinen Zweifel, dass wir hier in sehr enger Ko-
operation das Richtige auf den Weg bringen. Bei allem
Verständnis auch für die finanziellen Zwänge: Ich
glaube, dass an dieser Stelle das Geld keine Rolle spie-
len darf.
Wir müssen auf die Männer und Frauen hören, die an
uns appellieren. Inzwischen gibt es dankenswerterweise
sehr viele Veröffentlichungen dazu. Ein Buch zu diesem
Thema trägt den Titel „Die reden – Wir sterben“. Das ist
eine sehr klare und deutliche Aussage, und ich glaube,
dass sich hinter dieser prägnanten Formulierung die
ganze Tragik der Empfindungen darüber verbirgt, dass
die Männer und Frauen, die zurückkommen, nicht mehr
die Menschen sind, die sie vorher waren. Dies gilt auch
gegenüber ihren Familien. Sie sollen in erster Linie ihre
Würde als Familienvater, als Arbeitnehmer, als Freund
und Ehepartner zurückerhalten. An dieser Stelle kann
ich nur appellieren, dass wir im weiteren Gesetzge-
bungsvorhaben unsere unterschiedlichen parteipoliti-
schen Auffassungen im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten ein Stück weit überwinden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu,
es fällt mir heute wirklich sehr schwer, vor dem Hinter-
grund der Ereignisse zu reden. Wir sollten uns über eines
klar sein: dass auch heute wieder Soldatinnen und Solda-
ten aus einem Einsatz nach Hause kommen werden, der
ihr Leben nachhaltig verändert haben wird. Umso mehr
sind wir jetzt gefordert, die Dinge, von denen wir wis-
sen, dass sie falsch laufen, zu verbessern, damit wir den
Kameradinnen und Kameraden sagen können: Jawohl,
wir haben die Botschaft verstanden; das Parlament ist
gemeinsam mit der Regierung bereit, die Situation zu
verändern.
Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun Kollegin Ingrid Remmers für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich zunächst auf das Bezug nehmen, wasder Kollege Otte gesagt hat, und etwas korrigieren: DieLinke hat keinesfalls ein unsicheres oder gespaltenesVerhältnis zu Kriegseinsätzen, sondern ein ganz eindeu-tiges, nämlich ein ablehnendes.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch die Interessender Soldatinnen und Soldaten sehen. Vor dem Hinter-grund dessen, was heute passiert ist, sprechen selbstver-ständlich auch wir den Verletzten und den Angehörigenunser tiefes Mitgefühl aus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6847
Ingrid Remmers
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Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen istim Grundsatz zu begrüßen; auch wir begrüßen ihn. DieAntragsteller legen hier die Finger in zwei wunde Punkteder gegenwärtigen Sicherheitspolitik der Bundesregie-rung:Wer auf Krieg und militärische Interventionen als In-strument der Außen- und Sicherheitspolitik setzt, setztdamit auch die eigenen Soldatinnen und Soldaten großenGefahren aus; dies haben wir heute erlebt. Diese Gefah-ren sind inzwischen Bundeswehralltag in Afghanistan,wie wir alle wissen. Mehr als 30 Soldaten – heute erneuteiner – wurden im Verlauf der Intervention bislang getö-tet, eine Vielzahl wurde verwundet und traumatisiert,und dies in einem Krieg, der nicht zu rechtfertigen undzum Scheitern verurteilt ist. Die Linke hat sich immerklar und deutlich für den Abzug aus Afghanistan einge-setzt und auch insgesamt eine andere, eine friedensorien-tierte Außenpolitik – nicht nur für Afghanistan – gefor-dert. Würde sich die Bundesregierung daran orientieren,wäre der vorliegende Antrag überflüssig.
Die zweite offene Wunde, die der Antrag aufzeigt, istdie geradezu fahrlässige Missachtung der Belange derSoldatinnen und Soldaten durch Bundesregierung undBundeswehr; dies hat die Kollegin schon vorhin ange-sprochen. Die Soldatinnen und Soldaten werden von derBundesregierung und der Mehrheit im Bundestag in denEinsatz geschickt. Was dort mit ihnen passiert, interes-sierte bislang das Verteidigungsministerium in der Regelnur dann, wenn damit der riesige Verteidigungsetat bzw.seine weitere Aufstockung gerechtfertigt werden konnteoder aber der mediale Druck zu groß war.
Immer erst dann, wenn der Unmut hochkocht, passiertetwas.Da die Bundeswehr nun tatsächlich leider im Kampfein-satz ist, treten die Unzulänglichkeiten der gesetzlichenVerordnungen und der täglichen Verwaltungspraxis im-mer deutlicher zutage. Hier besteht in der Tat Handlungs-bedarf: bei der Anhebung der Entschädigungszahlungen,der Verbesserung der Betreuung von PTBS-Opfern, beider Gleichbehandlung von Berufssoldatinnen und -solda-ten mit den Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie denWehrpflichtigen. Das sind Mindeststandards, die einfachgewährleistet werden müssen und zu Recht im Antrageingefordert werden.Aber die Regierungsfraktionen wären nicht Teil desEstablishments, wenn sie sich nicht der alten Rhetorikbedienten: Zur Verbesserung der Fürsorge gegenüberdem Bundeswehrpersonal wird mehr Geld benötigt; dasaber soll entweder durch Aufstockung des Verteidi-gungsetats oder aus anderen Töpfen kommen. Wie manweiß, ist bei der Bundeswehr selbst eigentlich ein rigoro-ser Sparkurs angesagt. Also sollen nun andere Haushaltediskret mitfinanzieren. Das, verehrte Kolleginnen undKollegen, geht nicht!
Zum einen ist im Verteidigungshaushalt, der immer-hin der drittgrößte Etat ist, ausreichend Spielraum vor-handen. Es gibt genug Beschaffungsprogramme, diedem Rotstift zum Opfer fallen könnten, zum Beispiel fürden A400M. Auch der Gesamtumfang der Streitkräftemuss reduziert werden, sodass hier erhebliche Um-schichtungen möglich wären.Zum anderen aber würde damit der Ansatz der Haus-hälter in den letzten fünf Jahren völlig konterkariert wer-den. Die Querfinanzierung, die Flexibilisierung vonHaushaltstiteln waren den Haushältern zu Recht ein Dornim Auge. Klare Sach- und Finanzverantwortung, klareVerantwortlichkeiten und die Verbesserung der Transpa-renz waren das Ziel. Ab 2007 wurden deswegen endlichauch die Versorgungsausgaben aus dem Einzelplan 33übernommen. Das soll nun wieder aufgebrochen werden.Das soll natürlich nicht nur dort geschehen. Beim Lie-genschaftsmanagement der Bundeswehr wird zukünftigauch das Finanzministerium einen kleinen Beitrag leisten.Generalinspekteur Wieker hat schon weitere Vorschlägeparat, zum Beispiel die Finanzierung der Interven-tionseinsätze aus anderen Töpfen. Vor diesem Hinter-grund, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bekommt derAntrag der Regierungsfraktionen einen schalen Beige-schmack. Deswegen – nur deswegen! – können wir demAntrag so nicht zustimmen und werden uns hier enthaltenmüssen.Genauso wie die Linke für eine friedensorientierteAußen- und Sicherheitspolitik ist, ist sie für eine ad-äquate Versorgung der Soldatinnen und Soldaten. Das istschließlich die Pflicht des Arbeitgebers Staat. Es liegtauf der Hand, dass hier erheblicher Nachbesserungsbe-darf besteht. Wir appellieren also an die Bundesregie-rung, dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen umgesetzt,aber aus dem Einzelplan 14 finanziert werden. Dannkönnen auch wir einem solchen Antrag zustimmen. DasGeld dafür ist im Etat vorhanden. Die Regierung und dieRegierungsfraktionen müssen es nur wollen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Agnes Malczak für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Angesichts der tragischen Nachricht, die unszu Beginn dieser Debatte ereilt hat, möchte ich auch fürunsere Fraktion den Angehörigen des gestorbenen Sol-daten unser tiefes Mitgefühl und unser Beileid ausspre-chen. Den sechs verletzten Soldaten wünschen wir eineschnelle und vor allem vollständige Genesung. Die Be-troffenen und die Angehörigen werden in diesen schwie-rigen Stunden viel Kraft brauchen. Wir hoffen, dass siesie auch finden werden.
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6848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Agnes Malczak
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Die Regelungen zur Verbesserung der Einsatzversor-gung, die von den Fraktionen der Union und der FDPhier beantragt wurden, sind richtig und finden deshalbim Grundsatz auch unsere Zustimmung. Unabhängig da-von, was der eine oder die andere von uns über einenkonkreten Einsatz denkt oder an Abstimmungsverhaltengezeigt hat – da ist in diesem Haus die ganze Bandbreitevertreten –: Für die Soldatinnen und Soldaten der Bun-deswehr, für die zivilen Kräfte und ihre Angehörigen ha-ben wir als Parlament eine besondere Verantwortung zurFürsorge.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns die Frage stellen,wie wir dieser Verantwortung auch wirklich gerecht wer-den können. Der Bedeutung dieses Themas wurde in derVergangenheit durch eine Zusammenarbeit aller Fraktio-nen Rechnung getragen. Diese Chance wurde hier leidervergeben.Damit es heute nicht bei Ankündigungen bleibt, istVerteidigungsminister zu Guttenberg aufgefordert, die-sen Antrag als Auftrag zu konkretem und auch zuschnellem Handeln zu verstehen. Ich muss allerdingsfeststellen, dass dieser Antrag eine gewisse Ganzheit-lichkeit vermissen lässt. Ein ganz grundsätzliches Pro-blem bleibt zudem unbehandelt.Zur fehlenden Ganzheitlichkeit. Sie fokussieren in Ih-rem Antrag auf die Einsatzversorgung der Soldatinnenund Soldaten. Auf Basis des Auslandsverwendungsge-setzes entsenden wir aber auch zivile Kräfte zu interna-tionalen Friedenseinsätzen. Sie widmen dieser Gruppenur die Forderung, dass alle Regelungen auch für sie gel-ten sollen. Zu den zivilen Kräften, die auf Basis des Se-kundierungsgesetzes als deutsche Vertreterinnen undVertreter an Missionen teilnehmen, schweigen Sie in Ih-rem Antrag. Dazu müssen wir in Zukunft mit den ande-ren Ausschüssen, die sich mit diesen Fragen befassen,zusammenarbeiten;
denn auch diese Menschen setzen sich unter Entbehrun-gen und erhöhtem Risiko, was ihre physische und psy-chische Gesundheit betrifft, für den Frieden ein und ver-dienen unsere Fürsorge und unseren Dank.In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,schlagen Sie finanzielle Verbesserungen vor und spre-chen dabei wirklich wichtige Punkte an, etwa die Aufhe-bung der Stichtagsregelung, die Beweislastproblematikund die unzumutbare Dauer der Wehrdienstbeschädi-gungsverfahren. So richtig und wichtig die finanzielleAbsicherung ist, so richtig und wichtig ist auch die Schaf-fung einer verlässlichen Betreuungsinfrastruktur. Wer mitBetroffenen und ihren Angehörigen spricht, weiß, dasshier erhebliche Mängel bestehen. Sie fühlen sich zu oftmit ihren Problemen alleingelassen und sehen sich einerBürokratie gegenüber, der sie nicht Herr werden können.Doch dieses Problem haben nicht nur versehrte Soldatin-nen und Soldaten, zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterund deren Angehörige. Und hiermit komme ich zur ver-passten Chance dieses Antrags. Denn vor dem Hinter-grund der anstehenden Reform der Bundeswehr gibt esdie Gelegenheit, Erwartungen an die Bundesregierunghinsichtlich der Gesamtsituation von zivilen und militäri-schen Ehemaligen der internationalen Missionen zu for-mulieren.Die Rückkehr aus einer Auslandsmission nachDeutschland ist für die Heimkehrenden oft nicht einfach.Sie haben in der Regel Erlebnisse gehabt, die der über-wiegende Teil der deutschen Gesellschaft nicht nach-empfinden kann. Diese Erlebnisse haben sie geprägt,und sie werden sie ein Leben lang begleiten und häufigauch ein Leben lang belasten. Wir müssen in diesem Zu-sammenhang feststellen, dass die Heimgekehrten immerhäufiger beklagen, dass sie sich mit diesen Erfahrungenalleingelassen fühlen, weil sie keine Anlaufstelle für ihrespezifischen Probleme haben.Der vorliegende Antrag schlägt viele Verbesserungenvor, kann aber nicht das Ende der Debatte sein. Ichglaube, wir sind uns auch mit allen Fraktionen einig,dass es sich hier um einen Prozess handelt, der ständigweitergehen muss und bei dem immer wieder Lückenaufgedeckt und geschlossen werden müssen.Das Thema hätte es verdient, gründlich, aber vor al-lem auch schnell und in einem fraktionsübergreifendenDiskurs bearbeitet zu werden. Deshalb freue ich mich,dass wir uns gestern im Ausschuss eigentlich alle einigwaren, dass wir das, wenn es zum konkreten Gesetzge-bungsverfahren kommt, zusammen angehen wollen. WirGrünen jedenfalls werden weiterhin an den offenen Fra-gen dranbleiben.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Jürgen Hardt für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derschwierigste und gefährlichste Dienst für unser Landwird in den Auslandseinsätzen geleistet. Wir haben ge-rade eben die traurige Nachricht erhalten, dass ein Soldatgefallen ist und sechs Soldaten verwundet worden sind.Ich darf auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion den Angehörigen und den Kameraden dieser Solda-ten mein herzliches Beileid aussprechen. Wir drückendie Daumen, dass jetzt im Rahmen der Bergung und aufdem Rückmarsch, wo ja weitere Gefahren auf die Solda-ten lauern, alles gutgeht und die Verwundeten möglichstrasch einer optimalen medizinischen Versorgung zuge-führt werden können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6849
Jürgen Hardt
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Die Berufssoldaten, die Zeitsoldaten, die freiwilligWehrdienstleistenden, die Reservisten, die Polizistenund die zivilen Mitarbeiter in den Auslandseinsätzensind täglich einer hohen Gefährdung ausgesetzt. Ichhabe mir für meine Rede die Zahlen notiert – ich musssie jetzt leider schweren Herzens nach oben korrigieren –:Seit 1993 haben 91 Soldaten in Auslandseinsätzen ihrLeben verloren, 29 davon durch direkte Feindeinwir-kung; 163 wurden verwundet, und bei über 400 Soldatenwurden posttraumatische Belastungsstörungen diagnos-tiziert. Die Belastung in einem Auslandseinsatz ist mitkeinem wie auch immer gearteten Stress im Inland ver-gleichbar. Deswegen verdienen diese Soldaten im Ein-satz auch eine besondere Behandlung hinsichtlich derVersorgung und Weiterverwendung.Es ist Ausdruck des hohen Respekts vor diesemDienst, dass wir bei den Maßnahmen der Einsatzversor-gung und der Einsatzweiterverwendung entsprechendgroßzügig verfahren. Wer vier oder sechs Monate ge-trennt von der Familie auf engstem Raum mit Kamera-den und unter ständiger Bedrohung durch den Feind sei-nen Dienst versieht, der muss wissen, dass imschlimmsten Fall zumindest für ihn und seine Angehöri-gen optimal gesorgt ist. Dieser Intention fühlt sich dervorliegende Antrag verpflichtet.Der Bundestag hat bereits mehrfach wesentliche ge-setzliche Grundlagen für die Versorgung von Soldatengeschaffen. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wirnun Lücken schließen und Ungleichgewichte ausglei-chen, die die Praxis der vergangenen Jahre aufgezeigthat. Ich freue mich, dass es darüber breiten Konsens un-ter den demokratischen Parteien des Hauses gibt. Ichschließe mich ausdrücklich auch den Worten von FrauHoff an, dass wir im Rahmen des konkreten Umset-zungsprozesses bei der Gesetzgebung mit den Fraktio-nen, die diesen Antrag heute mittragen, gerne in einenintensiven Dialog eintreten und Ergänzungen und Ver-besserungsvorschläge gerne aufnehmen. Ich glaube, wirwerden zu einem guten gemeinsamen Ergebnis kommen.
Es ist auch ein gutes Signal an die betroffenen Soldatenim Einsatz, dass sie wissen, dass eine breite Mehrheitdieses Hauses hinter ihnen und ihrem Einsatz steht.Ich möchte zwei Punkte ganz kurz herausgreifen, diemir besonders am Herzen liegen.Da ist zum einen die Frage der Gleichstellung vonZeitsoldaten, freiwillig Wehrdienstleistenden und Reser-visten mit den Berufssoldaten hinsichtlich ihrer Versor-gungssituation. Bei der Analyse der gegenwärtigenRechtslage haben wir festgestellt, dass die Berufssolda-ten in der Tat gut abgesichert sind; aber bei vielen Zeit-soldaten ist das nicht der Fall. Nun ist es aber typisch fürdie Bundeswehr, dass man als Zeitsoldat anfängt. Auchdiejenigen Soldaten, die sich den Beruf des Soldaten alsLebensberuf wünschen, werden zunächst als Zeitsolda-ten angestellt. Sie strengen sich dann enorm an, um beiLehrgängen und Beurteilungen besonders weit vorne zuliegen. Vielleicht sind sie auch bereit, im Auslandsein-satz besondere Leistungen zu erbringen, damit sie eineChance auf Übernahme in den Beruf des Soldaten ha-ben. Da ist es natürlich fatal, wenn eine Verwundung imEinsatz möglicherweise letztendlich dazu führt, dass derSoldat, der ansonsten Berufssoldat geworden wäre, die-sen Beruf nun nicht erlangen kann, und zwar ausdrück-lich wegen seiner Verwundung und ihren Folgen.Wir finden, das Gesetz muss hier eine Regelung fin-den, damit Zeitsoldaten trotz einer Verletzung und ihrenFolgen eine Heimat bei der Bundeswehr finden können.Ich finde es motivierend für die Truppe, wenn sie erlebt,dass der eine oder andere, der versehrt aus dem Einsatzzurückgekommen ist, seinen Dienst in der Heimat, in derKaserne, versieht. Damit wird symbolisch deutlich, dassman als Soldat in einem solchen Fall nicht alleingelassenwird.
Ich möchte einen zweiten Punkt aus unserem Antragansprechen. Es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungsbe-richte von verwundeten Soldaten über das, was ihnenhinterher widerfahren ist, wenn sie mit einer Verwun-dung und entsprechenden Spätfolgen in die Heimat, zurBundeswehr zurückkehren. Es gibt Beispiele, bei denenMilitärseelsorge, Stammeinheit, Sozialdienst und Wehr-verwaltung hervorragend zusammenarbeiten und zügigeine unbürokratische Lösung finden. Es gibt aber aucheine Reihe von Beispielen, bei denen die Soldaten in derBürokratie der Bundeswehr ziemlich alleingelassen sind,wo die Interessen der einzelnen Soldaten in den großenMühlen der Bürokratie nicht in ausreichendem Maße be-rücksichtigt werden.Die Tatsache, dass es in vielen Fällen sehr gut funk-tioniert, zeigt, dass es klappen kann. Wir würden unswünschen, dass die Rahmenbedingungen so gestaltetwerden, dass es nicht von der Befähigung und demWohlwollen einzelner Akteure abhängt, ob ein guterWeg durch die Bürokratie gefunden wird. Vielmehr soll-ten die Prozesse so gestaltet sein, dass sich die Soldatenauf die Bundeswehr verlassen können, dass sich ihre An-sprüche zügig durchsetzen lassen, ohne unzumutbare bü-rokratische Hürden überwinden zu müssen. Da gibt esNachsteuerungsbedarf, insbesondere auf der Ebene derkonkreten administrativen Umsetzung.Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von denKoalitionsfraktionen, die an dem Antrag mitgewirkt ha-ben, danken. Ich möchte auch dem Deutschen Bundes-wehrverband und dem Reservistenverband für seinewichtigen Impulse bei diesem Thema danken. Es ist ein-fach wichtig, dass wir im Gespräch mit den offiziellenVertretern der Soldaten gemeinsam an diesen Themenarbeiten und so Lösungen aus der Praxis für die Praxisfinden.Wir erwarten nun von der Bundesregierung, dass un-ser Antrag zügig in eine Gesetzesinitiative mündet, da-mit wir beginnen können, die geforderten Maßnahmenkonkret umzusetzen. Gerade in der Phase des Umbausder Bundeswehr ist die Verbesserung der Einsatzversor-gung eine vertrauensbildende Maßnahme für alle Solda-tinnen und Soldaten.
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Jürgen Hardt
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Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Verbesserung
der Regelungen zur Einsatzversorgung“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/3229, den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/2433 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP
und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ein nationales Klimaschutzgesetz – Verbind-
lichkeit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der
Vorreiterrolle gerecht werden
– Drucksache 17/3172 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe-
ben
– Drucksache 17/2485 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Die richtigen Lehren aus Kopenhagen zie-
hen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Klimaschutzziele gesetzlich verankern
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Klimaschutzgesetz vorlegen – Klimaziele
verbindlich festschreiben
– Drucksachen 17/522, 17/1475, 17/132, 17/2318 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung
Dr. Matthias Miersch
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Bärbel Höhn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Debatte über den Klimawandel hat malHochkonjunktur, mal nicht. Mal werden Auswirkungenin manchen Medien reißerisch übertrieben, mal werdendie Auswirkungen verharmlost.Klar ist, dass schon heute Hunderte Millionen vonMenschen von den Auswirkungen des Klimawandels be-troffen sind, und zwar in großer Mehrheit negativ. Essind Menschen, die die Hintergründe nicht kennen, dieden Klimawandel nicht erklären können, die noch nichtsvon Klimakonferenzen in Kopenhagen, Cancún oderKioto gehört haben. Diese Menschen merken, dass etwasnicht stimmt, dass sie Niederschläge oder Trockenpha-sen nicht mehr verstehen, beispielsweise die Bauern inÄthiopien oder Kenia, dass Stürme und Fluten in einerHäufigkeit und Stärke auftreten, die sie bisher nichtkannten, zum Beispiel in Guatemala oder Pakistan. Siemerken, dass sie ihre Häuser am Meer verlassen müssen,wie auf den Malediven, auf Tuvalu oder in Mikronesien,weil das Wasser immer häufiger mit dem Meer ins Hauskommt. All das ist keine Spinnerei, sondern es geschiehtheute. 97 Prozent der Wissenschaftler, die sich damit be-schäftigen, sagen, dass es der Mensch ist, also wir, derdas Klima massiv verändert.Wir brauchen jetzt einen Aufbau einer anderen Artder industriellen Produktion, eine andere Art der Ener-gieerzeugung, eine andere Art des Lebens bei gleichblei-bender oder sogar steigender Lebensqualität. Das gehtnicht von heute auf morgen, aber die Richtung mussstimmen, die Ziele müssen stimmen, und es muss mehrVerlässlichkeit herrschen, als es heute gibt: die Verläss-lichkeit, dass der Weg hin zu einer kohlenstoffarmen Ge-sellschaft konsequent beschritten wird und dass sich je-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6851
Frank Schwabe
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der darauf einstellen kann und muss, national undinternational.
Mit Erlaubnis des Präsidenten lese ich Ihnen etwasvor – ich zitiere:Ein Klimaschutzgesetz wird die mittel- und lang-fristigen Klimaschutzziele als Rahmen für ein effi-zientes Monitoring und die Fortschreibung desIKEP
festlegen. Damit erhält die Wirtschaft einen verläss-lichen Planungshorizont für ihre langfristigen In-vestitionsentscheidungen. Notwendige Infrastruk-turprojekte erhalten hierdurch eine größereöffentliche Akzeptanz. Deshalb werden wir– jetzt kommt es –analog zum britischen Climate Change Act ein Kli-maschutzgesetz verabschieden …Was ist das, und wo steht das? Das ist nachlesbar aufder Internetseite www.klimaretter.info. Es ist aus eineminternen Papier des jetzigen BundesumweltministersNorbert Röttgen,
in dem seine Vorstellungen für ein sogenanntes Energie-konzept der schwarz-gelben Regierung beschrieben wer-den. Vor einigen Wochen konnte man das auf der ebengenannten Internetseite lesen.Dass sich davon nicht ein Satz im aktuellen Text desEnergiekonzepts wiederfindet, offenbart zweierlei: Ers-tens. Die kurzen Hosen des Umweltministers sindhöchstens Boxershorts, um keine anderen Begrifflichkei-ten zu wählen. Zweitens. Das sogenannte Energiekon-zept ist gar keines.
Die Revolution in der Klimaschutzpolitik, wie es dieKanzlerin in Vorspiegelung falscher Tatkraft nannte, dasanspruchsvollste Programm seit den 70er-Jahren, wieHerr Röttgen es genannt hat, hat mit Klimaschutz undEnergiekonzept nichts zu tun. Es ist ein Atomlobbykon-zept für eine Vermögensvermehrung in Milliardenhöhebei einigen wenigen Energiekonzernen und ein Kaputt-machkonzept für den Ausbau von erneuerbaren Energienmit der Gefährdung von Hunderttausenden jetziger undzukünftiger Arbeitsplätze. So ist das.
Sie legen alle Scheu ab. Bei der FDP geschieht alleseher lustlos. Ich habe die Rede von Herrn Wirtschaftsmi-nister Brüderle in der letzten Woche verfolgt. Ihm wardie Leidenschaft für erneuerbare Energien bei seiner eu-phorischen Rede geradezu anzumerken. Im Ernst: BeiSchwarz-Gelb geben inzwischen die Fuchsens und diePfeifers den Ton an. Michael Fuchs hat am 7. Februar2010 in der Welt am Sonntag die Windkraft- und Solar-anlagen als „Vogelschredderanlagen“ und „Subventions-gräber“ bezeichnet. Frau Dött hat dem Fass allerdingsden Boden ausgeschlagen. Frau Dött – sie spricht heutenicht –, die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, weilte bei einer Veranstaltung derFDP, zu der auch Fred Singer eingeladen war.
– Nicht der FDP, sagt Herr Kauch, sondern eines Abge-ordneten der FDP. Herr Kauch distanziert sich, das findeich schon einmal gut.
Er ist ein bekannter bezahlter Lobbyist, der schon soziemlich alle negativen Auswirkungen von allen mögli-chen Dingen auf die Menschen bestritten hat, vomOzonloch über den sauren Regen bis zum Rauchen; daskann man alles nachlesen.
Er hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, den Klimawan-del zu verharmlosen und den Einfluss des Menschen ab-zustreiten; davon gibt es unterschiedliche Versionen. EinSatz, den er von sich gab, lautete:Die Leute, die Gesetze machen, um das Klima zuschützen, sind unser größtes Problem.– Damit sind wahrscheinlich wir gemeint. Weiter heißtes:… je mehr CO2, desto besser. Wir sollten den Chi-nesen dankbar sein.Das ist in der Financial Times Deutschland vom17. September 2010 nachzulesen.
– Frau Dött, es ist gut, dass Sie sich melden.Ebenfalls nachzulesen sind die Kommentare von FrauDött, die die Ausführungen von Herrn Singer „sehr, sehreinleuchtend“ fand, den Klimaschutz als „Ersatzreli-gion“ und die Umweltpolitiker der Union als „Gutmen-schen“ bezeichnet. Keines dieser Zitate wurde von FrauDött dementiert. Dazu hätte sie in der letzten Woche imUmweltausschuss Gelegenheit gehabt. Sie hat es abernicht dementiert. Das ist schon erstaunlich. Jeder kannjeden Unsinn behaupten. Man kann zum Beispiel be-haupten, dass die Erde quadratisch ist. Frau Dött ist aberdie umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU.
– Vielleicht kann man das einmal alles notieren. Es ist inhöchster Form entlarvend und spricht Bände, dass Siedas auch noch unterstützen. – Ihre Sprecherin hält denKlimawandel für Quatsch. Wenn Sie ihr nicht widerspre-chen – Sie haben gleich die Gelegenheit dazu –, dann
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6852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Frank Schwabe
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halten Sie ihn wohl alle für Quatsch. Das muss man zu-mindest annehmen.
Ich sage es noch einmal: Man kann jeden Standpunktvertreten. Man muss es dann aber auch verantworten,liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb. WasSie vertreten, ist im Endeffekt gegen den Geist der Auf-klärung, gegen jede Wissenschaft und das Wissen-schaftsverständnis dieses Landes gerichtet.
Sie können alles vertreten und alles behaupten. Sie kön-nen auch behaupten, dass die Kinder vom Klapperstorchkommen. Die Frage ist bloß, ob man so jemanden zumLeiter einer gynäkologischen Abteilung macht; das istdie entscheidende Frage.
Sie meinen es mit dem Thema Klimaschutz nichternst. Wer es mit dem Klimaschutz nicht ernst meint undgegen erneuerbare Energien polemisiert, der kann natür-lich auch nichts für den Klimaschutz tun und kein zu-kunftsfähiges Energiekonzept vorlegen. Ihr Energiekon-zept ist ein Müsste-könnte-sollte-hätte-wenn-Konzept.30 dürftig beschriebene Seiten enthalten allein 36 Prüf-aufträge. Ganz konkret wird es nur im Bereich derAtomenergie. Damit wird klar, was das Ganze soll. Des-halb muss es jetzt ganz schnell gehen. Die Anhörungenwerden durchgepeitscht. Die verfassungsrechtlichen Be-denken werden beiseitegewischt. Der Rest ist ein unver-bindliches Sammelsurium.Über Ihre Ziele kann man reden. Ich finde allerdings,dass wir bis 2050 das 95-Prozent-Ziel erreichen müssen,nicht nur ein 80-Prozent-Ziel. Ihr Ziel bleibt in diesemKonzept ein wenig unklar. Und was bringen Ziele, wennsie unverbindlich sind? Deswegen brauchen wir inDeutschland ein Klimaschutzgesetz. Der Umweltminis-ter scheint das auch so zu sehen. Er ist zwar nicht da, hates anscheinend aber unterstützt. Wer den Einstieg in eineandere Form der industriellen Produktion und der Ener-gieversorgung schaffen – dieser ist eigentlich geschafft –und den Umstieg dauerhaft fortsetzen will, der muss fürVerstetigung sorgen. Er muss die Verlässlichkeit der Pro-gnosen für Investitionen erhöhen. Sie aber machen dasgenaue Gegenteil: Sie schaffen einen Investitionsatten-tismus bei den erneuerbaren und sogar bei den fossilenEnergien. Auch die Aktienkurse der großen Energiever-sorger machen deutlich, dass nicht alle in diesem Landan Ihre Atomwende glauben.Der Antrag auf Schaffung eines Klimaschutzgesetzes,den wir Ihnen heute vorlegen, hatte einen längeren Vor-lauf. Ihm ging ein längerer Prozess der Diskussion undder Beteiligung von Unternehmen, Unternehmensverbän-den, Umweltverbänden, Gewerkschaftlern, Wissenschaft-lern, Automobilverbänden, der britischen Botschaft,Herrn Schellnhuber und anderen voraus. Allein 35 schrift-liche Stellungnahmen haben wir verarbeitet; daraufmöchte ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Nur soviel: Zu einem Klimaschutzgesetz, das wir brauchen, ge-hören verbindliche, gesetzlich fixierte Ziele und Zwi-schenziele. Zu einem Klimaschutzgesetz gehören ge-setzlich fixierte Überprüfungsmechanismen, damit dieRegierung weiß, dass sie sich nicht drücken kann. Diesemüssen transparent sein. Die Regierung muss sich min-destens einmal im Jahr in einer öffentlichen Debattedazu erklären. Zu diesem Klimaschutzgesetz muss einunabhängiges Überprüfungsgremium aus bestehendenInstitutionen und weiteren Wissenschaftlern kommen.Wir brauchen klare Sanktionsmechanismen bei Nicht-einhaltung der Ziele. Das alles kann ein nationales Kli-maschutzgesetz leisten.Wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen;das habe ich bereits erwähnt. Diese kamen von den Um-weltverbänden WWF, BUND und anderen. Sie kamenvon den Gewerkschaften DGB und IG Metall. Es kamenauch spannende Rückmeldungen von Verbänden, vondenen ich zunächst einmal nicht geglaubt hatte, dass siesich positiv äußern würden. Dazu gehören der ADACund auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anla-genbau. Sie alle haben dieses Gesetz begrüßt.Noch einmal: Bei einem solchen Gesetz geht es nichtum konkrete Maßnahmen, sondern um einen Rahmenfür die Klimaschutzgesetzgebung der nächsten Jahre.Deswegen bringen wir diesen Antrag heute ein. Wir hof-fen, dass das der Auftakt für eine intensive Debatte ist.Wenn Sie von der Regierungskoalition Klimaschutz-politik wirklich ernst nehmen, sollten Sie Ihre Atompoli-tik überdenken und aufhören, zu versuchen, einen Wech-sel in der Atompolitik einzuleiten. Sie sollten Ihr nichtvorhandenes Energiekonzept gleich wieder einstampfen.Ich bitte darum, dass Sie die Vorschläge zu einem Kli-maschutzgesetz nicht in Bausch und Bogen ablehnen,sondern Ihre Worte gut abwägen, den Dialog eröffnenund nicht die Tür zuschlagen.Herzlichen Dank und Glück auf!
Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerKollege Schwabe hat einen erheblichen Teil seiner Re-dezeit darauf verwandt, darüber zu spekulieren, wermöglicherweise wann und wo was gesagt hat. Ich finde,wenn wir uns hier mit Klimaschutz und Energiepolitikbeschäftigen, dann sollten wir nach den Fakten fragen:Wofür treten wir gemeinsam ein? Was haben wir ge-meinsam beschlossen? Was haben wir in unseren Erklä-rungen zur Klimapolitik und zum Energiekonzept ge-meinsam festgehalten?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6853
Andreas Jung
(C)
(B)
Ich möchte zunächst auf den Ausgangspunkt, auf Ko-penhagen, zurückkommen. Wir haben mit Unterstützungaller Fraktionen dieses Hauses gesagt: Das Ziel der Bun-desregierung, das 2-Grad-Celsius-Ziel völkerrechtlichverbindlich zu verankern, ist richtig. Wir haben das inKopenhagen nicht geschafft. Dennoch ist das, was vorund während des Gipfels in Kopenhagen richtig war,nach wie vor richtig. Die neuesten wissenschaftlichenErkenntnisse zeigen, dass die Entwicklung, die im letz-ten Bericht des IPCC beschrieben wurde, was den An-stieg des Meeresspiegels, die Auswirkungen auf die Bio-diversität und die Bedrohung der Korallenriffe angeht,eher noch gravierender verlaufen könnte.
Deshalb ist das 2-Grad-Celsius-Ziel nach wie vor rich-tig. Deshalb ist es nach wie vor auch richtig, dass dieBundesregierung dieses Ziel international verfolgt. Beidiesem Kurs haben die Bundeskanzlerin und der Bun-desumweltminister die volle Unterstützung der Unions-fraktion; da gibt es überhaupt kein Vertun.Das, was wir international für richtig halten, das 2-Grad-Celsius-Ziel, ist auch die Grundlage für unsere nationalePolitik. Das ist die Grundlage für unsere nationalenZiele. Ich möchte herausstellen, dass sich diese Bundes-regierung ehrgeizigere Ziele gesetzt hat als alle Regie-rungen zuvor.
Wir haben erklärt: Wir wollen den Ausstoß von Treib-hausgasen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 re-duzieren, und zwar unbedingt, egal was andere machen,egal ob es zu dem ehrgeizigen Weltklimaschutzabkom-men, das wir anstreben, kommt oder vorläufig nicht. Wirgehen voran. Wir sind Vorreiter. Das gilt genauso für dielangfristigen Ziele. 2050 soll die Reduzierung gegenüber1990 80 bis 95 Prozent betragen.
Gerade mit unserem Energiekonzept machen wirdeutlich, dass es nicht bei den Zielen bleiben darf, son-dern der Zielformulierung Taten folgen müssen, weil nuraus der Umsetzung Glaubwürdigkeit erwächst. Aus die-sem Grund greifen wir den Gedanken des Monitoringsauf. Zum ersten Mal soll dieses Instrument jetzt genutztwerden. Alle drei Jahre soll ein wissenschaftlich fundier-ter Bericht vorgelegt und öffentlich diskutiert werden.Wie schnell erreichen wir unsere Ziele? Können wir dieZehnjahresschritte, die in dem Energiekonzept festgelegtsind – 2030 minus 55 Prozent, 2040 70 Prozent –, ein-halten? Wir stellen uns der Diskussion. Das Erreichensolcher Ziele war in der Vergangenheit unsere Stärke;Stichwort: Kioto. Wir Deutsche hatten ehrgeizige Zieleund haben sie umgesetzt. Das muss auch in Zukunft dieBasis unserer Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik sein.Ziele sind das eine, Instrumente sind wichtig, aberentscheidend sind am Ende die Taten. Ich möchte dafürwerben, dass wir uns dieses Energiekonzept genau an-schauen. Ich finde, aus Umweltgesichtspunkten enthältes etliche Punkte, über die wir uns freuen können. In die-sem Gesamtkonzept wird gesagt: Wir wollen den Weg inRichtung einer stärkeren Nutzung der erneuerbarenEnergien beschreiten. Wir wollen, dass unsere Energie-versorgung bis 2050 nahezu vollständig durch erneuer-bare Energien gedeckt wird. Die Grundlage dafür solldas Erneuerbare-Energien-Gesetz sein, das wir weiter-entwickeln wollen. Wir halten an dem fest, was ich fürzentral halte, an dem unbedingten Vorrang erneuerbarerEnergien bei der Einspeisung.
Das zeigt, dass wir ein klares Ziel haben, und das Zielheißt: Wir wollen hin zu erneuerbaren Energien.Auf dem Weg zu diesem Ziel ist noch die eine oderandere Hürde zu überwinden, gibt es noch die eine oderandere offene Frage.
Dabei geht es zum Beispiel darum, dass wir den Stromnicht immer dort brauchen, wo Wind weht, und dass wirEnergie häufig nicht gerade dann erzeugen, wenn sie ge-braucht wird. Der Wind weht nicht unbedingt genaudann, wenn die Nachfrage am größten ist. Wir brauchenden Ausbau von Netzen, wir brauchen intelligente Netzeund neue Speichertechnologien, um die Voraussetzungendafür zu schaffen, dass erneuerbare Energien verlässlichund grundlastfähig an die Stelle der heutigen Strukturder Energieversorgung treten können. Das ist unser Ziel.Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir ganz konkreteMaßnahmen beschrieben. Aber wir brauchen noch etwasZeit und vor allem Geld. Deshalb ist es ein Riesenerfolgder Umweltpolitik, dass in dem Energiekonzept die Zu-sage des Finanzministers festgehalten worden ist, dassdie Mehrerlöse aus der Versteigerung der Emissions-rechte ab 2013 vollständig einem Fonds für erneuerbareEnergien, für Energieeffizienz, für internationalen undnationalen Klimaschutz zugutekommen werden. Ichfinde, das ist ein Erfolg, über den wir uns freuen können,weil dadurch all das, was wir gemeinsam wollen, einenSchub bekommen wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ott?
Ja, bitte.
Vielen Dank. – Herr Kollege Jung, ich glaube Ihnen,dass Sie und andere in Ihrer Fraktion durchaus bemühtsind, den Klimaschutz voranzubringen. Sie versuchen jagerade, uns das hier zu erklären. Ich komme zu meinerFrage. Kollege Schwabe hat darauf hingewiesen, dass esin Ihrer Fraktion Personen gibt, beispielsweise Frau Dött– sie ist genannt worden –, die als umweltpolitischeSprecherin Ihrer Fraktion einem in der Szene weltbe-kannten Klimawandelleugner, nämlich Fred Singer, zu-stimmt und seine Thesen, dass der Klimawandel eine
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6854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Dr. Hermann Ott
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Schimäre ist, dass diejenigen, die Klimapolitik vorantrei-ben, die eigentlich Gefährlichen sind, einleuchtend findetund sich selber noch zu der Aussage versteigt – dem hatsie nicht widersprochen; sie hat nur gesagt, dass es ausdem Zusammenhang gerissen worden ist –, die Klima-politik sei eine Ersatzreligion.Bei uns drängt sich natürlich der Eindruck auf, dass,auch wenn es, wie gesagt, einige unter Ihren Kollegin-nen und Kollegen gibt, die Klimaschutz wirklich voran-treiben wollen, in der Sache die anderen die Oberhandbehalten. Denn Ihre Klimaschutzgesetzgebung und IhreEnergiegesetzgebung, die Sie uns hier verkaufen wollen,entsprechen so ganz und gar nicht dem Ziel, die Emis-sionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Deshalb bitteich um Folgendes: Können Sie klarstellen, dass IhreFraktion im Gegensatz zu dem, was Ihre umweltpoliti-sche Sprecherin sagt, den Klimawandel und den Anteilder Menschen am Klimawandel für unabweisbar hält?Damit wäre uns sehr geholfen.
Herr Kollege, das war eher eine Frage an die Kollegin
Dött als an mich;
aber ich kann auf die letzte Sitzung des Umweltausschus-
ses verweisen, wo ich, als wir dort über Klimaschutz ge-
sprochen haben, dieselben Standpunkte vertreten habe
wie hier. Sie haben danach die Kollegin angesprochen,
und sie hat darauf verwiesen, dass das, was ich als Be-
richterstatter für Klimaschutz im Ausschuss, im Plenum
oder an anderer Stelle vertrete, die abgestimmte Position
unserer Fraktion ist, die im Koalitionsvertrag und auch
im Energiekonzept ihren Niederschlag gefunden hat.
Demnach ist unbestritten und unbestreitbar, dass es einen
menschengemachten Klimawandel gibt und dass die
Konsequenz aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis
die Herausforderung ist, bis zur Mitte dieses Jahrhun-
derts den CO2-Ausstoß weltweit zu halbieren.
Die Konsequenz daraus wiederum ist, dass die Industrie-
staaten einen höheren Anteil als 50 Prozent übernehmen
müssen. So kommen wir zum Minderungsziel der Bun-
desrepublik Deutschland von 80 bis 95 Prozent bis 2050,
das wir auch in unserem Energiekonzept niedergelegt
haben.
Wenn Sie nach den konkreten Maßnahmen fragen,
verweise ich zum einen darauf, was ich schon beim
Thema erneuerbare Energien beschrieben habe.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,
und zwar des Kollegen Fell von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen?
Bitte schön.
Herr Kollege Jung, die Aussage, Ihre Fraktion würde
den Klimaschutz massiv unterstützen, befriedigt mich
angesichts der Tatsache, dass Ihre Fraktion eine umwelt-
politische Sprecherin gewählt hat, die eine aktive Klima-
wandelleugnerin ist, nicht.
Das ist offensichtlich Fraktionsmeinung. Anders wäre
nicht zu erklären, warum Ihre Fraktion eine solche Per-
son in diese Funktion gewählt und mit der wichtigsten
Fragestellung der Umweltpolitik betraut hat.
Herr Kollege Fell, Fraktionsmeinung ist das, was wirin der Fraktion gemeinsam beschließen. Diese Inhaltekönnen Sie in unserem Energiekonzept nachlesen; dasteht genau das drin, was ich gerade gesagt habe. Es istein klarer Pfad auf dem Weg der Bekämpfung des Kli-mawandels hin zu einer Reduktion der CO2-Emissionenin einem Umfang von 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr2050. Das ist die abgestimmte Linie dieser Bundesregie-rung, unserer Bundestagsfraktion und der Koalition ins-gesamt.Im Übrigen nehmen wir neben den Bereichen, die ichbereits angesprochen habe, auch alle anderen relevantenBereiche in den Blick. Lassen Sie mich das Beispiel Ge-bäudesanierung ansprechen. Wir werden finanzielle Mit-tel brauchen, um die große Aufgabe, die vor uns liegt, zubewältigen und das Ziel der Kohlenstoffneutralität zu er-reichen.
– Genau deshalb führen wir doch die Diskussion, wiewir vermeiden können, dass wir jedes Jahr beim Finanz-minister als Bittsteller auftreten müssen.
Die Förderung von Gebäudesanierung, erneuerbarerWärme und Klimaschutzprogrammen muss aus demjährlichen Klein-Klein um Fördermittel herausgelöstwerden. Deshalb ist es gut, dass ein Klimaschutzfondseingerichtet wird. Er stellt nämlich eine verlässlicheGrundlage für die Förderung der Gebäudesanierung undder anderen Aufgaben, die ich erwähnt habe, dar.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6855
Andreas Jung
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Auch im Verkehrsbereich setzen wir uns klare Zielein Richtung nachhaltiger Mobilität. Wir setzen einenSchwerpunkt bei der Elektromobilität und verknüpfendie Themen Elektromobilität und erneuerbare Energien.Ich bin der Überzeugung, wir müssen daran arbeiten,dass Ökostrom unser Benzin der Zukunft wird, sodasswir die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich in dennächsten Jahren und Jahrzehnten drastisch reduzierenkönnen. Bis 2020 wollen wir 1 Million Elektrofahrzeugeund bis 2030 sogar 6 Millionen Fahrzeuge auf die Straßebringen. Wir unterlegen die Ziele, die wir uns setzen, mitganz konkreten Maßnahmen, und wir verfolgen einenPfad, auf dem wir unsere Ziele Stück für Stück errei-chen.Ich finde, mit unserem Energiekonzept bleiben wir inEuropa Vorreiter und Antreiber im Klimaschutz. Wie Siees mit Ihren Anträgen tun, so beteiligen auch wir uns ander Diskussion, ob es richtig ist, dass die EuropäischeUnion unbedingt erklärt, das Reduktionsziel von 30 Pro-zent bis 2020 zu erreichen. Auch ich verfolge natürlichdie Debatte auf europäischer Ebene. Zwischen Europäi-scher Kommission und Europäischem Parlament findennoch Diskussionen statt, und wir wissen, dass auch dieBundesregierung noch keine abgestimmte Position hat.Ich persönlich sehe keinen Grund, warum das, was inder Bundesrepublik richtig ist, nämlich eine Verpflich-tung zu unbegrenzten Emissionszielen, in der Europäi-schen Union falsch sein sollte. Ich will hinzufügen: Ichbin sogar der Auffassung, dass es geradezu im deutschenInteresse wäre, wenn sich auch die anderen Staaten derEuropäischen Union zur Erreichung so ehrgeiziger undunbegrenzter Ziele verpflichten würden, wie wir es inDeutschland bereits getan haben.
Ich halte es für richtig, dass auch der Bundesumwelt-minister diese Position vertritt.
Ich bin der Auffassung, wir Umweltpolitiker sollten ihnauf diesem Weg und in dieser Diskussion unterstützen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBundesregierung will noch in diesem Monat, also ganzschnell, ein Energiepaket, von dem sie behauptet, eswürde die Erreichung der Klimaziele befördern, durch-peitschen. In Wirklichkeit geht es vor allem um eineLaufzeitverlängerung von AKWs
und die Profite der großen Energiekonzerne, aber nichtvordringlich um die Klimaziele.
Wenn man die Anträge der Fraktionen der SPD, derLinken und der Grünen liest, stellt man fest: Es bestehtgroße Einigkeit. Die Notwendigkeit, zu handeln, wirderkannt.Ich stelle noch einmal die Frage: Warum brauchen wirein Klimaschutzgesetz? Wir brauchen es, weil momen-tan die Klimaschutzziele von der Regierung geändertwerden können, da sie nicht gesetzlich festgeschriebensind.Immer wird so toll über Selbstverpflichtungen ge-sprochen. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Selbst-verpflichtung eingehalten wurde. Ich möchte Sie daranerinnern, dass die Selbstverpflichtung 2005, die eine Re-duktion um 25 Prozent beinhaltete, auch nicht erfülltwurde.Warum brauchen wir dieses Gesetz? Abweichungenbleiben folgenlos. Zwischenziele müssen überprüfbarwerden. Wir müssen früh genug, wenn das nicht funktio-niert, die Notbremse ziehen können. Das halte ich fürdringend notwendig. Darin sind wir uns einig.Jetzt komme ich zum Ansatz der Linken. Dabei zeigeich auch einige Differenzen auf. Der WissenschaftlicheBeirat Globale Umweltveränderungen hat Konzepte dar-gestellt. Wenn jeder Mensch auf der Welt die gleichenRechte auf Emissionen hätte, hätte Deutschland beigleichbleibenden Emissionen ab 2010 in zehn Jahrensein klimaverträgliches Budget verbraucht. In der EUwürde das zwei Jahre später passieren. Ich spreche vonden Pro-Kopf-Zahlen.Das heißt, die Industrieländer brauchen ambitionierteSparziele. Wir, die Linken, sagen: Wir müssen den glo-balen Süden entschädigen, wenn wir über unserem Bud-get – das ist der Fall – und die Entwicklungsländer unterihrem Budget bleiben. Das ist auch der Grund, weshalbdie Linke in ihrem Entwurf für das KlimaschutzgesetzTransfergelder an Entwicklungsländer vorschreibt. Dennunsere nationalen Einsparziele sind nur gerecht, wenndie ärmeren Länder den Deal akzeptieren. Das kostetGeld.
Wie wichtig das ist, zeigt das Trauerspiel um das ITT-Yasuní-Projekt in Ecuador. Der Plan: keine Zerstörungdes Regenwaldes in der Region und kein Abbau vonErdöl, dafür aber ein Ausgleich der Industriestaaten.Übersetzt heißt das: Der Norden bezahlt ein armes la-teinamerikanisches Land für einen Teil der Exportver-luste und zugleich für den Schutz von Klima und Biodi-versität, also Artenschutz.Alle Fraktionen waren in der letzten Legislatur-periode dafür, haben das unterstützt und Signale gesetzt.Das war auch noch letzte Woche beim Besuch der
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6856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Eva Bulling-Schröter
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ecuadorianischen Umweltministerin der Fall. Aber derEntwicklungsminister, Herr Niebel, will die Gelder strei-chen.
Die Umweltministerin wurde nicht einmal von HerrnNiebel empfangen, sondern nur von einem Abteilungs-leiter des BMZ. Das finde ich schäbig.Genau so organisiert man auf internationaler EbeneBlockaden zwischen Industrie- und Entwicklungslän-dern. Das ist ein Beispiel dafür. Das ist der Weg, wie in-ternationale Klimaverhandlungen gegen die Wand ge-fahren werden. Ich warne davor.
Natürlich haben wir die Pflicht, zu Hause ambitio-nierte Einsparziele zu erreichen. Da gibt es eine MengeLuft. Da können wir sehr viel tun. Denn die Frage ist:Sind wirklich 40 Prozent bis 2020 für Deutschland ange-messen? Das gilt auch für das magere EU-Ziel von20 Prozent.Krisenbedingt ist der Ausstoß von CO2 gesunken. DieZahl liegt bei fast minus 30 Prozent in Deutschland; inder EU beträgt sie minus 17 Prozent. Das heißt, der An-teil regenerativer Energien wächst noch schneller – daswollen wir –, als wir erwarten.Die EU sagt dazu, man brauche ein anspruchsvolleresZiel. Die Kosten dafür lägen niedriger, als vor der Kriseerrechnet wurde. Deshalb sagen wir: Wir brauchen die-ses Ziel. In Deutschland sollten wir über 50 Prozent undin der EU – das sagte auch Herr Jung – über 30 Prozentreden. Ich denke, darüber können wir uns relativ schnelleinigen.Jetzt zum SPD-Antrag: Darin steht, dass die Emis-sionsminderung im Inland stattfinden solle. CDM und JI– das sind internationale Projekte in anderen Ländern,für die es Zertifikate gibt – seien zur Ergänzung da. Jetztwürde ich gerne wissen, was das heißt.
Was meinen Sie damit? Das hat nämlich eine starke Aus-wirkung auf die Erfüllung der Minderungsziele. Deshalbmeinen wir: Dort dürfen Sie nicht unklar bleiben.Deutsche Unternehmen können sich vom nationalenKlimaschutz freikaufen, wenn sie CO2-Gutschriften ausdem Ausland vorweisen. Das ist inzwischen bekannt undginge auch in Ordnung, wenn dahinter tatsächlich Kli-maschutz stehen würde. Ich denke, das meinen Sie auch.Die Hälfte der Zertifikate ist aber heiße Luft. Dadurchwird der Klimaschutz hier im Land aufgeweicht.Das ARD-Magazin Monitor hat über HFC-23-Pro-jekte berichtet. Dabei geht es um Abfallprodukte aus derKältemittelherstellung. Damit wird getrickst. Sie werdenauf Halde produziert, damit der Klimakiller als Ne-benprodukt wieder vernichtet wird. Dafür gibt es ebendiese Emissionszertifikate. 19 Chemieunternehmen aufder Welt – meist in China und Indien mit Investoren ausEuropa und Japan – arbeiten daran. Aus diesen wenigenAnlagen stammt – das ist eigentlich unglaublich; ichnenne jetzt noch einmal die Zahl – die Hälfte aller welt-weit gehandelten Emissionszertifikate.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns also nocheinmal intensiv darüber reden, was wir hier wirklichwollen; denn so hat das keinen Sinn.Ich komme zum Schluss. Wir haben im Umweltaus-schuss über Peak Oil gesprochen. Dabei haben wir da-rüber gesprochen, welche Auswirkungen das habenwird. Das müssen wir weiter tun.In der vorherigen Debatte haben wir gerade gehört:Es ist wieder ein Soldat in Afghanistan gestorben. – Ichmeine, wir sollten darüber diskutieren:
Regenerative Energien tragen zum Frieden bei. Kriegewerden um Öl und um natürliche Ressourcen geführt.
Es gab einen Bundespräsidenten – er ist zurückgetreten –,der gesagt hat: Aus wirtschaftlichen Gründen werdenKriege geführt. – Das hat er gesagt, auch wenn Sie dasleugnen. Auch aus diesem Grund müssen wir mehr Kli-maschutz betreiben. Die Gelder für die Kriege könntenauch dort gut investiert werden.
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grundlage
der Klimapolitik der FDP ist der Mainstream der Wis-
senschaft. Die FDP verbietet aber keinem ihrer Abge-
ordneten eine Diskussion oder eine eigene Meinung.
Entscheidend ist am Schluss – ich denke, das wird bei
CDU/CSU genauso sein –, was Mehrheiten entscheiden,
und Mehrheiten in der FDP haben sich auf Parteitagen
und in der Fraktion überwältigend klar für die Klima-
politik ausgesprochen, die diese Bundesregierung hier
vereinbart hat und umsetzt.
Herr Kollege, Sie haben sofort eine Zwischenfrage
provoziert. Wollen Sie Ihre Redezeit verlängern, dann
sagen Sie zu.
Gerne.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6857
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Herr Kollege Schwabe, bitte.
Herr Kollege Kauch, ich begrüße diese Aussage der
FDP ausdrücklich. Gleichzeitig will ich Sie aber fragen:
Was halten Sie dann davon, dass es Ihre Partnerfraktion
in der Koalition so hält, dass sie eine Person, die den
menschengemachten Einfluss auf den Klimawandel in
der Tat infrage stellt, zu ihrer Sprecherin für das Thema
Umweltschutz macht? Spricht das aus Ihrer Sicht dafür,
dass die Mehrheit in dieser Fraktion diese Meinung teilt?
Lieber Kollege Schwabe, ich würde es mir verbitten,
wenn die CDU/CSU-Fraktion unsere Personalentschei-
dungen kommentieren würde. Deshalb kann ich nur sa-
gen, dass der Kollege Jung alles Notwendige zu dieser
Frage gesagt hat.
Meine Damen und Herren, wir stehen zur Politik der
Emissionsminderung von Treibhausgasen, weil das für
uns geradezu eine Frage der Generationengerechtigkeit
ist. Wir müssen den Generationen, die nach uns folgen,
nämlich Lebensräume hinterlassen, die lebenswert sind,
und Ressourcen für sie erhalten, die sie vielleicht noch
einmal brauchen werden. Das betrifft Rohstoffe, das be-
trifft aber eben auch natürliche Ressourcen und die Bio-
diversität.
Deshalb hat diese Bundesregierung – haben CDU/
CSU und FDP im Deutschen Bundestag – höhere CO2-
Minderungsziele beschlossen, als es jede Regierung zu-
vor getan hat: 40 Prozent unkonditioniert bis 2020,
80 Prozent bis 95 Prozent bis 2050.
Deshalb brauchen wir in der Klimapolitik absolut keine
Nachhilfe von der Opposition.
Im Energiekonzept gehen wir noch weiter. Wir haben
im Koalitionsvertrag vereinbart, Zwischenschritte für ei-
nen Entwicklungspfad zur Emissionsminderung zu set-
zen. Das ist auch richtig so. Dann kann sich jeder darauf
einstellen, welche Schritte in Politik und Wirtschaft in
den kommenden Jahren und Jahrzehnten folgen werden.
Wir haben das Energiekonzept klar beschlossen. Der
Deutsche Bundestag wird das mit einem Antrag von
CDU, CSU und FDP unterstützen, zumindest dann,
wenn Sie uns die Gelegenheit geben, endlich zu Ent-
scheidungen zu kommen, statt immer wieder nur durch
formale Obstruktion die Prozesse in die Länge zu zie-
hen.
Wir haben eine CO2-Minderung um 55 Prozent bis 2030
und um 70 Prozent bis 2040 sowie ein Monitoring durch
die Bundesregierung beschlossen, das alle drei Jahre
durchgeführt werden soll. Das sind genau die Ziele, die
Sie mit Ihrem Klimaschutzgesetz erreichen wollen. Wir
werden das auch mit dem Energiekonzept, das wir be-
schlossen haben, erreichen können.
Das ist ein realistischer Pfad. Es ist alles durchgerech-
net worden. Die Opposition – das wird auch in dem An-
trag der SPD deutlich – folgt in ihren Forderungen im-
mer dem Grundsatz „Es darf ein bisschen mehr sein“.
Die SPD hat im Januar und im Oktober Anträge vorge-
legt. Im Januar hat sie unter dem Titel „Die richtigen
Lehren aus Kopenhagen ziehen“ eine CO2-Minderung
von 80 bis 95 Prozent gefordert. Das fanden wir gut. In-
zwischen, ein Dreivierteljahr später, boomen die Grünen
im Gegensatz zu Ihnen, und deswegen müssen Sie jetzt
ein bisschen nachlegen, indem Sie 95 Prozent fordern.
Das war vorher offensichtlich nicht die Lehre, die Sie
aus Kopenhagen gezogen haben, und macht deutlich,
worum es hier geht: Sie veranstalten eine Zahlenspiele-
rei. Das bringt uns in der Sache nicht weiter. Sie betrei-
ben eine PR-Strategie, um ein paar Wähler mehr von den
Grünen zu bekommen.
Der Kollege Schwabe will noch eine Zwischenfrage
stellen.
Nein, jetzt nicht mehr. – Deshalb rufe ich in Erinne-rung, was aus den Zielen wird, die sich rot-grüne Regie-rungen gesetzt haben. Helmut Kohl und Angela Merkelhaben in den 90er-Jahren als nationales Klimaschutzzieleine CO2-Minderung von 25 Prozent bis 2050 beschlos-sen.
Das wurde 1998 von der rot-grünen Regierung übernom-men.Dann war Jürgen Trittin sieben Jahre lang Umweltmi-nister dieser Republik. Am Ende – ich glaube, es war imJahr 2003 – hat die Bundesregierung klammheimlichdieses nationale Klimaschutzziel aus allen Berichten ge-tilgt, weil sie es nicht erreicht hat. Ihre Politik erreichtdie Klimaschutzziele nicht, die Sie der Bevölkerung vor-gaukeln.
Diese Koalition macht realistische Politik. Deswegenbringen wir ein Energiekonzept auf den Weg, das denAufbruch in das Zeitalter der erneuerbaren Energiennicht nur einfordert, sondern auch die Wege aufzeigt,wie man ihn erreichen kann.
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Herr Kollege, es gibt noch einmal den Wunsch nach
einer Zwischenfrage vom Kollegen Kelber.
Ich möchte gerne meine Ausführungen zu Ende füh-
ren. – Bis 2050 soll der Anteil der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien 80 Prozent betragen und eine
Minderung von mehr als 50 Prozent beim Primärener-
gieverbrauch erreicht werden. Das wird durch zahlreiche
Maßnahmen unterlegt.
Die wichtigste ist zunächst einmal, dass wir den Ein-
speisevorrang verankern und dadurch dafür sorgen, dass
es keinen Wettbewerb zwischen Kernkraft und erneuer-
baren Energien gibt. Der Einspeisevorrang bewirkt, dass
der Wettbewerb bei der Laufzeitverlängerung zwischen
Kernkraft-, Kohle- und Gaskraftwerken stattfindet. Das
ist auch aus Klimaschutzgesichtspunkten der richtige
Weg.
Darüber hinaus hat diese Koalition im Energiekon-
zept nicht nur 30 dürre Seiten geschrieben, wie der Kol-
lege Schwabe gesagt hat, sondern wir haben ein konkre-
tes Sofortprogramm zum Beispiel für die Offshore-
Windkraft und den Netzausbau verabschiedet.
Ich sage Ihnen von der Opposition ganz klar: Wir
werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, im Deutschen
Bundestag für erneuerbare Energien einzutreten und
dann die Stromleitungen, die notwendig sind, um den
Strom auch in den Süden zu transportieren, zu blockie-
ren und zu obstruieren.
Ich sehe schon voraus, dass die Kollegin Höhn auch bei
den nächsten Bürgerinitiativen dabei sein wird, um In-
frastrukturprojekte für erneuerbare Energien zu verhin-
dern.
Wir setzen uns für Netzausbau und Speicherförderung
ein. Wir legen einen Geothermieatlas auf, damit klar ist,
wo Chancen auf Geothermie bestehen.
Wir stärken die Stellung von Biogas im Wärmebereich,
was die SPD nicht gewollt hat. Wir werden das Förderin-
strumentarium für erneuerbare Wärme ausweiten. Last,
but not least ist der Energie- und Klimafonds das größte
Förderprogramm für erneuerbare Energien, das diese
Republik jemals gesehen hat. Alle Mehrerlöse aus dem
CO2-Handel fließen in diesen Fonds. Hinzu kommt die
Gewinnabschöpfung bei den Kernkraftwerksbetreibern.
Sie dagegen haben damals vertraglich zugesichert, die
Gewinne nicht abzuschöpfen. In Ihrem Atomvertrag ist
zu lesen: kein Geld von den Kernkraftwerksbetreibern.
– Wir nehmen das Geld von den Kernkraftwerksbetrei-
bern, um es in erneuerbare Energien zu investieren.
Wenn man sich die Anträge der Opposition zum Kli-
maschutzgesetz anschaut, stellt man fest, dass sie durch-
aus nachdenkenswerte Punkte enthalten. Aber ich sage
Ihnen ganz klar: Einen Punkt halte ich für absolut inak-
zeptabel, nämlich den Weg in die Räterepublik. Ihnen
fällt, wenn Sie nicht weiterwissen, immer nur ein: Dann
gründen wir einen neuen Arbeitskreis. – In diesem Fall
soll es eine sogenannte unabhängige Klimaschutzkom-
mission sein. Im Antrag der SPD steht:
In der Kommission erhalten der Sachverständigen-
rat für Umweltfragen, der Rat für nachhaltige Ent-
wicklung, der Wissenschaftliche Beirat für globale
Umweltveränderungen sowie namhafte Wissen-
schaftler Sitz und Stimme.
Sie selber zählen auf, wie viele Gremien diese Republik
schon hat, die sich mit dem gleichen Thema befassen.
Dennoch wollen Sie ein neues Gremium sozusagen als
Dach für all die Gremien, die Sie eingerichtet haben, da-
mit alles koordiniert wird. Wenn Sie neue Gremien wol-
len, dann müssen Sie auch sagen, wo etwas bereinigt
werden soll. Ansonsten bleiben wir bei den bewährten
Strukturen, deren Aufbau wir gemeinsam hier im Deut-
schen Bundestag beschlossen haben.
Ich sage ganz klar: Wir Liberale sowie die Kollegin-
nen und Kollegen von der Union gehen voran in das
Zeitalter der erneuerbaren Energien. Wir stehen für
Treibhausgasminderung. Wir brauchen hier keine Nach-
hilfe. Unsere Ziele sind ambitioniert. Wir zeigen auf, wie
man sie erreichen kann.
Der Kollege Kelber wünscht eine Kurzintervention.
Er soll sie bekommen. – Bitte schön.
Vielen Dank. – Herr Kollege Kauch, in der letztenDebatte hatten Sie die Behauptung aufgestellt, im LandNordrhein-Westfalen hätte Schwarz-Gelb eine an-spruchsvollere Klimapolitik gemacht, als es die Nachfol-geregierung vorhat. Das konnte durch Zitate aus demUmweltbericht der schwarz-gelben Landesregierungleicht widerlegt werden. Tatsächlich sind die Emissionenangestiegen. Heute haben Sie gesagt, die alte schwarz-gelbe Bundesregierung hätte bis 1998 eine anspruchs-vollere Klimapolitik als die Nachfolgeregierungen ge-macht. Können Sie bestätigen, dass in der Zeit derschwarz-gelben Bundesregierung die Treibhausgasemis-sionen ausschließlich in den Jahren 1991, 1992 und 1993zurückgegangen sind, dass dieser Rückgang ausschließ-lich aufgrund des Zusammenbruchs der Industrie in Ost-
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Ulrich Kelber
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deutschland sowie der Modernisierungen dort erfolgte,dass die Treibhausgasemissionen von 1994 bis 1999auch in Ostdeutschland wieder angestiegen sind und erstunter der rot-grünen Regierung sanken und dass dieCO2-Emissionen in Westdeutschland in den gesamten16 Jahren der Kohl-Regierungen, zum Teil unter Beteili-gung von Frau Merkel – das sind die beiden Namen, dieSie genannt hatten; offenbar fiel Ihnen kein Name vonder FDP ein –, angestiegen sind und zum ersten Mal imJahr 1999 unter der rot-grünen Regierung gesunkensind? Sind Ihnen die Zahlen bekannt?
Herr Kollege Kauch, zur Erwiderung.
Lieber Kollege Kelber, es ist schon erstaunlich, dass
Sie sich hier offensichtlich zum Anwalt von Herrn
Trittin machen wollen, weil es die Grünen nicht tun. Ich
kann Ihnen nur sagen: Wir haben es durch den Zusam-
menbruch alter Industrien in Ostdeutschland am Anfang
der 90er-Jahre natürlich leichter gehabt als andere Län-
der; das ist völlig unstreitig. Aber wir haben auch an-
spruchsvollere Ziele gesetzt. Es hat sich kein anderer
Umweltminister so mir nichts, dir nichts von Umwelt-
schutzzielen verabschiedet wie Herr Trittin.
An der Stelle muss man mal Herrn Gabriel loben, der
hat nämlich am Schluss seiner Amtszeit die Kioto-Ziele
umsetzen können. Herr Trittin hat es offensichtlich nicht
geschafft.
Jetzt hat Kollegin Höhn das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenhier eben einen Ihrer wirklich legendären Auftritte er-lebt. Sie versuchen, einfach durch Lautstärke zu über-zeugen. Was Sie zu Jürgen Trittin gesagt haben, machtdeutlich, dass Sie nichts verstanden haben. Durch JürgenTrittin sind die erneuerbaren Energien erst mal auf denWeg gekommen, auf dem sie heute sind.
Niemand anders als die Grünen hat die Erneuerbareneingeführt.
Alle Welt guckt auf Deutschland, weil wir das damalsunter Rot-Grün geschafft haben. Davon sind Sie von derFDP meilenweit weg.Ich muss ehrlich sagen, ich finde diese Debatte trau-rig. Eigentlich möchte ich an das anknüpfen, was derKollege Jung gesagt hat. Bei allen Auseinandersetzun-gen, die wir hatten, haben wir hier im Bundestag eineGemeinsamkeit gehabt, und das war der Klimaschutz. Esgab immer eine gemeinsame Basis bei den internationa-len Zielen des Klimaschutzes. Die einen wollten mehrals die anderen, aber vom Grundsatz her haben wir es indiesem Bundestag sogar geschafft, vor Klimakonferen-zen einstimmige Beschlüsse zu Klimaschutzzielen hin-zubekommen.Ich muss sagen, das war eine gute Leistung, weil wirerkannt haben: Das ist ein globales Problem, daraufmüssen wir auch gemeinsam als gesamter Bundestag re-agieren. Daher können wir eine solche Auseinanderset-zung, wie Herr Kauch sie wieder einmal begonnen hat,nicht gebrauchen. Es geht um viel mehr als um das Ge-zänk hier untereinander.Es ist schade, dass Herr Kauch genau diese Debattebeginnt. Ich meine, wenn Herr Kauch jetzt zum Beispielsagt, wir würden die formalen Prozesse, gerade was alldie Atomgesetze, über die wir jetzt diskutieren, angeht,verzögern, dann muss ich sagen: Herr Kauch, denken Siemal einen Moment nach. Machen Sie nicht immer denMund auf, sondern denken Sie einen Moment nach, wasSie uns bei diesen Anhörungen zumuten: zwei Gesetzein vier Stunden. Das heißt, wir haben für die Sicherheitvon Atomkraftwerken und für die wirklich entschei-dende Frage des Atommülls gerade mal 30 bis45 Minuten, um uns damit zu beschäftigen. Das ist eineFarce, und Sie haben uns diese eingebrockt. Das ist dieWahrheit.
Sie haben die Erkundung von Gorleben wieder aufdie Tagesordnung gesetzt. Gorleben, wo es unten eineRiesenblase mit Gas und oben eine wasserlöslicheSchicht gibt, soll als Endlager dienen. Die Fachleute be-haupten, da könnte man Müll 1 Million Jahre zwischendem Gas und der wasserlöslichen Schicht sicher aufbe-wahren. Dazu muss ich sagen: Gehen Sie in sich. Sie ha-ben eine verdammte Verantwortung allen nachfolgendenGenerationen gegenüber. Mit einfachen Sprüchen kommtman da nicht weiter.
Wir diskutieren hier und sagen: Klimaschutz und Klima-ziele dürfen nicht einfach nur irgendwelche Ziele sein,vielmehr brauchen wir Instrumente, die dazu dienen,diese Klimaziele überhaupt erreichen zu können. Des-halb haben wir hier als Grüne im Dezember letzten Jah-res einen Antrag gestellt – die SPD hat jetzt einen An-trag gestellt –, der in folgende Richtung geht: Wirkönnen uns auf Klimaziele einigen und sollten zum Er-reichen dieser Ziele hier gemeinsam Instrumente be-schließen. Wir sagen: Wir verfolgen beim Klimaschutzein großes Ziel, das wir gemeinsam erreichen wollen,egal unter welcher Regierung.Deshalb meinen wir: Wir brauchen ein Klimaschutz-gesetz, weil es drei ganz entscheidende Vorteile hat. Esist verlässlich, es ist transparent und konsequent. Undgenau das brauchen wir bei dem globalen Problem, daswir mit dem Klimawandel haben. Ein solches Klima-schutzgesetz brauchen wir in diesem Land.
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6860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Bärbel Höhn
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Warum ist das verlässlich? Wir haben momentan un-verbindliche politische Vorgaben, und wir wollen dieseunverbindlichen Vorgaben in rechtsverbindliche Zieleumsetzen. Das ist das Ziel eines Klimaschutzgesetzes.Bei der Vorgabe können wir uns auch darüber streiten,ob es jetzt 80 Prozent oder 95 Prozent CO2-Reduktionbis 2050 geben soll.Über verbindliche Ziele würde genau das erreicht,was wir brauchen, eine langfristige Planungssicherheitfür die Menschen.Was Sie mit Ihrem Energiekonzept gegen die Mehr-heit der Bevölkerung erreicht haben, ist doch, dass es ei-nen Stillstand bei den Investitionen gibt. Die Stadtwerkeinvestieren nicht mehr. In die Erneuerbaren wird nichtmehr investiert. Durch Ihr Energiekonzept gibt es in dennächsten drei Jahren einen Stillstand, nicht mehr undnicht weniger. Dann werden wir kommen, das Ganzenach der Wahl umändern, und es kann wieder losgehen.So ist die Politik, und das ist auch gut so.
Es wäre auch vor Cancún ein schönes Zeichen, wennman wirklich sagen würde: Ja, Deutschland verabschie-det ein Klimaschutzgesetz; wir wollen nicht nur Klima-schutzziele beschließen, sondern auch zeigen, wie sieumgesetzt werden können.
Frau Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kauch?
Ja, bitte schön.
Frau Kollegin Höhn, Sie haben angemahnt, dass wir
eine gemeinsame Basis für die internationale Klimapoli-
tik brauchen. Ich stelle fest, dass diese gemeinsame Ba-
sis immer noch da ist. Wir debattieren aber heute hier
über die nationale Umsetzung. Der Kollege Schwabe hat
die Auseinandersetzung um das nationale Energiekon-
zept in die Debatte eingeführt. Dies sei vorausgeschickt.
Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ich
glaube, es ist wichtig und es ist zentral, dass wir vor
Cancún und darüber hinaus in den internationalen Ver-
handlungen eine Basis haben. Wir haben nämlich ein ge-
meinsames nationales Interesse, das, was wir hier tun,
auch in anderen Teilen der Welt zu sehen.
Zu meiner Frage. Sie haben gesagt: Die Menschen
müssen sich auf die Zielvorgaben, Zielentwicklungs-
pfade, die wir beschließen, verlassen können. Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem Energie-
konzept, das Sie hier in Bausch und Bogen verdammen
– Sie haben das Recht, das eine oder andere zu kritisie-
ren; insbesondere in der Kernenergiefrage sind wir halt
nicht auf einer Linie –, genau dieser klimapolitische Ent-
wicklungspfad hin zu einem Anteil von 80 bis 95 Pro-
zent bis 2050 entwickelt worden ist, dass dieses Konzept
im Deutschen Bundestag beschlossen werden wird und
dass dies letztendlich Grundlage sein sollte für die natio-
nale Nachhaltigkeitsstrategie, die über Legislaturperio-
den hinweg verfolgt wird? Sind Sie bereit, diese partei-
übergreifenden Punkte – ich glaube, sie können auch
nach den Änderungen verfolgt werden, die Sie am Ener-
giekonzept vornehmen wollen, wenn Sie wieder einmal
regieren – gelten zu lassen? Oder wollen Sie sie nach ei-
ner Regierungsübernahme vom Tisch wischen?
Herr Kauch, der entscheidende Punkt ist, ob die Ziele,die Sie festgeschrieben haben, erreichbar sind. Wir bie-ten Ihnen mit dem Klimaschutzgesetz ein Instrument,wie die Ziele, die Sie festgeschrieben haben, auch er-reicht werden können. Wir fordern: Die Ziele müssenüberprüft werden, sie müssen transparent dargestelltwerden, und wenn sie nicht erreicht werden, dann müs-sen Sanktionen verhängt werden. Genau dieses Instru-ment verweigern Sie. Deshalb müssen Sie sich nichtwundern, dass wir glauben, dass Ihre Ziele nur auf demPapier stehen. De facto wissen Sie selber, dass Sie mitder Art und Weise, wie Sie Politik machen, diese Zielenie und nimmer erreichen werden. Das ist der Unter-schied.
Ein Klimaschutzgesetz stünde einerseits für Verläss-lichkeit und andererseits für Transparenz. Wir wollenZwischenziele. Übrigens, Großbritannien hat sie sich be-reits gesetzt; es gibt also auch Länder, die diesen Weggehen. Wir wollen deshalb auch Berichte. Wir wollen,dass auch gesagt wird: Oh, hier passiert zu wenig; hierfunktioniert es nicht, bei einzelnen Sektoren, etwa imVerkehrsbereich; da bringen wir es nicht zustande, damüssen wir gegensteuern, da müssen wir andere Maß-nahmen ergreifen. – Das ist die Transparenz, die wir mitdem Klimaschutzgesetz wollen. Wenn wir es hätten,dann könnten wir schnell reagieren und könnten letztenEndes dafür sorgen, dass diese Ziele wirklich erreichtwerden.Dazu gehört natürlich, dass wir konsequent sein müs-sen. Wenn die Ziele nicht erreicht werden, dann müssenwir in der Tat Sanktionen verhängen. Dann müssen ver-stärkt Klimaschutzanstrengungen unternommen wer-den. Damit würden wir versuchen, der Erreichung alldieser Ziele Biss und Nachdruck zu verleihen. Wir wol-len nicht nur, dass Ziele formuliert werden, sondernauch, dass sie umgesetzt werden, und deshalb fordernwir das Klimaschutzgesetz.
Die Alternative ist nämlich das, was Sie, Herr Kauch,mit dem Klimakonzept machen. Wir haben den Ein-druck: Das ist unverbindliche Lyrik. Das Energiekonzeptder Bundesregierung enthält 36 Prüfaufträge, und zwarohne Substanz. Schauen wir uns doch einmal die Gebäu-desanierung an. Durch die Gebäudesanierung kann vielCO2 reduziert werden. Im letzten Jahr standen 2,2 Mil-liarden Euro für die Gebäudesanierung zur Verfügung.In diesem Jahr sind es 1,5 Milliarden Euro, und der Wert
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6861
Bärbel Höhn
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für das nächste Jahr ist – erst nach großem Protest – auf950 Millionen Euro aufgestockt worden. Wenn Sie dannsagen: „In diesem Atomfonds sind noch 300 Millionen“,dann sage ich: Der Unterschied zwischen 1,5 Milliardenund 950 Millionen beträgt fast 600 Millionen. Wenn Siedie Mittel mit Ihren 300 Millionen aufstocken, dann sindSie immer noch nicht bei dem Wert von diesem Jahr.Das heißt de facto, dass Sie viel hineinschreiben, aberbei der Gebäudesanierung nicht die Finanzen zur Verfü-gung stellen, um die Ziele am Ende wirklich durchsetzenzu können. Das machen wir Ihnen zum Vorwurf.
Meine Damen und Herren, wir müssen über diese Sa-che noch einmal im Ausschuss diskutieren. Nach meinerAuffassung gibt es Gemeinsamkeiten; Herr Jung hat dasnoch einmal dargestellt. Ich würde gerne ausloten, ob esdiese Gemeinsamkeiten tatsächlich gibt und wie weit wirda gehen können. Das sollten wir machen. Sollten wirdies in einer Zeit der Konfrontation, die wir momentanerleben, schaffen, dann wäre das ein gutes Zeichen, weilwir deutlich machen, dass wir bei globalen Fragen, derenLösung wir hier national umsetzen, am Ende noch Ge-meinsamkeiten hinbekommen. Darauf hoffe ich einStück. Ich sehe den einen und anderen, mit dem manvielleicht zusammenarbeiten kann; Herr Kauch, viel-leicht auch mit Ihnen in einer ruhigen Stunde, wenn esnicht darum geht, hier am Rednerpult zu demonstrieren,wie aufgeregt und engagiert Sie sein können. Ich hoffeauf gute Beratungen im Ausschuss.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Christian Hirte für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Nachdem wir eine etwas hektische Debatte jetzthatten, versuche ich, ein klein bisschen Ruhe hineinzu-bringen und auch etwas sachlich zu diskutieren.Kurz vor Beginn des Weltklimagipfels in Kopenha-gen im Dezember letzten Jahres hat der Bundesumwelt-minister in einer Rede vor diesem Haus drei zentrale Ge-sichtspunkte einer europäischen Klimaschutzinitiativeformuliert, die ich auch gerade vor dem Hintergrund derheutigen Debatte für wesentlich erachte:Erstens muss es uns bei Klimapolitik um Nachhaltig-keit gehen. Wenn wir die natürlichen Ressourcen unseresPlaneten verbrauchen – wir haben viel über Energie ge-sprochen; das heißt, dass wir die kohlenstoffbasiertenRessourcen verbrauchen – und damit den CO2-Ausstoßweiter in dem Maße vorantreiben, wie wir das bis heutetun, werden wir den nächsten Generationen einen Bären-dienst erweisen. Vielleicht diskutieren wir in Europa undinsgesamt heute manchmal auch noch das falscheThema. Manche klagen über mögliche Jobverluste we-gen Klimaschutzauflagen. Ich glaube, viel größere Sor-gen müssten wir uns machen, wenn wir nicht über Kli-maschutz diskutieren würden. Deswegen will ich andieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich mich freueund es begrüße, dass wir in dieser Runde auch so enga-giert das Thema gemeinsam miteinander debattieren.Es geht aber natürlich zweitens auch um die Art, wiewir wirtschaften. Bis 2050 werden wahrscheinlich aufunserer Erde etwa 9 Milliarden Menschen leben, undviele von ihnen werden natürlich ein Stück von demWohlstand beanspruchen, den wir bei uns in Europa alsselbstverständlich erachten. Dass dies mit einem enor-men Anstieg des Energiebedarfs verbunden sein wird,liegt auf der Hand. Diesen Wohlstandsanspruch mitknappen Ressourcen in Einklang zu bringen, heißt, Ener-gie und knappe Lebensgüter künftig vernünftig zu be-wirtschaften. Wir müssen also ein Gut wie Energie nichtnur bereitstellen; zu unserem Wohlstand gehört es auch,dass dies zu bezahlbaren Preisen erfolgen kann.
Energie, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist alsoein Grundbedürfnis und kein Luxusgut.Und um dieses grundlegende Bedürfnis zu befriedi-gen, geht es drittens darum, sich damit zu beschäftigen,mit welchen Technologien man dies dauerhaft ermögli-chen will. Nach dem Verständnis unserer Koalition– und ich will das hier in aller Deutlichkeit sagen – sindes dauerhaft nicht die Kernkraft und nicht die Kohle,sondern die erneuerbaren Energien. Wir haben schon inunserem Koalitionsvertrag und in unserem Wahlkampf-papier ausdrücklich davon gesprochen – das tun wirauch heute noch, nachdem wir gewählt sind –, dass essich bei der Kernkraft um eine Brückentechnologie han-delt.Wenn ich vorhin das Jahr 2050 angesprochen habe,habe ich das nicht ganz ohne Bedacht gewählt, weil na-türlich auch das Energiekonzept der Bundesregierungdiesen Zeithorizont zugrunde legt. Zum ersten Mal – hiergebe ich dem Kollegen Kauch ausdrücklich recht – hatsich eine Bundesregierung ambitionierte Ziele gesetztund sich zu drei Punkten, nämlich Nachhaltigkeit, Wirt-schaftlichkeit und Technologie, offen und konkret be-kannt. Mit dem Energiekonzept werden Leitlinien fürden Einstieg in eine umweltschonende, zuverlässige undvor allem auch bezahlbare Energieversorgung formu-liert.Ich will aber noch einen vierten Gesichtspunkt hinzu-fügen. Es geht am Ende auch immer um Glaubwürdig-keit. Richtig ist – Andreas Jung hat das ausgeführt –,dass der Klimagipfel von Kopenhagen nicht die Ergeb-nisse gebracht hat, die wir uns, ich glaube, alle gemein-sam in diesem Hause, erhofft haben. Das Ziel musstrotzdem bleiben, die globale Erwärmung auf unter2 Grad zu begrenzen.
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6862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Christian Hirte
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Und dieses Ziel müssen wir in Deutschland glaubwürdigvertreten. Wir haben in Deutschland in den vergangenenJahren hohe Ansprüche beim Klimaschutz formuliertund eingehalten. Das wird sich auch künftig nicht än-dern.Die internationale Rolle Deutschlands beim Klima-schutz erwächst aber nicht aus nationalen Klimaschutz-gesetzen, wie sie die Oppositionsfraktionen in ihren An-trägen fordern. Sie erwächst auch und gerade aus derGestaltung der konkreten Energie- und Klimapolitik imeigenen Land. Deutschland muss und wird also durchseine eigene Vorreiterrolle beispielgebend sein; daraufhat die Bundeskanzlerin immer deutlich hingewiesen.Die Frage ist jetzt, wie wir unsere Vorreiterrolle for-cieren können. Die Antwort darauf ist: Deutschlandmuss durch sein eigenes Beispiel führen. Wir müssen be-weisen, dass Wachstum und der Ausstoß von Treibhaus-gasen voneinander entkoppelt werden können. Deutsch-land muss zeigen, dass es möglich ist, den Wohlstand zumehren und das Klima zu schützen. Die unkonditionierte40-prozentige Reduktion des Klimagasausstoßes istschon angesprochen worden; ich muss das nicht weiterauszuführen. Das Energiekonzept ist also der richtigeWeg, um auch anderen Ländern ein Beispiel zu gebenund zu zeigen, wie Wohlstand und Ressourcenverbrauchin Einklang gebracht werden können.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op-position, das von Ihnen so verschmähte Energiekonzeptwird – und das werden Sie sehen – Modell und Maßstabfür die Lösung der Energiefragen vieler anderer Länderwerden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt be-leuchten, der oft vergessen wird: Aktiver Klimaschutzbedeutet im Ergebnis auch eine größere Unabhängigkeitvon ausländischen fossilen Energieträgern. Europa istvon Energieimporten abhängig, und die Tendenz ist stei-gend. Zeitgleich verschärft sich der globale Wettbewerbum Rohstoffe und Energieträger. Die Nachfrage wächstwesentlich schneller als das Angebot. Die Sorge um Ver-lässlichkeit und Stabilität der europäischen Hauptener-gielieferanten erhöht noch einmal den Handlungsdruck.Daher ist aktiver Klimaschutz nicht nur Garant für diewirtschaftliche Selbstständigkeit. Er bietet gleichzeitigeine Chance, aus dem Teufelskreis von Knappheit undAbhängigkeit zu entkommen. Klimaschutz liegt alsodurchaus im ökonomischen Interesse Deutschlands, weilwir uns damit von ausländischen Ressourcen abkoppeln.Als Technologieführer bei den erneuerbaren Energienkann Deutschland dabei seine Position weiter ausbauen,und ich bin auch sicher, dass das gelingen wird. Ökono-mische Modernisierung und technologische Innovation –das ist der Weg, auf dem wir Wohlstand erreichen,Wachstum ausbauen und gleichzeitig ressourcenscho-nend wirtschaften und leben können.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegin!Herr Hirte, damit kein falscher Eindruck entsteht: ZumMaßstab wird Ihr Energiekonzept hundertprozentig nichtwerden.
Spätestens in Karlsruhe oder spätestens 2013 ist das vomTisch, sind auch die Laufzeitverlängerungen vom Tisch.
Herr Kauch, was Sie gesagt haben, war ein bisschenentlarvend. Sie haben davon gesprochen, dass Sie Angstvor der sogenannten Räte-Republik haben. Dabei geht esnur darum, dass Politik den Mut hat, durch ein unabhän-giges Gremium prüfen zu lassen, ob die Maßnahmenausreichen, um die Ziele, die man sich gesetzt hat, zu er-reichen. Das zeigt, welches Demokratieverständnis Siehaben. Gerade in diesen Zeiten wäre es wichtig, dass diePolitik Rückkopplung mit unabhängigen Wissenschaft-lern zulässt.
Genau deswegen ist das, was wir mit dem Klimaschutz-gesetz vorschlagen, ein richtiger Schritt in die richtigeRichtung.Ihre Aussage spricht überhaupt Bände. Jetzt ist klar,was Sie von unabhängigen Expertengremien halten.
Ihr eigener Sachverständigenrat für Umweltfragen hatSie davor gewarnt, die Laufzeitverlängerungen zu be-schließen.
Ihr eigener Sachverständigenrat, dem viele unabhängigekompetente Wissenschaftler angehören, hat gesagt, dassdas alles kontraproduktiv ist, was die erneuerbaren Ener-gien anbelangt, und dass die Laufzeitverlängerungen indie völlig falsche Richtung gehen.Die gehen mit einem Federstrich darüber hinweg undnehmen den eigenen Sachverständigenrat nicht ernst. Siehaben es heute sehr schön auf den Punkt gebracht, als
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6863
Dr. Matthias Miersch
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Sie sagten, es sei ein Rückschritt in die Räte-Republik,wenn man auf unabhängige Experten hört.
In der Politik muss immer wieder darauf geachtetwerden, dass Taten und Worte übereinstimmen. In derUmweltpolitik haben wir augenblicklich das Problem,dass Sie Superlative wählen, um Ihre Konzepte anzu-preisen, aber die Taten dem in keiner Weise entsprechen.Das ist Ihr Problem.Fangen wir mit Kopenhagen an, Herr Hirte. Was ha-ben wir in Kopenhagen erlebt? Ihre Bundesregierung istdort Verpflichtungen eingegangen und hat finanzielleZusagen gegenüber anderen Staaten gemacht. Was erle-ben wir nun? Nichts davon bilden Sie im neuen Haushaltab. Es sind keine entsprechenden Mittel eingestellt. Wirwerden nichts von dem einlösen können, was wir ver-sprochen haben. Wir schlagen somit mit unseremGesicht auf und können deswegen nicht von anderenStaaten glaubwürdiges Verhalten verlangen.
Mit dieser Politik verspielen Sie auf internationalerEbene das hohe Ansehen, das sich Deutschland in denletzten 15 Jahren in diesem Bereich durchaus erarbeitethat.Es geht aber noch weiter. Die Kürzungen bei den Ge-bäudesanierungsprogrammen hat Kollegin Höhn schonangesprochen. Dann geht es aber auch um den Stil, wieSie Politik machen. So sagt der Bundesumweltministererst, mit den großen Vier dürfe man keinen Deal ma-chen, einen Monat später erfahren wir aber zufällig, weilsich ein Verantwortlicher verplappert, dass Sie längst ei-nen Geheimvertrag abgeschlossen und in den Schubla-den liegen hatten. Auch hier stimmen Worte und Tatennicht überein. So etwas trägt, wie ich denke, zur Politik-verdrossenheit bei.
Wir müssen also, wie ich glaube, einen neuen Politik-stil finden. Es geht nicht darum, in schönen Hochglanz-broschüren zu schreiben, was man 2050 oder 2025 errei-chen will, sondern Politik muss sagen: Das nehmen wiruns vor, und wir sind bereit, das Erreichen der Ziele re-gelmäßig kontrollieren zu lassen. Darüber hinaus wollenwir ständig überlegen, ob wir nicht weitere Maßnahmenergreifen müssen, wenn wir feststellen, dass das, was wirerreichen wollen, nicht erreicht wird. – Das Klima-schutzgesetz, das die Oppositionsparteien hier nun vor-schlagen, leistet dies.Wir treten jetzt im Ausschuss in die Diskussion ein.Ich rate Ihnen: Schauen Sie es sich noch einmal genauan! Mit diesem Gesetz könnten tatsächlich erste Schritteunternommen werden, damit Sie wenigstens zum Teil andas herankommen, was Sie in Hochglanzbroschüren an-kündigen. Ich lade Sie ein, sich konstruktiv an den Aus-schussberatungen zu beteiligen. Vielleicht gelingt es so,das Klimaschutzgesetz, das wir als Fraktion im Übrigenunter Beteiligung vieler Verbände erarbeitet haben, hiereinstimmig zu verabschieden. Ich hoffe, dass die Aus-schussberatungen dazu beitragen werden. Sie sind herz-lich dazu eingeladen.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Josef Göppel für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habeVerständnis für das Drängen der Opposition und damitauch für den vorliegenden Antrag, ein Klimaschutzge-setz zu verabschieden, um all die bestehenden Einzel-maßnahmen in einen gesetzlichen Rahmen einzubinden.Allerdings, werte Kollegen von der SPD, haben wir diesin der Großen Koalition nicht zustande gebracht. Wirwaren all die Jahre mit konkreten Maßnahmen beschäf-tigt.Ab 2007 ist durch Kanzlerin Merkel das Thema Kli-maschutz auf die internationale Ebene gebracht worden.Somit möchte ich Ihnen sagen: Solange Frau MerkelKanzlerin ist, wird es da auch bleiben, weil Frau Merkelals Physikerin weiß, dass in wenigen Jahrzehnten 9 Mil-liarden Menschen auf dieser Erde leben werden und wirnicht mit den bisherigen Formen der Energieversorgungwerden weiterarbeiten können.
Deswegen ist ja das Energiekonzept aufgestellt worden.Natürlich kann man jetzt fragen, ob nicht die 60 Ein-zelmaßnahmen, die viele Gesetze berühren, in einemKlimaschutzgesetz gebündelt werden sollten. Ich sage esnoch einmal: Ich persönlich bin offen für diese Idee, binaber im Moment nicht davon überzeugt, dass dieses Ver-fahren das richtige wäre; denn es geht darum, eine ganzeReihe von Lebensbereichen im Hinblick auf eine andereLebens- und Wirtschaftsweise umzuorientieren.Die Gebäudesanierung ist hier angesprochen worden.Natürlich ist es richtig, die Schaffung von Möglichkeitender steuerlichen Abschreibung von Energiesparinvesti-tionen in Gebäuden zu prüfen, entsprechend der früherenRegelung in § 82 a der Einkommensteuer-Durchfüh-rungsverordnung, die eine Abschreibung von jährlich10 Prozent ermöglichte. Dies war eine entscheidendeMaßnahme. Deswegen haben die Umweltpolitiker derUnion so sehr darauf gedrängt, dass dies im Energiekon-zept erscheint. Ich möchte auch den alten bayerischenVorschlag erwähnen, Energiesparinvestitionen von derErbschaftsteuer absetzen zu können. Auch das erscheintmir in diesem Zusammenhang überlegenswert. Wichtigist schließlich eine haushaltsunabhängige Finanzierungfür erneuerbare Energien im Wärmebereich.
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6864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Josef Göppel
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Auch das steht nicht ohne Grund im Energiekonzept.Wenn man all dies zusammennimmt, wird aus meinerSicht schon deutlich, dass wir von der Koalition im Zielmit Ihnen, Frau Kollegin Höhn, Herr Miersch, HerrSchwabe, nach wie vor einig sind. Kollege Jung hat esklar gesagt:Wir wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren …Der Deutsche Bundestag hat das beschlossen; die Regie-rung hat das übernommen. Es ist im deutschen Interesse,dass die EU ein 30-Prozent-Ziel verabschiedet. Wir er-warten von der Regierung, die wir tragen, dass sie sichjetzt im Vorfeld der Konferenz in Cancún dafür einsetzt;denn es ist im deutschen Interesse. Damit würde ein Er-folg der wichtigen Konferenz in Cancún wahrscheinli-cher.Ich möchte in dem Zusammenhang auf einen anderenBereich verweisen. Wir haben zu einem gemeinsamenAntrag zum Schutz der Biodiversität gefunden. Leiderwird dieses Thema heute zu später Nachtstunde behan-delt. Deswegen möchte ich schon jetzt anführen: Klima-schutz und Artenvielfalt hängen ganz eng zusammen.Das UNEP hat einen Atlas mit den Gebieten der Erdeherausgegeben, die eine hohe Artenvielfalt aufweisen.Das sind genau die Gebiete, in denen die größte Kohlen-stoffspeicherung stattfindet. Klimaschutz und Artenviel-falt hängen also zusammen.
