1) Anlage 9
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6985
(A) (C)
(D)(B)
ler hinsichtlich der Auswahl und Einrichtung von barrie-
refreiem Wahlraum nicht zweifelsfrei feststellbar.
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010
Bundestag im Rahmen der Prüfung der Wahleinsprüche
nach seiner ständigen Praxis vorrangig die Einhaltung
der bestehenden wahlrechtlichen Vorschriften prüft.
Nach diesen bestehenden Regelungen war ein Wahlfeh-
Rupprecht
(Tuchenbach),
Marlene
SPD 07.10.2010*
Anlage 1
Liste der entschuldi
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Aigner, Ilse CDU/CSU 07.10.2010
Binder, Karin DIE LINKE 07.10.2010
Bleser, Peter CDU/CSU 07.10.2010
Bülow, Marco SPD 07.10.2010
Friedhoff, Paul K. FDP 07.10.2010
Fritz, Erich G. CDU/CSU 07.10.2010*
Götz, Peter CDU/CSU 07.10.2010
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010
Groth, Annette DIE LINKE 07.10.2010*
Heil, Hubertus SPD 07.10.2010
Höger, Inge DIE LINKE 07.10.2010**
Hörster, Joachim CDU/CSU 07.10.2010*
Krestel, Holger FDP 07.10.2010
Liebich, Stefan DIE LINKE 07.10.2010**
Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 07.10.2010
Dr. Maizière de, Thomas CDU/CSU 07.10.2010
Marks, Caren SPD 07.10.2010
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
07.10.2010
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
07.10.2010
Özoğuz, Aydan SPD 07.10.2010
Oswald, Eduard CDU/CSU 07.10.2010
Pflug, Johannes SPD 07.10.2010
Ploetz, Yvonne DIE LINKE 07.10.2010
Anlagen zum Stenografischen Bericht
gten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der OSZE
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneter Dr. Dagmar Enkelmann (DIE
LINKE) zur Abstimmung über die Zweite Be-
schlussempfehlung des Wahlprüfungsausschus-
ses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Sep-
tember 2009 (Tagesordnungspunkt 34 g)
Ich stimme der Annahme der aus der Anlage 9 er-
sichtlichen Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-
schusses auf Bundestagsdrucksache 17/3100 zu, weil der
Schreiner, Ottmar SPD 07.10.2010
Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 07.10.2010
Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 07.10.2010
Dr. Solms, Hermann
Otto
FDP 07.10.2010
Dr. Steinmeier, Frank-
Walter
SPD 07.10.2010
Strenz, Karin CDU/CSU 07.10.2010*
Toncar, Florian FDP 07.10.2010
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 07.10.2010
Werner, Katrin DIE LINKE 07.10.2010*
Widmann-Mauz,
Annette
CDU/CSU 07.10.2010
Wieczorek-Zeul,
Heidemarie
SPD 07.10.2010
Zöllmer, Manfred SPD 07.10.2010
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
6986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(A) (C)
(D)(B)
Ich muss zu dieser Abstimmung Folgendes erklären:
Die Gemeinden bemühen sich zwar, barrierefreie
Wahlräume zur Verfügung zu stellen. Bei einem Anteil
von beispielsweise etwa zwei Dritteln nichtbarrierefreier
Wahllokale in der Stadt Dresden muss der Bundestag aus
meiner Sicht aber die Schlussfolgerung ziehen, dass das
gesetzliche Ziel der Gleichstellung behinderter Men-
schen durch barrierefreie Wahlräume mit den bestehen-
den Regelungen bisher nicht erreicht wurde. Die Rege-
lungen müssen deshalb zwingender ausgestaltet werden.
Es ist nach meiner Einschätzung – und diese Einschät-
zung teilt meine Fraktion – für unsere Demokratie kein
tragbarer Zustand, wenn ein so hoher Anteil der Wahllo-
kale nicht barrierefrei ist.
Es ist nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die wählen
wollen, dies nur deshalb nicht tun, weil sie kein barriere-
freies Wahllokal vorfinden. Zwar könnten diese Wahlbe-
rechtigten mit Wahlschein in einem anderen, barriere-
freien Wahllokal oder per Briefwahl wählen – das
bedeutet aber zusätzlichen bürokratischen Aufwand.