Da, wo hohe Artenvielfalt besteht, sind die Lebensräumewiderstandsfähiger gegenüber den Folgen von Klimaver-änderungen. Um es ganz praktisch für uns in Deutsch-land darzustellen: Dort, wo wir Mischwaldbestände ha-ben, können zwar auch Borkenkäfer sein; aber siekönnen nicht alles kahlfressen, weil es da auch noch an-dere Arten von Bäumen gibt. Dieses Beispiel zeigt, wiesehr die Dinge zusammenhängen. Wir brauchen in Kli-maschutzfragen eine Gemeinsamkeit.Ich will noch einmal auf die aktuelle Situation im Zu-sammenhang mit dem Energiekonzept zu sprechen kom-men, und zwar auf den Bereich der Mobilität. Die Maß-nahmen, die das Energiekonzept für den Bereich derMobilität vorsieht, sind von Ihnen in der bisherigen De-batte gar nicht angesprochen worden. Ich nehme an, dassSie gegen diese Maßnahmen nichts einzuwenden haben.Es ist entscheidend, dass wir die europäischen Grenz-werte im Bereich der herkömmlichen Mobilität mit Ben-zin- und Dieselkraftstoffen weiterhin konsequent senken– so wie der Weg vorgezeichnet ist –, damit auch in die-sem Sektor ein Beitrag zum Klimaschutz erbracht wer-den kann. Es darf keiner der drei großen Verbrauchsbe-reiche ausgelassen werden: Strom, Heizen undMobilität.Ich glaube, dass wir im Gesamtkontext nach wie vorauf einem guten Weg sind. Dass andere Länder den Weg,den Deutschland geht, sehr aufmerksam beobachten,muss für uns allerdings weiterhin ein Ansporn sein, beiden konkreten Maßnahmen nicht nachzulassen.Das ist meine abschließende Bitte an die Opposition:Auf die konkreten Maßnahmen kommt es an. Ich habeeine gewisse Skepsis Zielen gegenüber, die 30 Jahre inder Zukunft liegen. Die konkreten Maßnahmen, die jetztergriffen werden, entscheiden über die Fortschritte imKlimaschutz.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/3172 und 17/2485 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitauf Drucksache 17/2318.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion der SPD auf Drucksache 17/522 mit dem Titel„Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen dieStimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung derFraktion Die Linke angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/1475 mit dem Ti-tel „Klimaschutzziele gesetzlich verankern“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen dieStimmen der Linken bei Stimmenthaltung von SPD undGrünen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/132 mit dem Titel „Klimaschutzgesetz vorle-gen – Klimaziele verbindlich festschreiben“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmenvon SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linkenangenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowieZusatzpunkt 3 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zuder UnterrichtungVorschlag für eine Richtlinie …/…/EU desEuropäischen Parlaments und des Ratesüber Einlagensicherungssysteme [Neufas-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6865
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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– Drucksachen 17/2994 Nr. A.23, 17/3239 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus-Peter FlosbachManfred ZöllmerBjörn SängerDr. Gerhard SchickZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, FritzKuhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Vorschlagfür eine Richtlinie des Europäischen Parla-ments und des Rates über Einlagensicherungs-systeme KOM-Nr. (2010) 368endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 desGrundgesetzesEinlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Si-cherungssysteme als Modell für Europa– Drucksache 17/3191 –Zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionder SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenPeter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Heute steht der Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über Einlagensiche-
rungssysteme auf der Tagesordnung, ein wichtiges
Thema. Denn es geht um Vertrauen, über das wir heute
diskutieren, über das Vertrauen der Sparer und Sparerin-
nen, die ihr Geld bei Kreditinstituten, Banken, Sparkas-
sen und Genossenschaftsbanken angelegt haben.
In Deutschland haben wir seit jeher ein hohes Siche-
rungsniveau für die Spareinlagen. Gerade die Finanz-
krise der letzten Monate hat uns aber gezeigt, dass es
nicht nur in Deutschland diese Sicherheit und dieses Ver-
trauen geben muss, sondern auch in den anderen Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union. Deswegen ist die
Zielsetzung einer weiteren Harmonisierung der Einla-
gensicherungssysteme, ein hohes Niveau des Einlagen-
schutzes europaweit zu schaffen, grundsätzlich begrü-
ßenswert. Aber das darf nicht dazu führen, dass die
Harmonisierung auf europäischer Ebene zu einer Verrin-
gerung des Anlegerschutzes in Deutschland führt, und es
darf nicht dazu führen, dass das Wettbewerbsgleichge-
wicht im deutschen Bankensystem gefährdet wird. Ge-
rade deswegen kann es nicht sein, dass Europa zur Errei-
chung dieser Ziele über das erforderliche Maß
hinausgeht.
Der europäische Gedanke bezieht sich auf das Subsi-
diaritätsprinzip, das eine wichtige Grundlage ist. Diesem
Prinzip zufolge sollen die staatlichen Aufgaben von der
Ebene übernommen werden, die sie am besten und ef-
fektivsten regeln kann. Auch bei der Einlagensicherung
ist dieses Prinzip zu beachten. Man kann über Mindest-
standards reden. Man muss aber beachten, dass es bereits
Standards darüber hinaus gibt, so wie das zum Beispiel
in Deutschland der Fall ist. Es ist gut, dass für alle Anle-
ger in der EU im Falle der Insolvenz eines Kreditinstituts
ein einheitliches Schutzniveau errichtet werden soll. Es
ist gut, dass die Stabilität des Bankensystems auf euro-
päischer Ebene gestärkt werden soll. Es kann aber nicht
sein, dass neben einer garantierten Mindestabsicherung
eine Höchstgrenze eingeführt werden soll. Es kann nicht
sein, dass die Europäische Union zu stark in nationale
Interessen eingreift oder Regeln für Politikgebiete er-
lässt, für die Brüssel gar nicht zuständig ist.
Die vorliegende Richtlinie darf nicht zu einer Verrin-
gerung des Anlegerschutzes in Deutschland führen. Die
Wettbewerbsgleichheit im deutschen Bankensystem darf
nicht gefährdet werden. Deshalb muss es das Ziel der
deutschen Politik sein, dass die Befreiung der Instituts-
sicherungssysteme von der Pflicht zur Mitgliedschaft in ei-
nem Einlagensicherungssystem erhalten bleibt, dass eine
freiwillige Einlagensicherung über die gesetzlich vorgese-
hene Deckungssumme von zukünftig 100 000 Euro hi-
naus erhalten bleibt, dass eine flexible Ausgestaltung der
Höhe der Beitragsbemessung erhalten bleibt und dass im
europäischen Finanzsektor durch eine eventuelle Vernet-
zung der nationalen Sicherungssysteme kein Einstieg in
eine Art Transferunion erfolgt.
Europa muss lernen, Rücksicht auf die gewachsenen
Strukturen und Eigenheiten der Mitgliedsländer zu neh-
men. Gerade das deutsche Bankensystem hat die Finanz-
krise gut überstanden, dank unserer Sicherungssysteme,
dank der engagierten Arbeit unserer Bundeskanzlerin
Angela Merkel und des damaligen Finanzministers, aber
auch dank des Vertrauens, das die Menschen in unsere
Sicherungssysteme haben und hoffentlich auch in Zu-
kunft haben werden. Es gilt, für dieses erfolgreiche Sys-
tem der Sicherung einzustehen.
Bedenklich sind die EU-Vorschläge insbesondere be-
züglich institutssichernder Systeme, der Finanzierung
von Einlagensicherungssystemen und der Beitragsbe-
messung. Lassen Sie uns hier in diesem Hohen Haus ge-
meinsam die Botschaft nach Brüssel schicken, dass wir
zwar alle überzeugte Europäer sind, unsere nationalen
Eigenheiten aber nicht über Bord werfen wollen. Wir
wollen das behalten, was sich bewährt hat. Deswegen
sind wir für eine Subsidiaritätsrüge.
Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen.
Der Kollege Lothar Binding hat das Wort für dieSPD-Fraktion.
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6866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den inhaltlichenZielen stimmen wir mit dem überein, was Herr KollegeAumer gesagt hat: Wir müssen das Bewährte in den Län-dern erhalten. Der Kollege Sänger von der FDP hat ges-tern im Ausschuss gesagt: Man muss es auch mal rum-sen lassen. – Das ist eine Sache, der wir nicht unbedingtfolgen können. Er meinte damit die Subsidiaritätsrüge,also das schärfste Schwert, das wir haben. Wir wollenmit diesem schärfsten Schwert vorsichtig umgehen.Mein Kollege Manfred Zöllmer hat ein sehr schönesBild geprägt. Er hat gesagt: Wir haben eine riesige Ka-none und füllen sie mit einer dicken Kugel. Wir zündendas Pulver, und dann rollt die Kugel vorne aus der Ka-none und fällt uns auf die Füße. – Das kann mit einerSubsidiaritätsrüge sehr leicht passieren, wenn man dieInstrumente nicht klug wählt.Ich möchte einen Grund nennen, warum wir die Sub-sidiaritätsrüge als kritisch ansehen. Eigentlich ist sie dieFolge dessen, dass wir die Verhandlungen bisherschlecht geführt haben. Man muss sagen: Wir sind imMoment international nicht sehr gut, wenn nicht sogarschlecht aufgestellt. Ich möchte ein weiteres Beispielnennen – das gilt für viele Politikfelder –: Wir haben nurwenige im internationalen Bereich wichtige Ressorts;aber dazu gehört das Ressort von Herrn Niebel. Da läuftes im Moment folgendermaßen: Die Kanzlerin ver-spricht etwas. Der Fachminister kämpft dafür. DerFinanzminister kämpft dagegen. Die Koalition beantragtetwas. – Insgesamt entsteht nach außen ein völlig diffu-ses Bild. Wir beobachten, dass es auch bei den europäi-schen Verhandlungen keine klare Linie gibt. Ich glaube,dass man da sehr viel sensibler vorgehen muss. Deshalbsagen wir: Wir müssen eine kritische Subsidiaritätsstel-lungnahme gegenüber der Kommission abgeben, undwir müssen versuchen, im Europäischen Parlament ent-sprechend zu wirken, damit wir uns alle diplomatischen,formalen und inhaltlichen Optionen offenhalten. Mit ei-ner Subsidiaritätsrüge setzt man sich sehr schnell ins Un-recht. Deshalb ist es klüger, sich für die Zukunft mehrereVerhandlungsoptionen offenzuhalten.Vielleicht müssen wir mit der Kommission auch nocheinmal über die Interpretation der Grundfreiheiten reden;denn wenn sie die Regeln zu Wettbewerbsgleichheit undHarmonisierung zum Nachteil und nicht zum Vorteil derLänder auslegt, dann ist die Kommission aus meinerSicht auf dem Holzweg und interpretiert die Ziele derHarmonisierung, der Grundfreiheiten und der Wettbe-werbsgleichheit völlig falsch.
Der Richtlinienvorschlag greift sehr tief in das Drei-säulensystem der Bundesrepublik ein; das haben Sieschon erwähnt. Die privaten Banken, die Genossen-schaftsbanken und die Sparkassen wirkten in der Finanz-krise wie Stabilisatoren. Das hat wirklich gut funktioniert.Wenn man das Einzige, was wirklich gut funktioniert,mit einem Richtlinienvorschlag gefährdet, dann kanndas nicht richtig sein.
Zentrale Begriffe sind „Haftungsverbund der Sparkas-sen“ auf der einen Seite und „Sicherungseinrichtung derVolksbanken und Raiffeisenbanken“ auf der anderenSeite. Das war das bewährte duale System der Siche-rung, das in Deutschland funktioniert hat.Diese freiwilligen Sicherungssysteme haben gutfunktioniert, weil sie als institutionensichernde Stüt-zungsmaßnahmen verhindern, dass der Entschädigungs-fall überhaupt eintritt. Das ist das kluge Instrument die-ses Systems. Das wollen wir natürlich erhalten. Warumist das Instrument klug? Weil es präventiv, krisenabweh-rend wirkt. Dieses System ist einmalig. Ich finde, dassdie Kommission einmal überlegen sollte, dieses Systemin Europa als Option einzuführen, um auch den anderenLändern dieses kluge Sicherungssystem zu eröffnen.
Schließlich müssen auch wir in Deutschland immer da-rauf achten, dass die international gut funktionierendenSysteme auch bei uns eingeführt werden. Doch was sollstattdessen passieren? Alle Kreditinstitute in Europa sol-len einem Einlagensicherungssystem unterworfen wer-den. Das heißt, alles, was besser als das jetzt Vorgeschla-gene ist, soll abgeschafft werden. Das wollen wirnatürlich nicht.Es gibt aber noch einen gravierenden Fehler in demVorschlag der Kommission: Die Absicherung der Kun-den soll, wie es heißt, auf 100 000 Euro harmonisiertwerden. Das heißt, es soll eine Begrenzung hinsichtlichder Höhe der Spareinlagen, die man besichern will, ge-ben. Wir sind der Meinung, dass die gegenwärtige, unbe-schränkte Besicherung das Maß der Dinge sein soll. Wirwollen die Kunden nicht aufgrund einer europäischenHarmonisierung schlechterstellen. Um die Dimensiondessen, was das für unsere Sparkassen bedeuten würde,deutlich zu machen: Wenn 1,5 Prozent der erstattungsfä-higen Kundeneinlagen in den nächsten zehn Jahren aufge-bracht werden müssen, sind das mehr als 12 MilliardenEuro. Dann gibt es noch eine Nachschussverpflichtungim Wert von 4 Milliarden Euro. Insgesamt wären es also16 Milliarden Euro Zusatzbelastung, die auf die Spar-kassen zukämen. Jeder weiß, was das für die Zinsen, dieman bei einem Sparbuch bekommt, und für die Zinsen,die man für einen Kredit zu zahlen hat, konkret bedeutenwürde. Das wollen wir nicht. Deshalb sagen wir: Wirmüssen kritisch über das Thema Subsidiarität reden. Al-lerdings sollten wir keine Rüge aussprechen, um uns dieVerhandlungsfreiheiten zu erhalten.
Wir glauben – das ist die zentrale Kritik –, dass trotzdieser enormen Belastungen die Sicherheit der Einlegergeschwächt würde. Es wäre also teurer und hätte einschlechteres Ergebnis. Diese Politik können wir nichtunterstützen. Deshalb ist es gut, dass Koalition und weite
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6867
Lothar Binding
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Teile der Opposition diesbezüglich an einem Strang zie-hen. Wir sagen nur, dass die Idee mit der Rüge etwas zuhoch gegriffen ist.Wir von der SPD fordern in unserem Entschließungs-antrag, dass die Bundesregierung im Wesentlichen dreiVerhandlungsziele verfolgt.Erstens soll die Pflichtmitgliedschaft in dem neuenSicherungssystem aufgehoben werden, sofern es in deneinzelnen Ländern Sicherungssysteme gibt, die besserals die angebotenen sind. Das heißt, dass die Ausnahme-regelung für institutsbezogene Sicherungssysteme beste-hen bleiben soll; wir wollen dies für Deutschland erhal-ten.Zweitens wollen wir, dass freiwillige Einlagensiche-rungssysteme erhalten bleiben und vom Anwendungsbe-reich der Richtlinie ausgenommen werden können.Das dritte Hauptziel des Entschließungsantrags derSPD ist, dass keine Obergrenzen mit maximalen De-ckungssummen festgelegt werden sollen; denn das istnicht nur wettbewerbsfeindlich, sondern schadet auchdem einzelnen Einleger. Wettbewerb darf ja nicht so be-grenzt werden, dass man sagt: Wenn jemand etwas Bes-seres anbietet, verbieten wir das und schaffen so Wettbe-werbsgleichheit. Dann müssten wir auch bei anderenGütern auf qualitativ schlechtere zusteuern, um die Wett-bewerbsgleichheit zu bewahren. Das würde gar keinenSinn haben und wäre für Europa auch nicht zielführend.Deshalb sagen wir: Keine Beschränkungen für ein höhe-res Schutzniveau! Das haben unsere Bürger verdient. Ichglaube, es ist gut, dass wir hier an einem Strang ziehen.Schönen Dank.
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Lieber Herr Binding, Sie haben gerade bemän-gelt, dass wir nicht klar Stellung beziehen. Genau dastun wir aber heute, und das schließt Verhandlungen beiweitem nicht aus.Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht, und gutgemeint ist die Neufassung der EU-Richtlinie ganz si-cher. Für die FDP-Fraktion kann ich ganz klar feststel-len: Das Ziel der Europäischen Kommission, eine Min-desteinlagensicherung für Banken europaweit einheitlichzu regeln, ist richtig. Das Ziel, einen europaweit ver-gleichbaren Schutzrahmen für Bankkunden zu schaffenund die Schwachstellen in den bestehenden Einlagen-sicherungssystemen zu beseitigen, ist auch richtig. Dasist wichtig, um verloren gegangenes Vertrauen in Ban-ken und Finanzmärkte wieder herzustellen.
Deshalb begrüßen wir diesen Vorstoß der EU-Kommis-sion im Grundsatz.Wir kritisieren allerdings, dass aus deutscher Sichtdabei das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet wird. Derjetzt vorliegende Entwurf ist zu detailliert, ja detailver-liebt; er reicht vom Deckungsumfang bis zu Einzah-lungsmodalitäten und Auszahlungsfristen. Sinnvollerwäre, auf europäischer Ebene Mindeststandards für dieEinlagensicherung zu definieren, die konkrete Ausge-staltung jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten zu über-lassen. Statt sich auf die Schaffung der notwendigenRahmenbedingungen zu beschränken, werden bis insKleinste Festlegungen getroffen, die für einzelne Banken– vor allem im anglo-amerikanischen Bankensystem –gut sein mögen, aber eben nicht für alle Banken im EU-Raum. Die Besonderheiten des dreisäuligen Bankensys-tems – da sind wir uns ja alle einig – werden in keinsterWeise berücksichtigt. Im Gegenteil: Die bisherige Aus-nahmeregelung, die Banken mit institutsbezogenen Si-cherungssystemen von der Pflichtmitgliedschaft in ei-nem EU-weiten gesetzlichen Einlagensicherungssystembefreit, soll jetzt gestrichen werden. Zusätzlich wird eineObergrenze für gesetzliche Einlagensicherungen einge-zogen.Das will keiner von uns. Das ist für das deutsche Sys-tem hochproblematisch und trifft gerade unsere Spar-kassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken. Die stabili-sierende Wirkung des deutschen Modells hat sich in derFinanzmarktkrise bewährt. Diese Institute schützen be-reits seit Jahrzehnten ihre Mitglieder innerhalb des eige-nen Verbundes vor Insolvenz, ohne auf die Steuerzahlerzurückzugreifen, und schützen damit auch die Einlagenihrer Kunden vor Verlust. Die Einlagensicherung deut-scher Institute geht weit über die vorgeschlagene Haf-tungsgarantie der EU über 100 000 Euro für Privatkun-den hinaus.Die Umsetzung dieser Richtlinie, wie sie heute vor-liegt, hätte für Deutschland zwei gravierende Auswir-kungen: Erstens müssten die deutschen Institute in einparalleles System einzahlen, was mit deutlich höherenKosten verbunden wäre, und das, obwohl sie das Klas-senziel schon längst erreicht, ja sogar überschritten ha-ben. Zweitens würde unser hohes Sicherungsniveauhierzulande auf einen niedrigeren EU-Standard abge-senkt. Beides ist für die christlich-liberale Koalitionnicht akzeptabel.
Wir brauchen keine maximale Harmonisierung derEinlagensicherungssysteme, wir brauchen maximale Si-cherheit für die Einlagen der Kunden. Der vorliegendeVorschlag der Europäischen Kommission verstößt nachAuffassung der Koalitionsfraktionen gegen die in Art. 5des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft nie-dergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Ver-hältnismäßigkeit.Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet: Die EU darf einGesetz nur erlassen, wenn die Mitgliedstaaten selbst des-sen Ziel nicht ausreichend verwirklichen können. DerGrundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass die EU
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6868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Dr. Birgit Reinemund
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nicht stärker als nötig eingreifen darf, um dieses Ziel zuerreichen. Beides wird hier nicht eingehalten.Insbesondere die weitreichenden Vorschläge zur Fi-nanzierung der Einlagensicherungssysteme und zur Bei-tragsbemessung stehen wegen ihres Umfangs und ihrerIntensität in keinem Verhältnis. Um die Schwachstellender bestehenden Einlagensicherungssysteme der Mit-gliedstaaten zu beseitigen und die Vorzüge des Binnen-marktes für Finanzdienstleistungen auf europäischerEbene sicherzustellen, ist eine Vollharmonisierung nichterforderlich. In vielen Mitgliedstaaten bestehen bereitsfunktionierende Sicherungssysteme. Eine zusätzlicheEinlagensicherung würde die Sicherheit der Anleger inDeutschland in keiner Weise erhöhen, aber die Wettbe-werbsbedingungen für Sparkassen und Genossenschafts-banken massiv einschränken. Dies ist mit den Grundsät-zen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nichtzu vereinbaren.Wenn ich mir die vorliegenden Anträge von SPD undGrünen sowie die Stellungnahme des Bundesrates an-schaue, stelle ich fest: Wir sind inhaltlich nah beieinander.Wir sind uns einig, dass die Vorschläge, die auf europäi-scher Ebene gemacht wurden, erhebliche Auswirkungenauf den gesamten Bankensektor in Deutschland habenwerden, die in dieser Form nicht akzeptabel sind, da hier-mit nachteilige Eingriffe in bestehende Strukturen der Fi-nanzwirtschaft verbunden sind. Doch wie vertreten wirdie Belange Deutschlands gegenüber der EU? Geben wirnur den Hinweis: „Ihr macht da etwas, was wir nicht sogut finden“, oder sagen wir: „Stopp, wir wollen dasnicht“?Die Koalition hat sich entschlossen, das Kind beimNamen zu nennen. Deshalb strengt die Koalition eineSubsidiaritätsrüge an. Das ist ein starkes Signal an Brüs-sel, das dafür sorgen soll, dass die deutsche Position klarund deutlich wahrgenommen wird.
Frankreich beurteilt das genauso, Schweden hat sichgestern in diesem Sinne entschieden, und Österreich undItalien prüfen diese Frage gerade. Wir stehen also nichtallein.Vielen Dank.
Der Kollege Richard Pitterle hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Anlass der heutigen Diskussion ist derVorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parla-ments und des Rates über Einlagensicherungssysteme.Sein Inhalt wurde im Wesentlichen schon wiedergegeben:Alle Kreditinstitute in Europa sollen gesetzlich verpflich-tet werden, einem Einlagensicherungssystem anzugehö-ren, und die bisherige Freistellung der Institutssicherungder Genossenschaftsbanken und Sparkassen soll aufgeho-ben werden. Auch wenn wir das Vorhaben, die Bürgerdavor zu schützen, ihre Ersparnisse auf der Bank zu ver-lieren, begrüßen, halten wir dieses Vorhaben für den fal-schen Weg. Ich glaube, in diesem Punkt sind sich alleFraktionen im Bundestag einig.Wir Linke kritisieren die Nivellierung, die dieser Vor-schlag mit sich bringen würde. Es ist von einer Maxi-malsicherung in Höhe von 100 000 Euro pro Anleger dieRede. Man mag sagen, 100 000 Euro seien viel Geld.Aber einem Bürger, der, beispielsweise für den Erwerbeiner Eigentumswohnung, 200 000 Euro gespart unddieses Geld bei einer Bank angelegt hat, würden, wenndiese Bank pleitegeht, in Zukunft nur noch 100 000 Euroerstattet werden. Dadurch würde er im Vergleich zur jet-zigen Situation, mit der Institutssicherung der Sparkas-sen und Genossenschaftsbanken, schlechter gestellt.Wir sind der Meinung, dass der vorliegende Vor-schlag nicht zur Bankenrealität in Deutschland passt. Ichhabe meinen Vorrednern zugehört: Es besteht Einigkeitdarin, dass ein Handeln auf EU-Ebene nicht erforderlichist und sogar das Subsidiaritätsprinzip verletzt, wonachall das, was vor Ort geregelt werden kann, nicht europa-weit zu regeln ist.Wir werden dem Koalitionsantrag unsere Zustim-mung geben, insbesondere auch der Subsidiaritätsrüge,weil wir finden, dass die Subsidiaritätsrüge ein wichtigesSignal des Bundestags ist, dass wir die in der Krise er-probten Institutssicherungssysteme der Sparkassen undGenossenschaftsbanken nicht gefährdet sehen wollen.Sie mag vielleicht die Unterstützung der Linken fürIhren Antrag überraschen; aber im Gegensatz zu Ihnenmachen wir unsere Abstimmung vom Inhalt abhängigund nicht von der Urheberschaft der Partei.
Das unterscheidet uns von Ihnen. Sie würden eher be-haupten, dass die Erde eine Scheibe sei, wenn die Linkeetwas Gegenteiliges in einen Antrag schreiben würde.
Aber das ist kein seriöses Politikverständnis.Ich muss aber sehr deutlich sagen: Es gibt sehr wohlHandlungsbedarf beim Thema Einlagensicherung jen-seits der Genossenschaftsbanken und der Sparkassen.Wenn man sich den Fall HRE anschaut, merkt man, dassda nicht alles in Butter ist, wie Sie es hier dargestellt ha-ben. Ich muss Sie fragen: Warum handeln Sie nicht end-lich? Wenn Sie sagen, es brauche diesen Vorschlag vonder Europäischen Union nicht, dann müssten Sie hierendlich handeln. Ich habe Ihren Reden eben gut zugehörtund nichts dazu vernommen, was Sie machen wollen,um die Einlagensicherung in Deutschland jenseits vonSparkassen und Genossenschaftsbanken zu verbessern.Im Ausschuss wurden von den anderen Oppositions-fraktionen Bedenken gegen die Subsidiaritätsrüge erho-ben. Es wurde gesagt, wir erreichten vielleicht nicht dasQuorum. Man braucht ein Drittel der Parlamente, die das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6869
Richard Pitterle
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Quorum bilden. Es wurde gesagt, es sei besser, Gesprä-che zu führen. Nun muss man sagen: Die Subsidiaritäts-rüge ist eher ein politisches als ein rechtliches Instru-ment. Sie ist auch nicht, wie hier gesagt wurde, dasschärfste Schwert; denn es gibt noch die Subsidiaritäts-klage. Wir wissen nicht, ob das Quorum erreicht wird.Die Parlamente einiger Staaten haben sich schon ange-schlossen; das ist bereits gesagt worden. Aber wichtigist, dass durch die Subsidiaritätsrüge eine öffentlicheAufmerksamkeit erzielt wird, die vielleicht auch andereParlamente motiviert, sich damit auseinanderzusetzenund ihre Beteiligungsmöglichkeiten wahrzunehmen.
Das heißt, das Reden mit dem zuständigen Kommis-sar oder mit dem EU-Ausschuss ist keine Alternative zurSubsidiaritätsrüge. Man kann sowohl öffentlich rügenals auch das Gespräch suchen. Zu beidem fordern wirdie Bundesregierung auf.
Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Eines sage ich gleich vorneweg und zur Sicher-heit: Auch wir Grünen kämpfen für das erfolgreiche Mo-dell der Institutssicherung bei regional operierendenSparkassen und Genossenschaftsbanken.
Wir wollen, dass regional operierende Institute, Sparkas-sen, Volksbanken und Raiffeisenbanken, das erfolgreicheModell ihrer Institutssicherung behalten dürfen. Dafürstreiten wir mit unserem Antrag, einer Stellungnahmenach Art. 23.
Wir wollen aber auch, dass dieses Haus daraus lernt,welche Milliardenspritzen es zur Rettung von Privatban-ken in den letzten Jahren aufwenden musste. Nicht zu-letzt die Rettung der Hypo Real Estate, die uns immernoch beschäftigt, hat doch gezeigt, dass der Einlagensi-cherungsfonds der Privatbanken eben nicht in der Lagewar, einzuspringen, sodass wir mit Steuergeldern ein-springen mussten. Deswegen unterschlagen Sie in derDebatte, dass die Großbanken vom vergleichsweise ho-hen Sicherungsniveau in Deutschland auch im europäi-schen Wettbewerb profitieren. Die geschützten Einlagensind eine sehr günstige Art, um eine Refinanzierung zugewährleisten. Das Risiko tragen am Ende aber doch dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Somit – ich wende mich auch an Sie, verehrte Kollegin-nen und Kollegen von der Linkspartei – schützen Sienicht nur das richtige Ansinnen, regionale öffentlich-rechtliche oder genossenschaftliche Institute zu schüt-zen, sondern Sie schützen auch den Wettbewerbsvorteilder großen kapitalistischen deutschen Banken. Das ver-stehe ich nicht. Ich finde das schade; ich finde das ärger-lich.Jetzt kommen wir aber zu einer neuen Qualität dieserDebatte. Sie wollen rügen. Der Kollege hat gesagt – ichhabe das mitgeschrieben –: Es kann nicht sein, dassBrüssel in Bereiche eingreift, für die es nicht zuständigist. – Ich halte das nicht für klug. Ich habe ziemlichgroße Zweifel, ob das Prinzip der Subsidiarität und auchdas Prinzip der Verhältnismäßigkeit hier herangezogenwerden können. Ich halte es sogar für fahrlässig, diesesInstrument gerade jetzt zum ersten Mal zu nutzen, woaus meiner Sicht alles auf sehr wackeligen Beinen steht.Dies ist der falsche Sachverhalt, um das Schwert derRüge zu benutzen.
Dass Sie diesen Fall jetzt auch noch zum Exempel auf-motzen, nutzt nicht den Rechten dieses Hauses, sonderndamit schaden Sie den Rechten dieses Hauses.
– Sie, Herr Kollege Aumer, kommen mit einer Anti-Brüssel-Rhetorik daher.
Ich kann Ihnen mit einer Düsseldorfer Rhetorik vonHeinrich Heine entgegnen:Nur Narren wollen gefallen; der Starke will seineGedanken geltend machen.Ich glaube, es ist wichtiger, dass Sie die inhaltlichenBedenken, die Sie zu großen Teilen mit uns teilen, gel-tend machen und sich hier nicht auf den Pfad begeben,wo die Europäische Kommission mit Begriffen wie„Wettbewerb“, „Wettbewerbsvorteil“ und „Verwirkli-chung des Binnenmarktes“ klar darstellen kann, was ihrePosition ist und wo die Rechtsposition der Koalition un-sicher ist. Ich halte es auch für komisch, den Wettbe-werbsvorteil deutscher Banken, vor allem der Großban-ken, mit der Subsidiarität zu begründen. Sowohl unserAnliegen, regional operierende Sparkassen und Genos-senschaftsbanken zu schützen, als auch Ihr Anliegen, dieGroßbanken mit hineinzunehmen, sind inhaltliche An-liegen. Diese vertritt man nicht per Rüge, sondern perStellungnahme.
Auch wir wollen den Entwurf der EuropäischenKommission verändern. Subsidiarität ist das falsche Ar-gument. Wenn Sie hier die Rüge beschließen, dann sindSie nicht stark, sondern eher das Gegenbeispiel im Ge-dicht von Heinrich Heine.Vielen Dank.
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6870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier irr-
lichtert, das werden wir am Schluss dieser Sitzung und
in den nächsten Monaten noch feststellen.
Was mich an den Argumenten der SPD und der Grü-
nen wundert, ist Folgendes: Sie ziehen hier eine inhaltli-
che Debatte vor. Wir alle haben hier offensichtlich die-
selbe Meinung. Das ist richtig, und das finde ich auch
gut so. Das ist ein deutliches Signal des Deutschen Bun-
destages, dass das bewährte System der deutschen Spar-
kassen und Volksbanken richtig ist. Es hat sich auch in
der Krise bewährt, es ist bürgerfreundlich, und das wol-
len wir von Brüssel aus nicht schädigen lassen.
Wir sind heute aber hier, um innerhalb der Frist, die uns
durch den Lissabon-Vertrag vorgegeben wird, zu prüfen,
ob diese Regelungsvorschläge der Europäischen Kom-
mission gegen den fundamentalen europäischen Grund-
satz der Subsidiarität verstoßen. Dazu höre ich von SPD
und Grünen gar nichts, außer der Aussage: Nein, das
verstößt nicht dagegen. – Besser wäre es gewesen, wenn
Sie einmal begründet hätten, warum die Europäische
Union dies Ihrer Meinung nach so regeln kann.
Ich werde Ihnen jetzt beweisen – selbst in der kurzen
Zeit, die ich habe –, dass die Europäische Kommission
mit ihren Vorschlägen ganz klar gegen das Subsidiari-
tätsprinzip verstößt.
Beim Subsidiaritätsprinzip – das ist natürlich etwas
kompliziert, wenn man das erste Mal davon hört; so
schwer ist es dann aber doch nicht zu verstehen – haben
wir drei Aspekte zu prüfen.
Erstens. Wenn die Europäische Union in ganz Europa
mit seinen 500 Millionen Einwohnern etwas regeln will,
dann kann sie dies nur – das ist die erste Prüfung –, wenn
sie gemäß den europäischen Verträgen das Recht dazu
hat. Bei der Einlagensicherung ist dies unbestritten; das
geht aus Art. 53 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeits-
weise der Europäischen Union hervor. Das heißt, die Eu-
ropäische Union kann das regeln. Das wäre also grund-
sätzlich okay.
Zweitens. Auch wenn die Europäische Union das re-
geln kann, muss sie es nicht unbedingt; denn sie darf es
nur, wenn eine europäische Regelung die einzig mögli-
che Garantie dafür ist, dass es einen vergleichbaren
Schutz in ganz Europa für alle Bürger gibt, und wenn
nur Europa das regeln kann.
Diese Frage ist im Grundsatz auch positiv beantwor-
tet worden. Auch dies stimmt. Denn in einem freien Bin-
nenmarkt muss man vergleichbare Mindestregeln schaf-
fen, die in ganz Europa gelten, um sicherzustellen, dass
Bankkunden in ganz Europa einen vergleichbaren Min-
destschutz haben, den es bisher nicht in ausreichendem
Maße gibt.
Es gibt im Übrigen seit 1994 eine Einlagensiche-
rungsrichtlinie der Europäischen Union. Sie ist im Rah-
men der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 verschärft
worden – das war notwendig –, und sie wird jetzt noch
einmal geändert.
Das ist grundsätzlich richtig.
Wenn die Europäische Union tätig werden muss – da-
mit komme ich zum nächsten Punkt –, bedeutet das aber,
dass es einen europäischen Mehrwert geben muss, es also
für die Menschen in Europa besser werden muss. An die-
ser Stelle frage ich Sie: Wo wird es mit dem Richtlinien-
vorschlag besser, wenn in Zukunft sich diese Rechtset-
zung durchsetzt und unsere Sparkassen und Volksbanken
in einen Sicherungsfonds einzahlen müssen, obwohl es
ganz sicher ist, dass sie diesen Fonds niemals in Anspruch
nehmen müssen? Das ist so ähnlich, als wenn wir in
Deutschland ein Gesetz machen würden, mit dem wir alle
Menschen vom Säugling bis zum Greis verpflichten wür-
den, eine Autohaftpflichtversicherung abzuschließen,
egal ob sie ein Auto oder eine Fahrerlaubnis haben. Die
Versicherungen würden sich freuen, aber die Regelung
wäre falsch.
Die Europäische Union geht hier über ihre Regelungs-
kompetenz hinaus. Denn sie verschlechtert die Wettbe-
werbsfähigkeit eines nachhaltig funktionierenden Ban-
kensystems der Volksbanken und Sparkassen. Es wird
schlechter und nicht besser.
Herr Stübgen, hätten Sie Freude an einer Zwischen-
frage des Kollegen Sarrazin?
An Zwischenfragen des Herrn Kollegen Sarrazin
habe ich immer sehr große Freude.
Bitte schön.
Herr Kollege Stübgen, was die regional operierendenVolksbanken, Raiffeisenbanken und Sparkassen angeht,sind wir beieinander. Ich möchte aber doch nachfragen.Sie haben den europäischen Mehrwert infrage gestellt.Glauben Sie vor dem Hintergrund, dass die Kommissionzur Verwirklichung des Binnenmarkts eine wettbewerbs-verzerrende Situation aufgrund des deutschen Einlagen-sicherungssystems bei den Privatbanken mit einem ge-meinsamen Maximalsatz beseitigen möchte, nicht, dassdie Subsidiaritätsrüge nicht angemessen ist, weil Ihnen
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Manuel Sarrazin
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die Kommission darlegen wird, dass Ihre Argumentationnicht schlüssig ist?
Vielen Dank. Denn diesen Punkt wollte ich als Nächs-
tes ausführen. Jetzt kann ich ihn in der zusätzlichen Re-
dezeit zur Beantwortung der Frage aufgreifen. Sie haben
recht – darauf wollte ich noch kommen –: Es trifft zu,
dass die Europäische Kommission von dem bisherigen
Grundsatz abgeht, Mindestsicherungsniveaus zu schaf-
fen. Damit sind wir in Europa bisher immer gut zurecht-
gekommen. Stattdessen kommt sie jetzt auch zu einem
Höchstsicherungsniveau. Sie argumentiert damit, dass
das sein müsse. Dabei ist es ein massiver Einschnitt,
wenn man plötzlich zur Höchstsicherung kommt. Sie
sagt, dass das nötig sei, weil es im Zuge der Finanzkrise
Verschiebungen von Sparguthaben und Einlagen zum
Beispiel zu den Sparkassen und Volks- und Raiffeisen-
banken gab. Das hat aber doch wohl etwas damit zu tun,
dass die Menschen nicht nur in Deutschland Vertrauen in
dieses bewährte System haben. – Ich bin noch bei der
Antwort, Herr Sarrazin.
– Nein, das ist noch die Antwort. Es war ja eine umfäng-
liche Frage.
Wenn die Europäische Kommission in der Replik da-
rauf, dass es in der Tat in Europa Bankensysteme gibt,
die besser sind und bei den Menschen mehr Vertrauen
erzeugen, auf die Idee kommt, diese Systeme zu zwin-
gen, schlechter zu werden bzw. Mittelmaß wie überall,
dann kann das nicht der richtige Weg sein. Das ist meine
Antwort darauf. Die Kommission geht weiter, als es ihre
Aufgabe ist. Das ist kein europäischer Mehrwert.
Ich komme aber zu einem weiteren Punkt. Dieses
Thema haben vor allen Dingen der Bundesrat in seiner
Stellungnahme und der federführende Finanzausschuss
gerügt. Wir haben in unserer Stellungnahme des Europa-
ausschusses ein anderes Thema, nämlich das dritte
Prüfraster, genau untersucht und sind zu dem Ergebnis
gekommen, dass auch das auf jeden Fall ein klarer Ver-
stoß der Europäischen Kommission gegen die Subsidia-
ritätsgrundsätze ist. Es geht dabei um die Frage der
Verhältnismäßigkeit, die im Amsterdamer Subsidiari-
tätsprotokoll eindeutig geregelt ist, und was auch heute
noch im Lissabon-Vertrag eindeutig so weitergilt.
Was heißt Verhältnismäßigkeit? Das bedeutet die Ver-
pflichtung der Europäischen Union, wenn sie zu Rege-
lungen kommt, die notwendig, nützlich und erlaubt sind,
zur Erreichung des Ziels mildeste Mittel anzuwenden.
Damit kommen wir zur Wir-Frage.
Die Kommission neigt gerne dazu, wenn es etwas zu
regeln gibt, zum Instrument der Vollharmonisierung zu
greifen. Das heißt Gleichschaltung von ganz Europa,
zwischen Nordkap und Sizilien, zwischen Schwarzmeer
und Atlantik. Überall muss alles gleich sein. Dann wäre
alles gut. Ich sage Ihnen: Unsere Überzeugung ist, dass
das nicht der richtige Weg ist. Es ist gut, dass es Unter-
schiede in Europa gibt. Die Europäische Kommission
bewirkt durch die Gleichschaltung eine Schwächung be-
währter Systeme. Dadurch, dass zusätzlich gezahlt wer-
den muss, kommt das bewährte System der Sparkassen
und Raiffeisenbanken im Prinzip schlecht weg. Es wird
also im Wettbewerb beschädigt.
Das verstößt eindeutig gegen das Verhältnismäßig-
keitsprinzip. Denn es ist eine klare Vorgabe: Wenn es im
Vergleich zur Vollharmonisierung ein gleich wirksames
milderes Mittel gibt, dann ist diesem in jedem Fall der
Vorzug zu geben. Das gleich wirksame mildere Mittel ist
ganz eindeutig eine Verschärfung der Mindestnorm. Wir
finden es richtig, dass in Zukunft statt 50 000 Euro
100 000 Euro pro Einlage gesichert werden sollen. Der
Vorschlag der Europäischen Kommission ist richtig,
Banken, die keinem starken, wirksamen Sicherungsme-
chanismus angehören, zu verpflichten, in einen zu schaf-
fenden Sicherungsmechanismus einzuzahlen. Aber es
gehört auch dazu, dass bewährte Sicherungssysteme, wie
sie unsere Sparkassen und Volksbanken, die seit Jahr-
zehnten jeder Krise trotzen, haben, wie bisher als voll-
wertig anerkannt werden. Das ist das mildere Mittel. Das
hätte die Kommission vorschlagen müssen. Da sie das
nicht getan hat und zur Vollharmonisierung greift, ver-
stößt sie eindeutig gegen das Subsidiaritätsprinzip.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Finanzausschusses zu dem Vorschlagfür eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und desRates über Einlagensicherungssysteme. Eine persönlicheErklärung nach § 31 der Geschäftsordnung liegt vomKollegen Luksic vor.1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/3239, in Kenntnis der Unter-richtung eine Entschließung gemäß Protokoll Nr. 2 zumVertrag von Lissabon in Verbindung mit § 11 des Inte-grationsverantwortungsgesetzes anzunehmen. Es han-delt sich um eine Subsidiaritätsrüge. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung an-genommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und dieFraktion Die Linke. Dagegen haben gestimmt SPD undBündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen gab es keine.Wir stimmen über den Entschließungsantrag derFraktion der SPD auf Drucksache 17/3240 ab. Werstimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag istabgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Frak-1) Anlage 3
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6872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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tion. CDU/CSU und FDP haben dagegengestimmt.Bündnis 90/Die Grünen und Linke haben sich enthalten.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3191mit dem Titel „Einlagen bei Finanzinstituten: DezentraleSicherungssysteme als Modell für Europa“. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Antrag ist ebenso abgelehnt bei Zustimmung durchdie einbringende Fraktion. Dagegen haben die Koali-tionsfraktionen gestimmt. SPD und Linke haben sichenthalten.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerfahren zur Auswahl von Bundesbankvor-ständen reformieren– Drucksachen 17/798, 17/1075 –Berichterstattung:Abgeordnete Leo DautzenbergDr. Gerhard SchickVorgesehen ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dannverfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist fürdie CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ralph Brinkhaus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-raten heute über einen Antrag der Grünen, die die Aus-wahl der Bundesbankvorstände reformieren möchten.Wie läuft das bisher? Bisher ist es so, dass der Bundes-präsident einen Bundesbankvorstand bestellt, dass derPräsident und der Vizepräsident der Deutschen Bundes-bank sowie ein einfaches Mitglied auf Vorschlag derBundesregierung bestellt werden und dass drei weitereVorstände auf Vorschlag des Bundesrates bestellt wer-den. Alle sechs müssen fachlich geeignet sein, eine sol-che Position zu bekleiden.Wenn ich dieses Verfahren reformieren möchte, dannmuss ich Gründe dafür haben. Ein Grund könnte darinliegen, dass ich mit den Ergebnissen dieses Verfahrensnicht zufrieden bin.
Ein zweiter Grund könnte sein, dass ich ein besseresVerfahren habe. Fangen wir mal einfach mit den Ergeb-nissen dieses Verfahrens an. Warum könnte ich dennvielleicht nicht zufrieden sein? Zum Beispiel, wenn dervon diesem Vorstand, der so bestellt worden ist, geleiteteApparat, das Institut der Bundesbank, schlecht arbeitet.Ich glaube, wir können uns nicht über die Qualität derArbeit der Bundesbank beklagen. Die Bundesbank istfür die Preisstabilität und den Zahlungsverkehr verant-wortlich. Sie hütet unsere Währungsreserven und vertrittunsere Interessen auf europäischer Ebene. Ich denke, dasläuft hervorragend. Das ist in der Vergangenheit – teil-weise unter erschwerten Bedingungen – hervorragendgelaufen.
Die Bundesbank hat die Währungsunion mit der ehema-ligen DDR organisiert. Sie hat die Euro-Einführung or-ganisiert. Das alles ist gut gelaufen. Sie ist dabei poli-tisch immer unabhängig geblieben. Auch das war nichtimmer so einfach. Da sind insbesondere von einer Seitedieses Parlamentes einige Ansprüche gestellt worden.Also, damit sind wir zufrieden.Aber vielleicht geht es um die Qualität der handeln-den Personen, der Vorstände der Bundesbank. Da gab essicherlich in der Vergangenheit das eine oder andere Ge-spräch, die eine oder andere Diskussion; aber ganz gene-rell ist es doch so, dass die Qualität der Bundesbank-vorstände in der Vergangenheit hervorragend war. Wirhatten beeindruckende Zentralbankpersönlichkeiten, diean der Spitze der Bundesbank gestanden haben.
Insofern halte ich es schon für sehr, sehr gewagt, in die-sem Antrag die Qualität des Bundesbankvorstandes pau-schal zu diskreditieren.
Die aktuellen Vorstände sind ein gutes Team. Sie sindgut zusammengesetzt und machen eine gute Arbeit. Wirhaben heute einen weiteren Vorschlag bekommen. Die-ser Vorschlag wird dazu beitragen, dass die Qualitätnoch weiter steigen wird.Ein dritter Punkt, warum ich nicht zufrieden bin,könnte sein, dass ich sage: Na ja, die sind von einer Regie-rung, vom Bundesrat ins Rennen geschickt worden, viel-leicht ist es so, dass die dann parteipolitisch handeln. – Ichglaube, das ist gerade nicht der Fall gewesen. Die Bun-desbankvorstände waren immer zwei Prinzipien ver-pflichtet: der Preisstabilität und auch der Marktwirt-schaft. Das hat ganz hervorragend geklappt. Wenn mannatürlich Preisstabilität und Marktwirtschaft als partei-politisch betrachtet, dann mag es so sein, dass die Bun-desbankvorstände parteipolitisch gehandelt haben.Ich fasse das zusammen. Die Ergebnisse des bisheri-gen Verfahrens waren so schlecht nicht. Das kann ei-gentlich nicht die Ursache dafür sein, dass man es än-dern möchte.
Zweiter Punkt. Vielleicht haben Sie ja ein besseresVerfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-nen.
Das Verfahren – um es kurz vorzustellen – beginnt da-mit, dass man eine öffentliche Ausschreibung macht,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6873
Ralph Brinkhaus
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dass in einem zweiten Schritt die Bundesregierung vor-sortiert, in einem dritten Schritt der Finanzausschuss mitden verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten eineAnhörung macht und in einem vierten Schritt dann dasParlament ohne Beteiligung des Bundesrates die entspre-chenden Vorstände wählt.Fangen wir mit der öffentlichen Ausschreibung an.Dahinter steht der Gedanke, dass man bessere und quali-fiziertere Kandidaten bekommt, als das vielleicht in derVergangenheit der Fall war. Wenn wir das jetzt vom Fallder Bundesbank abstrahieren, dann ist es durchaus einehrenwertes, ja geradezu ein notwendiges Ansinnen,dass wir darauf achten, dass die Qualität und die fachli-che Expertise der Menschen, die für uns in Spitzenposi-tionen in Verwaltung und Politik arbeiten, gut ist. Das istüberhaupt keine Frage.
Ob das durch eine öffentliche Ausschreibung garantiertwird, wage ich zu bezweifeln; denn wer so ein bisschenin die Landschaft hineinschaut, der weiß, dass Spitzen-positionen eigentlich weniger durch öffentliche Aus-schreibungen, sondern mehr durch Direktansprache be-setzt werden. Insofern ist da der eine oder andereZweifel angebracht.Ich denke, wir müssen viel, viel mehr darauf achten– das gilt eigentlich für alle Bereiche –, dass wir einengrößeren Wechsel, einen größeren Austausch zwischenWirtschaft und Wissenschaft auf der einen Seite sowiePolitik und Verwaltung auf der anderen Seite haben. Unddas funktioniert in Deutschland – insofern ist der An-spruch dieses Antrages vielleicht nicht ganz falsch –noch nicht gut genug. Wir brauchen mehr Austausch.Dafür müssen wir aber auch arbeiten. Wir müssen näm-lich daran arbeiten, dass wir den Menschen, die dannbeispielsweise aus der Wirtschaft in Spitzenpositionender Politik und der Verwaltung wechseln, auch ein ent-sprechendes Umfeld geben. Viele scheuen sich, weil siesich einfach sagen: Das tue ich mir doch nicht an, michso öffentlich zu exponieren, mich für jede Kleinigkeitbeschimpfen zu lassen. – Insofern müssen wir da einigeHausaufgaben machen. Wir könnten jetzt noch über Be-zahlung und ähnliche Dinge reden. Insofern: ÖffentlicheAusschreibung reicht da nicht. Der Anspruch, dass wirgute Leute gewinnen müssen, ist in Ordnung und richtig.Zweiter Schritt ist, dass die Bundesregierung eineVorauswahl treffen soll. Das wundert mich jetzt ein biss-chen. Ich finde es ja gut in der Konsequenz, aber Sie ha-ben in Ihrem Antrag der Bundesregierung eigentlichabgesprochen, dass sie eine vernünftige Auswahl ma-chen kann. Jetzt sagen Sie, sie soll vorsortieren. Daspasst nicht ganz zusammen.Der dritte Schritt ist sehr, sehr interessant, meine Da-men und Herren: öffentliche Anhörung im Finanzaus-schuss. Ich stelle mir vor, wie das Ganze laufen wird.
Die erste Frage, die sich bezüglich solcher öffentli-chen Anhörungen stellt: Inwieweit ist gesichert, dass dieMitglieder des Finanzausschusses über die entspre-chende Expertise verfügen, das Ganze überhaupt beur-teilen zu können? Sie schreiben in Ihrem Antrag: EinBundesbankvorstand muss ein guter Geldpolitiker sein.Geldpolitische Expertise im Finanzausschuss ist sicher-lich bei dem einen oder anderen gegeben. Außerdem sollein Bundesbankvorstand führen und organisieren kön-nen. Ob so viele Mitglieder des Bundestages die Exper-tise mitbringen, dass sie tatsächlich schon einmal geführtoder organisiert haben, das wage ich bei dem einen oderanderen zu bezweifeln. Darüber hinaus soll ein Bundes-bankvorstand internationale Erfahrung besitzen; dasspielt auch immer eine große Rolle. Wir können uns jaeinmal unsere Biografien anschauen und dann sagen,wer internationale Erfahrungen hat. Ich muss sagen: Po-litisch können wir die ganze Sache sicherlich gut ein-schätzen; aber an der einen oder anderen Stelle solltenwir doch ein bisschen mehr Demut walten lassen, wasunsere tatsächlichen Fähigkeiten angeht.Die zweite Frage, die sich bezüglich solcher öffentli-chen Anhörungen stellt: Wie wird das Ganze ablaufen?Ich kann es Ihnen prophezeien. Es wird so ablaufen: DieKoalitionsfraktionen werden die Kandidaten, die dieRegierung ausgewählt hat, verteidigen. Die Oppositionwird sich einen Spaß daraus machen, zu versuchen, dieseKandidaten auf das Glatteis zu führen, nicht unbedingtaus fachlichen Gründen, sondern ganz einfach funktio-nal, um der Regierung zu schaden.
Insofern frage ich mich: Wer von den Spitzenkräftenwird sich dieses öffentliche Tribunal antun? Ich habeZweifel, dass das funktionieren wird.Vierter Schritt: Der Bundestag entscheidet. Ich fragemich: Hat der Bundestag dann eine andere Mehrheit alsdie jeweilige Regierung? Wahrscheinlich nicht. Insofernist also auch da eine gewisse Inkonsequenz enthalten.Ganz entscheidend dabei ist: Im letzten Satz der An-tragsbegründung wird kurz über den Bundesrat hinweg-gewischt. Es wird gesagt: Das ist ein Relikt aus vergan-genen Zeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen, wir können sicherlich gerne und ausführlichüber unser föderales System diskutieren, dabei haben Siemich sicherlich an der einen oder anderen Stelle an IhrerSeite. Aber anlässlich der Bestellung der Bundesbank-vorstände mit einem Federstrich das sehr austarierte Ver-fahren, die Balance zwischen Bundesrat und Bundestagaußer Kraft setzen zu wollen, das halte ich für abenteuer-lich. Das ist mit uns nicht zu machen.
Ich fasse das Ganze zusammen. Der Anspruch, mehrSpitzenkräfte für Spitzenpositionen in Verwaltung undPolitik zu gewinnen, ist durchaus gerechtfertigt. Dasswir dabei am Rekrutierungs- und Auswahlverfahren an-setzen, das halte ich auch nicht für falsch, weil es einentscheidender Punkt ist.
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6874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Ralph Brinkhaus
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Das ist eine gute Sache. Dass man ausgerechnet die Bun-desbank dafür als Beispiel nimmt, halte ich angesichtsder Qualität der Arbeit der Bundesbank doch für weithergeholt. Im Übrigen hat das Verfahren, das Sie da aufden Weg bringen wollen, durchaus Schwachpunkte, wieich gerade erläutert habe. Was gar nicht geht, ist, dasswir durch Ihren Vorschlag die Balance zwischen Bun-desrat und Bundestag, zwischen Ländern und Bund ausdem Gleichgewicht bringen.Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. FürDiskussionen darüber, wie wir die Qualität der in Politikund Verwaltung handelnden Personen steigern können,sind wir gerne zu haben. Lassen Sie uns dies fortsetzen!Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Bei der Einführung des Euros sagte der französischeStaatsmann Jacques Delors:Nicht alle Deutschen glauben an Gott; aber alleglauben an die Bundesbank.Auch das hätte letztendlich vom Kollegen Brinkhauskommen können. Trotzdem muss man sagen, dass in denletzten Monaten Zweifel geäußert worden sind. Auchhier hat die Finanzkrise Spuren hinterlassen: Es ist Kritikgeäußert worden, beispielsweise am bestehenden Aus-wahlverfahren. Auch so manche fachliche Eignung, wasdie Verantwortlichen im Finanzbereich anbelangt, ist an-gezweifelt worden. Natürlich ist das auch an der Bun-desbank nicht einfach so vorbeigegangen.Wir sind sehr froh, dass der rheinland-pfälzische Mi-nisterpräsident Beck, der zusammen mit dem saarländi-schen Ministerpräsidenten das Vorschlagsrecht für dieNeubesetzung hat, gegenüber dem Bundesbankvorstandgleich klargestellt hat: Fachkompetenz ist das entschei-dende Kriterium bei dieser Besetzung. Wir glauben, dassdies bei dem Namen, der heute über den dpa-Tickerläuft, letztendlich der Fall ist. Es ist richtig, aktuell nichtüber das Berufungsverfahren zu diskutieren, sondern,wie es im Antrag der Grünen vorgesehen ist, über diePerspektiven, was dieses Berufungsverfahren anbelangt.Wir haben auch im Finanzausschuss darüber gespro-chen. Es ist ja nicht neu, was die Grünen hier vorlegen.Vielmehr haben wir dies schon im Februar, März im Fi-nanzausschuss diskutiert. Ich muss sagen, dass ich schonein bisschen enttäuscht bin, weil wir vonseiten der SPDbereits im Ausschuss unsere Bedenken deutlich gemachthaben, was das neue Verfahren anbelangt, das Sie vor-schlagen.Grundsätzlich müssen wir sicherlich auch darüberdiskutieren, ob es vielleicht ein besseres Verfahren, einoptimales Verfahren gibt, das gegenüber dem jetzigen zubevorzugen wäre.
Die Grundidee des Antrags ist sicherlich gar nicht soschlecht; denn die Diskussion über die fachliche Qualifi-kation der Verantwortlichen im Finanzbereich darf na-türlich auch bei der Bundesbank nicht haltmachen. Füruns ist eine gut funktionierende Bankenaufsicht ohneZweifel notwendig. Deswegen verschließen wir unsgrundsätzlich natürlich auch nicht verfahrenstechnischenNeuregelungen.
Dennoch muss man jetzt einmal auf Ihren Vorschlageingehen. Was mich schon ein bisschen verwundert hat– das habe ich auch schon im Ausschuss deutlich ge-macht –, ist, dass es in der Begründung ganz plakativheißt: „Kompetenz vor Parteibuch und Regionalpro-porz“. So etwas sollten wir uns im Deutschen Bundestagverkneifen. Wir dürfen nicht so tun, als schließe ein Par-teibuch oder eine Mitgliedschaft in einer Partei Kompe-tenz aus.
So etwas kann man einfach nicht verbreiten, weil mandamit der grassierenden Parteien- und Politikverdrossen-heit Vorschub leistet.Jetzt schauen wir uns einmal Ihr Verfahren an – Kol-lege Brinkhaus ist auch schon darauf eingegangen –: Indem vierstufigen Verfahren, das Sie jetzt vorgeschlagenhaben, entscheidet de facto doch noch viel mehr der Par-teienproporz. Zunächst einmal gibt es eine öffentlicheAusschreibung; das mag man ja noch gutheißen. Aberbei der Vorauswahl durch die von der Parlamentsmehr-heit getragene Bundesregierung sind natürlich Parteiendabei. Dieselben Parteien stellen dann auch die Mehrheitim Finanzausschuss, in dem sich die Kandidaten undKandidatinnen – vielleicht gibt es auch einmal eine Kan-didatin – vorstellen. Auch dort ist die entsprechendeMehrheit wieder gegeben. Letztendlich soll im Plenumdes Deutschen Bundestages darüber abgestimmt werden,wer zum Zuge kommt. Wer entscheidet denn dann da?Es sind auch wieder die Parteien. Deswegen sind IhrVorschlag und dessen Begründung überhaupt nicht stim-mig.
Nach unserer Auffassung wird also das Problem ehernoch verschärft, als dass es gelöst würde.
An die Mitbestimmung der Bundesländer möchte ichnicht heran, weil ich glaube, dass die Bundesländer hierauf jeden Fall mitreden sollten; ich nenne an dieserStelle nur das Stichwort Landesbanken. Es ist eine Er-rungenschaft unseres föderalen Systems, dass unsereLänder bei Gremienbesetzungen mitentscheiden können.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6875
Martin Gerster
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Trotzdem gibt es Fragen, über die wir in den nächstenWochen und Monaten noch einmal reden müssen. Ichdenke da zum Beispiel an die Frage, ob wir wirklichsechs Mitglieder im Bundesbankvorstand haben müssen.Ich sehe, dass es eine Verschiebung der Aufgaben gibt,beispielsweise durch die Einführung des Euros wichtigeBeratungsfunktionen zur internationalen Finanzmarktre-form oder auch offene Fragen bei der Aufsicht. Wennwir BaFin und Bundesbank in puncto Aufsicht an-schauen, ergibt sich daraus vielleicht auch noch eineneue Aufgabenstellung. Ihr Europaabgeordneter SvenGiegold geht ja in eine ganz andere Richtung. Er machtdie Frage auf, ob wir nicht durch eine ganz andere Ein-gruppierung bei der Vergütung erreichen müssen, dassdieser Job für die Besten aus der Branche mit entspre-chender Expertise attraktiv ist. Auch diese Frage mussim Hinblick auf die Bundesbank diskutiert werden. ImÜbrigen weist unsere Kollegin Ingrid Arndt-Brauer da-rauf hin, dass wir darüber diskutieren müssen, ob esnicht an der Zeit ist, dass eine Frau in den Bundesbank-vorstand kommt. Vielleicht sollten wir auch dafür eineentsprechende Regelung andenken.
Fazit: Die Absichten sind okay. Wir nehmen IhrenAntrag als Denkanstoß mit, um zu überprüfen, ob esnicht vielleicht doch ein besseres Verfahren, ein optima-les Verfahren gibt. Was heute vorliegt, ist, ehrlich gesagt,ein Schnellschuss, noch dazu einer mit altem Pulver ausdem Frühjahr. Es ist schade, dass Sie unsere Anregungennicht aufgenommen haben.
Wir sind dafür, zu überlegen: Was passt für den bundes-deutschen Föderalismus? Wie bekommen wir die Bestenfür diese wichtige Aufgabe? – Das sollte unsere Marsch-route sein.Ihr Vorschlag ist ein Denkanstoß, aber sicher nicht dieoptimale Lösung. Deswegen werden wir Ihrem Antragheute leider nicht zustimmen können.Danke schön.
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Mit ihrem Antrag verspricht uns die Fraktion Die Grü-nen fachliche Exzellenz an der Spitze der Bundesbank.
„Gut gemeint“ und „gut gemacht“ sind allerdings auchhier zwei unterschiedliche Dinge.Man sollte auch einmal in die Geschichte der Rege-lung zur Besetzung des Bundesbankvorstands schauen.Die Besetzung wurde zuletzt im Bundesbankgesetz inder Fassung vom 23. März 2002 unter einer rot-grünenBundesregierung geregelt, beschlossen mit den Stimmender rot-grünen Koalition in diesem Parlament. Insofernist das wieder ein Beispiel dafür, dass Sie sich von Ent-scheidungen, die Sie in der Regierungsverantwortunggetroffen haben, in der Opposition einfach mal so mirnichts, dir nichts verabschieden wollen.
Was hier vorliegt, ist ein absoluter Schnellschuss– Kollege Gerster hat es schon ausgesprochen –, einSchnellschuss aus der Opposition heraus, um sozusagenvergessen zu machen, was Sie in Ihrer Regierungszeitgetan haben.
Wir als FDP-Fraktion haben uns damals intensiv indie Beratungen eingebracht. Wir haben sehr wohl auf dieGefahr einer politischen Einflussnahme durch das Ver-fahren, das damals dann ins Gesetz geschrieben wurde,hingewiesen.
Aber nichtsdestotrotz haben Sie das Gesetz durchgeboxt,wollen damit aber jetzt nichts mehr zu tun haben.
Das Vorschlagsrecht des Bundesrates, also der Bun-desländer, halte ich für eine ganz wesentliche Kompo-nente der Regelung im Bundesbankgesetz; denn ichglaube, dass eine Verteilung des Vorschlagsrechts aufunterschiedliche Akteure eher geeignet ist, eine politi-sche Einflussnahme auszuschließen, als eine Konzentra-tion auf Bundesregierung und Bundestag.
Der entscheidende Punkt ist: Bei mehreren Akteuren isteine politische Einflussnahme weniger leicht möglich.Sie haben vorgeschlagen, dass nach der öffentlichenAusschreibung und Vorsortierung der Bewerbungendurch die Bundesregierung der Finanzausschuss eine öf-fentliche Anhörung durchführt, so nach dem Motto:Deutschland sucht den Superbanker. Dann dürfen diealle dort antanzen, und dann dürfen sich die Mitgliederdes Finanzausschusses ein Bild machen. Ich wage, ehr-lich gesagt, nicht so genau zu sagen, wie das in einer sol-chen Finanzausschusssitzung ausgehen wird. Möglicher-weise ist es sogar eine öffentliche Sitzung, eineöffentliche Vorführung, und der Finanzausschussvorsit-zende übernimmt die Rolle von Dieter Bohlen.
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6876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Dr. Daniel Volk
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Ich glaube, dass ein solches Verfahren der Wichtigkeitdieses Amtes in keiner Weise gerecht werden könnte.
Ich möchte noch auf eines hinweisen. Es gibt ein ehe-maliges Bundesbankvorstandsmitglied, das durch Tätig-keiten neben seiner eigentlichen Vorstandstätigkeit Auf-sehen erregt hat. Dieses Mitglied war von den LändernBerlin und Brandenburg vorgeschlagen worden. Ichhabe einmal herausgesucht, was der damalige und im-mer noch im Amt befindliche Regierende Bürgermeistervon Berlin, Klaus Wowereit, damals über diese Persongesagt hat:Mit Sarrazin geht einer der profiliertesten Finanz-politiker nicht nur des Landes Berlin, sondern inder Bundesrepublik Deutschland.
Weiter sagte er über Sarrazin:Ich lasse ihn ungern ziehen.
In einer öffentlichen Anhörung werden möglicher-weise auch solche Überzeugungen geäußert, die sich einpaar Jahre später als falsch erweisen. Insofern wird viel-leicht auch durch das von Ihnen vorgeschlagene Verfah-ren wohl die eine oder andere Fehleinschätzung bei derBesetzung von Bundesbankvorstandsposten nicht ver-mieden werden können.Im Übrigen sehen wir in dem von Ihnen vorgeschla-genen Verfahren tatsächlich eine Gefährdung, vielleichtsogar einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Bundes-bank. Ich möchte schon noch einmal darauf hinweisen,was die Bundesbank in den Zeiten der Finanzkrise fürdieses Land getan hat und mit welch unglaublich hohemAnsehen die Bundesbank in diesem Land agiert. Dem-entsprechend sind wir als FDP eigentlich schon immer,traditionell, Verfechter der Unabhängigkeit der Bundes-bank. Wir werden schon allein aus diesem Grund IhremAntrag nicht zustimmen können, weil wir einfach eineGefährdung der Bundesbank sehen.Außerdem wird solch ein Schnellschussantrag, wieSie ihn hier vorgelegt haben, wenig tauglich für die Pra-xis sein.
Dementsprechend werden wir Ihrem Antrag nicht zu-stimmen.Vielen Dank.
Axel Troost hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist richtig, sich anlässlich der Zusammensetzung desBundesbankvorstandes Gedanken über die Wahl desGremiums zu machen. Das ist auch notwendig, nachdemwir nun wissen, wie schwierig und teuer es ist, offen-sichtliche Fehlbesetzungen wieder loszuwerden. Von da-her begrüßen wir den Antrag der Grünen.Fachliche Eignung – nicht Regionalproporz und Par-teibuch – muss bei der Besetzung des Bundesbankvor-standes ausschlaggebend sein.
Eine öffentliche Ausschreibung von Vorstandspostenentspricht durchaus diesem Ziel. Auch eine Anlehnungan international erfolgreich praktizierte Besetzungsver-fahren ist zu begrüßen.Tatsächlich sind die wohldotierten und prestigeträch-tigen Posten beim Bundesbankvorstand in den letztenJahren etliche Male an verdiente Parteikollegen verge-ben worden. Der mit goldenem Handschlag verabschie-dete Sarrazin – das ist eben noch einmal dargestellt wor-den –
stellt aus unserer Sicht das abschreckendste Beispiel da-für dar. Herrn Sarrazin kann man nur wünschen: Allahgebe ihm Verstand!
– Ja, aber Moment: Parteiproporz betrifft nicht nur dieeine oder die andere Partei, sondern das trifft für alle hierzu. Da will ich gar keine Ausnahmen machen. Ich findees schon bedenklich, dass daraus letztlich keine Konse-quenzen gezogen werden.Es ist auch nicht richtig, hier von Schnellschuss zusprechen. Es geht ja nicht um eine Sofortabstimmungüber irgendetwas; der Antrag liegt vielmehr schon seitlanger Zeit vor und ist im Finanzausschuss behandeltworden.
Selbst wenn man nicht dem Antrag folgen will, hat dasjetzt nicht dazu geführt, dass man sich einmal Gedankenmacht, auf welche andere Weise die Besetzung realisiertwerden könnte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6877
Dr. Axel Troost
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Klar ist doch, dass eine öffentliche Ausschreibung et-was ganz anderes ist, als wenn die Besetzung ausschließ-lich in Parteigremien ausgemauschelt wird. Das ist imAugenblick sozusagen das Verfahren, um auf die Vor-schlagsliste zu kommen. Insofern finden wir, dass dasGrundanliegen völlig richtig ist und man dem auch fol-gen sollte.Trotzdem glauben wir, dass der Antrag der Grüneninsgesamt zu kurz greift. Selbst wenn man im Rahmeneiner Vorstandsbesetzung versucht, den besten Volkswirtzu finden, ist derjenige, der auf diese Weise in das Gre-mium kommt, wegen der ausschließlichen Ausrichtungder Bundesbank auf das Ziel der Preisstabilität weitest-gehend gebunden und nicht in der Lage, eine aus unsererSicht notwendige umfassende Politik zu machen, dasheißt, die Politik der Bundesbank wie dann eben auchder Europäischen Zentralbank an gesamtwirtschaftlichenZielsetzungen auszurichten.Die Bundesbank ist aus unserer Sicht auf die Zieledes Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zu verpflichten,nämlich Beschäftigung zu erhöhen, angemessenes au-ßenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen undfür ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstumsowie Preisstabilität zu sorgen. Eine Ausrichtung aufsolche Ziele wird ja bereits von der amerikanischen Zen-tralbank praktiziert.Das ist aus unserer Sicht eine absolute Notwendig-keit, um die Bundesbankpolitik wirklich in einen Ge-samtzusammenhang zu stellen und zu versuchen, damitden Interessen der Bevölkerung nachzukommen, alsonicht nur auf die Preisstabilität zu achten, sondern auchauf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.Wir bedauern sehr, dass dieser Antrag von der großenMehrheit des Hauses nicht wirklich zum Anlass genom-men wird, einmal nachzudenken, was man verändernkann. Ich denke, das, was mit Sarrazin passiert ist, kannjederzeit wieder passieren. Insofern fände ich es wichtig,zumindest im Finanzausschuss weiter über diese Fragezu diskutieren und uns wirklich Gedanken zu machen,wie man hier Veränderungen herbeiführen kann.Danke schön.
Lisa Paus hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrBrinkhaus, Herr Gerster, Herr Volk, der vorliegende An-trag „Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorstän-den reformieren“ ist in diesem Hohen Hause nicht neu.Wir haben ihn aber heute auf die Tagesordnung setzenlassen, weil wir gehofft haben, dass genau eine Wochenachdem Thilo Sarrazin aus dem Bundesbankvorstandausgeschieden ist, ein guter Zeitpunkt sein könnte, umjetzt endlich darüber zu sprechen, was man tun kann, umdas durch den Fall Sarrazin beschädigte Ansehen der In-stitution Bundesbank und ihre Unabhängigkeit wieder-herzustellen.
Wir hatten gehofft, jetzt sei der Zeitpunkt günstig, end-lich einmal frei von irgendwelchen Personalspekulatio-nen darüber zu sprechen, inwieweit sich das bisher gel-tende Personalauswahlverfahren bewährt hat oder ebennicht. Die heutige Debatte ist jedoch durchaus davon be-einflusst, dass von dpa gemeldet wurde, es gebe denneuen Vorschlag, dass Joachim Nagel, bisher Leiter desZentralbereichs Märkte bei der Bundesbank, in den Vor-stand wechselt. Wir begrüßen zunächst, dass bei dieserPerson offenbar nicht das bisherige Verfahren gewähltworden ist: Der Bundesbankvorstand ist eine wunderbareEndlagerungsstätte für altgediente Politikerinnen undPolitiker.Nichtsdestotrotz: Diese Personalentscheidung, dierichtiger erscheint, löst nicht das strukturelle Problem,das hier vorliegt. Deswegen ist dieser Antrag eine Einla-dung an Sie zur Debatte; leider haben Sie sie heute aus-geschlagen.
Trotzdem möchte ich die Argumente vortragen.Wir haben diesen Antrag im Februar dieses Jahreseingebracht. Damals haben Sie von der Koalition denAntrag als durchsichtiges Oppositionsmanöver abgetan,weil es seinerzeit unter anderem um die Berufung vonCarl-Ludwig Thiele von der FDP in den Vorstand derBundesbank ging;
Sie wollten ihn schützen, weil sein Berufungsverfahrenzu dieser Zeit lief. Wir hielten die Berufung zwar schondamals für falsch; aber – das muss ich sagen – es be-wegte sich im üblichen Rahmen von parteipolitischemGeplänkel.Heute haben wir aber eine vollkommen andere Situa-tion. Inzwischen hat sich am Beispiel Thilo Sarrazin ge-zeigt, was passieren kann, wenn die Bundesbank von derPolitik als politisches Endlager missbraucht wird.
Thilo Sarrazin war zwar der spektakulärste, aber beileibenicht der einzige schwierige Entsorgungsfall. So wurdezum Beispiel Rudolf Böhmler 2007 von Baden-Würt-temberg als Bundesbankvorstand durchgedrückt, obwohler in einem internen Anhörungsverfahren keine Mehr-heit bei der Bundesbank fand.
Sarrazin wurde nicht wegen seiner Qualifikationdurchgedrückt – darüber könnte man diskutieren; diefachliche Qualifikation war nicht das Problem –, son-dern weil es dem Regierenden Bürgermeister von Berlin
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6878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Lisa Paus
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– das konnte ich als Berlinerin wirklich live miterleben –in sein politisches Schachspiel passte. Eines wussteKlaus Wowereit wie die gesamte Stadt Berlin: ThiloSarrazin ist die denkbar ungeeignetste Person, um Teileines Kollegialorgans zu sein.
Dies hat er nicht erst als Berliner Finanzsenator unterBeweis gestellt, sondern auch schon vorher, als er beider Bahn war, oder davor, als er Staatssekretär in Rhein-land-Pfalz war. Das war also allgemein bekannt.
Jahrzehntelang galt der Spruch des französischenStaatsmanns Jacques Delors:Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alleglauben an die Deutsche Bundesbank.
– Herr Brinkhaus, genau das gilt aber nach der CausaSarrazin nicht mehr.
Deswegen sind wir gefordert, die Reputation der Bun-desbank wieder herzustellen. Da braucht es eben einenAnsatz für ein neues Verfahren.
Wenn Sie den Antrag so abtun, als sei er eine spin-nerte grüne Idee,
dann möchte ich Ihnen schon sagen: Inzwischen befin-den wir uns in guter Gesellschaft.Lesen Sie die entsprechenden Blätter: WirtschaftsWo-che, Handelsblatt bis hin zur Börsen-Zeitung. Dort fin-den Sie die Forderung, die wir in unserem Antrag erhe-ben. Am 13. September fordert die WirtschaftsWoche„eine Reform der Besetzungsprozedur“, um die ange-schlagene Reputation der Bundesbank wieder herzustel-len. Die Welt am Sonntag berichtet am 19. September:Führende europäische Ökonomen fordern ein neues Be-rufungsverfahren für die Vorstände. Auch der ehemaligeBundesbankpräsident Karl Otto Pöhl schloss sich in ei-nem Interview dieser Forderung an. Was machen Sie?Sie machen nichts.
Wir brauchen eine Verbesserung der Legitimität beimAuswahlverfahren. Wir schlagen ein Verfahren vor, dasmehr Transparenz schafft und dadurch die Legitimationerhöht. Da die vier Stufen schon so oft Thema waren,möchte auch ich noch einmal kurz auf sie eingehen.
Frau Kollegin, das könnte höchstens noch ein Satz
ohne Kommata sein.
Ich komme zum Schluss. – Zur ersten Stufe. Wenn
Sie gerne noch zusätzlich Headhunter einschalten wol-
len, dann schalten Sie zusätzlich Headhunter ein. Die öf-
fentliche Ausschreibung organisiert ein Mindestmaß an
Qualität. Das soll sie leisten.
Zur zweiten Stufe. Das Auswahlverfahren der Bun-
desregierung soll gewährleisten, dass Menschen nicht
beschädigt werden. Das kennen Sie auch. Sie thematisie-
ren das als Problem der öffentlichen Ausschreibung.
Frau Kollegin.
Die dritte Stufe sieht vor – das ist für Sie das
Schlimmste –, dass der Finanzausschuss darüber beraten
soll. Ich sage Ihnen: Schauen Sie nach Großbritannien!
Schauen Sie auf die EU-Ebene!
Frau Kollegin.
Dann stellen Sie fest, dass dadurch keiner untergeht.
Formulieren Sie einfach einen Anspruch, der internatio-
nal gilt.
Frau Kollegin.
Überlegen Sie selber. Dann kommen Sie zu dem Er-
gebnis, dass man unserem Antrag zustimmen sollte. Ich
hoffe, dass wir nicht zum letzten Mal über dieses Thema
debattieren.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „Verfahren zur Auswahl von Bun-desbankvorständen reformieren“. Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/1075, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/798 abzulehnen. Wer stimmtfür die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6879
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, da-gegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, enthaltenhaben sich SPD und die Fraktion Die Linke.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Strafrechtlichen Rehabilitierungs-gesetzes– Drucksache 17/1215 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/3233 –Berichterstattung:Abgeordnete Andrea Astrid VoßhoffSonja SteffenJörg van EssenHalina WawzyniakJerzy MontagHierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak-tion der SPD, der Fraktion Die Linke und der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Dann verfahren wir so.Ich gebe dem Kollegen Marco Buschmann das Wortfür die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol-leginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen feierten wirden 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Vor 20 Jahrenendete damit endgültig die Existenz einer staatlichenOrdnung, die auf Terror und Unterdrückung Andersden-kender gesetzt hat. Das Leid, das den Opfern von Terrorund Unterdrückung widerfahren ist, kann niemand unge-schehen machen. Wir können die Opfer aber rehabilitie-ren. Wir können ein Zeichen setzen, dass wir ihre Bio-grafien würdigen. Wir können ein kleines, vielleichtsymbolisches Stück Wiedergutmachung leisten. Diesesymbolische Wiedergutmachung wollen wir verbessern.Dazu legt Ihnen die Koalition den vorliegenden Gesetz-entwurf zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitie-rungsgesetzes vor.Er ist geboren aus einer Bundesratsinitiative der Län-der Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Nieder-sachsen. Er nimmt eine ganze Reihe von Anregungenaus dem Kreise der Opferverbände auf. Unser Gesetz-entwurf enthält damit zahlreiche spürbare Verbesserun-gen für die Opfer des SED-Regimes, von denen ich hiernur einige wenige erwähnen möchte.Wir erweitern den Kreis der Anspruchsberechtigten.Von nun an sind auch Personen anspruchsberechtigt, diein einem Heim für Kinder und Jugendliche sowie in Ju-gendwerkhöfen untergebracht waren.Wir erleichtern die Bewilligung der Opferpensionen.Die erweiterte Härtefallregelung soll es ermöglichen,dass die besondere Zuwendung nach § 17 a auch danngewährt werden kann, wenn die Mindesthaftdauer vonkünftig 180 Tagen geringfügig unterschritten wurde.Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Frau wegen ei-ner Schwangerschaft vorzeitig aus der Haft entlassenwurde. Ein anderes Beispiel ist die Haftentlassungspra-xis in der DDR, durch die es immer wieder zu geringfü-gigen Unterschreitungen kam.Weiterhin wurde aus dem Kreis der Opferverbändeimmer wieder beklagt, dass es Landesbehörden gebe, diegegen das Gesetz gehandelt hätten, weil sie unter Ver-weis auf den Amtsermittlungsgrundsatz jährlich wieder-kehrende Einkommensermittlungen durchgeführt hätten.Ein solches Vorgehen war mit diesem Gesetz natürlichnicht vorgesehen. Der Grund dafür ist klar: Es darf nichtsein, dass die Opfer von Überwachungsmaßnahmen denEindruck gewinnen, sie würden anlässlich ihrer Rehabi-litierung nun wieder Gegenstand von Überwachungen.Unser Vorschlag schließt turnusmäßige und anlassunab-hängige Einkommensüberprüfungen in Zukunft aus.
Wir verlängern die Antragsfristen auf strafrechtliche,berufsrechtliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitie-rung bis zum 31. Dezember 2019.
Damit geben wir sowohl allen Betroffenen als auch denvom Gesetz neu erfassten Personengruppen wie bei-spielsweise den ehemaligen Insassen von Jugendwerk-höfen die Möglichkeit, ihren Antrag in aller Ruhe zuprüfen und zu stellen. Ich denke, dass wir den Betroffe-nen mit dieser deutlichen Verlängerung der Frist ein gro-ßes Stück entgegengekommen sind.
Einen weiteren Punkt haben die Betroffenen wieder-holt vorgetragen – auch mir ist er wichtig –: Es geht da-rum, den Gedanken der Ehrenpension stärker herauszu-stellen. Ein Vorschlag aus dem Kreis der Opferverbändelautete, dass man Schwerkriminellen die Opferpensionkünftig versagen solle. Diesem Wunsch kommen wirnach. Die besondere Zuwendung wird zukünftig denje-nigen Personen nicht mehr gewährt, gegen die nach ein-facher Auskunft aus dem Bundeszentralregister eineFreiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einervorsätzlichen Straftat rechtskräftig verhängt worden ist.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich istes so, dass man sich angesichts des geschehenen Un-rechts immer noch mehr vorstellen kann; das ist über-haupt keine Frage. Ich glaube aber, dass die christlich-liberale Koalition hier einen guten Vorschlag vorlegt.Das gilt insbesondere auch, wenn Sie die Rahmenbedin-gungen bedenken, unter denen wir agieren. Zu diesenRahmenbedingungen gehört natürlich, dass wir die not-wendige Haushaltskonsolidierung durchführen. Trotz-dem weiten wir an dieser Stelle Leistungsansprüche aus.
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6880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Marco Buschmann
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Ich glaube, wir zeigen damit ganz deutlich, dass wir dieOpfer nicht allein lassen. Wir bewerten diese Frage mitder notwendigen politischen Sensibilität und verleihenihr Bedeutung.
Die Fraktionen der Opposition regen nun weitereMaßnahmen an.Zum Vorschlag der SPD für ein einheitliches Aner-kennungsverfahren ist zu sagen, dass die Idee grundsätz-lich natürlich sympathisch ist. Die Regelungskompetenzliegt aber bei den Ländern. Den Versuch, hier eine Eini-gungslösung herbeizuführen, gab es schon in der Ver-gangenheit. Er hat bloß nicht gefruchtet.Den Kollegen der Grünen möchte ich sagen: Natür-lich sind die Überlegungen, das System umzustellen,durchaus sympathisch. Allerdings muss man berücksich-tigen, dass Ihr System als Ganzes dazu führen würde,dass die Opfer des Linkstotalitarismus in der DDRbesser gestellt würden als die Opfer des Nationalsozia-lismus. Sie kennen die Grundlagen, nach denen bei-spielsweise die JCC Beihilfen erteilt. Auch da gibt esMindesthaftdauern. Auch da ist die Beihilfe deutlichniedriger als die, die Sie vorschlagen.Den Kollegen der Linken möchte ich weiterleiten,was mir aus dem Kreis der Opferverbände mitgeteiltworden ist: Das sind die Rechtsnachfolger derjenigenPartei, die all das Leid angeordnet hat, um dessen Be-wältigung es heute geht. Wie können sie nur auf die Ideekommen, sich als Anwälte der Opfer aufzuspielen?
In einer Zeit der Haushaltskonsolidierung, in der dieZeichen auf Sparen stehen, weiten wir die Leistungenaus. In Anbetracht des Sparhaushaltes und der Schulden-bremse können wir auf das Erreichte, auf das, was wirIhnen vorlegen, stolz sein. Trotzdem werden wir natür-lich auch in Zukunft offene Augen und Ohren für die Be-lange der Opfer des SED-Regimes haben; denn der mu-tige Einsatz dieser Menschen für Freiheit, Demokratieund Rechtsstaatlichkeit muss anerkannt und gewürdigtwerden.
Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir beraten und beschließen heute die vierteÄnderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes.Der Gesetzentwurf wurde im März 2010 – der KollegeBuschmann hat es schon gesagt – vom Bundesrat in denBundestag eingebracht.Wir erinnern uns alle: Die erste Lesung dieses Ent-wurfs fand an einem historischen Tag, am 17. Juni 2010,statt. An diesem Tag haben wir in einer Feierstunde hierim Hohen Haus an die schlimmen Ereignisse des17. Juni 1953 in der DDR erinnert. Am vergangenenSonntag haben wir den 20. Jahrestag der deutschen Ein-heit gefeiert. Dies ist an sich schon ein guter Grund, die-sen Gesetzentwurf mit seinen sehr begrüßenswerten Än-derungen zu verabschieden.Natürlich ist es grundsätzlich wichtig, dass Gesetze,insbesondere solche, die die Rechte der betroffenen Bür-ger stärken, möglichst zügig auf den Weg gebracht wer-den. Ich frage mich allerdings, ob die Hektik, die hier inden letzten zwei Wochen an den Tag gelegt wurde, umdiesen symbolischen Termin einhalten zu können – HerrKollege Buschmann, Sie haben das ja gesagt –, wirklicherforderlich und geboten war.
Ich will ganz kurz daran erinnern, dass erst in der letz-ten Woche ein Berichterstattergespräch zu dem Entwurfstattfand, bei dem drei Sachverständige angehört wur-den. Bereits einen Tag später fand sich der geänderte Ge-setzentwurf auf der Tagesordnung dieser Sitzungswochewieder. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetz-entwurf an der einen oder anderen Stelle mit heißer Na-del gestrickt wurde und eine intensive Auseinanderset-zung mit dem, was die Sachverständigen vorgebrachthaben, nicht erfolgt ist, weil das nicht möglich war. Eswäre wünschenswert gewesen, wenn die Opposition beieinem so sensiblen Thema stärker in den Prozess einbe-zogen worden wäre.An dem Gesetzentwurf ist begrüßenswert, dass derPersonenkreis der Antragsberechtigten erweitert wurde.Nunmehr haben auch Menschen – wir haben es schongehört –, die als Kinder oder Jugendliche in einem Heimbzw. in Jugendwerkhöfen unter schlimmsten, haftähnli-chen Bedingungen ein jämmerliches Dasein fristenmussten, einen Anspruch auf Rehabilitierung und so-ziale Ausgleichsleistungen.Darüber hinaus hatten aber viel mehr Menschen unterstaatlichen Kontrollmaßnahmen zu leiden, die sich bisheute auf ihr Leben auswirken. Zu erwähnen sind dieVorkommnisse bei den Weltfestspielen 1973; der Kol-lege Montag hat sie in der Sitzung des Rechtsausschus-ses am Mittwoch erwähnt. Damals wurden mehr als1 800 Personen in Haft genommen, 477 in psychiatri-sche Einrichtungen eingewiesen, 639 in Jugendwerkhö-fen und 1 163 in sogenannten Spezialkinderheimen un-tergebracht, und gegen 2 982 Personen wurden sonstigestaatliche Kontrollmaßnahmen wirksam. Ich hätte mirzumindest eine Diskussion darüber gewünscht, ob dieMöglichkeit besteht, den Personenkreis auf Opfer sol-cher staatlichen Kontrollmaßnahmen auszuweiten.Weiterhin begrüßenswert ist, dass die Frist zur An-tragstellung von 2011 auf 2019 verlängert wurde, undzwar insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass vieleOpfer in Unkenntnis oder wegen Verdrängung, weil siezum Teil traumatisiert sind, bislang keinen Antrag ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6881
Sonja Steffen
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stellt haben. In der Anhörung wurde von dem Sachver-ständigen Dollase, dem Justiziar der Bundesstiftung zurAufarbeitung der SED-Diktatur, anschaulich geschildert,dass viele Opfer erst bei der Rentenbeantragung auf dieOpferrente hingewiesen werden. Es wäre daher ein zwarmutiger, aber auch sinnvoller Schritt gewesen, eine Ent-fristung des Gesetzes vorzunehmen.
Darüber hinaus begrüßen wir es selbstverständlich,dass zukünftig der Freibetrag für Familien mit Kindernerhöht wird und das staatliche Kindergeld und die be-triebliche Altersvorsorge nicht mehr als Einkommen an-gerechnet werden.
Auch der neu aufgenommene sogenannte Ausschluss-grund ist zu begrüßen. Zukünftig soll die Opferrente,weil sie zu Recht „Ehrenpension“ genannt wird, Schwer-verbrechern nicht mehr zuerkannt werden. Damit wirdsich das Gesetz an das Bundesentschädigungsgesetz an-passen, das die Opfer des Nationalsozialismus entschä-digte, und an das Häftlingshilfegesetz.Richtig ist auch, dass die Rente dann zuerkannt wer-den soll, wenn die Straftat in einer Auskunft aus demZentralregister nicht mehr enthalten ist, weil auch Straf-täter die Chance haben müssen, nach Löschung ihrerStraftaten im Zentralregister als unbescholtene, gleich-wertige Menschen zu gelten. Damit folgt das Gesetz derSystematik des Registerrechts und dem Gedanken derResozialisierung.Ich habe bereits mehrfach erwähnt, dass aufgrund derEile, mit der der Gesetzentwurf verabschiedet werdensoll, wichtige Aspekte nicht mehr näher geprüft wurden.Dazu gehört auch ein Blick auf die Beschädigtenversor-gung. Wer durch die Freiheitsentziehung eine gesund-heitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach dem Gesetzin der derzeitigen Fassung wegen der Folgen dieserSchädigung auf Antrag eine weitere Versorgung. DiePraxis in den einzelnen Bundesländern bei der Anerken-nung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden ist aberleider sehr unterschiedlich. Während beispielsweise inThüringen bis 2009 von 933 Anträgen 220 positiv be-schieden wurden, sind es in Mecklenburg-Vorpommernbei 825 Anträgen nur 90 Anerkennungen.Ich will an dieser Stelle kurz ein Beispiel nennen, da-mit man sich klarmachen kann, um was es hier eigent-lich geht. Ein Opfer stellte 1997 in einem westdeutschenBundesland einen Antrag auf Beschädigtenversorgung.Er war als politischer Häftling von 1958 bis 1963 in denGefängnissen Bautzen, Neustrelitz und Schwerin inhaf-tiert. Das zuständige Versorgungsamt lehnte den Antragab mit der Begründung, es sei nicht wahrscheinlich, dassdie geltend gemachten Gesundheitsstörungen durch dieInhaftierung hervorgerufen worden seien. Schon in derKindheit und Jugendzeit sei ein Gemütsleiden auffälliggewesen. Für das Jahr 1957 finde sich ein Hinweis aufeine Minderbegabung und Willensschwäche.Hochproblematisch erscheint hier, dass man dem An-tragsteller einen Begutachtungstermin verwehrt hat. Au-ßerdem vernachlässigte man völlig die in den 50er- und60er-Jahren besonders inhumane Züge tragenden Haft-bedingungen in der DDR, denen der Betroffene über denlangen Zeitraum von immerhin fünf Jahren ausgesetztwar. In der Anamnese verweist man mit „Minderbega-bung“ und „Willensschwäche“ auf zwei Aussagen ausDDR-Dokumenten. Sie werden kritiklos hingenommen,zitiert und einem wissenschaftlichen Diagnosebefundgleichgesetzt.Wünschenswert wäre hier die Errichtung einer zentra-len Stelle zur Bewertung verfolgungsbedingter Gesund-heitsschäden, die man mit Fachleuten, die sich in dieserThematik besonders auskennen und damit besondere Er-fahrungen haben, besetzen könnte. Auch die Union hatdieser Idee in der letzten Legislaturperiode viel abgewin-nen können. Wir haben vorhin gehört, dass auch HerrKollege Buschmann dieser Idee etwas abgewinnen kann.Ich hoffe daher, dass unser entsprechender Entschlie-ßungsantrag auch die Zustimmung der Regierungskoali-tion findet.
Mir ist bewusst, dass ein solches Vorhaben nur in Zu-sammenarbeit mit den Ländern umgesetzt werden kann.Dem Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung wer-den wir heute mit Blick auf die Opfer, die diese Besser-stellung mehr als verdient haben, unsere Zustimmung er-teilen.
Die Kollegin Andrea Voßhoff hat das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-ginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Steffen, zuden Forderungen, die Sie hier neben den Forderungen inIhrem Entschließungsantrag erhoben haben, möchte ichIhnen sagen: Diese SED-Opferpension ist in Zeiten derGroßen Koalition entstanden. Es war damals die SPD,die bei den Entschädigungsregelungen zu Recht, wie ichfinde, nicht nur nachhaltig dafür geworben, sondernauch immer darauf bestanden hat, dass wir das mit ande-rem bestehendem Entschädigungsrecht – Stichwort: NS-Opferentschädigung – austarieren. Damals waren Sieaber noch nicht dabei. Das war die Conditio im Rahmendieser Opferpension.Es ist schon gesagt worden: Am vergangenen Sonntaghaben wir nicht nur in Bremen und in Berlin, sondern inzahlreichen Städten Deutschlands 20 Jahre deutsche Ein-
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Andrea Astrid Voßhoff
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heit gefeiert und ihrer gedacht. Wie sagte es der Bundes-tagspräsident, Dr. Lammert, sehr treffend – ich zitiere –:Auch bei selbstkritischer Betrachtung der 20 Jahreseit dem 3. Oktober 1990 haben wir alle miteinan-der Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank.
20 Jahre deutsche Wiedervereinigung bedeuten nebenstillem Stolz und lautem Dank aber auch 20 Jahre Aufar-beitung der Folgen eines 40 Jahre währenden SED-Un-rechtssystems. Einer der heute vorliegenden Entschlie-ßungsanträge ist von den Linken. Ich darf Ihnen, meineDamen und Herren von den Linken, einmal sagen: ZurRehabilitierung gehören auch die Nennung der Täter undIhr immerwährendes und bis heute nicht erfolgtes ent-sprechendes Bekenntnis.Von daher frage ich Sie in Anbetracht Ihrer Forderun-gen: Was tun Sie eigentlich in den Ländern, in denen Sieleider mitregieren, im Hinblick auf eine Entschädigungder SED-Opfer?
Mir ist keine Initiative, die Sie zu diesem Thema gestar-tet haben, bekannt.Für die Union steht das Erinnern im Vordergrund. Füruns gehören zum Erinnern aber auch die Aufarbeitungund die Rehabilitierung; das haben wir uns gemeinsammit unserem Koalitionspartner vorgenommen, und dashat sich in unserem Koalitionsvertrag niedergeschlagen.Dazu liegt Ihnen heute, wie ich finde, ein guter Gesetz-entwurf vor.Wir alle wissen – darauf ist heute schon hingewiesenworden; das sage ich auch mit Blick auf die Entschlie-ßungsanträge der Opposition –: Es wird nie möglichsein, ein derartiges 40-jähriges Unrecht vollständig wie-dergutzumachen. Manche Kollegen beschäftigen sichseit Jahren mit diesem Thema, und hier im Parlamentgab es in dieser Zeit unterschiedlichste Mehrheiten. Rot-Grün beispielsweise hätte acht Jahre lang die Gelegen-heit gehabt, weiter gehende Regelungen zu treffen.
Aber diejenigen, die regiert haben und entscheidenmussten, sind immer an Grenzen gestoßen.Aus Sicht der Opfer ist es verständlich, dass die An-sprüche immer weiter steigen. Aber es handelt sich auchum ein Ritual: Diejenigen, die regieren und Verantwor-tung tragen, wissen, dass es Grenzen gibt und dass dieOpposition – weil sie weiß, dass sie die eigenen Forde-rungen nicht umsetzen muss – die Gelegenheit nutzt,weiter gehende Forderungen zu erheben.
Dass das immer im Interesse der Opfer ist, wage ich zubezweifeln. Ich glaube, es hilft auch nicht weiter, Ver-sprechen abzugeben, die bei Lichte betrachtet und beisorgfältiger Prüfung nicht einzuhalten sind.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass die GroßeKoalition im Jahre 2007 – ich erwähnte es – auf Initia-tive der CDU die sogenannte SED-Opferpension einge-führt hat. Sie wissen auch, dass mittlerweile fast 50 000Opfer diese Rente beziehen. Diese Zahl ist beachtlichund wächst stetig. Sie ist, wie ich finde, erschreckendhoch und ein Beleg für das Unrechtssystem der DDR.Dass es uns gelungen ist, die SED-Opferpension einzu-führen, ist auch aus heutiger Sicht nach wie vor sehr löb-lich und zu begrüßen.Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf – dieDetails wurden schon genannt –, mit dem konkrete Ver-besserungen und Erleichterungen beim Bezug der SED-Opferpension erzielt werden sollen. In der Praxis habenwir festgestellt, dass es Fehlentwicklungen gab, die wirheute klugerweise korrigieren. Ich bedanke mich schonjetzt für Ihre Signale der Zustimmung zu diesem Gesetz-entwurf; ich weiß, wie intensiv und häufig auch Sie mitden Opfern reden.Lassen Sie mich drei Anmerkungen zum vorliegen-den Gesetzentwurf machen:Erstens. Ich freue mich – ich sagte es bereits –, dasses dafür offenkundig eine breite Zustimmung in diesemHause gibt. Diese einmütige Zustimmung ist auch einwichtiges und nicht zu unterschätzendes Signal an dieOpfer und ihre Verbände, die unsere Diskussion sicher-lich aufmerksam verfolgen. Ich habe feststellen dürfen,dass auch die mitberatenden Ausschüsse einstimmig da-für votiert haben; auch dies ist zu begrüßen.Im Gegensatz zur Kollegin Steffen bin ich der Mei-nung, dass wir am letzten Mittwoch konstruktive Be-richterstattergespräche geführt haben und dass auch nachVorlage unserer Änderungsvorschläge am vergangenenMontag ein weiteres konstruktives Berichterstatterge-spräch stattgefunden hat. Der Umfang der Gesetzesände-rungen ist überschaubar, sodass von einem eiligen Ver-fahren wirklich keine Rede sein kann. Dieser Kritik-punkt, den Sie, Frau Kollegin Steffen, vorhin erwähnthaben, ist auch nicht von allen Oppositionsfraktionengeäußert worden.Frau Kollegin, mich tröstet diese Kritik insofern, alsich sagen kann: Wenn man in der Sache keinen Kritik-punkt findet, weil der Gesetzentwurf richtig gut ist, dannmuss man als Opposition natürlich das Verfahren bean-standen. Das sei Ihnen auch zugestanden; aber ichdenke, sachlich ist diese Kritik nicht berechtigt.
Zweitens. Mit diesem Gesetzentwurf werden nichtnur die vom Bundesrat geforderten verwaltungsrechtli-chen Änderungen beim Bezug der SED-Opferpensiongeändert, sondern – der Kollege Buschmann hat es an-gesprochen – man ist teilweise weit darüber hinausge-
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gangen. Ein Beispiel sind die Regelungen des Kinder-freibetrages. Für Opferfamilien mit Kindern soll einKinderfreibetrag eingeführt werden. Das Kindergeldsoll bei der Berechnung des Einkommens nicht ange-rechnet werden. Im Ergebnis sollen Opfer mit Kindernund Opfer ohne Kinder gleichgestellt werden. Das isteine notwendige und gebotene Regelung.
Wir sind nicht nur froh, sondern auch unseren Haushäl-tern dafür dankbar, dass sie dieser Regelung trotz des be-stehenden Konsolidierungsdrucks zugestimmt haben.Erwähnt wurde auch – das ist nicht unwichtig, son-dern eine wesentliche Änderung des Gesetzes –, dass diein den Rehabilitierungsgesetzen enthaltene Härtefallre-gelung, die bisher nur für die Kapitalentschädigung galt,jetzt auf die Opferpension ausgedehnt wird; Beispielesind bereits genannt worden. Es hat Fälle gegeben, in de-nen aufgrund der willkürlichen DDR-Verwaltungspraxisdie von uns geforderte Haftzeit von 180 Tagen geringfü-gig unterschritten wurde. Weil das eine Härte im Sinneeiner Ungerechtigkeit ist, haben wir die besondere Zu-wendung der Opferpension in die Härtefallregelung des§ 19 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes auf-genommen. Auch ist es ein wichtiger und guter Schritt,dass wir in dieser Frage zu einer Härtefallregelung ge-kommen sind.
Wir haben Klarstellungen vorgenommen, die nichtnur redaktionell, sondern auch grundsätzlich sind. Wirhaben klargestellt, dass die Mindesthaftzeit 180 Tage be-trägt. Jeder von uns, der die Gespräche mit den Opfernund den Opferverbänden geführt hat, weiß, dass das un-terschiedlich gehandhabt wurde. In einigen Fällen wur-den volle sechs Monate berechnet, in anderen 180 Tage.Es gab keine einheitliche Regelung. Das haben wir klar-gestellt und auch dabei für etwas mehr Gerechtigkeit ge-sorgt. Jedenfalls weiß ich aus vielen Gesprächen mit Op-fern, dass das häufig als Problem empfunden wurde.Auch wurde erwähnt, dass die Länder teilweise anlass-unabhängige und turnusmäßige Einkommensnachweisefordern. Das ist von vielen Opfern, insbesondere von denälteren, als Demütigung empfunden worden, weil sie nureine Rente beziehen und sich deshalb die Einkommens-verhältnisse nicht ändern. Das war vom Bundesgesetz-geber nie vorgesehen, wird von den Ländern aber prakti-ziert. Auch deshalb schreiben wir ins Gesetz, dass eineanlassunabhängige und turnusmäßige Einkommensüber-prüfung nicht stattfinden soll.
Die Einbeziehung von DDR-Werkhof- und Heimkin-dern ist genannt worden. Auch sie wurde damals vomGesetz intendiert, ist aber in unterschiedlichen Gerichts-entscheidungen bis zu einer Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts unterschiedlich gehandhabt wor-den. Deshalb schreiben wir das zur Klarstellung insGesetz.Auch der Ausschluss Schwerkrimineller ist erwähntworden. Frau Kollegin Steffen, Sie hatten in diesem Zu-sammenhang ein Problem, weil in Mecklenburg-Vor-pommern die obersten Landesbehörden die Opferpensio-nen bearbeiten. Klären Sie das doch im BundeslandMecklenburg-Vorpommern.
Wir können gern gemeinsam ein Schreiben aufsetzen.Das Land kann das ändern, sodass sich die von Ihnen ge-schilderte Problematik aus unserer Sicht in der Praxisgar nicht stellt. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern istes unbenommen, auch von den obersten Landesbehör-den einfache Registerauskünfte einzuholen. Daher istdas Problem aus meiner Sicht nicht nennenswert.Die Verlängerung der Antragsfristen ist auch genanntworden. Wir haben sie häufig in diesem Hause verlän-gert und immer wieder die Frage aufgeworfen, ob dasnotwendig ist. Aber gerade mit der Einführung der SED-Opferpension im Jahre 2007 haben wir Material erhal-ten, dem wir entnehmen können, dass die Zahl der Reha-bilitierungsanträge deutlich nach oben geschnellt ist,weil die Rehabilitierung Voraussetzung für die dann un-befristet zu beantragende Rente oder SED-Opferpensionist. Demzufolge haben wir die Fristen noch einmal bis2019 verlängert. Wenn wir die Rehabilitierungsantrags-fristen verlängert haben, haben wir immer auch die ver-waltungs- und berufsrechtlichen Fristen entsprechendverlängert. Deshalb haben wir im Lichte des Bericht-erstattergesprächs, das wir sehr aufmerksam verfolgt ha-ben, diese Fristverlängerung umgesetzt. Daher denkeich, dass dieser Gesetzentwurf alles in allem – das istheute schon gesagt worden – sehr gut ist.Gestatten Sie noch einige abschließende Bemerkun-gen zu den Entschließungsanträgen der Opposition. Ichsagte eingangs, dass es immer leichter ist, mehr zu for-dern, wenn man in der Opposition ist, weil man die For-derungen, da man nicht in politischer Verantwortung ist,nicht umsetzen muss. Als ich den Entschließungsantragder Grünen gelesen habe, habe ich mich etwas gewun-dert,
dass er vom Kollegen Montag mitgetragen wird; denn erhat im ersten Berichterstattergespräch sehr nachdrück-lich darauf hingewiesen, dass die Entschädigungsrege-lungen sehr wohl mit Blick auf das gesamte Entschädi-gungsrecht – das betrifft auch Zahlungen für NS-Opfer –auszutarieren sind.
Deshalb, Herr Kollege Montag, hat mich Ihr Antrag et-was gewundert. Aber der Kollege Wieland sagte, Sieseien überzeugt worden. Vielleicht kann er das noch et-was ausführen.
Abschließend, Frau Kollegin Steffen, sage ich Ihnenzu dem, was Sie in Ihrem Entschließungsantrag erwähnt
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Andrea Astrid Voßhoff
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haben, Folgendes: Sie wissen, dass es der Bund schoneinmal versucht hat, dass sich die Länder an dieser Stellenicht einig sind und dass die Länder dazu nicht zu bewe-gen waren. Ich weiß, dass Sie – leider – sechs Landesjus-tizminister und sieben Landessozialminister stellen. FrauKollegin Steffen, fangen Sie an, diese zu überzeugen.Wenn Sie all diese hinter sich haben, sollten wir uns überdas Thema noch einmal unterhalten. Wenn die Länderwollten, könnten sie das Verfahren, das Thüringen prak-tiziert, umsetzen. Traurig ist, dass das nicht geschieht.Aber fangen Sie bitte bei Ihren Ministern an, dafür zuwerben. Ich will das gerne auch bei den unsrigen tun.Aber Sie haben leider Gottes eine größere Anzahl aufzu-bieten.
Versuchen Sie bitte nicht, das Problem auf die christ-lich-liberale Koalition zu schieben. Die Länder sind inder Pflicht. Die Länder könnten es machen. Thüringenhat gute Vorlagen dafür geliefert. Ich warte auf IhreRückmeldung, ob Sie Ihre SPD-Kollegen überzeugenkönnen.Vielen Dank.
Die Kollegin Wawzyniak hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich möchte mit dem anfangen, was Frau Steffenangesprochen hat. Ich hätte mir gewünscht – ich habedas auch im Ausschuss gesagt –, dass wir mehr Zeit ge-habt hätten, die Vorschläge der Sachverständigen nachden zwei Berichterstattergesprächen noch einmal ge-meinsam im Detail zu prüfen und sie in den Gesetzent-wurf einzuarbeiten. Sie haben einige Sachen aufgenom-men, andere Sachen fehlen.Ich möchte Ihnen heute ein Buch empfehlen, undzwar das Buch Knastmauke von Sibylle Plogstedt. Indiesem Buch wird die heutige Lage von ehemaligenHäftlingen in der DDR untersucht, und es werden dieFragen aufgeworfen, warum diejenigen, die die deutscheEinheit erkämpft haben, zu Menschen wurden, denen esheute besonders schlecht geht,
und inwieweit die schlechtere soziale Situation auf dentraumatischen Störungen als Folge der Haft beruht.Ich glaube, es ist eine grundsätzliche Frage, ob wirdie Anerkennung der Zivilcourage und die Anerkennungdes Eintretens für Bürgerrechte und Demokratie daranknüpfen, dass eine Freiheitsentziehung stattgefunden ha-ben muss, wie Sie es beim Strafrechtlichen Rehabilitie-rungsgesetz tun.
Ich glaube, es ist dringend notwendig, dass wir auch fürandere Formen der Benachteiligung Regelungen finden,die in Richtung Opferrente gehen. Ich denke beispiels-weise an Schülerinnen und Schüler, die kein Abitur ma-chen konnten, weil ihre Eltern in der Kirche waren.
Ich finde, der 20. Jahrestag könnte Anlass sein, diesenMenschen gegenüber ein Symbol zu setzen.
Trotz der Fehler, die dieser Gesetzentwurf aufweist,wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf und den Ände-rungsanträgen zustimmen – aus Verantwortung, die wirfür die DDR-Geschichte tragen, aber auch, weil 3 000Anspruchsberechtigte mehr in den Genuss der Opfer-rente kommen.
Es ist ausgesprochen erfreulich, dass in den Ände-rungsantrag der Koalition die Jugendwerkhöfe aufge-nommen wurden. Ich sage es sehr deutlich: Wer sich ein-mal mit dem geschlossenen Jugendwerkhof in Torgaubeschäftigt, für den ist klar: Durch diesen Jugendwerk-hof wird jede Relativierung des DDR-Unrechts delegiti-miert.
Es ist erfreulich, dass die Fristenregelung ausgeweitetwird. Dennoch hätten wir uns gewünscht, dass es eineunbefristete Möglichkeit der Antragstellung gibt, weilgerade jüngere Menschen in einem Alter von Mitte 40bis Anfang 50 sind, wenn die Frist ausläuft, und die Er-fahrung zeigt, dass häufig erst bei Rentenantragstellungdarauf hingewiesen wird oder die Menschen erst dann inder Lage und bereit sind, einen Antrag nach dem Straf-rechtlichen Rehabilitierungsgesetz zu stellen.Mit unserem eigenen Entschließungsantrag gehen wirein bisschen über den Gesetzentwurf hinaus. Wir wollen,dass nicht an den 180 Tagen Haft festgehalten wird. Wirhaben in der Anhörung der Sachverständigen gehört,dass sehr häufig Menschen nur kurzfristig in Haft ge-nommen und dann durch Zersetzungsmaßnahmen desMinisteriums für Staatssicherheit weiteren Repressalienunterworfen wurden. Wir wollen, dass auch solche Op-fer in den Genuss der Opferrente kommen.
Wir finden das Grundprinzip falsch, dass die Opfer-rente als soziale Ausgleichsleistung gestaltet ist. Wir fin-den, für die Zivilcourage und das Engagement für Bür-gerrechte und Demokratie muss unabhängig vomEinkommen ein Anspruch auf Opferrente gewährt wer-den.
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Halina Wawzyniak
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Wir fordern eine höhere Leistung, und wir fordern vorallem, dass die Vermutung, dass die Schäden aus derHaft herrühren, der Regelfall wird und dass nicht dieOpfer beweisen müssen, dass die Schäden Folge derHaft sind.Herr Buschmann, Sie haben gesagt, wir legen etwasvor, was Ihnen nicht gefällt. Hätten wir nichts vorgelegt,dann hätte Ihnen das auch nicht gefallen. Ich sage Ihnenganz ehrlich: Mir ist es egal, was Ihnen gefällt, mir istnur unsere Verantwortung gegenüber den Opfern wich-tig.
Ich komme zum Schluss. Wir werden diesen Gesetz-entwurf jetzt hier im Bundestag einstimmig verabschie-den, wenn die Grünen zustimmen, wovon ich ausgehe.Die anderen haben das ja schon erklärt. Mir ist wichtig,dass wir das Thema damit nicht zu den Akten legen, son-dern dass wir weiter über die weiter gehenden Forderun-gen auch der Opferverbände nachdenken und das beiGelegenheit sehr gerne auch gemeinsam wieder aufgrei-fen.
Wolfgang Wieland hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauKollegin Wawzyniak
– ja, jetzt kommt das mit dem Geld; Sie haben es geahnt,und auch Ihr Kollege Dietmar Bartsch ist ja wieder hier –,
was Sie gesagt haben, war inhaltlich weitestgehend rich-tig.
Aber die Attitüde, aus Verantwortung für die Opfer zuhandeln, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Verantwortung für die Opfer heißt zunächst, dass dieTäter finanziell für diese einzustehen und finanzielleWiedergutmachung zu leisten haben. Das haben Sie niegetan. Sie haben Ihre Parteimilliarden veruntreut. Sie ha-ben sie ins Ausland geschafft und im Inland versickernlassen. Dazu sollten Sie Stellung nehmen. Herr Bartschhat das letztens versucht und sinngemäß gesagt, dassIhre Partei notariell erklärt habe: All das Geld, das jetztnoch auftaucht, geben wir ab. – Das erinnert an einenRäuber, der seine Beute versteckt hat und sagt: Wenndoch noch etwas gefunden wird, dann bekommt es derStaat. – Das ist wirklich großzügig. So billig kommenSie hier nicht davon.
Der Kollege Bartsch war Bundesschatzmeister, als ihmGregor Gysi als Vorsitzender Briefe geschrieben hat mitTipps, wie man Firmen gründet und Gelder zur Seiteschafft. Der letzte Satz lautete, wie von einem Mafiapa-ten: Dieses Schreiben bitte vernichten. – Das hat erzwei-, dreimal versäumt. Deswegen wurde es bei Durch-suchungen gefunden. Von ihm wird der Satz kolportiert:Das wird mir Gregor nie verzeihen.
So weit dazu, ob Sie sich ehrlich oder unehrlich verhal-ten haben, vom Parteivorsitzenden bis hin zum Schatz-meister.Jetzt zu dem Gesetz. Frau Kollegin Voßhoff, wir ha-ben in der Frage der Opferpension nie auf einem hohenRoss gesessen. Das können wir auch nicht; denn Sie ha-ben zu Recht gesagt: Weder Schwarz-Gelb unmittelbarnach der friedlichen Revolution noch Rot-Grün habendiese Pension zustande gebracht. Es war die Große Ko-alition. Das erkennen wir an und haben das auch immerso gesagt.Nun kommt ein gewisses Aber. Unser Entschlie-ßungsantrag ist wie die anderen Entschließungsanträgeauch ein Memo, wohin sich das eigentlich weiterentwi-ckeln müsste. Wenn wir wieder regieren – stellen Siesich das einfach einmal vor –
– tun Sie das, auch wenn Schwarz bei der Vorstellungverzweifelt, dann dürfen Sie uns an dieses Memo erin-nern; denn auch damit haben Sie recht: Das ist ein langerProzess, der selten zu einem befriedigenden Ende findet.
Eine echte Opferpension wäre eine Anerkennungs-und Ehrenpension. Sie wäre mehr als eine Haftentschä-digung. Die sechs Monate oder 180 Tage – das ist unsdoch allen klar – sind ungerecht gegenüber denen, diediese Grenze knapp verfehlen. Da könnte man abgestuftmehr geben. Ich weiß, dass man offene Türen einrennt,was die Schülerinnen und Schüler, die Dopingopfer unddie Menschen angeht, die in der Zwangspsychatrie wa-ren. Deswegen erkenne ich an, dass es einen kleinenSchritt gegeben hat. Der ist gut. Dem stimmen wir zu.Es bleibt aber sehr viel zu tun. Es gibt immer nochOpfer, die vergessen wurden. Es gibt immer noch Opfer,die draußen vor der Tür stehen. Wir alle sind aufgefor-dert, dies zu ändern. Aber wir sollten aufhören, uns ge-genseitig vorzuwerfen, wer jeweils mehr bewilligt bzw.nicht bewilligt hat.
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Wolfgang Wieland
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Wie gesagt, es ist ein kleiner Schritt in die richtigeRichtung. Weitere müssen folgen.In diesem Sinne vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Dietmar Bartsch das Wort.
– Jetzt ist es günstig, zuzuhören.
Herr Wieland, Sie wissen sicherlich, dass ich im Ja-
nuar 1991 Schatzmeister geworden bin. Sie wissen auch,
dass die Vermögensfragen der Partei danach abschlie-
ßend geklärt worden sind.
Erstens zum Auslandsvermögen: Das Auslandsver-
mögen ist in einer Bundestagsdrucksache aufgeführt
worden.
Wir haben dieses zusammen mit der unabhängigen
Kommission ermittelt, und es ist dem Staatshaushalt zu-
geflossen, wie es das Gesetz für den Aufbau Ost vor-
sieht.
Zweitens. Das sonstige Vermögen der SED ist geprüft
worden – übrigens genau wie das Vermögen der Block-
parteien, weil Sie da drüben so eine große Klappe haben –,
und das, was auf rechtsstaatliche Weise erworben wurde,
durfte die PDS behalten. Dabei handelte es sich um vier
Immobilien, nicht mehr und nicht weniger, kein Cent
Geldvermögen.
Alles, was Sie behaupten, ist schlicht die Unwahrheit.
Denn in allen Verfahren hat es an keiner Stelle auch nur
einen Vorwurf gegen die neue Partei, die PDS, gegeben,
der hätte aufrechterhalten werden können.
Das Letzte, was ich sagen will, ist: Wenn Sie das
wirklich ernsthaft mit Mafiamethoden vergleichen, dann
muss ich sagen, dass das unter Ihrem Niveau ist, Herr
Wieland. Wir haben Aufklärung geleistet und etwas für
die neuen Länder getan. Das Geld ist verteilt worden.
Die PDS hat im Jahre 1992 den Vorschlag gemacht,
Geld aus dem infrage stehenden Vermögen für die Opfer
bereitzustellen. Aber unser Vorschlag ist im Deutschen
Bundestag abgelehnt worden. Das ist die Realität. Das,
was nun gemacht wird, hätten wir schon lange haben
können. Aber nehmen Sie wenigstens zur Kenntnis, dass
dies die Fakten sind.
Danke schön.
Der Kollege Wieland zur Antwort.
Herr Kollege Bartsch, ich nehme Ihre Worte zur
Kenntnis. Zutreffend sind sie in keiner Weise. Ihre Partei
ist keine Neugründung gewesen. Sie wurde sogar fortge-
führt, um die Kasse zu retten; so hat es Herr Gysi aus-
drücklich gesagt. Das gilt sowohl im Hinblick auf den
Kaderstamm als auch im Hinblick auf den Milliarden-
schatz.
Der Milliardenschatz Ihrer Partei war das Hundertfa-
che dessen, was die sogenannten Blockparteien hatten,
die im Übrigen wie die LDPD sehr schnell auf alles,
auch auf Grundstücke, verzichtet haben. Was haben Sie
als SED gemacht? Sie haben im Jahre 1990 Ihre Betriebe
systematisch umgewandelt und privatisiert sowie dubio-
sesten Privatleuten Darlehen gegeben, die das Geld teil-
weise nie zurückgezahlt haben. Da waren Sie die betro-
genen Betrüger. Sie konnten Ihr Parteivermögen gar
nicht schnell genug verschleudern. Dann haben Sie sich
irgendwann hingestellt und gesagt: Nun haben wir nichts
mehr. – Sie haben alles weggegeben.
Luxemburg und Liechtenstein waren – ich verweise
auf die Putnik-Affäre; über die rote Fini haben wir das
letzte Mal geredet; dabei rümpfen Sie über Zumwinkel
und andere zu Recht die Nase – auch Ihre Anlagepara-
diese. Gesteuert wurden die Aktivitäten von der Partei-
spitze. Da sind nicht irgendwelche Funktionäre aus dem
Ruder gelaufen. Das wurde generalstabsmäßig geplant.
In der Putnik-Affäre wurden Pohl und Langnitschke frei-
gesprochen mit der Begründung, dass sie auf Anweisung
von Gysi und dem Parteivorstand die Gelder nach Mos-
kau bringen wollten.
Seien Sie ganz ruhig! Sie haben alles versteckt und
ausgegeben. Dann haben Sie einen Vergleich abge-
schlossen und gesagt: Wir haben nichts mehr. Nun erklä-
ren wir, dass den Rest, wenn es denn einen gibt, der Staat
bekommt. – Ganz schäbig! Sie haben Volksvermögen,
das Sie sich zu DDR-Zeiten zu Unrecht angeeignet und
das Sie veruntreut haben, in Kanälen versickern lassen,
in denen es heute – so mutmaßen wir – zu Ihnen zurück-
fließt.
Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6887
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes-rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderungdes Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. Der Rechts-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/3233, den Gesetzentwurf des Bundesratesauf Drucksache 17/1215 in der Ausschussfassung anzu-nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit istder Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmenwollen, mögen sich bitte erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritterBeratung ebenfalls einstimmig angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3236? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ent-schließungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durchBündnis 90/Die Grünen, SPD und Linken. Dagegen ha-ben CDU/CSU und FDP gestimmt. Wer stimmt für denEntschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/3237? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Zuge-stimmt haben die Fraktion Die Linke und die FraktionBündnis 90/Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU undFDP. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3238? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie-ßungsantrag ist – bei dem gleichen Stimmenverhältniswie vorher – ebenfalls abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Moderne verbraucherbezogene Forschung
ausbauen – Tatsächliche Auswirkungen ge-
setzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen
– Drucksache 17/2343 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu sehe
und höre ich keinen Widerspruch.
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Seit ungefähr zehn Jahren haben wir ein Verbrau-cherministerium, das dank der von Gerhard Schröder ge-führten rot-grünen Bundesregierung eingeführt wurde.Fast parallel dazu hat sich vor zehn Jahren der Verbrau-cherzentrale Bundesverband gegründet. Einige von unswaren in dieser Woche beim zehnten Geburtstag desvzbv.Die Politik hat sich also des Schutzes und der Interes-sen der Verbraucher angenommen – einmal mit mehr,einmal mit weniger Erfolg, derzeit mit etwas weniger.Doch insgesamt hat sich für die Verbraucherinnen undVerbraucher einiges bewegt. Dennoch ist die Verbrau-cherin bzw. der Verbraucher bisher für die Politik einwenig bekanntes Wesen; denn während die Anbieter amMarkt viel Geld in die Erforschung des Verbraucherver-haltens und in entsprechende Werbestrategien investie-ren, überprüft die Politik bisher kaum, ob ergriffene odergeplante verbraucherpolitische Maßnahmen auch derRealität der Verbraucher entsprechen und diese von Nut-zen sind.Einen ersten Versuch hat die SPD bereits in der letztenLegislaturperiode unternommen. Wir haben gegenüberder CDU/CSU eine Evaluierung des Verbraucherinfor-mationsgesetzes durchgesetzt, die zeigen sollte, ob dasGesetz seinen Zweck einer verbesserten Information derVerbraucher erfüllt. Eine kritische Überprüfung auf Basisder gesammelten Erfahrungen hatten wir damals zur Be-dingung für die Zustimmung zum VIG gemacht. Dochdie schwarz-gelbe Bundesregierung will diese Chancenicht nutzen. Stattdessen droht die Evaluierung als PR-Event instrumentalisiert zu werden, um zu rechtfertigen,dass diese Bundesregierung trotz der Unzulänglichkeitenund Fehlentwicklungen, die die Verbraucherverbände an-hand ihrer mit dem VIG gemachten Erfahrungen vorwei-sen können, keinen Handlungsbedarf sieht.Wie wollen Verbraucher denn informiert werden?Wie müssen die Informationen aussehen? Wo müssen siezugänglich sein, um alltagstauglich – das heißt verständ-lich und für Verbraucher schnell und unkompliziert – imBedarfsfall abrufbar zu sein? Woran orientieren sichVerbraucherinnen und Verbraucher bei ihren Entschei-dungen denn tatsächlich? Bisher bleiben solche Fragenbei dem Vorhaben der Bundesregierung völlig unberück-sichtigt.Die SPD fordert ein Gesamtkonzept zum Ausbau dermodernen verbraucherbezogenen Forschung. Neue wis-senschaftliche Ansätze der Verhaltensökonomik solltenaufgegriffen und systematisch erforscht werden, um zuklären, wie das tatsächliche Verhalten von Verbraucherndurch gesetzliche Regelungen beeinflusst wird. MeineFraktion hat einen hierzu vorliegenden Antrag bereits imJuli verabschiedet. Wir brauchen ein Konzept, eine Sys-tematik für eine Gesetzesfolgenabschätzung, einen wis-senschaftsbasierten Verbrauchercheck; denn wenn wirgute Gesetze machen wollen, brauchen wir mehr empiri-sches Wissen über das tatsächliche Verhalten der Ver-braucher. Die Verhaltensökonomie kann hierzu einenBeitrag leisten. Davon würden nicht nur die Verbraucher
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6888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Elvira Drobinski-Weiß
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profitieren; vielmehr würden Regulierungen auch insge-samt effektiver werden.Verbissen hält indes die Bundesregierung am Leitbilddes Homo oeconomicus, des ausschließlich rational ent-scheidenden Verbrauchers, fest. Informiert soll er sein,der Verbraucher, und dies, obwohl in vielen Bereichendie Transparenz fehlt und Informationen gar nicht odernur schwer zugänglich sind. Aber Informationen undRationalität allein werden dem Verbraucher, der viel-schichtigen und verschiedensten Einflüssen ausgesetztist, nicht gerecht. Das wissen wir doch alle von unsselbst und von unseren wahrlich nicht immer rationalenKaufentscheidungen. Den Verbraucher, der unentwegtKosten-Nutzen-Berechnungen durchführt und zur einzi-gen Grundlage seiner Kaufentscheidung macht, den gibtes nicht; von ihm auszugehen, ist unrealistisch.Gerade deshalb spricht auch die Werbung Verbrau-cher auf einer ganz anderen Ebene an. Produkte sollennicht nur gekauft und benutzt, sondern auch geliebt wer-den. Bei McDonald’s liebt man es. Die Leute von Edekalieben die Lebensmittel, und irgendein Autoherstellerliebt Autos. Das heißt, Einkaufen soll zum Erlebnisshop-ping werden. Lebensmittel werden nicht mehr gegessen,sondern mit allen fünf Sinnen genossen. Böse könnteman dies auch als gezielte Verblödung der Verbraucherbezeichnen;
denn aus der Sicht einiger Anbieter ist der rational kon-sumierende Verbraucher möglicherweise gar nicht ge-wünscht.Umso wichtiger ist es, der Frage nachzugehen, wel-che Faktoren die Konsumentenentscheidungen beein-flussen und wie der Verbraucheralltag aussieht, in demsolche Entscheidungen getroffen werden. Die Wahlmög-lichkeiten haben nämlich durch technologischen Fort-schritt und Liberalisierung der Märkte zugenommen.Gleichzeitig sind Tarifstrukturen und Angebotsbedin-gungen komplexer und schier unüberschaubar gewor-den. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Verbrau-cher oft mehr für Produkte ausgeben als notwendig, dasssie kaufen, was sie nicht gebrauchen können, oder dasssie aus Überforderung vor der Angebotsvielfalt gar keineEntscheidung treffen und so zum Beispiel nicht ausrei-chend für ihr Alter vorsorgen. Eine stärkere Ausrichtungauf real existierende Verbraucherinnen und Verbraucherkönnte uns unverständliche Informationsblätter beimHandel mit Finanzprodukten ebenso ersparen wie un-durchschaubare Auflistungen von Inhaltsstoffen bei Le-bensmitteln oder versteckte Kosten bei Handyverträgen.Für eine stärkere Vernetzung zwischen Verbraucher-forschung und Politik brauchen wir natürlich auchMittel. Wir haben entsprechende Forderungen in dieHaushaltsberatungen eingebracht. Ich kündige hierschon einmal an: Wir reden heute sicherlich nicht zumletzten Mal über das Thema Verbraucherforschung.Ganz im Gegenteil, wir stehen erst am Anfang dieserDebatte. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra-ten werden nicht lockerlassen. Wir bleiben dran. Ver-braucherpolitische Instrumente und Maßnahmen müssenendlich den realen Verbraucher im Blick haben und all-tagstauglich sein.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wasgut gemeint ist, ist noch längst nicht gut gemacht. Dieszeigen Sie heute sehr deutlich mit Ihrem Antrag zur Ver-braucherforschung. Aber der Antrag behandelt ein wich-tiges Thema, um das wir uns verstärkt kümmern müssen.In diesem Punkt sind wir einer Meinung, und ich binauch Ihrer Meinung, Frau Kollegin, dass wir tatsächlicham Anfang der Debatte stehen.Um welche Frage geht es? Es geht darum, wie wir demVerbraucher in den von Schnelllebigkeit, Vielfältigkeitund Unübersichtlichkeit geprägten globalen Märkten dasnotwendige Rüstzeug zu seinem Schutz mitgeben kön-nen. Ich denke, insoweit besteht Übereinstimmung.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ichhabe Probleme, den verbraucherpolitischen Geist in Ih-rem Antrag nachzuvollziehen. Steigen wir einmal in Ih-ren Antrag ein. Die Basis für Ihre Forderungen zur Ver-braucherpolitik lautet hier folgendermaßen:Bisher ging die Verbraucherpolitik mit dem Leitbilddes „mündigen Verbrauchers“ davon aus, dass derVerbraucher sich im Sinne eines Homo oeconomi-cus als rationaler Akteur eines perfekten Marktesverhält, der alle verfügbaren Informationen voll-ständig verarbeitet, sich dabei zukunftsorientiertund den eigenen Bedürfnissen entsprechend verhältund aus seinen Erfahrungen lernt.Meine Damen und Herren, was für ein Quatsch!
Vielleicht haben Sie den Homo oeconomicus als Leit-bild Ihrer Verbraucherpolitik verstanden, wir garantiertnicht! Der mündige Bürger und der Homo oeconomicusals theoretisches, wissenschaftliches Konstrukt habennun wirklich gar nichts gemein. Vielleicht passt der Ver-gleich einer Currywurst mit einer Tofuwurst – mehr abernicht.Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil erfür sich selbst gedacht hat und nicht bloß nach-redet …Dieser sehr zutreffende Gedanke von Adorno spiegeltden Leitgedanken der Union in der Verbraucherpolitik indiesem Fall sehr gut wider. Natürlich wissen wir, dassauch der Verbraucher nicht immer rational entscheidet –
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Franz-Josef Holzenkamp
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mit all seinen Folgen. Natürlich wissen wir auch, dassdie Anbieter sich das zunutze machen. Mit Verlaub, dasist wirklich ein alter Hut.Nur, was lernen wir daraus, meine Damen und Her-ren? Sie wollen Ihrem Antrag entsprechend, dass Ver-braucherverhalten und Verbraucherentscheidungen „inEinklang stehen mit einer Verbesserung der individuel-len und gesellschaftlichen Wohlfahrt“.
Dafür wollen Sie sich der Verbraucherforschung und derErkenntnisse der Verhaltensökonomik bedienen. Dasheißt für mich nichts anderes, als dass der Staat den Ver-brauchern vorschreibt, was und wie sie zu verbrauchenhaben.
– Die Verbraucher, verehrte Kollegin, werden sich be-danken.Das ist nicht unsere Vorstellung von einem mündigenund freien Verbraucher. Wie eine solche Politik aussieht,erleben wir doch zum Beispiel bei der Nährwertkenn-zeichnung. Mit Ihrer Ampel
wollen Sie den Verbraucher in seinem Ernährungsver-halten lenken. Offensichtlich sind Sie davon überzeugt,dass der Verbraucher nicht in der Lage ist, selbst zu ent-scheiden, was oder wie er letztendlich isst. Ich sage dazuNein, Nein und nochmals Nein. Das hat mit modernerVerbraucherpolitik überhaupt nichts zu tun. Das erinnerteher an Orwells 1984.
Meine Damen und Herren, es ist nun einmal so: Nie-mand kann den Menschen zum Homo oeconomicusformen. Niemand kann die Unsicherheiten, die aus glo-balisierten Lebenswelten und zunehmender Produkt-und Angebotsvielfalt kommen, völlig tilgen. Niemandkann den Verbrauchern die letzte Entscheidung abneh-men. An dieser Stelle sage ich deutlich: Das wollen wirauch nicht. Wir in der christlich-liberalen Koalitiontrauen den Menschen etwas zu,
ganz im Gegensatz zu Ihnen.
Was aber kann und muss Verbraucherpolitik wirklichleisten? Sie muss Regeln für größtmögliche Markttrans-parenz schaffen und zielgenaue Informationen bieten.Das ist ein permanent zu verbessernder Prozess. Siemuss echte Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Preisesund der Vielfalt des Warenangebots gewährleisten. Nichtzuletzt muss sie Maßstäbe hinsichtlich gesundheitlicher,technischer und umweltfreundlicher Produktstandardssetzen.Verbraucherforschung – hier sind wir uns einig – un-terstützt dies. Dass dabei auch Erkenntnisse der Verhal-tensökonomie eingebunden werden können, ist eineSelbstverständlichkeit.
Dies befürworten wir als Fraktion, und das befürwortetauch das zuständige Bundesministerium. Wie Sie wis-sen, sind hier eine Menge Aktivitäten im Gange: in derAnlageberatung,
bei der Überprüfung von Produktinformationsblätternund auch beim VIG. Wir fragen jeden Menschen im In-ternet: Wie groß war der Nutzen? Mehr Transparenz,meine Damen und Herren, geht überhaupt nicht.Darüber hinaus startet ab diesem Wintersemester ander Uni Bayreuth der Studiengang „Rechtlicher Verbrau-cherschutz“ im Rahmen einer Stiftungsprofessur. Zweiweitere werden folgen. Eine wird sich mit dem Entschei-dungsverhalten von Verbrauchern beschäftigen. Parallelwird das Ministerium den Aufbau eines Netzwerkes zurVerbraucherforschung vorantreiben.Sie sehen: Die Bundesregierung ist zum Wohle desmündigen Verbrauchers gut unterwegs. Hier verhält essich wie beim Hasen und dem Igel: Die Bundesregierungist längst da, wo die Opposition erst hin will.
Aus diesem Grunde können wir den Antrag nur ableh-nen.
Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Unternehmen geben in Deutschland jährlichrund 30 000 Milliarden für Marktforschung und Wer-bung aus – –
Eine enorme Summe dient nur dazu, herauszufinden,was für die Unternehmen gut ist. Was gibt demgegen-über der Staat aus, um zu erforschen, was aus der Sichtder Verbraucherinnen und Verbraucher gut ist? 3 Millio-nen Euro!Auch wir als Linke sind der Auffassung, dass hier zuwenig getan wird und dass die Prioritäten in der For-schungspolitik falsch gesetzt werden.
Ich setze die 3 Millionen Euro für die Verbraucherfor-schung einmal ins Verhältnis zu anderen Ausgaben des
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6890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Caren Lay
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Bundes. Es gibt für die Raumfahrt etwa 1 MilliardeEuro, für die Atomforschung 135 Millionen Euro, undfür Sicherheitstechnologien wie den Nacktscanner sindimmerhin 60 Millionen Euro im Staatssäckel vorhanden.Zukunftsorientierte Forschungspolitik sieht wirklich an-ders aus.In der Tat brauchen wir eine starke und unabhängigeVerbraucherforschung. Verbraucherinnen und Verbrau-cher verlieren jährlich 20 bis 30 Milliarden Euro alleindurch Falschberatung bei der Geldanlage. Kein Menschkann die immer komplexer werdenden Märkte vollstän-dig überblicken. Globalisierung hat neue Märkte ge-schaffen. Privatisierung, etwa von Wasser, Energie undTelekommunikation, hat Bürgerinnen und Bürger zuKunden gemacht. Deswegen müssen wir als Politik auchmehr darüber erfahren, welche Instrumente Verbrauche-rinnen und Verbraucher benötigen, um sich im Dschun-gel globaler Märkte zurechtzufinden.Berlin ist übrigens mit gutem Beispiel vorangegan-gen. Hier hat die linke Verbrauchersenatorin KatrinLompscher den „Verbrauchermonitor“ eingeführt. Berli-ner Verbraucherinnen und Verbraucher werden gefragt,wo ihrer Ansicht nach verbraucherpolitisch gehandeltwerden muss.
Außerdem werden in Berlin die Auswirkungen von Ge-setzen auf die Verbraucherinnen und Verbraucher tat-sächlich überprüft.Auch die Verbraucherverbände sollten unserer Auffas-sung nach Bestandteil einer besseren Verbraucherfor-schung sein; denn sie werden als Erste auf die Missständeaufmerksam. Jede Förderung, die wir in die Verbrau-cherverbände stecken würden, wäre wirklich Gold wert.Anders als Sie, Herr Holzenkamp, finde ich es sehrgut, dass die SPD in ihrem Antrag sagt: Das Leitbild desmündigen Verbrauchers ist in dieser Art und Weise nichtmehr haltbar. Es muss überarbeitet und auch diskutiertwerden. – Die schwarz-gelbe Bundesregierung benutztdas Leitbild des mündigen Verbrauchers in aller Regel,um politisch untätig zu bleiben.
Deswegen müssen wir diese Leitbilddebatte jetzt führen.
Hier geht es nicht um die Bevormundung. Auch wirals Linke wollen, dass Verbraucherinnen und Verbrau-cher selbst entscheiden. Aber die Grundlage der Ent-scheidung muss stimmen, und diese Grundlage ist häufignicht gegeben. Deswegen sind auch wir beispielsweisefür die Nährwertampel. Es muss an der Stelle gesagtwerden, dass Verbraucherforschung wenig nützt, wennsich die Regierung an das, was die Forschung herausge-funden hat, nicht hält. Die Nährwertampel ist ein sehrgutes Beispiel dafür. Die Wissenschaft hat sie empfoh-len. Frau Aigner hat sie wider besseres Wissen abge-lehnt. Stattdessen folgt sie den Lobbyinteressen der Le-bensmittelindustrie.Ein anderes Beispiel ist die Finanzberatung. Hier hatder Sachverständigenrat des Ministeriums eine Reihevon guten Vorschlägen gemacht. Auf die Umsetzungdurch die Bundesregierung warten wir hier vergeblich.Meine Damen und Herren, auch in der Verbraucher-politik betreibt die Koalition Klientelpolitik
statt guter Verbraucherpolitik. Wir als Linke wollen Ver-braucherpolitik mit Weitblick statt eine skandalgetrie-bene. Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen einestarke Stimme auf allen Ebenen, in der Politik und auchin der Forschung. Auf dieser sachlichen Grundlage soll-ten wir dann den Antrag der SPD in den Ausschüssendiskutieren.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Lay,30 000 Milliarden Euro – diese Zahl würde ich noch ein-mal revidieren. Ich glaube, da sind Millionen und Mil-liarden durcheinandergekommen.
Ich finde es aber toll, dass wir uns dem Thema jetztwidmen. Nachdem die SPD in der Opposition angekom-men ist, ist sie der Meinung, man könne da jetzt etwastun. Da muss man sich jetzt schon einmal Gedanken ma-chen, wie man dazu steht. Wir Liberale bauen auf eineStärkung der Menschen am Markt und nicht auf denSchutz vor dem Markt.
Wir trauen den Verbrauchern etwas zu. Die Stichworte„mündiger Bürger“ und „mündiger Verbraucher“ sindgenannt worden. Wir sind der Meinung, bessere Infor-mationen und mehr Wissen über Produkte, um dannselbst entscheiden zu können, sind wichtig. Deswegenist für uns Bildung und Information der Verbraucher dasGebot der Stunde.
Wir sind nicht der Meinung, dass der Verbraucher einWesen mit null Konsumwissen ist, also jemand, derkeine Ahnung hat. Das könnte man aber manchmal den-ken, wenn man Ihren Antrag liest. Der Verbraucher stehtim Fokus der Forschung. In vielen Studiengängen wirdverbraucherbezogen geforscht, und nicht nur im Sinnevon Verkaufs- und Manipulationsstrategien, wie hier un-terstellt wird. Ich selbst gebe an der Hochschule Rhein-
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Dr. Erik Schweickert
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Main am Campus Geisenheim Vorlesungen, die sich un-ter anderem mit Verbraucherländern befassen. Da wirdsehr genau erforscht, was der Verbraucher denn möchte.Hier richten wir unser Augenmerk insbesondere auf deninformierten Verbraucher. In anderen Fachrichtungen– Kollege Holzenkamp hat es gesagt – ist es genauso: seies in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaftenoder auch in den Rechtswissenschaften oder in der Psy-chologie. An Ergebnissen mangelt es uns hier also nicht.Aber nicht nur die Forschung, auch der Verbraucherselbst ist manchmal viel weiter, als es ihm die SPD in ih-rem Antrag zutraut. Er ist nicht der tumbe Hans-guck-in-die-Luft. Die Realität sieht anders aus. Der Verbraucherhat keine Angst vor Innovationen und Wahlmöglichkei-ten. Im Wettbewerb ist der Verbraucher immer noch Kö-nig. Das zeigen uns die Rabattschlachten im Einzelhan-del, die ohne Wettbewerb gar nicht stattfinden würden.
Die Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentestsind, staatlich gefördert, unverzichtbare Informations-quellen für den eigenverantwortlich handelnden Bürger.Mit dem Internet als weiteren Ratgeber hat er ganz tolleVergleichs- und Auswahlmöglichkeiten.Waren Sie schon einmal auf der Funkausstellung? Ichbin dagewesen. Schauen Sie sich die Begeisterung derVerbraucher an. Da hat keiner gejammert, dass er nunzwischen LED-, LCD- und 3D-Fernsehern eine Auswahltreffen kann. Es ist ja auch kein Zufall, dass genau zeit-gleich in den Berliner Multimediamärkten diese Pro-dukte laufen. Die Verbraucher sind also Innovationengegenüber aufgeschlossen; ich glaube, viel aufgeschlos-sener, als es die SPD jemals war. Als Sie von der SPD1998 in Ihrem Wahlslogan noch den Begriff „Innova-tion“ benutzten, waren Sie erfolgreich. Ich glaube, einerfolgreicher Verbraucher ist der, der an Innovationenglaubt. Leider hat sich die SPD vom Thema Innovationwieder ein bisschen entfernt.Wenn Sie auf Seite 2 Ihres Antrags schreiben, derVerbraucher habe bisweilen unklare Ziele und handlenicht im Sinne der gesellschaftlichen Wohlfahrt, kannich Ihnen nur entgegnen: Na und? Soll er das doch tun.Es ist mir wesentlich lieber, der Verbraucher handelt ei-genverantwortlich, als so, wie es ihm der Staat vor-schreibt.
Wir wollen den mündigen Bürger und nicht den staatlichbevormundeten.
Der Verbraucher ist dabei nicht so hilflos, wie die Oppo-sition behauptet.Bei einem Punkt, Frau Drobinski-Weiß, gebe ich Ih-nen allerdings recht. Wir benötigen bisweilen etwasmehr Evidenzbasierung. Gerade für mich als Wissen-schaftler ist das Vorgehen der Politik manchmal etwasungewohnt und unbefriedigend. Ich habe mich schon oftgefragt, ob Warnungen vor 1-Cent-Überweisungen fürden Verbraucher wirklich relevant bzw. wichtig sind. Ichglaube, solche Warnungen kommen daher, dass es anempirischen Studien darüber mangelt – das wissen wirals Politiker nämlich häufig nicht –, was die Verbraucherwirklich wollen und was sie fordern. Der Verbraucher istnämlich manchmal weiter, als wir es ihm zugestehenwollen.Wir, die Verbraucherpolitiker aller Fraktionen, diewir hier sitzen, erfahren aus Zuschriften, aus Gesprä-chen in den Wahlkreisbüros oder aus Gesprächen mitden Bürgern, wo der Schuh drückt. Es kann aber nichtschaden, wenn wir durch Umfragen die relevanten The-men und die tatsächlichen Problemlagen der Verbrau-cher herauszufiltern versuchen. Ein entsprechender Pos-ten für sogenannte Entscheidungshilfe-Vorhaben stehtdem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaftund Verbraucherschutz im Haushalt zur Verfügung. Die-sen sollten wir nutzen.Wir gehen hier auch auf meine Initiative hin voran.Frau Lay hat vorhin die sogenannte Berlin-Stichprobe an-gesprochen. Vielleicht war es früher, als Berlin ein abge-grenzter Markt war, ausreichend, dort zu fragen, was ge-wünscht wird. Heute steht Berlin mit seinen ganzenProblemlagen nicht repräsentativ für die BundesrepublikDeutschland. Deswegen stellen wir jetzt die Fragen – wirhaben ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gege-ben –: Welche Felder können priorisiert werden? WelcheThemen sind für die Verbraucherinnen und Verbrauchertatsächlich wichtig? Ähnlich wie bei einem ConsumerBoard wollen wir feststellen, was den Verbrauchernwichtig ist. Dann begehen wir nicht mehr den Fehler, vorSachen zu warnen – beispielsweise vor 1-Cent-Überwei-sungen –, die sich nachher als nicht sehr problematischherausstellen.Ich möchte wissen, was für die Verbraucherinnenund Verbraucher im Fokus steht. Da haben wir wirklicheinen Nachholbedarf. Wir werden hier nachbessern;denn wir von der christlich-liberalen Koalition setzenklare Schwerpunkte. Eine evidenzorientierte Politikbringt den effizienten Verbraucherschutz voran. Wirbrauchen keine neue Forschungsrichtung, keine neuenForschungseinrichtungen, Studiengänge oder Markt-wächter, erst recht keine Bevormundung der Verbrau-cherinnen und Verbraucher.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inden vergangenen Jahren hat die Verbraucherpolitik kon-tinuierlich an Bedeutung gewonnen, weil sich die Men-schen auf immer komplexeren, oft globalen Märktenbehaupten müssen. Neue Angebote und technischeInnovationen, aber auch ganz neue Märkte, die durch Li-
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Nicole Maisch
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beralisierungen oder die Notwendigkeit zur privatenVorsorge entstanden sind, machen es uns allen schwer,den Überblick zu behalten und eine gute Wahl zu treffen.Natürlich wollen wir den Menschen nicht vorschreiben,was sie konsumieren; zum Glück können wir das auchnicht. Es gibt aber durchaus ein Gemeinwohlinteresse ander guten Wahl.
Das wird auch von CDU/CSU und FDP so gesehen. HerrHolzenkamp und Herr Schweickert, ich will Ihnen zweiBeispiele nennen:
Erstes Beispiel: eine Informationskampagne der Dro-genbeauftragten der Bundesregierung – sie gehört derFDP-Fraktion an – für schwangere Frauen. Sie rät dazu,während der Schwangerschaft möglichst keinen Alkoholzu sich nehmen.
Das ist nicht wertneutral. Natürlich hat der Staat ein In-teresse an gesunden Kindern und Müttern. Deshalb be-einflusst man die Verbraucherinnen und Verbraucher ineine bestimmte Richtung. Hierbei handelt es sich umEinflussnahme, auch wenn es mit einem Faltblatt unddamit sehr rückhaltend und vorsichtig geschehen ist.Zweitens: private Altersvorsorge. Wenn man meint,man dürfe überhaupt keinen Einfluss nehmen, danndürfte man nicht bestimmte Produkte steuerlich günsti-ger stellen, wie wir es bei der Riester-Rente machen.Wenn der Staat völlig wertneutral wäre, hätte man sichauch hier den Schubs in eine bestimmte Richtung ver-kneifen müssen. Das machen Sie natürlich nicht; es wäreauch völlig unsinnig, die Menschen von der privatenVorsorge fernzuhalten.Damit will ich sagen: Der Staat ist in der Verbrau-cherpolitik – auch bei der von FDP und CDU/CSU – na-türlich nicht wertneutral. Wir schubsen sozusagen dieVerbraucher gemeinwohlorientiert in eine bestimmteRichtung.
Leider werden sowohl die Verbraucherinformationenals auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen oft aufunzureichenden empirischen Grundlagen erstellt bzw.geschaffen. Stattdessen geht man von theoretischen Leit-bildern aus, die oft illusorisch sind; der Homo oecono-micus wurde hier schon oft gescholten. Es ist leider eineIllusion, dass Verbraucher immer die für sie günstigsteEntscheidung treffen, alle Informationen aufnehmen unddiese dann auch noch berücksichtigen.
Wir Verbraucherpolitiker sind es gewohnt, alltagsem-pirisch zu diskutieren: Wir kennen Herrn Blesers 85-jäh-rige Mutter aus den Debatten im Ausschuss.
Wir wissen zum Beispiel, dass Kinder Spielzeug in denMund nehmen, auch wenn es dafür nicht gemacht ist.Das heißt, wir argumentieren nicht mit dem Leitbild desVerbrauchers, sondern beziehen uns auf die gelebte Rea-lität. Natürlich wäre es noch schöner, wenn wir nicht nurdie gelebte Realität der Mitglieder des Verbraucher-schutzausschusses berücksichtigen könnten, sondern un-sere Politik evidenzgeleitet und forschungsbasiert betrei-ben könnten.
Dafür fehlt uns oft noch die wissenschaftliche Grund-lage. Wir wissen beispielsweise nicht, ob die Mütter, andie die Faltblätter Ihrer Kollegin Frau Dyckmans gerich-tet sind, die Faltblätter auch wirklich lesen. Wir wissennicht, ob für diese Personengruppe ein Fernsehwer-bespot nicht vielleicht geeigneter gewesen wäre.Es ist sehr wichtig, die vorhandenen Instrumente zurVerbraucheraufklärung und zur Verbraucherinformationempirisch abzusichern. Deshalb haben wir Grüne unsüberlegt, dass wir in einem Antrag zum Haushalt2 Millionen Euro zusätzlich für die verbraucherbezo-gene Forschung einsetzen wollen. Vielleicht knapsen Siediesen Betrag bei der Gentechnikforschung ab.
Damit wäre allen gedient. In diesem Sinne freue ichmich auf die weiteren Beratungen.
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Der Verbraucher ist überfordert. Erreagiert längst nicht so rational, wie es das Bild des mün-digen Verbrauchers suggeriert. Er muss gelenkt und seinHandeln muss erforscht werden. –
Dieser unterschwellig sozialistische Ansatz in Ihrem An-trag
deckt sich nicht mit unserem Verbraucher- und Men-schenbild.
Wir glauben an den eigenverantwortlichen, an den mün-digen Verbraucher.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6893
Marlene Mortler
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Ich plädiere an dieser Stelle für Verbraucher- undWirtschaftsinteressen auf Augenhöhe. Deshalb ist es un-ser Ziel, zuverlässige, umfassende, sachliche und klareInformationen über die Produkte zu erzielen. Ich zitiereIhren Antrag:Die Anbieterseite wendet viele Erkenntnisse derVerhaltensökonomik bei der Ausgestaltung ihrerGeschäftsmodelle bereits an.Das ist richtig.
Die Anbieterseite weiß, wie der Verbraucher tickt. DerVerbraucher ist kein unbekanntes Wesen. Er trifft seineVerbrauchsentscheidungen selten rational.
Als Beispiel will ich Rabatte oder Preisabschlägenennen. Sie wirken oft – das beobachte ich immer wie-der – wie eine Droge. Neulich traf ich eine Taxifahrerin,die mir erzählte, sie habe eine Frau in den Supermarktgefahren, weil es dort die Hähnchen im Angebot günstiggab. Die Taxikosten waren Nebensache.Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Skandale.Jedes Jahr im Sommerloch – danach kann man schon dieUhr stellen – entdecken einschlägige Organisationen dasGeschäft mit der Angst, um ihre eigene Kasse zu füllen.Pestizide in Paprika, Tomaten oder Trauben, egal in wel-cher Menge: Hauptsache Skandal. Skandale bringenAufmerksamkeit, machen dem Verbraucher Angst undverunsichern ihn. Um sein Gewissen zu beruhigen, spen-det er wiederum an diese Organisationen, damit sie wie-der Skandale produzieren können.Gutachten werden oft monatelang zurückgehalten.Ein Beispiel in diesem Jahr war die Verpackung vonFleisch unter Schutzgasatmosphäre. Wenn es wirklichgesundheitliche Gefahren gab, dann frage ich mich, wa-rum Foodwatch seine Erkenntnisse bis zum Sommerlochzurückgehalten hat.
Ein solches Verhalten ist unredlich. Hier besteht akuterHandlungsbedarf. Deshalb setzen wir auf eine unabhän-gige Verbraucherberatung. Wir unterstützen die Arbeitvon Stiftung Warentest und des VerbraucherzentraleBundesverbands konstant und verlässlich.Gestatten Sie mir einen kurzen Ausflug, liebe Kolle-gin Drobinski-Weiß, in die Welt von Mann und Frau.
Kürzlich hörte ich: Das Auto ist das moderne Reittierdes Mannes. Es gibt Automarken, die mit den Begriffen„Freude“ und „Zukunft“ beworben werden. Wollen Siedem Mann die Freude wirklich nehmen?
Für uns Frauen gibt es ein kleines Auto, das das emotio-nalste Auto der Welt ist. Die Werbung fragt uns Frauen:„Is it love?“ – Ist es Liebe? –, und wir steigen ein.
Menschen kaufen Problemlösungen und Gefühle.Menschen wollen sich glücklich kaufen. Wer die Herzengewinnt, hat heutzutage mit dem Geldbeutel der Kundenein leichtes Spiel. Ich gebe es zu.Aber genau das ist heute der Schlüssel in gesättigtenMärkten. Diese Erkenntnisse will die SPD nun weitervertiefen und dem Handel teure Einkaufsstudien erspa-ren. Das zahlt schließlich der Bund.Im Ernst: Auch wir sprechen uns für interdisziplinäreForschungseinrichtungen und für die Prüfung weitererStiftungsprofessuren aus.
Es gibt sie aber schon. An der TU München zum Bei-spiel gibt es seit 2004 den Masterstudiengang „Consu-mer Science“. An der Hochschule Calw gibt es die „Stif-tungsprofessur für Konsumverhalten und europäischeVerbraucherpolitik“.
Mein Kollege Holzenkamp hat darüber hinaus bereits er-wähnt, dass die Uni Bayreuth im Jahr 2010 mit der „Stif-tungsprofessur Verbraucherrecht“ ausgestattet wurde.All dies wird mit Mitteln des Bundes finanziert und inmeinem Heimatland Bayern angeboten.
Ich will damit nur sagen: Ilse Aigner, unsere Ministerin,ist schon da.Die Probleme bestehen nicht in der Gesetzgebung,sondern sind der Rechtsdurchsetzung geschuldet. BerndKrieger, der Leiter des Europäischen Verbraucherzen-trums, hat das diese Woche beim 14. Tourismusgipfelhier in Berlin deutlich gemacht. Er sagte außerdem, dassdas Europäische Verbraucherzentrum in den wenigstenFällen Beschwerden aus Deutschland erhält.Wir brauchen sicherlich keine Forschungseinrichtun-gen. Damit möchte ich noch einmal auf Ihren Antrag undIhr schräges Beispiel des Fluggastes zurückkommen, dermit der Buchung eines Fluges automatisch eine Reise-rücktrittsversicherung abgeschlossen hat. Hier müssenandere Maßnahmen greifen.Der traurige Höhepunkt Ihres Antrages ist aber dieForderung eines sogenannten Verbraucherchecks für alleGesetze.
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6894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Marlene Mortler
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Sie wollen allen Ernstes alle Gesetze, die in den Deut-schen Bundestag eingebracht werden, einem Verbrau-chercheck unterziehen.
Schlaumeier in Ihren Reihen sagen auch noch: Was wol-len Sie denn? Auch Bürokratie schafft Arbeitsplätze.
Wissenschaftsbasierte Forschung und empirische Un-tersuchungen sind notwendig und müssen intensiviertwerden; so steht es auch in unserem Koalitionsvertrag.Ich persönlich bin aber nicht nur Verbraucherin, sondernauch Unternehmerin.
Der Verbrauchercheck, von dem in Ihrem Antrag dieRede ist, schreckt derart ab, dass man diesen Antrag mitgutem Gewissen ablehnen kann.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2343 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung
– Drucksachen 16/13800, 17/591 Nr. 1.18,
17/3158 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Ulla Burchardt
Patrick Meinhardt
Dr. Rosemarie Hein
Kai Gehring
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Murmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-reits Erasmus von Rotterdam sagte: Die größte Hoffnungeiner Nation liegt in der richtigen Erziehung ihrer Ju-gend. – Genau darüber wollen wir heute sprechen. Ichglaube, Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein,wenn nicht sogar das Thema für unsere Gesellschaft. Inunserem Beirat haben wir schon darüber gesprochen.Man kann sicherlich sagen, dass wir uns in vielen Punk-ten, die wir jetzt vortragen, sehr einig sind.Unser Ziel ist es, ein ökologisch, ökonomisch und na-türlich auch sozial intaktes Gefüge an unsere Kinderweiterzugeben. Die Instrumentarien dafür müssen wir inunserem Bildungssystem verankern.Worum geht es dabei? Zunächst einmal geht es da-rum, Talente und Fähigkeiten zu fördern und den Kin-dern beizubringen, wo ihre Leistungsgrenzen sind, so-dass sie die Möglichkeit haben, eine ausgewogene,selbstkritische und starke Persönlichkeit auszubilden,um dann das eigene Leben gestalten, das Umfeld mitge-stalten und etwas zur Gemeinschaft beitragen zu können.Das gilt natürlich nicht nur für die frühkindlichen Bil-dungseinrichtungen und die Schule, sondern zieht sichdurch das ganze Leben.Wir befinden uns in der UN-Dekade „Bildung fürnachhaltige Entwicklung“. Sie läuft seit 2005 und gehtnoch bis 2014. Das heißt, wir haben etwas mehr als dieHälfte hinter uns. Ich denke, wir können schon jetzt aufeinige positive Aspekte zurückblicken. Vier Aspektemöchte ich kurz anführen:Erster Bereich: Es gibt tausend erfolgreiche Projektezum Thema nachhaltige Entwicklung. Diese Projektesind insofern von besonderer Bedeutung, als die prakti-sche Erfahrung oft wertvoller ist als der theoretische Un-terricht. Es gibt Schülerprojekte, in denen Wollproduktehergestellt werden. Es gibt Schülerfirmen an den Schu-len, die zum Beispiel Kioske betreiben. Wenn man einensolchen Kiosk betreibt, muss man sich überlegen, wel-che Produkte man einkauft. Wo kommen die Produkteher? Was für eine Qualität haben sie? Welchen Preiskann ich dafür erzielen? Kann ich einen fairen Preis er-zielen? Wie kann ich das System so nachhaltig gestalten,dass an jedem Tag Kinder bei mir einkaufen, und wiekann ich dafür sorgen, dass sie wiederkommen? Habeich auch genug Kinder, die den Schülerkiosk betreuen?Ich denke, diese Projekte sind besonders wertvoll, weildie Kinder dadurch viele Erfahrungen im Zusammen-hang mit dem Thema Nachhaltigkeit machen.
Ein weiteres kleines Beispiel, das uns alle angeht: Ofthaben wir hier, im Bundestag, Besuch von Schülergrup-pen. Hinterher kommen die Lehrer häufig zu mir – ichdenke, das geht Ihnen auch so – und sagen: Theoreti-scher Unterricht ist das eine, aber es ist etwas anderes,hier mit den Abgeordneten persönlich über Inhalte derPolitik, über die Struktur des Bundestages und die Auf-gaben der Parlamentarier zu diskutieren. Dieser Einblickin die Praxis ergänzt den Unterricht sehr gut; denn, werZusammenhänge erkennt und versteht, der ist eher be-
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Dr. Philipp Murmann
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reit, Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, es mussauch unser Ziel sein, unsere Jugend zur Verantwortungzu erziehen.Zweiter Punkt: persönliches Verhalten und Engage-ment. Eine Umwelt-AG, die im Bereich „nachhaltigePflanzenzüchtung“ schon mehrere Preise gewonnen hat,hat meine Fraktion angeschrieben. Diese AG hat dasProblem, dass der Lehrer nun in Pension geht und dieNachfolge noch nicht geregelt ist. Auch die Schüler, diedas Projekt betreiben, verlassen die Schule und habenebenfalls noch keine Nachfolger gefunden. Das heißt,auch diese Schüler müssen sich mit dem Thema beschäf-tigen, wie eine nachhaltige Struktur verankert werdenkann. Deswegen brauchen wir Leute, die sich über dasnormale Maß hinaus für diese Themen engagieren, da-mit nachhaltige Entwicklung über den normalen Unter-richt hinaus verankert werden kann.
Ich denke, das ist ein gesellschaftliches Thema. Wirbrauchen mehr gesellschaftliches Engagement und vor-bildhaftes Verhalten in vielen Bereichen. Sie alle kennenden Werbespruch „Geiz ist …“ Ich will gar nicht sagen,wie das Wort lautet; das gehört nicht in den Bundestag.Jeder Konsument muss sich die Frage stellen, inwieweiter zur Nachhaltigkeit beiträgt, wenn er solchen Parolenfolgt. Inwieweit können Produkte überhaupt nachhaltiggestaltet sein, wenn man so um den Preis kämpft und mitsolchen Werbelinien agiert? Das kann nicht im Sinn ei-ner nachhaltigen Politik sein. Insofern müssen wir unsauch darüber Gedanken machen.
Dritter Bereich: nachhaltige Entwicklung als Teil desUnterrichts. Ich habe vorhin von den Projekten gespro-chen, die außerhalb des Unterrichts stattfinden. Natür-lich müssen wir uns auch die Frage stellen, inwieweitwir das Thema „nachhaltige Entwicklung“ in den Unter-richt einbinden können. Dabei geht es natürlich darum,Elemente der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Fä-cher einzubinden. Lehren, Lernen und Erleben – diesenDreiklang zur Nachhaltigkeit sollten wir verankern.Der letzte Punkt: Natürlich müssen wir uns auch da-rüber Gedanken machen, welche Instrumente und wel-che Infrastruktur wir weiter ausbauen müssen. Wir sindzwar schon sehr weit gekommen, aber ich denke, wirmüssen dennoch die Instrumente Lehrerausbildung,Lehrerfortbildung, Schulbücher, Schulmaterialien, Rah-menlehrpläne und Projektangebote weiterentwickeln.Bis 2014 haben wir noch etwas Zeit.Ich denke, die Bundesregierung hat sehr gut damit an-gefangen. Projekte wie „Jugend forscht“ und die Initia-tive „Forschung für Nachhaltigkeit“ sind eine guteGrundlage. Eines ist sicher: Ohne Bildung gibt es keinenachhaltige Entwicklung. Deswegen ist das Thema sowichtig und sollten wir hier über alle Fraktionen hinweggemeinsam um dieses Thema ringen und daran arbeiten.Ich danke Ihnen herzlich.
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!In Rio de Janeiro haben im Jahr 1992 178 Staaten dieAgenda 21 verabschiedet. Sie ist die Grundlage für dieweltweit nachhaltige Entwicklung bzw. für das Strebennach dieser nachhaltigen Entwicklung. Man war derAuffassung, dass die Forderung nach gerechten sozialenVerhältnissen, nachhaltigen Formen im Umgang mit derNatur und beim Wirtschaften sowie nach der Partizipa-tion von Kindern, Jugendlichen und Frauen an den Ent-scheidungsprozessen nicht ohne neue Kompetenzen undeinen mentalen Wandel umgesetzt werden kann. Diesermentale Wandel ist die Grundlage für das, was wir heuteBildung für nachhaltige Entwicklung nennen. Bei unsbegann die Diskussion in den 90er-Jahren. Man hat ge-sehen: Es gibt globale, ökologische Probleme, die wirgar nicht alleine lösen können, es gibt wenig zukunftsfä-hige Entwicklungen und eine fehlende Generationenge-rechtigkeit. Das alles sollte eigentlich bekämpft werden;diese Probleme sollten behoben werden.Eine Möglichkeit hierzu besteht im Bildungsbereich.Es ist natürlich sinnvoll, bei den Kindern anzufangen,wenn man darauf aufbauend Erwachsene erziehenmöchte. Erwachsene umzuerziehen ist, wie wir alle impolitischen Bereich wahrscheinlich erleben, ungleichschwieriger. Deshalb haben die Vereinten Nationen fürdie Zeit von 2005 bis 2014 die Dekade „Bildung fürnachhaltige Entwicklung“ ausgerufen. 2004 hat die Bun-desregierung, vom Bundestag aufgefordert, die DeutscheUNESCO-Kommission mit der organisatorischen Aus-gestaltung dieser UN-Dekade beauftragt und finanziellausgestattet. Die Ziele wurden im Nationalen Aktions-plan zusammengefasst.Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-lung – er ist schon angesprochen worden –, dem vieleder hier Anwesenden angehören, versucht, Projekte zurErreichung der gesteckten Ziele im Konsens zu beschlie-ßen; meistens gelingt ihm dies. Wir haben uns im März2008 und im März 2009 mit der Umsetzung der Zielebeschäftigt und festgestellt, dass weiterhin Ausbau-potenzial vorhanden ist.Ich denke, auch die Parteien und Fraktionen sind ge-fordert. Wir haben als SPD-Fraktion im Mai 2009 eineVeranstaltung unter dem Titel „Mit guten Beispielen vo-ran“ durchgeführt. Hier wurden beispielhaft Aktionenvorgestellt, die in verschiedenen Bundesländern erfolgtsind, und zwar in den Bereichen Schule, Ausbildung undKindergarten bis hin zu städtischen Aktionen im Müllbe-reich. Wir haben sehr viel gefunden. Das zeigt, dass eseine ganze Menge an Projekten gibt. Sie haben schon ei-
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Ingrid Arndt-Brauer
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nige schulische Projekte angesprochen. Ich denke, dasist durchaus erwähnenswert, aber auch ausbaufähig.Wir haben das Problem, dass wir hier Werte und Prin-zipien fördern müssen, die teilweise nicht vorhandenoder erst im Kleinen angelegt sind. Diese Prinzipien stel-len jedoch die Basis für nachhaltige Entwicklung dar.Die Bundesregierung – das haben wir in der Be-schlussempfehlung geschrieben – wird aufgefordert,weiterhin an ihrer Zielsetzung festzuhalten und das Pro-gramm „Transfer 21“, das leider ausgelaufen ist, dahingehend weiterzuentwickeln, dass immer mehr Schulenan Programmen für nachhaltige Entwicklung teilneh-men. Als Mutter von vier Kindern, deren Kinder in derZeit zwischen 1999 und 2004 alle in der Schule waren,muss ich sagen, dass mir persönlich solche Programmenicht begegnet sind, obwohl meine Kinder auf unter-schiedlichen Schulen waren. Im Schülercafé wurde einbisschen fairer Handel betrieben, aber mehr Projektehabe ich nicht erlebt. Das fand ich im Nachhinein ziem-lich schade. Ich denke, die jetzt betroffenen Eltern soll-ten das verstärkt einfordern.Wir fordern die Bundesregierung in unserer Be-schlussempfehlung auch auf, davon zu berichten, inwie-weit die Aktionen, die angestoßen und weitergeführtworden sind und werden, finanziell unterstützt werden.Im Moment hat der entsprechende Ansatz im Etat desBundesministeriums ein Volumen von 450 000 Euro proJahr; dieser Betrag kommt mir, ehrlich gesagt, nicht be-sonders hoch vor. Davon werden vor allen Dingen Best-Runner-Projekte ausgezeichnet. Aber auch dies entfaltet,wie ich finde, nur wenig öffentliche Wirkung. Ich zu-mindest wüsste nicht, welches das Best-Runner-Projekt2010 war, und ich weiß nicht, ob es einer meiner Kolle-gen kennt. Ich denke, hier kann man, auch was die Öf-fentlichkeitsarbeit angeht, noch eine ganze Menge tun.Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Regie-rungsmitglieder herausragende Schülerprojekte oderSchulen auszeichnen. Ich jedenfalls würde mir das wün-schen.Des Weiteren ist an die Länder zu appellieren, auf dieLehrpläne Einfluss zu nehmen und das Projekt „Nach-haltige Bildung“ nicht nur nachmittags in irgendeinerAG durchzuführen, sondern man sollte dieses Themaauch im Unterrichtsplan immer wieder aufgreifen. Esgibt mehrere Fächer, die sich hierfür anbieten, nicht nurdas Fach Biologie. Ich denke, es gibt viele Fächer, derenUnterrichtsinhalte auf Nachhaltigkeit hin überprüft undüberarbeitet werden müssten. Dass dies geschieht, müs-sen wir von den Ländern fordern. Denn wir wissen: Auf-grund des Föderalismus ist der Bund nur begrenzt in derLage, auf die Lehrpläne Einfluss zu nehmen.Ich plädiere an alle Beteiligten, von der Regierungüber die Kultusministerien bis hin zu uns in den Fraktio-nen und Parteien, mehr für den Bereich nachhaltige Bil-dung zu tun. Wir tun das übrigens für uns. Denn wennunsere Kinder nachhaltig gebildet sind, dann werden siesich später hoffentlich auch um uns kümmern. Themenwie der demografische Wandel und die Generationenge-rechtigkeit betreffen nämlich auch uns, nicht nur nach-folgende Generationen. Wir alle werden immer älter.Hoffentlich werden wir gesund älter; wenn nicht, müs-sen wir versorgt werden. Auch deswegen ist die Bildungunserer Kinder im Hinblick auf Nachhaltigkeit sehrwichtig. Ich möchte alle Beteiligten bitten, dieses Pro-jekt zu unterstützen und daran weiterzuarbeiten.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte mit einem Zitat des Präsidenten der DeutschenUNESCO-Kommission, Walter Hirche, beginnen:Bildung für nachhaltige Entwicklung vermitteltWerte, Kompetenzen, Fertigkeiten und Kenntnisse,die für die verantwortliche Gestaltung der Zukunfterforderlich sind.Wir alle merken doch, dass sich weltweit ein starkergesellschaftlicher und ökologischer Wandel vollzieht. ImNamen der FDP-Fraktion begrüße ich die vorgelegte Be-schlussempfehlung und den Bericht der Bundesregie-rung.In der zweiten Hälfte der UN-Dekade „Bildung fürnachhaltige Entwicklung“ muss das Bewusstsein derMenschen für Nachhaltigkeit noch mehr gestärkt wer-den.
Der Bevölkerung muss das nötige Verständnis und Wis-sen an die Hand gegeben werden, damit sie die sozialen,ökologischen und ökonomischen Auswirkungen auf ihrHandeln verinnerlicht. International, insbesondere aberin Deutschland, ist das Interesse an Nachhaltigkeitsthe-men mit Beginn der UN-Dekade „Bildung für nachhal-tige Entwicklung“ immens gewachsen. Diesen Trend hatder Staat aufgegriffen und entsprechende Maßnahmenauf den Weg gebracht.Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten das National-komitee und der Runde Tisch. Beide Foren sind für dieUmsetzung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltigeEntwicklung“ unerlässlich. Sie fördern die Vernetzungund den Austausch der verschiedenen Akteure unterei-nander. Die im Nationalen Aktionsplan von Bundestag,Nationalkomitee und Rundem Tisch festgeschriebenenZiele, zum Beispiel die Verstärkung internationaler Ko-operation und die Weiterentwicklung und Bündelungvon Aktivitäten, tragen zur Verbesserung der öffentli-chen Wahrnehmung von Bildung und Nachhaltigkeit bei.
Besonders wichtig war die Einbindung der Kommu-nen im Rahmen eigener Dekadeprojekte. Dadurch
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Angelika Brunkhorst
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konnte das Thema in den Köpfen der Bevölkerung vorOrt verankert werden. Alle deutschen Gebietskörper-schaften werden in diesen Entwicklungsprozess einge-bunden. Um eine noch stärkere Verflechtung zu erzielen,sollten wir uns dafür starkmachen, dass die Kommuneneinen Sitz im Nationalkomitee bekommen. Das wärewirklich zielführend.
Bei der Aus- und Weiterbildung spielen Hochschuleneine zentrale Rolle. Viele Hochschulen bieten inzwi-schen ein vielfältiges Studienangebot zur Nachhaltigkeitan und haben innovative Lernkonzepte entwickelt. Einexzellentes Beispiel dafür ist die Leuphana-Universitätin Lüneburg. Kürzlich wurde sie mit dem renommiertenInternational Sustainable Campus Excellence Awardausgezeichnet.Herausragend ist darüber hinaus, dass die Leuphanasogar eine eigene Fakultät für Nachhaltigkeitswissen-schaften etabliert hat. Das ist ein Ansporn für weitereHochschulen in Deutschland.
Als niedersächsische Bundestagsabgeordnete freut esmich, Ihnen mitteilen zu können, dass insbesondere Nie-dersachsen ein Impulsgeber beim Thema „Bildung fürnachhaltige Entwicklung“ war und auch ist. So hat derNiedersächsische Landtag vor knapp drei Jahren einenEntschließungsantrag angenommen, um den NationalenAktionsplan aktiv zu unterstützen.Das Schulprojekt „Transfer 21“ – das wurde bereitserwähnt – wurde mit großem Erfolg umgesetzt. Circa17 Prozent der niedersächsischen Schulen waren 2008 indas Programm eingebunden. Dieser Anteil lag weit überdem Bundesdurchschnitt.Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde in vielenSchulen implementiert und sehr praxisbezogen mit demlandesweiten Projekt „Nachhaltige Schülergenossen-schaften“ umgesetzt. Insbesondere haben sich Grund-,Förder-, Haupt- und Realschulen am Programm „Trans-fer 21“ beteiligt, in denen man in erster Linie praktischeLerninhalte anbietet und wo eher praktisch orientierteSchüler gefördert werden. Insofern war dies genau rich-tig. Schüler konnten Wirkungsketten kennenlernen, inTeams zusammenarbeiten, ihre Rolle einnehmen, auf ih-rem Posten Verantwortung übernehmen und – das istentscheidend – Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühlgenerieren.Warum war dieses Programm gerade in Niedersach-sen so erfolgreich? Wir haben ein langjähriges und soli-des Netzwerk gepflegt und als einziges Bundesland ei-nen Fokus auf die Gründung nachhaltiger Schülerfirmengelegt.Auch die von der Stiftung „Innovations- und Zu-kunftsfonds Niedersachsen“ finanzierte Beratungs- undServiceagentur zur Bildung für nachhaltige Entwicklungliefert aus liberaler Sicht entscheidende Impulse geradeauch für andere Bundesländer. Zehn Bundesländer ha-ben inzwischen das Multiplikatorenprogramm aus Nie-dersachsen übernommen. Damit ist die Agentur einLeuchtturmprojekt im Bereich der Bildung für nachhal-tige Entwicklung. Erfreulich ist außerdem die Vernet-zung einzelner Bundesländer im Rahmen der Norddeut-schen Partnerschaft zur Unterstützung der UN-Dekade.Deutschland hat viel im Hinblick auf das Thema „Bil-dung für nachhaltige Entwicklung“ erreicht. Das von derRegierung verabschiedete Lateinamerika-Konzept hatdie Forderung der FDP-Fraktion nach neuen Lernortenaufgegriffen und entscheidende Weichen auf internatio-naler Ebene gestellt. Ich begrüße diese Entwicklung undmöchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion allenAnerkennung zollen, die sehr engagiert und mit Leiden-schaft das Projekt „Bildung für nachhaltige Entwick-lung“ vorantreiben – und das ebenso ganz nachhaltig.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Rosi Hein für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ichmöchte mit einem Zitat beginnen:Bei Nachhaltigkeit geht es um die Erreichung vonGenerationengerechtigkeit, sozialem Zusammen-halt, Lebensqualität und Wahrnehmung internatio-naler Verantwortung.So, verehrte Kolleginnen und Kollegen, steht es im „Be-richt der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhal-tige Entwicklung“, der bereits vor mehr als einem Jahrvon der damaligen Bundesregierung verabschiedetwurde. Er beschreibt die Aktivitäten der Bundesregierungzur Halbzeit der UN-Dekade „Bildung für nachhaltigeEntwicklung“. Er hat in der Tat eine Reihe beachtlicherErgebnisse aufzuweisen, auch wenn man sagen muss,dass einiges aus deutlich älteren Programmen stammt.Insbesondere ist es gelungen, durch zahlreiche Pro-gramme und Initiativen umweltbewusstes Verhalten beiKindern und Jugendlichen deutlich zu fördern. In mei-nem Wahlkreis in Magdeburg beteiligten sich Schulenam Fifty-fifty-Programm zur Energieeinsparung. Sie sinddabei sehr engagiert. Ich finde das gut.
Aber der Bericht spricht nicht ohne Grund von einemganzheitlichen Ansatz für nachhaltige Entwicklung, dersoziale und demokratische Aspekte ebenso umfasst wiedas Wissen um eine umweltbewusste und gesunde Le-bensweise.Wer nämlich über kein ausreichendes Einkommenverfügt, der kann sich trotz besseren Wissens nicht im-mer umweltbewusst verhalten und gesund leben. Erkann auch fair gehandelte Produkte oder ökologisch her-gestellte Produkte unter Umständen nicht erwerben,
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Dr. Rosemarie Hein
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wenn er die Mittel dazu nicht hat; denn sie sind etwasteurer.Gute Bildung ist eine entscheidende Voraussetzungfür soziale Teilhabe, also für die Möglichkeit, auch ent-sprechend nachhaltig zu handeln. Darum muss Bildungunbedingt selbst nachhaltig sein, wenn man Bildung fürnachhaltige Entwicklung verwirklichen will,
und das ist sie nur, wenn der Zugang zu Bildung für jedeund jeden gleichermaßen möglich ist.
Davon ist Deutschland aber weit entfernt.Hier ist der Nachholbedarf am größten. IndividuelleFörderung schon im Kindergarten und in der Schule, da-mit Schulabschlüsse nicht mehr nachgeholt werden müs-sen: Das wäre nachhaltig und zudem preiswerter. –Hierzu steht in dem Bericht nur eine lapidare Feststel-lung, aber keine einzige Idee. Das kritisieren wir daran.
Es wundert uns schon, dass im Berichtsteil des Bil-dungsministeriums nichts zur Notwendigkeit des Nach-holens von Schulabschlüssen zu finden ist, sondern indem des Arbeitsministeriums, so, wie übrigens auch dieBildungschipkarte im Arbeitsministerium verhandeltund ausgehandelt wurde und nicht im Bildungsministe-rium. Wir stellen uns schon besorgt die Frage – ich habedas in meiner letzten Rede schon einmal getan –, ob sichdas Bildungsministerium für Bildung nicht mehr zustän-dig fühlt oder sich abschaffen will. Ich finde, darübermuss man einmal ernsthaft nachdenken.
Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass dasThema „nachhaltige Entwicklung“ und der Beitrag derBildung dazu innerhalb der Bundesregierung wenig auf-einander abgestimmt sind. Die Berichte der einzelnenMinisterien stehen ziemlich unverfänglich und unabge-stimmt nebeneinander. So stellt die Bundesbeauftragtefür die Belange behinderter Menschen fest: „Eine Schulefür alle macht ein Umdenken in unserem Bildungssys-tem erforderlich“. – Eine Schule für alle: Das finde ichvöllig richtig.
Als wir auf diese Aussage hin im Bildungsausschussnachgefragt haben, hatten wir aber den Eindruck, dassdas zuständige Bildungsministerium diese Aussage zumersten Mal hörte.
– Wir haben schon öfter darüber gesprochen, aber ir-gendwie haben wir auf unsere Frage keine Antwort be-kommen.
Wir hatten das Gefühl: Es hat noch gar keiner gelesen,dass das da drinsteht. – Ich finde es ja gut, dass es drin-steht, aber das ist offensichtlich noch nicht weiter durch-gedrungen.Es geht aber noch weiter: Im Nationalen Aktionsplan„Für ein kindgerechtes Deutschland 2005–2010“ hatman sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Dazu gehören ein„Aufwachsen ohne Gewalt“ und mehr „Beteiligung vonKindern und Jugendlichen“. Davon muss man in Stutt-gart noch nichts gehört haben.
Was meinen Sie eigentlich, welche nachhaltigen Demo-kratieerfahrungen die Schülerinnen und Schüler bei ihrerangemeldeten Demonstration gewonnen haben? Das,was durch den Polizeieinsatz dort zerstört wurde, kön-nen Lehrerinnen und Lehrer in noch so vielen Sozialkun-destunden nicht wieder reparieren. Wer Belege dafürsucht, der schaue sich bitte die Internetseiten der Schü-lerzeitung Spießer an.Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwick-lung“ stand in der ersten Hälfte der Dekade jährlich un-ter einem bestimmten Thema, so zum Beispiel „Wasser“in 2008, „Energie“ in 2009 und „Geld“ in 2010 – wiepassend. Ich finde, die verbleibenden Jahre sollten ande-ren Themen gewidmet werden, zum Beispiel demThema „soziale Chancengleichheit“
und dem Thema „demokratische Teilhabe“.Wenn das ins Zentrum der Bemühungen der Bundes-regierung gestellt würde, dann würde man auch demEingangsziel, das ich vorhin zitiert habe, der Generatio-nengerechtigkeit und dem sozialen Zusammenhalt in derGesellschaft besser gerecht werden, aber Sie haben dieThemen schon durchgeplant. Vielleicht ist das aber auchein Grund, noch einmal darüber nachzudenken.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zahlreiche Initiativen bemühen sich bundesweit, den Ge-danken einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung inder Gesellschaft stärker zu verankern. Diesen Pionierin-nen und Pionieren, den vielen engagierten Lehrern undSchülern, gebührt fraktionsübergreifend unser Dank, weilsie dazu beitragen, das wichtige Zukunfts- und Gegen-wartsthema Nachhaltigkeit noch stärker ins Bewusstseinder Menschen zu rücken.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6899
Kai Gehring
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Die zweite Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nach-haltige Entwicklung“ ist bereits angebrochen. Es ist da-her höchste Zeit, dass die Bundesregierung darlegt, wieihre zukünftigen Förderstrategien aussehen sollen. Diesmuss sie zügig tun, damit dieser Prozess in der zweitenHälfte der Dekade und darüber hinaus mit Schwung wei-tergehen kann und nachhaltig ist.Es ist zum Glück unstrittig, dass wir Bildung für einenachhaltige Entwicklung brauchen. Wir brauchen sie inallen Bildungseinrichtungen, also endlich auch stärker inder beruflichen Aus- und Weiterbildung. Wir brauchensie für alle Generationen im Sinne von lebenslangemLernen von Jung bis Alt, und wir müssen nachhaltigeEntwicklung enger mit Themen wie Demografie, Chan-cen- und Generationengerechtigkeit verknüpfen. Darummuss es jetzt in der zweiten Hälfte der UN-Dekade ge-hen.Wir meinen, dass Projektförderung nur der Auftaktdazu sein kann, aus den vielfältigen lokalen Ansätzen,die es gibt, ein breites Netzwerk mit guten Beispielen zuknüpfen, aus dem ein umfassendes Leitbild zur Umge-staltung unseres Bildungssystems erwachsen kann.Gemeinsame Ziele für ein nachhaltiges Bildungssys-tem müssen sein, die Potenziale und Talente von Kindern,Jugendlichen und Erwachsenen stärker zu erkennen, dieZahl der Schul-, Ausbildungs- und Studienabbrüchedeutlich zu reduzieren und jedem eine zweite, dritte odervierte Chance zu eröffnen sowie mehr individuelle För-derung, eine höhere Durchlässigkeit und somit auchmehr Möglichkeiten zum Bildungsaufstieg in unseremBildungssystem zu gewährleisten, unabhängig von Her-kunft und Geldbeutel der Eltern. Das ist ein sehr wichti-ges Anliegen.
Das wären wichtige Beiträge, um bundesweit zu mehrNachhaltigkeit im Bildungssystem zu kommen. DennFakt ist, dass unser Bildungssystem ungerecht, unter-finanziert und ineffizient ist. Leider werden viel zu vieleTalente vergeudet, und es mangelt an Chancengerechtig-keit. Das liegt auch an vielen falschen politischen Wei-chenstellungen in der Bildungspolitik.Ein aktuelles Beispiel, über das wir immer wieder dis-kutieren, ist das bildungs- und gleichstellungspolitischaberwitzige Betreuungsgeld, an dem Schwarz-Gelb nachwie vor festhält. Ein weiteres Beispiel ist die frühe Tren-nung von zehnjährigen oder gar neunjährigen Kindernnach der vierten Klasse, wenn sie in unterschiedlicheSchulformen aufgeteilt werden, wie es in vielen Bundes-ländern der Fall ist. Das ist aus unserer grünen Sicht dasglatte Gegenteil einer nachhaltigen Bildungspolitik.
Ich möchte auch die Nachhaltigkeitsprüfung von Ge-setzentwürfen ansprechen. Aus unserer Sicht ist das sehrsinnvoll, und es ist ein wichtiger Schritt. Diskutierensollten wir aber über die Aussagekraft der Prüfergeb-nisse und die Frage, wie sie kommuniziert werden. Einaktuelles Beispiel ist das nationale Stipendienprogramm.Es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, dass denungerechten Elitestipendien für wenige das Etikett„wirkt nachhaltig“ angepappt wird. Ich finde, dazu gibtes noch Diskussionsbedarf, um zu argumentieren und zukommunizieren, was die Nachhaltigkeitsprüfung bedeu-tet.Wir meinen, dass Bund und Länder gemeinsam stär-ker ihrer nationalen und internationalen Verantwortunggerecht werden müssen, Bildung für eine nachhaltigeEntwicklung zu einem Schwerpunkt zu machen.Das rot-grüne Ganztagsschulprogramm wurde auchin dem Bericht interfraktionell als ein Motor für die Ver-ankerung von Nachhaltigkeitsthemen in Schulen gelobt.Gleiches gilt für das Modellprojekt „Transfer 21“ derBLK. All diese fraktionsübergreifend gelobten Initiati-ven gibt es nicht mehr, weil inzwischen eine verkorksteFöderalismusreform mit einem Kooperationsverbot inKraft gesetzt wurde, das die Zusammenarbeit zwischenBund und Ländern im Bildungsbereich weitgehend ver-bietet.
Deshalb möchte ich – ich denke, ich spreche im Na-men der gesamten Opposition – Ihnen, meine Damenund Herren von der Koalition, an dieser Stelle anbieten,dass wir gemeinsam zu mehr Tatkraft und Kooperationvon der Kita bis zur Weiterbildung insbesondere imSchulbereich kommen und das Kooperationsverbot imGrundgesetz wieder aufheben.
Ich gehe davon aus, dass es dafür noch in dieser Le-gislaturperiode eine Mehrheit im Bundesrat gibt unddass wir dann die Chance haben, Bildungsblockadenendlich wieder nachhaltig aufzubrechen. Das wäre eingroßer Beitrag für ein nachhaltiges Bildungssystem undeine gute Bildungsfinanzierung in Deutschland.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion.
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6900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wäreenttäuscht gewesen, wenn Kollege Gehring das Koope-rationsverbot außer Acht gelassen hätte. Aber er hat es invier Minuten geschafft, den Bogen zu spannen.Nun haben schon viele Kollegen zitiert. Ich möchte– es ist abgesprochen, dass ich das darf – kurz den Kolle-gen Murmann zitieren. Er hat richtigerweise gesagt: Un-ser Ziel ist, ein intaktes Gefüge an unsere Kinder weiter-zugeben. – Das nehme ich gerne auf und darf es umFolgendes ergänzen: Es ist auch unsere Verantwortungund unser Ziel, dass wir unsere Kinder in die Lage ver-setzen, dieses intakte Gefüge weiter zu verbessern. – Dasist mit Bildung für nachhaltige Entwicklung gemeint.Wir müssen zielorientiert steuern und Verantwortungs-bewusstsein für das persönliche Verhalten und Engage-ment schaffen, wie es Herr Murmann bereits beschriebenhat.Der Deutsche Bundestag zeigt eine gewisse Ge-schlossenheit, wenn es um die Frage geht, wie manNachhaltigkeit entwickelt. Das wird auch im Entschlie-ßungsantrag deutlich. Aber, Frau Hein, nicht alles im Le-ben ist nachhaltig. Ich erinnere jedenfalls daran, dass derDeutsche Bundestag bereits 2004, also noch vor Beginnder UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“,einen Aktionsplan für Deutschland beschlossen hat. FrauArndt-Brauer, Kollege Murmann und Herr Gehring ha-ben Beispiele für das genannt, was seither geschehen ist.Dabei geht es nicht nur um Schülercafés. Schulen undKindertagesstätten haben sich mit dem Thema Ressour-censchonung befasst. Unter anderem ging es um dieFrage, wie man mit Wasser umgeht. Klimaschutz warein Schwerpunkt im Elementarbereich der Kindertages-stätten. Über 2 500 Schulen – das sind über 10 Prozent –haben im Rahmen des Programms „Transfer 21“ ein-zelne Projekte gesteuert. Die Zielvorgabe von 10 Pro-zent haben wir also deutlich erreicht. Das ist ein gutesErgebnis. Auch dass über 800 einzelne Projekte ausge-zeichnet wurden, spricht für sich.Es geht nun aber um Verbindlichkeit und die Versteti-gung von Nachhaltigkeit im Bildungsbereich. Wenn ichsehe, dass nun Umweltbildung in allen Rahmenrichtli-nien der Länder verankert ist, dann darf ich feststellen,dass wir deutliche Schritte nach vorne gekommen sind.Ziel ist, dieses Thema systematisch und dauerhaft zuverankern. Die Herausforderung in den nächsten Jahrenwird sein, dafür zu sorgen, dass das gelingen kann. Inden Debatten hier im Deutschen Bundestag müssen wiraber immer wieder darauf verweisen, dass die Länder inweiten Teilen die Kompetenzhoheit haben. In Zukunftmüssen die Länder – das ist wichtig – verbindlich nach-weisen, wie sie Bildung für nachhaltige Entwicklung ge-stalten wollen.Wir, die Koalition, haben unser Bekenntnis zur Nach-haltigkeit im Koalitionsvertrag deutlich formuliert:Die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung istZiel und Maßstab unseres Regierungshandelns, aufnationaler, europäischer und internationaler Ebene.Das heißt für uns, im Bildungsbereich Einstellungen län-gerfristig zu verändern.
Nun umfasst Bildung für nachhaltige Entwicklungnoch einen anderen Aspekt, Stichwort „Grundbildungfür alle“. Kollege Gehring von den Grünen hat bereitsdas eine oder andere angesprochen, das mit unseren In-dikatoren im Bildungsbereich korrespondiert, zum Bei-spiel die Schulabbrecherquote, die Ausbildungsquote,die Zahl der Studienabschlüsse sowie die Ausgaben fürBildung und Forschung. Das 10-Prozent-Ziel der Bun-desregierung passt genau dazu. Um Verständnis fürNachhaltigkeit zu entwickeln, muss man sich schließlichauch mit der Frage befassen, wie viel Geld wir alsGesellschaft – ob privat oder öffentlich – für Bildungausgeben. Über Bildungspositionen kann man lange dis-kutieren, so auch über die Frage, ob die Schulabbrecher-quote als Indikator geeignet ist. Was nutzen wenigerSchulabbrecher, wenn gleichzeitig die Ausbildungsfä-higkeit sinkt? Ist nicht alternativ die Frage zu stellen,welche anderen Indikatoren ebenfalls eine Rolle spielen?
Ich glaube aber, dass die Indikatoren insgesamt durchausgeeignet sind, deutlich zu machen, wie sich die Bildungentwickelt. Ich teile hier nicht – dafür müssen Sie vonder Opposition Verständnis haben – die Meinung desKollegen von den Grünen. Die Indikatoren zeigen deut-lich, dass wir nicht nur wieder mehr Geld ausgeben – esgibt erneut eine Steigerung um über 7 Prozent –, sonderndass wir auch deutlich bessere Ergebnisse erzielen als inden letzten Jahren. Das ist ein Beweis, dass die Bundes-regierung mit ihrer Bildungspolitik richtigliegt.