Dies ist nicht zumutbar. Allen Wahlberechtigten muss
– unabhängig von einer Mobilitätsbeeinträchtigung oder
Behinderung – die Wahl vor Ort im Wahllokal ermög-
licht werden.
Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf
barrierefreie Wahllokale und öffentliche Einrichtungen.
Das VN-Übereinkommen über die Rechte von Men-
schen mit Behinderungen verpflichtet dazu genauso wie
das Grundgesetz. Hinzu kommt: Das Durchschnittsalter
der Wahlberechtigten wird immer mehr zunehmen. Auch
deshalb haben die Auswahl und die Einrichtung barriere-
freier Wahllokale eine besondere Bedeutung für mich
und meine Fraktion.
Der Bundestag steht aus meiner Sicht in der Verant-
wortung, die Wahlvorschriften nicht einfach nur im Rah-
men der Wahlprüfung anzuwenden, sondern sie im Be-
darfsfalle – in seiner Funktion als Gesetzgeber – zu
ändern.
Ich werde der Beschlussempfehlung zustimmen, weil
dort auf der Grundlage der geltenden Wahlvorschriften
vertretbar argumentiert wurde. Ich setze mich zugleich
für meine Fraktion im Wahlprüfungsausschuss für eine
Änderung der Wahlvorschriften ein. Ziel ist die Prüfung
der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich barrierefreier
Wahlräume durch die Bundesregierung und eine zügige
Änderung der Vorschriften.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
der Unterrichtung: Vorschlag für eine Richt-
linie .../.../EU des Europäischen Parlaments und
des Rates über Einlagensicherungssysteme
[Neufassung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10
ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesordnungs-
punkt 7)
Zur Abstimmung zum Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP für eine Subsidiaritätsstellung-
nahme nach § 93 a Abs. 1 GO-BT zum Vorschlag für
eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra-
tes über Einlagensicherungssysteme (Neufassung),
KOM(2010) 368 endg. erkläre ich Folgendes:
Der Binnenmarkt stellt eine der Hauptgesetzgebungs-
kompetenzen der EU dar. Mit dem vorliegenden Richtli-
nienvorschlag sollen mittels einer Harmonisierung die
während der Finanzkrise zutage getreten Schwachstellen
in den bestehenden Einlagensicherungssystemen besei-
tigt werden. Mit der Schaffung eines europaweit hohen
Niveaus des Einlagenschutzes wird Inhabern von Einla-
gen ein schnellerer und effizienterer Schutz gewährt.
Dies fördert das Vertrauen der Bürger in das Finanzsys-
tem und ist damit auch für die Stabilität des nationalen
und europäischen Finanzmarkts von besonderer Bedeu-
tung. Dieses Ziel kann meines Erachtens nicht in glei-
cher Weise auf nationaler Ebene erreicht werden.
Nationalen Besonderheiten der Finanzmarktstruktur
und der Gefahr einer Verzerrung des Wettbewerbs im
EU-Binnenmarkt wird dadurch genügend Rechnung ge-
tragen, dass lediglich die Rahmenbedingungen der je-
weiligen Einlagensicherungssysteme – „Level Playing
Field“ – harmonisiert werden. Die Europäische Kom-
mission beabsichtigt keine Maximalharmonisierung und
gewährt den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum
bei der näheren Ausgestaltung.
Selbst falls man die vorgetragenen Bedenken hin-
sichtlich der inhaltlichen Detailausgestaltung der Richt-
linie teilt, so wäre auch unter dieser Prämisse die Sub-
sidiaritätsrüge das falsche Instrument.
Die Subsidiaritätsrüge ist schon formal in ihren Er-
folgsaussichten von dem Zustandekommen eines Mehr-
heitsquorums unter den mitgliedstaatlichen Parlamenten
abhängig. Dies verspricht jedoch geringe Aussicht auf
Erfolg. Damit käme es auf die materielle Prüfung der
Rüge schon gar nicht mehr an.
Die Subsidiaritätsrüge stellt neben der Subsidiaritäts-
klage das schärfste Schwert dar, welches dem Bundestag
durch den Vertrag von Lissabon zur Überprüfung der
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips an die Hand gege-
ben wurde. Ich halte es für europapolitisch nicht oppor-
tun, für die erstmalige Ausübung eines so wichtigen
Rechts einen Anwendungsfall zu wählen, der schon aus
oben genannten Gründen wenig Aussicht auf Erfolg hat.