Wenn wir über Nachhaltigkeit nachdenken, dannmüssen wir uns auch die Frage stellen, wo 1 Euro dengrößten Nutzen bringt. Auch das ist nachhaltig. Wirmüssen – ich denke, darüber herrscht Einvernehmen –bei der frühkindlichen Bildung ansetzen. Aufgabe derCDU/CSU-Fraktion wird es in den nächsten Monatensein, Nachhaltigkeit unter dem Gesichtspunkt der früh-kindlichen Bildung zu thematisieren.Was die Quantität des Krippenausbaus angeht, habenwir viel erreicht. Im nächsten Schritt werden jetzt auchdie Qualität und Standards zu erörtern sein. Denn eskommt gerade in Kindertagesstätten darauf an, das The-mengebiet „nachhaltige Entwicklung“ in den Bildungs-plänen zu verankern, also das frühe Bewusstsein zuschaffen, was Nachhaltigkeit heißt. Das ist dann so ba-nal, als wenn man irgendwann feststellt, dass es Sinnmacht, das Licht auszumachen, wenn man als Letzter ei-nen Raum verlässt, oder Wasser zu sparen. Dies hat abereine unheimlich große Wirkung nicht nur für die Kinder,sondern auch für die Familien, die teilweise erst dann er-fahren, was Nachhaltigkeit mit sich bringt. Dabei geht esauch – darüber kann man diskutieren – um die Frage ei-nes Kita-TÜVs. Es geht dabei um die Baumaterialien,die verwendet werden, und um die Frage, ob denn Ener-gieeffizienz gegeben ist. Weiter geht es darum, die Qua-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6901
Marcus Weinberg
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lität von Erzieherinnen unter dem Gesichtspunkt nach-haltiger Entwicklung zu hinterfragen.Ich glaube – damit komme ich auch gerne zumSchluss –, es wird unsere Aufgabe sein, die Länder mehrund mehr zu fordern. Viele Länder haben gerade in die-sem Bereich – im schulischen wie auch im vorschuli-schen Bereich – unter Qualitätsgesichtspunkten viel er-reicht. Für uns ist es wichtig, dass diese Bereichezusammengeführt und stetig weiterentwickelt werden. Esist auch eine Aufforderung an die Länder, diese Projekteim Bereich der Elementarpädagogik oder der Primarpäda-gogik, die vorhin von vielen Rednern angesprochen wur-den, zu verstetigen. Daneben muss ein Abgleich von Bil-dungsplänen möglich werden. Es wird ja immer wiederdarüber diskutiert, wie man bundeseinheitliche Rahmen-pläne auf freiwilliger Basis – das föderative Systemfunktioniert, das ist ein gutes System – gestalten kann.Unterm Strich bleibt festzuhalten: Wir haben weiterunsere Aufgaben zu machen. Aber insgesamt kann mansagen, dass wir durchaus zufrieden auf die einzelnenPunkte zurückblicken können, die wir erreicht haben.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Bericht der Bundesregierung zur Bil-
dung für eine nachhaltige Entwicklung. Das sind die
Drucksachen 16/13800 und 17/3158.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche
– Drucksache 17/3173 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Katja Mast für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wer die Bildungsrepublik ausruft, wird das Echo „faireArbeitsbedingungen in der Bildungsrepublik“ bekom-men. Genau hier, bei fairen Arbeitsbedingungen in derBildungsrepublik, versagt Ursula von der Leyen alsMinisterin; denn sie lehnt Mindestlöhne für die Aus-schreibungen der Bundesagentur für Arbeit ab. Begrün-dung: Die Mindestlöhne liegen nicht im öffentlichen In-teresse. Dabei geht es um Löhne von 12,28 Euro fürausgebildete Fachkräfte, die Kurse im Auftrag der Bun-desagentur für Arbeit durchführen. Also verhindertUrsula von der Leyen Mindestarbeitsbedingungen derBehörde Bundesagentur für Arbeit, für die sie dieRechtsaufsicht hat, mit der Begründung: kein öffentli-ches Interesse. Wenn das kein öffentliches Interesse ist,was soll denn dann öffentliches Interesse sein?
Das ist aus meiner Sicht Bildung nach dem Motto„Geiz ist geil“, hat aber beim Thema Bildung nichts zusuchen; denn Bildung bildet Menschen. Da darf es nichtum „Geiz ist geil“ gehen, sondern da braucht es Qualität.Es muss darum gehen, dass Qualität ihren Preis hat.
Ich bin dem Diakonischen Werk Württemberg dank-bar, das Frau von der Leyen, nachdem sie den Mindest-lohn in der Weiterbildungsbranche abgelehnt hat, dazuaufgefordert hat, nun doch den Mindestlohntarifvertragzu unterzeichnen und damit faire Arbeitsbedingungen inder Weiterbildungsbranche zu schaffen.Ich weiß ganz genau, was gleich nach meiner Rede inBezug auf den Antrag der SPD passieren wird:
Die nachfolgenden Redner von Schwarz-Gelb werdensprechen – das ist richtig, Kollege Lehrieder –, und siewerden Folgendes tun: Sie werden den Mindestlohn inder Weiterbildungsbranche ablehnen, mit dem Argu-ment: kein öffentliches Interesse.
Auf das öffentliche Interesse bin ich in meiner Redeschon eingegangen. Viel schlimmer als die Ablehnungdes Mindestlohns empfinde ich aber, dass die nachfol-genden Redner von Schwarz-Gelb
keine Alternative aufzeigen werden, wie wir zu fairenArbeitsbedingungen in der Weiterbildungsbranche kom-men können.
Außerdem werden einige sagen: Die SPD hat doch elfJahre den Arbeitsminister gestellt. Warum ist es denn so,
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6902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Katja Mast
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wie es heute ist? – Auch da gilt, dass wir heute überhauptnur deswegen über einen Mindestlohn für die Weiterbil-dungsbranche reden können, weil die SPD in der GroßenKoalition dafür gesorgt hat, dass das Arbeitnehmer-Ent-sendegesetz auf diese Branche ausgedehnt wurde
und das Mindestarbeitsbedingungengesetz verabschiedetworden ist, dass also die rechtlichen Grundlagen fürMindestlöhne in der Weiterbildungsbranche geschaffenworden sind.Ich will an dieser Stelle den Lehrkräften in der Wei-terbildung danken; denn sie sind es, die durch ihr alltäg-liches, unermüdliches Engagement für lebenslanges Ler-nen und Chancenvermittlung in dieser Gesellschaftsorgen. Sie sind es, die oft trotz schlecht bezahlter Arbeitdafür sorgen, dass etwa Langzeitarbeitslose, Fachkräfte,Arbeitsuchende Chancen in dieser Gesellschaft bekom-men. Hier ein herzliches Dankeschön an die Lehrkräftein der Weiterbildungsbranche!
Ich verspreche Ihnen allen: Wir von der SPD werdennicht aufhören, für den Mindestlohn zu kämpfen, wederim Bereich Weiterbildung noch auf dem Gebiet derLeiharbeit, noch in anderen Branchen. Wir wollen einenflächendeckenden Mindestlohn.
Ich weiß, dass Sie, Schwarz-Gelb, das nicht vertretenkönnen; aber Sie können für faire Bedingungen in derWeiterbildung über das Arbeitnehmer-Entsendegesetzsorgen. Sorgen Sie dafür, dass 12,28 Euro zu einem fai-ren Lohn in der Weiterbildung werden. Das ist unseregemeinsame Verantwortung, um die Würde der Arbeit inder Weiterbildung zu schützen.In diesem Sinne: Glück auf!
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ralf Brauksiepe.
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Mast, Sie haben, was in der Tat nicht sehrgewagt ist, angekündigt, dass unmittelbar nach IhnenVertreter der christlich-liberalen Koalition sprechen wer-den. Jetzt spricht zunächst einmal ein Vertreter der Bun-desregierung. Dieser Unterschied ist nicht ganz unbe-deutend. Denn Sie haben als frei gewählte Abgeordnetein einem freien Land das Recht, hier all Ihre persönli-chen Befindlichkeiten auszubreiten. Dieses Recht hat dieBundesregierung, in diesem Fall die Bundesarbeitsmi-nisterin, beim Erlass von Verordnungen so nicht. DieBundesregierung ist an Recht und Gesetz gebunden,wenn sie Verordnungen erlässt, und nicht nur an ihre Be-findlichkeiten.
Sie fordern einen Mindestlohn in der Weiterbildung.Ich halte diese Forderung im Grundsatz für richtig. Umdafür den Rahmen zu schaffen, ist das Arbeitneh-mer-Entsendegesetz da. Frau Kollegin Mast, die Erwei-terung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ist in derletzten Legislaturperiode von der Großen Koalition be-schlossen worden. Die Große Koalition hat auch eineMindestlohnverordnung unter bestimmte gesetzliche Vo-raussetzungen gestellt, und zwar mit den Stimmen derSPD-Fraktion. Es waren nicht Sie, die die Branche insArbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen hat, unddie CDU/CSU-Fraktion, die das an Bedingungen ge-knüpft hat, sondern die frühere Regierung und die sietragenden Fraktionen haben gemeinsam diese Brancheins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen undgleichzeitig den Erlass einer Mindestlohnverordnungdurch die Regierung an bestimmte, wohldurchdachte Vo-raussetzungen geknüpft, und die sind leider nicht erfüllt.Deswegen konnte es hier nicht zum Erlass einer Min-destlohnverordnung kommen. Das ist die Wahrheit,meine Damen und Herren, nicht aber die Legendenbil-dung, die von anderer Seite betrieben wird.
Die Zweckgemeinschaft von Mitgliedsunternehmendes Bundesverbandes der Träger Beruflicher Bildung,die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft und die Ge-werkschaft Erziehung und Wissenschaft haben am12. Mai letzten Jahres einen Mindestlohntarifvertragabgeschlossen und für diesen Tarifvertrag beim Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales die Allgemeinver-bindlicherklärung beantragt. Das Bundesministerium fürArbeit und Soziales hat unter Leitung des damaligenMinisters Olaf Scholz den Tarifausschuss an diesem Ver-fahren beteiligt. Dieser Ausschuss hat sich in seiner Sit-zung am 31. August letzten Jahres mit diesem Themabefasst. Die drei Arbeitgebervertreter haben gegen, diedrei Arbeitnehmervertreter für den Verordnungserlassgestimmt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zudem, was gestern von der grünen Fraktion beispiels-weise im Ausschuss fälschlicherweise behauptet wurde,nämlich dass das die generelle Linie der BDA und derArbeitgeberverbände sei, ist diese Entscheidung im letz-ten Jahr die Ausnahme gewesen, und zwar die einzigeAusnahme. Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendege-setz im letzten Jahr um mehrere Branchen erweitert, undwir haben in der Großen Koalition vereinbart, dass dieje-nigen Branchen, die erstmals einen Tarifvertrag schlie-ßen und die Allgemeinverbindlicherklärung beantragen,mit ihren Verträgen dann auch durch den Tarifausschussmüssen. Dies waren fünf Branchen. Es hat im letztenJahr drei 6 : 0-Entscheidungen gegeben. Bei den textilenDienstleistungen, bei den Bergbauspezialarbeiten und inder Entsorgungswirtschaft war es Konsens im Tarifaus-schuss, diese Branchen ins Entsendegesetz aufzuneh-men, und so ist es passiert. In zwei Branchen gab es kei-nen Konsens. Bei den Sicherheitsdienstleistungen habendie Gewerkschaftsvertreter des DGB dagegen gestimmt
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und damit verhindert, dass Menschen, die im Sicher-heitsbereich tätig sind, deutlich höhere Mindestlöhne be-kommen, die der CGB gegenüber den Verdi-Tarifverträ-gen in verschiedenen Ländern ausgehandelt hat. Das wardie souveräne Entscheidung der Gewerkschaftsvertreter.Nur bei der Weiterbildungsbranche hat die BDA dage-gengestimmt. Das Ergebnis der Abstimmungen war alsodreimal 6 : 0 und zweimal 3 : 3; einmal gab es Gegen-stimmen der Arbeitgeber, einmal Gegenstimmen der Ge-werkschafter. Das zeigt, dass sich die Mitglieder des Ta-rifausschusses mit den einzelnen Branchen durchaussorgfältig beschäftigt haben.Es ist Aufgabe des Bundesarbeitsministeriums, zuprüfen, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung im öf-fentlichen Interesse liegt. Dabei ist ganz klar das Inte-resse derer, die die Allgemeinverbindlichkeit beantra-gen, gegen das Interesse derjenigen abzuwägen, diedurch eine solche Verordnung dann auch gebunden wür-den. Das war die Aufgabe, die sich für das Bundesminis-terium für Arbeit und Soziales gestellt hat.In diesem Zusammenhang spielt selbstverständlichdie Tarifbindung eine wichtige Rolle. Zur Ermittlung derTarifbindung hat das Bundesarbeits- und -sozialministe-rium in einem aufwendigen Verfahren und mit sorgfälti-ger Prüfung alle erreichbaren Statistiken ausgeschöpft,was in dieser Branche deutlich schwieriger ist als in an-deren. Trotz intensiver Prüfung war eine sichere Daten-basis nicht zu erlangen, aber selbst unter Zugrundele-gung der von den Tarifvertragsparteien des Mindest-lohntarifvertrages vorgetragenen und für sie günstigstenZahlen ergibt sich, dass die Tarifbindung allenfalls25 Prozent beträgt. Ein Tarifvertrag mit vergleichbarniedriger Tarifbindung ist in der Vergangenheit noch nieGegenstand einer Verordnung nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz gewesen. Das ist keine neue Politik derchristlich-liberalen Koalition, sondern es ist eine Konti-nuität in der Politik der Bundesregierung auch aus dervergangenen Zeit, weil jede Bundesregierung an Rechtund Gesetz gebunden ist und nicht an persönliche Be-findlichkeiten einzelner Akteure. Darum geht es hier.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, das geteilte Votum des Tarifausschusses unter-streicht von daher die Einschätzung, dass die erforderli-che Repräsentativität der Mitglieder der Zweckgemein-schaft und damit das erforderliche öffentliche Interesseam Erlass der Verordnung nicht gegeben sind. Das istkeine generelle Linie einer Tarifvertragspartei, einesTeils des Tarifausschusses, sondern das war im letztenJahr in diesem Ausnahmefall ein Votum, sicherlich auchvor dem Hintergrund der Repräsentativität.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern?
Die Kollegin Kramme möchte Ihnen noch eine Frage
stellen.
D
Sehr gern. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Brauksiepe. – Ich habe folgende
Frage an Sie: Ist es richtig, dass ein Beamter des Minis-
teriums für Arbeit und Soziales in der Ausschusssitzung
am gestrigen Tag erklärt hat, bei der Auslegung des Be-
griffs „öffentliches Interesse“ gebe es einen politischen
Ermessensspielraum? Ist diese Aussage nur dahin ge-
hend zu verstehen, dass die Möglichkeit besteht, diesen
Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären?
D
Frau Kollegin Kramme, es ist gestern im Ausschussvon allen damit befassten Vertretern der Bundesregie-rung zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Be-griff des öffentlichen Interesses selbstverständlich einerAusfüllung bedarf; das ist kein Geheimnis. Nicht nur dasSozial- und das Arbeitsrecht haben eine Fülle von unbe-stimmten Rechtsbegriffen. In vielen Gesetzen steht dasWort „angemessen“, das konkretisiert werden muss. Na-türlich muss auch der Begriff „öffentliches Interesse“konkretisiert werden.Gestern im Ausschuss ist das deutlich geworden, wasich hier noch einmal sagen will: Für uns ist bei der Beur-teilung, ob ein öffentliches Interesse besteht, wesentlich– das ist nichts Neues –: Wer soll über wen entscheiden,und wie wird das von den branchenübergreifenden Tarif-vertragsparteien gesehen? – Wenn im günstigsten Fall25 Prozent über 75 Prozent entscheiden sollen, dann istdas für uns kein öffentliches Interesse,
vor allem wenn gleichzeitig im Tarifausschuss keineMehrheit ein öffentliches Interesse feststellt.
Nichts anderes ist gestern im Ausschuss gesagt worden,und das ist auch sachgerecht.
Die Frage von Mehrheit und Minderheit spielt alsoeine Rolle. Hier gibt es keine Mehrheit, die tarifgebun-den ist. Alle diese Fakten sind den Antragstellern seitmehr als einem Jahr bekannt und sind mehrfach im Ge-spräch mit ihnen erörtert worden.Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt gefor-dert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mitgliederzu gewinnen, um so zu einer höheren Tarifbindung inder gesamten Branche zu kommen.Das Ministerium konnte zum jetzigen Zeitpunktnichts anderes tun, als dieses Verfahren mit einer Ableh-nung abzuschließen,
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weil es an Gesetz und Recht gebunden ist. Die Bindungan Gesetz und Recht wird das Handeln des Bundesar-beitsministeriums auch weiter bestimmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Agnes Alpers für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau von
der Leyen hat am Montag den Branchenmindestlohn in
der Weiterbildung beerdigt, einfach so; keine Gespräche
mit den Verbänden, keine ausreichende Begründung.
Gestern hat Herr Staatssekretär Brauksiepe im Aus-
schuss für Arbeit und Soziales die Entscheidung damit
begründet, dass das öffentliche Interesse fehlt. Aller-
dings stellte ein Referent aus dem Ministerium kurz da-
rauf fest, dass das öffentliche Interesse gar nicht defi-
niert ist.
Ich schließe daraus: Sie hätten, wenn Sie gewollt hät-
ten, Herr Brauksiepe, trotz „25 Prozent“ – es ist nicht de-
finiert! – den Branchenmindestlohn durch eine Rechts-
verordnung erlassen können. Sie hätten handeln können.
Sie haben gehandelt, aber politisch. Sie wollen nämlich
keinen Branchenmindestlohn in der Weiterbildung. Dies,
Herr Brauksiepe, erklären Sie doch bitte mal meinen
Kolleginnen und Kollegen in Bremen!
Herr Brauksiepe, erinnern Sie sich noch? Anfang ver-
gangenen Jahres, als die Weiterbildungsbranche ins Ent-
sendegesetz aufgenommen wurde, haben Sie gesagt:
Deshalb ist dieser Tag heute ein großer Tag für die
christlich-soziale Bewegung in Deutschland. … Es
ist immer schon der Anspruch der Christdemokra-
ten gewesen … das Richtige zu tun.
Aber hier zählen keine Ansprüche, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU; hier zählen Taten.
Ihre Taten gehen genau in die falsche Richtung. Heute
verhindern Sie den Mindestlohn, und morgen kommt
auch noch Ihr sogenanntes Sparpaket in der Arbeitsför-
derung. Die Bundesregierung will da im nächsten Jahr
um 2 Milliarden Euro kürzen. Die Qualität wird schlech-
ter, der Kampf um den niedrigsten Preis wird härter, und
die Löhne werden geringer. Das ist weder christlich noch
sozial.
Dennoch ist es erstaunlich, dass der vorliegende An-
trag ausgerechnet von der SPD kommt. Noch im Januar
2009 brüstete sich ihr damaliger Arbeitsminister Scholz
mit der Aufnahme der Weiterbildungsbranche in das
Entsendegesetz. Es könne nicht sein, dass ausgebildete
Akademikerinnen und Akademiker zu Löhnen beschäf-
tigt werden, die nicht in Ordnung sind, um Erwerbslosen
gute Berufe beizubringen und zu zeigen, wie man gut ar-
beitet. Irgendwie komisch. Dabei haben Sie unter Rot-
Grün mit der Einführung der Hartz-Gesetze bei den Wei-
terbildungsmaßnahmen im SGB II und III massiv ge-
kürzt und durch das Vergaberecht die Preise gedrückt.
Seitdem gingen dadurch bundesweit über 30 000 sozial-
versicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. Die übri-
gen Beschäftigten hatten Lohneinbußen von bis zu
30 Prozent.
Nun sitzen Sie hier und spielen den großen Retter der
Weiterbildungsbranche. Dabei hätten Sie doch schon in
der letzten Wahlperiode in der Großen Koalition den
Mindestlohn durchsetzen können.
Ich frage Sie: Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen
und der CDU/CSU sowie der FDP, wenn es um die Taten
geht?
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Ab-
lehnung der Einführung eines Mindestlohns in diesem
Bereich rückgängig zu machen und das Vergaberecht der
Bundesagentur zu ändern. Preisdiktate in Ausschrei-
bungsverfahren führen bei Bildungsträgern zwangsläu-
fig zu Qualitätseinbruch und Dumpinglöhnen.
Für uns Linke bleibt es dabei: Einführung eines Min-
destlohns und gute Tarife für alle.
Vielen Dank.
Das Wort hat Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Mast, ich habe mich sehr gefreut, dass
Sie eben so empathisch, ruhig und mit klaren Worten Ih-
ren Antrag vorgebracht haben.
– Empathisch und sympathisch liegen nahe beieinander,
müssen aber nicht immer identisch sein. Ich würde aber
so weit gehen, zu sagen: Bei der Kollegin Mast ist es
identisch.
– Ich würde mich freuen, wenn mich auch die eigene
Fraktion eventuell zum Thema kommen ließe.
Ich finde aber, dass es nicht angeht, wie sich die SPD
ansonsten zum Thema eingelassen hat. Die Kollegin
Kramme ist zwar immer für deutliche Worte gut; aber
wenn sie sagt, die Regierung verweigere die Unterschrift
oder das sei ein Skandal und ein Schlag ins Gesicht der
Beschäftigten: Sie von der SPD holzen hier schon ziem-
lich.
Da fällt mir das gute Goethe-Wort ein: „Durch Heftig-
keit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an
Kräften fehlt.“
Ich habe das Gefühl, das trifft auch hier zu; denn wenn
Sie so heftige Worte wählen müssen, wird es dafür auch
einen Grund geben.
Ehe Sie von Hungerlöhnen sprechen, wäre es viel-
leicht als erster Schritt für eine ernsthaftere Beschäfti-
gung mit dem Thema gut, wenn Sie uns belastbare Daten
zur Lohnsituation in der Weiterbildung vorlegen würden.
Es gab ja eine entsprechende Anfrage der Linken an die
Bundesregierung. Deren Antwort stützt sich auf Daten
aus dem Dezember 2009. Ich möchte nur einige Aussa-
gen daraus vortragen: Wir haben 215 000 Personen in
der Weiterbildung, 155 000 davon arbeiten sozialversi-
cherungspflichtig in Vollzeit, 13 000 davon, ein kleiner,
aber nennenswerter Teil, bezieht ergänzende Leistungen
aus dem Arbeitslosengeld II. All das ist richtig. Es liegen
uns allerdings keinerlei Daten über den Haushaltskon-
text der Betroffenen vor. Wenn man dann berücksichtigt,
dass diese 13 000 Personen im Durchschnitt 700 Euro
ergänzendes ALG II beziehen, ist es wohl eher nicht so,
dass es sich um alleinstehende Personen handelt, die in
Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, aber zu niedrige Löhne
bekommen. Dieses wirkt eher so, als sei der Anspruch
entstanden, weil diese Personen eine Familie mit hohen
Ansprüchen haben und eine große Bedarfsgemeinschaft
bilden.
Natürlich ist jedes einzelne Lohnproblem eines zu
viel. Aber wenn Sie hier alle über einen Kamm scheren,
von Hungerlöhnen sprechen und behaupten, das Pro-
blem sei mit einem für allgemeinverbindlich erklärten
Mindestlohn zu lösen, dann machen Sie es sich zu ein-
fach.
– Liebe Kollegin Mast, ich war eben so nett zu Ihnen,
ich möchte aber jetzt an dieser Stelle weiterkommen.
Die Zeit ist durch das kleine charmante Geplänkel eben
leider schon sehr weit fortgeschritten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Mast?
Nein, ich habe ihr gerade erklärt, warum nicht.Ich will zur nächsten Behauptung kommen: Die Bun-desregierung verweigere eine Unterschrift. Ich bin gro-ßer Anhänger der Gewaltenteilung; dazu können wirgerne politische Positionen austauschen. Die Bundesre-gierung kann jedenfalls immer noch selbst entscheiden,ob sie etwas für allgemeinverbindlich erklärt oder ebennicht. Das muss sie natürlich auf der Grundlage von kla-ren Kriterien und einer gründlichen Prüfung machen.Liebe Kollegin Mast, ich würde schon sagen – derParlamentarische Staatssekretär hat es eben ausgeführt –,dass es gute Gründe gibt, im Falle der Weiterbildungs-branche zu sagen: Hier ist möglicherweise weder Reprä-sentativität noch öffentliches Interesse gegeben.
Im Tarifausschuss gab es nämlich keine Mehrheit füreine entsprechende Regelung. Die Kollegin Müller-Gemmeke wird bestimmt gleich darauf hinweisen, dasses nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz keine Mehr-heit im Tarifausschuss geben muss.
Trotzdem muss die Regierung klare Kriterien suchen.
Da liegt es nicht fern, die Kriterien des Tarifvertragsge-setzes anzulegen. Es macht Sinn, dass es eine Mehrheitim Tarifausschuss geben muss, bevor irgendetwas fürallgemeinverbindlich erklärt wird.Der Tarifausschuss wird nicht ohne Grund einge-schaltet. Er ist dafür da, die volkswirtschaftliche Ge-samtsicht herzustellen. Der Parlamentarische Staatsse-kretär hat es ausgeführt: Bei anderen Branchen gab esauch in letzter Zeit ein einstimmiges Votum im Tarifaus-
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schuss. Hier war das eben nicht der Fall. Deshalb gibt esgute Gründe, hier die Allgemeinverbindlichkeit abzuleh-nen.
Auch Repräsentativität ist nicht gegeben. Wenn dieBindungswirkung des Tarifvertrags bei 45 oder 47 Pro-zent läge, könnte man noch darüber diskutieren, ob manihn nicht vielleicht trotzdem für allgemeinverbindlich er-klären sollte. Hier sind aber maximal 25 Prozent der Ar-beitnehmer an den Tarifvertrag gebunden. Da ist die Re-präsentativität nicht fraglich, sondern fern. Es wärefalsch, wenn hier ein Minderheitsinteresse über das Mehr-heitsinteresse dominieren würde.
Deshalb ist es auch unter dem Gesichtspunkt der Reprä-sentativität richtig, das Ganze abzulehnen.Liebe Frau Kollegin Mast, ich nehme die Koalitions-freiheit sehr ernst. Ich finde es gut, wenn sich Arbeitge-ber und Arbeitnehmer organisieren und gemeinsam fürdie Lohnfindung zuständig sind. Ich nehme die Koali-tionsfreiheit auch dadurch ernst, dass ich nicht politischdefiniere, wann mir das Ergebnis passt. Ich habe das Ge-fühl, Sie halten den Wert der Koalitionsfreiheit nur dannhoch, wenn Ihnen das politische Ergebnis zupasskommt.Das hat nichts mit dem Wert der Tarifautonomie und derKoalitionsfreiheit in Deutschland zu tun.
– Hier geht es um die Würde der Arbeit. Es geht aberauch darum, dass wir faire Bedingungen brauchen. Min-derheitsinteressen dürfen hier nicht Mehrheitsinteressendiktieren.
Deshalb ist es richtig, dass die Allgemeinverbindlichkeithier abgelehnt wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf?
Beim Kollegen Schaaf kann ich natürlich nicht Nein
sagen.
Das ist jetzt nicht ganz so charmant.
Herr Kollege Vogel, ich danke Ihnen sehr. Ich hätte
zwar mit einer ähnlich charmanten Absage wie bei der
Kollegin Mast gerechnet; aber Sie haben wahrscheinlich
einkalkuliert, dass ich dann eine Kurzintervention hin-
terherschiebe.
Das wäre nicht so schlimm. Dann könnte ich ja ant-
worten.
Ich möchte eine Anmerkung machen. Das Verhältnis
der Minderheit zur Mehrheit ist so eine Sache. Es gibt in
Bezug auf die Mindestlohnregelung eine Lex FDP. Ei-
gentlich kann der Arbeitsminister oder die Arbeitsminis-
terin einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklä-
ren. In Ihrem Fall – so haben Sie das vereinbart – darf
die Minderheit im Kabinett, nämlich die FDP, das ver-
hindern. Da könnte man fragen: Wie steht es hier um das
Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit? Aber das lasse
ich jetzt einmal.
Die Frage, die ich konkret stellen und von Ihnen be-
antwortet bekommen möchte, bezieht sich auf das öf-
fentliche Interesse. Hier wurde deutlich gesagt, es gebe
kein besonderes öffentliches Interesse, den Tarifvertrag
für allgemeinverbindlich zu erklären. In diesem Falle ist
es mit dem öffentlichen Interesse so eine Sache; denn
hier werden Dritte im Auftrage des Staates tätig, nämlich
im Auftrag der BA. Hier stellt sich die Frage, ob es ein
besonderes öffentliches Interesse gibt. Würden Sie aus-
drücklich ausschließen, dass das besondere öffentliche
Interesse, das dahinterstecken könnte, darin liegt, dass
die BA höhere Aufwendungen hätte, wenn man in der
Weiterbildungsbranche mehr Geld zahlen würde? Das
könnte das besondere Interesse sein, das zu der politi-
schen Entscheidung geführt hat, hier keine Mindestlöhne
einzuführen.
Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie werben immer fürfaire Löhne. Ich glaube, wir alle wollen faire Löhne.
Es geht aber auch um faire Regeln in der Demokratie.Die faire Regel lautet hier: Eine Erklärung der Allge-meinverbindlichkeit – das ist ein Eingriff – kann es nurgeben, wenn der Verfahrensweg, der vereinbart wordenist, eingehalten wird, nämlich wenn es zunächst eine Be-fassung im Tarifausschuss dazu gibt und die Bundesre-gierung auf der Grundlage dieser Befassung entscheidenkann. Die Zusammensetzung der Bundesregierung folgtdemokratischen Regeln. Insofern kann ich hier keineMinderheitsblockade durch die FDP erkennen. Wir ha-ben nämlich ein vereinbartes demokratisches Verfahren,das eingehalten wird.
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Johannes Vogel
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Insofern glaube ich, dass Ihre Frage ins Leere geht.Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung klare Kri-terien hat, um zu definieren, ob ein öffentliches Interessevorliegt. Deshalb orientiert sie sich am Votum des Tarif-ausschusses, der dafür da ist – ich habe es schon gesagt –,die volkswirtschaftliche Gesamtsicht herzustellen. Auchin diesem Fall geht es um eine Wirtschaftsbranche, auchwenn hier öffentliche Auftraggeber im Spiel sind. Sie ha-ben das Verfahren doch erfunden.
Es ist richtig, dass wir es vernünftig anwenden und nichtbehaupten, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktie-ren können.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ichhabe das Gefühl, dass Ihr Antrag – Herr Kollege Schaaf,Sie können sich setzen; ich komme zum Schluss – insge-samt eher auf die Innenwirkung abzielt. Ich glaube, es isteine Art Olaf-Scholz-Gedächtnisantrag. Sie wollen nach-träglich legitimieren, dass in der letzten Legislaturperiodealle Register gezogen wurden, um verschiedene Bran-chen einzubringen, und täuschen die Öffentlichkeit mitIhrem rhetorischen Geholze.
Das finde ich unredlich.Sie übersehen, dass alles dagegenspricht: Man kannweder von grassierenden Dumpinglöhnen in der Branchesprechen,
noch gibt es eine Repräsentativität. Wir wollen ebennicht, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktieren. Esgibt auch kein öffentliches Interesse, weil der Tarifaus-schuss nicht dafür ist. Insofern freue ich mich auf dieDiskussion im Ausschuss. Es gibt noch spannende De-tailfragen zu klären. Wir können unseren Disput im Aus-schuss gerne fortsetzen.
Um die Koalition bzw. die FDP von Ihrem Antrag zuüberzeugen, müssen Sie sich schon noch bessere Argu-mente einfallen lassen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Der Weg ist frei für einen Mindest-lohn, so lautete Anfang 2009 die frohe Botschaft, als dieWeiterbildungsbranche ins Entsendegesetz aufgenom-men wurde. Nun ist die Euphorie verflogen. Am letztenMontag ging der Brief der Bundesregierung an die An-tragsteller heraus. In ihm heißt es lapidar: Ein öffentlichesInteresse liegt nicht vor. Der Mindestlohn ist abgelehnt. –Es wurde keine Begründung genannt. Da verschlägt esmir fast die Sprache.
Gestern im Ausschuss – es wurde schon angespro-chen – hat Herr Staatssekretär Brauksiepe auf Nachfragedas fehlende Interesse mit der niedrigen Tarifbindungbegründet. Ich kann nur sagen: Ich finde es unglaublich,dass dem Ministerium wohl nicht bekannt ist, welcheKriterien bei der Prüfung des öffentlichen Interesses an-gelegt werden müssen. Laut einer Grundsatzentschei-dung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre1977 liegt ein öffentliches Interesse vor, wenn eine Ge-fährdung des Arbeitsfriedens durch eine Aushöhlung desTarifvertrags vorliegt oder wenn durch eine AVE für Au-ßenseiter, also Beschäftigte ohne Tarifvertrag, angemes-sene Arbeitsbedingungen gesichert und damit Lohndrü-ckerei und sogenannte Schmutzkonkurrenz beseitigtwerden können.
Die niedrige Tarifbindung ist also kein Ablehnungs-grund, im Gegenteil.
Legt man die Kriterien des Bundesverfassungsgerichtsan, dann ist der Mindestlohn in der Weiterbildungsbran-che sehr wohl im öffentlichen Interesse.
Die Prüfung des Bundesarbeitsministeriums ist also völ-lig verfehlt.Ein paar Worte zur Branche selbst. Sie betonen immerwieder: Bildung, Arbeitsmarktintegration, aber auch derFachkräftemangel stehen im Mittelpunkt Ihrer Politik. –Doch nun müssen viele Lehrkräfte weiter unter schlech-ten oder sogar prekären Bedingungen arbeiten. Wir dür-fen nicht vergessen: Wir reden über Beschäftigte, derenAufgabe es ist, erwerbslose oder von Arbeitslosigkeit be-drohte Menschen zu qualifizieren. Ich kenne die Branche.Ich war nämlich früher dort tätig. Anhaltender Preisver-fall für Bildungsmaßnahmen, beispielloses Lohndum-ping und massive Tarifflucht der Arbeitgeber – das ist dieRealität. Die Beschäftigten haben zum großen Teil einenHochschul- oder Fachhochschulabschluss, und doch wer-den sie behandelt wie Pädagogen zweiter Klasse.
Bedenken Sie auch, dass der Mindestlohn nur ein ers-ter Schritt in die richtige Richtung wäre; denn viele, diein dieser Branche arbeiten, sind Selbstständige und Ho-norarkräfte. Auch sie müssen Arbeitsbedingungen undHonorare hinnehmen, die alles andere als angemessensind. Deswegen sind neben Mindestlöhnen auch Min-
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6908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Beate Müller-Gemmeke
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desthonorare notwendig, um dieser besonderen Branchegerecht zu werden. Ich appelliere an die Regierungsfrak-tionen und übrigens auch an die Gewerkschaften: Befas-sen Sie sich auch mit diesem Thema! Vor allem aber re-vidieren Sie Ihre Meinung zum Mindestlohn! Setzen Siesich für die Einführung des Mindestlohns ein!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, am letzten Donnerstag sagte Ministerinvon der Leyen bei Maybrit Illner, es sei absolut richtig,dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Mindestlöhne fürEinzelbranchen aushandeln können.Warum zeigen Sie eigentlich keine Geschlossenheit?Warum unterstützen Sie Ihre Ministerin nicht? Warumsetzen Sie sich nicht einmal gegen die FDP durch? Ichgehe davon aus, dass die FDP auch bei diesem Mindest-lohn wieder auf der Bremse stand.
Zeigen Sie der FDP bei diesem Thema endlich einmalKante. Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern: WirGrünen werden bei diesem Thema nicht aufgeben. Wirstreiten so lange mit Ihnen, bis Sie endlich die Realitätauf dem Arbeitsmarkt zur Kenntnis nehmen und Min-destlöhne im Sinne der Beschäftigten einführen.Vielen Dank.
Liebe Kollegin, Sie haben uns pünktlich zu Ihrem
50. Geburtstag das Geschenk einer Rede gemacht. Herz-
lichen Dank und Gratulation zu Ihrem Geburtstag!
Ich erteile nun Kollegen Ulrich Lange für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, auch ichgratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag. Wir be-schäftigen uns heute mal wieder mit dem Thema Min-destlohn.
Frau Müller-Gemmeke, es geht Ihnen nicht nur um dieWeiterbildungsbranche, sondern auch um das Thema„Mindestlohn im Allgemeinen“.
Dagegen möchte ich meinen heutigen Beitrag ganzkonkret auf die Branche beschränken. Der StaatssekretärBrauksiepe hat die Daten bereits vorgelegt. Es stehtkeine Entscheidung aus. Der Tarifausschuss hat mit 3 : 3abgestimmt. 3 : 3 heißt: keine positive Entscheidung.
Bevor wir jetzt in die Diskussion über das öffentlicheInteresse einsteigen, sollten wir uns einem kleinenGrundlagenseminar zum Thema Tarifrecht widmen. Ichhabe mir gestern Abend die Mühe gemacht, den Kom-mentar von Däubler zum TVG herauszusuchen. Ich binfroh, dass ich ihn mitgenommen habe, und hoffe, dassich hier nicht in die falsche Ecke gestellt werde.
– Ja. Aber wichtig im Zusammenhang mit der Allge-meinverbindlicherklärung ist die Definition des Begriffs„öffentliches Interesse“. – Es ist ganz klar festzuhalten,dass die Exekutive, also das Ministerium, diese Frage invöllig eigenständiger Verantwortung prüft;
das hatte der Herr Kollege Vogel vorhin schon einmal inaller Deutlichkeit gesagt.Frau Kollegin Kramme, in der gestrigen Ausschuss-sitzung waren wir uns alle einig, dass es einen breitenBeurteilungsspielraum und ein weites normatives Er-messen gibt. Sie werden dem Ministerium am Endenicht vorhalten können – nur dann bestünde der An-spruch –, dass ein Nullermessen oder ein Ermessensfehl-gebrauch vorliegt. Ich glaube nicht, dass Sie zu dieserEinschätzung kommen können. Nur dann, wenn das Er-gebnis schlechthin unvertretbar ist, würde überhaupt einAnspruch auf die Einführung eines Mindestlohnes überdie Allgemeinverbindlichkeit bestehen – sonst nicht.
– Wir sind gerade bei der Definition des öffentlichen In-teresses.
Ich habe gerade gesagt, dass wir im Ausschuss gerne einGrundlagenseminar abhalten können, bevor wir hier wirrdurcheinanderreden und über Begriffe reden, die wirmanchmal nicht richtig ausfüllen können.
Schreiben Sie sich bitte ganz dick in Ihr Buch hinein:Die Allgemeinverbindlichkeit ist Ausdruck der Subsi-diarität und kann nur in dieser Funktion konkretisiertwerden. Auch das müssen Sie in die Abwägung einbe-ziehen. Genau das hat das Ministerium getan.
Im Rahmen dieser Abwägung spielt es natürlich eineRolle, ob Repräsentativität gegeben ist oder nicht. Bitte
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6909
Ulrich Lange
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bedenken Sie, dass wir hier über ein grundgesetzlich ge-schütztes Recht sprechen. Wir reden über die Koalitions-freiheit, auch über die negative Koalitionsfreiheit, einemTarifvertrag nicht beizutreten. Das müssen Sie in die Ab-wägung einbeziehen.
Wir werden nicht die Hand dazu reichen, den Vorrangder autonomen Regelungsmacht der Tarifvertragspar-teien durch eine rundum gültige Allgemeinverbindlich-keit von Tarifverträgen auszuhöhlen. Sie versuchen,damit durch die Hintertür den gesetzlichen flächende-ckenden Mindestlohn einzuführen.
Bitte halten Sie sich an Recht und Gesetz! Manchmalhilft auch ein Blick in das Grundgesetz.
Liebe Kollegin Mast, Sie hatten in einem Punkt recht:Die SPD hatte das BMAS viele Jahre in Händen.
Ich werde jetzt ein paar Zahlen nennen, um deutlich zumachen, wie die Situation wirklich ist: 2009, als Sie denBundesarbeitsminister stellten, hatten wir in Deutsch-land rund 71 000 Tarifverträge. 2009 hatten wir 463 fürallgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge; das sind0,65 Prozent. Diese Tarifverträge galten in erster Liniefür die Baubranche im Rahmen von Ausgleichs- und Ur-laubskassen. Wir haben aber nur – das gilt für Ihre Zeit –44 Tarifverträge im Entgeltbereich im engeren Sinn; die-sen Bereich wollen Sie hier regeln. Also tun Sie nicht so,als hätten wir eine Lücke geschaffen oder als würden wireine Lücke nicht schließen. Sie hätten diese Lücke längstschließen können, wenn Sie damals dieser Ansicht ge-wesen wären.
Ich fasse zusammen: Bundesarbeitsministerin von derLeyen hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Sie hatordnungsgemäß geprüft. Sie weigert sich aber – wir wei-gern uns auch –, eine Allgemeinverbindlicherklärungnach politischen Opportunitätsgesichtspunkten abzuge-ben. Nehmen Sie im Sinne von Recht und Gesetz IhrenAntrag zurück!Herzlichen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Michael Gerdes für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrLange, zunächst einmal herzlichen Dank für die Nach-hilfe in Sachen öffentliches Interesse. Ich komme gleichdarauf zurück und sage, wie ich das definieren würde.Wir haben in dieser Woche eine Hiobsbotschaft erhal-ten: Frau von der Leyen hat es abgelehnt, den Tarifver-trag für Beschäftigte in der Aus- und Weiterbildung imRahmen von SGB II und III für allgemeinverbindlich zuerklären. Die Regierung lehnt also einen Mindestlohn abund schaut damit dem Lohndumping in dieser Branchetatenlos zu. So muss man das sehen.
Herr Vogel, da hilft auch kein Zitat von Goethe. DieBegründung für die Entscheidung des BMAS bleibtnicht nachvollziehbar. Es liegt kein öffentliches Interessevor? Liegt es nicht im öffentlichen Interesse, Bildungs-anbieter für ihre Arbeit angemessen zu bezahlen? GuteBildung braucht Qualität, und – das haben wir geradevon Frau Mast gehört – Qualität hat ihren Preis. HerrStaatssekretär Brauksiepe, liegt tatsächlich kein öffentli-ches Interesse vor, wenn der Tarifvertrag für mehr als23 000 Beschäftigte gelten würde? Das ist völlig inak-zeptabel. 23 000 Menschen sind keine kleine Gruppe.Hier geht es um Tausende Ausbilder, Meister, Lehrkräfteund Sozialpädagogen. Da hilft kein Schönreden. Was sa-gen Sie den Betroffenen?
Wir erwarten äußerst viel von der Weiterbildungs-branche: Sie soll Berufstätige weiterqualifizieren, siesoll den drohenden Fachkräftemangel abwenden, sie sollArbeitslose für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarktfitmachen, und sie soll Menschen mit Migrationshinter-grund in unsere Gesellschaft integrieren. Kurz gesagt:Die Branche wird in politischen Sonntagsreden zumHeilsbringer hochstilisiert und soll helfen, unsere drin-gendsten gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Weiter-bildung wird mit Wohlstand und Teilhabe gleichgesetzt.Da sind wir uns alle einig, im Handeln aber nicht. In derPraxis können Weiterbilderinnen und Weiterbilder ihreAufgaben nicht erfüllen, weil ihnen schlichtweg die Mit-tel fehlen. Das fängt beim Unterrichtsmaterial an undhört bei den Gehältern auf. Die notwendigen Investitio-nen in die Weiterbildung sind unterblieben. Wenn Wei-terbildung eine echte und tragfähige Säule in unseremBildungssystem werden soll, müssen wir für eine solideFinanzierung sorgen.
Nachhaltig finanzierte Weiterbildung ist die beste Formder aktiven Arbeitsmarktpolitik.Viele hochqualifizierte Lehrkräfte müssen trotzHochschulabschluss mit einem Bruttoeinkommen zwi-schen 1 200 und 1 800 Euro auskommen. Manche sindgezwungen, ihren Lebensunterhalt durch Leistungennach dem SGB II aufzustocken. Ich frage Sie: Ist dasnicht an der Grenze zum Hungerlohn?
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Michael Gerdes
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– „Das ist Hungerlohn“, sagt mein Kollege.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert gemeinsam mitden Gewerkschaften einen Mindestlohn für die Weiter-bildungsbranche.
Ich habe den Eindruck, dass einige Redebeiträge nichtvon praktischer Erfahrung getragen sind. Deswegenmöchte ich meine Gründe für diese Forderung darlegen.Mindestlöhne sind ein Garant für faire Arbeitsbedingun-gen, weil sie die Existenz sichern. Mindestlöhne verhin-dern Lohndumping. Mindestlöhne verhindern Altersarmutund machen unabhängig von staatlichen Transferleistun-gen.
Mindestlöhne wirken sich positiv auf die Marktwirt-schaft aus, weil sie die Nachfrage stärken. Und Mindest-löhne fördern die Gleichberechtigung, weil momentanvor allem Frauen von Niedriglöhnen betroffen sind. Soviele Argumente sind kein öffentliches Interesse?Zu Ihrer Anmerkung, die Erde sei eine Scheibe,möchte ich sagen: Dies war über viele Jahre eine aner-kannte Lehre. Irgendwann hat sich etwas geändert, undwir haben festgestellt, dass die Erde eben keine Scheibeist, Herr Kollege, sondern rund.
Deswegen haben Sie vielleicht noch die Chance, irgend-wann festzustellen, dass Mindestlöhne europaweit aner-kannt sind und in der EU als Selbstverständlichkeit gel-ten.
Meine Damen und Herren, Herr Lange, wir werdenjedenfalls nicht mal wieder, sondern immer wieder andiesem Thema festhalten.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3173 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg , Albert Rupprecht (Wei-
den), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
ordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –
Fachkräftepotentiale ausschöpfen
– Drucksache 17/3048 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Priska Hinz , Fritz Kuhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Strategie statt Streit – Fachkräftemangel be-
seitigen
– Drucksache 17/3198 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Als erster Rednerzu diesem Tagesordnungspunkt
– die Letzten werden die Ersten sein; das ist richtig –möchte ich zum Anfang meiner Rede auf die Debattevon heute Morgen zurückkommen. Die Staatsministerinhat zu Recht gesagt, dass ein solches Anerkennungsge-setz ein Meilenstein in der Integrationspolitik sein wird.Diese Ansicht teilen wir ausdrücklich.
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Marcus Weinberg
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Ich komme deswegen auf die Debatte von heute Mor-gen zurück, weil ich glaube, dass dort, aber auch in derIntegrationsdebatte insgesamt einiges falsch dargestelltworden ist. Zwei Punkte haben mich besonders geärgert.Der eine ist, dass von der Opposition immer wieder derEindruck erweckt wurde, dass sich in den letzten Jahrenbei der Integration nichts verändert hätte. Da muss manganz deutlich sagen: Das ist falsch. Ich zitiere einmal ausdem Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010.Dort heißt es:Sie– die Integration –ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Berei-chen durchaus zufriedenstellend oder sogar gutgelungen. Zudem stehen beide Seiten der Einwan-derungsgesellschaft den Anforderungen von Zu-wanderung und Integration pragmatisch und zuver-sichtlich gegenüber.Weiter heißt es:Die deutschen Regelungen zu Migration und Inte-gration unterscheiden sich in ihren Grundelementenkaum mehr von denen der europäischen Nachbarn.Sie sehen, es gibt einen Prozess, der durchaus zufrie-denstellend ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Alpers von der Linksfraktion?
Ja, bitte.
Herr Kollege, Sie haben gerade betont, welche Ent-
wicklungen es bei der Integration gab. Ich glaube, auch
Sie haben zur Kenntnis genommen, dass im Berufsbil-
dungsbericht explizit hervorgehoben wurde, dass junge
Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt
einen schlechteren Schulabschluss haben als junge Men-
schen ohne Migrationshintergrund, dass sie aber selbst
dann, wenn sie einen gleichwertigen Schulabschluss
oder sogar gleiche bzw. bessere Noten als Menschen
ohne Migrationshintergrund haben, nicht integriert wer-
den, weil sie zum Beispiel Ali heißen. Im Berufsbil-
dungsbericht wird die Frage aufgeworfen, warum das so
ist. Wie passen diese Fakten zu der von Ihnen erwähnten
massiven Entwicklung bei der Integration?
Darauf will ich gerne eingehen. Das Zitat, das ich an-geführt habe, bezog sich auf die Gesamtbetrachtung derIntegration. Für uns ist von elementarer Bedeutung, Ent-wicklungen zu bewerten. Völlig richtig ist – daraufwollte ich gerade hinaus –, dass insbesondere bei derEntwicklung im schulischen Bereich, auch was die Ab-schlüsse angeht, nach wie vor große Defizite bestehen.Zum Beispiel ist der Anteil der Jugendlichen mit Migra-tionshintergrund, der keinen Abschluss hat, doppelt sohoch wie der entsprechende Anteil der deutschen Ju-gendlichen. Der Anteil der Eltern mit Migrationshinter-grund, der seine Kinder in eine Krippe gibt, ist nur halbso hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen El-tern. Hier gibt es, wie gesagt, noch große Defizite.
Ein Problem ist die Anerkennung von im Ausland er-worbenen Abschlüssen; deshalb will ich jetzt auf diesenPunkt zu sprechen kommen. An der Debatte heute Mor-gen hat mich in diesem Zusammenhang etwas geärgert.Man kann natürlich immer wieder den Vorwurf erheben:Das kommt alles zu spät; ihr redet doch nur.
Ich möchte daran erinnern: Eine Integrationsbeauftragte,einen Integrationsplan und eine Islam-Konferenz hat es1992 und 1998 noch nicht gegeben. Hinzu kommt unserGesetz, das im Dezember dieses Jahres hoffentlich vor-liegen wird.
Man kann, wie es der Kollege von der SPD heute Mor-gen getan hat, monieren, dass erst spät gehandelt wird.Aber jetzt handeln wir. Richtig, das hätte man schon vorzehn Jahren tun können. Damals haben wir diese Mög-lichkeit aber leider nicht gehabt.Ein zentraler Punkt ist, wie gesagt, die Anerkennungvon im Ausland erworbenen Abschlüssen. Ein Problemdabei ist das mangelnde Bewertungs- und Anerken-nungsverfahren. Hier sind zwei Ebenen der Betrachtungvoneinander zu unterscheiden.Zunächst zur gesamtgesellschaftlichen Betrachtung,die auch eine volkswirtschaftliche ist. Auf einige der ne-gativen Daten, von denen in diesem Zusammenhang im-mer wieder die Rede ist, möchte ich kurz eingehen. DieErwerbsquote von Zugewanderten beträgt 68 Prozentund liegt damit deutlich unter der Erwerbsquote von Per-sonen ohne Migrationshintergrund, die 75 Prozent be-trägt. Die Arbeitslosenquote von Akademikern mit Mi-grationshintergrund ist dreimal so hoch wie die derDeutschen, die einen akademischen Abschluss haben.Hier geht Potenzial verloren. Das sind volkswirtschaftli-che Ressourcen, die wir dringend heben müssen.Die andere Ebene der Betrachtung bezieht sich aufdie Einzelschicksale der betroffenen Personen. Wir allekennen entsprechende Fälle, möglicherweise sogar ausdem Wahlkreis. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen.Erstes Beispiel. Denken Sie an die Frau, die aus Russ-land kommt und dort Medizin studiert hat, momentanaber „nur“ eine Anstellung als Arzthelferin hat. StellenSie sich einmal vor – die meisten von uns haben ja einenAbschluss –, dass Sie ins Ausland gehen, Ihr Abschlussdort aber nicht anerkannt wird, und stellen Sie sich dieFrage, welche Folgen es für Sie, Ihre Biografie und IhrePsyche hätte, nicht in dem Bereich arbeiten zu können,
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Marcus Weinberg
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in dem Sie ausgebildet wurden. Es ist ein Paradoxon,dass uns 8 600 Mediziner fehlen, gleichzeitig aber jungeausgebildete Menschen aus Russland oder anderen Län-dern nicht im Medizinbereich arbeiten können.Zweites Beispiel. Vergegenwärtigen Sie sich, welcheEntwicklungen im Pflegebereich auf uns zukommen. ImJahre 2020 werden uns 200 000 bis 300 000 Pflegefach-kräfte fehlen. In Deutschland arbeiten viele Menschenaus dem Ausland, die in dem Beruf, den sie erlernt ha-ben, nicht arbeiten können. Wir haben also eine volks-wirtschaftliche Verantwortung. Unter Integrationsge-sichtspunkten haben wir aber auch eine Verantwortungfür die Menschen und ihre weitere Entwicklung.Mit Blick auf die bisherige Rechtslage und aufgrundder Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft ha-ben wir entschieden, möglichst zügig ein Anerkennungs-gesetz auf den Weg zu bringen; im Dezember dieses Jah-res wollen wir einen entsprechenden Gesetzentwurfvorlegen. 300 000 Akademikerinnen und Akademikersollen derzeit nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten.Der Grund ist oft, dass kein allgemeiner Rechtsanspruchauf ein Verfahren existiert. Richtig ist, dass ein Anerken-nungsverfahren in reglementierten Berufen bisher zu-mindest für Spätaussiedler und EU-Bürger garantiertwurde. Alle anderen Personen können zum Beispiel einim Ausland erworbenes Examenszeugnis nicht verwen-den. Sie sind entweder arbeitslos oder arbeiten in Beru-fen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen.Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Mit einergesetzlichen Regelung müssen wir drei Ziele verfolgen:Erstens brauchen wir die Verbindlichkeit, dass imAusland erworbene Abschlüsse und Qualifikationen zü-gig, nämlich innerhalb von sechs Monaten, bewertetwerden. Außerdem muss transparent gemacht werden,welche Kriterien dabei zugrunde gelegt wurden. Es istwichtig, diese Bewertung innerhalb von sechs Monatenvorzunehmen; denn nur so kann Verbindlichkeit ge-schaffen werden.Zweitens sollten entsprechende Bescheide über denAbschluss bzw. über die Qualifikation vorliegen bzw.ausgestellt werden.Drittens ist das alles nur sinnvoll, wenn man jedemBewerber die Chance gibt, durch Qualifizierung, wo De-fizite bestehen, nachzuschulen. Das heißt, entsprechendeAngebote müssen vorliegen.Was sind die Anforderungen an eine gesetzliche Re-gelung? Wichtigster Regelungsgegenstand eines entspre-chenden Gesetzes muss die Festlegung eines Rechtsan-spruchs auf ein Anerkennungsverfahren mit einertatsächlichen Besserstellung sein. Im Zusammenhangdamit – ich glaube, dass das sinnvoll und auch notwen-dig ist – muss die statistische Datenlage für Anerken-nungsuchende und die zuständigen Stellen verbessertwerden, nicht wegen der Statistik, sondern weil wir se-hen wollen, wo die Defizite liegen und wo nachgearbei-tet werden muss, damit die verschiedenen Akteure– Bund, Länder und andere – wissen, wo Defizite soschnell wie möglich ausgeräumt werden müssen.Nur mit einem solchen Gesetz schaffen wir politischeErnsthaftigkeit. Es wird schon beobachtet werden, obwir die mittlerweile achte oder neunte Rede zu diesemThema halten.
Wer das tut, wird sagen, „Verbindlichkeit“ bedeute, dasses auch irgendwann ein Gesetz gebe; denn nur mit einemGesetz erreichen wir, dass sich Zugewanderte aufge-nommen fühlen.
Nur so erreichen wir, dass deren Potenziale unsere Ge-sellschaft bereichern, und nur so erreichen wir, dass de-ren intellektuelle Ressourcen unserer Wirtschaft nichtverloren gehen.
Zum Schluss möchte ich noch einige Bemerkungenzur Qualitätssicherung machen; das war uns auch in derDiskussion wichtig.
Man kann natürlich die Quote erhöhen, indem man dieQualität senkt. Das machen wir nicht, sondern wir legenWert darauf, dass es den Erhalt der Qualität des deut-schen Ausbildungssystems weiterhin gibt, gerade weilwir festgestellt haben, dass diejenigen, die in Deutsch-land eine Ausbildung gemacht haben, im Ausland er-folgreich sind, weil die Ausbildungsgänge anerkanntwerden. Deshalb gehen wir den Weg, die Qualifizierungaufzuwerten und die Standards nicht abzusenken. Dannhaben wir beides erfüllt: Wir haben die Qualitätsstan-dards gehalten und denjenigen, die nach Deutschland ge-kommen sind, eine Chance gegeben, in ihrem jeweiligenBeruf zu arbeiten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Swen Schulz für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was machender Arzt, die Ingenieurin oder der Facharbeiter aus derTürkei, aus Osteuropa oder aus einem arabischen Staat,wenn der eigene Abschluss hier nicht anerkannt wird?Heute früh haben wir den Achten Bericht über die Lageder Ausländerinnen und Ausländer debattiert. Ge-schätzte 500 000 Menschen in Deutschland sind von derNichtanerkennung ihrer Abschlüsse betroffen. Sie kön-nen nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten; sie müssenaber irgendwie zurechtkommen. Sie leben hier legal undwollen ihre Kenntnisse sowie ihre Fähigkeiten einbrin-
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Swen Schulz
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gen, doch sie werden daran gehindert. Das ist eine un-glaubliche Dummheit. Wir lassen Potenziale ungenutztlinks liegen, obwohl immer lauter und immer drängen-der über Fachkräftemangel geklagt wird. Es gibt immermehr Rufe nach Zuwanderung von Fachkräften, aber wirkümmern uns nicht um die Menschen, die bereits hier le-ben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wirändern.
Diese Erkenntnis ist nicht neu.Lieber Kollege Weinberg, zu den Fortschritten sageich so viel: In der Großen Koalition hat die SPD dazuVorschläge gemacht. CDU und CSU haben sie abge-lehnt.
Im letzten Jahr haben wir Anträge von der SPD, von denGrünen und von der Linksfraktion diskutiert. Langsam,ganz langsam kommt die Bundesregierung in die Gänge.Erst wurde ein sogenanntes Eckpunktepapier der Bun-desregierung in die Welt gesetzt. Wir haben im Aus-schuss eine Anhörung durchgeführt und das Themamehrfach diskutiert. Neulich hat die Bundesministerineinen Referentenentwurf für ein Anerkennungsgesetz fürdie zweite Oktoberhälfte angekündigt. Im Dezember solldann der Gesetzentwurf kommen. Herr KollegeWeinberg, Sie haben recht: Heute hat StaatsministerinBöhmer gesagt, dass wir dieses Gesetz ganz schnellbräuchten. Ich finde es super, wie die Regierungskoali-tion darauf jetzt endlich kommt.
In dieser Situation präsentieren nun auch die Koali-tionsfraktionen einen Antrag zum Thema. Wow, wir sindecht beeindruckt, wie engagiert Sie dieses Thema forcie-ren. Das ist super mutig, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Koalition.
Allein: Der Antrag hilft jetzt nicht weiter, weil wir alleüber den Punkt, dass ganz dringend etwas gemacht wer-den muss, längst weit hinaus sind. Beim heutigen Standder Debatte ist von den Regierungsfraktionen eigentlichmehr als ihr vorliegender Antrag mit solchen Allgemein-plätzen zu erwarten. Wenn dann der Gesetzentwurf end-lich, endlich zur Beratung vorliegt, werden wir sehen,was der Gesetzentwurf im Einzelnen enthält und ob erausreicht.Was muss getan werden? Wir leiden derzeit unter ei-nem wahren Anerkennungschaos. Es wird nach Berufs-gruppen unterschieden, nach Anerkennungszweckenund danach, ob es sich um Spätaussiedler, um EU-Bür-ger oder um Drittstaatler handelt. In den einzelnen Bun-desländern herrschen völlig unterschiedliche Verwal-tungspraktiken. Wenn man einmal ehrlich ist, dann mussman sagen: Letztlich blickt niemand wirklich durch. –Das ist bürokratisch und ungerecht.
Nötig ist ein Rechtsanspruch für alle auf Bewertungder eigenen Abschlüsse und auf Durchführung eines An-erkennungsverfahrens. Wir brauchen ausreichend vieleAnerkennungs- und Beratungsstellen. Das Verfahrendarf höchstens sechs Monate dauern, damit in absehba-rer Zeit auch tatsächlich Klarheit herrscht. Das Ziel musseine zentrale Steuerung und eine bundesweit verbindli-che Gleichwertigkeitsfeststellung sein. Wo nur Teilaner-kennungen ausgesprochen werden können, müssen In-formationen und Angebote über Nach- und Weiterquali-fizierungen – auch für die Sprache – verlässlich zur Ver-fügung gestellt werden.
Damit diese Angebote tatsächlich angenommen werdenkönnen, sind entsprechende finanzielle Förderinstru-mente nötig. Es hilft ja nichts, wenn es Angebote gibt,die Leute sie sich aber gar nicht leisten können. Wir ha-ben darum schon im letzten Jahr in unserem Antrag einEinstiegs-BAföG zur beruflichen Integration vorge-schlagen. Das wäre dann wirklich ein großer Schritt. Wirfreuen uns – so viel dann doch positiv –, dass die Koali-tionsfraktionen diesen Punkt in ihrem Antrag aufgegrif-fen haben, wenn auch mit einer noch etwas zarten For-mulierung.
Wie gesagt: Wir sind gespannt auf den Gesetzentwurfder Bundesregierung. Hier kommt es dann tatsächlichzum Schwur. Ich hoffe, ich täusche mich nicht; aber dadie Bundesregierung schon die bescheidene BAföG-Er-höhung fast an die Wand gefahren hat,
bin ich bei diesem Thema ziemlich skeptisch.Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir spre-chen hier auch über einen wichtigen Beitrag zur Integra-tion. Es geht hier um die Anerkennung von Qualifikatio-nen; das heißt, es geht um die Anerkennung derLebensläufe der Menschen. Es geht darum, ihnen zu ver-mitteln, dass sie auch tatsächlich gewollt sind und ge-braucht werden, und darum, ihnen die Möglichkeit zuverschaffen, auf eigenen Beinen zu stehen und sich hierals aktive, produktive Mitglieder der Gesellschaft einzu-bringen. Mit einem Wort: Es geht auch um Respekt. Die-ser Gedanke wird in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnenund Kollegen von der CDU/CSU, leider mit keinemWort erwähnt. Sie verstehen noch immer nicht, wiewichtig eine Anerkennungskultur ist.
Ich möchte noch auf den Antrag von Bündnis 90/DieGrünen eingehen, den wir heute auch diskutieren.Selbstverständlich haben Sie recht, liebe Kolleginnen
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Swen Schulz
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und Kollegen: Es ist ein Gesamtkonzept mit unterschied-lichen Maßnahmen zur Behebung des Fachkräfteman-gels nötig. Natürlich haben auch wir von der SPD um-fassende Überlegungen angestellt. Sie haben Ihre jetzt ineinem Antrag zusammengeschrieben. Vieles von demkönnen wir – zumindest in der Zielrichtung – unter-schreiben.Ich will auf einen besonders wichtigen Bereich einge-hen, nämlich auf die Kindertagesstätten und die Schulen.Lieber Kollege Weinberg, das hat ja auch eine ganzeMenge mit Integration zu tun.
Ich will einmal daran erinnern, dass es die rot-grüneBundesregierung war, die gegen den Widerstand aus derUnion ein Ganztagsschulprogramm in ganz Deutschlanddurchgesetzt hat.
Inzwischen hört sich das bei der CDU und der CSU ganzanders an. Sie sind hier durchaus positiv gestimmt.Heute früh hat sogar Staatsministerin Böhmer ausdrück-lich mehr Ganztagsschulen gefordert. Das ist gut; aberich frage: Warum machen Sie dann an dieser Stellenichts?Im Rahmen der Umsetzung des Hartz-IV-Urteils desBundesverfassungsgerichts wollen Sie ein paar Bil-dungsgutscheine verteilen. Was aber fehlt, ist ein Ange-bot an die Länder und an die Kommunen, die Kinderta-gesstätten und die Schulen zu verbessern. Es kann dochnicht darum gehen, Nachhilfe zu vermitteln, wenn allesschon ganz schwierig ist, sondern die Kitas und dieSchulen müssen so gut werden, dass Nachhilfe unnötigwird. Das muss doch das Ziel sein.
Es ist ja nicht so, dass Sie sich da nichts vornehmen;es ist noch schlimmer. Sie torpedieren sogar die Förde-rung von Kindern.
– Ja, hören Sie mal zu. – Sie halten stur daran fest, denEltern ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie auszahlenzu wollen, dafür, dass sie ihre Kinder nicht in die Kitaschicken.
Herr Weinberg, Sie haben eben beklagt, dass es geradeim Migrantenbereich an der Stelle Probleme gibt. Ichglaube, dass das tatsächlich der völlig falsche Weg ist,der im Übrigen auch Milliarden kosten wird, die vielbesser in die Kitas und in die Schulen investiert wären.Ob bei der vorschulischen Bildung, den Ganztags-schulen oder der Anerkennung von im Ausland erworbe-nen Qualifikationen: Immer und immer wieder sehenwir, dass die CDU/CSU erst blockiert und dann ganzmühsam hinterherschleicht. Kommen Sie bitte endlicheinmal voran!Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Heiner Kamp für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Heute debattieren wir überein wesentliches Anliegen verschiedener Politikfelder:die Bekämpfung des Mangels an Fachkräften und Hoch-qualifizierten in Zeiten des demografischen Wandels.Dieser hat den deutschen Arbeitsmarkt bereits mit vollerWucht erreicht. Fehlende Fachkräfte stellen in vielenBranchen schon heute ein strukturelles Problem dar.Der durch den Fachkräftemangel verursachte Wert-schöpfungsverlust ist gewaltig: Das Institut der deut-schen Wirtschaft Köln schätzt den Wohlstandsverlust fürunser Land auf rund 15 Milliarden Euro, und das im Kri-senjahr 2009. Nun müssen wir aufpassen, dass der sichabzeichnende wirtschaftliche Aufschwung im XL-For-mat nicht am Mangel an gut ausgebildeten Kräftenscheitert. Insofern freue ich mich über die Wachstums-prognose des IWF von 3,3 Prozent für 2010. Das ist einAnstieg um 1,9 Prozentpunkte, nämlich von 1,4 auf3,3 Prozent. Über diese schönen Zahlen können wir unsalle freuen.
Nun gilt es, dem Fachkräftemangel mit einem breitenAnsatz zu begegnen, um unsere Wettbewerbs- und Inno-vationsfähigkeit einerseits und Wachstum und Wohl-stand andererseits nachhaltig zu sichern. Diese Heraus-forderung ist vorwiegend eine Querschnittsaufgabe, beider Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik zu-sammenwirken müssen. Aber auch Wirtschaft und Ge-sellschaft müssen diese Problematik ernst nehmen undfrühzeitig bei der Entwicklung von Handlungskonzeptenmitwirken.
Der Fachkräftemangel wird schon allein aufgrund sei-ner demografischen Dimension alle Wirtschaftsbereichebetreffen. Wenn wir uns vor Augen führen, dass selbstGroßunternehmen wie die Deutsche Telekom bereitsheute Schwierigkeiten haben, Ausbildungsplätze in denneuen Bundesländern zu besetzen, wird deutlich, wieernst die Lage schon heute ist. In den nächsten zehn Jah-ren werden 6,5 Millionen Personen mit abgeschlossenerLehre das Rentenalter erreichen. Zwischen 2020 und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6915
Heiner Kamp
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2030 werden es sogar 8,4 Millionen sein. Gerade im Be-reich der Facharbeiter werden wir es also mit einem gra-vierenden Mangel an entsprechend Qualifizierten zu tunbekommen.Auf dem Ausbildungsmarkt werden die Azubis rar.Vor allem ostdeutsche Ausbildungsunternehmen suchenhänderingend nach Azubis. Da liegt der Gedanke nahe,sich in der Tschechischen Republik oder Polen nach mo-tivierten jungen Interessenten umzusehen.Im Juli 2010 fehlten in Deutschland 36 800 Ingenieure.Der Fehlbedarf wird in den nächsten Jahren noch dras-tisch steigen. Der Aufschwung wird die Nachfrage wei-ter verstärken. Eine solide Wirtschaftspolitik muss aufdieses Problem aufmerksam machen. Sie darf sich prag-matischen Lösungsansätzen nicht verschließen. So ver-wundert es nicht, dass Rainer Brüderle jüngst die Zu-wanderungsdebatte angestoßen hat.
In dem heute zur Debatte stehenden Antrag haben dieKoalitionsfraktionen einen wesentlichen Aspekt zur Mil-derung des Fachkräftemangels aufgegriffen: die Aner-kennung ausländischer Bildungsleistungen. Wir nutzennoch zu wenig Potenzial für den deutschen Arbeitsmarktund unsere Gesellschaft. Derlei Vergeudung können wiruns als Gesellschaft und Volkswirtschaft nicht mehr leis-ten.
Überschriften wie „Putzen trotz Promotion“ in der Fi-nancial Times Deutschland Anfang dieses Monatsmöchte ich möglichst nicht mehr lesen.FDP und Union sind überzeugt, dass der beste Weg zuerfolgreicher Integration über die Teilhabe am Arbeits-markt und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichungführt. Wenn zugewanderte Ingenieure Taxi fahren odersogar auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind,ist das einerseits für den Betroffenen frustrierend. DieGesellschaft hat andererseits gleich den doppelten Scha-den: ein unglückliches Mitglied sowie entgangene Steu-ern und Abgaben.Wir wollen für Zuwanderer einen Rechtsanspruch aufeine Bewertung ihrer im Ausland erworbenen Ab-schlüsse schaffen. Die Regelungen für das Bewertungs-und Anerkennungsverfahren wollen wir vereinfachenund das Verfahren selbst – wir halten eine Frist vonsechs Monaten für angemessen; Herr Schulz hat das be-reits angesprochen – beschleunigen. Beim Verfahren istuns insbesondere die Transparenz ein wichtiges Anlie-gen. Zuwanderer sollen möglichst schon in ihrem Hei-matland Zugang zu Informationen über das Bewertungs-und Anerkennungsverfahren betreffend ihren Bildungs-abschluss in Deutschland haben. In diese Informations-anstrengungen wollen wir die deutschen Auslandsvertre-tungen, die Außenhandelskammern und die Goethe-Institute natürlich einbeziehen.Mit dem heutigen Antrag machen wir einen weiterenwichtigen Aufschlag, um dem Fachkräftemangel zu be-gegnen. Mit den Bildungsketten kümmern wir uns bereitsum bessere Ausbildungschancen für junge Menschen, in-dem wir bestehende Förderinstrumente zusammenführenund dann in die Fläche tragen. Sie sind ein wesentlicherBaustein bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels.Noch in diesem Monat werden wir den außerordentlicherfolgreichen Ausbildungspakt mit einer qualitativenAufwertung verlängern. Integration gelingt über Teilhabeund Einbindung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Sozialhilfe-karrieren zementieren Differenzen, weil sie Abhängigkeitund Abgeschiedenheit zementieren. Deswegen kann esnicht richtig sein, unser Sozialsicherungssystem über dasjetzige Maß auszuweiten. Nein, wir müssen die Wege indie Arbeit erleichtern und durch entsprechende Bildungs-angebote begünstigen.
Eine kluge und zugleich aktive Zuwanderungspolitikmüssen wir zeitnah auf den Weg bringen. Der mit demdemografischen Wandel Hand in Hand gehende Fach-kräftemangel gibt uns hier klare Leitlinien. Wir brauchenein modernes Recht, das Zuwanderung über transparenteKriterien wie Qualifikation, Integrationsfähigkeit undBedarf steuert. Mit der Anerkennung ausländischer Bil-dungsleistungen schaffen wir eine wichtige Vorausset-zung für die Zuwanderung von Hochqualifizierten.
Sie sehen: Diese Koalition packt die Herausforderun-gen und Zukunftsthemen unserer Gesellschaft an. Diedrei Punkte aus der Überschrift des Koalitionsvertragessind dabei der Kompass: Wachstum sehen alle Wirt-schaftsforschungsinstitute. Bildung bringen wir durchunsere zahlreichen Initiativen wie die heute vorgestellteund den größten Mittelaufwuchs in der Geschichte rich-tig voran. Zusammenhalt erreichen wir durch echte Teil-habe und Mitwirkungsmöglichkeiten zum Beispiel fürMigranten. Ich lade Sie ein: Machen Sie doch bitte mit!Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
Agnes Alpers.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Schon lange verspro-chen und doch noch immer nicht in Sicht! Herr Kollege,wir nehmen die Einladung gern an, wenn der Gesetzent-wurf nur endlich käme und das Ganze nicht dahinschlei-chen würde. Vielen Dank.
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6916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Agnes Alpers
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Sie reden immer vom Fachkräftemangel. Aber dieAnerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsab-schlüssen kriecht und siecht dahin und liegt eigentlichnoch immer auf Eis. Sie, meine Damen und Herren vonCDU/CSU und FDP, haben nun einen Antrag vorgelegt,der schon erahnen lässt, welche Gruppe beim ThemaAnerkennung besonders in den Fokus gerät, Ihnen amHerzen liegt. Das sind die Akademikerinnen und Akade-miker, die ihre Abschlüsse im Ausland erworben haben.Ich war erstaunt, wie schnell Sie die Migrantinnen undMigranten unter den Tisch fallen lassen, die keinen aka-demischen, sondern „nur“ einen schulischen oder beruf-lichen Abschluss haben. Diese werden immer nur amRand erwähnt. Damit ignorieren Sie auf einen Schlagüber 2 Millionen Menschen, die ihren Bildungsabschlussim Ausland erworben und sich inzwischen zusätzlicheQualifikationen angeeignet haben.Das alles zeigt für mich eines: Es geht Ihnen gar nichtdarum, alle Migrantinnen und Migranten mit ihren be-ruflichen Kompetenzen und Leistungen anzuerkennen.Sie wollen lediglich – ich zitiere aus Ihrem Antrag –„eine bedarfsorientierte Arbeitsmarktintegration“. VonIntegration zu sprechen und dann nur scharf auf die ver-wertbaren akademischen Qualifikationen zu sein, das hatnichts mit Integration zu tun.
Die Bundesregierung grenzt die Gruppe der Berech-tigten noch weiter ein. Sie ignoriert im Achten Auslän-derbericht einfach die Gruppe der über 55-Jährigen.Auch Bildungsabschlüsse, die vor mehr als zehn Jahrenerworben wurden, sind nutzlos bei der Anerkennung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt etliche Abge-ordnete, die schon über zehn Jahre hier im Parlamentsind. Stellen Sie sich einfach einmal vor, sie bekämenmorgen die Mitteilung, dass all ihre Berufsabschlüssenicht mehr gelten. Na, da hätten wir richtig Stimmungim Parlament.
Ich kann nur feststellen, meine lieben Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU und FDP: Sie sind nicht beiden Sorgen und Nöten der Menschen angekommen.In Ihrem Antrag ist zu lesen, dass Sie die Kriterien zurBewertung bundeseinheitlich regeln wollen. Aber wiesieht es denn mit den Gesetzen zur Anerkennung aus?Für jeden gilt etwas anderes. Wir haben insgesamt weitüber 100 Gesetze in den Ländern und im Bund. Wie solldie Anerkennung denn nun geregelt werden: bundesein-heitlich oder wieder in Stufen für EU-Bürger, Aussiedlerund Bürger aus Drittstaaten? Und was ist mit den Asyl-bewerbern? Welche Stellen bewerten denn ihre berufli-chen Abschlüsse? Wie genau wird die Nachqualifizie-rung geregelt, und wer ist dafür zuständig? – Fragenüber Fragen. Zu diesen Fragen sagen Sie allerdingsnichts in Ihrem Antrag.
– Ich habe ihn ausdrücklich drei Mal gelesen.
All die wichtigen Fragen, die ungeklärt sind, die wirauch im Fachgespräch mit Ihnen nicht haben klären kön-nen, nehmen Sie in Ihrem Antrag nicht auf. Ich glaube,Herr Kollege, Sie sollten mal Ihren Antrag lesen.
– Es ist kein Gesetzentwurf. Den haben Sie aber schonvor einem halben Jahr versprochen.Bei dem Antrag der Grünen frage ich mich: Warumlassen Sie sich auf die Diskussion dieser Damen undHerren ein? Es geht hier doch insgesamt nicht um dieVerwertung auf dem Arbeitsmarkt, sondern um die An-erkennung von Menschen und ihrer beruflichen Ab-schlüsse. So eine Schieflage in der Debatte lehnen wirals Linke ab.
Die Linke hat 2007 das Thema „Anerkennung“ alsErste eingebracht. Wir wollen ein Anerkennungsgesetzfür alle – egal ob Akademiker oder Handwerker. Wirwollen einen Rechtsanspruch auf Anerkennung undNachqualifizierung mit einer Verfahrensdauer von maxi-mal drei Monaten.Meine Damen und Herren, Migrantinnen und Migran-ten brauchen endlich berufliche Perspektiven. Aus unse-rer Sicht haben alle Menschen ein Recht, als Person an-erkannt zu sein. Ansonsten bleibt Ihr Gerede überIntegration nicht mehr als eine hohle Phrase.Vielen Dank.
Krista Sager ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer In-tegrationsbereitschaft von Migrantinnen und Migranteneinfordert und den demografisch bedingten Fachkräfte-mangel beklagt, der muss in der Tat dringend etwas tun,damit das Anerkennungswesen für im Ausland erwor-bene Qualifikationen und Bildungsabschlüsse inDeutschland verbessert wird.
Wir haben hier gravierende Defizite, und das ist seit lan-gem bekannt. Hunderttausende Menschen arbeiten un-terhalb ihres Qualifikationsniveaus oder sind sogar ar-beitslos, nicht zuletzt wegen Defiziten im deutschenAnerkennungswesen. Nur: Das wurde schon auf demBildungsgipfel 2008 gemeinsam festgestellt; das ist in-zwischen zwei Jahre her. Wir sind in Worten weiterge-kommen, aber leider nicht in Taten.Die grüne Fraktion hat schon Anfang der Legislatur-periode einen Antrag mit konkreten Vorschlägen einge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6917
Krista Sager
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bracht, die SPD und die Linke ebenfalls. Das alles liegtvor. Die Bundesregierung hat vor über einem Jahr Eck-punkte vorgelegt, mit denen sie im Wesentlichen – da hatder Kollege Swen Schulz vollkommen recht – die Vor-schläge und Ankündigungen der Vorgängerregierungwiederholt hat.Was ist seitdem passiert? Im Grunde nichts! Ange-kündigt war eine gesetzliche Regelung zum Jahreswech-sel 2010/2011. Ich habe erhebliche Bedenken, dass dieBundesregierung eine solche Regelung zustande bringt.
Ich glaube, ich bin hier nicht die Einzige, die diese Be-denken hat. Erst hieß es, der Gesetzentwurf solle imSommer kommen; dann hieß es, Ende der Sommer-pause. Jetzt heißt es, Mitte Oktober werde ein Referen-tenentwurf vorgelegt. Ein Referentenentwurf ist aller-dings noch kein Gesetzentwurf im Parlament.Ich habe den Eindruck, dass auch Ihnen jetzt langsammulmig wird. Welchen Sinn hat denn sonst Ihr Antrag?Er enthält keinen einzigen neuen Gedanken, HerrWeinberg; inhaltlich kommen wir mit ihm keinen Schrittweiter. Wenn dieser Antrag nicht nur ein Pausenfüllersein soll, weil von der Regierung nichts kommt, dann hater offensichtlich den Zweck, Druck auf die Regierungauszuüben. Herr Kamp, es ist schon etwas merkwürdig,dass Sie meinen, es sei nötig, die Regierung aufzufor-dern, etwas zu tun, obwohl sie selber sagt, sie arbeite da-ran ganz intensiv.
Es geht offensichtlich darum, dass auch Sie meinen, manmüsse die Regierung jetzt einmal ein bisschen unterDruck setzen und ihr auf die Sprünge helfen.Herr Braun, dieses Vorhaben ist in unserem föderalenSystem nicht gerade ein leichtes Vorhaben. Das weißauch hier inzwischen jeder.
Aber was ich bedauerlich finde, ist, dass in Ihrem Antragüberhaupt keine Hinweise zu finden sind, wie Sie diekniffligen Fragen, die wir auch in einem Fachgesprächim Ausschuss behandelt haben, eigentlich beantwortethaben möchten. Wie schaffen wir es, dass eine Bewer-tung bundesweit Anerkennung findet? Oder wie schaf-fen wir es, dass es nicht nur einen Rechtsanspruch gibt,sondern auch Beratung, Information, Bewertung undQualifizierungsanschlussangebote? Ohne all das werdenwir nämlich weiter ganz viele Potenziale verlieren. Vie-len ist nicht nur mit einem Rechtsanspruch auf ein Ver-fahren geholfen; vielmehr brauchen sie eben auch Quali-fizierungsangebote.In einer Hinsicht bin ich gegenüber dem, was Sie wol-len, sehr skeptisch: Auch Sie halten nach wie vor an demGedanken fest, dass man im Wesentlichen Dokumenteformal abgleicht, dass man sich im Wesentlichen auf denVergleich von Ausbildungswegen und ihrer Gleichartig-keit konzentriert. Darum kann es aber nicht gehen, son-dern es geht um die Betrachtung des individuellen Kom-petenzprofils.
Bei einem anderen Ansatz werden wir die Integration inden Arbeitsmarkt nicht schaffen. Die Integration in dendeutschen Arbeitsmarkt muss wirklich im Vordergrundstehen. Wenn das durch den Gesetzentwurf der Bundes-regierung nicht geschieht, dann werden wir weiterBildungsressourcen vergeuden und vielen Menschen indiesem Land mit guten Voraussetzungen nicht gerechtwerden können.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ewa Klamt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Herausforderungen, vor denen wir in unserem Landstehen, sind allgemein bekannt, und sie sind hier auchbenannt worden. Der sich abzeichnende Wandel in derdemografischen Entwicklung führt zunehmend zu einemFachkräftemangel. Das Statistische Bundesamt sagt uns,dass das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland bis zumJahr 2030 wegen des Geburtenrückgangs um über6 Millionen zurückgeht.Schon heute fehlen 36 000 Ingenieure und 43 000 IT-Fachkräfte, also Computerfachleute. Gleichzeitig wissenwir, dass allein rund 300 000 zugewanderte Akademike-rinnen und Akademiker ihr Wissen und ihre Kompetenzin unserem Land einbringen wollen; aber ihre ausländi-schen Hochschulabschlüsse werden in Deutschland nichtoder nur mit großer Verzögerung anerkannt. Deshalbmüssen wir trotz der Komplexität der Aufgabe alles tun,damit wir zügig gemeinsam mit den Ländern bundesweitnachvollziehbare und verbindliche Bewertungskriterienschaffen. Das gilt für Akademiker und auch für alle an-deren Berufsgruppen.
Wie komplex das in Deutschland ist, zeigt sich – auchFrau Sager hat es schon angesprochen – allein darin,dass die Gesetzgebungszuständigkeit je nach Beruf beimBund oder bei den Ländern liegt, dass hingegen die An-erkennungsverfahren immer von Länderstellen, also Be-hörden, Kammern oder beauftragten Stellen, durchge-führt werden.Wenn Sie, Herr Kollege Schulz, so unendlich traurigsind, dass die christlich-liberale Koalition es innerhalbeines Jahres noch nicht geschafft hat, die Probleme, dieich eben benannt habe, zu lösen, dann muss man hier im-mer wieder darauf hinweisen, dass Sie elf Jahre mit in
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6918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Ewa Klamt
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der Regierungsverantwortung waren. Sieben Jahre ha-ben Sie ohne die böse CDU regiert, die an allem schuldist. Wenn Sie das alles so beklagen, wie Sie es hier getanhaben,
frage ich mich schon, warum Sie sieben Jahre gar nichtsauf den Weg gebracht haben. Wir packen es an, HerrSchulz!
Wie viele Abstimmungsprozesse und wie viel Zeit eserfordert, wenn unterschiedliche Stellen bzw. verschie-dene Ebenen sich einigen müssen, zeigen uns die Erfah-rungen mit diesem Thema in der Europäischen Union.Es hat Jahre gedauert, sich auf europäischer Ebene überdie Anerkennung von Berufsqualifikationen zu einigen,und dabei ging es ausschließlich um die Anerkennung vonBerufsqualifikationen, die in den inzwischen 27 Mitglied-staaten erworben werden. Das lag weder am Unwillennoch am Phlegma der beteiligten Fraktionen oder derMitgliedstaaten; vielmehr lag es an den früher sehrschwer vergleichbaren Studien- und Ausbildungsgän-gen. Der Durchbruch im Jahr 2005, von dem wir bereitsjetzt alle zehren, gelang im Wesentlichen, weil es inzwi-schen zu einer weitgehenden Harmonisierung der Aus-bildungen in der Europäischen Union gekommen ist. Essollte allen Bildungspolitikern klar sein, dass es nochweitaus schwieriger ist, weltweit erworbene Abschlüssemit unseren nationalen Qualitätsstandards zu verglei-chen und Anerkennungskriterien zu schaffen.
Denn diese Kriterien müssen – auch das gehört zur Lö-sung dieser Aufgabe – das Qualitätsniveau deutscher Ab-schlüsse erfüllen; denn mit Recht weisen Gewerkschaf-ten und Arbeitnehmer darauf hin, dass sonst unserehohen Standards unterlaufen werden.
Im Bereich der Hochqualifizierten hat die Europäi-sche Union unter wesentlicher Beteiligung Deutschlandsin den letzten beiden Jahren entscheidend zu einer Lö-sung beigetragen. Die Einigung auf europäischer Ebenehat zu einem Ergebnis geführt, auf das wir jetzt zurück-greifen können: Mit der Entscheidung für eine europäi-sche Bluecard sind einvernehmlich Kriterien für Hoch-qualifizierte festgelegt worden. Diese Richtlinie befindetsich derzeit in der Phase der Umsetzung in deutschesRecht.Entsprechend der Bluecard gilt als hochqualifiziert,wer einen Hochschulabschluss nach mindestens dreijäh-rigem Hochschulstudium an einer staatlichen oder staat-lich anerkannten Hochschule in dem betreffenden Staaterworben hat. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, mitdem Nachweis einer mindestens fünfjährigen einschlägi-gen Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hoch-schulabschluss vergleichbar ist, als Hochqualifizierteranerkannt zu werden.Deshalb können wir heute mit Fug und Recht sagen,dass nicht nur wichtige Vorarbeiten für eine zukünftigeZuwanderung geleistet wurden, sondern gleichzeitigKriterien geschaffen wurden, die es der Bundesregierungermöglichen, zügig das umzusetzen, was wir in unseremAntrag „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –Fachkräftepotentiale ausschöpfen“ fordern. Die Punktesind alle bereits von meinen Vorrednern genannt wor-den; darum erspare ich mir, sie noch einmal aufzuzählen.Ich möchte aber festhalten, dass wir mit der Umsetzungdieser Forderungen sowohl dafür sorgen, dass die Poten-ziale der zum Teil gut qualifizierten Migrantinnen undMigranten in unserem Land gewürdigt werden, als auchdafür, dass den Migrantinnen und Migranten in Zukunftdie Möglichkeit gegeben wird, sich hier mit ihrem Kön-nen und ihren Fähigkeiten einzubringen.
Denn fest steht: Die Eingliederung in den Arbeitsmarktist immer noch der beste und effektivste Weg der Inte-gration, und sie stellt gleichzeitig auch die gesellschaftli-che Anerkennung dar, die sich jeder von uns wünscht.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/3048 und 17/3198 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 bauf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein,Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKESicherung und Bewahrung der Wandbildervon Prof. Ronald Paris und Prof. WalterWomacka in Berlin– Drucksache 17/2020 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
FinanzausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKonzept für die Bewahrung kulturhistorischbedeutsamer Kunst am Bau der jüngeren Zeitentwickeln– Drucksache 17/3186 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
FinanzausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6919
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist einehalbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. – Ich sehe,damit sind Sie einverstanden.Dann eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerinhat das Wort die Kollegin Lukrezia Jochimsen für dieFraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeden Tag verlieren wir Kunstwerke von hohem Rang,
Zeugnisse der jüngeren Kunstgeschichte durch Abriss,
durch Neubauten und durch Privatisierungen öffentli-
cher Gebäude. Das ist ein generelles, bundesweites Pro-
blem, betrifft in den neuen Bundesländern und in Berlin
aber insbesondere das künstlerische Erbe der DDR.
Aktuelles Beispiel für den Umgang mit diesem Erbe
sind die Preisgabe des Wandgemäldes Lob des Kommu-
nismus von Ronald Paris im ehemaligen Zentralamt für
Statistik der DDR und des Emaillewandbildes Der
Mensch, das Maß aller Dinge am ehemaligen Bauminis-
terium der DDR von Walter Womacka aus der öffentli-
chen Hand.
Welch trauriges Zusammentreffen: Walter Womacka
ist heute in Berlin beerdigt worden, ganz in der Nähe
von Käthe Kollwitz. Wie und wo sein Kunstwerk in Ber-
lin wieder einen Platz finden wird, trieb ihn um, bis zu-
letzt.
Das ehemalige Bauministerium und das ehemalige
Zentralamt befinden sich im Besitz des Bundes und wur-
den für viel Geld veräußert. Die bundeseigenen Kunst-
werke wurden im Internet feilgeboten. Die Kosten für
die Abnahme mussten die Käufer tragen. Wieso der
Bund die Käufer seiner Immobilien nicht verpflichtete,
die Kunstwerke angemessen in die Neubauten zu inte-
grieren, ist nicht zu verstehen und nicht zu billigen.
Aufgrund unserer Initiativen wurde versucht, Bundes-
und Landeseinrichtungen zur Übernahme zu bewegen –
vergeblich. Es gelang nicht, diese Werke für die öffentli-
che Hand zu sichern. Sie wurden durch private Initiative
– wohlgemerkt: private Initiative – jetzt gerettet und so
nicht zerstört. Ich finde es großartig, dass übermorgen
das Bild von Ronald Paris im DDR-Museum in Berlin
zu sehen sein wird. Aber für die Zukunft ist ein Bild im
Privatbesitz nie gesichert. Der Eigentümer kann es aus-
stellen oder nicht, kann es verkaufen oder nicht.
Von einem bewussten und verantwortungsvollen Um-
gang mit öffentlichem Kunstbesitz und mit dem künstle-
rischen Erbe der DDR kann in diesen Fällen jedenfalls
keine Rede sein.
Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept für den
Umgang mit öffentlichem Kunstbesitz, der sich in Ge-
bäuden befindet, die ihren Zweck verlieren, umgewid-
met oder privatisiert werden, und das im 20. Jahr der
deutschen Einheit.
Wo sind eigentlich die großen Bilder von Tübke,
Heisig, Mattheuer, Sitte und auch Womacka, die im Pa-
last der Republik hingen? Eingelagert, irgendwo, heißt
es. Sie sind unsichtbar geworden, nirgends und für nie-
manden zu sehen. Darf man das Abwertung der DDR-
Kunst nennen oder nicht?
Eine Übersicht über das Verlorene gibt es im Westen
wie im Osten bisher genauso wenig wie über die derzeit
gefährdeten Werke. Was fehlt, ist eine flächendeckende,
interdisziplinär vernetzte Recherche. Für die zu erstel-
lende Bestandsübersicht der nach 1945 geschaffenen
baubezogenen Kunstwerke müssten Kriterien zur Syste-
matisierung des Bestandes und seiner Bewertung unter
historischen, sozialen wie künstlerisch-ästhetischen Ge-
sichtspunkten entwickelt werden.
Art. 35 des Einigungsvertrages verpflichtet die Bun-
desrepublik Deutschland, dafür Sorge zu tragen, dass die
kulturelle Substanz im Ostteil Berlins und in den neuen
Bundesländern keinen Schaden nimmt. Die Kunstwerke
von Womacka und Paris befanden sich im Ostteil Ber-
lins. Die gesamtdeutsche Bewahrung und Sicherung von
baugebundener Kunst ist Teil politischer und kultureller
Bildung und wichtig für die nächsten Generationen.
Ganz besondere Verantwortung hat der Bund in jenen
Fällen, in denen die Kunstwerke Bestandteil seines Im-
mobilienbesitzes sind. Dieser Verantwortung muss der
Bund auch durch die Übernahme der Kosten für die
Pflege und Sicherung der Kunstwerke gerecht werden.
Geschichtsbewusstsein ist eine Aufgabe und Kulturbe-
wusstsein dazu.
Deshalb stellen wir unsere beiden Anträge, den be-
deutenden Schatz der Bau-Kunst in Bundesbesitz zu si-
chern und zu katalogisieren. Ich bitte um Ihre Zustim-
mung.
Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Professor Monika
Grütters für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und HerrenKolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Jochimsen, Siehaben uns ja den Weg der Wandbilder von Ronald Parisund Walter Womacka dargelegt. Ich bin zumindest froh,dass für beide jetzt erst einmal eine Bleibe gefunden ist.Das Bild von Womacka soll in einem neuen Gebäude derentsprechenden Wohnungsbaugesellschaft – er war langeMieter dort – unterkommen.
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6920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Monika Grütters
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Ich gebe Ihnen aber in einem Punkt recht: Wir müssen– das zeigen diese zwei Beispiele – grundsätzlich, alsogerade unabhängig von diesen beiden Fällen, Antwortenfinden auf die Frage nach dem Umgang mit der Kunstam Bau, wenn es ebendiesen Bau einmal nicht mehrgibt. Interessanterweise sind dafür bislang in den ein-schlägigen Richtlinien kaum Hinweise zu finden. Ichhabe jetzt auch noch einmal mit dem Kunstbeauftragtendes Bundestages, Herrn Kaernbach, sehr intensiv danachrecherchiert. Ich finde nur – insofern greift Ihr Antragauch zu kurz –, dass das beileibe nicht nur die DDR-Kunst betrifft.Aber noch einmal zu den konkreten Fällen, weil Sie jaauch den Vorwurf erhoben haben, der Bund habe sichnicht anständig oder korrekt oder verantwortungsbe-wusst genug verhalten: Sie haben recht, bei beidenWandgemälden handelt es sich um Zeugnisse der Kunst-geschichte, sowohl das Wandgemälde Der Mensch, dasMaß aller Dinge von Womacka als auch das Wandge-mälde Lob des Kommunismus von Ronald Paris. Da-rüber muss man sich jetzt hier nicht in der Sache streiten.Beide Künstler sind über die Grenzen der DDR hinausbekannt und auch anerkannt. Beide Künstler haben diebildende Kunst der DDR durchaus wesentlich mitge-prägt. Beide Kunstwerke befinden sich an bzw. in Ge-bäuden, die jetzt abgerissen werden sollen und von de-nen eines in der Tat dem Bund gehört, und in beidenFällen waren zum Erhalt der Wandgemälde deren Aus-bau und Verbringung an einen neuen Standort erforder-lich.Bevor der Bund diese Kunstwerke dann im Internetangeboten hat, hat er alle einschlägigen Museen gefragt.Involviert war übrigens eine Kommission, die sehr hoch-rangig besetzt war – das wissen Sie auch –: Es waren dieFörderkommission Bildende Kunst, die Stiftung Stadt-museum, die Berlinische Galerie, die Senatskanzlei Ber-lin und das Deutsche Historische Museum an diesemProzess beteiligt. Das zeigt, dass der Bund nicht verant-wortungslos, wie Sie sagen, damit umgegangen ist, son-dern es handelte sich um ein, wie ich finde, durchaussehr verantwortungsbewusstes Verfahren.
Wir zumindest können den Museen keinen Vorwurfdaraus machen, dass sie dafür keine Verwendung haben,weil die Restaurierung und Einlagerung natürlich auchkostenaufwendig ist. So wie man das den Museen nichtvorwerfen kann, darf die Politik die Museen auch nichtdazu zwingen.
Ganz abgesehen davon, dass es dafür auch keine ent-sprechende Handhabe gibt.Ihr Vorschlag, Frau Jochimsen, dass die Kunstwerkedann eben am neuen Gebäude angebracht werden müss-ten, würde, wie ich finde, einer Vergewaltigung der Ar-chitekten, die das neue Gebäude planen, gleichkommen.Das darf man denen nicht aufzwingen.
Das ist also ein nicht handhabbarer Vorschlag.Ich will aber nicht leugnen, dass hier das Dilemmadeutlich wird, dass es für derartige Fälle keine einschlä-gigen Richtlinien gibt, weil die öffentliche Hand offen-sichtlich bisher davon ausgegangen ist, dass es solcheFälle selten oder gar nicht geben würde. Dabei gibt esdie institutionalisierte Kunst am Bau bereits seit derWeimarer Republik.Auch damals lag der Anteil an der Bausumme bei 1, 2oder 2,5 Prozent. 1993 sollte die Maßnahme ganz abge-schafft werden. Das haben wir verhindert.Ich muss einmal sagen: Der Bundestag benimmt sich,was das angeht, vorbildlich. Im Reichstagsgebäude wur-den 3 Prozent der Bausumme für Kunst am Bau ausge-geben; bei den anderen Parlamentsbauten waren es2 Prozent. Wir müssen uns nicht verstecken.Ähnliche Vorgänge wie den eben beschriebenen hates hier aber auch schon gegeben, beispielsweise im Zu-sammenhang mit dem Sgraffito von Carl-HeinzKliemann an der Wand des Reichstagsgebäudes, dasdem Umbau durch Foster weichen musste. Da hat derUrheberrechtsgrundsatz gegolten: Zerstören darf man,wenn das Gebäude – es war an einer Wand, die abgeris-sen wurde – nicht mehr da ist. Aber man darf es nichtverändern, wenn die Architektur als Bezugsrahmen ver-schwunden ist. Allerdings gilt hier – wie überall – auchder Grundsatz: Rückgabe vor Zerstörung. Das Urheber-recht sieht zu Recht vor, von der Dauer des Kunstwerkesauszugehen, aber nicht von der Dauer des Gebäudes.Ich finde, in solch einem Fall kann das Kunstwerk,selbst wenn es abgenommen wird und in einem anderenKontext, vielleicht irgendwann in einer Ausstellung, undsei es nur zeitweise, wieder auftaucht, Erzähler einer Ge-schichte sein, zum Beispiel einer Geschichte des Verlus-tes. So geschah es mit der Arbeit Kosmos 70 vonBernhard Heiliger, die im Westeingang des Reichstags-gebäudes hing. Künftig wird sie im neuen Eingang desMarie-Elisabeth-Lüders-Hauses hängen. Daran siehtman, dass es sich lohnt, immer in eine Einzelfallprüfungeinzutreten.Sie heben zuallererst auf die Kunst aus der DDR-Zeitab. Dazu muss ich sagen: Ja, hier besteht eine besondereNotwendigkeit, weil auf dem Gebiet der ehemaligenDDR mehr neu gebaut und damit mehr abgerissen wird.Aber es ist natürlich nicht nur ein Problem dieses Seg-ments. Deshalb finde ich, dass wir uns an die Grundsätzehalten sollten, die die Vereinigung der Landesdenkmal-pfleger in der Bundesrepublik Deutschland niederge-schrieben hat. Dort heißt es:Inventarisation ist in allen Bundesländern– es ist wohlgemerkt vor allen Dingen Sache der Bun-desländer –gesetzlicher Auftrag der staatlichen Denkmal-pflege. … Inventarisation ist Grundlage jedendenkmalpflegerischen Handelns. … Denkmäler
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6921
Monika Grütters
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sind alle Objekte,
die im eigentlichen Sinn des Begriffs einer Erinne-rung wert sind und deren Erhaltung und Pflege imöffentlichen Interesse liegen. … Es werden also imweitesten Sinn materielle Zeugnisse menschlichenLebens erfasst, die nicht notwendig– das muss man übrigens den Kollegen auch einmal sa-gen –ästhetische Qualität haben müssen. Auch mit nega-tiven Erinnerungen besetzte Objekte, wie solcheder nationalsozialistischen Vergangenheit Deutsch-lands, gehören in die Reihe der zu bewahrendenÜberlieferungen. Ausschlaggebend ist ihre in derGeschichte verankerte Bedeutung. Die Denkmalei-genschaft ist damit nicht von einem festgelegtenMindestalter des Objekts abhängig.So schreibt es die Vereinigung der Landesdenkmalpfle-ger.Es ist also meines Erachtens nicht nur aus wissen-schaftlicher Sicht sinnvoll, Kunst am Bau aus 40 JahrenDDR zu dokumentieren und – das ist vom Denkmal-schutz im großen Stil gemacht worden – zu katalogisie-ren. Es gibt einschlägige Veröffentlichungen und Publi-kationen wie das Handbuch der DeutschenKunstdenkmäler und das Buch Die Bau- und Kunstdenk-male in der DDR.Sie haben zu Recht Art. 35 des Einigungsvertrages zi-tiert. Ich finde, das gehört durchaus hierhin. Daraus kannman aber meines Erachtens nicht – wie Sie es machen –eine generelle Verantwortung des Bundes oder gar eineZuständigkeit des Bundes ableiten. Sie haben die Fälle,in denen der Bund die Zuständigkeit haben soll, auf jeneFälle beschränkt, in denen der Bund Gebäudeeigentümerist. Ich meine, hier muss man die Länder, die sonst über-all ihre föderalistische Hoheit bei diesen Themen vertei-digen, heranziehen. Das wiederum bedeutet Freiheit,aber auch Verantwortung.
Der Bund hat in den letzten 20 Jahren weit über dieGrenzen der Zuständigkeit im Föderalismus hinaus vielfür die Aufarbeitung und Bewahrung der Denkmäler inder ehemaligen DDR getan: restaurierte Altstädte, Mu-seen, Bibliotheken, Theater und Opernhäuser. Es wärealso falsch, hier den Bund anzuprangern.
Generell, Frau Jochimsen, gilt außerdem: Wenn wirdie Kunst der DDR musealisieren, ist das eine komplexeAufgabe, an der nicht nur die Länder zu beteiligen sind.Es muss aber um mehr gehen als nur um die Erfassung.Sie kann nur mit dem Ziel durchgeführt werden, geeig-nete Vermittlungskonzepte zu entwickeln. Heute gibt esdas DDR-System zum Glück nicht mehr. Umso mehrmüssen wir darauf aufpassen, dass wir Auftragskunst– die offiziellen Kunstwerke – angemessen interpretie-ren und sie in der Retrospektive nicht verharmlosen oderverniedlichen. Deshalb finde ich, dass sie heute nicht inden Kontext anderer Bauten gehören. Man sollte dasnicht ins Nostalgische schieben. Schließlich haben sichallzu viele Künstler vor ästhetischer Doktrin, auch vorder des sozialistischen Realismus, in die Abstraktion,manche in die innere Immigration geflüchtet. Viele durf-ten nicht weiterarbeiten. Ich finde, das gehört auf jedenFall auch in diesen Kontext. Das spricht gegen einesimple Verschiebung vom Gestern ins Heute.
Die Denkmalpflege hat genau zu diesem Zweck einenKriterienkatalog entwickelt, der im Wesentlichen zwi-schen einem ästhetischen und einem historischen Wertdifferenziert. Das Sammeln ist mit Kosten verbunden.Schließlich geht es nicht nur um eine einmalige Aktion,sondern um Restaurierung, Aufbewahrung und wissen-schaftliche Bearbeitung. Diese Einordnung des Wertesund der materiellen wie immateriellen Bewertung, findeich, sollten wir den Fachleuten überlassen. Einen gene-rellen Rahmen – auch das muss ich feststellen – müssenwir in der Politik aber einmal beschreiben.Frau Kollegin, über die zwei genannten Einzelwerke– dazu haben Sie Ihren ersten Antrag eingebracht – soll-ten und brauchen wir nicht mehr abzustimmen, auchwenn es privaten Initiativen zu verdanken ist, dass diebeiden Arbeiten eine Bleibe gefunden haben. Sie habenauf ein generelles Desiderat hingewiesen: dass es kaumRichtlinien für den Verbleib auch öffentlich geförderterKunst am Bau gibt. Die Beispiele zeigen: Das kann sonicht bleiben, selbst wenn bisher dabei vor allem Urhe-berrechtsrichtlinien oder der Denkmalschutz im Einzel-fall erfolgreich angewendet wurden.Eine Verpflichtung zum Handeln liegt aber ganz si-cher nicht nur beim Bund, und die Problematik gilt si-cher nicht nur für die Kunst der ehemaligen DDR. Des-halb finde ich, dass Ihr zweiter Antrag zu kurz greift.Wenn wir das genereller beschreiben, füllen die von Ih-nen beklagten Tatbestände auf jeden Fall einen größerenRahmen. Im Geiste des Einigungsvertrages – jetzt ist dierichtige Stunde, um darauf hinzuweisen – gilt für unsalle:In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur– trotz unterschiedlicher Entwicklung der beidenStaaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbe-stehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leistenim Prozess der staatlichen Einheit der Deutschenauf dem Weg zur europäischen Einigung einen ei-genständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellungund Ansehen eines vereinten Deutschlands in derWelt hängen außer von seinem politischen Gewichtund seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebensovon seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam-keit.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Thiersefür die SPD-Fraktion.
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6922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKollegin Jochimsen, ich fürchte, ich werde zu Ihren An-trägen etwas kritischer sein müssen als die KolleginGrütters. Das liegt vermutlich daran, dass ich die DDR-Kunst wirklich erlebt und erlitten habe und mich deswe-gen an vieles erinnere.Ihr erster Antrag, der Antrag zu den Wandbildern vonRonald Paris und Walter Womacka, ist, wie schon ge-sagt, in bestimmter Weise bereits erledigt;
denn das Lob des Kommunismus von Ronald Pariswurde vom privaten DDR-Museum übernommen. Dasist ein nicht zu beanstandender Vorgang; dieses Bildwird öffentlich zugänglich bleiben.
Wenn Ihre Leidenschaft, zum Beispiel für dieses Bild,wirklich so groß gewesen wäre, wie Frau KolleginEnkelmann das hat verlauten lassen – man solle es inden Bundestag übernehmen –, dann frage ich mich: Wa-rum haben Sie es nicht in Ihren Fraktionssaal übernom-men?
Wir hätten Sie daran nicht hindern können oder wollen.Das ist ein Beleg von Übereinstimmung von Wort undTat.
Das Wandbild Der Mensch, das Maß aller Dinge, dasich – wenn Sie mir ein persönliches Geschmacksurteilerlauben – für nicht ganz so gewaltig halte – es ist groß,aber künstlerisch vielleicht nicht ganz so gewaltig –, istvon der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mit er-heblichen Kosten abgenommen, gelagert und damit zu-nächst einmal erhalten worden. Insofern hätten Sie denAntrag zurückziehen können, aber Sie haben noch ein-mal nachgelegt und das Problem sozusagen verallgemei-nert. Sie fordern ein umfassendes Konzept zur Sicherungder nach 1945 geschaffenen baugebundenen Kunstwerkeim öffentlichen Dienst, aber es geht Ihnen dabei vor al-lem um das künstlerische Erbe bezogen auf die baubezo-gene Kunst der DDR. Das verstehe ich. Ja, auch mit die-sem Erbe sollte man behutsam und auch differenziertumgehen. Aber – wie soll ich das nennen? – sollen wirHegel folgen: Nur weil einmal etwas gewesen ist, war esauch vernünftig?Bedeutet das, dass alles, was einmal gebaut oder ge-schaffen wurde, dauerhaft erhalten bleiben muss? Ich zö-gere, diesem Grundsatz zu folgen. Nein, nicht jedesKunstwerk muss unter Denkmalschutz gestellt werden.
Wir müssen immer wieder neu und am konkreten Objektüber die Denkmalwürdigkeit, also den historischen Do-kumentationscharakter, einerseits und die künstlerische,ästhetische Qualität andererseits streiten und dann ent-scheiden.
Es geht um Kunst am Bau, und nicht um die allge-meine bildende Kunst. Kunst am Bau ist immer Auf-tragskunst, zumal in der DDR. Sie ist also in besondererWeise historischer Vergänglichkeit unterworfen. Das istihr Schicksal. Es kann durchaus passieren, dass die Zeitüber den Auftraggeber und auch über die von ihm beauf-tragte Kunst hinweggeht. Wir haben heute den 7. Okto-ber. In der ehemaligen DDR wurde an diesem Tag derTag der Republik begangen.
Dieser Staat ist verloren gegangen. Wir können nichtall seine Hinterlassenschaften erhalten. Wir müssen im-mer wieder neu entscheiden, was wir erhalten wollen.Kunst am Bau ist immer zweckgebunden und auf denjeweiligen Raum bezogen. Wenn dieser Raum bzw. dasGebäude aus Gründen, die nicht immer des Teufels sind,wegfällt, dann ist das Schicksal baugebundener Kunstein anderes als das von Gemälden, die im eigenen, imkünstlerischen Auftrag produziert wurden. Das ist nichtnur das Schicksal von baugebundener Kunst in der ehe-maligen DDR. Das gilt generell und ist daher nichts Be-sonderes.
Es kommt hinzu, dass in der DDR im Hinblick auf diebaugebundene Kunst ein ganz praktisches Problem ent-standen ist: Sie war etwas groß dimensioniert. Das Wo-macka-Werk misst 15 mal 6 Meter. Es wiegt 1,2 Tonnenund besteht aus 360 emaillierten Kupferplatten. Ich er-wähne das nur, um klarzustellen, dass ich etwas gegenfalsche Verallgemeinerungen habe. Es geht hier um ganzkonkrete Probleme und ihre Lösungen. Folgende ironi-sche Bemerkung kann ich mir deshalb nicht verkneifen:Wie wäre es denn, wenn Sie das große Kunstwerk, dasSie so schätzen, an Ihrer Parteizentrale, dem Karl-Liebknecht-Haus, anbringen würden? Dann wäre es er-halten und öffentlich sichtbar.
– Eben. Sie geben mir genau die richtige Antwort. DasGebäude, für das es einmal geschaffen worden ist, istnicht mehr da. Deswegen entsteht das praktische Pro-blem: Was machen wir nun damit? Wir können nieman-den auf Dauer verpflichten, es zu erhalten, nur weil eseinmal da war.
Ich sage es noch einmal: Nicht alles kann und mussaufgehoben und aufbewahrt werden. Es darf aber auchnicht alles beseitigt, abgerissen oder versteckt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6923
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
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Das gilt selbstverständlich sowohl für Kunst aus derDDR als auch für Kunst aus der alten Bundesrepublik.
Wir müssen uns der Mühe unterziehen, immer wiederneu zu einer fairen und differenzierten Bewertung vonKunst – auch aus der DDR – zu kommen.
Das kann allerdings nicht von oben diktiert und ge-wissermaßen per Dekret durch die Bundesregierungdurchgesetzt werden. Das ist unweigerlich – wie immerbei der Kunst – Aufgabe und Gegenstand der öffentli-chen Debatte und des Streits. Dann muss man sich zu ei-nigen versuchen. Wir Bundespolitiker können nicht ein-fach so allgemeine ästhetische Maßstäbe festlegen.
In dieser Hinsicht bin ich ein gebranntes Kind derDDR. Damals hat das Politbüro der DDR solche Dingefestgelegt. Alle naselang wurde ein zentraler For-schungs- und Publikationsplan der Gesellschaftswissen-schaften verabschiedet, und zwar nicht von den Wissen-schaftlern, sondern vom Politbüro. Ich habe vor solchenDingen Angst und wünsche mir sehr – das ist mein An-liegen –, dass im Angesicht des einzelnen Kunstwerkes,vor Ort debattiert und am Schluss entschieden wird. Ichbin eher skeptisch, ob das über das hinaus, was KolleginGrütters in Bezug auf unser Verständnis von Erbe undDokumentationscharakter gesagt hat, gelingt. Aber wirkönnen in dieser Sache miteinander streiten.Das wirkliche Motiv Ihres Antrags wird in der Be-gründung deutlich. Ich zitiere:Hintergrund für die anhaltende Zerstörung vonBauwerken und baugebundener Kunst der DDR istdie nach wie vor vorhandene Abwertung und Dele-gitimierung der DDR und ihrer Kunst.
Ich höre das öfters von Ihnen. Ich kann nur daran erin-nern – so ist Geschichte –: Die DDR ist 1989/90 von ei-ner Mehrheit ihrer Bevölkerung durch die friedliche Re-volution und die erste freie Wahl delegitimiert worden.Das ist so.
Trotzdem weiß ich genau um den Unterschied zwi-schen dem System und der Kunst, die in der DDR ent-standen ist.
Das ist wichtig.
Aber da gibt es einen Unterschied zu Ihnen. Sie wollenalles erhalten, während ich sage: Schauen wir genau hin;streiten wir darüber, was erhaltenswert ist, wer dafür zu-ständig ist und wie das verantwortet werden kann. Ichhabe etwas gegen ästhetischen Zentralismus.Art. 35 des Einigungsvertrages – an den halten wiruns – spricht von der Erhaltung kultureller Substanz. Daist in den vergangenen 20 Jahren sehr viel geschehen.Auf diesem Gebiet muss zwar weiterhin allerhand ge-schehen, aber wir müssen auch immer wieder neu da-rüber diskutieren, was des Erinnerns wert ist. Ich glaubenicht, dass das durch eine von der Bundesregierung ein-gesetzte Kommission definiert werden kann. Das ist einoffener Prozess des demokratischen Streits miteinander.Da gehört es hin.
Das Wort erhält nun der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Die uns heute vorliegendenAnträge der Fraktion Die Linke greifen ein Thema auf,das sicherlich Emotionen hervorruft. Beim Thema Kunstliegen Zustimmung und Ablehnung, leider oftmals auchDesinteresse nah beieinander. Der öffentlichen wie derprivaten Hand kommt in diesem Spannungsbogen dieAufgabe zu, besonders schützenswerte Kulturgüter überJahrzehnte oder gar Jahrhunderte für die Nachwelt zubewahren. Dabei haben Kulturgüter nicht nur ästhetischeQualitäten. Sie sind auch Objekte des historischen Ge-dächtnisses von Kulturräumen.Walter Womacka und Ronald Paris, um die es in demeinen Antrag geht, haben prägende Kunstwerke geschaf-fen. Es gibt wohl kaum jemanden, der in der DDR auf-gewachsen ist und das Bild Womackas „Am Strand“ von1962 nicht kennt. Es hing in Schulen und öffentlichenEinrichtungen, zierte Bücher und Kalender und sogareine Briefmarke. Heute befindet es sich in den Staatli-chen Kunstsammlungen Dresden. Sein Fries „Unser Le-ben“ am Haus des Lehrers auf dem Berliner Alexander-platz aus dem Jahr 1964 wurde nach der Wendeaufwendig restauriert. Das von Ronald Paris für den ehe-maligen Palast der Republik geschaffene Wandbild „Un-ser die Welt – trotz alledem“ aus den 70er-Jahren befin-det sich heute im Deutschen Historischen Museum.Diese Beispiele zeigen, dass die Kunstwerke beiderKünstler auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung inunserem Land durchaus geschätzt werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie be-rufen sich in Ihrer Partei auf ein Erbe und damit auf eineTradition, die mit überlieferter Kunst und Kultur oftmalsnicht gerade zimperlich umging.
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6924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Reiner Deutschmann
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Schließlich ließ die Staatsführung der DDR unliebsameKulturdenkmäler ersten Ranges vernichten, weil sienicht in die Staatsideologie passten.
So mussten architektonisch bedeutsame Schlösser undzahlreiche Sakralbauten weichen. Die Sprengung derPotsdamer Garnisonkirche sowie der Leipziger Univer-sitätskirche, die von Martin Luther geweiht wurde, ris-sen Lücken in die städtebauliche Identität von Potsdamund Leipzig, die nur mit Mühe geschlossen werdenkonnten.
Gerade Walter Ulbricht, der Förderer Womackas, hatohne Rücksicht auf kulturelle Belange vernichten lassen,was über Jahrhunderte bewahrt worden ist.
Gefördert wurde im Gegenzug eine Kunst und Kultur,die den Arbeiter- und Bauernstaat hochleben ließ, abernicht die Wirklichkeit widerspiegelte. Dabei wurde auchnoch versucht, die Künstler auf Linie zu bringen. Ichverweise nur auf den Bitterfelder Weg.Ihr Antrag zur Sicherung der zwei Wandbilder ist in-zwischen überholt. Die Werke haben eine neue Nutzungbekommen – das steht so gut wie fest – und erhalten soeine Aufwertung. Erlauben Sie mir aber trotzdem zweiBemerkungen dazu.Sie schreiben in Ihrem Antrag:Es gelang nicht, diese Werke für die öffentlicheHand zu sichern.Ich muss fragen: Muss denn immer die öffentliche Handalles richten?
Es ist einfach, nach dem Staat zu rufen und dessen Han-deln einzufordern. Dabei ist es gerade durch das von unsLiberalen immer wieder eingeforderte bürgerschaftlicheEngagement gelungen, diese Bilder zu bewahren und zu-künftig einer noch prominenteren Nutzung zuzuführen.
Nicht nur in Zeiten knapper öffentlicher Kassen ist dieseine Leistung, die gewürdigt werden muss. Ich wünschemir mehr solch privates Engagement in allen Bereichender Kultur.Mit Ihrem zweiten Antrag verfolgen Sie einen allge-mein gehaltenen Ansatz, aber eigentlich geht es Ihnenum die Wahrung sozialistischer Kunst aus DDR-Zeiten.
Bevor ich exemplarisch drei Punkte aus Ihrem Antragherausgreife, möchte ich darauf verweisen, dass dasBundesbauministerium bei baubezogener Kunst keinenUnterschied zwischen Ost- und Westkunst macht.
Ich komme zu den drei Punkten.Erstens. Muss der Bund eine Bestandsaufnahme allernach 1945 geschaffenen baubezogenen Kunstwerke er-arbeiten und ein Rechercheprojekt auf den Weg bringen?Der Einigungsvertrag, den Sie zitieren, bindet nicht nurden Bund, sondern auch die Länder. Der Bund kann nurtätig werden, wenn ihm kraft Grundgesetzes die Kompe-tenz erteilt wurde. Im vorliegenden Fall sind überwie-gend die Länder und Kommunen zuständig, insbeson-dere wenn es um Denkmalschutz geht. Denkmalschutzist Ländersache.
Zweitens. Muss der Bund Kriterien zur Systematisie-rung und Bewertung des Bestands entwickeln? Auch dasliegt nicht in seiner Zuständigkeit.Drittens. Muss der Bund Strategien zur Sicherung vonKunst am Bau entwerfen? Dazu verweise ich auf denLeitfaden „Kunst am Bau“, der durch das Bundesbau-ministerium herausgegeben wurde. Dieser verdeutlichtden baukulturellen Anspruch des Bundes als Bauherrnund verbindet diesen mit der Notwendigkeit angemesse-ner und praktikabler Verfahren. Darin ist auch der Um-gang mit Kunstwerken an Gebäuden geregelt, die vomAbriss bedroht sind.Im Übrigen gibt es unter Federführung des Bundesbau-ministeriums die Veranstaltungsreihe „Werkstattgesprä-che“, in deren Rahmen seit November 2007 an verschie-denen Orten über den Umgang mit architekturbezogenerKunst diskutiert wird. So fand in Leipzig ein Werkstatt-gespräch unter dem Titel „Kunst am Bau als Erbe des ge-teilten Deutschlands“ statt. Sie sehen, obwohl es nicht zu-ständig ist, nimmt sich das Bundesbauministerium diesesThemas an.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von derLinken, über den einen oder anderen Punkt in Ihrem An-trag kann man sicherlich reden. Ich will aber darauf ver-weisen, dass vom Bund geförderte Einrichtungen wiedas Deutsche Historische Museum schon jetzt mit derSicherung von DDR-Kunst betraut sind. Die Aufbewah-rung der Bilder des ehemaligen Palastes der Republikhabe ich schon erwähnt.Über Kunst kann man trefflich streiten, nicht nur überästhetische Fragen. Wo hört der Schutzauftrag des Staa-tes auf, und wo muss man auf privates Engagement set-zen? Ich denke, der Bund tut das in seinen Möglichkei-ten Stehende zur Erhaltung und Erschließung der DDR-Staatskunst. Der Bund ist jedoch nicht in der Pflicht, alleWerke zu bewahren, die von der DDR-Führung als be-sonders wertvoll eingestuft wurden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6925
Reiner Deutschmann
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Allein durch die Kosten der hier geforderten Maßnah-men würden wir die tagesaktuelle Kulturförderung ge-fährden. Das Geld der Steuerzahler ist endlich. LiebeKolleginnen und Kollegen von der Linken, das solltenSie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
Es steht Ihnen aber frei, Ihre Forderung exemplarisch imLand Berlin umzusetzen; denn dort sind Sie schließlichMitregierende.Danke schön.
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Kunst am Bau, das ist ein sperriges Thema,
und darüber sprechen wir jetzt auch noch zu so später
Stunde. Dabei ist es ein ganz altes Thema. Seit über
90 Jahren hat sich der öffentliche Bauherr in Deutsch-
land verpflichtet, 1 bis 2 Prozent einer Bausumme in
Kunst am Bau zu investieren. Im Rahmen der baugebun-
denen Kunst – das ist ein schöner Fachbegriff – sind
Kunstwerke, Objekte und Skulpturen entstanden. Dabei
wurde sehr viel Geld investiert. Sehr viele Objekte sind
über die Historie entstanden. Dabei sind öffentliche Gel-
der verwendet worden. Für diese Gelder haben wir Ver-
antwortung. Wir haben Verantwortung für die Steuergel-
der, die dort hineingeflossen sind, aber wir haben auch
eine Verantwortung vor den Künstlern, die diese Objekte
erstellt haben.
Jetzt muss ich Ihnen leider sagen: Wenn ich an mei-
nen Wahlkreis denke, fällt es mir sehr schwer, ein Bei-
spiel für Kunst am Bau zu nennen. Mir fällt nur ein Ob-
jekt ein: ein Bergmann, vier bis fünf Meter hoch, in
Fliesen an einer Wand in einem alten Rathaus. Er ist do-
kumentiert worden. Er fristet ein trauriges Dasein; aber
er hängt dort noch. Selbst an diesem kleinen Beispiel
kann ich erkennen, dass der Umgang mit Kunst am Bau
sehr schwierig ist.
Wir sollten an dieser Stelle vorsichtig sein und uns
nicht auf eine reine DDR-West-Diskussion einlassen,
sondern wir sollten es als Ganzes betrachten. Denn wir
haben auch in den anderen Bundesländern ein Erbe, das
Unterstützung benötigt; dort sehen wir durchaus Bedarf.
Wir haben ein historisches Erbe, das Respekt und
Wertschätzung verdient. Es dokumentiert unsere Wur-
zeln. Wir müssen vorsichtig sein, wenn es um die Frage
geht, welchen Maßstab wir anlegen. Ich bin der Kollegin
Grütters sehr dankbar dafür, dass sie sehr stark die fach-
liche Ebene, den Denkmalschutz, dargelegt hat, aber
auch auf die Bewertung von Kunstwerken eingegangen
ist.
Ich glaube, dass wir heute nicht unbedingt über den
ersten Antrag der Linken reden müssen; er hat sich erüb-
rigt. Wir müssen aber über den zweiten Antrag der Lin-
ken reden, in dem eine grundsätzliche Dokumentation
verlangt wird.
Lassen Sie mich zuvor einen Schlenker machen und
über dieses Gebäude sprechen. Gerade hier im Reichstag
gibt es einige Bau- und Kunstobjekte, die ich sehr beein-
druckend finde und die ich nur ungern missen würde.
Jetzt sind sie aktuell. Aber wir wissen nicht, wie in
20 oder 30 Jahren über sie gedacht wird. Mit dieser
Frage müssen wir uns beschäftigen und Regulative fin-
den.
Eigentümerwechsel, die Unkenntnis der Bauherrin,
aber auch die Ignoranz von Politik und Verwaltung füh-
ren in vielen Kommunalverwaltungen, Landesbauver-
waltungen und Bundesbauten zum Verlust von Kunst-
objekten. Wir müssen unserer Verantwortung für diese
Objekte gerecht werden. Insofern muss überprüft wer-
den, ob die Dokumentation, die bisher stattfindet, ausrei-
chend ist. Ich verstehe den Antrag der Linken so, dass es
Ihnen darum geht, dass wir über diese Frage noch einmal
nachdenken sollten.
Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein,
dass wir nicht nach Himmelsrichtung entscheiden dür-
fen, sondern uns grundsätzlich über das Thema „Kunst
am Bau“ unterhalten müssen. Es kann nicht sein, dass
Hausmeister über ein Kunstobjekt entscheiden – hop
oder top –, sondern es muss katalogisiert und bewertet
werden. Die Entscheidung, ob man es archiviert und für
unsere Nachkommen bewahrt oder nicht, kann man, wie
ich denke, ruhig Fachleuten und Künstlern überlassen.
Darüber müssen nicht wir Politiker entscheiden.
Das Erbe, das wir haben, ist ein relativ großes, und es
ist von ganz unterschiedlicher Qualität. Aber diese Frage
steht im Moment, wie ich glaube, nicht im Mittelpunkt.
Im Moment geht es vor allem darum, ein Bewusstsein
dafür zu schaffen, dass wir dieses Erbe bewerten und uns
genau überlegen: Was davon wollen wir erhalten und für
unsere Nachkommen sichern? Dies ist ein Gedanke, den
wir aufgreifen sollten. Wie wir wissen, ist das Bauminis-
terium an diesem Thema durchaus interessiert. In den
verschiedenen Werkstattgesprächen hat es in den letzten
Jahren einiges bewegt. Auf diesem Weg sollte man wei-
tergehen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/2020 und 17/3186 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
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6926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe
– zu dem Antrag der Abgeordneten MichaelFrieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPTodesstrafe weltweit ächten und abschaffen– zu dem Antrag der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTodesstrafe weltweit abschaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten AnnetteGroth, Katrin Werner, Jan van Aken, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAbschaffung der Todesstrafe weltweit– Drucksachen 17/2331, 17/2114, 17/2131,17/3181 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael FrieserAngelika Graf
Marina SchusterAnnette GrothIngrid Hönlingerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu dem Antragder Fraktion der SPDFolter bekämpfen und Folteropfer unterstüt-zen– Drucksachen 17/2115, 17/3180 –Berichterstattung:Abgeordnete Frank HeinrichChristoph SträsserMarina SchusterAnnette GrothIngrid HönlingerZum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und derFDP liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist fürdiese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-ren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Todesstrafe gehört weltweit geächtet undabgeschafft. Denn sie negiert auf berechnende und zu-gleich kaltblütige Art und Weise das elementarste Men-schenrecht: das Recht auf Leben. Menschliches Leidkann durch sie weder gutgemacht noch ungeschehen ge-macht noch zukünftig verhindert werden. Im Gegenteil,die Todesstrafe verursacht neues Leid und offenbart einGesellschaftsverständnis, das wir ablehnen. Sie ist mitunseren Werten nicht vereinbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Iran werdenMenschen zu Tode gesteinigt. Allein in den ersten zweiMonaten nach der Präsidentenwahl 2009 sind dort nachSchätzungen von Amnesty International 112 Menschenhingerichtet worden. Unter Ahmadinedschad sollen imIran im letzten Jahr insgesamt 388 Menschen hingerich-tet worden sein, auch durch grausame Steinigung.Ähnlich geschockt hat uns die Hinrichtung durch einErschießungskommando in den USA. Unabhängig vonder Tat, unabhängig davon, ob schuldig oder gar un-schuldig, und losgelöst von der martialischen Art undWeise der Vollstreckung ist für uns klar: Die Todesstrafegehört geächtet und abgeschafft.
Auch die erbarmungslose Hinrichtung eines briti-schen Staatsbürgers in China hat uns zutiefst bestürzt.Ich könnte hier und heute noch viele weitere Beispielenennen. Nach den Schätzungen von NGOs werden meh-rere Tausend Personen jedes Jahr hingerichtet, wobei wiroftmals nicht davon erfahren. Auch gibt es oft keinePressemeldung dazu.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, woraufich hinauswill. Anders als die Anträge der Oppositionwollen wir den Schwerpunkt auf den Kern des Problemslegen. Je mehr man versucht, eine Debatte durch Gesich-ter oder durch die Nennung von einigen Namen plakativzu machen, desto mehr gerät man in gefährliches Fahr-wasser.
Wir dürfen uns nicht den Anschein geben, als würdenwir priorisieren. Wir dürfen nicht eine Debatte führen,als könnte uns ein Mensch wichtiger sein als ein anderer,der von Todesstrafe bedroht ist.
Das ist gefährlich. Deswegen habe ich einen Wunsch inRichtung Opposition: Stimmen Sie unserem Antrag zu.Dann haben wir ein klares Signal aus diesem Haus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6927
Marina Schuster
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesaußenminis-ter Westerwelle hat erst am Montag bei seiner Rede vorder Parlamentarischen Versammlung des Europarateszur Menschenrechtspolitik gesprochen, unter anderemdie Todesstrafe verurteilt und die Ablehnung deutlichgemacht.Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung,Markus Löning, setzt sich ganz besonders für die Ab-schaffung der Todesstrafe ein.
Er hat jüngst in seinem Bericht im Ausschuss für Men-schenrechte und humanitäre Hilfe vom Menschenrechts-dialog mit China berichtet. Ein erstes kleines und positi-ves Zeichen aus China ist die Reduzierung der Zahl vonStraftatbeständen, die mit dem Tode geahndet werdenkönnen. Das gilt insbesondere für Wirtschaftsverbre-chen.Das ist natürlich nur ein kleiner Schritt. Da ist nochviel zu tun.
Der Kampf für die weltweite Ächtung und Abschaffungder Todesstrafe ist und bleibt ein Kraftakt. Ein Punkt istmir dabei wichtig: Ob ein Staat die Todesstrafe abschafftoder nicht, hängt nicht davon ab, ob er reich oder arm ist,sondern hängt allein vom politischen Willen der Verant-wortlichen ab.
Daher müssen wir die politisch Verantwortlichen in un-seren Gesprächen immer wieder zur Abkehr bewegenund sie von der Todesstrafe abbringen.Ich sage ganz ehrlich: Ich finde es schade, dass wirkeinen interfraktionellen Antrag haben. Umso bedauerli-cher ist, dass die Opposition für einen gemeinsamen An-trag die Nennung eines ganz bestimmten Namens zurBedingung gemacht hat.
Die Herausstellung Einzelner wird der Tragweite desUnrechts nicht gerecht. Wir möchten, dass die vielenNamenlosen, die weder eine prominente Stimme nocheine große Pressewirksamkeit haben, gehört werden undzur Geltung kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die FDP ist klar:Das Todesstrafen- und Folterverbot muss umfassend undabsolut gelten. Der Koalitionsantrag verfolgt ein wichti-ges Ziel. Die Bundesregierung unternimmt im weltwei-ten Kampf gegen Folter und für Folterprävention bereitsgroße Anstrengungen. So setzt sich die Bundesregierungunter anderem durch Demarchen für die Ratifizierungdes Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention ein.Entsprechende Erfolge werden sichtbar: Die Zahl derRatifizierungen steigt. Das ist eine gute Nachricht, aberwir dürfen nicht lockerlassen.
Zusammen mit unserem Antrag „Menschenrechteweltweit schützen“, den wir im Dezember 2009 in die-sem Hohen Hause beraten haben, bildet unser Antragdas Fundament für unsere Arbeit gegen Todesstrafe undFolter weltweit. Wir sind auf dem Weg. Wir halten Kurs.
Christoph Strässer ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhatte mir heute eigentlich vorgenommen, mich bei die-sem ernsten und wichtigen Thema nicht aufzuregen,
insbesondere nicht bei Ihren Ausführungen, Frau Kolle-gin Schuster. Diese waren aber wirklich an der Grenzedessen, was noch mit der Wahrheit zu tun hat; das willich ganz deutlich sagen.
Erlauben Sie mir zwei Bemerkungen zum ThemaWahrheit. Der erste Versuch, einen gemeinsamen, inter-fraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen, kam in ers-ter Linie aus der Fraktion der Grünen und ist dann ge-meinsam mit uns in der Position eingebracht worden,einen Kompromiss zu finden, den wir alle gemeinsamtragen können. Wenn Sie jetzt sagen, wir sollten einfachIhren Antrag abschreiben, ist das pure Geschichtsklitte-rung.
Tatsache ist: Drei Viertel Ihres Antrags wurden bei Rot-Grün abgeschrieben. Ich denke, das muss man denjeni-gen, die hier zuhören, auch einmal zur Kenntnis bringen.
Deshalb ist Ihr Antrag nicht insgesamt falsch; das willich hier gar nicht behaupten. Ihre Begründung, die Siehier heute vorgetragen haben, will ich Ihnen aber geradein Vorbereitung des Internationalen Tages gegen die To-desstrafe doch einmal vorführen, weil ich glaube, Siemachen hier einen riesengroßen Fehler. Wir machendiese Veranstaltung nämlich nicht für uns und nicht fürdie Galerie, sondern wir setzen uns gerade am
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6928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Christoph Strässer
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10. Oktober für die Menschen ein, die weltweit in Knäs-ten sitzen – zum Teil seit vielen Jahren – und mit der To-desstrafe bedroht sind. Denen wollen wir helfen.Jetzt muss ich Ihnen wirklich sagen: Ich kann Sienicht begreifen; Sie haben sich ja nicht auf diese einePerson kapriziert.
Wir haben im Wege des Kompromisses einen Vorschlaggemacht – hören Sie mir bitte zu –, den ich nach wie vorfür richtig halte und der dem Thema auch angemessenist. Wir haben gesagt: Wir wollen diese eine Personexemplarisch, aber doch nicht wertend benennen. Wennjemand in China, im Iran, im Irak, im Jemen oder in denUSA hingerichtet wird, dann ist das nicht wenigerschlimm, als wenn jemand in anderen Regionen dieserWelt hingerichtet wird. Ich finde aber, man muss in einersolchen Debatte auch einmal Klartext reden und sagen,dass im Iran – Sie haben es gesagt – 388 Menschen hin-gerichtet wurden: schwangere Frauen, Behinderte, Min-derjährige. Sollen wir dazu schweigen?
Sollen wir so tun, als sei das ein Problem, mit dem wirgar nichts zu tun haben?Sie haben auch den Irak nicht angesprochen. Wir ho-len Menschen aus dem Irak zurück, weil sie dort bedrohtsind. Dort sind 120 Menschen hingerichtet worden. Dür-fen wir im Deutschen Bundestag in einer Resolutionzum Internationalen Tag gegen die Todesstrafe nichtmehr den Namen „Irak“ erwähnen? Ich bitte Sie allenErnstes! Ich finde, das kann nicht sein.Sie haben jetzt China angesprochen. Ich weiß über-haupt nicht, warum Sie unserem Antrag nicht zuge-stimmt haben, obwohl Sie die einzelnen Länder, um diees geht, jetzt hier in dieser Debatte als Beispiel anführen.Ich sehe keine Begründung dafür, warum Sie dies hiernicht tun. Ich sage ganz deutlich: Es ist insgesamt – ichschließe das ganze Haus hier ein, aber insbesondere Sie,weil Sie nicht kompromissbereit gewesen sind; das istder Punkt – ein wirklich schlechtes Zeugnis für denDeutschen Bundestag, dass er zum ersten Mal, seit esdiesen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe gibt,nicht zu einer gemeinsamen Resolution gefunden hat.
Ich will das noch einmal sagen: Sie haben all dieseEinzelfälle angesprochen. Entschuldigung! Um was gehtes denn eigentlich? Glauben Sie denn allen Ernstes, dassMenschen, deren Namen wir nicht kennen und die ir-gendwo in irgendeinem Knast auf dieser Welt auf ihreHinrichtung warten – zum Teil seit mehr als 20 Jahren –,uns hier nicht zuhören, wenn Sie uns sagen, hier werdepriorisiert, wenn einzelne Beispiele genannt werden?Ich bin völlig anderer Meinung als Sie. Es geht da-rum, in der Öffentlichkeit Interesse zu wecken und Mei-nungen herzustellen. Dabei geht es nicht darum, ab-strakte Themen zu diskutieren und auf hohem Niveaudie Einhaltung internationaler Vereinbarungen einzufor-dern. Es geht dabei vielmehr um Menschen, um Gesich-ter und um Geschichten. Um diese Geschichten müssenwir uns heute kümmern. Deshalb sind die Beispiele, diewir angeführt haben, überhaupt nicht dafür geeignet,dass irgendein anderes Schicksal vernachlässigt wird.Wir müssen diese Beispiele nennen, damit sich die Öf-fentlichkeit von diesen Menschen ein Bild machen kann,damit wir in der Öffentlichkeit Wirkung erzielen. Darumund um nichts anderes geht es.
Ich will jetzt noch ein anderes Thema ansprechen, dawir auch einen Antrag zum Folterverbot debattiert ha-ben. Der Kollege Heinrich hat sich schon beim letztenMal interessanterweise dazu geäußert – so wie Sie jetztauch wieder, Frau Schuster. Sie haben einen entspre-chenden Antrag vorgelegt. Es wird zwar viel geredet,aber dann heißt es: Damit brauchen wir uns gar nichtmehr zu beschäftigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Arbeitim Ausschuss auch komplett einstellen. Wenn Sie sagen,Sie haben einen Koalitionsantrag gemacht, in dem allePunkte irgendwie erwähnt sind, dann brauchen wir hiergar nicht mehr zu sitzen.Ich darf aber einmal darauf hinweisen, dass wir mitunserem Antrag auf konkrete Ereignisse, und zwar nichtirgendwo anders, sondern hier in Deutschland, Bezuggenommen haben. Dabei geht es zum Beispiel um dieFrage, wie wir eigentlich das von Ihnen angesprocheneund sehr wichtige Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention umsetzen.Ich darf Sie einmal ganz aktuell darauf verweisen– das konnten Sie in Ihrem damaligen Antrag leider nochnicht berücksichtigen –: Es gibt seit wenigen Wochen denersten Bericht der Bundesstelle zur Verhütung von Folter.Der Leiter dieser Stelle, der uns nicht sehr nahe steht, derKollege Lange-Lehngut, hat ganz deutliche Dinge dazugesagt. Er hat gesagt: Wir als Bundesstelle müssen300 Gewahrsamseinrichtungen begutachten. – Er ist eh-renamtlicher Chef, und die Bundesstelle verfügt übereine gewisse Ausstattung. Er hat für diese Aufgabe zweiStellen in Wiesbaden und 200 000 Euro zur Verfügung.Herzlichen Glückwunsch! Wenn wir mit erhobenemZeigefinger auf die Menschenrechtsverletzungen in derganzen Welt zeigen, aber eine Präventionsstelle zur Ver-hinderung von Folter, die beispielhaft für solche Stellenin anderen Ländern sein soll, so ausstatten, dann ist dasfür Deutschland und diese Bundesregierung schlicht undergreifend peinlich. Das ist der eine Punkt, um den esgeht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6929
Christoph Strässer
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Deshalb werden wir das möglicherweise in den Haus-haltsberatungen aufgreifen. Es geht schließlich nicht umweltbewegende Größenordnungen. Wir wollten dasThema wieder auf die Tagesordnung bringen. Wir habenerst einmal eine Erhöhung der Mittel um 30 000 Eurogefordert, um deutlich zu machen, dass wir uns mit die-sem Thema befassen. Aber selbst dabei sind Sie nichtbereit, sich zu bewegen. Wenn wir aber selbst unsereHausaufgaben in diesem wichtigen Punkt nicht machen,dann ist es nicht in Ordnung, auf die Welt um uns herumzu blicken und dafür zu sorgen, dass andere Länder et-was unterschreiben, was wir zwar auch unterschriebenhaben, aber ungenügend umsetzen. Das ist die Wahrheit.Darum geht es an dieser Stelle.Der letzte Punkt, der auch eine aktuelle Dimensionhat, ist die Frage, wie wir mit den sogenannten diploma-tischen Zusicherungen umgehen. Auch das ist in den Be-richten der Bundesregierung kritisch angesprochen wor-den. Diplomatische Zusicherungen sind Vereinbarungenauf Regierungsebene über Menschen, die in Deutschlandunter Terrorismusverdacht festgenommen und inhaftiertworden sind und die aufgrund von Zusicherungen aus-ländischer Regierungen in bestimmte Länder überstelltwerden, in denen sie sonst nicht nach völkerrechtlichenStandards behandelt würden.Ich sage: Es kann Überstellungen geben, aber sie dür-fen nicht auf der Basis von relativ unverbindlichen di-plomatischen Zusicherungen erfolgen. In dem „hochde-mokratischen“ Land Syrien zum Beispiel werden, wiewir mittlerweile wissen, Terrorverdächtige bei einerRückführung unmittelbar nach ihrer Ankunft wieder ver-haftet und in bestimmten Einrichtungen gefoltert. Des-halb kann diese Bundesregierung, die sich auf einem gu-ten Weg sieht, aus meiner Sicht nur sagen: Wir machennur dann beim Antiterrorkampf mit, wenn völkerrechtli-che Standards eingehalten werden. Sofern es noch diePraxis der Überstellung aufgrund diplomatischer Zusi-cherungen gibt, muss sie beendet werden. Aus meinerSicht können Menschen nicht in Staaten zurückgeführtwerden, in denen es noch Folter gibt.Das ist eine konkrete Forderung. Ich lade Sie gerneein, mit uns darüber zu diskutieren. Ansonsten hoffe ich,dass wir uns trotz aller möglichen Missverständnisse imVorfeld und Streitigkeiten, die wir jetzt haben, bei demThema einig sind. Ich bin sicher, dass die Todesstrafeinsgesamt abgeschafft wird. Das Folterverbot muss welt-weit, also auch in Deutschland, gelten. Dafür müssen wirmit den Instrumentarien, die wir zur Verfügung haben,sorgen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Frieser für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich unterstelle dem Kollegen Strässer immer dasBeste. Das gilt gerade für diese Debatte, in der es um dieTodesstrafe geht. Allerdings halte ich die Aufregung füretwas gespielt, insbesondere im Hinblick auf den histori-schen Kontext, in dem wir uns bewegen.Am Anfang stand der Antrag „Menschenrechte welt-weit schützen“ der Koalitionsfraktionen, in dem bereitsauf die Ächtung der Todesstrafe in den betreffendenLändern eingegangen worden ist. Ich will das kurz auf-rollen, damit nichts unverstanden bleibt. Daraufhin hatdie Fraktion Die Linke einen zu einem großen Teil wort-gleichen Antrag vorgelegt. Die Grünen haben sich ent-schlossen, diesen Antrag abzulehnen und einen eigenenAntrag einzubringen. Dann gab es ein Problem. Wir sindnämlich der Auffassung, dass wir einen gemeinsamenGrundlagenantrag zur Ächtung der Todesstrafe erarbei-ten sollten. Das hat nichts mit fehlender Kompromissbe-reitschaft oder Ähnlichem zu tun. Das Thema ist undbleibt grundsätzlich immer aktuell; denn für uns sindMenschenrechte unteilbar und universell, und die Todes-strafe ist die ultimative Form der Menschenrechtsverlet-zung. Deshalb muss man immer wieder grundsätzlichfeststellen, dass sich kein Mensch als Richter über Lebenund Tod aufspielen kann, weil er damit auch immer einStück weit über sich selbst urteilt. Deshalb müssen Sie,Herr Strässer, damit leben, dass Sie immer, wenn Sie ei-nen Einzelfall herausgreifen, werten und gewichtenmüssen.
Ich unterstelle Ihnen beste Absichten. Sie tun dasselbstverständlich nicht, um unbedingt eine andere Kon-notation mitschwingen zu lassen und eine andere Aus-einandersetzung zu führen. Ein gemeinsamer Antrag istaber definitiv gescheitert, weil wir nicht bereit sind, an-hand von Einzelfällen eine Form von Landeskritik, dieideologisch getragen ist, zu üben. Wir sind der Auffas-sung, dass wir als Mitglieder des Bundestages, wenn wirein Land besuchen, selbst Kritik üben können oder dassdie Exekutive auf der Grundlage eines Antrages diesesBundestages das tun soll. Aber wir lassen uns nicht in-strumentalisieren. Wenn es um Einzelfälle geht, machenwir nicht Politik in dem betreffenden Land, und das auchnoch ideologisch verbrämt. Dann können Sie mit unsererZustimmung nicht rechnen.
Die generelle Ablehnung der Todesstrafe eint uns si-cherlich. Ich glaube auch, dass wir an dieser Stelle Gottsei Dank nicht sehr weit auseinanderliegen. Ich kann Ih-nen aber nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass sichunsere grundsätzlichen Denkansätze unterscheiden. Dasmag nicht immer hinlänglich klar sein. Aber die Verant-wortungsethik im Max Weber’schen Sinn besagt, dassder nächste Schritt der wesentliche ist und dass es umdas Bohren dicker Bretter geht. Wir können durchaus da-rauf verweisen, dass es weltweit Erfolge gibt. Es gibt im-mer mehr Staaten, die entweder auf die Todesstrafe ver-zichten oder zumindest ihre Anwendung aussetzen undsie nicht mehr praktizieren. Dieser Weg ist lang und stei-
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6930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Michael Frieser
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nig. Aber ich glaube, dass wir kleine Schritte machenmüssen und bilaterale Gespräche der bessere Weg sind.Eine ideologische Auseinandersetzung sollte in diesemKontext nicht geführt werden.
Ich kann nicht sagen, dass das Ganze durch den Än-derungsantrag, den die Grünen heute kurzfristig einge-bracht haben, besser wird. Dort wird auf noch mehr Dra-maturgie gesetzt. Natürlich verträgt der Einsatz gegendie Todesstrafe durchaus etwas Dramaturgie und Pathos.Trotzdem bin ich der Auffassung: Wenn wir Staaten auf-fordern, sich diesem Thema im kulturhistorischen Kon-text zu nähern, dann sollten wir das, vor allem wenn esum Einzelfälle geht, auf bilateraler Ebene tun. HerrSträsser, wenn Sie ein Land besuchen, können Sie denentsprechenden Einzelfall anprangern. Aber Sie müssenauch damit leben, dass es im Einzelfall nicht einfacherwird, wenn man auf ihn hinweist. Die Situation kannauch schlimmer werden.Im Grunde dürfte es Ihnen nicht schwerfallen, dasgrundsätzliche Anliegen des Koalitionsantrages zu un-terstützen; denn das tut Ihrem Anliegen keinen Abbruch.Ich hoffe, dass wir weiterhin darin geeint sind, dass dasThema, über Tod und Leben zu entscheiden, gleichzeitigauch eine Frage der Existenz ist. Aber im Einzelfall kanndies nur ein Thema sein, wenn ich dem Betreffenden vonAngesicht zu Angesicht gegenüberstehe und etwas fürihn erreichen kann. Wir sind der Auffassung, dass wirdas mit unserem Grundlagenantrag besser können alsmit Ihrem. Deshalb werden Sie mit unserer AblehnungIhres Antrags leben müssen.
Niema Movassat ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! „Die Todesstrafe ist das bezeichnende und ewigeMerkmal der Barbarei“, schrieb Victor Hugo. Dieser Ge-danke wohnt auch dem Grundgesetz inne; denn die To-desstrafe verstößt gegen Art. 1, die Unantastbarkeit derWürde des Menschen. Darin sind sich alle Fraktionen indiesem Haus einig.Einig sind sich zumindest SPD, Grüne und Linke inihren Anträgen auch bei Mumia Abu-Jamal. Der politi-sche Gefangene und Journalist Mumia kämpft in denUSA seit 29 Jahren um ein neues Verfahren. Im Novem-ber gibt es eine mündliche Anhörung über die Frage derTodesstrafe gegen ihn. Was wir schon im Dezember2009 hier gefordert haben, bleibt damit aktuell. Die ge-gen ihn ausgesprochene Todesstrafe muss in eine Haft-strafe umgewandelt und der Fall frei von Rassismus er-neut untersucht werden.
Nach China sind der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, dieUSA und der Jemen die Länder mit den meisten Exeku-tionen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen – das wurdeschon gesagt – erwähnt dies mit keinem Wort. Mit vierdieser fünf traurigen „Tabellenführer“ unterhält Deutsch-land umfangreiche Programme zur Polizei- und Militär-kooperation, liefert Technologie und Ausrüstung odertauscht personenbezogene Daten zur sogenannten Ter-rorbekämpfung aus. Das ist nicht der Weg, mit dem manseinen Protest gegen eine so krasse Menschenrechtsver-letzung wie die der Todesstrafe glaubwürdig vertritt.
Leider geht auch niemand von Ihnen in den Anträgenauf extralegale bzw. gezielte Tötungen ein. Das ist eineandere Form der Todesstrafe. Diese Abwandlung derklassischen Todesstrafe hat in den letzten Jahren im Rah-men von Kriegen und Konflikten erschreckende Aus-maße angenommen.Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte undGrundfreiheiten verbietet aber nicht nur die Todesstrafe,sondern erlaubt auch keine Abweichungen in Notstands-fällen wie beispielsweise im Krieg. Im Zuge des soge-nannten Krieges gegen den Terrorismus ist aber offen-sichtlich jedes Mittel recht.Am Montag berichteten zahlreiche Medien von derHinrichtung mutmaßlicher deutscher Terroristen in Pakis-tan durch US-Drohnen. Seit 2008 sind schon 1 150 Men-schen so hingerichtet worden: kein Prozess, keine Be-weisführung, kein rechtsstaatliches Urteil, vielmehrTodesstrafe auf Verdacht und Knopfdruck. Das ist men-schenverachtende Willkür und wird von der FraktionDie Linke in aller Deutlichkeit verurteilt.
Die Bundesregierung betont gerne, dass die Bundes-wehr in Afghanistan nicht direkt an extralegalen Tötun-gen beteiligt ist, sondern lediglich Personen benennt, diegefangen genommen werden sollen. Aber zum einenweiß auch die Bundesregierung, dass diese Personenschon einmal getötet statt gefangen genommen werden,zum anderen hat das Bundesverteidigungsministeriumim August 2010 mitgeteilt, dass entsprechend demISAF-Regelwerk eine Liste mit Zielpersonen geführtwird, bei denen die Möglichkeit besteht – ich zitiere –„die Anwendung gezielt tödlich wirkender militärischerGewalt zu empfehlen“. Also leistet die Bundeswehrdoch indirekte Unterstützung für gezielte Tötungendurch andere ISAF-Truppen. Das ist ein unhaltbarer Zu-stand.
Extralegale und gezielte Tötungen sind im sogenann-ten Krieg gegen den Terror zu einem Standardmittel dersogenannten westlichen Wertegemeinschaft geworden.Dabei sind Exekutionen ohne jedes Gerichtsurteil erstrecht ein Rückschritt in die Barbarei. Wer gibt einer klei-nen Gruppe von Politikern, Geheimdienstlern und Mili-tärs das Recht, über Leben und Tod von Menschen zuentscheiden? Diese Vorgehensweise widerspricht ein-deutig rechtsstaatlichen Grundsätzen. Dies sieht übri-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6931
Niema Movassat
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gens auch Wolfgang Bosbach so, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion und Vorsitzender des Innenausschusses.Ich zitiere aus seinem Interview mit dem Deutschlandra-dio aus dem Jahr 2007:Die gezielte Tötung halte ich für mehr als proble-matisch, denn dafür sehe ich keine Rechtsgrundlage… Und selbst wenn man sagen würde, hier geht esnicht um Strafe, sondern um Gefahrenabwehr, …kann ich mir … keine Rechtsnorm vorstellen, wowir das vorsätzliche Töten zum Zwecke der Gefah-renabwehr in das Gesetzbuch nehmen …Es gilt: Auch in einem sogenannten Krieg gegen denTerrorismus dürfen zivilisatorische Werte und men-schenrechtliche Errungenschaften nicht über Bord ge-worfen werden. Wer dies tut, begibt sich auf das Niveauderjenigen, die er vorgibt bekämpfen zu wollen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält der Kollege Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestagist sich einig in der Frage, dass wir die Todesstrafe welt-weit abschaffen und zurückdrängen wollen. Bei der Ab-schaffung der Todesstrafe geht es einerseits darum,rechtliche Prinzipien durchzusetzen und für sie interna-tional zu werben, andererseits geht es um konkreteSchicksale und konkrete Menschen, die unmittelbar vonder Todesstrafe bedroht sind. Sich für diese einzusetzen,ist auch für Konservative, Christdemokraten in anderenParlamenten – wie dem Europäischen Parlament – eineSelbstverständlichkeit. Dort gibt es dauernd Resolutio-nen zu Einzelfällen. Auch diese Christdemokraten redenüber Einzelfälle.Ich darf Sie auf die Tagesordnung der nächsten Sit-zung hinweisen. Da liegt ein Antrag der Koalition, einAntrag der Grünen und ein Antrag der Linken zu Frei-heit und zur Freilassung von Gilad Schalit vor, einem is-raelischen Gefangenen, der vor vier Jahren von derHamas verschleppt wurde und seitdem gefangen gehal-ten wird. Natürlich reden wir da über einen Einzelfallund nicht über ein abstraktes Prinzip, weil es bei demSchutz der Menschenrechte immer um ganz konkreteMenschen geht, für die wir uns einsetzen müssen und fürdie sich auch die Bundesregierung einsetzt. Ich muss sa-gen: Sie als Koalition blamieren sich, weil unsere Bun-desregierung weitaus besser ist, als es Ihre Anträge ver-muten lassen.
Selbstverständlich hat sich die Europäische Union zumBeispiel im Fall von Teresa Lewis in den letzten Wochenmassiv gegen deren Tötung eingesetzt. Selbstverständ-lich kämpft man weltweit darum, Frau Aschtiani vor derSteinigung zu retten.
Selbstverständlich geht es um Einzelfälle. Es ist keinSchaden, wenn Personen im Rahmen einer solchenKampagne prominent werden, weil sie das unter Um-ständen vor der Vollstreckung der Todesstrafe schützt.Deshalb ist unsere Strategie richtig.Aber Sie gehen noch weiter. 14 Tage nachdem wir un-seren Antrag eingebracht hatten, haben Sie ihn übernom-men und einfach Punkte herausgestrichen. Da möchteich Sie schon fragen, was der Sinn Ihrer Streichungenist. Sie fordern in Ihrem Antrag zu Recht zwei Mitglied-staaten der Europäischen Union und Russland auf, diedie Abschaffung der Todessstrafe betreffenden Zusatz-protokolle zur Europäischen Menschenrechtskonven-tion zu unterschreiben.Aber warum haben Sie unsere Forderung an Chinaaus dem Antrag gestrichen,
seine Zusage – es hat sie im Rahmen der Olympiade ge-macht und immer wiederholt –, endlich den UN-Zivil-pakt, durch den die Todesstrafe wesentlich zurückge-drängt, wenn auch nicht ganz abgeschafft würde, zuunterschreiben? Weil Ihnen das Urheberrecht und dasMarkenrecht in China und gute Beziehungen wichtigersind, als hier Klartext zu reden?
Warum haben Sie aus Ihrem Antrag die Aufforderung anden Iran herausgenommen, der den UN-Zivilpakt zwarunterschrieben hat, sich aber einen feuchten Kehricht umseine Einhaltung kümmert? Wir wissen doch, dassFrauen und Homosexuelle im Iran für einfache Sexual-und Moraldelikte reihenweise erhängt oder gesteinigtwerden. Warum sprechen Sie den Iran hier nicht direktan, obwohl das ein ganz konkretes Thema ist? Liegt esvielleicht ebenfalls an den guten wirtschaftlichen Bezie-hungen, die Deutschland zum Iran hat, dass man hiernicht Ross und Reiter nennt? Warum, obwohl wir geradeden Fall Lewis diskutiert haben, erinnern wir unserenBündnispartner Vereinigte Staaten von Amerika nichtexplizit daran, dass wir von ihm erwarten, dass er sich,wenn er eine Führungsrolle in der Welt für sich bean-sprucht, auch bei der Beachtung der Menschenrechte imeigenen Land an die Maßstäbe hält, die er von anderenLändern immer selbstverständlich einfordert?
Warum schweigen Sie in Ihrem Antrag zu diesen Fäl-len, obwohl Sie andere Länder durchaus benennen?
Da fragt man sich: Welcher Gedanke steckt hinter die-sem selektiven Abschreiben unseres Antrages? Ich musssagen: Heute ist kein guter Tag für die Menschenrechte.Das zeigt sich darin, dass wir uns bei einer solchen Frageüber den Text nicht einigen konnten, obwohl wir dasversucht haben.
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6932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Volker Beck
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Ich möchte etwas zu der Partei sagen, die in ihremNamen ein großes C trägt, was ich respektiere. Sie redenin letzter Zeit viel über das christliche Menschenbild undmachen sich darüber Gedanken. Um etwas zu den Ein-zelfällen zu sagen, möchte ich gerne mit einem Wort ausder Bibel schließen:Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt,das habt ihr mir getan.Oder auch nicht. Matthäus 25, 40.
Frank Heinrich ist der letzte Redner in dieser Debatte
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich habe nicht erwartet, dass nichtich, sondern mein Vorredner einen Vers aus der Bibel– ich habe sie zu Hause; ich war Pastor – vorliest. Ichwerde darauf gleich noch kurz eingehen. Ich glaube, da-rin steckt die Botschaft, dass es einen Unterschied gibtzwischen dem, was wir als ganzes Haus machen und re-präsentieren, und dem, was einer einem Geringsten ge-tan hat.
Ich will damit einfach vorwegnehmen: Ich glaube, dasswir als Einzelne sehr wohl in der Lage sind, die Men-schenrechte hochzuhalten, Einzelpersonen zu nennen.Ich möchte auf den zweiten Schwerpunkt dieser De-batte zu sprechen kommen. Er ist von Ihnen, FrauSchuster, und von anderen am Rande erwähnt worden.Es geht nicht nur um die Todesstrafe, sondern auch umdie im Antrag der SPD und in der Beschlussempfehlungbehandelte Folter.Die weltweite Bekämpfung der Folter ist eine derwichtigsten menschenrechtlichen Aufgaben.Das ist der letzte Satz im ersten Absatz Ihres Antrags,den wir heute abschließend beraten. Ja, vollkommen un-terstütze ich ihn. Ich betone: ein ausdrückliches unddeutliches Ja. Folter erniedrigt, entwürdigt, entrechtetdie Opfer. In aller Entschiedenheit müssen wir Folter be-kämpfen und Folteropfer unterstützen.
Deswegen hat die Koalition ganz zu Beginn der Le-gislaturperiode den eben erwähnten Antrag „Menschen-rechte weltweit schützen“ eingebracht und sehr deutlichformuliert: Das Folterverbot gilt absolut für alle, und esdarf nicht gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden.Trotzdem ist Folter in 81 Staaten – Sie schreiben von111 Staaten, Amnesty spricht von 81 Staaten – traurigeRealität. Ich erinnere mich, dass auch Freunde von mirdamals hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang gefol-tert wurden. Einmal war ich sehr wahrscheinlich der An-lass, weil ich einen Fehler gemacht hatte, und meinFreund wurde danach von der Securitate aufgesucht, ab-geholt, verhört – und ich weiß nicht und möchte mirauch nicht vorstellen, was noch folgte.Gravierend ist die Lage – das haben wir bereits vonFrau Schuster und auch von anderen gehört – im Iran.Hauptbeweismittel in den dortigen Verfahren sind oftGeständnisse, die regelmäßig und systematisch durchFolter erzwungen werden. Politische Häftlinge redenvon Misshandlungen, Schlafentzug, Vergewaltigungen,Drohungen gegen die Familie. Unsere Fraktion wird da-her einen gesonderten Antrag zur Lage im Iran vorlegen.
Dass neben Industriestaaten wie Italien, Spanien undden USA auch wir, die Bundesrepublik Deutschland, aufder Amnesty-Liste erscheinen, ist erschütternd und lässtsich letztlich nicht rechtfertigen. Mit der Einrichtung derBundesstelle für Verhütung, die Sie auch in Ihrem An-trag erwähnen, verfügt die Bundesrepublik allerdingsüber einen wirksamen Präventionsmechanismus.
Noch ist keine Länderkommission zur Verhütung vonFolter eingerichtet. Sie wird aber, wie Sie in Ihrem An-trag richtig sagen, in nächster Zeit konstituiert.Dem ersten Jahresbericht – Herr Strässer, Sie habendarauf hingewiesen –, der in diesem September erschie-nen ist, ist zu entnehmen, dass die Überprüfung von Ein-richtungen aufgrund der personellen Ausstattung nurstichprobenartig erfolgen kann. Das kann man in metho-discher Hinsicht infrage stellen. Man kann es aber auchbegrüßen;
denn flächendeckende Untersuchungen bringen unterUmständen eher geschönte Ergebnisse hervor, als dasbei Stichproben der Fall ist.Die Ergebnisse dieser Überprüfungen zeigen auf je-den Fall – auch das steht im jetzt erschienenen Jahresbe-richt –, dass die menschenrechtliche Lage in den Ge-wahrsamseinrichtungen der Bundesrepublik erfreulichpositiv ist. Daher ist es, finden wir, nicht legitim, dieAusstattung der deutschen Präventionsstelle zur Verhü-tung von Folter mit denen anderer Länder zu verglei-chen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun.Weiterhin enthält der Antrag die Forderung, Flücht-linge und Schutzbedürftige nicht in Staaten abzuschie-ben, in denen gefoltert wird.
Diese Forderung ist inhaltlich richtig, allerdings, wie wirfinden, sachlich überflüssig. Für die Ausländer in unse-rem Land gibt es das Asylrecht und das Ausländerrecht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6933
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Herr Kollege, wollen Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck beantworten?
Ich bitte Sie, Herr Beck.
Ich finde es sehr gut, dass wir uns darüber verständi-
gen, dass wir keine Flüchtlinge in Länder abschieben,
wo gefoltert wird. Wir haben gegenwärtig den Fall, dass
ein deutscher Staatsbürger in Syrien verschwunden ist.
An diesem Fall können wir sehen, wie der syrische
„Rechtsstaat“ funktioniert. Trotzdem ist vor einiger Zeit
mit den Stimmen dieser Koalition das deutsch-syrische
Rücknahmeabkommen geschlossen worden. Wir erleben
regelmäßig, dass politische Oppositionelle oder Teile der
kurdischen Minderheit, die wir nach Syrien zurückschie-
ben, dort verschwinden. Stimmen Sie mir zu, dass man,
wenn man nach Ihren Worten verantwortlich handeln
will, nach Syrien keine Kurden, keine Oppositionellen
und keine Menschen, die dort womöglich strafrechtlich
verfolgt werden, zurückschieben darf?
Ich gebe Ihnen recht; ich habe selber mit syrischen
Staatsbürgern gesprochen. Es gibt im Hinblick auf Aus-
länder, die wegen bestimmter Angelegenheiten in ihrem
Herkunftsland mit Problemen – unter anderem solchen,
wie Sie sie beschrieben haben – zu rechnen haben, in-
zwischen dieses Rücknahmeabkommen.
Wir haben aber die deutliche Aussage, dass in Asylver-
fahren, die die unmittelbare Rückführung zur Folge ha-
ben könnten – Sie sprachen Syrien an –, vorerst auf Ab-
lehnung verzichtet werden soll. Da ist also vonseiten
unseres Innenministeriums schon eingeschritten worden.
Die Innenbehörden unseres Landes wurden zudem
aufgefordert, jeden Einzelfall der Rückführung beson-
ders sorgfältig zu prüfen. Das heißt, man ist sich dessen
in einem gewissen Maße bewusst und verändert seine
Haltung dazu.
Im vorliegenden Antrag – ich komme darauf zurück –
wird die stille Diplomatie teilweise direkt oder indirekt
kritisiert. Ich kann mich daran erinnern, dass vor zwei
Wochen der Außenminister bei uns im Ausschuss war
und anschaulich, wie ich finde, klargemacht hat, dass ge-
rade das Mittel der stillen Diplomatie sehr effektiv sein
kann und Opfer schützt, weil sich Staaten so nicht brüs-
kiert fühlen müssen.
Noch einmal zum Iran. Dort wird beispielsweise den
Bahai oft vorgeworfen, Spionage zu betreiben. Von ähn-
lichen Anschuldigungen gegen christliche Organisatio-
nen hören wir auch. Wir in Chemnitz haben das im
Zusammenhang mit der verstorbenen Daniela Beyer
schmerzlich erfahren müssen. Dieser Vorwurf wurde
auch mit ihr in Verbindung gebracht. Wenn so etwas
überhöht und in der Öffentlichkeit laut geäußert wird,
unter anderem von unserer Ebene, dann kann das für Be-
troffene zu noch stärkeren Repressalien führen. Die stille
Diplomatie ist ein unverzichtbarer Teil sowie die andere
Seite der Medaille, auf deren erster Seite der Aufdruck
„Menschenrechte weltweit schützen“ steht.
Herr Strässer, Sie haben gesagt: exemplarisch und
nicht wertend. – Wir befürchten, dass das dann passiert.
Wir nehmen keine Wertung vor, aber die Länder, die wir
verurteilen, nehmen eine Wertung vor. Die sagen dann
mit Blick auf die Namen, die nicht genannt werden: Auf
die brauchen wir nicht ganz so genau zu achten.
NGOs, einzelne Abgeordnete und viele Bürger sollten
sich dafür einsetzen, dass Sachverhalte und Personen ge-
nannt werden – das ist wirklich zu begrüßen –; aber im
Rahmen einer öffentlichen Stellungnahme dieses Hauses
wäre das fehl am Platze.
Herr Kollege.
Deshalb begrüßen wir jeden Antrag, in dem wir uns
generell gegen Folter aussprechen. Damit handeln wir,
schaffen wir Handlungsmaximen, die Resolutionscha-
rakter besitzen und den Bezugsrahmen für einzelne Akti-
vitäten darstellen können.
Herr Kollege.
Das halten wir für selbstverständlich.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
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6934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Bevor wir nun zu einer Reihe von Abstimmungenkommen, bedanke ich mich bei all den Kolleginnen undKollegen, die die Feststellung der Mehrheitsverhältnissefür das Präsidium übersichtlicher gestaltet haben, als esnoch vor wenigen Minuten der Fall war.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe aufDrucksache 17/3181. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahmedes Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufder Drucksache 17/2331 mit dem Titel „Todesstrafeweltweit ächten und abschaffen“. Hierzu liegt ein Ände-rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor,über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/3235?
– Das ist jedenfalls nicht die Mehrheit. Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag istmit Mehrheit abgelehnt.Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung ab.Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit Mehrheit angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2114 mitdem Titel „Todesstrafe weltweit abschaffen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die Be-schlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2131mit dem Titel „Abschaffung der Todesstrafe weltweit“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist dieBeschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.Unter dem Tagesordnungspunkt 17 b geht es um dieBeschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen-rechte und Humanitäre Hilfe zum Antrag der SPD-Frak-tion mit dem Titel „Folter bekämpfen und Folteropferunterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/3180, den Antragder SPD-Fraktion auf Drucksache 17/2115 abzulehnen.Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist dieBeschlussempfehlung mehrheitlich angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16:Erste Beratung des von den Abgeordneten OliverKrischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weite-ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Energiewirt-schaftsgesetzes– Drucksache 17/3182 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Dazugibt es offenkundig keine Einwände. Es handelt sich umdie Reden der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß,Dr. Georg Nüßlein, Rolf Hempelmann, Klaus Breil,Dorothée Menzner und Oliver Krischer.1)Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf der Drucksache 17/3182 an die in der Tages-ordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Gibtes andere Vorschläge, Einwände, Widerstände? – Das istnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 18:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines NeuntenGesetzes zur Änderung des Bundes-Immis-sionsschutzgesetzes– Drucksachen 17/2866, 17/3034 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 17/3169 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung
Ute VogtMichael KauchRalph LenkertHans-Josef FellAuch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, dieReden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zugeben. – Einwände sind nicht erkennbar. Es handelt sichum die Reden der Kolleginnen und KollegenDr. Michael Paul, Ute Vogt, Michael Kauch, RalphLenkert und Hans-Josef Fell.2)Wir kommen zur Abstimmung.Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/3169, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf den Drucksachen 17/2866 und 17/3034 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzenzu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –1) Anlage 52) Anlage 6
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6935
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Der Gesetzentwurf ist mit gleicher Mehrheit gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBiologische Vielfalt für künftige Generationenbewahren und die natürlichen Lebensgrundla-gen sichern– Drucksache 17/3199 –Die hierzu vorgesehenen Reden sollen zu Protokollgegeben werden. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest.Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kol-legen Josef Göppel, Dr. Matthias Miersch, AngelikaBrunkhorst, Sabine Stüber und Undine Kurth.1)Wir kommen zur Abstimmung.Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf derDrucksache 17/3199? – Alle beteiligten Fraktionen. Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltungder Fraktion Die Linke ist dieser Antrag angenommen.Tagesordnungspunkt 19:Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeGottschalck, René Röspel, Dr. Hans-Peter Bartels,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDie richtigen Lehren aus dem Ausbruch des is-ländischen Vulkans Eyjafjallajökull ziehen –Klimaforschung und Geowissenschaften stär-ken und die Voraussetzungen für ein nationa-les und europäisches Krisenmanagement imLuftverkehr schaffen– Drucksache 17/3174 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden der Kolleginnen und Kollegen Peter Wichtel,Ulrike Gottschalck, René Röspel, Torsten Staffeldt,Herbert Behrens und Winfried Hermann.
Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö-kull war eine Naturkatastrophe besonderen Ausmaßes,die sowohl die Bundesregierung als auch die Beteiligtender Luftverkehrsbranche vor dem Hintergrund der Kon-taminierung des deutschen Luftraumes mit Vulkanaschevor bis dahin noch unbekannte Herausforderungen ge-stellt hat. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktionfordert nun dazu auf, die richtigen Lehren aus dieserAusnahmesituation zu ziehen.1) Anlage 7Ich wiederhole an dieser Stelle zunächst gerne, dassdie Vorgehensweise der Entscheidungsträger angemes-sen und zu jedem Zeitpunkt richtig war. Der Bundes-minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat sichbei seinen gemeinsam mit der Deutschen Flugsicherungund dem Deutschen Wetterdienst abgestimmten Ent-scheidungen zur Sperrung des Luftraums an den interna-tionalen rechtlichen Rahmenbedingungen orientiert. Diefür den weltweiten zivilen Luftverkehr geltenden Sicher-heitsstandards der Internationalen Zivilluftfahrtorgani-sation, die in einer Ausnahmesituation wie dem Vulkan-ausbruch gelten, haben die Freigabe der betroffenen Ge-biete aufgrund der Kontaminierung des Luftraums nichtzugelassen. Auch der im Lage- und Informationszentrumder Deutschen Flugsicherung eingerichtete Krisenstabkonnte nicht zuletzt durch den Zugriff auf die vor Ort vor-handene technische Infrastruktur und den unmittelbarenKontakt mit dem BMVBS, dem Bundesaufsichtsamt fürFlugsicherung, dem Deutschen Wetterdienst, allen DFS-Niederlassungen und Eurocontrol entscheidend zum Ma-nagement der Ausnahmesituation beitragen. Nicht zu-letzt hat insbesondere die schnelle und unbürokratischeRealisierung von eigenen Messflügen des DeutschenZentrums für Luft- und Raumfahrt mit dem Forschungs-flugzeug „Falcon“ die Ermittlung aussagekräftiger undverlässlicher Messwerte ermöglicht.Diese Maßnahmen belegen das hervorragende Kri-senmanagement der Bundesregierung, die zu jedemZeitpunkt der Krisensituation der Sicherheit der Passa-giere allerhöchste Priorität eingeräumt hat. Die Vorbe-halte im vorliegenden Antrag, die Reaktion der Regie-rung sei unzureichend und eine politische Führung seinicht vorhanden gewesen, sind dementsprechend halt-los. Gerade weil der Vulkanausbruch für alle beteiligtenEntscheidungsträger eine neue Situation dargestellt hat,ist das gelungene Krisenmanagement der Regierungumso höher zu bewerten.Rückblickend betrachtet hat die NaturkatastropheDeutschland und ganz Europa überraschend getroffenund Regelungslücken sichtbar gemacht, die vorher nichtersichtlich waren. Die betreffenden Herausforderungenim zukünftigen Umgang mit Vulkanausbrüchen werdennun seit der Wiederaufnahme des regelmäßigen Flugbe-triebes entschieden und konsequent verfolgt. Der Bun-desverkehrsminister hat hierzu eine Expertenrunde in-stalliert, die einen entsprechenden Maßnahmenkatalogentwickelt und bereits spürbare Fortschritte erzielt hat.Der Zirkel, der neben Entscheidungsträgern der Minis-terien und Verbände auch den DWD, die DFS, die Luft-verkehrswirtschaft und Triebwerkshersteller vereint, isterst vor wenigen Wochen im September zu seiner drittenSitzung zusammengekommen und wird auch weiter ef-fektiv und nachhaltig arbeiten. Zudem werden im Bun-desministerium derzeit in einer verkehrsträgerübergrei-fenden Arbeitsgruppe Notfallkonzepte und Strategienzur Krisenbewältigung erarbeitet, die insbesondere einkoordiniertes Vorgehen und die Optimierung des Infor-mationsmanagements für den Fall eines Komplettaus-falls eines Verkehrsträgers zum Inhalt haben.Der Anschein des vorliegenden Antrages, die Lehrenaus dem Ausbruch des Vulkans seien bisher nicht gezo-Peter Wichtel
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gen worden, ist dementsprechend nicht richtig. Der Bun-desverkehrsminister hat seit der Ausnahmesituation ge-meinsam mit seinem Haus mit Nachdruck an denbestehenden Herausforderungen gearbeitet und wirddies auch weiterhin tun. Dieses Engagement wird vonder CDU/CSU-Fraktion anerkannt, begrüßt und nach-haltig unterstützt.Die Zielsetzungen der installierten Expertenrundeverdeutlichen das konsequente und plausible Vorgehender beteiligten Akteure. So benötigt der Luftverkehr ge-sicherte Erkenntnisse und zuverlässige Vorhersagenüber die Ausbreitung und Konzentration von Vulkan-asche, die nur durch ein dichtes Messnetz, die Verknüp-fung von Messdaten und die Verbesserung von Modell-berechnungen erreicht werden können. Erste Vorschlägeder Expertengruppe skizzieren ein nationales Mess-system, das Teil eines auf EU-Ebene diskutierten ein-heitlichen europäischen Messsystems sein könnte. Diefortgeschrittenen Bestrebungen für ein nationales Mess-netz fußen auf dem bereits existierenden Ceilometer-Messnetz des Deutschen Wetterdienstes, das für die Auf-gabe einer Messung von Vulkanaerosolen qualifiziertist. Zudem sollen Hochleistungslidarsysteme helfen, dieCeilometermessungen zu kalibrieren und verlässlicheAussagen über die Vulkanaschebelastung der Luft zu er-möglichen. Zusätzlich soll mit Satellitensensorik die flä-chenhafte Verteilung der Vulkanasche überwacht undmit den Ergebnissen der Computersimulationen vergli-chen werden. Auch Flugzeugmessungen sollen durchge-führt und mit Messungen der bodengestützten Systemesowie der Flächeninformation aus Satellitendaten ver-glichen werden.Dieser Einblick verdeutlicht das Engagement derBundesregierung, ein dichtes Messnetz, die Verknüpfungaller Mess- und Modellinformationen sowie die Verbes-serung computergestützter Ausbreitungsprognosen füreine zuverlässige Bewertung der Gefährdung der Luft-fahrt durch Vulkanasche zu installieren. Dieses Vorha-ben, das in stetiger Abstimmung mit den europäischenEntscheidungsträgern umgesetzt wird, unterstützen wirausdrücklich.Neben den gesicherten Erkenntnissen und zuverlässi-gen Vorhersagen über die Ausbreitung und Konzentra-tion von Vulkanasche benötigt der Luftverkehr zudemverlässliche Angaben über die Auswirkungen von Vulkan-asche auf die Flugzeuge, insbesondere auf die Trieb-werke. Eine Festlegung verbindlicher Grenzwerte fürsichere Betriebsbedingungen von Triebwerken und Luft-fahrzeugen im Falle einer Kontamination der Luft mitVulkanasche ist ebenso hilfreich wie notwendig. Wir be-grüßen vor diesem Hintergrund die auf europäischerEbene bereits sichtbaren Bestrebungen, gemeinsam mitder Europäischen Agentur für Flugsicherheit möglicheGrenzen für eine akzeptable Vulkanaschekontaminationzu ermitteln. Die Anhebung eines Grenzwertes von 2 mg/m3auf 4 mg/m3 Asche durch einzelne EU-Mitgliedstaatenohne nachvollziehbare, methodisch belastbare Ableitungwird von der Bundesregierung allerdings zu Recht nichtmitgetragen. Auch die Hersteller von Flugzeugtriebwer-ken stützen dies ausdrücklich nicht.Zu ProtokollNicht zuletzt vor diesem Hintergrund betonen wirdeutlich unsere Auffassung, dass in erster Linie dieFlugzeug- und Triebwerkhersteller in der Verantwor-tung stehen, sichere Betriebsbedingungen für ihre Pro-dukte zu bestimmen. Intensive Forschungsbemühungenseitens der Industrie sind unerlässlich für das Gewinnenvon belastbaren Grenzwerten. Nur so können die Aus-wirkungen von Vulkanasche auf Triebwerke und dieFlugsicherheit erarbeitet und eine europaweite Festle-gung auf verbindliche Grenzwerte vorangetrieben wer-den. Wir begrüßen dementsprechend ausdrücklich, dassdie Expertenrunde des Bundesverkehrsministeriumshierzu eng mit den Herstellern von Triebwerken zusam-menarbeitet. Ich betone diesen Aspekt bewusst deutlich,da wir die Generierung verlässlicher Angaben zu siche-ren Betriebsbedingungen der Triebwerke als zentralenBestandteil der Vorsorgemaßnahmen für die Zukunftverstehen. Wir teilen dabei die Ansicht der Bundesregie-rung, dass eine letztendliche Festlegung belastbarerGrenzwerte von der EASA in enger Abstimmung mit denHerstellern vorgenommen werden sollte.Ein dritter und zentraler Punkt, den wir ebenso wiedie Bundesregierung und das Expertengremium als we-sentlich im Bezug auf die zukünftige Vorgehensweise beiVulkanausbrüchen erachten, ist ein international ein-heitliches Vorgehen der Luftfahrtbehörden. Vor demHintergrund des internationalen Charakters des Luft-verkehrs müssen einheitliche Verfahren entwickelt wer-den, um in einer vergleichbaren Situation wie im Aprildieses Jahres angemessen und rechtssicher reagieren zukönnen.Erste richtungsweisende Maßnahmen, die bereits we-nige Wochen nach der Naturkatastrophe auf europäi-scher Ebene durch das Engagement des Bundesver-kehrsministers und dessen Amtskollegen aus den EU-Staaten getroffen wurden, begrüßen wir an dieser Stelleausdrücklich. So orientieren sich die Luftüberwa-chungsbehörden aller EU-Länder gegenwärtig an demvom Londoner Vulcan Ash Advisory Center und Euro-control entwickelten „Drei-Zonen-Modell“, das eine an-gemessene Risikobewertung und Entscheidungsfindungim Falle eines Vulkanausbruches ermöglicht. Das Sys-tem definiert je nach der vorhergesagten Aschekonzen-tration drei Gebiete, die sich in eine Flugverbotszone,eine Zone mit erweiterten Verfahren und eine Normal-zone aufteilen und alle sechs Stunden neu definiert wer-den. So wird ein größerer Zugang zum europäischenLuftraum unter uneingeschränkter Gewährleistung deshöchsten Sicherheitsniveaus ermöglicht, und alle EU-Mitgliedstaaten sind in der Lage, auf gemeinsamer Ba-sis ihrer Verantwortung bezüglich ihres Luftraumes undeiner Entscheidung über die Luftraumschließung nach-zukommen.Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestagunterstützt diese Methodik ebenso wie das Vorhaben derEuropäischen Kommission, das gegenwärtig als Emp-fehlung für die Mitgliedstaaten bestehende System ge-setzlich zu verankern. Auch die Bundesregierung hat im-mer wieder mit Nachdruck darauf gedrängt, eineinheitliches Vorgehen aller Luftfahrtbehörden auf dieGrundlage abgestimmter Verfahren zu stellen. Wir be-
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6936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenPeter Wichtel
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grüßen es daher ausdrücklich und bewerten es als weite-ren Erfolg, dass Deutschland in der momentan laufen-den 37. Versammlung der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation in Montreal darauf hingewirkt hat, dassauf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse inter-national einheitliche Verfahren zum Umgang mit Luft-kontaminationen herbeigeführt werden. Auch wenn dieICAO-Versammlung zurzeit noch läuft, ist bereits er-sichtlich, dass die von der EU vorgeschlagene ICAO-Strategie zum Umgang mit Gefährdungen der Luftfahrtdurch Vulkanasche angenommen wurde. Die besagteStrategie schreibt der ICAO eine Führungsrolle mit demZiel zu, ein weltweit harmonisiertes Vorgehen zu ermög-lichen. Die geltenden ICAO-Vorschriften werden nundementsprechend überarbeitet.Die Rolle der Bundesregierung bei den Verhandlun-gen auf europäischer Ebene und in der Versammlungder ICAO ist an dieser Stelle gesondert hervorzuheben.Bundesminister Dr. Ramsauer hat gemeinsam mit sei-nem Haus seit der Ausnahmesituation im April überausengagiert auf ein zeitnahes einheitliches Vorgehen derLuftfahrtbehörden hingearbeitet und mit der von derICAO angenommenen Strategie einen weiteren großenSchritt in diese Richtung getan. Ich betone ausdrücklich,dass die CDU/CSU-Fraktion diesen Einsatz begrüßt,unterstützt und zu schätzen weiß.Zusammenfassend betrachtet wird deutlich, dass dieBundesregierung ebenso engagiert wie erfolgreich da-ran arbeitet, ein effektives und nachhaltiges nationalesKonzept für den Umgang mit einer vergleichbaren Aus-nahmesituation zu installieren. Durch den Aufbau einerExpertengruppe und einer verkehrsträgerübergreifen-den Arbeitsgruppe werden die drei vorrangigen Ziele ei-nes zur Bewertung der Gefährdung benötigten dichtenMessnetzes, verlässlicher Angaben über die Auswirkun-gen von Vulkanasche auf Triebwerke und eines einheitli-chen Vorgehens der europäischen Luftfahrtbehörden mitNachdruck verfolgt. Die ersten Ergebnisse des Engage-ments, die teilweise bereits wenige Wochen nach der Na-turkatastrophe vorzuweisen waren, belegen den Erfolgder Arbeit des Bundesverkehrsministeriums. Die Wei-chen für nachhaltige Vorsorgemaßnahmen zur Reduzie-rung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraumsind gestellt, die Entwicklungen werden auch weiterhinkonsequent verfolgt werden. Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt das bisherige Engagement der Bundesre-gierung und unterstützt deren weitere Vorgehensweise.Zugleich wird ebenso deutlich, dass der vorliegendeAntrag dem Engagement der Bundesregierung und allenBeteiligten nicht gerecht wird. Nicht nur die Argumenta-tion, das Krisenmanagement sei unzureichend gewesen,sondern insbesondere der erweckte Eindruck, die Leh-ren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyja-fjallajökull seien bisher noch nicht gezogen worden, de-cken sich nicht mit den Tatsachen. Zwar sind nicht alleZiele der Bundesregierung bis heute voll und ganz er-reicht worden. Das ist aber schlicht der Tatsache ge-schuldet, dass die zu bewältigenden Aufgaben in jegli-cher Hinsicht komplex sind. Ein verbindlicherGrenzwert für sichere Betriebsbedingungen von Trieb-werken lässt sich ebenso wenig in kurzer Zeit ermitteln,Zu Protokollwie sich komplexe gesetzgeberische Rahmenbedingun-gen für ein europaweites oder gar internationales Vor-gehen der Luftfahrtbehörden nicht kurzfristig installie-ren lassen. Das Zusammenspiel zwischen Politik,Forschung und Industrie oder zwischen Entscheidungs-trägern auf nationaler, europäischer und internationalerEbene kann nicht nach wenigen Wochen bereits ab-schließende und rechtssichere Resultate liefern. Dassaber mit Nachdruck an den Herausforderungen gearbei-tet wird, belegen die überaus ermutigenden Resultate,die zum jetzigen Zeitpunkt bereits vorliegen. Nicht zu-letzt die hervorragende Arbeit der Expertenrunde desBundesministeriums verdeutlicht, dass sowohl die Ziel-setzungen als auch die Realisierung der Vorhaben abso-lut stimmig sind. Aus diesem Grund werden wir den vor-liegenden Antrag ablehnen.Die Bundesregierung hat es als ihre Aufgabe verstan-den, die Lehren aus der Vulkanaschewolke zu ziehen undsich nachhaltig mit den Vorsorgemaßnahmen und Vorge-hensweisen in der Zukunft auseinanderzusetzen. Nichtzuletzt die erfolgreiche Arbeit des Bundesverkehrsminis-ters belegt, dass dies geschehen ist und die Sicherheitder Passagiere – die von Beginn an immer im Mittel-punkt des Engagements gestanden hat – auch in Zukunftgewährleistet sein wird.
Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö-kull liegt jetzt einige Monate zurück. Die Auswirkungendieses Naturereignisses beschäftigen uns heute noch.Die durch diesen Vulkanausbruch notwendig geworde-nen Flugverbote haben Schätzungen zufolge 1,2 Millio-nen Passagiere pro Tag betroffen. Wir müssen davonausgehen, dass die volkswirtschaftlichen Kosten diesesAusbruchs mehrere Milliarden Euro betragen. Allein dieLuftverkehrsunternehmen hatten laut Schätzungen1,3 Milliarden Euro Verlust zu verkraften.Ein wesentliches Kennzeichen dieses Naturereignis-ses war das Fehlen politischer Führung in der Krise.Keiner wollte die Verantwortung übernehmen, bis sieschließlich abgewälzt wurde auf die schwächsten Glie-der der Kette, die sich nicht entziehen konnten, weil sieAngst um ihren Job hatten. Diese Glieder der Kette wa-ren die Fluglotsen und die Flugkapitäne. Wir alle habennoch den Begriff kontrollierte Sichtflugverfahren imOhr. Während der Beeinträchtigungen des deutschenLuftverkehrs haben die deutschen FluggesellschaftenFlüge im kontrollierten Sichtflugverfahren beim Luft-fahrt-Bundesamt beantragt und durchgeführt. Das Luft-fahrt-Bundesamt ist dem Bundesministerium für Ver-kehr, Bau und Stadtentwicklung nachgeordnet. Es hatdiese Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren als un-bedenklich gewertet. Der Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung Herr Dr. Peter Ramsauer hatsich jedoch im ARD-Magazin „Report München“ am17. Mai 2010 von der Zustimmung zur Durchführungdieser kontrollierten Sichtflüge distanziert.Dieses Szenario dokumentiert die Hilflosigkeit undFührungslosigkeit, denen wir in dieser Krise ausgesetztwaren. Ein einheitliches und koordiniertes Krisenma-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6937
gegebene RedenUlrike Gottschalck
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nagement fand weder innerhalb Deutschlands noch aufeuropäischer Ebene statt. Die Einführung eines so ge-nannten Drei-Zonen-Modells der europäischen Flug-sicherungsorganisation Eurocontrol hatte lediglichempfehlenden Charakter. Zu dem unkoordinierten Han-deln auf politischer Ebene kam das Fehlen von Fakten-wissen, mangels fundierter und wissenschaftlich beleg-ter Daten und Fakten als notwendige Grundlage fürpolitische Entscheidungen zum Beispiel über die Not-wendigkeit der Durchsetzung oder Aufhebung von Flug-verboten – hinzu.Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol-len aus den Erfahrungen in dieser Krise lernen und dienotwendigen Vorkehrungen treffen, damit zukünftig aufähnliche Ereignisse professioneller und für alle Beteilig-ten zielführender reagiert werden kann. Wir setzen unsdaher in dem vorliegenden Antrag für die Stärkung derKlimaforschung und Geowissenschaften und für dieSchaffung eines nationalen und europäischen Krisenma-nagements im Luftverkehr ein.Der Ausbruch des Eyjafjallajökull war, wenn auchder spektakulärste und bekannteste Vorfall, nur einervon insgesamt vier bekannt gewordenen Ereignissen, beidenen es im Luftverkehr zu Problemen mit Vulkanaschegekommen ist. In der Sondersitzung des Verkehrsaus-schusses des Deutschen Bundestages am 20. April 2010wurde sehr deutlich, dass vor allem zu wenig Erkennt-nisse darüber vorliegen, welche Folgen Vulkanasche aufFlugzeugtriebwerke hat und welche Faktoren – zum Bei-spiel Flugdauer, Partikelkonzentration usw. – sich inwelcher Form qualitativ wie quantitativ auswirken. DieEinrichtungen der Atmosphären- und Klimaforschungsowie der Geowissenschaften und der Deutsche Wetter-dienst haben die Herausforderung durch den Ausbruchdes Eyjafjallajökull angenommen und wichtige Datenund Fakten zur Fundierung weitreichender, politischerEntscheidungen gesammelt. Es hat sich aber ganz deut-lich gezeigt, dass die vorhandenen Kapazitäten undStrukturen nicht ausreichen.In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass die Bun-desregierung die Forschungsförderung zum Klima-wandel in den nächsten drei Jahren um zusätzliche255 Millionen Euro erhöhen will. Die Förderung der Er-forschung des Klimawandels und der Geowissenschaf-ten kann uns nicht nur darin unterstützen, koordinierterdurch unerwartete Krisen, wie einen Vulkanausbruch, zukommen, sondern trägt auch zur Stärkung des Innova-tionsstandortes Deutschland bei.Wir fordern die Bundesregierung auf, die Grenzwertefür Luftfahrzeuge und Triebwerke wissenschaftlich fun-diert und verbindlich auf Ebene der EU festzulegen unddiese Definition auf internationaler Ebene rechtsver-bindlich zu verankern. Eine gute Gelegenheit hierfürwäre die Generalversammlung der InternationalenZivilluftfahrt-Organisation gewesen, die gegenwärtig inMontreal tagt und morgen endet. Auf diese Art hätte einewichtige rechtliche Regelungslücke geschlossen werdenkönnen.Zu ProtokollWir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten for-dern in dem vorliegenden Antrag die Bundesregierungauf, die Voraussetzungen für ein nationales, europäi-sches und internationales Krisenmanagement zu schaf-fen. Für den Fall eines erneuten Ausbruchs eines Vul-kans in Europa soll die Bundesregierung einennationalen Krisenstab beim Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung entwickeln und einrichten.Wir fordern die Erarbeitung und Festlegung eines ein-heitlichen Messystems zur Erhebung von Messdatenüber Konzentration, Verbreitung und örtlicher Verände-rung von Vulkanasche. Wir müssen die Umsetzung desEinheitlichen Europäischen Luftraums – Single Euro-pean Sky – vorantreiben und dafür Sorge tragen, dassder Abschluss des Staatsvertrages zur Errichtung desfunktionalen Luftraumblocks FABEC noch in diesemJahr erfolgt.Besonders wichtig ist die Unterstützung von For-schungsprojekten und die Entwicklung von Maßnahmen,die bei zukünftigen Vulkanausbrüchen und dem Auftre-ten von Aschewolken eine Gefährdung des Luftverkehrsvermeiden und solch ein Ausmaß an Chaos und Vakuum,wie wir es im April und Mai diesen Jahres erleben muss-ten, verhindern. Durch verstärkte auch finanzielle Un-terstützung der Forschung sowie durch eine bessere Zu-sammenarbeit national, international, politisch undzwischen den Fachleuten, Ingenieuren und Wissen-schaftlern können wir bei zukünftigen Vulkanausbrü-chen und ähnlichen Krisen für eine sichere Flugplanungsorgen und Aschekonzentrationen besser vorhersagen.Außerdem müssen wir für die betroffenen Passagierebessere Möglichkeiten für alternative Transportwegefinden und für sie fundierte Informationen und Unter-stützung bereitstellten. So können wir es möglich ma-chen, bei einer ähnlichen Krise nicht wieder so hilflos zusein wie beim Ausbruch des Eyjafjallajökull in diesemFrühjahr.