Mit einer Stellungnahme gemäß Art. 23 Abs. 3 GG
könnte man dagegen Bedenken hinsichtlich der inhaltli-
chen Detailausgestaltung der Richtlinie ebenso äußern,
und zwar unabhängig von einem vorliegenden Subsidia-
ritätsverstoß. Mit einer solchen Stellungnahme könnte
die Bundesregierung direkt aufgefordert werden, die
vorliegenden Bedenken in ihre Verhandlungslinie mit zu
übernehmen, und auch europapolitisch das richtige
Signal gesendet werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6987
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 4
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung
zu dem Antrag: Das „Parlament der Bäume ge-
gen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft ge-
schützt werden (Tagesordnungspunkt 26)
Petra Merkel (Berlin) (SPD): Hiermit erkläre ich,
dass ich dem Antrag zustimme, da ich das Werk des
Künstlers Ben Wagin für dauerhaft schützenswert halte.
Der Deutsche Bundestag sollte die Nutzung des Gelän-
des dauerhaft gewährleisten. Ebenso sollte die Landes-
regierung Berlin aufgefordert werden, dieses Mahnmal
gegen Krieg und Gewalt in die Landesdenkmalliste auf-
zunehmen
Monika Grütters (CDU/CSU): „Ja, Berlin ist eine
Sandwüste, aber wo sonst findet man Oasen?“ – Passen-
der als der von mir verehrte Dichter Jean Paul hätte man
nicht beschreiben können, was der kleine Ort des „Parla-
ments der Bäume“ ist: eine Oase der Erinnerung, der
Kunst und der Selbstreflexion des Parlaments in der in-
nerstädtischen Wüste Berlins und des Regierungsvier-
tels.
Hinter dem Bundespressehaus an der Ecke Schiffbau-
erdamm/Reinhardtstraße, befindet sich dieses „Parla-
ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“. Es entstand
in der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich für
das „Niemandsland“ des Grenzstreifens keiner verant-
wortlich fühlte.
Der Künstler Ben Wagin, seine Freunde, Künstler wie
Tadeusz Kantor, Klaus Staeck, Otto Dressler und Mit-
glieder des Baumpatenvereins verwendeten die einzel-
nen Segmente der Hinterlandmauer – die Grenze verlief
am westlichen Spreeufer –, um auf ihnen das Jahr und
die Anzahl der Mauertoten aufzulisten. Auf dem Ge-
lände lagern nun Steinplatten mit den eingravierten Na-
men der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen
Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden. Ben
Wagin ergänzte die Dokumentation durch Bilder und
Gedichte.
Ursprünglich gehörten zu dem Kunstwerk drei Berei-
che: die 16 Bäume, die von den Ministerpräsidenten ge-
pflanzt wurden und die 16 Bundesländer symbolisieren
sollten, das grüne Denkmal „Europa Erde werde“, das
dem Neubau des Bundespressehauses weichen musste,
und das Ensemble der 400 Bäume.
Diese wurden im Herbst 1990 von den Senatorinnen
und Senatoren aus Ost- und West-Berlin zusammen mit
dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der
Parlamentspräsidentin des Deutschen Bundestags Rita
Süßmuth, der Präsidentin des Berliner Abgeordneten-
hauses Hanna-Renate Laurien und dem SPD-Vorsitzen-
den Hans-Jochen Vogel sowie zahlreichen Bundestags-
abgeordneten anlässlich der ersten Plenarsitzung im
Reichstagsgebäude entlang dem Kolonnenweg ge-
pflanzt. Engagiert haben sich ebenso Bundespräsident
Johannes Rau, die Bundesminister Klaus Töpfer,
Wolfgang Mischnick und Wolfgang Schäuble. Von die-
sen 400 Bäumen stehen heute noch 100. Der Kolonnen-
weg und 58 Mauersegmente sind an originaler Stelle
noch erhalten.