Anfang des Jahres brach der Vulkan Eyjafjallajökullauf Island aus und ganz Europa stand still – nun ja, stillvielleicht nicht. Es war über den europäischen Flughä-fen stiller als sonst, auf Autobahnen und Bahnhöfenherrschte hingegen Hektik bis Chaos. Denn der gesamteFlugverkehr in Europa musste aufgrund der Vulkan-asche für mehrere Tage eingestellt werden. Die plötzli-che Ruhe freute die Anwohner von Flughäfen. Die proTag circa 1,2 Millionen betroffenen Fluggäste fanden eshingegen weniger angenehm, von den Fluggesellschaf-ten und von den vom Flugverkehr abhängigen Industrie-zweigen ganz zu schweigen. Insgesamt geht man heutedavon aus, dass die mehrtägige Luftraumsperrung einenfinanziellen Schaden von mindestens 1,3 MilliardenEuro verursacht hat.Hätte man dieses Chaos vermeiden können? Ja undnein. Ja, weil, wie meine Kollegin Ulrike Gottschalck inihrem Redebeitrag darstellen wird, auf der Ebene desBundesministeriums in den Tagen einiges schiefgelaufenist und enormer organisatorischer Verbesserungebedarfbesteht. Nein, da vonseiten der Forschung alles zu die-sem Zeitpunkt Machbare getan wurde.
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6938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenRené Röspel
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Es ist nicht das erste und ganz bestimmt nicht dasletzte Mal, dass in Europa Vulkane ausbrechen. JederVulkanausbruch ist aber anders. Das Außergewöhnlichean dem Ausbruch von Eyjafjallajökull war die Produk-tion besonders kleinkörniger Asche, die wiederum län-ger als andere Vulkanasche in der Luft blieb. Hinzu kamdie Windrichtung, welche die Aschewolke über das euro-päische Festland trieb.Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, ei-nem Institut der Helmholtz-Gemeinschaft, wurde dieseEntwicklung frühzeitig wahrgenommen. Ihre Erkennt-nisse erhielten sie durch den von DLR maßgeblich ent-wickelten und betriebenen ErdbeobachtungssatellitenTerraSAR-X. Den Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern war klar, welche Auswirkungen die Asche-wolke für den europäischen Flugverkehr haben könnte.Neben Satelliten betreibt das DLR mehrere Forschungs-flugzeuge. Eines davon, die Falcon 20E, war bereits inSaharastaub geflogen und bot sich deshalb für dieDurchführung von Tests in der Nähe der Aschewolke an.Die Mitarbeiter des DLR machten sich sofort an dieArbeit, um das Flugzeug, das ansonsten für andere For-schungszwecke genutzt wird, mit den nötigen Instrumen-ten zu bestücken. In dieser Situation erwies es sich als großes Glück,dass das DLR aufgrund der Forschungsgelder des Bun-des im Bereich Atmosphärenforschung gut aufgestelltist. Denn erst durch die Messdaten der Falcon konntendie im Modell berechneten Eckdaten der Aschewolkeüberprüft werden. Die Ergebnisse wurden dann an dienationalen, europäischen und internationalen Luftfahrt-stellen weitergegeben, führten am Ende zur Festlegungvon Grenzwerten und zur Öffnung des Luftraums. Ohneden Einsatz des deutschen Forschungsflugzeugs wäreder Luftraum wohl noch viel länger geschlossen geblie-ben. Den vielen helfenden Händen im DLR gilt deshalbunser besonderer Dank.Was bedeutet der Vulkanausbruch forschungspoli-tisch für die Zukunft? Es zeigt einmal mehr, dass Er-kenntnisse der Grundlagenforschung sehr schnell auchin der Anwendung konkrete Bedeutung erlangen können.Die Grundlagenforschung finanziell auszubauen unddabei auch „Orchideenfächer“ wie die Vulkanologie zuunterstützen, ist deshalb dringend geboten. Die schnelleEinsatzbereitschaft der Falcon war ein Glücksfall undist dem Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterdes DLR zu verdanken. Es fehlt aber eine institutionelleLösung. Denn für Vulkanausbrüche – aber auch Wald-brände oder Großunfälle können ähnliche Wolken her-vorbringen – besitzen wir keine jederzeit einsetzbarenForschungsflugzeuge. Krisenmanagement und For-schung eng miteinander zu verzahnen, hat sich in diesemFall als großes Glück erwiesen. Die Stationierung einessolchen Flugzeugs, wozu immer eine Crew und erfah-rene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Aus-wertung von Daten gehören, bei einem Forschungsinsti-tut wie dem DLR macht deshalb Sinn. Dafür müsste dasDLR aber einen klaren Auftrag aus der Politik erhalten,der sich auch finanziell im Budget niederschlägt. Jetztmüssen schnelle Entscheidungen getroffen werden.Deutschland ist im Bereich Forschungsflugzeuge undZu Protokollder dazugehörigen Wissenschaften dank der For-schungsförderung des Bundes sehr gut aufgestellt.Eyjafjallajökull hat aber auch gezeigt, welche Bereicheweiter ausgebaut werden müssen. Ich bitte Sie deshalb,unserem Antrag zuzustimmen, damit die vor uns lie-gende Arbeit schnell angepackt werden kann. Denn derNachbarvulkan von Eyjafjallajökull scheint ebenfallsnicht zu schlafen.
Der Eyjafjallajökull hat uns in dramatischer Art undWeise vor Augen geführt, wie schnell unsere hochtech-nologisierte, arbeitsteilig organisierte Welt in Bedräng-nis gebracht werden kann. Wir sollten dies nutzen, uminnezuhalten und uns die Frage zu stellen, ob und wiewir mit derartigen „Ausbrüchen“ umgehen können.Dazu gibt es selbstverständlich unterschiedliche mögli-che Reaktionsweisen: von Fatalismus – nach derDevise: „Da kann man nichts dran machen“ – bis zuaufgeregtem Aktionismus, wie er im Antrag der SPDfestzustellen ist. Wir als FDP halten eine sachgerechteund realistische Betrachtung der Vorgänge für nötig.Wir halten das Ableiten von vernünftigen Maßnahmenaus den Vorgängen im April für sinnvoll, und wir sind si-cher, dass diese Regierung und der Bundesverkehrs-minister Peter Ramsauer auch genau dies machen.Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Aufgrund ei-ner bisher nicht erlebten Sicherheitslage ist im April desJahres der Luftraum über Deutschland zeitlich befristetgesperrt gewesen. Dies ist verantwortliches Handeln.Alles andere hätte in Anbetracht der Lage, für die eskeine Erfahrungswerte gab, zu Recht einen Aufschreider Bevölkerung und des Parlaments bewirkt. Daraus zuschlussfolgern, dass das Krisenmanagement unzurei-chend war oder politische Führung fehlte, ist durchsich-tiges Oppositionsgetöse. Die Einrichtung eines nationa-len Krisenstabes, wie gefordert von der SPD, ist blankerAktionismus, der nichts, aber auch gar nichts an derLage und den Entscheidungen geändert hätte. Man kannvermuten, dass SPD-Politiker solche Situationen gernenutzen, um sich als Retter in der Not darzustellen. Bei-spiele dafür gibt es ja bei den Überschwemmungs-katastrophen zu Genüge. In solchen Situationen geht esnämlich nicht darum, sich als Retter medial zu inszenie-ren, sondern sachgerechte, fundierte Entscheidungen zutreffen. Das können die Deutsche Flugsicherung unddas BMVBS mit den beteiligten Fachleuten sicher bes-ser.Andere Länder wie die Schweiz, die im Übrigen nureinen äußerst geringen Bereich des deutschen Luft-raums über die Schweizer Flugsicherung Skyguide ab-deckt, mögen zu anderen Ergebnissen kommen, insbe-sondere auch, da der Süden weniger beeinträchtigt war.Im Übrigen sollte Skyguide, wie der Unfall über Über-lingen vom 1. Juli 2002 bedauerlicherweise bestätigte,nicht unbedingt als Referenz für verantwortliches Han-deln herangezogen werden.Die weitere Argumentation des SPD-Antrags läuftähnlich weiter. Mit einer gefährlichen Mischung ausHalbwissen, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6939
gegebene RedenTorsten Staffeldt
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und populistischen Forderungen versucht dieser Antragden Eindruck zu erwecken, dass das Handeln der Ver-antwortlichen nicht sachgerecht war. Das weise ich mitEmpörung zurück. Denn nachträglich erlangtes Wissenüber die Bedrohung des Flugverkehrs zu nutzen, umsituationsgerechte Entscheidungen anzugreifen, ent-spricht nicht einer vernünftigen Aufarbeitung. Die Op-position vergibt hier die Chance, darzulegen, dass siezur Übernahme von Verantwortung fähig ist.Denn es muss doch festgestellt werden: Es gab undgibt bisher so gut wie keine Erkenntnisse über das Ver-halten von Flugzeugtriebwerken beim Einflug in Vulkan-aschewolken. Es gab und gibt glücklicherweise wenigvulkanische Eruptionen, anhand derer man die nötigenVersuche an Flugzeugtriebwerken durchführen könnte.Selbst bei Befolgung der im SPD-Antrag aufgelistetenzusätzlichen kostenintensiven Maßnahmen gibt es Rest-risiken, die nicht erfasst werden können, wie zum Bei-spiel die chemische Zusammensetzung von Vulkan-aschen unterschiedlicher Vulkane, die meteorologischeVorhersage von Aschewolken, deren Absinkverhalten inAbhängigkeit der Teilchendichte und -größe, möglichechemische Reaktionen in Wasserwolken, die Auswurf-höhe der Vulkane usw.Die Vorschläge sind populistisch, zielen darauf, eingigantisches Programm mit hohen Kosten aufzusetzen,versteigen sich gar darauf, eine Professur für Vulkano-logie zu fordern, und führen am Ziel vorbei. Vor allemaber sind sie ohne vernünftige Abwägung des nutzbarenErkenntnisgewinns zu den eingesetzten Mitteln. Diessind wir von der SPD gewohnt, die aus fehlender Sach-kenntnis heraus Steuermillionen in der Vergangenheit,und wenn es nach ihr gehen würde, auch in der Zukunft,aus dem Fenster werfen würde, und das, weil einmal in100 Jahren ein Vulkan ausbricht.Das BMVBS unter Minister Ramsauer handelt ver-antwortungsvoll, zieht die notwendigen Schlüsse ausdem Vorgang und bereitet mit Augenmaß die notwendi-gen Änderungen vor. Dazu zählen die auf der Verkehrs-ministerkonferenz am 6. und 7. Oktober des Jahres undvorher vorgestellten Vorsorgemaßnahmen zur Reduzie-rung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum.Das ist Politik mit Augenmaß und Verstand. Das Gegen-teil davon ist dieser SPD-Antrag.
Am 20. März brach der isländische Vulkan Eyjafjalla-jökull aus und überzog den europäischen Luftraum mitder sogenannten Aschewolke. Dies ist Grund genug,sich als Gesetzgeber mit den Folgen zu beschäftigen.Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull war einAkt höherer Gewalt und hat drei Probleme deutlich wer-den lassen: Erstens. Unsere hochtechnisierte Gesell-schaft ist sehr anfällig; sie ist ein sensibles System ohneNetz und doppelten Boden, wenn kein entsprechendesKrisenmanagement für Notfälle zur Verfügung steht.Zweitens. In Europa sind Verfahren zur effizienten Be-wertung meteorologischer Probleme noch nicht genü-gend entwickelt, und es fehlt an Krisennotfallplänen.Drittens. Dr. Ramsauer, Verkehrsminister der Koalition,Zu Protokollhat als starker Mann mit der Wiederfreigabe des Luft-raums politische Entscheidungen getroffen, also Ent-scheidungen auch zugunsten der Luftfahrtindustrie, zu-gunsten der gestrandeten Reisenden, jedoch nichtzugunsten der Piloten. Hier wurde keine vernünftigeAbwägung vollzogen. Wir lernen daraus, dass derMinister noch einen Kurs in Krisenmanagement belegenmüsste. Darauf werden wir in Zukunft unser speziellesAugenmerk richten.Die Bedrohung der modernen Welt durch immer kom-pliziertere Netze in Verkehr, Kommunikation, Logistikund Elektrizität wird heute nicht durch ausreichendestaatliche Notfallpläne abgedeckt. Im Zuge des Vulkan-ausbruchs kam es zu einer Kettenreaktion, Tausende Ur-lauber saßen auf den Flughäfen, warteten auf die Aufhe-bung der Luftraumsperrung und stritten um die vorhan-denen Steckdosen, um Handys, Laptops, iPhones undandere Geräte zu laden. Geschäftsreisende erreichtenihre Kunden nicht, Luftfracht blieben liegen, bei BMWin Dingolfing standen die Bänder still. Die Komplexitätunserer hochtechnisierten Welt wurde selbst zum Sicher-heitsrisiko. Geradezu unverschämt war vor diesem Hin-tergrund das Auftreten von Lufthansachef Mayrhuber,der das Aschechaos benutzte, die Aussetzung des Emis-sionshandels für den Luftverkehr zu fordern.Erst seit dem Jahr 1991 wissen wir, dass Vulkanaus-brüche eine Gefahr für den Luftverkehr darstellen kön-nen. An dieser Stelle helfen weder Demutsgesten ange-sichts der übermächtigen Mutter Natur noch das starkeMann Gehabe von Verkehrsminister Ramsauer. Wie imAntrag der SPD richtig angemerkt wurde, fehlt es anGrundlagenforschung. Verschiedene Meldungen, wasdie Aschepartikel. genau in den Turbinen, auf der Au-ßenhaut und an den Instrumenten der Flugzeuge anrich-ten können, widersprachen sich erheblich. Das einzige,was man relativ klar feststellen konnte, war, dass siche-rer Flugverkehr nicht mehr zu gewährleisten war.Grundlagenforschung nicht nur in Bezug auf meteorolo-gische Phänomene, sondern auch in Bezug auf ihre kon-krete Auswirkung auf den Luftverkehr – ist dringend not-wendig. Die Einschätzung, die das Verkehrsministeriumnach der Veröffentlichung des Falcon-Reports traf,wurde nicht von allen Meteorologen geteilt.Wir teilen die Einschätzung der SPD-Fraktion, dassdas deutsche Krisenmanagement schwach war. So wur-den beispielsweise eigene Messdaten zu spät erhoben, eswurde kein richtiger Krisenstab gebildet und Fluglot-senkapitäne und die Gewerkschaftsvereinigung Cockpite.V. kritisierten die Übertragung der alleinigen Verant-wortung auf die Piloten. Die Schweizer FlugsicherungSkyguide wickelte über deutschem Hoheitsgebiet weiter-hin den vollständigen Flugverkehr ab, eine Praxis, dieunserer Meinung nach nicht mit dem Grundgesetzvereinbar ist. Die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft, dieunter ihrem Dach das Deutsche Zentrum für Luft- undRaumfahrt und damit die besten deutschen Wissen-schaftler beherbergt, ist als Betreiberin der Asse leiderbereits negativ aufgefallen. Aufgrund der aktuellenDebatte um Atomendlager und Standortauswahl müssteman noch einmal überlegen, ob sie tatsächlich als Dach
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6940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenHerbert Behrens
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für deutsches Krisenmanagement in ähnlichen Fällenfungieren kann.Kurz und gut: Wir unterstützen den Antrag der sozial-demokratischen Fraktion, auch wenn wir einige Schwer-punkte anders setzen würden.
Die Grundaussage des hier zu behandelnden Antragsist richtig: Die Politik muss aus dem Geschehen rund umden Ausbruch eines isländischen Vulkans im April diesesJahres einige Lehren ziehen, institutionelle Strukturenetablieren, politische Handlungskonzepte präzisierenund die Forschung rund um das Themenfeld Gefährdungöffentlicher Infrastrukturen durch Naturkatastrophendeutlich stärken.Gleichwohl schießt die SPD mit ihrem Angriff auf daspolitische Management in der Krise weit über das Zielhinaus. Denn seien wir doch mal ehrlich: Bis zumAusbruch des Eyjafjallajökull war kein deutscher Ver-kehrsminister egal welcher Parteienzugehörigkeit, keinDeutscher Bundestag oder eine deutsche Flugsiche-rungsorganisation mit einer derartigen Situation groß-flächiger Kontamination des deutschen Luftraumesdurch Aschepartikel. konfrontiert. Alle einschlägigenpolitischen Akteure, auch die Airlines, die Flughäfenund nicht zuletzt die betroffenen Passagiere wurden vonder Vulkanaschewolke nachgerade überrascht.Vor diesem Hintergrund war die rasche Einrichtungdes bestehenden Krisenstabes bei der für den Luftraumverantwortlichen Deutschen Flugsicherung, DFS, inLangen der richtige Schritt. Schließlich verfügt die Zen-trale der DFS im Gegensatz zum Bundesministerium fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung in Berlin über dieentsprechende technisch-instrumentelle Infrastruktur,auch die Einbindung des Deutschen Wetterdienstes, desBundesaufsichtsamtes für Flugsicherung, des BMVBSund der Maastrichter Kontrollzentrale Eurocontrolwurde so sichergestellt.Das politische Management in der Aschekrise wargeprägt vom „Handeln unter den Bedingungen größt-möglicher Unsicherheit“ in Bezug auf folgende Fragen:Wie bewegt sich die Aschewolke, welche Konzentrationvon Partikeln enthält sie, wie gefährlich ist welche Kon-zentration für Flugzeugturbinen etc. Insofern war dieEntscheidung, den Luftraum zu sperren und so derSicherheit von Flugpersonal und Passagieren höchstePriorität einzuräumen und dabei kein Risiko einzuge-hen, die richtige Entscheidung!Zweifellos ist bei der großflächigen Kontaminationdes europaweiten Luftraumes eine EU-weite Abstim-mung notwendig. Ein einheitliches Verfahren in solchenKrisenfällen garantiert nicht nur eine bessere Abschät-zung der Gefahrenlage und die größtmögliche Sicher-heit des europäischen Luftverkehrs, sondern ist auch un-ter wettbewerblichen Gesichtspunkten der richtige Weg.Dass in Europa unterschiedliche politische Entschei-dungen mit Blick auf Öffnung oder Sperrung von hoheit-lichen Lufträumen gefällt wurden, hat viele zu Rechtverwirrt. An dieser Stelle ist ein eindrückliches PlädoyerZu Protokollfür den einheitlichen europäischen Luftraum SES ange-bracht! Denn nur so können sich zukünftig einheitlicheVerfahren bei der Datenerhebung und Messung, Abstim-mungen im Flugverkehrsmanagement und Luftraum-sperrungen auf der Basis gemeinsam verabredeterGrenzwerte durchsetzen.Weitere Lehren sind aus den Ereignissen zu ziehen.Etwa muss zukünftig sichergestellt werden, dass Mess-und Beobachtungssysteme und entsprechend ausgerüs-tete Flugzeuge – wie die Falcon des DLR – bereit stehen.Und nicht, wie in der Krise dankeswerter Weise gesche-hen, von einer Vielzahl von Ingenieuren des DLR unteranderem Institutionen unter Hochdruck erst umgerüstetwerden müssen. Möglicherweise brauchen wir EU-weiteine kleine Flotte solcher Messflugzeuge, die miteinan-der vernetzt jederzeit aufsteigen können. Selbstverständ-lich müssen für die Zukunft dann aber auch Mittel be-reitgestellt werden, die etwa das DLR in die Lageversetzen, ein solches Flugzeug mit der entsprechendentechnischen Ausrüstung und hochqualifiziertem Perso-nal quasi abrufbar vorzuhalten.Es gab zur recht Irritationen angesichts unterschied-licher Vorgaben der UN-Zivilluftfahrtbehörde, ICAO,bei der Unterscheidung von Sichtflug und Instrumenten-flug. Kein Wunder, ist doch in einer bestimmten Höheund bei bestimmtem Wetter der sogenannteSichtflug auch im kontaminierten Luftraum erlaubt, hin-gegen der Instrumentenflug nicht. Hier müssen Wider-sprüche im Regelwerk der ICAO entsprechend aufgelöstund im Sinne konsistenter und sicherheitswirksamerRegeln geändert werden. In Zukunft müssen ICAO undFlugüberwachsungsbehörden wie die europäischeEASA klare Vorgaben zu Grenzwerte für Stoffeinträge
im Triebwerk machen können.
Die europäischen Verkehrsminister haben in diesemJahr eine Reihe von Maßnahmen zur Festlegung einerneuen europäischen Methodik, eines kohärenten Vorge-hens bei der Bewertung und dem Management vonSicherheitsrisiken, zur Definition einheitlicher Grenz-
logischer Instrumente der ICAO verabschiedet bzw. aufden Weg gebracht. An diesen Vorhaben muss mit Kon-zentration weitergearbeitet werden. Auch wurden mitdem Szenario „Option 3“ drei Flugzonen mit unter-schiedlichen Risiken für Flüge definiert. Im Kern derEmissionswolke der No-Fly Zone mit einer Aschekon-zentration über 4 000 Mikrogramm je Kubikmeter bleibtder Flugverkehr künftig vollständig untersagt, abgestuftkann Flugbetrieb in den anderen beiden Zonen erfolgen.Wesentlich ist darüber hinaus die beschleunigte Um-setzung des luftverkehrswirtschaftlich in vielerlei – etwaklimapolitischer – Hinsicht bedeutsamen ProjektesSingle European Sky, SES II, sowie die Einrichtungfunktionaler Luftraumblöcke und Verbesserung desEuropäischen Air Traffic Managements, ATM. Durchden Vulkanausbruch auf Island und die Folgen für denFlugverkehr in Europa ist überdeutlich geworden, dasses über das Gefährdungspotenzial durch Vulkanaschezahlreiche Erkenntnis- und Wissenslücken gibt. Diese
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6941
gegebene Reden
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6942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Winfried Hermann
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bestehen vor allem an den Schnittstellen zwischen ver-schiedenen Disziplinen und Technikwissenschaften.Gleichwohl haben insbesondere die Einrichtungen derAtmosphären- und Klimaforschung sowie die Observa-torien des Deutschen Wetterdienstes in engerer Koordi-nation und Kooperation mit ihren europäischen undinternationalen Partnern in beeindruckender Weise ge-zeigt, wie wichtig trans- und interdisziplinäre Grundla-genforschung auch für aktuelle Ereignisse sein kann.Systematische Forschungen in diesem Schnittstellen-bereich müssen gestärkt werden. Weiter gilt es spezielleStudien zu Grenzwerten und Aschewirkungen in Trieb-werken auf den Weg zu bringen. Denn Forschungsdefi-zite führten ja bisher zu erheblichen Problemen bei derFestsetzung von Grenzwerten. Das konkrete Gefähr-dungspotenzial hängt dabei von vielen Faktoren ab: zumBeispiel davon, welchen Ursprungs und Beschaffenheitdie Asche ist, welche Konzentration vorliegt, ebensovom Zeitraum in dem die Triebwerke der Asche ausge-setzt sind oder welche Art von Triebwerk überhaupt be-troffen ist. Es steht unter den betroffenen Akteuren heuteaußer Frage, dass die Wissens- und Erkenntnisdefiziteausgeräumt werden müssen, um zukünftig angemessenreagieren zu können. Hier sind allerdings auch Eigen-leistungen in der Forschung bei den Triebwerksherstel-lern gefragt.Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür verbes-sern, dass zum Beispiel überschneidende Forschungs-bereiche wie Vulkanologie, Meteorologie und Luft-fahrttechnik bei ihren Forschungstätigkeiten verstärktmiteinander zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse ab-stimmen können. Dabei ist von zentraler Bedeutung undvielerorts längst Praxis, dass nicht jedes Land isoliertan den wissenschaftlich relevanten Fragestellungen ar-beitet, sondern in Absprache und in Kooperation mit deninternationalen Partnern vorgeht. Forschungsbedarfeund neue Bedarfe an Forschungsinfrastruktur und For-schungsprogrammen sollten daher international we-nigstens aber EU-weit abgestimmt werden.Zwar gibt es durch die europäischen Forschungsrah-menprogramme gute Möglichkeiten, Messgeräte undMessungen im Rahmen von zeitlich begrenzten Projek-ten finanziell zu fördern. Wenn die Förderung aber aus-läuft, fehlt häufig die Kontinuität, die man für einedauernde Überwachung bräuchte. Bei Messungen undDatenerfassung brauchen wir also deutlich mehr Verste-tigung.Zum Schluss benötigen wir – auch das ist für micheine wichtige Konsequenz – einen Plan B für möglicheKatastrophen dieser Art. Wir haben quasi kein Konzeptfür den Fall, dass der Luftverkehr oder der Bahnverkehrin einer Region oder in einem Staat plötzlich komplettausfällt. Man kann daraus lernen, dass auch, mit Blickauf die Sicherheit und Verfügbarkeit von Infrastruktu-ren, Konzepte entwickelt werden müssen, die dann raschabrufbar und einsetzbar sind und auch solche Fragenbeantworten, wie: wer ist zuständig und wer wickelt diezum Beispiel die Rückführung von Passagieren ab, diefern der Heimat gestrandet sind. Wir müssen daher auchüber die Verbrauchersituation und die Kundenrechtenachdenken. Es hat sich gezeigt, dass sich manche Re-geln an Einzelfällen orientieren und dass es keine flä-chendeckende Lösung gibt. Auch hier gilt es nachzuar-beiten.Fazit: Wesentliche Fragen sind in dem Antrag derSPD angesprochen, die Herausforderungen müssen jetztaufgearbeitet werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufder Drucksache 17/3174 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einwände? –Keine. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Zusatzpunkt 5:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zuder UnterrichtungInitiative für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates über die Europäi-sche Ermittlungsanordnung in StrafsachenRatsdok. 9145/10– Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 –Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingDr. Eva HöglMarco BuschmannRaju SharmaIngrid HönlingerHierzu hatten eigentlich die Kolleginnen und Kolle-gen Ansgar Heveling, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann,Raju Sharma und Jerzy Montag reden wollen. Sie gebenihre Reden zu Protokoll.1) – Einwände dazu sind nichterkennbar.Wir kommen zur Abstimmung.Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf der Drucksache 17/3234, in Kenntnisder Unterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfeh-lung einstimmig angenommen.Hierbei handelt es sich um keinen Routinevorgang.Darauf möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen.Unbeschadet der Frage, ob und wann ein dazu in denVerträgen vorgesehenes Quorum zustande kommt,macht damit der Deutsche Bundestag zum ersten Maleinvernehmlich Bedenken gegen eine Regelungsabsichtder Europäischen Kommission deutlich. Wir erwarten,dass unabhängig von den statistischen Relationen dieEuropäische Kommission diesen Hinweis so ernstnimmt, wie er von diesem Parlament offenkundig ge-meint ist.
1) Anlage 8
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6943
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie denZusatzpunkt 6 auf:20 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDEvaluierung der Neuorganisation der Bundes-polizei durch einen wissenschaftlichen Sach-verständigen– Drucksache 17/3068 –Überweisungsvorschlag:InnenausschussZP 6 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, ReinhardGrindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
der FDPNeuorganisation der Bundespolizei erfolgreichfortsetzen – Bundespolizistinnen und Bundes-polizisten unterstützen– Drucksache 17/3187 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussHaushaltsausschussDie Reden der Kollegen Günter Baumann, StephanMayer, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Petra Pau undWolfgang Wieland werden zu Protokoll gegeben.
Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen
sicher leben und stellen mit Recht die Forderung an den
Staat, dass dieser alles in seiner Macht Stehende hierfür
unternimmt. Unter den verschiedenen Sicherheitsbehör-
den nimmt die Bundespolizei auch aufgrund ihrer beson-
deren bundesländerübergreifenden Kompetenz eine
Schlüsselposition ein. Ich möchte heute hier an dieser
Stelle die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Bundes-
polizistinnen und Bundespolizisten für ihre hervorra-
gende Arbeit, die sie täglich für unser aller Sicherheit
leisten, zu bedanken.
Zu den verschiedensten Aufgaben der Bundespolizei
gehören Kontrollen an den Binnengrenzen des Schen-
genraumes, bahnpolizeiliche Aufgaben, Kontrollen an
Flughäfen, die Unterstützung von besonderen Einsätzen,
wie zum Beispiel bei Fußballspielen oder bei Fanmei-
len. Erwähnt werden muss auch, dass die Bundespolizei
nicht nur im Inland ihre wichtige gesetzliche Aufgabe
erfüllt, sondern in vielen Auslandseinsätzen unter ver-
schiedenen Mandaten tätig ist.
Durch die Schengen-Osterweiterung sind entschei-
dende Veränderungen der Bundespolizei und damit eine
umfangreiche Neuorganisation notwendig geworden.
Die hierzu am 25. Januar 2008 im Deutschen Bundestag
beschlossene Reform war richtig, und es gab hierzu
keine Alternative. Die Bundespolizei stand jedoch damit
in wenigen Jahren vor ihrer dritten Reform, wobei diese
nun die Beschäftigten der Bundespolizei vor die größten
und einschneidendsten Veränderungen und Herausfor-
derungen in ihrer Aufgabenwahrnehmung gestellt hat.
Ziele der Neuorganisation sind unter anderen: keine Re-
duzierung der Personalstärke und durch Aufgabenbün-
delung „mehr Personal auf die Straße“ und somit mehr
Effektivität.
Bei mehreren Besuchen bei den Bundespolizistinnen
und Bundespolizisten vor Ort habe ich neben der guten
Arbeit und hohen Motivation auch eine teilweise auf-
kommende negative Stimmung zu einzelnen Folgen der
Neuorganisation registriert. Darunter kann natürlich
sehr leicht auch das Engagement der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter leiden.
Da verschiedene Kritikpunkte über die Umsetzung
der Reform an die Bundestagsabgeordneten aller Frak-
tionen herangetragen wurden, fand im Deutschen Bun-
destag am 5. Juli 2010 eine öffentliche Anhörung zur
Thematik der Neuordnung der Bundespolizei statt. Alle
angehörten Fachexperten waren der Meinung, dass die
eingeleitete Reform notwendig war und diese auch bis
zum Ende durchgeführt werden muss. Ein Nachjustieren
in einzelnen Punkten ist jedoch notwendig.
Hierzu gehört nicht nur die Stärkung in den Ballungs-
räumen und auf den Flughäfen, sondern auch eine aus-
reichende personelle Besetzung der Inspektionen in den
ländlichen Räumen und in den Grenzregionen. Gerade
der Freistaat Sachsen, mit seinen 139 Kilometern
Grenze zur Republik Polen und 453 Kilometern Grenze
zur Tschechischen Republik, ist von einem deutlichen
Anstieg der Kriminalität, insbesondere bei Autodieb-
stählen und Einbrüchen, im Grenzbereich betroffen. In
diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die
Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei, Landespolizei
und Zoll in der Praxis schon gut gelingt, jedoch muss
man auch hier weitere Verbesserungen erreichen, um
Doppelarbeit und Reibungsverluste zu vermeiden.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundes-
polizei wird ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt.
Dies ist ein selbstverständlicher Teil des Berufsbildes,
da die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten mit
dem Wissen leben, dass ihr Einsatzort in ganz Deutsch-
land sein kann. Jedoch muss die letzte Phase der Struk-
turreform in der Bundespolizei gerade im Hinblick auf
die Um- und Versetzungen sozialverträglicher gestaltet
werden. Sicherlich müssen Bundesbeamte bundesweit
einsetzbar sein, jedoch sollte der lokale Bezug zukünftig
bei der Nachwuchsgewinnung eine größere Rolle spie-
len. Deshalb sehe ich das in Frankfurt geplante Modell-
projekt des Bundesministeriums des Innern als einen
Schritt in die richtige Richtung.
Im Zuge der Neugründung des Bundespolizeipräsi-
diums in Potsdam sind Aufgaben aus dem Bundesminis-
terium des Innern dahin übertragen worden. Wichtig ist
in diesem Zusammenhang, dass ein Gleichgewicht zwi-
schen einer Zentralisierung und Entscheidungsbefugnis-
sen für ein sachkundiges Vorgehen vor Ort vorherrschen
muss. Es kann nicht sein, dass ein Einsatzfahrzeug von
der grünen Grenze zur Reparatur 120 Kilometer in die
Werkstatt des zuständigen Präsidiums geschickt wird,
wenn es vor Ort eine Werkstatt gibt.
Günter Baumann
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Das heißt, dass nunmehr zum einen in der letzten
Phase der Bundespolizeireform die Kernkompetenzen
des Bundespolizeipräsidiums durch das Bundesministe-
rium des Innern klar umrissen und gestärkt werden
müssen. Zum anderen sollte jedoch auch das Subsidiari-
tätsprinzip bei der Aufgabenwahrnehmung wesentlich
stärker als bisher in den Fokus rücken.
Ich möchte nur eine Bemerkung zum Antrag der SPD
machen, einen wissenschaftlichen Sachverständigen mit
einer weiteren Evaluierung zu beauftragen. Wir haben
eine öffentliche Anhörung mit sieben Fachexperten ab-
gehalten, die die Vorzüge, aber auch die Probleme und
Sorgen der Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
dargelegt haben. Hierauf haben wir mit unserem Antrag
reagiert. Eine weitere Evaluierung auf Kosten der Steu-
erzahler halte ich für obsolet. Deshalb kann man den
Antrag der SPD nur ablehnen. Der Antrag von CDU/
CSU und FDP weist in die Richtung, um die begonnene
Bundespolizeireform erfolgreich abzuschließen.
Es ist unstrittig, dass die Bundespolizei über einesehr hohe Kompetenz verfügt, national wie internatio-nal. Diese Kompetenz gilt es nicht nur zu erhalten, son-dern auch für die Zukunft zu sichern und auszubauen.Der Wegfall der stationären Grenzkontrollen zuPolen und Tschechien sowie die immer knapper werden-den Haushaltsmittel haben in den vergangenen Jahrenden Reformdruck auf die Bundespolizei erhöht. Die imMärz 2008 begonnene Bundespolizeireform war daherlogische Konsequenz dieser vorgenannten Ereignisse.Ziel der Neuorganisation der Bundespolizei war es, dieStrukturen zu straffen, um Personalressourcen für ope-rative Aufgaben zu gewinnen. Durch die Zusammenfas-sung und Aufwertung der bisherigen Bundespolizeiäm-ter wurden die regionalen Zuständigkeiten auf allenEbenen gebündelt und die vorhandenen Kräfte auf dieSchwerpunkte der bundespolizeilichen Arbeit verteilt.Die vorgenannten Reformziele haben sich bisher insbe-sondere auf die Behördenstruktur und somit natürlichauch auf die Beschäftigten ausgewirkt.Sowohl die Stellungnahme des Bundesministeriumsdes Innern als auch die Anhörung im Innenausschuss am5. Juli 2010 haben gezeigt, dass die Umsetzung der Re-form nach wie vor andauert. Auch wenn viele Strukturenbereits aufgebaut wurden – beispielsweise das Bundes-polizeipräsidium in Potsdam –, befinden wir uns derzeiterst in der dritten von vier Phasen der Personalumset-zung. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum jetztdurch einen unabhängigen Sachverständigen eine um-fassende Evaluation vorgenommen werden soll. Eineumfangreiche Bewertung käme aus meiner Sicht allen-falls nach Abschluss der Reform in Betracht, aber dochnicht mitten in der Phase der Personalumsetzung. Daherist der Antrag der SPD-Fraktion schlicht abzulehnen. Erist zur Unzeit gestellt und würde nur zu einer Behinde-rung des weiteren Vollzuges der Reform führen. Er istsomit keineswegs dienlich.Im Übrigen haben wir sowohl durch den Bericht desBundesministeriums des Innern als auch durch die öf-Zu Protokollfentliche Anhörung im Innenausschuss bereits ein sehrgutes Abbild der derzeitigen Situation bei der Bundes-polizei erhalten. Ergänzend darf ich anmerken, dass wirzudem als CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestagstets intensiven Kontakt zu den Inspektionen und Direk-tionen vor Ort unterhalten.Eine Versetzung stellt einen tiefgreifenden Einschnittin den persönlichen Lebensabschnitt eines Beamten dar.Aber auch eine zeitweilige dienstliche Abordnung, diemit mehrstündigen täglichen Reisezeiten verbunden seinkann, kann letztlich zum gleichen Ergebnis führen – ei-ner hohen psychischen und physischen Belastung fürden Beamten und sein Umfeld. Auch wenn vielen Bun-despolizisten ihre Verpflichtung zur Mobilität und Flexi-bilität bewusst ist, stellt sie die derzeitige Situation vorgroße Herausforderungen. Lassen Sie mich das in einemBeispiel näher ausführen: Selbst wenn sie einem festenStandort im ländlichen Raum, wie beispielsweise Rosen-heim, fest zugewiesen sind, kann für Sie die Verpflich-tung bestehen, täglich am Flughafen München tätig zuwerden. Dies beruht auf dem nach wie vor vorhandenenPersonalmangel – zahlreiche Dienstposten sind auch inder Bundespolizeidirektion München unbesetzt –, aberauch den noch nicht abgeschlossenen Versetzungsmaß-nahmen als Bestandteil der Reform der Bundespolizei.Der vorliegende Antrag der christlich-liberalen Koali-tion geht auf diese Belange ein und versucht, die fürviele unbefriedigende Situation kurz- und mittelfristig zuverbessern. Er ist daher für mich ein richtiges Signal zurrichtigen Zeit.Angesichts dessen, dass die meisten Aufgriffe von un-erlaubt Eingereisten derzeit an deutschen Flughäfen er-folgen, ist auch das im Antrag angeregte besondere Au-genmerk auf die Personalsituation an den Flughäfennachvollziehbar. Schließlich reisten alleine am Flugha-fen Frankfurt am Main und dem Flughafen München inden ersten sechs Monaten dieses Jahres fast 2 000 Men-schen unerlaubt ein. Mehr als 100 davon wurden von or-ganisierten Schleuserbanden in die BundesrepublikDeutschland geschickt. Da in den nächsten Jahren miteinem weiteren Anstieg der Passagierzahlen im grenz-überschreitenden Flugverkehr zu rechnen ist, wird dieSituation an den Flughäfen sicher weiter fortbestehen.Ich warne jedoch davor, dass die Stärkung der Flug-häfen zum Nachteil des ländlichen Raumes geschieht.Gerade die Aufgriffszahlen der BundespolizeidirektionMünchen für die deutsch-österreichische Grenze bele-gen, dass nach wie vor auch im ländlichen Raum vieleAufgriffe erfolgen. Alleine an dieser Grenze werden40 Prozent aller illegal nach Deutschland auf demLandweg einreisenden Personen aufgegriffen. Abernicht nur die Vielzahl, sondern auch die Qualität derAufgriffe ist von besonderer Bedeutung. So konnten bei-spielsweise mehrere Mitglieder der italienischen Mafiain den letzten Monaten in Südbayern aufgegriffen wer-den.Insgesamt stieg die Anzahl der erfassten Verdächti-gen im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vergleichs-zeitraum im Vorjahr sogar um fast 300 Prozent in Bay-ern. In absoluten Zahlen sind dies 2 364 Verfahren, die
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6944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenStephan Mayer
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nach durchgeführten Kontrollen eingeleitet werdenkonnten. Vergleicht man diese Zahl mit der vorgenann-ten Zahl an illegal Eingereisten an den beiden größtendeutschen Flughäfen Frankfurt am Main und München,wird die Relevanz der Kontrollen im ländlichen Raumsichtbar. Hinzu kommt, dass alle Routen illegaler Mi-gration, sei es über Italien oder den Balkan, letztlichüber die deutsch-österreichische oder aber die deutsch-tschechische Grenze nach Bayern führen. Es ist bekanntund belegt, dass diese Routen vornehmlich für illegalenDrogen- und Menschenhandel genutzt werden. Die Auf-griffszahlen aus dem letzten Jahr und den ersten Mona-ten dieses Jahres belegen dies nachdrücklich.Für mich muss daher auch der ländliche Raum ausder Reform der Bundespolizei gestärkt hervorgehen. DieHöhe der Aufgriffszahlen belegt, dass die Kompetenzund Erfahrung der Bundespolizei auch dort unverzicht-bar ist.
Anfang März dieses Jahres legte uns das Bundesin-nenministerium einen „Evaluationsbericht“ zur Neuor-ganisation der Bundespolizei vor. Den Begriff „Evalua-tionsbericht“ muss man an dieser Stelle mit Absicht mitAnführungszeichen versehen, denn er ist kaum das Pa-pier wert, auf dem er steht. Neben der dürftigen Fakten-lage, mit der er aufwartet, wird eines sehr deutlich: DieSchlüsse, die der Bericht aus den erhobenen Faktenzieht, stimmen in keiner Weise mit den polizeilichen Rea-litäten der Beamtinnen und Beamten vor Ort überein.Da sprechen die Ergebnisse der Beerlage-Studie derHochschule Magdeburg-Stendal vom September 2009,die jedem vierten Angehörigen der Bundespolizei dasBurn-Out-Syndrom attestiert, eine andere Sprache.Nach dieser Studie fühlen sich 65 Prozent der Beamtin-nen und Beamten zu wenig mit ihrer Organisation ver-bunden. Die umfangreiche Umstrukturierung der Orga-nisation, die mit der Reform einherging, hat dieseProbleme noch verschärft. Denn den Beamtinnen undBeamten wird mit Abordnungen, Mehrarbeit und der Er-bringung von Kennzahlen sehr viel zugemutet. Die Zu-friedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war zukeinem Zeitpunkt relevantes Organisationsziel der Re-form, die sich damit gravierend negativ von den Organi-sationszielen der Länderpolizeien unterscheidet. Im vor-liegenden Bericht wird demnach auch nicht auf dieMitarbeiterzufriedenheit eingegangen.Der damalige Bundesinnenminister Schäuble be-gründete die Reform mit der veränderten Sicherheits-lage im Zuge des weltweiten Terrorismus und desfortschreitenden europäischen Integrationsprozesses.Insbesondere die Tatsache, dass Deutschland seit 2007nur noch von Ländern, die dem Schengen-Abkommenangehören, umgeben ist und deshalb die Grenzkontrol-len wegfallen, war der Anlass, die bisherigen Strukturenzu überdenken und zu verschlanken.Jedoch wurde im Zuge der Reform eins nicht getan:Es wurde nicht evaluiert, wie sich die Lage nach der Öff-nung der Grenzen verändern würde. Nun, mit Vorlagedieses Berichts, lässt sich unschwer erkennen, dass esZu Protokollfalsch war, die Präsenz im ehemaligen Grenzgebiet zureduzieren, denn es gibt einen signifikanten Anstieg vonEigentumsdelikten und illegaler Migration. Von demweiteren Reformziel, der so oft zitierten Bekämpfung desinternationalen Terrorismus, spricht der Bericht schongar nicht mehr.An dieser Stelle ist bereits festzustellen, dass derZweck der Reform nicht erreicht wurde. Aber auch dieorganisatorischen Ziele wurden weitestgehend nicht um-gesetzt. Mit der Reform sollte die operative Basis deut-lich gestärkt werden. Die Präsenz in der Fläche solltespürbar ansteigen. Die Losung lautete, 1 000 Beamtin-nen und Beamte mehr auf die Straße zu bringen. Den-noch wurde die Anzahl der Inspektionen von 128 auf 77reduziert. Damit betreuen die Beamtinnen und Beamtenflächenmäßig ein viel größeres Gebiet; eine stärkerePräsenz in der Fläche ist damit nicht zu erreichen. Diezusätzlichen Reviere können dabei nur wenig Abhilfeschaffen. Denn weil viele Aufgaben vom Bundespolizei-präsidium in Potsdam gesteuert werden, wird der Ver-waltungsaufwand für die Beamtinnen und Beamten vorOrt deutlich größer.Erschwerend kommt hinzu, dass eine große Anzahlvon Beamtinnen und Beamten an Flughäfen abgeordnetwird – etwa 450 – oder im Auslandseinsatz – etwa 400 –ist. Außerdem gibt es zu wenig Neueinstellungen, sodasssich die personelle Situation der Bundespolizei insge-samt verschärft. Ausweislich des Bundeshaushaltes2005 Einzelplan 06 hatte die Bundespolizei im Jahr2004 nur 648 eingerichtete Beamtenplanstellen nichtbesetzt. Nach dem Bundeshaushaltsgesetz 2010 sinddiese unbesetzten Beamtenplanstellen im Jahr 2009 aufinzwischen 1 195 Stellen angewachsen. Durch dieses ge-stiegene Fehl kann kaum von einer „Stärkung der ope-rativen Basis“ die Rede sein. Darüber hinaus hat dieBundespolizei 500 Dienstposten – Funktionen im ODP –mehr eingerichtet, als sie haushaltsmäßig über Planstel-len verfügt. Im Ergebnis werden dadurch nach derkompletten personalwirtschaftlichen Umsetzung derNeuorganisation mehr als 1 800 eingerichtete Arbeits-plätze nicht besetzt sein.Das Ziel, mehr Polizisten auf die Straße zu bringen,wurde somit deutlich verfehlt. Es gibt eine Organisa-tionsstruktur, die bezogen auf die breite Fläche misslun-gen ist. Dort, wo jetzt Inspektionen sind, wären Revierevielleicht angebrachter und umgekehrt. Sicherheitsdefi-zite sind vorprogrammiert. Dem steht entgegen, dass dieAnzahl der Plätze in den Direktionen, in den Leitungs-stäben und anderswo zum Teil um bis zu 200 Prozentaufgestockt wurde. Das ist ein krasses Missverhältnisund steht im Gegensatz zu dem, was Ansatz der Bundes-polizeireform war.Da die Aufgaben der früheren Präsidien nun einfachauf die neuen Direktionen übertragen werden, führte dieAbschaffung der Bundespolizeipräsidien als Mittelbe-hörde nicht zum gewünschten Erfolg. Die operative Ba-sis wurde nicht gestärkt. Es gibt entgegen der Ankündi-gung vor der Reform weniger Präsenz in der Fläche.Die Neuorganisation hat zu einem organisatorischen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6945
gegebene RedenWolfgang Gunkel
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und personellen Chaos geführt, das schnellstmöglichbeendet werden muss.Dem drohenden Personalkollaps innerhalb der Bun-despolizei muss dringend Einhalt geboten werden. Eskann nicht sein, dass immer weniger Beamtinnen undBeamte eine immer größere Fülle von Aufgaben erledi-gen müssen. Der Bereich der Neueinstellungen wurdesträflich vernachlässigt. Hier gilt es, anzusetzen undverstärkt um Anwärterinnen und Anwärter zu werben.Die Sozialverträglichkeit der Umsetzung war einegroße Überschrift der Reform, sie wird aber nicht er-reicht. In Wirklichkeit verspielt das Bundesinnenminis-terium mit dieser Reform die Einsatzfähigkeit der Bun-despolizei. Die Darstellung des Bundesinnenminis-teriums, dass mit dem Abschluss von Dienstvereinbarun-gen für die Beamten und Tarifbeschäftigten die Neuor-ganisation sozialverträglich umgesetzt wird, entsprichtnicht dem bisherigen Verlauf der Umsetzung der Neuor-ganisation. Dass die Dienstvereinbarungen im Maßstab1 : 1 umgesetzt wurden, ist einzig und allein den zustän-digen Personalvertretungen zu verdanken. Bei Ab-schluss des ersten und zweiten Schrittes der Reform warjeweils ein Beschluss des Bundespolizeihauptpersonal-rates erforderlich, um vor Beginn des nächsten Umset-zungsschrittes die vereinbarten Bilanzierungen durchzu-führen. Es gibt eine Vielzahl berechtigter Beschwerdenund Klagen von Beamtinnen und Beamten, die aus so-zialen Gründen nicht versetzt werden wollen, trotzdemaber versetzt werden sollen, um die Fehlorganisationauszugleichen.Die soziale Betroffenheit derjenigen, die nach demsozialen Ausleseprozess von heimatferner Verwendungbetroffen sind und noch betroffen sein werden, milderndiese Vereinbarungen allerdings nicht. Besonders Be-schäftigte in unteren und mittleren Einkommensgruppenlaufen dabei Gefahr, ihre Existenz und ihre finanzielleZukunft zu riskieren. Das ist in unseren Augen keine So-zialverträglichkeit, sondern in vielen Fällen eine Zumu-tung. Wenn sich Bedienstete dann gegen Zwangsverset-zungen wehren oder krank werden, bleiben wichtigePlanstellen unbesetzt.Extrem defizitär ist die Situation in der Aus- undFortbildung. Dieser Bereich wurde im Zuge der Vorbe-reitung der Neuorganisation nicht tiefgründiger analy-siert, was sich nun rächt. Die Bundespolizei hat seit Jah-ren schlichtweg zu wenig Nachwuchs eingestellt und istauch mit ihrer Struktur der Personalwerbung und derSchwerpunktbestimmung von Werberäumen hoffnungs-los abgehängt. Insgesamt besteht das Problem derÜberalterung der Bundespolizei, so sind über 2 500 Po-lizeiobermeister älter als 40 Jahre.Inzwischen gibt es extreme Kapazitätsengpässe. Sowaren die Kapazitäten der Bundespolizeiakademie undder Aus- und Fortbildungszentren bereits im Jahr 2008zu 84 Prozent mit Ausbildungsaufgaben ausgelastet, imJahr 2009 zu 92 Prozent. Das führt dazu, dass bereitsheute kaum noch zentrale Fortbildungsmaßnahmen an-geboten werden können. Es droht eine sich permanentwandelnde Bundespolizei, die ihre Mitarbeiter aus Ka-pazitätsgründen nicht fortbilden kann. In der FolgeZu Protokollkommt es zum Entzug von Polizeibeamten – vor allemdes gehobenen Dienstes – aus der operativen Linie undihren Abordnung in die Ausbildungsorganisation, umdie Ausbildung sicherstellen zu können.Wir Sozialdemokraten wollen, dass das Bundesinnen-ministerium das Versprechen von der sozialverträgli-chen Umsetzung einhält und die Beamtinnen und Beam-ten zu ihrem Recht kommen. Wir fordern die schnellst-mögliche Besetzung der 1 195 unbesetzten Stellen beider Bundespolizei, um die Überbelastung der Beamtin-nen und Beamten abzubauen.Die Arbeitszeit – besonders für Schichtdienstleis-tende – muss wieder auf ein erträgliches Maß zurückge-führt werden. Wir fordern eine regelmäßige Untersu-chung der sozialverträglichen Umsetzung in Intervallenvon sechs Monaten. Aus unserer Sicht müssen sofortMaßnahmen ergriffen werden, welche die Bezeichnung„sozialverträglich“ auch verdienen. Der Bundesrech-nungshof bestätigt mit seinem Prüfbericht, dass derPersonalbedarf der sogenannten bundespolizeilichenSchwerpunktdienststellen – wie Bahnhöfen und Flughä-fen – nicht auf Dauer durch Abordnungen aus Dienst-stellen in den Personalabbaubereichen abgefedert wer-den kann. Die massenhaften Abordnungen durch dasBundespolizeipräsidium müssen ein Ende haben unddürfen nicht noch stetig gesteigert werden. Familiendürfen nicht vierteljährlich und wiederholt getrenntwerden. Wenn Abordnungen erfolgen, dann müssen sieein logisches polizeitaktisches System erkennen lassen.Die Verwaltungsservicestellen, die bisher befristet wer-den, sind umgehend zu entfristen und im ODP der Bun-despolizei auf Dauer einzurichten.Mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforde-rungen im Ausland und dem Wegfall der östlichenSchengen-Außengrenzen leiden die Flughäfen unter be-sonderen Belastungen. Zum einen sind sie nun an Stelleder alleinig bisherigen Landesgrenzen neue Schengen-Grenze, auf der anderen Seite bedienen überwiegend dieFlughafendienststellen die Auslandseinsätze der Bun-despolizei.Das Ergebnis der Organisationsüberprüfung aus demJahr 2008 wurde bis heute nicht umgesetzt, der Organi-sations- und Dienstpostenplan dementsprechend nichtangepasst. Das hat zur Folge, dass die Flughafendienst-stellen mit einem Organisations- und Dienstpostenplanausgestattet sind, der auf Daten zurückliegender Jahrebasiert. Auf wechselnde Bedingungen, wie zum BeispielAusbauplanungen in Berlin und Frankfurt am Main unddamit verbundene steigende Fluggastzahlen, kann somitnicht reagiert werden. Im Ergebnis muss das Bundes-polizeipräsidium regelmäßig auf Abordnungen aus an-deren Dienststellen oder der Bundesbereitschaftspolizeizurückgreifen, um die Flughafendienststellen zu ver-stärken. Die im Bericht angesprochenen Abordnungenvon Beamtinnen und Beamten aus den sogenannten Per-sonalüberhangbereichen der Direktionen Bad Bram-stedt, Berlin und Pirna an die Flughäfen sind kritisch zubetrachten.Das bitter notwendige Umsteuern im System der Per-sonalgewinnung und -steuerung für die Flughafen-
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6946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenWolfgang Gunkel
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dienststellen wurde zwei Jahre lang nicht bearbeitet.Insgesamt sind gegenwärtig circa 850 Polizeibeamtin-nen und -beamte innerhalb ihrer Direktionen und circa450 Polizeibeamtinnen und -beamte zu Dienststellen au-ßerhalb ihrer Direktionen – Flughäfen – abgeordnet.Das entspricht in etwa dem Personalfehl, welches durchsträfliche Vernachlässigung von Neueinstellungen ent-standen ist.Das Bundesinnenministerium versichert in seinemBericht, dass die Anzahl der erforderlichen Polizeivoll-zugsbeamten grundsätzlich jährlich nach einheitlichenKriterien und auf Grundlage bundesweit gültiger Fach-konzepte überprüft werde. Dem steht entgegen, dass seitden Vorfällen im Dezember 2009 – Stichwort: Detroit –keine großen Veränderungen, die zur Verbesserung derSicherheit beigetragen hätten, erfolgt sind. Damit istdiese Aussage des Bundesinnenministeriums anzuzwei-feln. Sollte es wirklich eine derartige jährliche Überprü-fung geben, so müsste im Ergebnis zutagetreten, dassder Organisations- und Dienstpostenplan und der damitverbundene Dienstpostenansatz zukünftig anzupassenist.Die Aufgabenwahrnehmung an den Flughäfen isteine Kernkompetenz der Bundespolizei; sie muss auchals solche behandelt werden. Wir wollen, dass die Stel-len langfristig fest besetzt sind und nicht durch Abord-nungen aus anderen Bereichen ersetzt werden. Die Per-sonalzumessung muss so gestaltet sein, dass die Anzahlder Abordnungen so gering wie möglich ausfällt. In derKonsequenz fordern wir eine gezielte regionale Einstel-lungspolitik. Wir favorisieren dabei regionale Werbe-maßnahmen zur Personalgewinnung für die Bundespoli-zei. Der Dienst nach der Ausbildung muss schon in derAusbildung regional planbar sein. Freie Dienstposten,die bis heute nicht vollständig besetzt sind, obwohl diefinanziellen Mittel, nämlich Planstellen, schon langevorhanden sind, müssen als Erste besetzt werden.Es gibt noch viele Baustellen bei der Umsetzung die-ser Reform, einer Reform, die ich schon von Anfang ankritisch begleitet und als überstürzt betrachtet habe. Dievon mir angesprochenen Problempunkte wurden von mirbereits vor zweieinhalb Jahren benannt. Die Sachver-ständigenanhörung am 5. Juli hat zum großen Teilmeine Ansichten bestätigt. Die Anhörung belegte zudemsehr deutlich, dass die Evaluierung der Reform nur sehrunzureichend gelungen ist, der Bedarf an einer sachge-rechten Bewertung ist sogar noch größer geworden. Essteht nicht zu erwarten, dass eine erneute interne Unter-suchung objektivere Ergebnisse bringt. Wir fordern des-halb, dass die Bundespolizeireform durch einen wissen-schaftlichen Sachverständigen untersucht wird, der imEinvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bestelltwird. Ich bitte um Unterstützung dieser Forderung undunseres Antrags.
Die Bundespolizei befindet sich derzeit noch in derdritten großen Strukturreform. Reformen bringen immerUnruhe, Verwirrungen und Unzufriedenheit mit sich.Die Reform ist noch nicht abgeschlossen, aber wir wol-Zu Protokolllen auch keine Dauerreform der Bundespolizei. Wir wol-len, dass die Bundespolizistinnen und Bundespolizistenim Interesse unserer Sicherheit ihren Job machen kön-nen. Das brauchen wir – und nicht Unruhe und Unzu-friedenheit.Diese Unruhe und Unsicherheit liegt vielleicht auchdaran, dass die Reformvorhaben erst zu spät bei denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Beamtinnenund Beamten angekommen sind, diese also quasi vorvollendete Tatsachen gestellt wurden.Weil wir nicht wollen, dass nun auf die Reform dieReform der Reform folgen soll und alles wieder auf denKopf gestellt wird, ist die christlich-liberale Koalitionder Überzeugung, dass Fehlentwicklungen begegnetwerden muss, aber innerhalb des nun vorgegebenenKonzepts. Denn das, was vielleicht in der Wirtschaftüblich ist, dass eigentlich die Reorganisation der Nor-malfall ist, das wollen wir den Mitarbeitern der Bundes-polizei nicht zumuten, und das können wir nicht verant-worten, weil es um die Sicherheit zum Beispiel an denGrenzen und an den Flughäfen geht, die Verlässlichkeitbraucht.Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf – undwir wissen, dass diese Forderungen vom Bundesinnen-ministerium aufgegriffen werden –, die Dinge zu ändern,die aus der Reform einen Erfolg machen können.Wenn ich hier auf die SPD-Position schaue, dannmuss ich mir hingegen verwundert die Augen reiben. Ichfrage hier mal: Wer hat es erfunden? Das waren dochSie, die SPD, in der vorigen Wahlperiode. Das warendoch Sie, die SPD, die eine Reform mitgetragen hat, diedie Mitarbeiter nicht mitgenommen hat. Wo waren dennda Ihre mahnenden Worte? Wo war denn die gelebte So-zialdemokratie, als es um die Belange der Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter ging, die vor den Kopf gestoßenwurden? Jetzt verlangen Sie scheinheilig eine externeEvaluation. Da hätten Sie vielleicht vorher mal – ganzintern – in sich gehen können, bevor Sie so ein Projektabsegnen.Wir, die FDP-Fraktion, haben die Bundespolizeire-form skeptisch gesehen. Das will ich gar nicht verheh-len. Aber wir wollen die Bundespolizistinnen und Bun-despolizisten, die sich gerade in der neuen Strukturzurechtfinden wollen und müssen, nicht nochmals voreine Reorganisation im Stile einer Umwälzung stellen.Vielmehr wollen wir nun ihre Bedenken, ihre Erfahrun-gen, ihre Anregungen aufnehmen, um es besser zu ma-chen.Denn die Bundespolizei muss ihre Aufgaben wahr-nehmen können – und dazu braucht sie engagierte Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in ihrer Organi-sation angenommen fühlen und sich einbringen, die ihreArbeit gut machen wollen und können. Genug zu tun gibtes für die Bundespolizei dabei: Nach der Schengen-Osterweiterung sind die Aufgaben an den östlichen Bun-desgrenzen ja nicht auf einmal weggefallen, sondern dieBundespolizei steht vor neuen Herausforderungen.Durch die Zunahme des Reiseverkehrs an Flughäfen unddie zunehmende Zahl von Menschen in Ballungsräumen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6947
gegebene RedenGisela Piltz
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stehen die Bundespolizistinnen und Bundespolizistenvor anspruchsvollen Aufgaben, für die stetig ausrei-chend Personal vorhanden sein muss.Notwendig ist auch ein langfristiges Personalent-wicklungskonzept, damit die Bundespolizei sich für dieZukunft richtig aufstellen kann. Dazu gehören die Nach-wuchswerbung ebenso wie die Aufstiegschancen inner-halb der Bundespolizei, die Auslandseinsätze ebensowie die Spezialisierung, die in einer zunehmend komple-xen Welt bei den Sicherheitsbehörden allenthalben er-forderlich ist.Verantwortung muss man übernehmen – und manmuss dafür auch die entsprechenden Freiräume haben,um sie auszufüllen. Deshalb wollen wir, dass das Bun-despolizeipräsidium in seinen Kernaufgaben gestärktwird, um seiner Verantwortung eigenständig auch nach-kommen zu können, zugleich aber die Entscheidungs-ebenen vor Ort in angemessener Weise berücksichtigtwerden, denn vieles muss nicht zentral geregelt werden.Wir setzen uns nicht für zentralisierte Entscheidungenfernab der Belange vor Ort, fernab der Belange und derExpertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihreralltäglichen Arbeit ein, sondern wollen die Entschei-dungskompetenz da verorten, wo sie hingehört.Die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten ver-dienen unseren Respekt und unseren Dank für die Wahr-nehmung vielfältiger Aufgaben. Der Antrag der christ-lich-liberalen Koalition gibt diesem Ausdruck.
Die Reform der Bundespolizei, über die wir heute re-
den, wurde 2008, vor nunmehr zweieinhalb Jahren, vom
Bundestag beschlossen. Im Juni 2010, also vor vier Mo-
naten, fand im Innenausschuss eine Expertenanhörung
statt. Das Fazit: Keins der vorgegebenen Reformziele
wurde erreicht. Wie ein Sachverständiger es zuspitzte:
Die Geschichte dieser Reform ist ein Paradebeispiel da-
für, wie man es nicht machen sollte. Kurzum, das Urteil
der Fachleute war mehr oder weniger vernichtend.
Im Bundesinnenministerium sah man das natürlich
anders. Die interne Überprüfung habe ergeben, dass die
Reform der Bundespolizei im Großen und Ganzen gelun-
gen sei. Wir kennen dieselben Fehleinschätzungen auch
von anderen Beispielen, etwa von Überprüfungen der
Sicherheitsgesetze. Deshalb noch mal ganz klar: Über-
prüfung bedeutet nicht, dass sich das Bundesinnen-
ministerium selbst bescheinigt, es sei alle Zeiten super.
Ich will hier nur die offensichtlichsten Mängel kurz
auflisten. Erstens, die Präsenz der Bundespolizei in der
Fläche ist ebenso wenig gesichert wie die Sicherheit an
Brennpunkten, seien es Flughäfen oder Bundesgrenzen
im Süden und im Osten. Zweitens, es gibt einen eklatan-
ten Widerspruch zwischen dem, was an Personal und
Ausstattung nötig wäre, und dem, was an Personal und
Ausstattung gewährt wird. Drittens, beide Diskrepan-
zen, die mangelnde Präsenz und die Unterausstattung,
werden auf Kosten der Beschäftigten und zulasten ihrer
Familien übertüncht. Viertens, praktisch unbeantwortet
ist auch die Frage, wie der Beruf einer Bundespolizistin
Zu Protokoll
bzw. eines Polizisten auch künftig attraktiv sein könnte.
Es fehlt ein Zukunftsplan.
Fehlende Ressourcen, demotiviertes Personal, man-
gelnde Perspektiven und löchrige Sicherheit – ein
schlechteres Zeugnis kann man einer sogenannten Re-
form nicht aussprechen. Ich will als Linke nicht uner-
wähnt lassen: einer Reform unter CDU-Führung. Die
Fraktion Die Linke fordert daher dreierlei: Erstens, die
Ergebnisse bzw. Mängel der bisherigen Reform der Bun-
despolizei sind durch unabhängige Sachverständige zu
überprüfen. Zweitens, die Fehlentwicklungen, insbeson-
dere die, die zulasten der Beschäftigten gehen, sind un-
verzüglich zu korrigieren. Drittens, bei allen weiteren
Schritten sind die Beschäftigten und ihre Gewerkschaf-
ten endlich ernst zu nehmen und einzubeziehen.
Abschließend will ich für die Fraktion Die Linke al-
lerdings noch einmal grundsätzlich unterstreichen: Alle
Gelüste, die öffentliche Sicherheit zunehmend privaten
Anbietern anzudienen und die Polizei zweckfremd einzu-
setzen, werden wir nicht hinnehmen. Ich sage das so all-
gemein und für manche auch kryptisch, weil bisher nie
offen gesagt wurde, welchem Sinn und Zweck diese Re-
form der Bundespolizei eigentlich folgte und welche
politischen Absichten möglicherweise wirklich dahinter
stecken. Wir erleben immer wieder Vorstöße, mit denen
die Trennungsgebote des Grundgesetzes zwischen Poli-
zeien, Bundeswehr und Geheimdiensten aufgeweicht
werden sollen. Die Linke wird daher auch alle weiteren
Reformen der Bundespolizei mit genau diesem Argwohn
begleiten.
Als der damalige Bundesinnenminister WolfgangSchäuble die Bundespolizeireform in Gang setzte, dadachte er, er bräuchte für dieses Vorhaben noch nichteinmal ein Gesetz. Dem Organisationserlass folgte danndoch noch ein Gesetz und Anfang des Jahres dann dieerste Beurteilung der Folgen der Reform. In dieser Be-urteilung kommt das Bundesinnenministerium – mankann das ruhigen Gewissens so zusammenfassen – zudem Ergebnis: Alle Ziele sind erreicht oder mindestenssehr weit gediehen, ein richtiger Plan wurde gut umge-setzt, und die Zeit wird vielleicht doch noch verbliebeneWunden schon heilen.Den Leser dieser Bewertung beschlichen von Anfangan die Zweifel, dass so ein großes Projekt so problemlosumgesetzt werden kann. Denn mit der Reform wurdegleichzeitig dreierlei getan: Erstens wurde die Organi-sation massiv umgekrempelt, es wurden Standorte ge-nauso verändert wie die ganze Struktur und die Zustän-digkeiten. Zweitens wurde die Leitung neu gestaltet undvom Ministerium in eine neue Oberbehörde verlegt –das Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Drittens wur-den die Ziele und Aufgaben teilweise neu definiert. Dashat zur Folge, dass eine große Zahl von Polizistinnenund Polizisten neue Aufgaben an einem neuen Ort über-nehmen müssen, dass Verwaltungsabläufe neu gestaltetwerden müssen, dass Stellen noch zu besetzen sind.Dass alles im Fluss ist, spiegelt sich auch in den vie-len, vielen Zuschriften und Stellungnahmen, die wir In-
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6948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6949
Wolfgang Wieland
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nenpolitiker erhalten haben. Praktiker aus den Inspek-tionen und den Revieren haben eine sehr viel kritischereEinschätzung als das Innenministerium. Sie klagen übereinen regelrechten Bürokratieverhau an Vorgaben, For-mularen, zu sammelnden Kennzahlen, über unbesetzteStellen und darüber, dass die Reform insgesamt dazu ge-führt hat, dass mehr Zeit am Schreibtisch verbracht wirdund darunter die eigentliche Kernaufgabe, nämlich Si-cherheit zu schaffen, leidet. Nicht zuletzt leiden auchviele Beamtinnen und Beamte unter der Reform, sei esdurch Umzüge oder durch Überstunden.Dass es diese Probleme gibt, haben unisono alleSachverständigen bestätigt, die wir im Juli im Innenaus-schuss angehört haben. Immerhin hat diese Einstimmig-keit bei der Bundesregierung zu der Einsicht geführt,dass wohl doch nicht alles von alleine geht. Das räumendie Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag ja auch mehroder weniger freimütig ein.Um die Probleme nun ehrlich angehen zu können,braucht es aber nicht das, was die Koalition will, näm-lich mehr Selbstbeurteilung des Ministeriums. Das führtvielleicht zur Lösung der auffälligsten Probleme. Aberes ist nicht der richtige Weg, um wirklich zu erfassen, wodie Probleme stecken und wie die Lösung aussehenkönnte. Deswegen unterstützen wir die Forderung derSPD, wissenschaftlichen Sachverstand hinzuzuziehen,um eine umfassende, professionelle Evaluierung durch-zuführen. Das darf nicht nur heißen, dass jemand dasBMI berät, wie es sich am besten selbst evaluiert. Esmuss bedeuten: Sachverständige evaluieren Organisa-tion und Praxis der Bundespolizeireform. Nur so lassensich die Missstände wirklich angehen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/3068 und 17/3187 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine Normalisierung der Beziehungen der
Europäischen Union zu Kuba
– Drucksache 17/3188 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Holger
Haibach, Dr. Egon Jüttner, Klaus Barthel, Marina Schuster,
Sevim Dağdelen und Hans-Christian Ströbele ihre Reden
zu Protokoll.
Das politische und wirtschaftliche Modell Kubas ist
nicht zukunftsfähig und dringend reformbedürftig. Zu
dieser Einsicht ist mittlerweile sogar die kubanische
Führung selbst gelangt und hat daher kürzlich beschlos-
sen, stärker auf marktwirtschaftliche Elemente im Wirt-
schaftssystem des Landes zu setzen. In vielen Bereichen
der Wirtschaft ist nunmehr privates Unternehmertum
möglich, gleichzeitig wird die aufgeblähte Zahl der
Staatsbediensteten drastisch reduziert. Manche Kom-
mentatoren sehen hierin bereits den Beginn einer kuba-
nischen Perestroika. Einzig die Fraktion Die Linke stellt
sich gegen die Zeichen der Zeit und legt uns heute einen
Antrag vor, der sich liest, als wären wir noch in den
sechziger Jahren und als würde sich das kommunisti-
sche und planwirtschaftliche System Kubas immer noch
als eine ernsthafte Konkurrenz zu liberalem Rechtsstaat
und sozialer Marktwirtschaft in der Region präsentie-
ren. Das kubanische System ist aber von Grund auf ma-
rode und eine grundlegende Verbesserung der Beziehun-
gen zwischen Europa und Kuba kann nur die Folge
tiefgreifender Reformen und einer Öffnung des Landes
sein.
Es ist ja richtig, dass sich Kuba bemüht, uns ein Stück
weit entgegenzukommen. So muss wohl jedenfalls die
Freilassung der in dem Antrag erwähnten 52 Dissiden-
ten verstanden werden. An sich wäre diese Freilassung
ja auch zu begrüßen, wenn ihre Begleitumstände nicht
so tragisch wären. Was die Kollegen von der Linksfrak-
tion in ihrem Antrag unter den Tisch fallen lassen, ist
nämlich, dass diese 52 Dissidenten nicht einfach nur aus
ihren Zellen entlassen wurden. Sie wurden vielmehr di-
rekt nach ihrer Freilassung nach Spanien abgeschoben
und ihnen wurde de facto die Staatsbürgerschaft entzo-
gen. Solange das kommunistische Regime in Kuba
herrscht, werden diese Menschen ihre Heimat nicht wie-
dersehen können. Einen solchen Umgang mit unliebsa-
men Menschen durch eine kommunistische Diktatur ken-
nen wir Deutschen aus unserer eigenen Geschichte, und
er ist weder zu begrüßen, noch sollte er von uns oder der
EU belohnt werden. Wir müssen vielmehr weiterhin auf
Kuba einwirken, alle politischen Gefangenen bedin-
gungslos freizulassen und das Regime zu demokrati-
schen Reformen ermutigen. Das ist auch kein Verstoß
gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot,
wie es in dem Antrag behauptet wird. Das Eintreten für
die weltweite Durchsetzung von Demokratie und Men-
schenrechten sollte vielmehr eine Selbstverständlichkeit
für alle Demokraten sein, und ich dachte bisher auch,
dass es in diesem Haus darüber einen breiten und stabi-
len Konsens zwischen allen Fraktionen gibt. Wenn es
aber wirklich die Meinung der Fraktion der Linken ist,
dass die Forderung nach Demokratie und Freilassung
von politischen Gefangenen in Kuba ein illegitimer Ein-
griff in die staatliche Souveränität des Landes ist, dann
wirft sie damit die aktive Menschenrechtspolitik um
vierzig Jahre zurück. Mit solchen Ansichten können Sie
im 21. Jahrhundert keine glaubhafte Außenpolitik mehr
betreiben.
Auch die Beurteilung der Rolle Kubas in der regiona-
len Integration stellt das Ausmaß der Realitätsverweige-
Holger Haibach
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(B)
rung der Antragsteller heraus. Es ist eben so, dass
zunehmend deutlich wird, dass die ALBA keine Organi-
sation ist, von der Wachstumsimpulse für ihre Mitglieder
ausgehen, wie das in der EU der Fall ist, sondern dass
dies eine Organisation zur gemeinsamen Verwaltung des
Mangels ist. Der Einfluss, den Kuba auf die Region zu
nehmen versucht, ist unter diesen Vorzeichen eher als
schädlich zu betrachten. Versuche der kubanischen Re-
gierung, ihr System in andere Staaten zu exportieren,
müssen zum Scheitern verurteilt sein.
Vollends skurril wird die Argumentation des Antrags,
wenn es um die Forderung nach einer Freilassung der
sogenannten Miami Five geht. Diese Menschen werden
nicht „in der USA gefangen gehalten“, wie es hier ge-
schrieben steht. Sie wurden in einem rechtsstaatlichen
Verfahren wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum
Mord zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sie hatten einen
unabhängigen Richter, frei gewählte Verteidiger und ein
faires Verfahren mit der Möglichkeit, gegen die Urteile
in Berufung zu gehen. All dies sind Dinge, von denen die
in Kuba eingekerkerten Dissidenten nicht einmal zu
träumen wagen können. Irgendwelche Parallelen zwi-
schen den „Miami Five“ und den eingesperrten Dissi-
denten in Kuba zu ziehen, ist daher mehr als hanebü-
chen und eine Verhöhnung derjenigen Kubaner, die sich
unter Einsatz ihrer persönlichen Freiheit und auch ihrer
Gesundheit für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in
ihrem Land einsetzen.
Aus all diesen Gründen ist der Antrag abzulehnen.
Kuba ist kein normales Land, sondern immer noch eine
Diktatur, in der Menschen, die die Regierung kritisieren,
weggesperrt werden. Solange noch über 200 Menschen
aus politischen Gründen in Kuba eingesperrt sind, so-
lange Menschen wie Juan Carlos Herrera Acosta und
die anderen Mitglieder der „Gruppe der 75“ in Haft
bleiben, weil sie sich für Demokratie und Menschen-
rechte einsetzen, solange kann die EU ihre Beziehungen
zu Kuba nicht normalisieren. Es ist nur zu begrüßen,
dass sich die Bundesregierung entsprechenden Bestre-
bungen vonseiten mancher unserer Partner entschlossen
entgegenstellt. Der Gemeinsame Standpunkt der EU
muss daher bestehen bleiben.
Mit ihrem Antrag möchte die Fraktion Die Linke er-reichen, die Beziehungen der Europäischen Union zuKuba zu normalisieren. Selbst wenn man die politische,wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Kuba in denvergangenen Monaten mit viel Wohlwollen betrachtet,kann dem unter keinen Umständen zugestimmt werden.Eine Normalisierung der Beziehungen würde der aktuel-len Lage in Kuba in keiner Weise gerecht werden: So sinddie bürgerlichen und politischen Rechte in Kuba weiter-hin stark eingeschränkt. Regierungskritiker werden nachwie vor inhaftiert. Freigelassene Häftlinge berichten,dass sie während der Haft geschlagen worden seien. Ein-schränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerungsind an der Tagesordnung. Das Recht auf Vereinigungs-und Versammlungsfreiheit ist stark beschnitten.Zu ProtokollDie menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und politi-schen Rahmenbedingungen in Kuba lassen eine Norma-lisierung der Beziehungen nicht zu. Bei der aktuellenLage der Presse in Kuba kann man nicht von einer Ein-schränkung der Pressefreiheit sprechen. Bei einer zu100 Prozent staatlichen Presse ist die Pressefreiheitnicht eingeschränkt, sondern es gibt schlicht und einfachkeine Pressefreiheit. Der Freiheitsgrad der Presse aufKuba liegt bei null. Die absolute staatliche Kontrolle er-streckt sich auf sämtliche Presseorgane. Sie macht auchvor dem Internet nicht halt. Die Behörden sperren nachwie vor den Zugang zu Internetseiten von Bloggern undJournalisten, die der Regierung kritisch gegenüberste-hen. Sobald regierungsabweichende Publikationen imInternet erscheinen, werden die Urheber unwürdigerVerfolgung ausgesetzt. Nach wie vor hindert die Ein-schränkung der Bewegungsfreiheit Journalisten, Men-schenrechtsverteidiger und politisch engagierte Bürgeran der Ausübung rechtmäßiger und friedlicher Aktivitä-ten.Es mag zwar sein, dass sich dank der Vermittlung desspanischen Außenministers Moratinos und der katholi-schen Kirche die Situation in den letzten Wochen undMonaten etwas gebessert hat und über 50 politische Ge-fangene freigekommen sind. Man darf aber nicht verges-sen: Die menschenrechtliche Situation im Jahre 2009und in der ersten Jahreshälfte 2010 hat sich extrem ver-schlechtert. Ein Beispiel dafür ist der Tod des politi-schen Gefangenen Orlando Zapata Tamayo. Er starb imFebruar dieses Jahres infolge eines Hungerstreiks.Natürlich begrüßen wir die Freilassung politischerGefangener. Es ist aber nicht so, dass die Freigelasse-nen nun unbehelligt in Kuba leben können und dort freiihre Meinung äußern dürfen. Nein, sie müssen vielmehrihr Land verlassen. Sie haben mehrheitlich in SpanienZuflucht gefunden.Ist es nicht bezeichnend, dass gerade die freigelasse-nen Dissidenten, die ihre Dankbarkeit gegenüber Spa-nien durchaus zum Ausdruck gebracht haben, dennochdeutlich klar gemacht haben, dass sie den Vorstoß derspanischen Regierung, die Beziehungen zu Kuba zu ent-spannen, strikt ablehnen? Sie haben sowohl Spanien alsauch die gesamte Europäische Union zu mehr Härte ge-genüber Kuba aufgefordert. Auch uns ist es nicht ver-ständlich, dass nun die Fraktion Die Linke eine Norma-lisierung der Beziehungen verlangt, während dieseDissidenten aus eigenem Erleben des Systems einen här-teren Umgang mit dem kommunistischen Inselstaat for-dern.Eine Normalisierung der Beziehungen ist auch imHinblick auf das derzeitige Engagement der EU in Kubanicht erforderlich. Allein zwischen 1993 und 2003 hat dieKommission 145 Millionen Euro an Hilfsmaßnahmen fi-nanziert, davon 90 Millionen Euro im humanitären Be-reich. Im Jahre 2009 hat Kuba weitere 36 Millionen Eurofür die Bereiche Wiederaufbau, Grundversorgung mitNahrungsmitteln, Umwelt und Klima sowie Managementund Kultur erhalten. Und schließlich hat die EuropäischeKommission erst kürzlich 20 Millionen Euro für 2011 bis2013 im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in
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6950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenDr. Egon Jüttner
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Aussicht gestellt. Hinzu kommt noch Soforthilfe, um aufNotlagen durch Hurrikane zu reagieren. Man kann des-halb nicht behaupten, die Europäische Union und ihreMitgliedstaaten sähen weg, wenn es um das Leiden derkubanischen Bevölkerung geht.Wir halten den im Jahre 1996 festgelegten „Gemein-samen Standpunkt“ der EU weiterhin für richtig. Dasheißt: Kuba muss die Menschenrechte wahren, bevor eindirekter Dialog mit seiner Regierung eröffnet wird. Voneinem politischen oder gar von menschenrechtlichem„Tauwetter“ auf Kuba zu sprechen, halten wir für ver-fehlt. Über eine Normalisierung nachdenken können wirerst, wenn diese fundamentalen Bedingungen erfülltsind. Der „Gemeinsame Standpunkt“ verstößt entgegender Behauptung der Linken in dem Antrag auch nichtgegen das Nichteinmischungsverbot der Charta der Ver-einten Nationen. Es ist legitim, an eine enge politischeund wirtschaftliche Kooperation Bedingungen zu knüp-fen. Nichts anderes macht der „Gemeinsame Stand-punkt“ aus dem Jahre 1996 mit seiner Forderung an diekubanische Seite, die Menschenrechte zu achten.Der Vergleich mit den Beziehungen der EuropäischenUnion zu anderen lateinamerikanischen Ländern wieMexiko oder Kolumbien, den die Fraktion Die Linke inihrem Antrag aufstellt, kann so nicht hingenommen wer-den. Meine Damen und Herren von den Linken, Sie las-sen dabei außer Acht, dass die staatliche Integrität die-ser Länder durch Drogenkartelle und terroristischeOrganisationen ernsthaft gefährdet wird. Gerade Ko-lumbien sieht sich seit Jahren mit einer terroristischenOrganisation konfrontiert, die eine ernsthafte Bedro-hung für den Staat darstellt. Dennoch befinden sichdiese Länder auf einem guten Weg und sind im Unter-schied zu Kuba bemüht, trotz erheblicher Bedrohungenfreie Wahlen abzuhalten. Die Situation in Kuba ist dochwirklich eine völlig andere. Dort regiert eine Partei, undwer sich ihrem Diktat nicht beugt, der ist nicht hinnehm-baren, menschenverachtenden Einschränkungen ausge-setzt.Eine Normalisierung der Beziehungen, wie sie in demAntrag gefordert wird, wäre deshalb unseres Erachtensein falsches Signal an die kubanische Führung.Wir werden dem Antrag der Linken nicht zustimmen.
Kaum ein Land erhitzt seit über 50 Jahren weltweitdie Gemüter so wie Kuba. Für Freund und Feind übt dieInsel eine besondere Faszination aus. Dies ist nicht dieStelle, das zu analysieren und sich in die Ursachen zuvertiefen.Auch die EU – sonst in vielen Fragen der internatio-nalen Politik durchaus differenziert aufgestellt – hat esfür nötig befunden, zu Kuba einen „GemeinsamenStandpunkt“ zu formulieren. Das ist durchaus eine be-sondere Ehre für so ein kleines Land in weiter Ferne.Aus europäischer Sicht wäre es sicher wünschenswert,für wichtigere Fragen in der internationalen Politik ei-nen Gemeinsamen Standpunkt zu entwickeln und umzu-setzen.Zu ProtokollDer Gemeinsame Standpunkt zu Kuba ist jetzt14 Jahre alt und war damals von aktuellen Entwicklun-gen geprägt, vor allem von einer Zuspitzung wirtschaft-licher Probleme, von Konflikten und staatlichem Druckin Kuba, aber auch von Stimmungen und Strömungenneuer Mehrheiten und neuer Regierungen in der EU, dieein außenpolitisches Profil suchten. Die Frage, ob dereuropäische Standpunkt damals, 1996, angemessen war,kann aber heute offen bleiben.Heute besteht eine andere Situation. Selbst die USAüberprüfen ihre Blockadepolitik. Eine Blockade übri-gens, die bei sämtlichen UN-Vollversammlungen fasteinstimmig, mit den Stimmen einzelner EU-Mitglied-staaten, immer wieder verurteilt wurde, über die aber imGemeinsamen Standpunkt nichts zu lesen ist. Auch dieEntwicklung in Kuba selbst muss man zur Kenntnis neh-men. Alle Hoffnungen bzw. Befürchtungen, man könnedurch äußeren Druck, durch wirtschaftlichen Boykott,durch außenpolitische Isolierung, durch Einmischungvon außen einen Systemwechsel herbeiführen, sind ge-scheitert, auch nach weiteren 14 Jahren EU-Sanktionen.Die Freilassung von 52 Gefangenen ist vor allem auf ei-nen innerkubanischen Dialog unter Beteiligung der ka-tholischen Kirche zurückzuführen, bei dem die spani-sche Regierung hilfreich vermitteln konnte. Diekubanische Regierung selbst setzt wirtschaftliche Refor-men in Gang. Kuba wächst schließlich mehr und mehr indie Staatengemeinschaft Lateinamerikas hinein. Längstist die Isolation in dieser Region durchbrochen und ei-ner Integration in regionale Bündnisse gewichen.Der uns vorliegende Antrag der Linksfraktion fordertdaher zu Recht eine Korrektur der europäischen Kuba-Politik und weist damit in die richtige Richtung. Auchwir kritisieren die Haltung der Bundesregierung, entge-gen den Bestrebungen Spaniens und anderer Mitglieds-länder am bestehenden Standpunkt festzuhalten. Das istplumpe Kalte-Krieg-Mentalität, die belegt, dass CDUund CSU rechtskonservatives Lagerdenken noch langenicht überwunden haben. So kann man aber keine inter-nationale Politik machen. Und, ganz nebenbei, Außen-minister Westerwelle kann seine Lateinamerika-Strate-gie damit gleich wieder vergessen.Die Menschen, die sozialen Bewegungen und die Re-gierungen in der gesamten Region haben genug davon,von den USA oder Europa gesagt zu bekommen, was siezu tun und zu lassen haben. Dialog, Bi- und Multilatera-lität, gleiche Augenhöhe – das wird heute von uns er-wartet. Das heißt nicht, dass wir kritikwürdige Zuständenicht kritisieren dürfen oder dass wir Verstöße gegenDemokratie und Menschenrechte einfach hinnehmenoder verschweigen dürfen. Das gilt dann aber auch füralle Länder, nicht nur für Kuba.Insoweit können wir der Intention des Antrags folgen.Zweifel können erlaubt sein, ob es realistisch ist, dieAufhebung des Gemeinsamen Standpunktes zu fordern.Erstens würde der geforderte bilaterale Ansatz ja eben-falls einen Gemeinsamen Standpunkt erfordern, zwar ei-nen anderen, einen überarbeiteten, aber eben doch ei-nen solchen Standpunkt. Zweitens wäre es schon eingroßer Fortschritt, wenn der künftige EU-Standpunkt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6951
gegebene RedenKlaus Barthel
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wenigstens eine Öffnung zugunsten eigener Aktivitätenund Beziehungen der Mitgliedstaaten enthielte – wasohnehin der Realität entspräche. Dann würde sich sehrschnell eine neue Dynamik in den Beziehungen von EU-Mitgliedstaaten zu Kuba entwickeln. Wir begrüßen esauch, dass die Linksfraktion – meines Wissens erst-malig – von „inhaftierten Dissidenten in Kuba“ spricht,ein Stück mehr Realismus auch an dieser Stelle.Was Punkt I.7 bzw. II.4 des Antrags betrifft, kann manzwar dem Wunsch nach Freilassung der „Miami Five“folgen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was dasmit der Korrektur des europäischen Standpunktes zu tunhaben soll. Vieles wäre einfacher, wenn die Linke bei be-rechtigten Anliegen darauf verzichten würde, das Anlie-gen selbst durch parteipolitische Profilierungssucht zubelasten.Vielleicht gibt es ja im Zuge der Beratungen noch hierund da ein Einsehen. Gespannt bin ich vor allem darauf,wie die Koalitionsfraktionen zur Haltung der Bundes-regierung stehen und ob letztlich Kanzleramt oderAußenministerium die Kubapolitik bestimmen – odervielleicht das Parlament. Es könnte dem Deutschen Bun-destag als Ganzem gut anstehen, ein deutliches Signalnach Brüssel zu senden und damit von seinen neuenRechten in der europäischen Politik Gebrauch zu ma-chen.
Betrachtet man die gesellschaftspolitische Lage aufKuba, muss man nüchtern feststellen:Der Sozialismus unter Palmen ist endgültig geschei-tert. Zu diesem Schluss ist selbst Fidel Castro gekommenund gibt offen zu, dass der kubanische Sozialismus nichtmal mehr auf Kuba funktioniert. Ich zitiere: „Das kuba-nische Modell funktioniert nicht einmal mehr bei uns.“Zitatende. Diese Erkenntnis ist ebenso richtig wie längstüberfällig.Schauen wir uns die Tatsachen an: In Kuba nimmtder Staat eine zu große Rolle im Wirtschaftsleben ein. Sokontrolliert der Staat mehr als 95 Prozent der Wirtschaftund zahlt den Arbeitern einen Lohn von etwa 20 Dollarpro Monat. Die immer mal wieder angekündigten wirt-schaftlichen Reformen müssen nun endlich auch ange-packt und in die Tat umgesetzt werden. Kuba ist durchdie Weltwirtschaftskrise und Unwetterkatastrophen,aber auch durch Korruption und sozialistische Miss-wirtschaft in eine schwere Krise geraten. Das Landmuss unter anderem Lebensmittel für umgerechnet über1 Milliarde Euro importieren.Die Pläne zur Aufweichung der Planwirtschaft, in-dem in 178 verschiedenen Bereichen Kubaner künftigselbstständig werden können, sind begrüßenswert. Je-doch müssen wir sehen, dass sie auch aus der Not ge-wachsen sind: Damit muss auch die angekündigte Ent-lassungswelle im Staatsdienst abgefedert werden; undwas diese bedeutet, zeigen folgende Zahlen: Nach denPlänen der Regierung verlieren in den ersten drei Mona-ten des kommenden Jahres rund 500 000 Angestellte ausunproduktiven staatlichen Betrieben ihren Job – das istZu Protokolljeder zehnte staatlich Beschäftigte. Begründet werdenbeide Maßnahmen mit einer Stärkung der Planwirt-schaft. Da tun sich mir einige große Fragezeichen auf,denn unter anderem ist doch auch die sozialistischePlanwirtschaft ein Grund für die wirtschaftliche Misere.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,neben dieser offensichtlichen Widersprüchlichkeit derkubanischen Wirtschaftspolitik wird doch eines wiedereinmal offensichtlich: Ihre Doppelstandards in IhrerMenschenrechtspolitik. Sie kritisieren zum Beispiel dieVereinigten Staaten von Amerika für deren Hilfsmaßnah-men nach der Erdbebenkatastrophe auf Haiti. Aber dassman mal ein Wort der Kritik hört, wie die kubanischenVerantwortlichen mit Regimekritikern und Menschen-rechtsverteidigern umgehen, dazu kommt dann nichtviel. Sie begrüßen in Ihrem Antrag, dass die kubanischeRegierung inhaftierte Dissidenten freigelassen hat, unddas ist auch richtig so. Aber Sie verurteilen nicht, dassdiese Menschen wegen ihrer politischen und gesell-schaftlichen Kritik überhaupt in Haft saßen. PolitischeGefangene gehören leider zum System auf Kuba, unddas ist entschieden zu verurteilen.Vor allem hört man dann oft von Ihnen: Ja, dafür hatKuba aber gute Lehrer und Ärzte. – Das mag ja so sein,nur heißt das doch nicht, dass man deswegen auf Mei-nungsfreiheit und auf die Gewährung von Menschen-rechten verzichten kann.Zudem möchte ich, dass wir uns als Parlamentarierdie jüngsten Freilassungen genau ansehen. Und ichmöchte einen Punkt zu bedenken geben: Die Freilassungvon Oppositionellen, um sie dann nach Spanien zu drän-gen, um sich damit quasi der lästigen Opposition zu ent-ledigen, ist keine echte Freilassung. Mit einer Freilas-sung, die wahren Willen zur Versöhnung zeigt und denWeg für Reformen ebnet, hat das nicht viel zu tun. Mit„Freilassung“ meine ich echte Freilassung aller politi-schen Häftlinge. Die Freiheit darf nicht an Bedingungengeknüpft werden. Es darf nicht sein, dass die Regierungvon Raul Castro die Dissidenten vor die Wahl „Gefäng-nis oder Exil“ stellt. Es darf nicht sein, dass die Men-schen nur deswegen ihre Freiheit zurückerhalten, weilsie danach nicht mehr in ihrem Heimatland am Erstar-ken der kritischen Stimmen in der Zivilgesellschaft teil-nehmen können.Ich erwarte, dass das kubanische Regime endlich Re-formen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechteeinleitet, die der kubanischen Bevölkerung zugutekom-men, und aufhört, die Menschenrechte zu verletzen.Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von derLinksfraktion, sollten endlich aufwachen und der Reali-tät ins Auge sehen, statt auf dem linken Auge blind zusein. Ihre Gesamtposition gegenüber Kuba ist unausge-wogen und einseitig. Denn wir müssen unseren Blickauch werfen auf die desolate Lage der Menschenrechte,den Druck auf Dissidenten, die rechtswidrige Inhaftie-rung der politisch Andersdenkenden, deren inhumaneBehandlung in den Gefängnissen und die Übergriffe aufderen Familienangehörige. Die FDP wird nicht zulas-sen, dass man dies außer Augen lässt. Uns geht es da-rum, Kuba auf dem Weg in eine freie, demokratische Zu-
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6952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenMarina Schuster
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kunft zu unterstützen, um das Leid der kubanischenBevölkerung endlich zu beenden.
Die geografische Nähe Kubas zu den USA hat für denInselstaat bislang wenig Gutes bedeutet. Doch auch diegeografische Ferne der EU und der BundesrepublikDeutschland hat nicht gerade zu einer rationaleren Be-ziehung geführt. Dafür wäre es notwendig, dass dieSanktionen der EU nicht nur ausgesetzt, sondern end-gültig aufgehoben werden. Der Gemeinsame Standpunktder EU zu Kuba, der nach wie vor gültige Grundlage derPolitik der EU gegenüber Kuba ist, muss endlich aufge-geben und durch einen neuen Ansatz ersetzt werden. DieZeichen stehen gut. Denn die spanische Regierung drängtnach der Freilassung von 53 Inhaftierten auf Kuba vehe-menter auf eine Abschaffung des Gemeinsamen Stand-punktes. Seit 1996 verknüpft der Gemeinsame Stand-punkt die Bereitschaft der EU zur politischen undwirtschaftlichen Kooperation mit Kuba ausdrücklich mitdem Ziel eines Systemwechsels. Die, die an diesem Ge-meinsamen Standpunkt festhalten, wollen, dass Kubaseine Suche nach einem eigenständigen Entwicklungs-weg, nach einer Alternative zum profitorientiertenGesellschaftsmodell aufgibt. Für die Linke ist die ag-gressive politische Intervention, die im GemeinsamenStandpunkt zum Ausdruck kommt, keine akzeptableGrundlage für eine Zusammenarbeit.Bisher konnte Kuba seine Souveränität gegen vielfäl-tige Widerstände verteidigen. Und das ist gut so. Aufge-ben würde Kuba mit einem Systemwechsel seine für diemeisten Länder der sogenannten Dritten Welt beispiel-haften Errungenschaften auf dem Gebiet des Bildungs-,Sozial- und Gesundheitswesens. Diese Errungenschaf-ten hat es trotz US-Embargo und gravierender wirt-schaftlicher Schwierigkeiten bis heute aufrechterhalten.An den Errungenschaften des kubanischen Bildungs-und Gesundheitswesens hat nicht nur die kubanischeBevölkerung teil. So wurde durch das seit Dezember1998 andauernde Engagement medizinischer Fach-kräfte aus Kuba in vielen haitianischen Gemeinden erst-mals ein Zugang zu medizinischer Versorgung ermög-licht.Diese Hilfe kam der Bevölkerung Haitis zuletzt beider Erdbebenkatastrophe zugute. Diese einmalige,schnelle und unbürokratische Solidarität ist es, die Ku-bas Ansehen insbesondere in den Ländern des Trikontausmacht und die darüber hinaus gute Anknüpfungs-punkte für die Kooperation mit Kuba bietet – im Sinneeiner trilateralen Kooperation, von der ärmere Dritt-staaten wie Haiti profitieren könnten. Leider wurde derAppell des damaligen kubanischen Präsidenten FidelCastro von 1998 an die Industriestaaten, das kubanischeEngagement in Haiti mit eigenen Beiträgen wie der Be-reitstellung von Medizintechnik, Material und Medika-menten zu unterstützen, seinerzeit nicht aufgegriffen.Die Linke begrüßt aber sehr, dass Ende Januar 2010 dienorwegische Regierung ein Abkommen mit Kuba unter-zeichnete, demzufolge Norwegen die Arbeit der kubani-schen Ärztinnen und Ärzte in Haiti mit knapp900 000 US-Dollar unterstützt. Und wir begrüßen, dassZu Protokollmittlerweile die Diskussion um eine solche trilateraleKooperation auch in der EU-Kommission angekommenist. Millionen Menschen könnten davon profitieren,wenn ich zum Beispiel an die äußerst effektiven kubani-schen Alphabetisierungsprogramme und die Augenbe-handlungen durch kubanische Ärzte in vielen LändernLateinamerikas denke.Doch statt dem Beispiel Norwegens zu folgen, ver-sucht die Bundesregierung, Kuba in altbekannter Artund Weise zu diskreditieren. Und sie versucht, die sich invielen EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer Aufhebungdes Gemeinsamen Standpunktes ändernde Haltung ge-genüber Kuba zu blockieren.Vorgeschobener Grund für diese negative Haltunggegen Kuba ist die heuchlerische und selektive Behand-lung der Menschenrechte. Das haben wir erst kürzlichwieder erlebt, als die Bundesregierung ihr neues Latein-amerika-Konzept vorgestellt hat. Als einziges Land mitproblematischer Menschenrechtslage wird dort Kubaexplizit genannt. Honduras, wo vor anderthalb Jahrenein Militärputsch stattgefunden hat, wo seither Hun-derte Menschen ermordet, Tausende willkürlich verhaf-tet und teilweise schwerer Gewalt ausgesetzt wordenwaren; Kolumbien, wo weltweit die meisten Gewerk-schafter ermordet und Menschenrechtsverteidiger jedenTag bedroht werden, wo extralegale Hinrichtungen ander Tagesordnung sind und nicht geahndet werden; oderMexiko, wo die tödliche Gewalt zum Alltag für Millionengeworden ist – diese Länder werden nicht kritisch er-wähnt. Im Gegenteil: Sie sind Partner der deutschen La-teinamerika-Politik gegen den sozialen Aufbruch, dersich derzeit in Lateinamerika vollzieht. So war es nachder FDP-Unterstützung für den Putsch in Honduras be-sonders bemerkenswert, dass sich die Bundesregierungim Gegensatz zu Spanien, Frankreich und anderen Staa-ten zu dem letzte Woche in Ecuador stattgefundenenPutschversuch gegen den demokratisch gewählten Prä-sidenten Rafael Correa erst nach dem Scheitern des Put-sches erklärte. Diese Erklärung beinhaltete aber nochnicht einmal eine eindeutige Verurteilung des Putsch-versuchs.Wer Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie inAfghanistan und im Südsudan meint, wer politischeRechte für Bürgerinnen und Bürger in anderen Staateneinfordert und Menschen in Länder abschiebt, in denenihnen Folter droht, wer zur Flüchtlingsabwehr mit Regi-men wie in Libyen kooperiert, wer Meinungsfreiheit an-derswo einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt odervorbereitet, der verwandelt den Kampf um Menschen-rechte in ein Instrument von Sozialraub, Krieg und im-perialer Politik. Menschenrechte sind nur dann vonDauer, wenn sie auf einer Wirtschafts- und Sozialord-nung beruhen, die die strukturellen Ursachen der an-dauernden Menschenrechtsverletzungen beseitigen.Wie Venezuela ist auch Kuba ein wichtiger Motor dessozialen Wandels und der lateinamerikanischen Integra-tion und leistet dabei einen wichtigen Beitrag zurDurchsetzung sozialer, wirtschaftlicher und kulturellerMenschenrechte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6953
gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim DağdelenDie Linke fordert die Bundesregierung auf, sich in-nerhalb der Europäischen Union dafür einzusetzen, end-lich den Gemeinsamen Standpunkt zu Kuba aufzuhebenund diesen durch einen bilateralen Ansatz zu ersetzen.Es sollen Verhandlungen mit Kuba über ein Koopera-tionsabkommen eingeleitet werden, die gleichberechtigt,ohne Vorbedingungen und mit vollständigem Respekt fürdie Souveränität der beteiligten Partner und das Nicht-einmischungsgebot der VN-Charta geführt werden.Auch sollte die Bundesregierung mit der kubanischenRegierung ohne Vorbedingungen Gespräche über Ent-wicklungszusammenarbeit aufnehmen und dabei auchdie Möglichkeit trilateraler Zusammenarbeit zugunstenDritter erörtern.Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung gegen-über der Regierung der USA dafür einsetzt, dass dieseeine ähnliche humanitäre Geste zeigt, wie dies Kuba mitder Freilassung der 53 Inhaftierten getan hat, damit dieseit 1998 in den USA inhaftierten und als „Miami Five“bekannt gewordenen kubanischen Gefangenen AntonioGuerrero Rodríguez, Fernando González Llort, GerardoHernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar und RenéGonzález Sehwerert freigelassen werden. Bis zu demZeitpunkt ihrer Freilassung muss die Bundesregierunghumanitäres Handeln der US-Regierung einfordern.Dazu zählt, dass die Ehefrauen der kubanischen Inhaf-tierten Besuchsrecht erhalten.
Mein ganzes politisches Leben lang stand ich auf derSeite Kubas, wenn es darum ging, Versuche des mächti-gen Nachbarn USA abzuwehren, Kuba mit militärischerGewalt, Mord und Totschlag oder Wirtschaftsboykott indie Knie zu zwingen. Das sehe ich auch heute nicht an-ders, zumal das Embargo der USA und die BedrohungKubas ja andauern. Aber Solidarität mit Kuba heißtdoch nicht, Menschenrechtsverletzungen und Misswirt-schaft zu übersehen und totzuschweigen. Vielmehr ge-hört es dazu, solche Missstände zu kritisieren und sichfür die einzusetzen, die wegen ihrer Kritik in Gefäng-nisse gesteckt wurden und werden. Dies gilt unabhängigdavon, dass Kuba seit Jahrzehnten unter der massivenBedrohung von außen, unter Boykott und Blockade lei-det.Aus Kuba hören wir jetzt Bemerkenswertes. FidelCastro verurteilt die frühere Verfolgung von Homosexu-ellen im Land und kritisiert das alte verkrustete Wirt-schaftssystem scharf, das nicht mehr in der Lage sei, denLebensstandard der Bevölkerung zu sichern. Aber dieVerletzungen von Menschenrechten sind nicht nur dannMenschenrechtsverletzungen, und Missstände der Wirt-schaft nicht erst dann zu kritisieren, wenn der ehemaligePräsident Kubas dies öffentlich eingesteht.Damit gibt er den Kritikern im eigenen Land, die fürsolche Äußerungen verfolgt wurden und im Gefängnisleiden, ebenso wie internationalen Menschenrechtsor-ganisationen und auch der Europäischen Union recht.Mit dem vorliegenden Antrag soll erreicht werden,dass der „gemeinsame Standpunkt“ der EU zu Kuba vonZu Protokoll1996 aufgehoben wird. Der Antrag geht von unzutreffen-den Voraussetzungen aus. Ziel dieses Standpunktes warexplizit, „einen Prozess des Übergangs in eine pluralis-tische Demokratie und die Achtung der Menschenrechteund Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige Erholungund Verbesserung des Lebensstandards der kubanischenBevölkerung“ zu erreichen. Es ging also um die Intensi-vierung eines Dialoges vor allem zur Förderung derAchtung der Menschenrechte, insbesondere des Rechtsauf freie Meinungsäußerung. Von einem „Systemwech-sel“ ist keine Rede. Zwangsmaßnahmen wurden aus-drücklich ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung derEntwicklung in Kuba und der massiven Kritik interna-tionaler Organisationen wie Amnesty International anden skandalösen Menschenrechtsverletzungen dort wieder Inhaftierung von Dutzenden sogenannter Dissiden-ten und gar der Hinrichtung von drei Flüchtlingen imJahr 2003 ist diese Forderung nach wie vor aktuell.Auch nach der Freilassung von 52 Inhaftierten befindensich noch zahlreiche „Dissidenten“ im Gefängnis, dieMeinungsfreiheit ist nicht gewahrt und freie politischeBetätigung ist nicht möglich.Die Kritik und die Forderung nach der Achtung derMenschenrechte verstoßen auch nicht gegen ein Gebotder Nichteinmischung. Die Vereinten Nationen haben inResolutionen immer wieder festgestellt, dass es eine Ver-antwortung aller Staaten für die Wahrung der Men-schenrechte auch in anderen Staaten gibt und die Souve-ränität eines Staates und das Nichteinmischungsgebotdem keineswegs entgegenstehen. Das Argument kanndie Antrag stellende Fraktion auch nicht ernsthaft vor-bringen. Damit widerspricht sie eigenen Anträgen etwazur Menschenrechtssituation in Kolumbien oder imGaza-Streifen. In diesen hat sie selbst die EinmischungDeutschlands und der internationalen Gemeinschaft indie Belange anderer Staaten zur Wiederherstellung undWahrung von Menschenrechten befürwortet und gefor-dert.Die Forderung nach der Achtung der Menschen-rechte und der politischen Freiheitsrechte bleibt vonzentraler Bedeutung. Die Verletzung dieser Rechte kannauch nicht durch eine Bedrohungslage gerechtfertigtwerden. Zusammenarbeit und kritischer Dialog – auchbilateral – sind jetzt die richtige Option, wie es auch derEntwicklungsausschuss des EU-Parlaments geforderthatte. Dabei sind die Entwicklungen in der Region unddie bilateralen Kooperationserfahrungen Frankreichsund Spaniens von Bedeutung. Ein Einwirken der EU aufdie USA für ein Ende der Embargo-Politik wäre einewichtige Unterstützung. Der EU-Rat hat sich bei Ver-besserungen im Menschenrechtsbereich auch zum Dia-log bereit erklärt. Die Entlassung und Ausreise einesgroßen Teiles der Inhaftierten ist ein erster wichtigerSchritt zur Wahrung der Menschenrechte.Eine Politik der Entspannung kann eher zu einerDemokratisierung der Verbesserung der Menschen-rechtslage beitragen, als Kuba zu isolieren. Das warenauch die deutschen Erfahrungen vor der Wende. Vor-dringlichste Aufgabe der EU und bilateral muss sein,auf allen Ebenen vorbehaltlos alle Möglichkeiten undGespräche mit Regierungsstellen und Sektoren der Ge-
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6954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6955
Hans-Christian Ströbele
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sellschaft für Bemühungen zur sofortigen Freilassungder übrigen Dissidenten zu nutzen.Zur Unteilbarkeit der Forderung nach der Achtungder Menschenrechte gehört auch der Einsatz für dieFreilassung der sogenannten Miami Five aus US-Ge-fängnissen. Rechtsstaatliche Haftbedingungen, wozuauch die Besuchsmöglichkeiten für die Ehefrauen gehö-ren, sind unerlässlich. Richtig ist deshalb die Aufforde-rung des Parlaments an die Bundesregierung, sich beider EU einzusetzen auch dafür, dass diese auch mit die-sem Ziel tätig wird.Wir verkennen nicht, dass auch in anderen StaatenLateinamerikas schlimmste Menschenrechtsverletzun-gen begangen wurden und werden, häufig mit viel mehrOpfern und Leiden der Bevölkerung, etwa in Kolumbienoder Mexiko. Wir haben deshalb auch Anträge im Bun-destag eingebracht, die die Bundesregierung auffor-dern, sich etwa in Kolumbien und Venezuela für die Ein-haltung dieser Rechte einzusetzen. Aber gerade weilKuba das Land in Lateinamerika ist, an das ich selbstlange Zeit hohe Erwartungen und Hoffnungen gesetzthatte und partiell noch setze und auf das noch heuteviele Völker Lateinamerikas hoffnungsvoll schauen, istes so wichtig, nicht nachzulassen und die Einhaltung derMenschenrechte und der politischen Rechte gerade dortimmer wieder einzufordern.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3188 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Einwände sind
nicht erkennbar. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth , Volker Beck (Köln), Agnes
Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stiftungszweck der Stiftung Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung erfüllen
– Drucksache 17/3064 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas
Strobl, Klaus Brähmig, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Lars
Lindemann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Claudia Roth
ihre Reden zu Protokoll.
Zum dritten Mal ergreife ich in dieser Legislatur-
periode das Wort, um auf die Stiftung „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ einzugehen. Dies ist nötig, weil
Gegner der Stiftung nach wie vor den Stiftungszweck be-
zweifeln, ohne dies wirklich begründen zu können. Ins-
besondere die Grünen, von denen der Antrag stammt,
über den wir heute diskutieren, suchen mit notorischer
Penetranz angebliche Haare in der Suppe des Projekts
Aufarbeitung der Vertriebenengeschichte.
Dabei geht es ihnen weder um die Sache noch ernst-
lich um Inhalte oder Personen. Sie wollen lediglich tak-
tisch motivierte Spielchen spielen, um Sand ins Getriebe
einer Sache zu streuen, die ihnen ideologisch verhasst
ist.
Davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen. Wir
unternehmen alles, um der Stiftung nun ein rasches Be-
ginnen ihrer Arbeit zu ermöglichen, damit der Zweck des
Ganzen erfüllt wird: Versöhnung unter den Völkern dau-
erhaft herzustellen.
In der Hoffnung, dies zu erreichen und alle Be-
denkenträger endgültig von der Sinnhaftigkeit des ver-
dienstvollen Unterfangens zu überzeugen, möchte ich
noch einmal den Sachverhalt beschreiben, der zur Stif-
tungsgründung führte.
In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deut-
sches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezem-
ber 2006 wurde die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen
Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist
die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations-
und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der national-
sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wachzuhalten.
Die bisherige Stiftungsarbeit hatte indes gezeigt, dass
die Komplexität der Aufgabenstellung und des Mei-
nungsspektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates
und eine Modifizierung des Berufungsverfahrens für den
Stiftungsrat angezeigt erscheinen ließen.
Die zentrale Neuerung der im Mai verabschiedeten
Novelle ist, die Berufung der Mitglieder in den Stiftungs-
rat fortan dem Bundestag zu übertragen, also der Legis-
lativen, statt sie wie bisher der Exekutiven anheimzustel-
len. Dies verbreitert die Entscheidungsbasis erheblich
und objektiviert den Berufungsprozess.
Auch die Einbeziehung verschiedener Gruppen wie
etwa der Kirchen und des Zentralrats der Juden bürgt
für Offenheit und Pluralität der gesamten Stiftungs-
arbeit.
Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja gewollte
Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlossen. Und
genau das ist die Absicht der von uns erarbeiteten Neu-
zusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung.“
Noch einmal: Keine qualitativ-inhaltlichen Änderun-
gen zur ersten Fassung des Gesetzes von 2008 waren be-
absichtigt. Bei der im Mittelpunkt der Novelle stehenden
unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ ist es um rein organisatorische, also formale
Änderungen gegangen. Beispielsweise hat sich der Stif-
tungsrat von 13 auf 21 Mitglieder erhöht, und auch dem
wissenschaftlichen Beraterkreis gehören nun mehr Per-
sonen an, nämlich bis zu 15, statt bis zu 9 wie bisher. Da-
durch ist die gewünschte Verbreiterung des wissen-
Thomas Strobl
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schaftlichen Spektrums erreicht worden, insbesondere
auch mit Blick auf eine internationale Besetzung.
Für die Aufnahme weiterer Gruppen, wie nun von den
Grünen gefordert, besteht kein Anlass.
Der oberste Stiftungszweck Versöhnung wird nach
meiner festen Überzeugung bei den gegebenen Verhält-
nissen in bestmöglicher Form erreicht. Wir sollten die
Stiftung deshalb nun ihre Arbeit tun, ihr Versöhnungs-
werk vollbringen lassen, ohne ständig stets von neuem
Details der Ausgestaltung zu hinterfragen. Das wäre
nicht zielführend und dem hehren Zweck der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in keiner Weise an-
gemessen.
Das 20. Jahrhundert könnte zukünftig als das „Jahr-hundert der Vertreibungen“ in die Geschichtsbüchereingehen. An seinem Beginn stand der Genozid an denArmeniern durch die Türken 1915, an seinem Ende stan-den „ethnische Säuberungen“ im zerfallenden Jugosla-wien Anfang der 90er-Jahre: insgesamt mussten 50 bis70 Millionen Menschen fliehen, ihre Heimat für immerverlassen, wurden vertrieben oder deportiert. Die Ver-treibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrie-ges stellt dabei die größte Zwangsmigration der Ge-schichte dar. Zwischen 1945 und 1949 sind über14 Millionen Deutsche aus Ost-, Mittel- und Südost-europa geflohen oder vertrieben worden, bis zu zweiMillionen Menschen kamen dabei ums Leben.„Es ist eines der erstaunlichen Phänomene der vielenJahre, die seither vergangen sind“, resümierte derSchriftsteller Arno Surminski in einem Aufsatz 2004 tref-fend, „dass ein so gewaltiger Stoff, ein Drama von bibli-schen Ausmaßen, das nahezu jede Familie in Mittel- undOsteuropa direkt oder indirekt berührt hat, nur amRande behandelt wurde“. Daher hat der Deutsche Bun-destag mit dem Beschluss 2008, die „Stiftung Flucht,Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin zu errichten, einenhistorischen Meilenstein für die Bewältigung unserernationalen Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrie-ges gesetzt. Ich betone noch einmal: Diese mit breiterMehrheit getroffene Entscheidung war ein historischerMeilenstein!Es liegt in der Natur der Sache, dass über die Formdes angemessenen Erinnerns an die Vertreibungen eineöffentliche Debatte absehbar war. Jeder konstruktiveBeitrag ist dabei willkommen und jeder vernünftige Dis-kutant kann zum Versöhnungsgedanken beitragen, in-dem er sich tatsächlich an der historischen statt an einerideologischen Wahrheit orientiert.Aber was soll man davon halten, wenn, wie jüngst ge-schehen, die innenpolitische Sprecherin der Linksfrak-tion im Bundestag, Ulla Jelpke, der Präsidentin desBundes der Vertriebenen unterstellt, sie hätte die deut-sche Schuld am Zweiten Weltkrieg relativiert? ErikaSteinbach hat dies nachweislich nie getan! Noch in ihrerdiesjährigen Rede zum Tag der Heimat erklärte sie aus-drücklich: „Jeder im Land weiß, wer den Zweiten Welt-krieg begonnen hat. Jeder im Land kennt die BarbareienZu Protokolldes nationalsozialistischen Deutschland und das gren-zenlose Leid, das dadurch über Europa gekommen ist.Mein tiefes Mitgefühl gilt diesen Opfern.“ Die BdV-Prä-sidentin hat außerdem beim Jubiläum 60 Jahre Chartader Heimatvertriebenen betont, dass vom Nationalsozia-lismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut nie-mals Eingang in ihre Verbandspolitik gefunden habe.Trotzdem versucht die Linke, mit unsäglichen Nazi-Ver-gleichen Erika Steinbach in die rechte Ecke zu stellen.Wieder wird völlig vergessen, dass Frau Steinbach eswar, die den Bund der Vertriebenen in die Mitte der Ge-sellschaft gebracht und in der Eigentumsfrage eine Null-lösung propagiert hat. Ich weise deshalb nochmals sol-che Diffamierungen auf das Schärfste zurück!Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen zielt nun in dieselbe Richtung wie ein Ände-rungsantrag der Linken im Kulturausschuss des Bundes-tages: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“soll keinen „Neustart“ hinlegen – die Bundesvertriebe-nenstiftung soll am besten für immer gestoppt werden!Laut den Grünen habe etwa die „nicht abreißende Kettevon Provokationen und Verwerfungen um die Stiftung“dazu geführt, dass alle ausländischen Vertreter den wis-senschaftlichen Beirat verlassen hätten. Erstens wirdhier einfach unter den Teppich gekehrt, dass es die Op-position ist, welche kräftig die Debatte anheizt mit derAbsicht, das ganze Projekt zu torpedieren. Ich will andieser Stelle daran erinnern, dass im Dezember 2009 dieGegner der Vertriebenenstiftung selbst vor drastischenFälschungen nicht zurückschreckten: So wurden einegefälschte Internetseite der Bundeseinrichtung ins Netzgestellt und Pressemitteilungen unter falschem Namenversandt. Zweitens ist die Aussage über die ausländi-schen Experten schlicht unwahr. Denn der ungarischeWissenschaftler Dr. Kristián Ungvary sitzt nach wie vorim Beirat.Zudem wird in dem Antrag Positives über die Stiftungvöllig ausgeblendet. So taucht an keiner Stelle der Hin-weis auf das dreitägige internationale Symposium auf,welches der Direktor Professor Kittel mitorganisierthatte und an dem auch Wissenschaftler aus Polen oderTschechien teilgenommen haben. Dort stellte er die Eck-punkte der Konzeption für die Dauerausstellung vor,welche eine erfreuliche Resonanz fanden. Selbst die„Frankfurter Rundschau“ räumte ein, dass ProfessorKittel sich „streng an dem noch von der schwarz-rotenKoalition auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf fürdie Stiftung“ orientierte.Die Kritik der Opposition, hier gehe ferner es um„Erpressung“ durch den BdV oder Geschichte solle um-geschrieben werden, ist vollkommen ungerechtfertigt.Denn die Novellierung berührt weder die Mehrheitsver-hältnisse – der BdV kann mit lediglich sechs von21 Stimmen nicht dominant sein – noch den Stiftungs-zweck.Die christlich-liberale Koalition hat mit der Novellie-rung des Stiftungsgesetztes die nationale Bedeutung die-ser Erinnerungseinrichtung und ihre staatliche Aufgabe,das millionenfache Schicksal der deutschen Heimatver-
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6956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenKlaus Brähmig
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triebenen zu dokumentieren, unterstrichen und wird sichdurch solche Ablenkungsmanöver nicht beirren lassen.
Über die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
haben wir hier schon so oft gesprochen, dass mittler-
weile alle Argumente ausgetauscht sind. Wir teilen die
Kritik der Grünen an den vom BdV benannten stellver-
tretenden Stiftungsratsmitgliedern Arnold Tölg und
Hartmut Saenger. Das haben wir in der Bundestagssit-
zung am 8. Juli, in der die Liste der Stiftungsratsmitglie-
der beschlossen wurde, kritisiert. Genauso hat die SPD
die Erweiterung des Stiftungsrates und das Wahlverfah-
ren scharf kritisiert. Wir haben aber auch immer wieder
deutlich gemacht, dass wir grundsätzlich hinter dem
Projekt Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ste-
hen. Deshalb sind wir gegen ein Moratorium, wie es die
Grünen fordern. Deshalb sind wir auch gegen die voll-
ständige Streichung der Mittel für die Stiftung.
Nichtsdestotrotz halten auch wir die 2,5 Millionen
Euro, die im Haushalt für die Stiftung eingestellt sind,
für viel zu hoch. Bisher ist nicht ersichtlich, wofür die
Stiftung die Mittel verwendet, denn bisher liegt noch im-
mer kein Konzept für die Ausstellung vor. Wenn die Stif-
tung schon jetzt 2,5 Millionen Euro erhält, wie viel soll
sie bekommen, wenn sie erst mal richtig anfängt zu ar-
beiten?
Auch wir haben unsere Unterstützung für die Stiftung
davon abhängig gemacht, dass sie den im Stiftungsge-
setz festgeschriebenen Zweck erfüllt – nämlich „im
Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Geden-
ken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im
historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der
nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungs-
politik und ihren Folgen wachzuhalten“.
Die bisherigen Querelen haben diesem Zweck extrem
geschadet. Mit dem Beharren auf Erika Steinbach und
der Benennung der beiden Stellvertreter hat der BdV der
Legitimität der Stiftung massiv geschadet und damit
auch die Arbeit vieler Vereine des BdV, die aktive Ver-
söhnungsarbeit leisten, in Misskredit gebracht. Der BdV
muss endlich begreifen, dass die Stiftung „Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung“ nicht das „Zentrum gegen Ver-
treibung“ ist. Die Stiftung ist ein Projekt des Bundes.
Mit dem Beschluss im Jahr 2008 hat der Bundestag die
Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu seiner Sache
und damit zur Angelegenheit der gesamten Gesellschaft
gemacht.
Wenn der BdV nicht möchte, dass die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ scheitert, muss er
die beiden kritisierten Stellvertreter zurückziehen. Das
ist Voraussetzung dafür, dass der Zentralrat der Juden
wieder für eine Mitarbeit gewonnen werden kann. Hier
ist die Regierungskoalition in der Verantwortung!
Das Ärgerliche an der Debatte um die Stiftung ist,
dass die Diskussion über die Themen Flucht und Vertrei-
bung bereits viel weiter ist. Es gibt gemeinsame Histori-
kerkommissionen mit Polen, Tschechen, Slowaken, die
seit vielen Jahren gemeinsam an den Themen Flucht und
Zu Protokoll
Vertreibung arbeiten. Kürzlich wurde ein Ausstellungs-
konzept vorgestellt, das in Zusammenarbeit mit Histori-
kern aus Polen, Tschechien und der Slowakei erarbeitet
wurde. Es gibt viele Vereine und Initiativen, die Versöh-
nung leben.
Das letzte, was die Stiftung jetzt braucht, ist ein Mo-
ratorium – das wäre ihr Ende. Die Stiftung muss endlich
anfangen, richtig zu arbeiten, und sollte sich dabei nicht
von fatalen Äußerungen von Mitgliedern des BdV behin-
dern lassen.
Für die Stiftungsratssitzung am 25. Oktober ist end-
lich die Vorlage des Ausstellungskonzepts angekündigt.
Es ist wichtig, dass das Konzept im wissenschaftlichen
Beirat und in der Öffentlichkeit und der Fachwelt disku-
tiert wird, bevor der Stiftungsrat dem zustimmt. Für den
wissenschaftlichen Beirat müssen renommierte Wissen-
schaftler gewonnen werden – nur so kann die Stiftung
Vertrauen und Legitimität gewinnen. Seit Beginn der
Debatte um die Stiftung fordern wir, dass es eine inter-
nationale Tagung gibt, bei der zusammen mit Wissen-
schaftlern aus verschiedenen Ländern diskutiert wird,
was in der Ausstellung gezeigt werden soll. Diese Ta-
gung muss nach Vorlage des Konzepts endlich stattfin-
den. Damit ließe sich verlorenes Vertrauen wieder auf-
bauen – aber nur, wenn auch die Bereitschaft da ist,
Anregungen in das Ausstellungskonzept aufzunehmen.
Das Konzept der Regierung, auf das sich der Stiftungs-
direktor Manfred Kittel immer beruft, bildet nur den
Rahmen, innerhalb dessen das eigentliche Ausstellungs-
konzept erarbeitet und dann im wissenschaftlichen Be-
ratungsgremium diskutiert werden soll. Gerade die wis-
senschaftliche Expertise ist Voraussetzung dafür, dass
die Ausstellung der Stiftung Akzeptanz auch bei unseren
Nachbarn finden wird.
Der Antrag der Grünen wird in den Fachausschüssen
weiter diskutiert. Ich sage schon jetzt: ein Moratorium
ist der falsche Weg. Die Stiftung muss endlich in die in-
haltliche Offensive kommen und Offenheit für die inhalt-
liche Diskussion beweisen.
Der Antrag 17/3064 der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen beginnt mit der Forderung, zwei stellvertretendeMitglieder des Stiftungsrates auszuschließen. Diese bei-den stellvertretenden Mitglieder – Hartmut Sänger undArnold Tölg – haben sachlich betrachtet die Arbeit desStiftungsrates vollumfassend gesehen und nicht nur ein-seitig beleuchtet. Die Aufgabe und das Ziel der Arbeitdes Stiftungsrates bestehen darin, dass ein sichtbaresZeichen im Geiste der Versöhnung gesetzt wird, für allenoch immer Betroffenen.Beide betonen, dass die Nazis schlimme Verbrechenan anderen Völkern begangen haben, aber auch nichtvergessen werden darf, dass als Folge dieser VerbrechenDeutsche ebenfalls vertrieben, zwangsumgesiedelt undan ihnen Verbrechen verübt wurden. Es wird damitnichts verharmlost oder gar herabgesetzt. Der Hinweisder beiden darauf, dass auch Deutsche von Vertreibung,Zwangsumsiedlung und Verbrechen am Ende des Zwei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6957
gegebene RedenLars Lindemann
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ten Weltkrieges betroffen waren, lässt einen Ausschlussaus dem Stiftungsrat nach meiner Auffassung nicht zu.Sinnvoll und angebracht wäre es derzeit, wenn end-lich alle Stiftungsratsmitglieder und auch die Stellver-treter mit der eigentlichen Arbeit beginnen könnten.Sollte sich dann im Verlauf der eigentlichen Tätigkeitherausstellen, dass der eine oder andere – aus welchenGründen auch immer – für die Arbeit im Stiftungsrat un-tragbar ist, kann über ein mögliches Ausschlussverfah-ren zu jedem Zeitpunkt gesprochen werden. Vorerst je-doch stellt sich weder die Notwendigkeit noch dieDringlichkeit, Mitglieder und stellvertretende Mitglie-der auszuschließen. Vielmehr sollen hier durch den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Vorhineineinzelne Beiträge für die gemeinsame Aufgabe in derStiftung ausgeschlossen werden.Ich vermisse an dieser Stelle die Sachargumente mei-ner Kollegen von der Faktion Bündnis 90/Die Grünen.Sie verhindern mit ihren Vorhaltungen den Beginn dereigentlichen Arbeit des Stiftungsrates. Ich bin darüberhinaus weiter der Auffassung, dass jetzt zunächst derStiftungsrat die Diskussion darüber zu führen hat. Diesist auch – aber nicht nur – eine Aufgabe der breiten Me-dienöffentlichkeit. Würden wir dies zulassen, könnte derStiftungsrat nie mit der eigentlichen Arbeit beginnen.Der Antrag ist daher zurückzuweisen.Weiter fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,dass der Bundestag der Stiftung ein Moratorium aufer-legt. Ihre Forderung bedeutet im Klartext, dass die Stif-tung nicht arbeiten kann. Dies ist weder im Sinne derBundesregierung noch der Stiftung noch der Mehrheithier im Bundestag. Die Stiftung hat einen klaren Auftragerhalten. Sie als Antragsteller wollen eine weithin an-haltende medienöffentliche Diskussion über Personen,aber nicht in der Sache! Nicht nur der Direktor der Stiftung, Herr ProfessorDr. Kittel, sondern auch Kommissionsmitglieder ausDeutschland, Polen, der Slowakei und Tschechien habenbereits erste Konzeptionen für die Stiftungsarbeit entwi-ckelt. Diese werden am 25. Oktober 2010 dem Stiftungs-rat vorgestellt.In dieser Konzeption, beispielsweise von ProfessorDr. Kittel, fokussieren sich inhaltliche Vorschläge zurSchaffung einer Dauerausstellung und Dokumentations-stätte, die in einem chronologischen Rundgang von derZeit des Ersten Weltkrieges bis in die Zeit nach 1989 auf-gebaut sein sollen. Fallstudien aus einzelnen Regionensollen darin eingebettet werden.So weit der aktuelle Diskussionstand, lassen sie unsdarüber sprechen.Als ebenfalls unsinnig ist darum der Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen zu werten, die Mittel für dieStiftung zu streichen. Würde diesem Antrag stattgege-ben, könnte die Stiftung ihre Arbeit nicht fortsetzen. DasZiel der Stiftung, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen,das Bewusstsein um das tiefe menschliche Leid wachzu-halten und die junge Generation an dieses Thema he-ranzuführen, wäre mit einer Streichung der Finanzie-rungsmittel nicht mehr durchführbar. Die StiftungZu Protokollmüsste ihre Arbeit aufgeben. Wir verlieren damit wert-volle Zeit.Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen empfehle ichdringend einen Blick in das Gesetz, konkret in § 19 desGesetzes zur Errichtung einer Stiftung. Der DeutscheBundestag wählt Abgeordnete, die im Stiftungsrat tätigwerden sollen, aus. Somit ist gewährleistet, dass derDeutsche Bundestag Mitglieder aus allen Fraktionenvorschlagen kann. Eine Änderung des Gesetzes ergibtdaher keinen Sinn, da die geforderte Möglichkeit bereitsbesteht.Auszug aus § 19 des Gesetzes:
Die oder der Beauftragte der Bundesregierung
für Kultur und Medien leitet die Vorschläge nachAbsatz 2 Satz 1 Nummer 2 bis 4 und Satz 2 mit ei-nem entsprechenden Antrag zur Wahl der Präsiden-tin oder dem Präsidenten des Deutschen Bundesta-ges zu. Der Deutsche Bundestag wählt auf Grundder Vorschläge nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 bis 4und Satz 2 die Mitglieder und stellvertretenden Mit-glieder.Auch wenn es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünengerne anders darstellt, es gibt die Möglichkeit, einzelnePersonen nicht zu wählen. Es mag sein, dass nur ein Ge-samtvorschlag angenommen oder abgelehnt werdenkann, dies bedeutet jedoch nicht, dass bei Ablehnung desGesamtvorschlages einzelne Mitglieder nicht wiederaufgestellt werden können.Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vollumfäng-lich zurückzuweisen ist. Wir werden dem nicht zustim-men.
Für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“muss ein Neuanfang gefunden werden. So wie bishergeht es nicht weiter. Das müsste allen Beteiligten inzwi-schen klar sein. Die Fraktion Die Linke hat bereits in ei-nem Änderungsantrag zum Einzelplan 04 gefordert, diefür die Stiftung für 2011 vorgesehenen Mittel von2,5 Millionen Euro zu streichen. Das bedeutet praktischein Moratorium. Und dieses Moratorium sollte genutztwerden, die Stiftung in einem einvernehmlichen europäi-schen Rahmen und im Geiste der Versöhnung neu zupositionieren.Um diese Neupositionierung zu ermöglichen, fordertdie Fraktion Die Linke:Eine Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medienmit internationalen Wissenschaftlern, insbesondere ausden Nachbarländern Polen, Tschechien und der Slowa-kei. Außerdem sollte die Historikergruppe um ProfessorSchulze-Wessel eingeladen werden, die in Zusammenar-beit mit der „Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slo-wakischen Historikerkommission“ sowie der „Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission“ bereits ein Ausstel-lungskonzept zum Thema „Flucht, Vertreibung, Versöh-nung“ vorgestellt hat.
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6958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6959
Dr. Lukrezia Jochimsen
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Auch sollte im Rahmen der Anhörung geprüft werden,ob nicht doch ein anderer Standort für die Stiftung ge-funden werden kann, zum Beispiel Görlitz/Zgorzelecoder Wroclaw.Den in der Gesetzesnovelle vom 14. Juni 2010 festge-legten Berufungsmechanismus für den Stiftungsrat imBlockwahlverfahren aufzuheben. Die rein quantitativeVergrößerung des Gremiums sollte durch eine qualita-tive Besetzung ersetzt werden. Neben Vertretern derchristlichen Kirchen sowie des Zentralrates der Juden inDeutschland sollte eine Vertretung der Sinti und Romasowie der muslimischen Mitbürger gewährleistet sein.Wenn es um Vertreibungen im 20. Jahrhundert geht, kön-nen besonders diese beiden Bevölkerungsgruppen Wich-tiges für die Stiftungsarbeit beitragen. Außerdem findenauch wir, wie im Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen verlangt, dass alle Fraktionen des Bundestagesim Stiftungsrat vertreten sein sollten.Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenstimmen wir zu.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Der Streit um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-söhnung“ beschäftigt seit vielen Monaten den Bundes-tag und die breite Öffentlichkeit. Im Abstand von weni-gen Wochen brechen immer wieder neue Konflikte auf,die die Arbeit der Stiftung und den Stiftungszweck derVersöhnung mit unseren Nachbarländern infrage stel-len. Inzwischen sind zwei Vertreter des Bundes der Ver-triebenen in den Stiftungsrat gewählt worden, die offenrevanchistische Positionen vertreten. Wir haben die Re-gierungskoalition vor der Wahl von Arnold Tölg undHartmut Saenger eindringlich gewarnt und auf die Fol-gen hingewiesen, die das für die Stiftung und für dasAnsehen unseres Landes haben würde. Die Regierungs-koalition hat unsere Warnungen nicht ernst genommen.Sie ist voll verantwortlich für die inakzeptable Zusam-mensetzung des Stiftungsrats.Wenn Arnold Tölg, Landesvorsitzender des Bundesder Vertriebenen in Baden-Württemberg, in einem Inter-view der rechtsextremen „Jungen Freiheit“ gegen dieZwangsarbeiterentschädigung wettert und die Schulddes NS-Regimes gegenüber Zwangsarbeitern mit demVerweis relativiert, dass andere Länder auch „Dreck amStecken haben“, dann dient das nicht der Versöhnung,sondern der Verhöhnung von NS-Zwangsarbeitern undLändern, die Opfer der NS-Aggression geworden sind.Und wenn Hartmut Saenger, der Sprecher der Pommer-schen Landsmannschaft, in einem Zeitungsbeitrag dieSchuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Welt-krieges relativiert – Äußerungen, die Vertriebenenpräsi-dentin Erika Steinbach mit den Worten unterstützt: „Ichkann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits imMärz 1939 mobil gemacht hat“ –, dann ist endgültig dieGrenze überschritten, an der der Bundestag die Not-bremse ziehen muß.Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man die Dingenicht einfach weiter treiben lassen darf. Der Zentralratder Juden in Deutschland und das Dokumentations- undKulturzentrum Deutscher Sinti und Roma haben dassehr deutlich gemacht, als sie ihre Mitarbeit im Stif-tungsrat einstellten. Der Bundestag muss dringend han-deln, zumal die Bundesregierung und Kanzlerin Merkelin dieser Frage offenkundig handlungsunfähig sind.Sonst hätten sie das schändliche Schauspiel um die Stif-tung schon längst gestoppt.Wir brauchen jetzt ein Moratorium, während dem dieArbeit der Stiftung ruht und die Haushaltsmittel, die fürsie vorgesehen sind, gestrichen werden. In dieser Zeitmuß der Bundestag klären, ob und in welcher Form dieArbeit der Stiftung noch einen Sinn macht. Denn von derursprünglichen Idee, hier einvernehmlich in einem euro-päischen Netzwerk das Thema Flucht und Vertreibungim 20. Jahrhundert aufzuarbeiten, ist ja nicht mehr vielübriggeblieben.Die ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler, die ursprünglich mitgearbeitet haben, sindlängst aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftungausgetreten. Und Frau Steinbach betrachtet die Stiftunginzwischen als Privatbesitz ihres Vertriebenenbundes.Sinti und Roma oder Muslime als Opfer von Flucht undVertreibung in Europa kommen nicht vor.Wenn die Arbeit der Stiftung noch einen Sinn machensoll, dann muß der gemeinsame europäische Rahmen fürdie Arbeit geschaffen werden. Wer die Stiftung einfachso weiterlaufen lässt, der ist mitverantwortlich dafür,dass hier ein wahrer Schwelbrand in den Beziehungenzu unseren Nachbarländern entsteht.Ebenso dringlich ist die Abberufung von Tölg undSaenger aus dem Stiftungsrat. Dafür muss der Bundes-tag die rechtlichen Voraussetzungen schaffen – und da-bei auch das undemokratische Blockwahlverfahren ab-schaffen, in dem der Bundestag nur en bloc über eineListe von Stiftungsratskandidaten abstimmen kann, freinach dem Motto: „Friss, Vogel, oder stirb!“ DiesesBlockwahlverfahren hat es erleichtert, dass ungeeigneteKandidaten in den Stiftungsrat gelangen konnten.Die Zusammensetzung des Stiftungsrates ist insge-samt so zu verändern, dass alle Gruppen, die von Fluchtund Vertreibung betroffen sind, angemessen berücksich-tigt werden. Und wir brauchen eine Vertretung allerFraktionen des Bundestages im Stiftungsrat. Was in vie-len anderen Bereichen ganz problemlos geht, muss auchin einem Bereich möglich sein, in dem demokratischeMitwirkung besonders wichtig ist.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/3064 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungbeschlossen.Tagesordnungspunkt 23:Beratung des Antrags der Abgeordneten RenéRöspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD
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6960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Die Friedens- und Konfliktforschung stärken –Deutsche Stiftung Friedensforschung finan-ziell ausbauen– Drucksache 17/1051 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Auswärtiger AusschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHierzu geben die Kolleginnen und Kollegen AnetteHübinger, René Röspel, Dr. Peter Röhlinger, KathrinVogler und Krista Sager ihre Reden zu Protokoll.
Die Deutsche Stiftung Friedensforschung, DSF, mit
Sitz in Osnabrück ist als gemeinnützige Stiftung bürger-
lichen Rechts politisch und auch finanziell unabhängig.
Sie verfolgt als Einrichtung der Forschungsförderung
den Zweck, die außen- und sicherheitspolitische Bedeu-
tung der Friedensforschung insbesondere in Deutsch-
land dauerhaft zu stärken und zu ihrer politischen und
finanziellen Unabhängigkeit beizutragen.
Zehn Jahre nach ihrer Gründung können wir eine po-
sitive Bilanz ihrer Förderaktivitäten ziehen. Insgesamt
stellte die DSF in diesem Zeitraum fast 13 Millionen
Euro an Fördermitteln für die Friedens- und Konflikt-
forschung bereit. Dabei ist die DSF mit ihren Förderan-
geboten auf eine sehr positive Resonanz in der Fach-
community gestoßen. Ihre Förderstandards haben breite
Anerkennung gefunden. Diese Leistungen sind unstrittig
und dementsprechend zu würdigen.
Neben der DSF sind in Deutschland aber eine Reihe
weiterer Akteure – wie die Hessische Stiftung Friedens-
und Konfliktforschung, HSFK, oder das Institut für Frie-
densforschung und Sicherheitspolitik an der Universität
Hamburg, IFSH, in diesem Forschungsfeld tätig. Allen
Akteuren, gleich ob Fördernde oder Forschende, ist der
Umstand gemein, mit mehr oder weniger begrenzten
Mitteln auskommen zu müssen. Dies liegt in der Natur
der Sache.
Darüber hinaus gibt es weitere Förderangebote des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die un-
mittelbar die Kompetenzen der Friedens- und Konflikt-
forschung ansprechen, wie die Förderung der Regional-
studien im Rahmen der Förderinitiative „Freiraum für
die Geisteswissenschaften“ und die Förderung von For-
schung zum Klimawandel im Rahmen des Programms
„Forschung für nachhaltige Entwicklungen“.
Des Weiteren ist die Verankerung der Friedens- und
Konfliktforschung im deutschen und europäischen Si-
cherheitsforschungsprogramm ein wichtiges Anliegen
der Bundesregierung. So fördert das BMBF aktuell die
Konferenz „Internationales Symposium Religionen und
Weltfrieden. Zum Friedens- und Konfliktlösungspoten-
tial von Religionsgemeinschaften“, die vom 20. bis
23. Oktober 2010 in Osnabrück stattfindet. Dies ist eine
von vielen Maßnahmen, um die Erkenntnisse der Frie-
dens- und Konfliktforschung in die gesellschaftliche und
politische Praxis einfließen zu lassen. In diesem Kontext
sind auch die schon vorhandenen Fördermöglichkeiten
im Rahmen des nationalen und europäischen Sicher-
heitsforschungsprogramms, die Verankerung des The-
mas im 7. Forschungsrahmenprogramm – Thema 8: So-
zial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften – und das
Engagement der DFG in dieser Thematik zu sehen.
Stiftungen sind in ihrer Fördertätigkeit in erster Linie
auf ihre jährlichen Erträge aus ihrem Stiftungsvermögen
angewiesen, aus denen die aufkommenden Ausgaben be-
stritten werden. Die Lage am Finanzmarkt hat damit
nicht unwesentlichen Einfluss auf die Höhe der Erträge.
Neben der Einnahmeseite ist natürlich auch die Ausga-
benseite zu betrachten. Hier hat es, wie im Antrag rich-
tig angeführt, in den letzten Jahren gestiegene Personal-
und Sachleistungskosten gegeben. Die Kombination bei-
der Faktoren kann eine Stiftung vor Probleme stellen.
Auch dies ist unstrittig, trifft allerdings nicht nur auf die
DSF zu.
Natürlich sollten die aufgezeigten Faktoren bei einer
Stiftungsgründung berücksichtig werden und das Stif-
tungskapital in seiner Höhe angemessen ausgestaltet
sein. Ich unterstelle einmal, dass auch die damalige rot-
grüne Bundesregierung diese Weitsicht besessen hat, als
sie die Stiftung ins Leben gerufen und mit einem Startka-
pital in Höhe von damals 50 Millionen DM ausgestattet
hat.
Geht man also davon aus, dass durch das vorhandene
Stiftungsvermögen und die daraus zu erwartenden Er-
träge grundsätzlich eine ausreichende Finanzausstat-
tung vorlag, stellt sich für mich die Frage, wie temporä-
ren Schwierigkeiten – beispielsweise durch niedrigere
Erträge in Folge der Finanzmarktentwicklung – oder
dauerhaften Kostensteigerungen im Forschungsbereich
begegnet werden sollte. Eine Möglichkeit ist es natür-
lich, mehr Geld zu fordern. Dieser verständliche Reflex,
dem hier die Kollegen der SPD folgen, ist nicht meine
erste Devise. 5 Millionen Euro Finanzspritze durch den
Bund sind nun mal kein Pappenstiel.
Wer sich nach Alternativen umschaut, wird schnell in
der Satzung der DSF fündig. Dort ist nachzulesen, dass
auf Beschluss des Stiftungsrates aus dem Stiftungsver-
mögen für die Aufgaben der Stiftung jährlich bis zu
5 Millionen DM – in Euro also 2,56 Millionen – ver-
wandt werden können. Dieser Passus beinhaltet die Ein-
schränkung, dass mindestens 10 Millionen DM, dies
entspricht nach heutigem Stand 5,11 Millionen Euro, des
Stiftungsvermögens als Mindestbetrag ungeschmälert zu
erhalten sind. Für zeitlich beschränkte Schwierigkeiten
wäre dies ein Weg, den man gehen könnte.
Aktuell beläuft sich das Stiftungskapital der Stiftung
auf eine Höhe von 25,57 Millionen Euro. Es kann also
nicht davon gesprochen werden, dass eine finanzielle
Notlage vorliegt, die eine Finanzspritze des Bundes un-
abdingbar macht. Zu berücksichtigen ist auch, dass das
ursprüngliche Stiftungskapital in der Vergangenheit
schon mehrfach aufgestockt wurde.
Anette Hübinger
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Wenn im vorliegenden Antrag attestiert wird, dass die
DSF über keine zusätzlichen Mehreinnahmen verfügt,
um die Anhebung ihrer Förderhöchstbeträge zu stem-
men, ist dies zwar nicht falsch, die Konsequenz aus die-
ser Feststellung muss aber nicht zwangsweise in nur
eine Richtung laufen. So kann die Einnahmeseite zusätz-
lich durch Drittmittel gestärkt werden. Dazu ist in der
Satzung vorgesehen, dass alle Zuwendungen Dritter
dem Stiftungsvermögen zufließen. Auch hier gilt: Erst
sollte diese Möglichkeit der Mittelbeschaffung ausge-
reizt werden.
Schwerpunktsetzungen und Aufgabenkritik sind in
Bezug auf die eigenen Forschungsfördertätigkeiten wei-
tere Punkte, die dabei helfen können, mit den vorhande-
nen Mitteln auszukommen. Schwerpunktsetzungen und
die damit verbundenen Entscheidungen für oder gegen
bestimmte Projekte sowie die strategische Ausrichtung
der Stiftung betreffend sind zwar nicht immer leicht,
doch nach dem in der Satzung verankerten Grundsatz
der sparsamen Mittelverwendung geradezu geboten.
Wie aus den Gremien der DSF zu vernehmen ist, ist
eine Diskussion über die künftige Positionierung der
Stiftung als Einrichtung der Forschungsförderung ange-
laufen. Dieser Prozess ist gerade im Rückblick auf die
zurückliegende zehnjährige Fördertätigkeit zu begrü-
ßen. Der angestoßene Diskussionsprozess rund um die
zukünftige Ausrichtung der DSF kann nur förderlich
sein.
Wie eingangs schon lobend festgestellt, hat die DSF
in den letzten zehn Jahren eine gute Arbeit geleistet. Ein
zehnjähriges Jubiläum ist dabei aber auch eine geeig-
nete Wegmarke, um einerseits Bewährtes zu identifizie-
ren und andererseits Schwachstellen in der eigenen Aus-
richtung aufzudecken. Eine solche Aufgabenkritik kann
eine Institution nur weiterbringen und kann – wie schon
gesagt – auch dazu führen, mit dem vorhandenen Budget
auszukommen. Dazu ist eine ausbalancierte Förder-
struktur vonnöten, die sich beispielsweise stärker auf
kleinere Vorhaben konzentrieren könnte, die es bei ande-
ren Förderern schwerer haben. Der aktuelle Diskus-
sionsprozess innerhalb der DSF rund um das zukünftige
Förderrepertoire der Stiftung wird dazu beitragen, die
DSF fit für die Zukunft zu machen.
Die DSF ist mit dem derzeitigen Stiftungsvermögen
gut aufgestellt. Sie kann mit den vorhandenen Mitteln
auch weiterhin alle Satzungsziele umsetzen, ohne in fi-
nanzielle Bedrängnis zu geraten. Eine weitere Mittelauf-
stockung ist somit nicht notwendig. Daher lehnen wir als
CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag der SPD-
Fraktion ab.
Letzten Sonntag haben wir den 20. Jahrestag derDeutschen Einheit gefeiert. Er symbolisiert auch dasEnde des Kalten Krieges. Im Deutschen Bundestagmussten wir in den seither vergangenen zwanzig Jahrentrotzdem oft über Gewalt und Krieg sprechen. Denn mitdem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Welt leidernicht friedlicher geworden. Laut dem Heidelberger Kon-fliktbarometer hat die Zahl der Konflikte weltweit seitZu Protokoll1990 sogar zugenommen. Bei den Debatten über aktu-elle Konflikte suchen wir Abgeordneten Antworten aufdie Fragen von Gewalt. Dabei empfinden wir mitunterdas Gefühl, nur noch zwischen Nichtstun und dem Mittelder Gegengewalt entscheiden zu können. Denn wenn wiruns im Plenum mit Krieg und Gewalt beschäftigen, istdas Kind meist bereits in den Brunnen gefallen. Wir ver-suchen dann die Symptome des Konflikts zu bekämpfen,um deren Ursachen wir uns hingegen oft nicht oder erstspäter kümmern können, weil die Symptome in Form vonGewalt meist so brutal und unglaublich erscheinen undfür anderes keine Zeit mehr bleibt. Oft sind uns die ge-nauen Ursachen des Konflikts aber auch unklar, oder esfehlt die nötige Sensibilität, die Zeit, das Geld oder dasDurchhaltevermögen.Verantwortungsvoller, humaner und deutlich effekti-ver und kostengünstiger, nicht nur fiskalpolitisch gese-hen, ist es, den Frieden bereits in Friedenszeiten zu un-terstützen und zu festigen. Denn neben den Friedengefährdenden Mechanismen existieren zum Glück auchStrukturen, die den Frieden stärken und Konflikte ver-hindern können. Dabei spielen demokratische undtransparente Entscheidungsprozesse, soziale Rechte unddie gerechte Verteilung von Ressourcen und Gewaltfrei-heit eine wichtige Rolle. Wir Parlamentarier wissen ausunserer Arbeit, wie wichtig diese Aspekte auch für un-sere Demokratie in Deutschland sind. Diese Prozesseund die dazugehörigen Strukturen hier und weltweit zuunterstützen, das ist Friedensarbeit.Wie und unter welchen Umständen diese Strukturenaufgebaut, erhalten und gestärkt werden können, damitbeschäftigt sich die Friedens- und Konfliktforschung.Dazu suchen die Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler die Ursachen für Konflikte, aber auch die sta-bilisierenden Faktoren einer friedlichen Gesellschaft.Dabei gibt es grundlegende Aspekte, die in allen Gesell-schaften ähnlich sind. Jede einzelne Gesellschaft hataufgrund ihrer Tradition und Geschichte aber auch ei-gene Strukturen der Friedenssicherung bzw. des Gewalt-potenzials. Diese gilt es ebenfalls herauszufinden.Um die Friedens- und Konfliktforschung in Deutsch-land weiter zu festigen und zu unterstützen, wurde vorzehn Jahren durch die damalige rot-grüne Bundesregie-rung die „Deutsche Stiftung Friedensforschung“ ge-gründet. Diese Stiftung betreibt keine eigene Forschung,sondern wählt förderwürdige Projekte aus und unter-stützt diese finanziell. Seit Gründung der Stiftung wur-den über 46 große und über 100 kleine Forschungs-vorhaben finanziert. Darunter sind zum BeispielForschungsarbeiten zum Thema Parlamentsbeteili-gungsgesetz, der Verwendung von nichtletalen Waffenund der Rolle von Religion oder von föderalistischenStrukturen in Konflikten.Neben der Finanzierung von Forschungsprojektenunterstützt die DSF auch Tagungen und Publikationen.Denn Aufgabe der Stiftung ist es auch, die Ergebnisseder geförderten Forschungsvorhaben in die politischePraxis und Öffentlichkeit zu vermitteln. Für die parla-mentarische Ebene veranstaltet die DSF zum Beispiel inregelmäßigen Abständen Parlamentarische Abende zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6961
gegebene RedenRené Röspel
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aktuellen Themen. Letzte Woche konnten wir Abgeord-neten uns zum Beispiel mit den Experten aus der Wissen-schaft über die Chancen und Risiken der Einbindungvon Gewaltakteuren in den Friedensprozess informie-ren. Die Friedensforscherinnen und Friedensforscherzeigten dabei anhand der Taliban- und Hamas-Gruppie-rungen, welche Chancen für eine Einbindung dieserGruppen in den politischen Prozess bestehen, aber lei-der auch, welche Chancen zum Beispiel in Afghanistanbereits vertan wurden.Das sicherlich bekannteste Buchprojekt, das durchdie DSF finanziell unterstützt wird, ist das „Friedens-gutachten“. Herausgeber sind die fünf großen deutschenFriedensforschungsinstitute. In der aktuellen Ausgabebeschäftigen sich die Autoren zum Beispiel mit der Situ-ation in Afghanistan, dem Umgang mit Gewaltakteuren,der Vision einer nuklearfreien Welt und den sicherheits-politischen Konsequenzen aus der Weltwirtschaftskrise.Es ist wie immer ein sehr lesenswertes Jahrbuch – nichtnur für Außen- und Sicherheitspolitiker.Einige Friedens- und Konfliktforscherinnen und -for-scher beschäftigen sich sehr intensiv mit den ThemenAbrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.Dabei spielen neue wissenschaftliche Erkenntnisse undneue Technologien eine große Rolle, einerseits als Mittelder Begrenzung der Bedrohung, andererseits als mögli-che Instrumente des Missbrauchs. Die DSF hat in die-sem Bereich zum Beispiel eine Bewertung der Nanotech-nologien und einen Bericht über das Proliferationsrisikovon Spallationsneutronenquellen finanziell unterstützt.Da diese beiden Forschungsbereiche auch durch dasBundesforschungministerium finanziert werden, solltenwir Forschungspolitiker uns diesen Berichten ebenfallswidmen.Ich denke, alle hier Anwesenden sind mit mir einig,dass alle von der DSF finanzierten Projekte relevanteForschungsfragen bearbeiten. Die Ergebnisse daraussind für eine wissensbasierte politische Entscheidungs-findung im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik, derEntwicklungszusammenarbeit, der Forschungspolitik,aber auch anderen Politikbereichen äußerst hilfreich.Auf der politischen Ebene existieren bereits erfolgreicheInstrumente, in die diese Ergebnisse einfließen können.Diese müssen dann nur noch nachjustiert bzw. richtigeingesetzt werden. Einige Instrumente werden zum Bei-spiel durch das Auswärtige Amt finanziert. Dass dieschwarz-gelbe Regierung im aktuellen Haushaltsent-wurf die Mittel für Krisenprävention, Friedenserhaltungund Konfliktbewältigung um fast 40 Millionen Euro kür-zen will, ist deshalb eine Schande und absolut kurzfristiggedacht. Leider überraschen die Haushaltskürzungennicht. Bereits in der Haushaltsdebatte 2009 hat dieSPD-Bundestagsfraktion unter anderem eine Erhöhungdes Stiftungskapitals für die DSF gefordert. Diese For-derung wurde von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Be-reits damals begann die Kürzungspolitik, die sich jetzt inden Budgets anderer Ministerien fortsetzt.Mit unserem heute debattierten Antrag fordern wireine Erhöhung des Stiftungskapitals der DSF um5 Millionen Euro. Diese Forderung haben wir auch mitZu Protokolleinem entsprechenden Änderungsantrag zum Haushaltflankiert. Diese Erhöhung ist nötig, damit die satzungs-gemäßen Ziele der Stiftung weiterhin erfüllt werden kön-nen. Derzeit reicht das Geld nicht aus, um zum Beispieldie wichtige Nachwuchsförderung fortzuführen. Grundfür die Finanzlücke sind unter anderem die in den letztenJahren allgemein gestiegenen Kosten bei Sachleistun-gen und Personal. Hier muss nun bei der DSF finanziellnachgezogen werden.Wir hoffen, dass dieses Jahr in den Reihen von CDU/CSU und FDP doch ein wenig mehr Vernunft als letztesJahr vorherrscht und sie in der Haushaltsbereinigungs-sitzung für die DSF-Erhöhung stimmen. Denn die Gel-der für die Friedens- und Konfliktforschung bereicherndie deutsche Forschungslandschaft. Die Ergebnissewiederum liefern wichtige Entscheidungshilfen zur welt-weiten Friedenssicherung und können kostspielige undwenig effiziente Symptombekämpfung vermeiden. WennFriedens- und Konfliktforschung auch nur einen Kon-flikt verhindern, abmildern oder beenden kann, so hatsich jeder Euro dafür gelohnt. Aber leider gibt es dafürviel weniger Geld als für Waffen und Militär.
Nicht erst seit den weltweit zu spürenden Folgen desTerroranschlages vom 11. September 2001 auf dasWorld Trade Center in New York hat die Friedens- undKonfliktforschung die wissenschaftliche Bühne betreten.Als Kind des Kalten Krieges und einer Zeit, in der dieeuropäischen Kolonialmächte ihre ehemaligen Kolonienin die Freiheit entließen, rückte sie schnell in das Be-wusstsein der Nach-Weltkriegs-Gesellschaften.Was sind die Ursachen von Konflikten, wie können sieam Verhandlungstisch gelöst werden, und warum müs-sen Staaten auch heute noch zum letzten Mittel, demKrieg, greifen? Ist der Krieg überhaupt noch das letzteMittel der Wahl? Ist die Aussage des preußischen Gene-rals Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz, „Der Kriegist eine bloße Fortsetzung der Politik unter Einbezie-hung anderer Mittel“ – siehe „Vom Kriege“, Buch I,Kap. 1, Abschnitt 24 –, noch gültig? Ich meine Ja, dennder Krieg ist so der Politik immer untergeordnet. DieVerantwortung liegt also im wahrsten Sinne des Wortesin unserer Hand. Der Deutsche Bundestag hat in jüngs-ter Zeit hierzu weitreichende Beschlüsse gefasst. Ichdenke dabei vor allen an die Einsätze der Bundeswehr inAfghanistan.Die Friedens- und Konfliktforschung unserer Tageentwickelte sich in dem Maße, wie sich die Menschender Gefahren einer atomaren Bewaffnung von sich ideo-logisch entgegenstehenden Staaten und ihren Bündnis-systemen bewusst wurden. Der Kalte Krieg jener Jahreist spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer und derVollendung der deutschen Einheit vorbei. Aber leider istauch unsere Zeit nicht gewaltfrei, auch wenn in ihrenzentralen Regionen weitgehend Friede herrscht!Nicht zu übersehen sind heute noch die Folgen desKalten Krieges. Nach wie vor tragen Länder, die durchdas eine oder andere Lager in dessen jeweilige Interes-
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6962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenDr. Peter Röhlinger
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senshemisphäre einbezogen wurden, ein schweres Erbeund sind Schauplätze brutaler regionaler Kriege.Auch in unserer Zeit muss der Frieden bzw. die Frie-denssicherung täglich neu erkämpft werden! Das führtmir zumindest deutlich vor Augen: Der Frieden ist nichtallein durch die Abwesenheit von Krieg gekennzeichnet.Vielmehr muss er auch zum Beispiel durch ökonomischeTeilhabe der Länder der sogenannten Dritten Welt,durch Gleichberechtigung der Geschlechter, durch Sä-kularisierung und durch die Überwindung nationalerund ethnischer Stereotype sicherer gemacht werden. Dasbedeutet auch, Konfliktursachen genau zu untersuchen,zu beschreiben und daraus Schlüsse zu ziehen.Was kann heute nicht alles Bedrohungsängste undAngriffslust auslösen? Weltweit identifizierte Konflikt-felder, die internationale Terrorismusbekämpfung durchdie Vereinten Nationen, der forcierte Unilateralismusder USA, aber auch der Wandel der Bündnisverpflich-tungen innerhalb der NATO setzen eine objektive wis-senschaftliche Begleitung, Betrachtung und Wertungdurch die Friedensforschung in Deutschland voraus.Friedens- und Konfliktforschung muss auch ein In-strument wissenschaftlicher Politikberatung sein. DerEinsatz der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistanund die daraus resultierenden möglichen Veränderun-gen der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten bedingen ei-nen zeitnahen und effizienten Transfer von Forschungs-ergebnissen zu den politischen Entscheidungsträgern.Dabei darf es nicht nur darum gehen, den wissen-schaftlichen Erkenntnisgewinn den Bedürfnissen vonEntscheidungsträgern in Regierungen, Parlamenten,Parteien und Organisationen anzupassen und ihn daraufabzustimmen. Vielmehr muss die FriedensforschungTheorien über die Ursachen von Krisen und Konflikten,über Krisenprävention und Konfliktbewältigung entwi-ckeln, der Politik Empfehlungen zu Handlungsmöglich-keiten geben und deren Konsequenzen aufzeigen.Die Friedens- und Konfliktforschung ist konkret. Jegenauer die Fragestellungen, desto klarer sind die Ant-worten. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeitmöchte ich an dieser Stelle einige Fragen stellen:Welche Auswirkungen hat zum Beispiel das scheinbarfreie Spiel der Kräfte auf den Finanzmärkten für die Sta-bilität der Volkswirtschaften und für den Welthandel?Welche Schlussfolgerungen müssen aus den Auswirkun-gen der Finanzkrisen mit Blick auf die Weltpolitik gezo-gen werden? Welche Gefahren sind mit der geringenVerfügbarkeit von Trinkwasser in bestimmten Gebietenunserer Erde verbunden? Welche Folgen bringt die Ver-knappung von Rohstoffen und vor allem ihre geopoliti-sche Verfügbarkeit für die Industrieländer mit sich? Aufwelchen seltenen Rohstoffen basieren die neuen Techno-logien und wie wird die Versorgungssicherheit der Wirt-schaft gewährleistet?Die deutsche Friedensforschung ist gut aufgestellt.Sie hat zu einer objektiven und interdisziplinären Beur-teilung der Konflikte beigetragen. Sie hat belastendeökonomische, ideologische, konfessionelle und religiösesowie ethnische Strömungen in der Welt aufgezeigt.Zu ProtokollHierzu gehören die Erkenntnisse und Erklärungsmo-delle der verschiedenen Disziplinen, wie zum Beispieldas Staats- und Völkerrecht, die Spieltheorie des strate-gischen Verhaltens und die Wachstumstheorie sowie de-ren Abgleich untereinander. Die Friedens- und Konflikt-forschung hat im deutschen Wissenschaftssystem einenfesten Platz eingenommen. Sie wird zum großen Teil aufgutem Niveau durch die öffentliche Hand des Bundesund der Länder finanziert.Jetzt komme ich zum Antrag der SPD. Sicherlich hatRot-Grün in seiner Regierungszeit mit der Gründungder Deutschen Stiftung Friedensforschung, DSF, einredliches Ziel verfolgt. Die Stiftung hat durch ihre Arbeitund durch ihre Vermittlertätigkeit zwischen den Institu-tionen der Friedens- und Konfliktforschung und durchdirekte Projektförderung einen anerkennenswerten Bei-trag geleistet. Sie hat durchaus eine institutionelle Lückezwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Politik ge-schlossen.Meine Fraktion hat aber bereits in den Gründungs-jahren immer wieder gesagt: Die Stiftung muss ihrenBeitrag für ihre politische und finanzielle Unabhängig-keit leisten und sie darf dieses Ziel nie aus dem Augeverlieren. Die Stiftung wurde mit dem notwendigenGrundkapital in Höhe von 25,57 Millionen Euro ausge-stattet. Der Bund hat auch danach noch „zugestiftet“.Jetzt ist sie finanziell und politisch unabhängig. Sie fi-nanziert sich aus Erträgen des Stiftungskapitals unddurch Zustiftungen. In dieser Phase muss sie zeigen, wietief sie im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist.Die Anerkennung zeigt sich heute letztendlich im bür-gerschaftlichen Engagement der Stifter, in ihrer persön-lichen Identifikation mit dem Stiftungsgedanken und inihrem persönlichen Beitrag.Sicherlich sollten wir gemeinsam über die Stellungder Stifter und deren Behandlung weiter nachdenken.Und genau dafür treten auch unsere Stiftungsratsmit-glieder, wie der Staatsminister im Auswärtigen Amt,Herr Dr. Werner Hoyer, die Parlamentarische Staatsse-kretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung, Frau Gudrun Kopp,und die Kollegin Frau Marina Schuster ein.Meine Damen und Herren von der SPD, von einer aufDauer angelegten Subventionierung durch die öffentli-che Hand war nie die Rede. Daher können wir dem An-trag der SPD nicht unsere Zustimmung geben.
Für die Fraktion Die Linke bedanke ich mich beimKollegen Röspel und der SPD-Fraktion für diesen An-trag. Ich will begründen, warum ich ihn für notwendig,aber nicht hinreichend halte. Friedensforschung ist füruns untrennbar verbunden mit großen Wissenschaftlernwie Albert Einstein, Joseph Weizenbaum bis hin zuHans-Peter Dürr und den Göttinger Achtzehn. Dies sindMenschen, die sich aus humanistischer und pazifisti-scher Überzeugung in ihrer Wissenschaft und der Frie-densforschung über alle Anfeindungen hinweg für denFrieden forschend und lehrend engagierten. So heißt esin der Erklärung der Göttinger Achtzehn von 1957, zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6963
gegebene RedenKathrin Vogler
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denen unter anderem die Nobelpreisträger Heisenberg,Hahn und Born sowie Carl Friedrich von Weizsäckerzählten: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichner be-reit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder demEinsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteili-gen.“Eine solche Absage ist heute aktueller denn je. NachAuskunft des Friedensforschungsinstituts SIPRI werdenjedes Jahr in Deutschland zwischen 5 und 7 MilliardenEuro öffentliche Mittel für die Rüstungsforschung an öf-fentlich geförderten Instituten ausgegeben. Gegenüberdiesen Milliarden wirkt der Antrag der SPD-Fraktionvon einmalig 5 Millionen Euro für die Deutsche StiftungFriedensforschung noch deutlich zu bescheiden. DieStiftung wird im Jahr 2011 für friedenswissenschaftlicheProjekte circa 600 000 Euro ausgeben können, fürKriegsforschung stehen Milliardenbeträge bereit.Finanzielle Prioritäten zeigen den politischen Willender Handelnden. Wieder werden nach Bertolt Brechtmehr „erfinderische Zwerge, die man für alles mietenkann“, an den Hochschulen herangezogen als enga-gierte junge Menschen, die sich zu Hause und in derWelt für den Frieden engagieren. Es hat doch nicht erstdes gescheiterten Krieges in Afghanistan bedurft, um er-neut zu beweisen, dass Krieg und damit auch Kriegsfor-schung kein Problem dieser Welt löst.Die Friedensforschung steht heute vor der großenAufgaben. Die Zusammenhänge zwischen Klimaverän-derung, Ernährungsunsicherheit, Wasser- und Ressour-cenknappheit, ethnischen Konflikten und Bürgerkriegenerfordern neue Konzepte und Lösungsansätze im Sinneziviler Krisenprävention und nichtmilitärischer Kon-fliktbeilegung. Das sind enorme Zukunftsherausforde-rungen für Generationen junger Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftler. Und wir diskutieren über eine Ka-pitalerhöhung von 5 Millionen Euro, die pro Jahr nichtmehr als 200 000 Euro Ertrag für Projekte bringenwürde. Notwendig und sachgerecht wäre schon jetzt eineVerdopplung des Stiftungskapitals um 25 auf 50 Millio-nen Euro. Ein Zigfaches solcher Summen haben die ver-schiedenen Mehrheiten dieses Hauses in den letztenJahren etwa für die Kostensteigerungen bei den Rüs-tungsprojekten Eurofighter, Kampfhubschrauber oderAirbus A400M, ohne mit der Wimper zu zucken, durch-gewinkt.Ein deutlicher Anstieg der Förderung für die Frie-densforschung gehört für die Linke zu dem notwendigenParadigmenwechsel deutscher Politik hin zu einer zivilausgestalteten, aktiven Friedenspolitik. Dazu solltennach meiner Auffassung auch Friedenswissenschaft undFriedensbewegung noch enger zusammenarbeiten.Dazu gehört auch, dass sich die Friedenswissenschaftnoch stärker grundsätzlicheren friedenspolitischen Fra-gen widmet, etwa der Erforschung der großen, vomFriedensnobelpreisträger Joseph Rotblat formuliertenVision, „die Institution Krieg von diesem Planeten zuverbannen“.Trotz der geringen Mittel leistet die Friedensfor-schung heute schon Beeindruckendes. Erinnert sei nuran die Ausarbeitung der Nuklearwaffenkonvention. Die-Zu Protokollses Modell für ein umfassendes Vertragswerk zur Ab-schaffung aller Atomwaffen wurde bei der letzten Über-prüfungskonferenz von der großen Mehrheit der Staatender Welt unterstützt – leider noch nicht von der Bundes-regierung, trotz der wiederholten Bekenntnisse von Au-ßenminister Westerwelle zu einer atomwaffenfreienWelt.Ganz persönlich wünsche ich mir ein großzügig ge-fördertes, interdisziplinäres Forschungsprogramm füreine „Bundesrepublik Deutschland ohne Armee“. DieLinke setzt sich dafür ein, dass die Vorschläge der For-scherinnen und Forscher auch in der politischen Praxisberücksichtigt werden. Friedensforschung ist keine El-fenbeinturmwissenschaft, sondern Anleitung zum Han-deln für eine bessere, friedlichere Welt.
Es war ein mühseliger Prozess, bis es im Jahr 2000zur Errichtung der Deutschen Stiftung Friedensfor-schung kam. Mein ehemaliger Kollege Winfried Nachtwei,der sich sehr für die Stiftung eingesetzt hat, könnte da-von sicher manches Liedchen singen. Umso erfreulicherist es, dass sich dieses rot-grüne „Baby“ so positiv ent-wickelt hat und inzwischen als wohlgeratenes Kind einerparteiübergreifenden Großfamilie angesehen wird.Wenn der Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitikder CSU Fachgespräche mit der Stiftung Friedensfor-schung durchführt, kann man wohl davon ausgehen,dass die Kompetenz der Stiftung inzwischen allgemeinanerkannt ist.Die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensfor-schung fiel nicht zufällig in eine Zeit, in der – nachÜberwindung der Blockkonfrontation – durch eskalie-rende ethnische und nationalistische Konflikte die Fragenach der Prävention und Friedenserhaltung verstärktins politische Bewusstsein gerückt war.Der krisenpräventive Ansatz spielt nach wie vor einezentrale Rolle in der Mission und Arbeit der Stiftung. Wiekann die gewaltsame Eskalation von Konflikten vermie-den und wie kann nach einer gewaltsamen Auseinander-setzung wieder eine friedliche Entwicklung ermöglichtwerden? Diese Themen sind für die wissenschaftlicheForschung von ungeschmälerter Relevanz.Mit der Gründung einer gemeinnützigen Stiftung Bür-gerlichen Rechts wurde eine möglichst große Unabhän-gigkeit für die Stiftung Friedensforschung angestrebt,und zwar sowohl politisch, wissenschaftlich, aber auchfinanziell. Um dies zu gewährleisten, wurde die DSF miteinem Stiftungskapital ausgestattet, das diese Unabhän-gigkeit zumindest ein Stück weit sichert, dessen Erträgeaber keine großen Sprünge erlauben. Durch steigendeSach- und Personalkosten werden die Spielräume fürneue Forschungsprojekte zunehmend eingeschränkt, ob-wohl mit dem Stiftungskapital durchaus sorgsam umge-gangen wurde.Dabei sind die Erwartungen und Ansprüche an dieStiftung eher gewachsen. So ist es zu begrüßen, dass dieStiftung neben der Projektförderung auch mit Stiftungs-professuren und Masterstudiengängen institutionelle
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6964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6965
Krista Sager
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Lehr- und Forschungsstrukturen geschaffen hat, die zurnachhaltigen Etablierung der Friedenswissenschaft bei-tragen. Es wäre höchst bedauerlich, wenn die Stiftungsich gezwungen sähe, sich zum Beispiel aus der Promo-tionsförderung für den wissenschaftlichen Nachwuchsdauerhaft zurückzuziehen.Die Stiftung leistet auch wichtige Beiträge zu aktuel-len Debatten, zum Beispiel mit dem internationalenSymposium „Religionen und Weltfrieden“, und riskiertunerwartete, aber interessante Perspektiven, wenn sienach dem Friedens- und Konfliktlösungspotenzial vonReligionsgemeinschaften fragt. Dies sind gute Gründe,weshalb wir uns immer wieder dafür eingesetzt haben,die Handlungsmöglichkeiten der Stiftung zu erhaltenund zu fördern. Auch in den diesjährigen Haushaltsbe-ratungen haben wir einen entsprechenden Antrag einge-bracht.Mit Sorge haben wir aber auch in den letzten Jahrenbeobachtet, dass die Unterstützung für die Stiftung im-mer wieder im Parteienstreit unterzugehen drohte. Daswäre wirklich schade, und das hätte die Stiftung Frie-densforschung auch nicht verdient. Sowohl ihre Unab-hängigkeit als auch ihre gute wissenschaftsgeleitetePraxis hat sie inzwischen hinlänglich unter Beweis ge-stellt.Sie verfügt über einen sinnvollen Mix an Förderins-trumenten, einen 18-köpfigen wissenschaftlichen Beirat,hat ein professionelles Begutachtungsverfahren eta-bliert und orientiert sich konsequent an Exzellenz. Siegibt Anregungen, macht aber keine Vorgaben, sorgt aberzum Beispiel dafür, dass nationale und internationaleFriedensforscher auf Fachtagungen und Konferenzeneinen intensiven Austausch pflegen können.Dass durch die Arbeit der Stiftung Friedensforschungein erweitertes Sicherheitsverständnis und die zivile Kri-senprävention und -bearbeitung ein stärkeres außen-politisches Gewicht bekommen haben, ist ebenfalls zubegrüßen und dürfte sicher kein parteipolitisches Son-deranliegen sein. Ich würde mich deshalb freuen, wennim Zuge der weiteren Beratungen es doch noch zu einergemeinsamen Unterstützung der Deutschen StiftungFriedensforschung durch alle Fraktionen des DeutschenBundestages kommen sollte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1051 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch das ist offen-
kundig einvernehmlich. Dann können wir die Überwei-
sung so beschließen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Barnett,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Die Steinkohlevereinbarung gilt
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für einen geordneten und sozialverträglichen
Ausstieg aus dem subventionierten Stein-
kohlebergbau
– Drucksachen 17/3043, 17/3044, 17/3231 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Fritz Kuhn, Markus Tressel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Subventionierten Steinkohlebergbau sozialver-
träglich beenden
– Drucksache 17/3201 –
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas
Bareiß, Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Ulla Lötzer und
Oliver Krischer ihre Reden zu Protokoll.
Wieder einmal reden wir über ein energiepolitischesThema, das die Opposition instrumentalisiert. DiesesMal ist die Steinkohle und deren Subventionierung Ge-genstand der Diskussion. Die SPD und die Linken for-dern in ihren Anträgen die Bundesregierung auf, sich inBrüssel für ein Weiterbestehen des Steinkohlefinanzie-rungsgesetzes einzusetzen. Der Antrag der Grünen zieltdarauf ab, die Förderung des Steinkohlebergbaus früh-zeitig zu beenden.Wie in den anderen zahlreichen Anträgen im energie-politischen Bereich sieht die Opposition die Thematikallerdings zu kurzsichtig.Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinan-zierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalitiondarauf geeinigt, die subventionierte Förderung derSteinkohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion steht zu diesem Ent-schluss. Der Ausstiegsplan ist sozial ausgereift und wirdvon Bund und Ländern getragen. Es gibt keinen Grund,von diesem Fahrplan abzuweichen.Bereits im Jahr 2007, als das Steinkohlefinanzie-rungsgesetz von der Großen Koalition auf den Weg ge-bracht wurde, war allerdings allen Beteiligten klar, dassfür den Zeitraum 2011 bis 2018 keine beihilferechtlicheGenehmigung der EU vorlag. Mit einer Entscheidungder EU zum Ende des Jahres 2010 musste daher gerech-net werden. Diese sieht nun in Form des aktuellen EU-Kommissionsvorschlags ein Auslaufen der deutschenSubventionierung von Steinkohle bereits im Jahr 2014vor.Thomas Bareiß
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Ich begrüße den Vorstoß unseres Bundeswirtschafts-ministers Rainer Brüderle, zu prüfen, ob ein vorzeitigerAusstieg aus der Steinkohlesubventionierung zum Jahr2014 überhaupt Geld einspart.Die Absatzbeihilfen, gegen die die EU-Kommissionvorgehen will, gehen kontinuierlich zurück. Dagegenwachsen die Zuschüsse zu Stilllegungen und zu dem Auf-wand für die Alt- und Ewigkeitslasten. In den Jahren2015 bis 2018 würden die vom Steinkohlefinanzierungs-gesetz gesicherten Absatzbeihilfen in der Summe nurnoch circa 2 Milliarden Euro erreichen. Ein vorzeitigerAusstieg hätte frühzeitige Stilllegungen und betriebsbe-dingte Kündigungen von mehreren Tausend Bergleutenzur Folge. Hinzu kommen weitere Faktoren, wie prakti-sche und technische Probleme, die Bergwerke früher zuschließen.Es ist also durchaus erst einmal infrage zu stellen, obder von der EU-Kommission vorgesehene Ausstieg ausden staatlichen Hilfen für den Steinkohlebergbau bereits2014 tatsächlich günstiger wird. Vor diesem Hinter-grund hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt ein-gelegt.Entscheidungen sollten nämlich erst getroffen wer-den, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. Erstdann macht es Sinn, über weitere Schritte nachzuden-ken. Die Oppositionsanträge leisten hierbei keinen kon-struktiven Beitrag und müssen daher abgelehnt werden.Nochmals will ich hervorheben, dass nicht in ersterLinie inhaltliche Gründe im Vordergrund stehen, son-dern vor allem verfahrenstechnische. Der Zeitpunkt derEntscheidung über das weitere Vorgehen wird nochkommen. Gerne will ich aber natürlich unabhängig vondiesen beiden Anträgen auf die Thematik eingehen. Da-bei möchte ich zunächst das Thema Kohle grundsätzlichin den Rahmen des von der Bundesregierung jüngst be-schlossenen Energiekonzepts setzen.In dem Energiekonzept stehen die drei Eckpfeiler Kli-mafreundlichkeit, Verlässlichkeit und Wirtschaftlichkeitim Vordergrund. Trotz ihres oftmals schlechten Rufs wirdKohle auch mittelfristig aus verschiedenen Gründennoch eine bedeutende Rolle im Energiemix einnehmen.Die Verlässlichkeit spielt dabei eine große Rolle,schließlich ermöglicht der starke Ausbau der erneuerba-ren Energien in Deutschland zwar höhere Minderungs-ziele für den CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aberauch den Neubau von hocheffizienten Kohlekraftwerkennotwendig. Diese werden als Grundlastkraftwerke zurErgänzung des je nach Sonnen- oder Windaktivitätschwankenden Angebots an erneuerbaren Energiendringend gebraucht und ersetzen alte ineffiziente Kraft-werke.In unserem Energiekonzept haben wir dies berück-sichtigt: Zur Modernisierung des fossilen Kraftwerks-parks wird die im europäischen Energie- und Klimapa-ket vereinbarte Möglichkeit genutzt, ab 2013 den Neu-bau von CCS-fähigen, hocheffizienten Kraftwerken mitbis zu 15 Prozent der Investitionskosten zu unterstützen.Zu ProtokollVor dem Hintergrund des Klimaschutzes spielt in die-sem Zusammenhang die CCS-Technologie – CarbonCapture and Storage – eine wichtige Rolle. Deshalbmüssen wir jetzt alles daransetzen, dass das CCS-Gesetzso schnell wie möglich verabschiedet wird, um in einemersten Schritt erste Demonstrationsvorhaben zu ermög-lichen. Hinzu kommt, dass viele Staaten auch in Zukunftbei ihrer Energieversorgung auf Kohle setzen werden.Dabei bieten sich im Bereich der CCS-Technologiefür die deutsche Wirtschaft zukunftsträchtige Ex-portchancen. In China gehen jede Woche mehrere Koh-lekraftwerke ans Netz. Obwohl die Chinesen bereits dergrößte Steinkohleförderer weltweit sind, importieren siesogar Steinkohle aus anderen Ländern. Auch die massi-ven Investitionen der USA in CCS und die Entscheidungder EU für CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Stein-kohle im Zusammenhang mit CCS durchaus Zukunft hat.Deutschland darf als Exportnation diesen technologi-schen Trend nicht verschlafen und muss technologiefüh-rend bleiben.Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das ThemaSteinkohleförderung im Plenum. Schließlich ist es nichtzuletzt auch ein sehr emotionales. Dies hat verschiedeneGründe. Zum einen entsteht diese Emotionalisierungdurch die große Bedeutung von Kohle in unserem der-zeitigen Energiemix und zum anderen durch die langjäh-rige Tradition in Deutschland und ihre Bedeutung alslangjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrge-biet.Immerhin liegt Deutschland bei der Steinkohleförde-rung hinter Polen auf Platz zwei in Europa. In unseremdeutschen Energiemix hat die Steinkohle einen Anteilvon rund 18 Prozent an der Bruttostromerzeugung. Ge-meinsam mit der Braunkohle beträgt der Anteil amStromkuchen über 40 Prozent.Insbesondere die Menschen in der Region haben einebesondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderemhistorische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeu-tendsten deutschen und europäischen Industrieregionen.Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie möglich gewe-sen. Die heimische Steinkohle hat über Jahrzehnte ent-scheidend zum Aufbau unseres Landes und der Steige-rung unseres Wohlstandes beigetragen.Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Steinkohle-finanzierungsgesetz und dem Auslaufen der Steinkohle-förderung sagen. Mit dem Gesetz aus dem Jahr 2007wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzent-scheidung getroffen und der größte Subventionsabbauseit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen. Deutsch-land ist damit das einzige Land, das ein schlüssiges, so-zialverträgliches und wirtschaftliches Gesamtkonzeptzur Beendigung der heimischen Steinkohleförderunghat.Der deutsche Steinkohlebergbau ist seit vielen Jahrenaufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedingungeninternational nicht mehr wettbewerbsfähig. Milliarden-schwere Subventionen, fast 2 Milliarden Euro pro Jahrin den letzten Jahren, waren bisher notwendig, damit derdeutsche Steinkohlebergbau wettbewerbsfähig bleibt.
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6966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenThomas Bareiß
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Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt be-reits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohlein absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht er-reichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirt-schaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeitaus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies sollnicht heißen, dass die Förderung von Steinkohle inDeutschland nicht mehr politisch gewollt ist, sonderndass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaft-lichkeit stehen muss, was übrigens für alle Energieträ-ger gilt.Der Ausstiegsbeschluss von 2007 war somit richtigund wichtig und stellt meines Erachtens einen gelunge-nen Kompromiss zwischen der Notwendigkeit des Sub-ventionsabbaus und dem Schutz der Arbeitnehmer indieser Branche dar.Mit der Kommissionsentscheidung stehen wir nun voreiner neuen Situation, die wir besonnen zu prüfen habenwerden, wie ich eingangs bereits erwähnt habe. Ein sichanbahnender Kompromiss mit der Kommission könntelauten, dass die Förderung, wie im Steinkohlefinanzie-rungsgesetz vereinbart, bis zum Jahr 2018 – und nichtwie von der EU gefordert bis 2014 – ausläuft.Im Gegenzug müsste die Revisionsklausel des Geset-zes überdacht werden. Diese Klausel besagt, dass demDeutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 einBericht zugeleitet wird, auf dessen Grundlage nochmalsgeprüft wird, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtungder Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherungder Energieversorgung und der übrigen politischenZiele über das Jahr 2018 hinaus gefördert werden soll.Wie ich in Gesprächen mit Brüsseler Kollegen erfah-ren haben, könnte sich die Kommission vorstellen, dieFörderung bis 2018 zu erlauben, wenn die Option derRevisionsklausel gestrichen wird. Damit könnte die För-derung wie geplant bis 2018 laufen.Ich denke, dass eine solche Förderung unter diesenUmständen Sinn machen würde. Schließlich ist eine derwichtigsten Komponenten der Wirtschaftspolitik, stabileRahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich die Unter-nehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen können. Eswurde seinerzeit eine gute Regelung getroffen, auf diesich die Region und die Menschen dort verlassen. Die-sen Vertrauensschutz und die Planungssicherheit solltenwir auf keinen Fall gefährden. Im Sinne einer verlässli-chen Wirtschaftspolitik halte ich ein Festhalten an einerFörderung bis 2018 daher für richtig.Mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007wurde ein historischer Schritt in Richtung Subventions-abbau getan. Damit wurde ein vernünftiger Konsens mitallen Beteiligten – Beschäftigten, Unternehmen undPolitik – geschlossen, der seine Berechtigung hat. DieseRegelung beendet die Subventionierung im deutschenSteinkohlebergbau auf sozialverträgliche Weise. Sostellt der vereinbarte Ablaufzeitraum bis 2018 sicher,dass betriebsbedingte Kündigungen im Steinkohleberg-bau vermieden werden können.Ferner sollten wir die durch langwierige politischeEntscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse undZu Protokolldie damit entstandene Planungssicherheit und das Ver-trauen in die getroffene Regelung nicht zerstören.Angesichts der Größe der Branche, über die wir re-den, brauchen wir einen sozialverträglichen Ausstiegaus der Steinkohleförderung, wenn man den betroffenenMenschen eine vernünftige Perspektive bieten will.Wegen der genannten Gründe würde ich es für sinn-voll erachten, an dem im Jahr 2007 beschlossenen Aus-stieg aus der Steinkohleförderung bis 2018 festzuhalten.Wie ich zu Beginn dargelegt habe, müssen wir jetzt auf-grund der aktuellen Entwicklungen in Brüssel besonnenagieren und einen vernünftigen Kompromiss anstreben,der eine Förderung bis 2018 weiter ermöglicht. Der vonder Bundesregierung gewählte Weg des Prüfvorbehaltsist in diesem Zusammenhang richtig.Eine Entscheidung sollte erst getroffen werden, wenndie Kosten beider Szenarien klar sind. Erst dann kannüber mögliche weitere Schritte entschieden werden. Da-bei bin ich sehr zuversichtlich, dass es uns gelingenwird, mit Brüssel auf einen gemeinsamen Nenner zukommen.