Der künstlerisch gestaltete Ort im Regierungsviertel
erinnert zudem an die sowjetischen Soldaten, die im Mai
1945 hier aus dem Hinterhalt erschossen wurden, sowie
an die ersten Mauertoten, die genau an dieser Stelle bei
dem Versuch, über die Spree aus der DDR zu flüchten,
ums Leben kamen.
Ergänzt wird das heutige Kunstwerk durch den be-
rühmten Spruch des sowjetischen Staats- und Parteichefs
Michail Gorbatschow, den er anlässlich seines Besuches
zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am
7. Oktober 1989 formulierte: „Wer zu spät kommt, den
bestraft das Leben.“
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“
ist nach der East Side Gallery das längste noch im Ori-
ginal erhaltene Stück Hinterlandmauer und der einzig
noch an originaler Stelle verbliebene Mauerrest im Re-
gierungsviertel. Es ist das Verbindungsglied zu den
Mauerresten im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und zur
Mauermarkierung im Bundespressehaus. Die sichtbar
gemachte Erinnerung in diesen beiden Gebäuden wäre
ohne das „Parlament der Bäume“ nicht erklärbar.
Im November 2008 hat Bundestagspräsident Norbert
Lammert, der sich mehr als seine Vorgänger für das
Denkmal engagiert, entschieden, dass der Bundestag die
gärtnerische Pflege der Anlage übernimmt und die Zu-
gänglichkeit zum „Parlament der Bäume“ garantiert.
Bernd Neumann, der Beauftragte für Kultur und Medien
im Kanzleramt, BKM, hat Mittel bereitgestellt und so
gemeinsam mit dem Senat von Berlin die Einzäunung,
die Beleuchtung, die öffentliche Beschilderung und die
Einbettung in das Mauerkonzept für das Denkmal am
historischen Ort sichergestellt.
Der Antrag, der heute zur Abstimmung steht, fordert
die Bundesregierung nun auf, in Zusammenarbeit mit
dem Senat von Berlin im gemeinsamen Ausschuss von
Bund und Berlin nach § 247 BauGB den gültigen Be-
bauungsplan für das Regierungsviertel – I-210 – so zu
ändern, dass eine künftige Bebauung des Grundstücks,
auf dem sich das „Parlament der Bäume gegen Krieg
und Gewalt“ von Ben Wagin befindet, verhindert wird
und das Kunstwerk unter Denkmalschutz gestellt wird.
Die Baukommission des Deutschen Bundestages hat
dies im Hinblick auf den Wert des Grundstücks zunächst
abgelehnt.
Ich habe Respekt vor dieser Entscheidung, denn sie
ist aus der Sicht der Baupolitiker sicher gut nachvoll-
ziehbar. Auch die Haltung des Bundestagspräsidenten
und des Staatsministers für Kultur und Medien, die beide
darauf verweisen, dass das Gelände bis 2018 nicht ange-
tastet wird, und die davon ausgehen, „dass es von Dauer
ist“ – so Bernd Neumann bei der Einweihung des Doku-
mentationsortes am 30. September 2010 –, ist nachvoll-
ziehbar.
Ich werde dem Antrag zur Änderung des Bebauungs-
planes und zur Unterdenkmalschutzstellung des „Parla-
ments der Bäume“ dennoch zustimmen, weil ich es für
6988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(A) (C)
(D)(B)
ein schönes und bedeutendes Signal gehalten hätte,
wenn sich der Deutsche Bundestag zum 20. Jahrestag
der Deutschen Einheit und zum 80. Geburtstag des
Künstlers Ben Wagin jetzt, im Jahr 2010, zu diesem Zu-
geständnis an den Wert und die Würde des authentischen
Gedenkortes, des Kunstwerkes auf seinem eigenen Ge-
lände und des Parlaments der Bäume, hätte durchringen
können.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebenen Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes
Thomas Bareiß (CDU/CSU): Heute reden wir über
den Antrag der Grünen-Fraktion zur Änderung des Ener-
giewirtschaftsgesetzes vor dem Hintergrund auslaufen-
der Konzessionsverträge im Strom- und Gasnetzbereich.
Ausnahmsweise reden wir damit heute einmal über ei-
nen energiepolitischen Oppositionsantrag, der nichts mit
der Kernenergie zu tun, worüber ich mich sehr freue.