Wir beraten heute gleich drei Anträge zum deutschenSteinkohlebergbau – von SPD, Grünen und von der Lin-ken. Das allein zeigt schon den Stellenwert des Themasfür alle Parteien bis auf die der Regierung angehörigenFraktionen. Die Bundesregierung hat es verschlafen,auf EU-Ebene eine Folgegenehmigung ab 2011 für denvereinbarten Anpassungsprozess im deutschen Steinkoh-lebergbau bis zum Jahr 2018 zu erwirken.Die Europäische Kommission hatte sich bislanggrundsätzlich offen gezeigt, die laut Steinkohlevereinba-rung bis 2018 auslaufende subventionierte Förderungauch über 2011 hinaus zu genehmigen. Nach der Neube-setzung des EU-Gremiums scheint jedoch nunmehr dasKostenargument ausschlaggebend zu sein. Der im Julivorgelegte Verordnungsentwurf stützt sich allein auf dasVorhaben, staatliche Beihilfen abzubauen, und sieht einvorzeitiges Auslaufen der Steinkohleförderung im Jahr2014 vor. Die Kommission argumentiert, ein vorzeitigerAusstieg liege „auch im Interesse des Steuerzahlers undder stark strapazierten Staatskassen“.Anderen Gesichtspunkten wird offensichtlich keineBeachtung geschenkt. Unbeachtet bleibt, dass es sichbei unserem Steinkohlekompromiss um einen sorgsamaustarierten Kompromiss handelt, der einen sozialver-träglichen Übergang gewährleistet. Außen vor bleibtauch, dass die Steinkohlevereinbarung einen Weg auf-zeigt, wie ein Auslaufpfad bis 2018 einschließlich dersogenannten Ewigkeitslasten des Steinkohlebergbaus inunternehmerischer Verantwortung von der RAG AG be-wältigt werden kann. Schließlich spielt auch die in einerStudie festgestellte Klimaneutralität der Steinkohleför-derung keine Rolle, die daher rührt, dass die in EU-Län-dern nicht mehr abgebaute Steinkohle lediglich durchImportkohle aus Drittländern ersetzt werden wird. DieBeendigung der heimischen Steinkohleförderung wirddamit nicht automatisch zu einer Reduzierung der fossi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6967
gegebene RedenRolf Hempelmann
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len Stromerzeugung und der damit zusammenhängendenTreibhausgasemissionen führen.Das Kostenargument aber relativiert sich mit Blickauf den in Deutschland seit den 1990er-Jahren eingelei-teten Subventionsabbau bei der Steinkohle. Die Förde-rung wurde bis 2009 um mehr als die Hälfte reduziert.Eine weitere Zahl macht die Dimensionen greifbar: DerAnteil der Steinkohlehilfen am gesamten Subventionsvo-lumen in Deutschland lag nach den Untersuchungen desInstituts für Weltwirtschaft , Kiel, bereits 2007 un-ter 2 Prozent.Gegen potenzielle Einsparungen für den Bundes-haushalt müssen ehrlicherweise auch die sozialen Kos-ten eines überstürzten Abbaus der Förderung, der Ver-lust an Versorgungssicherheit und die Gefährdung desFinanzierungsfahrplans für die Ewigkeitslasten in An-schlag gebracht werden. Diese Risiken wiegen schwer.Und manches, wie Arbeitsplatzverlust und Perspektivlo-sigkeit, in die Bergleute und Beschäftigte der nachgela-gerten Branchen mit einem frühzeitigen Ausstieg aus derVereinbarung gestürzt würden, lässt sich nicht in Zahlenermessen. Vor diesem Hintergrund ist es mir unver-ständlich, in welche Lage uns die Bundesregierung aufEU-Ebene manövriert hat.Es ist unglaublich, dass der deutsche EU-Kommissar,der fachlich auch noch für das Energieressort zuständigist, bei den entscheidenden Abstimmungsprozessen mitAbwesenheit glänzte! Und es ist untragbar, dass es dieaktuelle Bundesregierung zulässt, dass die Steinkohle-vereinbarung von 2007 von den eigenen Reihen ausge-höhlt wird. Wo andere betroffene EU-Länder wie Rumä-nien und Spanien ihre Interessen mittels Widerspruchklar verteidigen, legte Brüderle lediglich einen Prüfvor-behalt ein, und das, obwohl die Datenlage doch langeklar ist. Der FDP-Wirtschaftsminister sitzt das ihm un-angenehme Thema also aus.Der Energiekommissar fabuliert kurz vor Zwölf übermögliche Wege, die Vereinbarung so aufzuweichen, dasssie auf EU-Ebene noch durchzubringen sei. Im Interviewmit der „Bild“-Zeitung sagte er kürzlich: „Ich schlagevor, diese Revision in den nächsten Wochen schnell vor-zuziehen und den Ausstieg 2018 zu bekräftigen. Daswürde auch die Skeptiker überzeugen, dass keine weitereVerlängerung beantragt wird.“ Das heißt, der Kommis-sar wünscht sich formal eine vorgezogene Überprüfungdes Steinkohlebeschlusses, gibt aber gleichzeitig schondas Ergebnis vor – den endgültigen Ausstieg im Jahr2018. Damit wird die „Revision“ ad absurdum geführt.Mit Blick auf die Lage an den Weltmärkten wäre esein Armutszeugnis, die Revisionsklausel leichtfertig denVerhandlungen mit EU-Mitgliedsländern preiszugeben.Die Wahrung einer Fortführungsperspektive der heimi-schen Steinkohleförderung ist eine Frage der Versor-gungssicherheit. Auf den Weltmärkten verschärft sichdie Verknappungssituation für energetische und nichten-ergetische Rohstoffe. Die wachsende Lücke zwischenAngebot und Nachfrage führt zu teilweise erheblichenPreissteigerungen, die den Erhalt eines Sockelbergbauswirtschaftlich machen könnten.Zu ProtokollDas von EU-Kommissar Oettinger vorgeschlagene„deutliche Zeichen aus Deutschland …, dass 2018 end-gültig Schluss ist mit den Beihilfen“, werten wir aller-dings als ein Signal dafür, dass die Revisionsklausel inBrüssel bereits auf der Kippe steht. Die Regierung hatden Karren so weit vor die Wand gefahren, dass die un-ter massivem Handlungsdruck stehenden Beteiligten,aber auch die Betroffenen, am Ende sogar bereit seinwerden, auf die Revisionsklausel zu verzichten, um nochschlimmeres Übel zu verhindern. Denn letztlich wird esdarum gehen, die Sozialverträglichkeit eines Auslauf-pfads bis 2018 zu wahren und die Finanzierungsbasisvon RAG-Stiftung und der heutigen Evonik IndustriesAG nicht zu gefährden.Als SPD-Fraktion stehen wir zu den im Steinkohlefi-nanzierungsgesetz verankerten Vereinbarungen. DerSteinkohlekompromiss darf weder der Haushaltskonso-lidierung geopfert noch gegen den Klimaschutz ausge-spielt werden. Die Gründe dafür habe ich bereits ge-nannt.Die Bundesregierung steht jetzt in der Pflicht, zu han-deln. Sie hat sich in eine äußerst heikle Lage gebracht,die erfordert, dass eine Nachfolgeregelung für die Ende2010 auslaufende Verordnung des Rates über staatlicheBeihilfen im Steinkohlebergbau unter erschwerten Be-dingungen und unter massivem Zeitdruck durchgesetztwird.Wir erwarten von der Bundeskanzlerin, dass sie in-nerhalb ihres Kabinetts zügig für eine einheitliche Liniesorgt und auf EU-Ebene mit allen Mitteln gegen einevorzeitige Beendigung der Steinkohlebeihilfen vorgeht.Es ist der Regierung nicht anzuraten, die Debatte umdie Zukunft der Kohleförderung wieder aufzumachen.Diesen Knoten hatten wir 2007 unter Beteiligung allerBetroffenen – der damaligen Bundesregierung und derLandesregierungen NRW und Saarland, der Industrie-gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und der RAGAG – gelöst. Die Steinkohlevereinbarung von 2007 darfnicht einfach aufgekündigt werden.Es ist absehbar, dass die Kanzlerin diesen Job MitteDezember auf dem Europäischen Rat selbst erledigenmuss. Wir erwarten, dass sie das durchsetzt, was wir inDeutschland beschlossen haben und was die Kommis-sion zwischenzeitlich schon einmal zu ihrer eigenenPolitik gemacht hatte.
Mit dem Kohlekompromiss ist 2007 in Deutschlanddas Auslaufen des subventionierten heimischen Stein-kohlebergbaus zum Ende des Jahres 2018 beschlossenworden.Damit wurden einvernehmlich zwei Ziele umgesetzt:Zum einen soll die Beendigung des Steinkohleabbaussozialverträglich erfolgen: Auf betriebsbedingte Kündi-gungen wird verzichtet.Zum anderen wird mit der Gründung der RAG-Stif-tung das Ziel verfolgt, Kapital anzusammeln, mit demdie sogenannten Ewigkeitskosten des Bergbaus bedient
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6968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenKlaus Breil
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werden. Gemeint sind hier die Kosten für Maßnahmen,die für die Nachsorge eines Bergwerkes nötig sind: Vorallem Wasserhaltung und Versorgung der betroffenenFlächen.So wurde ein richtungsweisender Anpassungsprozessermöglicht. Mithilfe aller zur Verfügung stehenden so-zial- und personalpolitischen Instrumente werden dieKonsequenzen des Ausstiegs für die Bergleute aufgefan-gen. Zudem sollen die betroffenen „Kohlerückzugs-gebiete“ ausreichend Zeit haben, die regionalökono-mischen Folgen eines Auslaufbergbaus abzufedern. DieVorgaben dieses Rahmens werden seit Jahren nun unter-nehmerisch schrittweise umgesetzt. Darüber hinauswurde beschlossen, die Option auf den Erhalt eines So-ckelbergbaus offen zu halten – will heißen, dass derDeutsche Bundestag den Auslaufbeschluss im Jahr 2012revidieren kann.Dies alles haben wir Ende 2007, Anfang 2008 durchdas neue Steinkohlefinanzierungsgesetz und ein beglei-tendes Vertragswerk rechtlich fixiert. Bedeutsam dabeiist, dass hier in einmaliger Weise das Ende einer Sub-ventionierung im industriellen Bereich beschlossenwurde. Man tauschte Subventionen gegen soziale Si-cherheit und wurde sich einig.Hier sollten wir – meine ich – einen Moment innehal-ten und uns darüber klar werden, welche paradigmati-sche Ausstrahlung von diesem Kompromiss ausgeht. Zu-dem möchte ich einen berühmten und unvergessenenPolitiker aus meinem Wahlkreis zitieren, der den altenrömischen Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ inden Mittelpunkt einer politischen Diskussion rückte: Esging seinerzeit um die Ostverträge. Diese mündetendann bekanntlich in der deutschen Wiedervereinigung.Auch wir sollten an geschlossenen Verträgen festhalten!Der nun vorliegende EU-Verordnungsvorschlagwurde Ende September dieses Jahres in der Ratsarbeits-gruppe Wettbewerb auf Fachebene beraten. Zur Diskus-sion steht, Subventionen für nicht wettbewerbsfähige eu-ropäische Steinkohlebergwerke bereits 2014 auslaufenzu lassen. Festzuhalten ist dabei, dass es bisher bei wei-tem keine europäische Einigkeit hinsichtlich eines End-datums für diese Betriebsbeihilfen gibt. Sehr dankbarbin ich diesbezüglich, dass die Bundesregierung allesunternimmt, hier eine einvernehmliche Lösung zu fin-den. Sie hat in diesem Zusammenhang auf den deutschenSteinkohlekompromiss hingewiesen und einen Prüfvor-behalt zur Frage des Enddatums eingelegt.Auch unser EU-Energiekommissar GüntherOettinger lässt positiv aufhorchen, wenn er in der Presseverlautbaren lässt: „Für die deutschen Kumpel ist nochnicht Schicht im Schacht“. Seinen Hinweis, es gebe guteArgumente für die Kohleförderung bis 2018 – vor allemwenn der Ausstieg zum besagten Datum glaubwürdig ist –,sollten wir auf jeden Fall sehr ernst nehmen. Insofernliegt es insbesondere an uns, deutliche Zeichen zu set-zen, dass 2018 auch wirklich Schluss ist:Wir sind also wieder beim „pacta sunt servanda“.Der Einwurf des SPD-Antrages, einen SockelbergbauZu Protokollauch nach 2018 betreiben zu wollen, ist hier mehr alskontraproduktiv und schädlich.Gleichwohl liegt es bei den Mitgliedstaaten der EUund beim Europäischen Parlament, eine gangbare Eini-gung zu finden. Und wir können nicht die EuropäischeEinigung allseits fordern, bei konkreten Maßnahmenaber behaupten, dies ginge uns nichts an, oder wie esder Antrag der Linken fordert, unseren nationalen Ver-trägen auf der EU-Ebene – gefälligsterweise – Geltungzu verschaffen.Anders sieht es da bei dem Antrag der Grünen aus:Sie stehen zum Ausstieg 2018, zumindest im Bund. InNRW allerdings sieht für die Grünen die Sache wiedereinmal ganz anders aus. Hier zeigt sich ihre janusköp-fige Gesinnung: Vorne „hü“, hinten „hott“! Will dochder rot-grüne Regierungspakt in NRW nichts Geringe-res, als dass die Optionen auf Beendigung und Fort-setzung der Steinkohleförderung gleichberechtigt beiweiteren Aktivitäten und Planungen des Bergbaues bei-behalten werden.Für die FDP liegt die Situation eindeutig auf derHand – die Entscheidungsträger sind klar benannt.Diesbezügliche Anträge erübrigen sich. Auch deshalblehnen wir diese ab. Sollte nun die EU aber das Auslau-fen der Beihilfen für 2014 vorgeben, wird die christlich-liberale Koalition die Kumpel nicht im Regen stehen las-sen.
Es handelt sich um eine Premiere: Die Linke im Bun-destag bringt heute einen CDU-Antrag aus dem LandtagNRW ein, der dort mit den Stimmen von CDU, SPD,Grünen und Linken verabschiedet wurde. Nur die FDPsprach sich im Landtag dagegen aus, am Steinkohle-kompromiss festzuhalten, und nimmt damit Massenent-lassungen bei den Bergleuten in Kauf. Die Bergleute ha-ben letzte Woche machtvoll in Brüssel demonstriert.Mittlerweile gibt es klare Beschlüsse des Bundesrates,und gestern hat auch der DGB noch einmal das Festhal-ten am Steinkohlekompromiss gefordert.Die Vorgänge um das Steinkohlefinanzierungsgesetzzeigen nicht nur die Inkompetenz der Bundesregierungbei der Interessenvertretung in den europäischen Insti-tutionen. Sie zeigen auch zum wiederholten Male dieIgnoranz des Bundeswirtschaftsministers gegenüberdem wirtschaftlichen Strukturwandel und der Bedeutungvon Industriearbeitsplätzen, wobei Nordrhein-Westfalenstets besonders schlecht wegkommt. Herr Brüderle nutztdas jahrelange europarechtliche Vakuum, das die Bun-desregierung geschaffen hat, um sich über die deutscheGesetzeslage hinwegzusetzen. Das ist ein seltsames De-mokratieverständnis und das ist ein weiterer Schlag insGesicht der Bergleute.Der über Jahrzehnte für NRW und das Saarland prä-gende Bergbau und seine Zulieferer brauchen die Zeitbis 2018, um den Strukturwandel zu schaffen. Die Linkeim Bundestag will diesen Strukturwandel ohne Entlas-sungen bewältigen. Die Linke will die ökologischen Alt-lasten des Bergbaus verantwortlich und möglichst ohne
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6969
gegebene RedenUlla Lötzer
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weitere Belastung der öffentlichen Kassen in Bund undLändern angehen. Das ist eine gesamtgesellschaftlicheund strukturpolitische Aufgabe, denn die Wirtschaftsge-schichte Deutschlands war nun einmal lange von Stein-kohle, Koks, Eisen und Stahl geprägt. Der notwendigeÜbergang zu nichtfossilen Energieträgern muss sozial-verträglich erfolgen, der Übergang zur nachhaltigenProduktion muss die Facharbeiterinnen und Facharbei-ter und die Ingenieurinnen und Ingenieure mitnehmenund darf sie nicht auf die Straße setzen.EU-Kommissar Oettinger erklärte vorgestern, es seinoch nicht Schicht im Schacht; er sehe gute Chancen füreine Verlängerung der Steinkohlesubvention bis 2018.Umso wichtiger wäre eine gemeinsame Erklärung allerFraktionen im deutschen Bundestag, sich hinter die Ver-einbarungen im Steinkohlekompromiss zu stellen und eindeutliches Signal nach Brüssel zu geben. Ich wollte ih-nen gestern im Ausschuss die Möglichkeit dazu mit demverabschiedeten Antrag aus NRW geben. Stattdessen istdie CDU im Ausschuss aus Koalitionsdisziplin und Par-teiinteressen eingeknickt. Zehntausende Bergleute inNRW und im Saarland hatten sich auf das Gesetz verlas-sen. Es geht deshalb nicht nur um Kohlepolitik, es gehtum Vertragstreue und Verlässlichkeit der Demokratie.Die Schuld dafür trägt aber nicht zuerst die EU-Kom-mission, wie uns Herr Brüderle gerne glauben lassenmöchte. Die beiden Bundesregierungen und auchSchwarz-Gelb in NRW haben es in den letzten Jahrenverschlampt – anders kann man es nicht sagen –, dasGesetz auch europarechtlich abzusichern. Ex-Wirt-schaftsminister Glos hatte klugerweise bereits in derPresseerklärung vom 28. Dezember 2007 vermerkt:„Die Beihilfen stehen unter dem Vorbehalt der Geneh-migung durch die EU-Kommission. Die Bundesregie-rung hat das gesamte Auslaufpaket mit einer konkretenPlanung für die bis zum Ende des Jahres 2018 stillzule-genden Steinkohlebergwerke bei der EU-Kommissionnotifiziert.“ Und was ist danach passiert? Offensichtlichnichts, bis die EU-Kommission dann im Juli 2010 nacheiner Reihe von Konsultationen die Schließung derBergwerke für den 1. Oktober 2014 vorschlägt und da-mit die Beihilfen eben nicht bis 2018 notifiziert. Warumdann in der Regierungskoalition ein offener Konfliktzwischen dem zuständigen Wirtschaftsminister Brüderleund der Kanzlerin losbricht, ist hingegen mehr alsdurchschaubar. Wie schon im Falle Opel macht dieKanzlerin auf der innenpolitischen Bühne Zusagen, dieihr marktwirtschaftlicher Wirtschaftsminister einfachnicht umsetzt. Sogar das Handelsblatt schreibt wörtlich,dass Deutschland bei den Verhandlungen in Brüsselnicht das beste Bild abgegeben habe. Anstatt die Plänefür 2014 klar zu stoppen, legt der Wirtschaftsminister ei-nen schwächlichen Prüfvorbehalt ein. So weit zum skan-dalösen Agieren der Bundesregierung und, an vorders-ter Front mal wieder, des Bundeswirtschaftsministers.Wichtig bei dem Thema ist – und das sage ich vor al-lem an die Adresse von Herrn Trittin und den Grünen,die sich in ihrem Antrag mit der FDP verbünden –, dassdie Steinkohlebeihilfen nichts mit Kohlekraftwerken unddamit der Verstromung von Kohle zu tun haben. Keinesder längst überwiegend mit billiger Importkohle betrie-Zu Protokollbenen Steinkohlekraftwerke ginge auch nur einen Tagfrüher vom Netz, wenn sich die EU mit ihrer Kahlschlag-politik durchsetzt. Wer von Kanzlerschaft träumt, dersollte zumindest einen Grundkurs in sozialer Verantwor-tung belegen. Ich empfehle zur innergrünen Weiterbil-dung dazu die Rede des Fraktionsvorsitzenden der Grü-nen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, RainerPriggen. Die Steinkohlebeihilfen können ein wichtigerBaustein sein, um die Energiewende hin zu regenerati-ven Energieträgern sozialverträglich, das heißt ohneMassenentlassungen, zu organisieren. Das ist zukunfts-fähige Industriepolitik auch für die Zulieferer und nichtwie bei den Grünen so oft einfach Marktgläubigkeit undbloße Hoffung auf große Exportoffensiven für neueTechnologien.Die Linke im Bundestag lehnt jeden Kuhhandel mitBrüssel ab. Die Revisionsklausel steht nicht zur Debatte.Schauen Sie sich doch einmal an, wie die Kokspreise inden letzten Monaten gestiegen sind. Fragen sie docheinmal nach bei den Zechen, wie begehrt das technolo-gische Know-how weltweit ist. Wir fordern in den nächs-ten Wochen ein deutliches, abgestimmtes Auftreten derBundesregierung in Brüssel mit dem Ziel, Massenent-lasssungen im Bergbau zu verhindern. Das deutscheSteinkohlefinanzierungsgesetz muss endlich europa-rechtlich abgesichert werden. Die Kanzlerin muss end-lich von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen.Der deutsche EU-Kommisar muss endlich aufhören,schwäbisch zu schwätzen und handeln. Eine gemein-same Erklärung im Parlament wäre ein guter Schrittdorthin. Deshalb fordere Sie alle auf, ihre Entscheidungim Wirtschaftsausschuss zu revidieren und dem Antragzuzustimmen.
Mal ehrlich: Es gibt eine Debatte über den Steinkoh-lebergbau, und die antragstellende SPD lässt zu Proto-koll geben. Früher hätten Sie das zur Kernzeit gemachtund die Bergleute zur Demo herangekarrt. Ist das einweiteres Indiz, dass die SPD bei ihrem Traditionsthemalangsam, aber sicher in der Realität ankommt? Der Sa-che wäre es zu wünschen.Aber der Reihe nach. Es ist gut, dass die Debatte derEU-Kommission am 20. Juli dieses Jahres über dasEnde der Steinkohlesubventionen in Deutschland einegroße Diskussion ausgelöst hat. Das war überfällig. Wirbrauchen in Deutschland endlich eine definitive Ent-scheidung, wann Schluss ist mit dem subventioniertenSteinkohlebergbau.Auch der zuständige deutsche EU-EnergiekommissarGünther Oettinger scheint die Bedeutung des Themaserkannt zu haben. Noch im Juli glänzte er mit Abwesen-heit bei der entscheidenden Sitzung der EU-Kommissionund schien die Bedeutung des Themas völlig falsch ein-geschätzt zu haben. Dass so etwas passiert, ist einedesolate Handwerksleistung der Bundesregierung. Of-fensichtlich ist die Brisanz des Themas in der Bundesre-gierung überhaupt nicht präsent – frei nach dem Motto:Die EU wird schon tun, was Deutschland will. Ein
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6970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenOliver Krischer
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schlimme Fehleinschätzung und eine Arroganz gegen-über den europäischen Institutionen.Immerhin fand jetzt Herr Oettinger – fast drei Monatenach der Kommissionsentscheidung – in einem Zei-tungsinterview klare Worte: Er spricht sich für das Vor-ziehen der Revisionsklausel im Steinkohlebeihilfenge-setz noch in diesem Jahr aus und fordert das definitiveEnde der Steinkohlesubventionen bis 2018.Wir begrüßen diese Linie von Herrn Oettinger. Beider Steinkohle ist er auf dem richtigen Weg. Genau dassagt auch der Antrag der grünen Bundestagsfraktion,der heute zur Abstimmung steht. Und wenn wir es schaf-fen, sozialverträglich und ohne zusätzliche Kosten auchschon vor 2018 aus dem subventionierten Bergbau he-rauszukommen, umso besser.Die Debatte zeigt, dass Deutschland offensichtlichden Druck aus Brüssel braucht, um sich endgültig vonder teuren und schädlichen Subventionierung des Stein-kohlebergbaus zu verabschieden.Im Jahr 2007 hatten sich die damalige Große Koali-tion im Bund, die Länder, RAG und IG BCE auf eine Be-endigung des subventionierten Steinkohlebergbaus biszum Jahr 2018 geeinigt. Zwischen 2007 und 2018 sollendemnach 13,9 Milliarden Euro Subventionen für denSteinkohlebergbau bereitstehen. Insgesamt arbeiten inden letzten fünf Zechen noch 25 000 Beschäftigte. Diedamalige Bundesregierung und auch die damaligeschwarz-gelbe Landesregierung in NRW haben es dabeijedoch versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungs-gesetz von 2007 auch europarechtlich abzusichern – ob-wohl es vonseiten der EU-Kommission eine Zustimmungfür ein Fortführen der Subventionen nur bis 2011 gab.Die Haltung, die EU wird schon tun, was Deutschlandsagt, rächt sich nun. 2014 ist angesichts dessen schonein Entgegenkommen der EU-Kommission.Das Datum 2014 wirft in Deutschland jedoch auchProbleme auf. Denn es bedeutet, dass die bis heute ver-bliebenen fünf Bergwerke mit über 25 000 Beschäftigtenin nur vier Jahren geschlossen werden müssen, mit allden Konsequenzen für die Beschäftigten. Ob diesesüberhaupt praktisch umsetzbar ist und im Ergebnis fürdie öffentliche Hand billiger wird, erscheint angesichtsder notwendigen Kosten zur Gewährleistung der Sozial-verträglichkeit zumindest fraglich. Die Verantwortungfür die Verunsicherung der Bergleute und der betroffe-nen Kommunen trägt damit die Bundesregierung, diesich vorwerfen lassen muss, hier fahrlässig untätig ge-wesen zu sein. Anstatt sich zunächst um einen Konsensmit der Kommission und eine Mehrheit im Rat zu küm-mern, wurde nach dem Motto geplant: Europa hat das zuakzeptieren, was Deutschland entscheidet. Die Empfeh-lung der EU-Kommission, die Steinkohlesubventionen2014 auslaufen zu lassen, ist aus Sicht anderer Länderbereits ein Kompromiss. Die jetzige EU-Regelung siehtlediglich eine Beihilfe bis zum 31. Dezember 2010 vor.Wir diskutieren heute hier über den sozialverträgli-chen Ausstieg aus den Steinkohlesubventionen, der nichtnur ökonomisch, sondern auch ökologisch sinnvoll er-scheint. Doch der heute zur Abstimmung stehende An-Zu Protokolltrag der SPD „Die Steinkohlevereinbarung gilt“ ist da-bei ein Schritt in die falsche Richtung. Die Forderungdes Sockelbergbaus konterkariert den vereinbarten Aus-stieg aus den Steinkohlesubventionen und die damit ver-bundene Entlastung für den Steuerzahler. Diese Positionist nicht realitätstauglich; denn der deutsche Steinkohle-bergbau ist aufgrund der immer schwieriger werdendengeologischen Verhältnisse in den Lagerstätten meilen-weit davon entfernt, zu Weltmarktpreisen produzieren zukönnen. Es ist angesichts der Lage der öffentlichenHaushalte unverantwortlich, einen dauerhaften steuer-finanzierten Sockelbergbau zu wollen, der zudem immerneue Alt- und Ewigkeitslasten produziert, wo wir schonheute nicht sicher sein können, ob die Mittel der RAG-Stiftung zur Finanzierung der bis heute aufgelaufen Alt-und Ewigkeitslasten ausreichen.Der Antrag, den die Linken hier stellen, ist im We-sentlichen der Beschluss des Landtags NRW auf Antragvon CDU, SPD und Grünen. Es ist ihr gutes Recht, wennauch nicht gerade ein feiner Stil, ohne Hinweis auf dieUrheberschaft hier die breit getragenen Beschlüsse an-derer Parlamente einzubringen, die naturgemäß Kom-promisse sind. Deshalb werden wir uns deshalb bei die-sem Antrag enthalten.Ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-ken, wäre es, wenn Sie hier auch Ihren Entschließungs-antrag aus dem Landtag von NRW eingebracht hätten.Die Linken im Landtag von NRW fordern nämlich nochoffener als die SPD einen steuerfinanzierten nationalenSteinkohlesockel. Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen der Linksfraktion: Wem soll man denn nun Glaubenschenken? Mit Ihrem heute zur Abstimmung vorliegen-den Antrag machen Sie sich unglaubwürdig. Sagen Sieuns die Positionen der Linken im Bundestag: Wollen Siewie Ihre Kollegen in NRW einen nationalen Steinkohle-sockel?Wie schon erwähnt, begrüßen wir die Positionierungdes Energiekommissars Oettinger zum Ausstieg aus denSteinkohlebeihilfen. Unser Antrag „SubventioniertenSteinkohlebergbau sozialverträglich beenden“, derheute zur Abstimmung steht, entspricht im Kern genaudieser Position. Diesem Antrag zuzustimmen und damitein Signal in Richtung EU zu senden, dass spätestens2018 mit dem Steinkohlebergbau Schluss ist und die Re-visionsklausel fällt, wäre genau das, was alle Beteiligtenbrauchen, um das Problem zu lösen. Die Anträge vonSPD und Linken sind da keine Hilfe.Von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktio-nen erwarten wir, dass sie dann schnell darangehen, diedeutsche Rechtslage endlich in Übereinstimmung mitden Rechtsgrundlagen der Europäischen Union zu brin-gen. Das heißt: endgültiger Schluss spätestens 2018 undernsthafte Überprüfung, ob nicht auch ein früherer Aus-stieg möglich ist. Dies würde auch ein Ende der reali-tätsfremden Träumereien von SPD und Linken voneinem sogenannten dauerhaft steuerfinanzierten natio-nalen Steinkohlesockel bedeuten. Vor allem aber dürfendurch einen fortgesetzten Bergbau über 2018 hinausnicht immer neue und zusätzliche Altlasten und Ewig-keitskosten produziert werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6971
gegebene Reden
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6972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf der Drucksache 17/3231.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
SPD-Fraktion auf Drucksache 17/3043 mit dem Titel
„Die Steinkohlevereinbarung gilt“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit der
Mehrheit der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3044 mit dem Ti-
tel „Für einen geordneten und sozialverträglichen Aus-
stieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 17/3201 mit dem Titel „Sub-
ventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich been-
den“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mehrheitlich
abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens
einstellen – Militärische Zusammenarbeit be-
enden – Atomwaffenfreie Zone befördern
– Drucksache 17/2481 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Joachim
Hörster, Roderich Kiesewetter, Heidemarie Wieczorek-
Zeul, Christoph Schnurr, Wolfgang Gehrcke und Katja
Keul werden zu Protokoll gegeben.
Der Antrag der Fraktion Die Linke liefert keine
neuen Erkenntnisse und übersieht meines Erachtens ei-
nen entscheidenden Punkt, nicht durch den Stopp von
Rüstungsexporten wird ein tragfähiges Sicherheits- und
Friedenskonzept für den Nahen Osten auf den Weg ge-
bracht, sondern nur durch den Willen der Konfliktpar-
teien, sich zum Frieden zu bekennen und ihn auch durch-
setzen zu wollen.
Des Weiteren halte ich die offenkundig einseitigen
Forderungen bezogen auf den Staat Israel, gerade vor
dem Hintergrund der besonderen Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel sowie der historischen Verant-
wortung Deutschlands, für nicht vertretbar. Die beson-
deren Beziehungen zwischen Deutschland und Israel
sind ein tragender Pfeiler der deutschen Außenpolitik.
Eine Aufkündigung der Zusammenarbeit hätte weitrei-
chende und nachteilige Folgen für das Gleichgewicht in
der Region des Nahen Ostens, insbesondere bei der fort-
schreitenden Aufrüstung des Irans und der von ihm
angestrebten Profilierung als Hegemonialmacht. Die
unerträglichen verbalen Angriffe des iranischen Präsi-
denten Ahmadinedschad gegenüber Israel müssen
höchste Wachsamkeit auslösen.
Mögliche Szenarien eines mit Nuklearwaffen ausge-
statteten Iran waren Inhalt einer vor kurzem in Berlin
abgehaltenen Konferenz des Aspen-Instituts. Dabei
wurde festgestellt, dass sich die Machtgeometrie der
Welt insgesamt verändern würde, wenn der Iran seine
möglicherweise dann atomar bestückten Trägerraketen
gegen die benachbarten Araber und Israelis, die USA
oder gegen Europa richtet. Infolge wäre der Atomwaf-
fensperrvertrag nur ein nutzloses Stück Papier, und ein
nukleares Wettrüsten in den dem Iran benachbarten ara-
bischen Staaten würde einsetzten. Auf der anderen Seite
ist nicht davon auszugehen, dass das Regime im Iran in
absehbarer Zeit ein Testverbot von Nuklearwaffen ratifi-
zieren wird. Die gesamte arabische und westliche Welt
ist deshalb in großer Sorge und aufs Äußerste darauf be-
dacht, eine dauerhafte und sichere Lösung des Konfliktes
herbeizuführen. Aus diesem Grund ist es sehr zu begrü-
ßen, dass die Bundesregierung trotz der Ausführungen
des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad auf der
diesjährigen UN-Vollversammlung in New York weiter-
hin auf einen offenen Dialog mit dem Iran setzt und sich
auch die NATO in ihrem neuen Strategiekonzept für eine
Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit der
iranischen Führung ausspricht.
Die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen
Osten, die auf ägyptische Initiative seit 1974 betrieben
wird und die seit 1990 auf das von der Bundesregierung
unterstützte Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien
Zone Naher Osten erweitert wurde – „Mubarak-Initia-
tive“ –, kam angesichts der Lage in der Region auch
2009 nicht voran. Sowohl in der Internationalen Atom-
energie-Organisation als auch im NVV-Überprüfungs-
prozess – NVV: Vertrag über die Nichtverbreitung von
Kernwaffen – drängen die arabischen Staaten, und hier
vor allem Ägypten, mit zunehmender Vehemenz auf Fort-
schritte, während Israel weiterhin auf eine zuvor erfor-
derliche Friedenslösung verweist. Die 8. Überprüfungs-
konferenz, die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York
tagte, hat sich erstmals seit dem Jahr 2000 wieder im
Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt, das ei-
nen vorwärtsschauenden Aktionsplan mit konkreten
Schritten zu allen drei Pfeilern des Vertrags – nukleare
Abrüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung –
sowie zur Schaffung einer von Kernwaffen und anderen
Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen Osten
enthält.
Die Bundesregierung ihrerseits übt neben einer kon-
fliktlösenden Außenpolitik eine verantwortungsvolle
Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexporten aus. Sie
entscheidet im jeweiligen Einzelfall nach einer sorgfälti-
gen Prüfung unter Berücksichtigung aller vorliegenden
Joachim Hörster
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(B)
Umstände. Grundlage dafür sind die „Politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom
19. Januar 2000 und der Verhaltenskodex der EU vom
8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame
Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat
verabschiedet wurde. Wesentlicher Bestandteil der Poli-
tischen Grundsätze ist die rechtliche Regelung des deut-
schen Rüstungsexportes durch das Grundgesetz, das Ge-
setz über die Kontrolle von Kriegswaffen und das
Außenwirtschaftsgesetz in Verbindung mit der Außen-
wirtschaftsverordnung. Wichtige Kriterien jeder Ent-
scheidung sind dabei die Konfliktprävention sowie die
Kriegsgefährdung in der jeweiligen Region.
Von einer akuten Kriegsgefährdung, welche alle ara-
bischen Staaten des Nahen Ostens einschließt, ist nicht
auszugehen, da gerade auch die arabische Seite erkannt
hat, dass ein Frieden in der Region nur durch eine aktive
Beteiligung bei der Lösung des Nahostkonfliktes zu er-
reichen ist. Das beste Beispiel ist die Friedensinitiative
aus dem Jahr 2002, auf die ich mich in jeder meiner Re-
den zur Lösung des Nahostkonfliktes beziehe. Diese Ini-
tiative kann zum Erfolg führen, denn sie ist nicht vom
Westen übergestülpt.
Der damalige saudische Kronprinz und heutige sau-
dische König Abdallah präsentierte im Jahr 2002 beim
Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut einen Frie-
densplan, der entscheidende Neuerungen zu allen frühe-
ren Erklärungen erkennen ließ. Der Plan sieht vor, dass
Israel sich vollständig aus allen 1967 besetzten Gebie-
ten zurückzieht: dem Westjordanland, dem Gaza-Strei-
fen und Ostjerusalem. Dort soll ein unabhängiger
Palästinenserstaat mit Ostjerusalem als Hauptstadt ge-
gründet werden. Was die im Krieg von 1948 aus dem
heutigen Israel vertriebenen Araber angeht, soll eine
„faire Lösung“ für die Rückkehr in ihre Heimat gefun-
den werden. Jeder weiß, dass eine Rückkehr in das heu-
tige Israel ausgeschlossen ist, da dies den Staat Israel in
seinen Fundamenten zerstören würde. Aber eine „faire
Lösung“ eröffnet auch andere Möglichkeiten als Rück-
führung. Jedenfalls steht das Existenzrecht des Staates
Israel für uns alle in diesem hohen Hause außer Frage.
Der Abdallah-Friedensplan wurde auf verschiedenen
Gipfeltreffen im März und Juni 2007 in Riad und
Scharm-el-Scheich wiederbelebt und floss auch in die
Internationale Nahost-Friedenskonferenz in Annapolis
im November 2007 mit ein, wo die Verpflichtung der is-
raelischen und palästinensischen Behörden gegenüber
der internationalen Gemeinschaft zur Wiederaufnahme
über alle Fragen, die den Endstatus der palästinensi-
schen Gebiete betreffen, eingegangen wurde und die
Zweistaatenlösung in direkten Gesprächen innerhalb ei-
nes Jahres herbeigeführt werden sollte.
Aufgrund des Scheiterns der Annapolis-Gespräche
begrüße ich umso mehr das aktuelle Engagement der
Bundesregierung, die zusammen mit dem Nahost-Quar-
tett erstmals nach zwei Jahren wieder gemeinsame Ge-
spräche zwischen Israelis und Palästinensern initiieren
konnte. Seit dem 2. September 2010 fanden wieder di-
rekte Verhandlungen statt, in denen man sich darauf ver-
Zu Protokoll
ständigte, innerhalb von 12 Monaten ein Rahmenab-
kommen zu den Endstatusfragen zu erarbeiten. Eine
nachhaltige Lösung des Konflikts im Nahen Osten kann
nach deutscher und europäischer Auffassung nur in
einer Zweistaatenlösung und der Anerkennung Israels
durch seine arabischen Nachbarstaaten liegen. Ob die
Gespräche nach dem Ende des Siedlungsbaumoratori-
ums für das Westjordanland weitergehen, entscheidet
sich nach den Beratungen zwischen dem Palästinenser-
präsidenten Abbas und der Arabischen Liga in diesem
Monat.
Neue Bemühungen um innerpalästinensische Aussöh-
nung nach der Zurückweisung des letzten von Ägypten
vorgelegten Vermittlungsvorschlags durch die Hamas
2009 zeigen sich in den aktuellen Gesprächen im Sep-
tember 2010 zwischen Hamas-Führung und Fatah-De-
legation in Damaskus. Hamas-Chef Chalid Maschal
sagte dazu am 27. September: Beide Gruppen haben
„ernste und tatsächliche Schritte“ in Richtung Aussöh-
nung unternommen. Der Ausgang dieser Gespräche ist
offen.
Fest steht jedoch, dass die Bundesregierung bzw. die
EU auch weiterhin mit den regionalen Akteuren zusam-
menarbeiten muss, um auf eine dauerhafte und sichere
Lösung des Nahostkonfliktes hinzuwirken. In seiner Er-
klärung vom 21. September 2010 wies der Europäische
Rat auf Initiative Deutschlands ausdrücklich darauf hin,
dass „gerechter, dauerhafter und umfassender Friede im
Nahen Osten“ nur unter Einbindung der arabischen
Staaten möglich ist. In einer ausschließlich umfassenden
Friedensordnung liegt die Lösung der Konflikte im Na-
hen Osten.
Der Antrag der Linken ist nicht geeignet, den Frieden
in der Region auch nur einen Schritt näher zu bringen.
Das Bundeskabinett hat am 31. März 2010 den vomBundesminister für Wirtschaft und Technologie vorge-legten zehnten Bericht über die Exportpolitik für kon-ventionelle Rüstungsgüter der Bundesregierung für dasBerichtsjahr 2008 verabschiedet und dem Bundestag zu-geleitet. Hier wird deutlich:Genehmigungen wurden erst nach eingehender Prü-fung im Einzelfall erteilt und nachdem insbesondere si-chergestellt wurde, dass deutsche Rüstungsgüter nichtfür Menschenrechtsverletzungen missbraucht werdenoder zur Verschärfung von Krisen beitragen. Die Geneh-migungsentscheidungen richteten sich nach dem Ge-meinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren, derim Dezember 2008 verabschiedet wurde und den Verhal-tenskodex der EU zu Rüstungsexporten aktualisiert,ergänzt und rechtlich verbindlich gemacht hat. Fernergelten die teilweise noch strikteren Politischen Grund-sätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport von2000.Zu Israel und dem Nahen Osten kann für uns alsUnion Folgendes festgehalten werden: Israels legitimeSicherheitsinteressen müssen vollständig gewahrt wer-den. Deutschland hat in der Frage der Sicherheit Israels
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6973
gegebene RedenRoderich Kiesewetter
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eine historische Verpflichtung, eine besondere Verant-wortung gegenüber Israel als jüdischem Staat. Es istnach unserer tiefen Überzeugung Teil der deutschenStaatsräson, die Sicherheit des Staates Israel zu garan-tieren.Wie aus dem Jahresabrüstungsbericht 2009 hervor-geht, hat Israel seine militärischen Schwerpunkte aufden Kampf gegen den Terrorismus und die Bedrohungdurch Massenvernichtungswaffen gesetzt. Drei vorran-gige Ziele wurden definiert: Steigerung der taktischenund strategischen Aufklärungsfähigkeit, Verbesserungder Präzision der Waffensysteme, vor allem im Bereichder Landstreitkräfte, und Digitalisierung sowie Be-fähigung zur vernetzten Operationsführung der Land-streitkräfte. Ferner ist Israel auch an dem Erwerb vonAbwehrsystemen für den Einsatz gegen ballistischeFlugkörper kurzer Reichweite interessiert.Der zugrunde liegende Konflikt, der auch zu stetigenRüstungsimporten in der gesamten Region führt, kannnur durch einen politischen Prozess auf der Grundlageder Roadmap, den Initiativen des Nahost-Quartetts undder arabischen Friedensinitiative gelöst werden. Nur sokann ein tragfähiger Frieden im Nahen Osten erreichtwerden. Wir fordern daher die Bunderegierung auf, dievon den USA initiierten „Proximity Talks“ zu unterstüt-zen und sich gegenüber Israel und den Palästinenserndafür einzusetzen, dass beide diese konstruktiv führen,damit eine rasche Aufnahme direkter Friedensgesprä-che mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung möglichwird.Deutschland ist an Israels Seite. Der Iran missachtetseit Jahren die Auflagen des Sicherheitsrates der Verein-ten Nationen und der Internationalen Atomenergie-Or-ganisation. Das Land schafft keine Transparenz übersein Atomprogramm. Die Resolution des Sicherheitsra-tes zum iranischen Atomprogramm ist eine klare undausgewogene Antwort auf die anhaltende Weigerung desIran, die Zweifel an der friedlichen Natur seines Atom-programms auszuräumen. Dabei hatte die Staatenge-meinschaft dem Iran über einen langen Zeitraum hinwegimmer wieder die Möglichkeit gegeben, Klarheit zuschaffen.Als Partner und als Freunde Israels haben wir Deut-sche vor dem Hintergrund der Drohgebärden des Iran indieser Frage eine ganz besondere Verantwortung. DieResolution ist ein deutliches Signal der internationalenGemeinschaft, dass eine atomare Bewaffnung des Irannicht akzeptabel ist. Die Resolution richtet sich nicht ge-gen die Menschen im Iran, sondern gegen die staatli-chen Träger des Nuklearprogramms.Unser aller Ziel bleibt aber eine diplomatische Lö-sung. Die Tür für Zusammenarbeit und Transparenz istweiter offen. Es ist jetzt an der Zeit, dass alle Staaten desNahen Ostens endlich ihrer Verantwortung gerecht wer-den und zur Entspannung beitragen.Die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York tagende8. Konferenz der Vertragsparteien zur Überprüfung desVertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen hatZu Protokollsich im Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt.Ein vorausschauender Aktionsplan mit konkreten Schrit-ten zu allen drei Pfeilern des Vertrags – nukleare Ab-rüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung derKernenergie – sowie zur Schaffung einer von Kernwaf-fen freien Zone im Nahen Osten ist das Ergebnis.Dieser Erfolg stärkt den NVV als Fundament der in-ternationalen Nichtverbreitungs- und Abrüstungsarchi-tektur und überwindet die infolge der gescheitertenÜberprüfungskonferenz von 2005 und Belastung desNVV durch Proliferationsfälle eingetretene Stagnation.Das Ergebnis war angesichts erheblicher inhaltlicherPositionsunterschiede unter den Teilnehmern und Belas-tung durch die Entwicklungen im Iran bis zum letztenMoment offen. Der Abschluss eines neuen START-Ver-trags im April und die Ankündigung zur Offenlegung desUS-Nukleararsenals durch Außenministerin Clinton zuKonferenzbeginn trugen jedoch zu einer sachorientier-ten Debatte bei.Wichtige Elemente des Aktionsplans und damit auchfür die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im NahenOsten sind die klare Zielsetzung der vollständigen Ab-schaffung aller Kernwaffen unter Einbeziehung allerArten von Nuklearwaffen in den weiteren Abrüstungs-prozess sowie das Bekenntnis zur Reduzierung der Rollevon Kernwaffen in den Sicherheitsstrategien der Kern-waffenstaaten.Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg derÜberprüfungskonferenz war die Einigung zur Ingangset-zung eines Prozesses, die – vor allem von den arabischenStaaten angemahnte – Verpflichtung der Verlängerungs-konferenz von 1995 zur Schaffung einer massenvernich-tungswaffenfreien Zone Nahost konkret anzugehen. Aneiner unter anderem vom Generalsekretär der VereintenNationen 2012 auszurichtenden Konferenz sollen alleStaaten der Region teilnehmen.Die EU hat mit dem erstmaligen Auftritt der HohenRepräsentantin Catherine Ashton in der Generaldebattesowie den erfolgreich arbeitenden Vorsitzenden derUnterausschüsse zu nuklearer Abrüstung und zur Nah-ost-Frage Profil gezeigt. Zentrale Forderungen aus demzur Überprüfungskonferenz verabschiedeten EU-Stand-punkt und dem darin auf Initiative Deutschlands hin ver-ankerten Prioritätenkatalog konnten umgesetzt werden.Deutschland hat sich stark für Präsenz und geschlosse-nes Auftreten der EU eingesetzt, ein wirksamer diploma-tischer Erfolg für unser Land. Die deutsche Delegationhat auch in der schwierigen Endphase der Verhandlun-gen zum Konferenzerfolg beigetragen.Langfristig sollten wir gemeinsam mit unseren Part-nern intensiv an einer massenvernichtungswaffenfreienZone im Nahen Osten arbeiten. Die Unterstützung der is-raelischen konventionellen Verteidigungsfähigkeit liegtallerdings in unserem ureigensten sicherheitspolitischenInteresse; deshalb lehnen wir den Antrag der FraktionDie Linke „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Os-tens einstellen – Militärische Zusammenarbeit beenden –Atomwaffenfreie Zone befördern“ ab.
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6974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene Reden
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Viele der Beschlusspunkte des Antrags teilen wir
nicht. Ich möchte aber die Beratung des Antrags in ers-
ter Beratung zum Anlass für zwei grundlegende Bemer-
kungen zur Frage der Genehmigungspraxis für Waffen-
exporte und zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone
im Nahen Osten machen. Im schwarz-gelben Koalitions-
vertrag kündigt die Bundesregierung an, die Genehmi-
gungspraxis in der EU für Rüstungsgüter „auf hohem
Niveau harmonisieren“, „bürokratische Hemmnisse ab-
bauen“ und „Verfahren beschleunigen“ zu wollen.
Diese Aufweichung der politischen Grundsätze soll an-
geblich „faire Wettbewerbsbedingungen“ ermöglichen
und lässt eine gefährliche Steigerung der Rüstungs-
exporte befürchten. Als Maßgabe wird auch nur noch
von einer „verantwortungsbewussten“ und nicht mehr
von einer „restriktiven“ Genehmigungspolitik gespro-
chen. Damit besteht die Gefahr, dass die politischen
Grundsätze, die Frieden sichern und Gewaltprävention
ermöglichen sollen, schlicht übergangen beziehungs-
weise real ausgehöhlt werden.
Die notwendige Transparenz der Rüstungsexportpoli-
tik muss hergestellt werden, indem das Parlament nicht
nur nachträglich und auf verschlungene Weise über ge-
troffene Exportentscheidungen informiert wird. Die Mit-
wirkung des Deutschen Bundestages muss gestärkt
werden. Dies kann erreicht werden, indem Kriegswaf-
fenexporte gegenüber dem Auswärtigen Ausschuss und
dem Wirtschaftsausschuss offengelegt werden müssen
oder indem, nach dem Vorschlag der Gemeinsamen
Konferenz Kirche und Entwicklung der evangelischen
und katholischen Kirche , der Unterausschuss
„Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Ge-
nehmigungsverfahren einbezogen wird.
Vom 3. bis zum 28. Mai hat dieses Jahr in New York
die 8. Überprüfungskonferenz des Vertrages über die
Nichtverbreitung von Atomwaffen stattgefunden. Eines
der innovativsten Ergebnisse der Konferenz ist die For-
derung nach einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Os-
ten. Der UN-Generalsekretär erhält dazu den Auftrag,
einen Koordinator für eine von Nuklear- und allen ande-
ren Massenvernichtungswaffen freie Zone zu bestimmen.
Dieser Koordinator soll eine Konferenz der Staaten der
Region für 2012 vorbereiten. Außerdem wird im Be-
schluss der Friedensprozess im Nahen Osten begrüßt
und als ein Beitrag zur Schaffung einer kernwaffenfreien
Zone im Nahen Osten anerkannt. Die Bundesregierung
ist aufgefordert, diese Perspektiven nachhaltig und mit
eigenen Initiativen zu unterstützen.
Die Fraktion der Linken hat einen Antrag vorgelegt,der vorgeblich zur Verminderung der politischen Span-nungen im Nahen Osten die deutschen Rüstungsexportein die Region – insbesondere nach Israel – und die deut-sche Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbe-reich beenden will. Auch wenn das Ziel einer nachhalti-gen politischen Entspannung im Nahen Osten von allenFraktionen im Deutschen Bundestag geteilt wird, ist dervon der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzuZu Protokollvöllig ungeeignet. Wenn der Antrag suggeriert, dassdeutsche Rüstungsexporte in die Region, die sich insbe-sondere auf Israel fokussieren, zum arabisch-israeli-schen Konflikt beitrügen, ist dies völlig verfehlt.Lassen Sie mich daher zunächst einige grundsätzli-che Bemerkungen zur deutschen Rüstungsexportpolitikmachen. Danach möchte ich auf die Rolle deutscherRüstungsexporte in den Nahen Osten – insbesonderenach Israel – eingehen. Ferner werde ich einige Bemer-kungen machen zur Frage der Verbreitung von Massen-vernichtungswaffen in der Region. Ich werde schließenmit einigen grundsätzlichen Anmerkungen zur aktuellenSituation im Nahen Osten.Wie wir alle wissen, unterliegen deutsche Rüstungs-exporte neben den Vorgaben aus dem Außenwirtschafts-gesetz, dem Kriegswaffenkontrollgesetz und den Politi-schen Grundsätzen der Bundesregierung für den Exportvon Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern auchden Bestimmungen des Gemeinsamen Standpunktes derEU zu diesem Bereich.Die christlich-liberale Bundesregierung wird – wieauch die Vorgängerregierungen – insbesondere den Ex-port von Rüstungsgütern in Länder, die nicht Mitgliedder NATO und der Europäischen Union oder diesenLändern gleichstellt sind, weiterhin restriktiv handha-ben. Die Genehmigung für eine Ausfuhr wird, wennüberhaupt, nur nach intensiver Einzelfallprüfung erteiltwerden.Eben diesem Verfahren unterliegen auch Entschei-dungen über Rüstungsexporte in die Region des Nahenund Mittleren Ostens. Sie werden daher nur nach sorg-fältiger Abwägung der außen-, sicherheits- und mensch-rechtspolitischen Belange im Einzelfall getroffen.Deutschland hat als einer der weltweit größten Rüs-tungsexporteure eine besondere Verantwortung zu Zu-rückhaltung und Augenmaß, auch mit Blick auf einelangfristig angelegte Sicherheitspolitik.Im Hinblick insbesondere auf Israel möchte ich un-terstreichen, dass Deutschland vor dem Hintergrundseiner Geschichte eine besondere Verantwortung für dieExistenz und Sicherheit des Staates Israel hat. Deutsch-land hat sich stets offen zu dieser Verantwortung be-kannt. Daher ist diese deutsche Rolle auch von allenLändern der Region akzeptiert und bildet das Funda-ment für die hohe Glaubwürdigkeit, die Deutschland beiallen Konfliktparteien genießt.Diese deutsch-israelische Sonderbeziehung schließtein, dass Deutschland eine enge Zusammenarbeit mit Is-rael auch im Verteidigungsbereich betreibt. Der Antragder Linken berücksichtigt in keiner Weise diese Sonder-beziehungen, die Deutschland mit dem Staat Israelpflegt. Diesen Aspekt zu unterschlagen, ist schlicht un-verantwortlich und nicht redlich. Insbesondere aus die-sem Grund werden wir den Antrag ablehnen. Deutsch-land muss an seiner Verantwortung für die SicherheitIsraels festhalten und in diesem Zusammenhang auchden Export von Rüstungsgütern nach Israel fortsetzen.Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel möchteich jedoch noch die Bemerkung machen, dass dies keine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6975
gegebene RedenChristoph Schnurr
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Einbahnstraße ist. Auch Deutschland profitiert von derZusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbereich.Die in Israel hergestellten Drohnen, welche die Bundes-wehr nutzt, tragen wesentlich zur Verbesserung des La-gebildes der Bundeswehr in Afghanistan und somit zurErhöhung der Sicherheit unserer Soldatinnen und Sol-daten im Einsatzgebiet bei. Hierauf zu verzichten, wärerücksichtslos gegenüber der Bundeswehr.Der Antrag der Linken behandelt ferner Aspekte derVerbreitung von Massenvernichtungswaffen im NahenOsten. Diese Problematik ist in größerem Kontext zuanalysieren. Die Überprüfungskonferenz zum nuklearenNichtverbreitungsvertrag im vergangenen Mai war einelementarer Erfolg. Die Stärkung aller drei Säulen desVertrages – Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung undfriedliche Nutzung der Kernenergie – durch das einstim-mig verabschiedete Abschlussdokument ist ein wichtigerund zukunftsweisender Schritt auf dem Weg in eine Weltohne Kernwaffen.Das zentrale Vorhaben im Abschlussdokument ist dieInitiative zur Durchführung einer UN-Konferenz zurSchaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zoneim Nahen und Mittleren Osten. Die Bundesregierung hatdieses Ziel begrüßt, und ich bin überzeugt, dass der Bun-desaußenminister sich intensiv sowohl bilateral als auchim Rahmen der EU dafür einsetzen und daran arbeitenwird, dass alle Staaten in der Region an der Konferenzteilnehmen werden.Denn das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreienZone im Nahen und Mittleren Osten kann nur durch daskonstruktive Engagement und die Mitwirkung allerStaaten der Region – auch Israels – gelingen.Bereits die ersten Schritte zur Realisierung einer sol-chen Zone können vertrauensbildende Wirkung entfaltenund so einen Beitrag zur Stabilisierung und zum Abbauvon Spannungen in der Region leisten. Gerade deshalbmüssen wir uns dagegen verwahren, dass dieses wich-tige Vorhaben vonseiten Irans instrumentalisiert und zurAblenkung von der mangelnden Einhaltung seiner nicht-verbreitungspolitischen Verpflichtungen genutzt wird.Hier gilt es wachsam zu sein und nicht auf das Taktierenaus Teheran hereinzufallen.Grundsätzlich befindet sich der Friedensprozess imNahen Osten derzeit in einer entscheidenden Phase. Deroffene Dialog zwischen Israelis und Palästinensern überdie Modalitäten einer Zweistaatenlösung sind der ein-zige Weg, um zu einer nachhaltigen Friedenslösung zugelangen. Nur durch Kompromissbereitschaft auf beidenSeiten wird ein Ende der jahrelangen Gewaltspirale zubewerkstelligen sein. Dieser Verhandlungsprozess erfor-dert von allen Beteiligten Geduld, diplomatischesFingerspitzengefühl und guten Willen. Jetzt geht es un-mittelbar darum, nach dem Ende des israelischen Bau-stopps in der Westbank einen vorzeitigen Abbruch desgerade erst aufgenommenen direkten Gesprächsfadenszu verhindern. Hier wird Deutschland gemeinsam mitseinen europäischen Partnern seinen Anteil zur vertrau-ensvollen Vermittlung leisten. Auch vor diesem Hinter-grund ist der Antrag der Linken schädlich, denn erZu Protokollwürde die Verlässlichkeit der deutschen Politik in derRegion durch eine abrupte Kehrtwende gefährden.Zusammenfassend ist festzustellen, dass Deutschlandeine verantwortungsvolle und zurückhaltende Rüstungs-exportpolitik verfolgt. Dies gilt insbesondere für denspannungsgeladenen Nahen Osten. Im Verhältnis zu Is-rael verbindet uns eine vor dem Hintergrund unsererGeschichte gewachsene Sonderbeziehung, die sich auchauf den Sicherheitsbereich erstreckt. Diese infrage zustellen, wie die Linken es in ihrem Antrag vorschlagen,wäre in höchstem Maße unverantwortlich. Daher wer-den wir den Antrag ablehnen.
Wer Waffen in ein Spannungsgebiet liefert, zündelt aneinem brüchigen Frieden. Dass der Frieden im NahenOsten brüchig ist, wird niemand bestreiten. Verschie-denste Konflikte überlagern sich und bewegen sich ne-beneinander und gegeneinander. Es sind Konflikte inden Gesellschaften wie zum Beispiel in Ägypten, Jorda-nien, im Libanon, Iran, Irak und in vielen anderen Län-dern. Zunehmend werden solche Konflikte auch in derisraelischen Gesellschaft sichtbar. Es sind auch Kon-flikte zwischen Staaten, und es gibt Konflikte, die ausvergangenen Kriegen resultieren. Israel hält entgegenallen Beschlüssen der Vereinten Nationen noch immerpalästinensische Gebiete in der Westbank und in Jerusa-lem besetzt, die syrischen Golanhöhen oder das Gebietder Shabaa-Farm, das zum Libanon gehört. Die israeli-sche Besatzungspolitik ist ein Kern der Spannungen imNahen Osten.Die Linke verfolgt eine Politik, Spannungen abzu-bauen und im konkreten Fall durch eine Zwei-Staaten-Lösung zumindest ein geregeltes Nebeneinander vonIsrael und Palästina zu ermöglichen. Auch deshalb istunsere Forderung: keinerlei deutsche Waffenlieferungenin den Nahen Osten und Beendigung aller Formen mili-tärischer Zusammenarbeit mit Staaten in dieser Region!Dazu haben wir einen Vorschlag eingebracht.Wer Waffen liefert, das Geschäft mit dem Tod betreibt,ist ungeeignet als Vermittler. Deutschland kann vermit-teln. Deutschland könnte dazu beitragen, dass eine Ver-einbarung über Sicherheit und Frieden durch Koopera-tion zwischen den Staaten in Nahost zustande kommt.Unser Vorschlag für eine Konferenz über Sicherheit undZusammenarbeit im Nahen Osten ist nicht neu, aber erist richtig. Wer aber im Waffengeschäft steckt, ist un-tauglich, solche Vorschläge zu kommunizieren.Israel verlangt von der Palästinensischen Autono-miebehörde, die besetzten Gebiete zu entwaffnen. Abge-sehen davon, dass diese dazu gar nicht in der Lage ist,wäre ein vernünftiger Vorschlag aus meiner Sicht, einenVertrag über Gewaltverzicht mit klaren Schutzregeln fürdie ganze Region auf die Tagesordnung zu setzen. Da-rüber sollte nachgedacht und verhandelt werden. Weraber Waffen liefert, ist nicht glaubwürdig, wenn es umGewaltverzicht geht.Ein wichtiger Beschluss der UNO-Überprüfungskon-ferenz zum Atomwaffensperrvertrag aus dem Mai dieses
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6976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
gegebene RedenWolfgang Gehrcke
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Jahres ist der Vorschlag zu einer Konferenz über eineatomwaffenfreie Zone in Nahost. Die Linke will nicht,dass der Iran und andere Staaten zu Atomwaffen greifen,und wir wollen auch nicht, dass Israel an seinen Atom-waffen festhält. Es wäre wichtig, dass sich Deutschlandfür eine solche Konferenz einsetzt. Ein von Atomwaffenfreier Naher Osten ist der Weg, auch die Konflikte mitdem Iran zu lösen. Nicht Drohungen und Sanktionen,sondern Verhandlungen Schritt für Schritt helfen voran.Wie kann man aber glaubwürdig für ein anderes, nichtmilitärisches Sicherheitskonzept werben, wenn manselbst Waffen liefert bzw. Waffenlieferungen zulässt.Warum hat die deutsche Regierung nicht längst undganz deutlich dem US-Präsidenten gesagt, dass das ge-plante Waffengeschäft mit Saudi-Arabien in Höhe vonfast 20 Milliarden Dollar Rüstung im Nahen Osten neuankurbeln muss?Unser Antrag richtet sich an alle Konfliktparteien imNahen Osten. Oftmals wird Die Linke kritisiert, sie seieinseitig. Ja, diese Feststellung ist richtig. Wir sind ein-seitig – für Frieden, für Abrüstung und für Gerechtig-keit. Wir müssen uns zum Beispiel nicht entscheiden zwi-schen Israel und Palästina. Wir müssen uns aberentscheiden, Nein zu sagen, wenn vorhandene Spannun-gen durch immer neue Waffenlieferungen nur weiter an-geheizt werden. Der Nahe Osten braucht politische Lö-sungen und nicht immer neue Waffenexporte.
Niemand wird bestreiten, dass der Nahe Osten durcheinen Konflikt geprägt ist, der in seiner Komplexitätkaum zu übertreffen ist. Kein anderer Konflikt strahlt invergleichbarer Weise politisch und religiös so weit überdie betroffene Region hinaus. Mit mehr oder wenigerElan bemüht sich die internationale Gemeinschaft seitJahrzehnten um eine Verhandlungslösung. Einen nach-haltigen Erfolg konnte sie jedoch bisher nicht verzeich-nen. Mauern – ob real oder in den Köpfen – verhinderneine effektive Friedensregelung. Positiv zu bewerten ist,dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Obama derRegion wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen.In Abwesenheit eines neuen strategischen Ansatzes fürdie Wiederbelebung eines zielführenden Friedenspro-zesses ist ein Durchbruch jedoch noch nicht absehbar.Die Linke greift in ihrem Antrag unter anderem diewichtige Frage nach der Vertretbarkeit von Rüstungs-exporten in diese Region auf. Die Rüstungsexportrichtli-nien der Bundesregierung erlauben den Export von Rüs-tungsgütern in Länder, die weder EU- noch NATO-Mitglieder sind, also auch in den Nahen Osten nur, wenndie Belange der Sicherheit, des friedlichen Zusammenle-bens der Völker oder der auswärtigen Beziehung nichtgefährdet sind. Bei bewaffneten internen Auseinander-setzungen oder dem hinreichenden Verdacht, dass dieGüter für Menschenrechtsverletzungen oder innere Re-pression missbraucht werden, ist der Export von Rüs-tungsgütern jeder Art nicht genehmigungsfähig. Nochstrikter ist die Regelung für Kriegswaffen wie beispiels-weise U-Boote. Derartige Exporte sind nur im Einzelfallbei besonderen außen- oder sicherheitspolitischen Inte-ressen der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweiseZu Protokollgenehmigungsfähig. Wo bestehende Spannungen undKonflikte durch den Export aufrechterhalten oder ver-schärft werden oder der Ausbruch bewaffneter Aus-einandersetzungen droht, dürfen solche Waffen nur imSelbstverteidigungsfall nach Art. 51 der VN-Charta ge-liefert werden.Der Libanonkrieg 2006 und der Gazakrieg 2009 ha-ben deutlich gemacht, dass dies der Maßstab ist, der fürExporte in den Nahen Osten angewendet werden muss.Bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts darfund muss sich Israel auf Deutschlands Unterstützungverlassen können. Deutschland hat vor dem Hintergrundseiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegen-über dem Existenzrecht Israels und der Sicherheit seinerBürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet jedoch nicht,dass Deutschland alle Forderungen der israelischen Re-gierung erfüllen muss. Es gibt keine historische Ver-pflichtung, Israel aufzurüsten. Waffen können auch de-stabilisierend und langfristig gewaltfördernd wirken.Die Entscheidung über den Export von Rüstungsgü-tern in den Nahen Osten muss einer äußerst kritischenPrüfung unterliegen. Voraussetzung ist dabei, dass dieEinhaltung völker- und menschenrechtlicher Standardsfür alle gleichermaßen verpflichtend ist. Der Einsatz ausDeutschland gelieferter Rüstungsgüter in den Sied-lungsgebieten oder unter Verletzung des Kriegsvölker-rechts muss ausgeschlossen werden.Hermesbürgschaften für Rüstungsexporte oder garstaatliche Finanzierung von Kriegswaffenexporten wieim Falle von U-Booten für Israel lehnen wir ab. Die Be-gründung für eine Genehmigung muss durch die Bun-desregierung in jedem Einzelfall detailliert dargelegtwerden. Wichtig sind dabei transparente Entscheidungs-verfahren. Wir Grünen fordern daher schon seit langem,dass mit der Geheimniskrämerei der Bundesregierungbei der Genehmigung von Rüstungsexporten endlichSchluss ist. Der Bundestag muss besser informiert undeingebunden werden. Ein Widerspruchsrecht des Parla-ments, wie es bereits in anderen Ländern besteht, musseingeführt werden.Frieden im Nahen Osten wird nachhaltig nicht durchmilitärische Mittel gewährleistet werden können. Politi-sche Initiativen müssen darauf abzielen, die Rahmenbe-dingungen für eine umfassende Abrüstung der Region zuschaffen. Ein Friedensschluss ist dafür unabdingbareVoraussetzung. Durch positive und negative Anreizemüssen die Konfliktpartien dazu bewegt werden, zu di-rekten und substanziellen Friedensgesprächen zurück-zukehren. Den Sicherheitsbedürfnissen der Konfliktpar-teien muss begegnet werden, um ihnen die gefühlteNotwendigkeit der Entwicklung und Beschaffung neuertödlicherer Waffen zu nehmen.Die Ratifizierung der Bio- und Chemiewaffenkonven-tionen und vor allem der Beitritt zum Nichtverbreitungs-vertrages für Atomwaffen durch die Länder der Regionsind wichtige Meilensteine mit dem Ziel eines atomwaf-fenfreien Nahen Ostens fest im Blick. Diesen Weg einzu-schlagen, hatten bereits die Teilnehmer der NVV-Über-prüfungskonferenz gefordert. Die Bundesregierung ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6977
gegebene Reden
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6978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Katja Keul
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aufgefordert, hier nun aktiv und mit Nachdruck zu unter-stützen.Der Antrag enthält viele richtige Forderungen. Wirunterstreichen allerdings das SelbstverteidigungsrechtIsraels und unterstützen die vom Libanon und von Israelgemeinsam gewünschte UNIFIL-Mission. Vor diesemHintergrund werden wir diesen Antrag in unserer Frak-tion ergebnissoffen diskutieren.
Die Fraktionen schlagen die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 17/2481 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vor. – Das Plenum ist offenkundig
auch mit diesem Vorschlag einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Schließlich rufe ich Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt,
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden
– Drucksachen 17/1580, 17/3115 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Poland
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Agnes Krumwiede
Hierzu haben die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang
Börnsen, Christoph Poland, Dr. Wolfgang Thierse, Reiner
Deutschmann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Agnes
Krumwiede nachdenkenswerte Reden vorbereitet, die
alle im Protokoll nachgelesen werden können.
Allein der Titel des Antrages der Fraktion Die Grü-
nen, über den wir heute beraten, unterstellt, dass das
„Parlament der Bäume“ nicht ausreichend geschützt ist.
Dies entspricht nicht der Wirklichkeit, und deshalb be-
darf es gleich zu Beginn einiger wichtiger Klarstellun-
gen.
Wir haben in den vergangenen Jahren immer – intern
und öffentlich – das große persönliche Engagement und
Verdienst von Herrn Ben Wagin und seines Lebenswer-
kes „Parlament der Bäume“ anerkannt. Auf dem Ge-
lände im Regierungsviertel befinden sich Originalreste
der Berliner Mauer, um die Bäume gepflanzt wurden.
Eingravierte Namen erinnern an die Mauertoten, die
Bäume symbolisieren den Frieden. Es ist ein Mahnmal
gegen Krieg und Gewalt.
Das „Parlament der Bäume“ – und in Person Herr
Ben Wagin – leistet damit einen einzigartigen Beitrag
für unsere Erinnerungskultur, die gerade uns Christde-
mokraten am Herzen lag und liegt.
Sowohl die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als auch
die unionsgeführte Bundesregierung haben dieses Pro-
jekt stets nicht nur wohlmeinend begleitet, sondern auch
dort insgesamt unterstützt, wo es rechtlich möglich war,
allen voran unser Bundestagspräsident Norbert
Lammert, der erst im vergangenen Jahr erklärt hat, dass
diese Fläche bis mindestens 2019 geschützt ist, und der
sich auch für die Förderung dieses Platzes verwandt
hat. Wir sehen deshalb keinen aktuellen Handlungsbe-
darf.
Das „Parlament der Bäume“ kann sich auch unserer
finanziellen Unterstützung gewiss sein. Für die Umge-
staltung des Ortes hat der Bund fast 50 000 Euro, das
Land Berlin weitere 190 000 Euro zur Verfügung ge-
stellt. Mithilfe dieser Unterstützung konnten wichtige
Baumaßnahmen, Gartenarbeiten sowie die Einzäunung
des Areals und die Verlegung von Wasserleitungen reali-
siert werden. Auch das klingt nicht nach einer Gefähr-
dung des Gedenkortes.
Es ist gerade einmal eine Woche her, da hat sich Kul-
turstaatsminister Bernd Neumann, MdB, bei der Wieder-
eröffnung des Ortes wie folgt geäußert: „Mit seiner ein-
zigartigen Mischung aus Charme, Begeisterung und
Hartnäckigkeit hat Ben Wagin für die Umsetzung seines
Projektes viele Mitstreiter gewonnen – so auch mich.“
Das Gelände „Parlament der Bäume“ befindet sich
auf dem Grundstück des Deutschen Bundestages. Es ist
planungsrechtlich durch den Bezirk Mitte von Berlin für
Erweiterungsbauten des Deutschen Bundestages ausge-
wiesen.
Die zuständige Kommission des Ältestenrates des
Deutschen Bundestages für Raumangelegenheiten hat
im April 2003 einstimmig – also mit den Stimmen aller
Fraktionen, das heißt der Fraktionen von SPD, CDU/
CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP – folgenden Be-
schluss gefasst:
Die Raumkommission hält daran fest, dass das
Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parla-
ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befin-
det, wie bisher als Sondergebiet zur Bebauung für
Zwecke des Deutschen Bundestags ausgewiesen
wird. Darüber hinaus bekräftigt die Raumkommis-
sion die Feststellung der Baukommission vom
12. Juni 2002, dass das Kunstwerk in absehbarer
Zeit nicht gefährdet ist.
Dieser einstimmige Beschluss erfolgte auf Vorschlag
der damaligen Vorsitzenden der Kommission, der Abge-
ordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Mitglied der an-
tragstellenden Fraktion Die Grünen.
Dieser Beschluss hat offensichtlich für die heutige
Fraktion Die Grünen keine Gültigkeit mehr, für uns, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, schon.
Warum werden die gewichtigen Gründe, die
Irmingard Schewe-Gerigk damals leiteten, heute von
derselben Partei vom Tisch gewischt?
Auch der derzeitige Vorsitzende der Kommission, der
SPD-Kollege Wolfgang Thierse, hat verlauten lassen,
dass es derzeit keiner neuen Beschlussfassung bedürfe.
Wolfgang Börnsen
(C)
(B)
Daher ist dieser Beschluss für uns bindend, solange kein
anderer Beschluss gefasst wird.
Man mag gefühlsmäßig und aus Kunstneigung für
das Projekt sein – alles zugestanden –, aber die Kultur
befindet sich wie alle Politikfelder nicht in einem rechts-
freien Raum. Gerade als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages haben wir eine Vorbildverantwortung für
rechtsklares Handeln.
Es gibt aktuell auch keinerlei Anlass zu der Befürch-
tung, dass etwaige Bebauungspläne des Bundes den Ge-
denkort gefährden. Ganz im Gegenteil: In der Antwort
auf die Anfrage der Grünen vom 23. September 2010
stellt der Bund aktuell klar – so wörtlich –: „Derzeit
werden keine Veräußerungsflächen für die benannte
Fläche angestellt.“
Nicht nur der Bund steht bei diesem Projekt in der
Verantwortung und Pflicht, sondern auch das Land Ber-
lin. Der Berliner Senat hat das „Parlament der Bäume“
bisher nicht unter Denkmalschutz gestellt. Nach deren
Einschätzung ist das „Parlament der Bäume“ ein ent-
wicklungsoffenes, sich stets veränderndes Kunst-
ensemble.
Allein aus Respekt vor der Verfassungsentscheidung,
dass die Kompetenz im Bereich Denkmalschutz bei den
Ländern liegt, kann und wird der Bund hier nicht aktiv
werden.
Ich fasse zusammen: Diese Klarstellungen führen aus
unserer Sicht hoffentlich dazu, dass über die Zukunft des
Gedenkortes „Parlament der Bäume“ objektiver und
differenzierter diskutiert und berichtet wird. Dazu ge-
hört auch gegenseitiger Respekt. Niemand von uns lässt
sich gern als „Trillerpfeife“ bezeichnen, wie es unlängst
Herr Wagin getan hat. Dafür nehmen wir – da spreche
ich sicher für alle Kollegen und Kolleginnen hier im Ho-
hen Haus – unsere Aufgabe und unsere Mehrheitsbe-
schlüsse viel zu ernst. Was die Kunst- und Kulturförde-
rung der Bundesregierung angeht, belegen allein die
Haushaltszahlen für 2011, dass hier sehr wohl Verant-
wortung wahrgenommen wird.
Wir sind daher für eine sachliche Debatte und stim-
men der Beschlussempfehlung des Kulturausschusses
zu.
Das „Parlament der Bäume“ wurde von Ben Wagin
in der Wendezeit 1989/1990, genauer am 9. November
1990, gegenüber dem Reichstag am Schiffbauerdamm
ins Leben gerufen, anlässlich der ersten Plenardebatte
des wiedervereinigten Bundestages. Auf dem Gelände
lagern sowohl 58 originale Mauersegmente als auch
Steinplatten mit den Namen von 258 der über 900 Men-
schen, die an der innerdeutschen Grenze von 1948 bis
1989 getötet wurden. Damit ist es nach der East-Side-
Gallery das längste Mauerstück an originaler Stelle. Es
ist aber auch der einzige Gedenkort im Regierungsvier-
tel, der authentisch an die deutsche Teilung und die
Mauertoten erinnert. So findet sich auf einer Fläche von
1 450 Quadratmetern ein Mahnmal, das eine Installa-
tion aus Bäumen, ehemaligen Grenzanlagen, Gedenk-
Zu Protokoll
steinen, Sachzeugnissen, Bildern und Texten ist. Es
handelt sich um Umwelt- oder Aktionskunst, die das Ver-
hältnis der Menschen zur Natur thematisiert. Darin
spiegelt sich die künstlerische Arbeit von Ben Wagin wi-
der, die seine Arbeit seit Jahrzehnten prägt. Ben Wagin
feierte in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag und enga-
giert sich bereits seit 20 Jahren für dieses Projekt. Wir
möchten ihm an dieser Stelle in Anbetracht seiner lang-
jährigen Verdienste danken.
Das „Parlament der Bäume“ befindet sich auf einer
Fläche, die im Bebauungsplan als Sondergebiet zur Be-
bauung für Zwecke des Bundestages ausgewiesen ist.
Aufgrund des notwendig gewordenen Neubaus des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, wurde das „Parlament
der Bäume“ geringfügig verkleinert und einige der
Bäume wurden umgesetzt. Ziel der Grünen ist es, das
bundeseigene Grundstück des „Parlaments der Bäume“
aus der Bauvorhabenplanung des Bundes herauszuneh-
men und den Gedenkort zum Kulturdenkmal zu erklären.
Sollte das „Parlament der Bäume“ unter Denkmal-
schutz gestellt werden, hat dies Einschränkungen der
Bebauungsmöglichkeiten des Grundstücks zur Folge.
Das Anliegen Ben Wagins kann man durchaus nachvoll-
ziehen, aber die sich daraus ergebenden Einschränkun-
gen für den Bund bei einem Filetgrundstück in der Mitte
Berlins sind ebenfalls zu berücksichtigen.
Auf jeden Fall genießt das Denkmal auf zehn Jahre
Bestandsschutz. Zu erwähnen ist ebenfalls: Der Bund
kümmert sich schon um die Anlage. Im November 2009
gab der Beauftragte für Kultur und Medien, Staatsminis-
ter Bernd Neumann, die Zusage, mit 49 500 Euro die
Komplementärfinanzierung für die bauliche Unterhal-
tung des „Parlaments der Bäume“ zu sichern. Aus die-
sen Mitteln konnten Toranlage, Heckeneinfriedung, Be-
leuchtung, Wasseranschluss und Bodenmodellierung für
das Denkmal am historischen Ort finanziert werden.
Weitere 190 000 Euro wurden von Berlin über die
Lottostiftung mitgetragen. Entsprechend hat 2008
Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundes-
tages, versichert, dass der Bund die Zugänglichkeit zum
„Parlament der Bäume“ sicherstellen und die Anlage
gärtnerisch pflegen wird.
Deswegen halte ich abschließend fest: In der Sitzung
der Kommission des Ältestenrates für die Raumvertei-
lung vom 2. April 2003 ist festgelegt worden, dass das
Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parlament
der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befindet, wie bis-
her als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des
Deutschen Bundestages ausgewiesen wird. Darüber hi-
naus bekräftigt die Raumkommission die Feststellung
der Baukommission vom 12. Juni 2002, dass das Kunst-
werk in absehbarer Zeit nicht gefährdet ist.
Vor einer Woche wurde das „Parlament der Bäumegegen Krieg und Gewalt“ von Ben Wagin feierlich wie-dereröffnet, nachdem es mit Geldern der Stiftung Klas-senlotterie und des BKM umgestaltet wurde. Ben Waginhat 1990 Mauerteile gesichert, Bäume gepflanzt und da-mit auf dem ehemaligen Grenzstreifen ein Erinnerungs-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6979
gegebene RedenDr. h. c. Wolfgang Thierse
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zeichen gegen Krieg und Gewalt geschaffen. Dafür giltihm Dank und Respekt. Für sein großes Engagement hatBen Wagin den Verdienstorden des Landes Berlin erhal-ten.Der Bundestag hat das Werk Ben Wagins für weiterezehn Jahre gesichert. Ziel des Antrags der Grünen ist esjetzt, das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge-walt“ dauerhaft zu sichern und es unter Denkmalschutzzu stellen. So sehr ich das Anliegen nachvollziehenkann, bin ich skeptisch, ob das „Parlament der Bäume“als Erinnerungsort durch Denkmalschutz dauerhaft ge-sichert werden sollte. Warum? Aus meiner Sicht ist nichtganz klar, was das „Parlament der Bäume gegen Kriegund Gewalt“ eigentlich sein will und als was es dauer-haft geschützt werden soll. Ist es ein Kunstwerk oder einGedenkort? Erinnert es an die Mauer und die Mauerto-ten oder an die Opfer von Krieg und Gewalt? Für beideAnliegen gibt es in unmittelbarer Nähe weitere Gedenk-orte. An Opfer von Krieg und Gewalt wird mit der NeuenWache gedacht, der zentralen Gedenkstätte der Bundes-republik Deutschland für die Opfer von Krieg und Ge-waltherrschaft. Außerdem gibt es das Holocaust-Mahn-mal, das Homosexuellen-Mahnmal und das Mahnmalfür die ermordeten Sinti und Roma.Ebenso viele Mauergedenkstätten gibt es in der Nähe.Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus ist ein Teil des Denk-mals von Ban Wagin integriert. Das Mauermuseum amCheckpoint Charly ist nicht weit. Im U-Bahnhof Bran-denburger Tor gibt es eine Erinnerungsstätte. Demnächstwird im „Tränenpalast“ vom Haus der Geschichte eineAusstellung zu Teilung und Grenze im Alltag der DDRerrichtet. In der Bernauer Straße befindet sich die zen-trale Mauergedenkstätte. Hier ist der Schrecken derMauer am ehesten erfahrbar, weil ein langer Teil des To-desstreifens sichtbar ist, und hier wird darüber infor-miert, was die Mauer im Leben der Menschen bedeutete,was es hieß, in einer geteilten Stadt zu leben.Es ist nicht einfach, für ein Denkmal eine passendeSprache, eine passende Gestalt zu finden. Das zeigen dievielen künstlerischen Wettbewerbe zur Gestaltung vonDenkmälern und die Debatten darum. Ich denke dabeian das Holocaust-Mahnmal oder erst kürzlich an dasFreiheit- und Einheitsdenkmal. Hier war der erste Wett-bewerb gescheitert, weil die Aufgabe – gleichzeitig andie deutsche Freiheitsgeschichte und an die friedlicheRevolution von 1989 zu erinnern – eine außerordentli-che Herausforderung ist.Beim „Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge-walt“ hat es keinen Wettbewerb gegeben. Ich vermute,dieser wäre auch gescheitert, denn die Aufgabe, sowohlan die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern als auchan den Mauerfall, ist eine ebenso große Herausforde-rung. Das Mahnmal befindet sich zwar an einem authen-tischen Ort und besteht teilweise aus historischen Teilen,aber das Denkmal selbst ist nicht authentisch. Die Be-malung der Mauerteile ist nicht historisch, sie wurdevon Künstlern gestaltet. Die Zusammenstellung derMauerteile mit anderen Elementen des Grenzstreifensentspricht nicht der Geschichte – für Besucher aber ent-steht der Eindruck, dass so der Grenzstreifen ausgese-Zu Protokollhen hat. Der ist, erheblich authentischer, in der Ber-nauer Straße nachgezeichnet.Aus diesen Gründen bin ich skeptisch, ob das Kunst-werk von Ben Wagin unter Denkmalschutz gestellt wer-den sollte. Deshalb hat sich die SPD bei der Abstimmungim Kulturausschuss der Stimme enthalten. Nichtsdesto-trotz gilt dem Engagement von Ben Wagin und seiner un-ermüdlichen Ausdauer, mit der er sich für seinen Erinne-rungsort einsetzt und ihn pflegt, meine Hochachtung.Als Vorsitzender der Bau- und Raumkommission mussich aber auch auf die Interessen des Bundestages hin-weisen. Die Fläche befindet sich im Eigentum des Bun-des und wird freigehalten für einen Erweiterungsbau.Solange nicht gebaut wird, kann das „Parlament derBäume“ weiter dort bleiben. Es ist ja für mindestenszehn weitere Jahre gesichert – aber es ist eben kein au-thentisches Denkmal, das für immer gesichert werdenmuss.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlandssind die Spuren von über 40 Jahren deutscher Teilungkaum noch zu erkennen. Der Todesstreifen, der sich wieeine menschenverachtende Narbe durch unser Land ge-zogen hat, ist inzwischen zu Europas längstem Grün-streifen geworden. In Berlin, der Stadt der Teilung, kannman die Mauer nur noch sehen, wenn man genau weiß,wo man suchen muss. Man findet sie zwar als Markie-rung auf Straßen und Gehwegen, doch nur wenige Mau-erreste sind noch am Originalschauplatz zu besichtigen:so zum Beispiel an der Gedenkstätte Berliner Mauer inder Bernauer Straße, in der Nähe der Topographie desTerrors in der Niederkirchnerstraße oder an der East-sidegallery in Berlin-Friedrichshain.Zu den wenigen Orten mit Mauerresten gehört aberauch „Das Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge-walt“ im Berliner Regierungsviertel. Ben Wagin hat die-ses beindruckende Kunstwerk unter Einbeziehung derMauer Anfang der 90er-Jahre geschaffen. Ohne sein En-gagement wäre vielleicht auch dieses Stück BerlinerMauer nicht mehr existent. Ben Wagin erinnert mit sei-nem Projekt an die Mauertoten und mahnt zugleich zumFrieden, versinnbildlicht durch verschiedene Baum-arten. Zu Recht kann man hier vom Lebenswerk Waginssprechen, der weltweit über 50 000 Bäume gepflanztbzw. dazu angeregt hat.Leider musste das „Parlament der Bäume“ für einenErweiterungsbau des Deutschen Bundestages bereitseinmal verkleinert werden. Dies geschah unter Einbezie-hung und mit Zustimmung Ben Wagins. Damals wurdedeutlich gemacht, dass eine nochmalige Verkleinerungdes Projekts nicht in Betracht zu ziehen ist.Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrück-lich das Parlament der Bäume und wird sich für dessenWeiterbestand einsetzen.Der vergangene Woche nach der Umgestaltung wie-dereröffnete Park ist einzigartig in Deutschland und wo-möglich in Europa. Dass sich dieses Kunstwerk in un-mittelbarer Nachbarschaft zum Deutschen Bundestag
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gegebene RedenReiner Deutschmann
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befindet, macht seinen ganz besonderen Reiz aus undschafft eine gute Erreichbarkeit auch für Besucher derBundeshauptstadt, die zuvor zum Beispiel das Reichs-tagsgebäude besucht haben. Der Bund hat ein deutlichesZeichen für den Erhalt dieses Ensembles gesetzt, indemer den Umbau mit knapp 50 000 Euro gefördert hat.Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum „Parla-ment der Bäume“ beschreibt die Wichtigkeit und Einma-ligkeit des Werkes von Wagin zutreffend. Inhaltlich istdem Antrag nicht zu widersprechen. Er hat meine volleSympathie. Allerdings halten wir Liberale die Denkmal-schutzforderung derzeit für nicht notwendig. Auch wenndas Grundstück dem Deutschen Bundestag gehört unddieser rein theoretisch dort kraft eines BebauungsplanesGebäude errichten könnte, hat doch die Bau- und Raum-kommission des Deutschen Bundestages mit Beschlussvom April 2003 ganz deutlich gemacht, dass das Kunst-werk auf absehbare Zeit nicht gefährdet ist, da der Deut-sche Bundestag keine Pläne habe, das Grundstück füreine bauliche Verwendung freizugeben. Dieser Be-schluss ist immer noch gültig.Der Deutsche Bundestag hat keine Einwände gegendie Nutzung des Areals für das „Parlament der Bäume“,übernimmt vielmehr sogar im Rahmen der Möglichkei-ten die Pflegearbeiten des Grundstückes.Die FDP-Bundestagsfraktion wird darauf achten,dass dieser Beschluss weiterhin gültig bleibt und dassauch in Zukunft von einer Bebauung abgesehen wird.Positiv ist zu werten, dass die Stiftung Berliner Mauerihre Bereitschaft erklärt hat, ab 2011 eine Patenschaftfür das Kunstwerk Wagins zu übernehmen. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt dieses Engagement aus-drücklich, verfügt die Stiftung doch schon über eine be-sondere Expertise in Angelegenheiten der Pflege undBewahrung von Mauerresten, wie sie eindrucksvoll ander Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straßeunter Beweis stellt. Damit ist das „Parlament derBäume“ sicherlich in guter Betreuung.Bei aller Sympathie für den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wird die FDP-Bundestagsfraktion wegender derzeit gesicherten Rechtslage und den Zusicherun-gen des Deutschen Bundestages den Antrag ablehnen.Ein tibetisches Sprichwort sagt: „Ein Baum, der fällt,macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.“ Wir sor-gen dafür, dass die Bäume weiter in Ruhe gedeihen kön-nen. Lärm gibt es im politischen Berlin schon genug.
Am 30. September ist das in Berlin einmalige Denk-
mal „Parlament der Bäume“ in neuer Gestaltung wie-
dereröffnet worden.
Der von Ben Wagin auf einem Reststück der ehemali-
gen innerstädtischen Grenzmauer mit Bildern, Skulptu-
ren, einem Baumhain und Steinplatten entlang des ehe-
maligen Patrouillenweges angelegte Ort der Erinnerung
gedenkt deutscher und sowjetischer Soldaten des Zwei-
ten Weltkrieges und Menschen, die an der innerdeut-
schen Grenze getötet wurden.
Zu Protokoll
Das „Parlament der Bäume“ ist „ein Kunstwerk am
authentischen Ort, einzigartig in der Haltung gegen
Krieg und Gewalt“, wie es in der Begründung des vor-
liegenden Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
so richtig heißt.
Bei der feierlichen Wiedereröffnung hat Staatsminis-
ter Neumann viele Worte des Lobes gefunden, und es
wäre mehr als passend gewesen, wenn er – dem vorlie-
genden Antrag entsprechend – dem Gedenkort auf dem
Grundstück des Bundestages eine Sicherstellung für die
Zukunft hätte garantieren können; denn diese Sicher-
stellung gibt es nicht.
Aus dem Jahr 2003 stammt ein Beschluss der Bau-
und Raumkommission des Ältestenrates, dass das Kunst-
werk „auf absehbare Zeit“ nicht gefährdet ist. Das ist
sieben Jahre her. Was heißt heute „absehbare Zeit“?
Und wenn dieser Beschluss heute noch so gilt wie vor
sieben Jahren, dann kann man doch ohne Schwierigkeit
jetzt einem Gesetzesantrag zustimmen, der das „Parla-
ment der Bäume“ von jeglicher Bebauung in Zukunft
freihält.
Aber: Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP ver-
weigern sich dem Anliegen. Im Frühjahr sollte ein frak-
tionsübergreifender Gruppenantrag das „Parlament der
Bäume“ schützen. Dieser Plan wiederum scheiterte an
der SPD, die sich nun auch bei der ersten Abstimmung
über den vorliegenden Antrag im Kulturausschuss ent-
halten hat – während ein Tag später der Berliner SPD-
Kulturstaatssekretär André Schmitz öffentlich das Pro-
jekt enthusiastisch feierte.
Das alles verstehe, wer will. Das „Parlament der
Bäume“ muss für alle Zukunft gesichert und geschützt
sein. Es müssten geregelte Besuchszeiten für dieses ein-
malige Denkmal organisiert werden. Zurzeit kann es nur
besucht werden, wenn der Künstler selbst oder ehren-
amtliche Helfer anwesend sind. Ein Unding für solch ei-
nen historischen Gedenkort.
Die Fraktion Die Linke unterstützte den Antrag der
Grünen, das „Parlament der Bäume“ dauerhaft zu
schützen, jedenfalls von Anfang an und tut das auch
heute.
Als Theaterstück inszeniert, wäre die jüngste Ge-schichte um Ben Wagins „Parlament der Bäume“ eineentlarvende Satire auf den schwarz-gelben Regierungs-stil. In der Realität gibt es Buhrufe für diese schlechteDaily-Soap live aus dem Deutschen Bundestag: Es istein politisches Trauerspiel.Letzte Woche haben die Vertreter der Koalitionsfrak-tionen im Ausschuss für Kultur und Medien einstimmiggegen unseren Antrag zur dauerhaften Unterschutzstel-lung des „Parlaments der Bäume“ votiert. Unser Antragenthielt die Forderungen, das „Parlament der Bäume“durch eine entsprechende Bauleitplanung zu schützenund die Aufnahme als Kulturdenkmal in die Landesdenk-malliste Berlin anzuregen.
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gegebene Reden
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Agnes Krumwiede
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Einen Tag später fanden die Feierlichkeiten zur Neu-gestaltung des „Parlaments der Bäume“ statt. Die Ent-scheidung der Koalition vom Tag zuvor gegen einendauerhaften Erhalt des Kunstwerks schien vergessen:Vor den Vertretern der Presse und in Anwesenheit BenWagins würdigte Kulturstaatsminister Neumann sal-bungsvoll die Arbeit des Künstlers. Am selben Tag er-klärte der Kulturstaatsminister, dessen Parteifreunde24 Stunden zuvor den dauerhaften Schutz des „Parla-ments der Bäume“ abgelehnt hatten, in einer Pressemit-teilung: „Für die Umsetzung seines Projekts gewinntBen Wagin mit seiner einzigartigen Mischung ausCharme, Begeisterung und Hartnäckigkeit – so auchmich.“ Eine Würdigung in Worten allein wird jedochnichts zum dauerhaften Schutz des „Parlaments derBäume“ beitragen. Oder, um es mit Ben Wagins Wortenzu sagen: „Die schwingen immer alle nur große Reden,aber wenn es drauf ankommt, kneifen sie.“Es sind nicht schöne Worte, sondern unsere Hand-lungen, die Veränderungen bewirken. 1990 war derAktionskünstler Ben Wagin einer, der durch sein Han-deln das heutige „Filetstück“ beim Elisabeth-Lüders-Haus künstlerisch verändert hat. Trotz der Euphorieüber die Deutsche Wiedervereinigung setzte er sich ge-gen den Abriss dieses Mauerstücks ein und bewahrte da-mit einen im Regierungsviertel einzigartigen Erinne-rungsort deutscher Geschichte.In der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sichfür das Niemandsland des Grenzstreifens keiner verant-wortlich fühlte, entstand gegenüber dem Reichstag amSchiffbauerdamm das „Parlament der Bäume gegenKrieg und Gewalt“. Hier verwandelte Ben Wagin einReststück der ehemaligen innerstädtischen Grenzmauerzu einem „Erinnerungsgarten“. Es entstand eine krea-tive Geschichtsoase aus Bildern, Skulpturen, einemBaumhain und Steinplatten mit den eingravierten Na-men der über 900 Menschen, die an der innerdeutschenGrenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden.Außerdem hält das „Parlament der Bäume“ den TodTausender Soldaten in Erinnerung, die am Ende desZweiten Weltkriegs bei der Erstürmung des Reichstagsvon einer SS-Einheit hinterrücks erschossen wurden. Inder Nachkriegszeit wurden hier Kartoffeln angebaut.Den einzig übrig gebliebenen Baum, eine Eiche, willBen Wagin unter Denkmalschutz stellen.Ben Wagins Werk ist ein Beispiel für die friedvolleMacht der Kunst, die länger währt als Diktaturen. DasKunstwerk ist an seinem authentischen Ort einzigartigin der Haltung gegen die Trennung der Stadtteile und einMahnmal gegen Krieg und Gewalt und auch ein Mahn-mal gegen die Mauern in unseren Köpfen. Das „Parla-ment der Bäume“ ist eine künstlerische Erinnerungs-stätte gegen das Vergessen.Trotz des Zuspruchs, den Ben Wagin und sein Werkseit seiner Entstehung erfahren, ist das „Parlament derBäume“ dauerhaft in seiner Existenz bedroht. 2001mussten von ursprünglich 400 gepflanzten Bäumen300 für neu entstandene Bundesgebäude weichen; denndas Kunstwerk befindet sich auf Baugrund des Bundes.Seit Jahren kämpft Ben Wagin dafür, solche Eingriffein sein Werk für die Zukunft auszuschließen – bislangohne Erfolg.Zu Ben Wagnis 80. Geburtstag im März dieses Jahreshäuften sich die Lippenbekenntnisse von Politikern, das„Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz stellen zuwollen. Sogar ein Gruppenantrag aller im Bundestagvertretenen Parteien war geplant. Viel Lärm um nichts:Das Zustandekommen des Gruppenantrags scheitertean den Mehrheiten aus Reihen der CDU/CSU und derSPD.Wenn es um die verbindliche Zusage zur dauerhaftenUnterschutzstellung des Kunstwerkes geht, kneifen dieverantwortlichen Politiker. Das hat die schwarz-gelbeKoalition erst letzte Woche mit der Ablehnung unseresAntrags im Kulturausschuss demonstriert. Auch anläss-lich des 20. Jahrestages der deutschen Einheit wird esfolglich keinen Denkmalschutz für das „Parlament derBäume“ geben.Das „Parlament der Bäume“ darf keine Baulandre-serve und kein „Gedenkort auf Zeit“ bleiben. Die Bun-desregierung muss endlich dafür sorgen, das Grund-stück, auf welchem sich das „Parlament der Bäume“befindet, in Zukunft von der Bauleitplanung auszuneh-men und Ben Wagins „Parlament der Bäume“ unterDenkmalschutz zu stellen. Mündliche Versprechungenzur Unterschutzstellung des Kunstwerkes bis 2018 rei-chen uns nicht. Das „Parlament der Bäume“ muss alsErinnerungsstätte für nachfolgende Generationen er-halten bleiben. Dafür ist eine verbindliche schriftlicheZusage vonseiten der Regierung notwendig.Andernfalls schweben die Baukräne des Bundes wieein Damoklesschwert über Ben Wagins „Parlament derBäume“.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien aufDrucksache 17/3115. Bevor ich darüber abstimmenlasse, weise ich darauf hin, dass es eine Erklärung nach§ 31 der Geschäftsordnung der beiden Kolleginnen PetraMerkel und Monika Grütters zu diesem Tagesordnungs-punkt gibt.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis90/Die Grünen auf der Drucksache 17/1580. Wer stimmtfür die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit der Mehr-heit der Koalition angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKirgisistan unterstützen – Den Frieden si-chern– Drucksache 17/3202 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6983
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionManfred Grund, Franz Thönnes, Michael Link, SevimDağdelen und Viola von Cramon-Taubadel haben ihreReden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wirdÜberweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3202an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 8. Oktober 2010,9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen nocheinen gemütlichen Abend.