Wie in anderen zahlreichen Anträgen im energiepoli-
tischen Bereich sieht die Opposition die Thematik aller-
dings zu kurzsichtig. Eine differenziertere Betrachtung
ist hier vonnöten.
Dazu gehört zunächst einmal die grundsätzliche
Frage, was hinter dem Wunsch der Kommunen, Energie-
politik zu machen, steckt. Es ist nämlich durchaus zu be-
fürchten, dass hier weitreichende finanzielle Belastun-
gen nicht in vollem Umfang gesehen werden. Es darf
nicht zu der Situation kommen, dass sich die Kommunen
mit dieser Aufgabe übernehmen.
Grundsätzlich möchte ich davor warnen, dass den
großen Herausforderungen im Bereich des Stromnetz-
ausbaus nicht in ausreichendem Maße Genüge getan
wird. Gerade im Verteilnetzbereich stehen wir vor wich-
tigen Aufgaben. Dazu gehört zunächst einmal die Inte-
gration der erneuerbaren Energien, deren Anteil stetig
wächst. In diesem Jahr wird es Schätzungen zufolge al-
lein im Bereich Photovoltaik zu einem Zubau in Höhe
von rund 10 000 Megawatt kommen.
Uns allen muss klar sein, dass wir unsere ambitionier-
ten Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien
nur erreichen können, wenn wir in Sachen Netzausbau
mitziehen.
Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang ist die
Entwicklung von intelligenten Netzen, Smart Grid. Auf-
grund des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwan-
kenden Angebots an erneuerbaren Energien ist dieses In-
strument dringend notwendig. Damit einher geht der
Einsatz von intelligenten Zählern, Smart Meter. Ich will
die Aufzählung an dieser Stelle beenden, aber es sollte
klar sein, dass wir hier vor großen Herausforderungen
stehen, die auch mit massiven Investitionskosten ver-
bunden sind. Dieser Verantwortung müssen sich die
Kommunen bewusst sein.
Zudem ist der Netzkauf nicht die einzige Möglichkeit,
um sich als Kommune einen größeren Einfluss auf die
Netze zu sichern. Angesichts der hohen Kosten eines Er-
werbs sind durchaus auch die kostengünstigeren Beteili-
gungsmodelle oder im Einzelfall auch die Gründung von
Kooperationen in Erwägung zu ziehen.
Das Problem, das die Grünen schildern, wird mit dem
Antrag meines Erachtens nicht gelöst, da andere Aspekte
ausgeblendet werden. Die Grünen sagen in dem Antrag,
dass in den nächsten Jahren Tausende Konzessionsver-
träge zwischen Kommunen und Energieversorgungsun-
ternehmen zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnet-
zen auslaufen. Im derzeitigen EnWG sei nicht
gewährleistet, dass ein einfacher Wechsel zu anderen
Betreibern möglich ist. Die Hürden eines Wechsels seien
zu groß, da zum Beispiel die bisherigen Netzbetreiber
nicht verpflichtet seien, umfassend über den Wert des
Netzes zu berichten.
Es muss in dem Zusammenhang aber auch gesehen
werden, dass viele der in den kommenden Jahren auslau-
fenden Konzessionsverträge vor Inkrafttreten des EnWG
1998 geschlossen wurden. Diese Verträge enthalten so-
genannte Endschaftsklauseln, die Details über die Aus-
stiegsbedingungen regeln.
Ich bin der Meinung, dass bestehende vertragliche
Regelungen zu achten sind. Die Politik sollte nur ein-
greifen, wenn es zwingend notwendig ist. Daher müssen
wir sicherlich genau prüfen, in welcher Weise dies not-
wendig sein wird. Dabei denke ich zum Beispiel an die
Informationspflicht über Zustand und Wert der Netze –
Stichwort Transparenz.
Ohnehin haben wir in der Koalition vereinbart, im
nächsten Jahr im Zuge der Umsetzung des dritten Bin-
nenmarktpakets das Energiewirtschaftsgesetz zu novel-
lieren. In diesem Zusammenhang werden wir in aller
Ruhe über die Notwendigkeit gesetzgeberischen Han-
deln entscheiden. Wirklich erforderliche Änderungen in
§ 46 EnWG werden dann vorgenommen. Mit der Über-
weisung an den zuständigen Wirtschaftsausschuss wer-
den wir die Möglichkeit haben, über diese Frage zu dis-
kutieren. Dabei kann auch das berechtigte Anliegen der
Kommunen aufgegriffen werden, im Rahmen einer Ver-
änderung der Stromnetzentgeltverordnung den Kauf-
preis zu prüfen, um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen.
Abschließend möchte ich nochmals kurz auf das ein-
gangs erwähnte energiepolitische Gesamtkonzept der
Bundesregierung zu sprechen kommen. Darin haben wir
in einem eigenständigen Kapitel die großen Herausfor-
derungen beim Netzausbau dargestellt und aufgezeigt,
welche Handlungen notwendig sind, wenn wir es ernst
meinen mit dem Weg ins Zeitalter regenerativer Ener-
gien.
Neben dem enormen Ausbaubedarf bei den Übertra-
gungsnetzen im Hochspannungsbereich gehört dazu vor
allem auch die Notwendigkeit, massivst in die Verteil-
netze im Niedrigspannungsbereich zu investieren. Mit
jedem Megawatt an Photovoltaikzubau fallen entspre-
chende zusätzliche Investitionen im Verteilnetzbereich
an.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6989
(A) (C)
(D)(B)
Wenn wir über Ziele und Maßnahmen reden, müssen
wir auch so ehrlich sein zu sagen, was uns das kostet,
und zugleich dazu stehen, dass uns dies wert ist. Unsere
ambitionierten Ausbauziele bei den erneuerbaren Ener-
gien dürfen nicht daran scheitern, dass wir den Gesamt-
rahmen aus den Augen verlieren, und dazu gehört der
Ausbau der Verteilnetze. Diesen Punkt dürfen wir bei
dieser Diskussion um das Energiewirtschaftsgesetz nicht
vergessen.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Unsere Strom- und
Gasnetze sind in der Tat ein wichtiges Thema. Ohne eine
leistungsfähige Netzinfrastruktur werden wir unser Ziel,
den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostrom-
verbrauch bis 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen, nicht er-
reichen. Deshalb haben wir dieses Thema auch in unse-
rem Energiekonzept umfassend berücksichtigt, etwa
indem wir planen, intelligente Netze zu schaffen oder
ein „Zielnetz 2050“ zu entwickeln.
Was nun den debattengegenständlichen Antrag der
Grünen angeht, so ist zunächst richtig: Städte und Ge-
meinden entscheiden im Rahmen eines Konzessionsver-
trages, wer der örtliche Strom- bzw. Gasverteilnetzbe-
treiber sein soll. Konzessionsverträge können für
maximal 20 Jahre abgeschlossen und müssen öffentlich
ausgeschrieben werden.
In den nächsten Jahren laufen die Konzessionsver-
träge bundesweit überwiegend aus. Das betrifft circa
2 000 Konzessionsverträge, die in den kommenden zwei
Jahren neu abgeschlossen werden müssen.
Entscheidend ist auch: Die auslaufenden Konzessions-
verträge schaffen gute Voraussetzungen für Wettbewerb
im Verteilnetzbetrieb. Die mit dem Auslaufen der Kon-
zessionsverträge verbundenen Ausschreibungen beflü-
geln diesen, ja sind Voraussetzung für einen Wettbewerb
um den effizienten Verteilnetzbetrieb, der so in Stufen
realisiert wird.
Nun zur Kritik der Grünen an der bestehenden Geset-
zeslage: Sie kritisieren die geltende Regelung des § 46
Abs. 2 EnWG als unzureichend, weil insbesondere zu
unbestimmt. Im Gesetz heißt es nämlich, dass bei Nicht-
verlängerung eines Konzessionsvertrags der bisherige
Netzbetreiber verpflichtet ist, die Verteilungsanlagen im
Gemeindegebiet dem neuen Energieversorger gegen
Zahlung einer angemessenen Vergütung zu überlassen.
Sie haben insofern Recht, als hier unter anderem un-
bestimmte Rechtsbegriffe verwandt werden. Dies ist al-
lerdings dem Umstand geschuldet, dass bewusst keine
Einzelfallregelung getroffen, sondern ein weiter Anwen-
dungsbereich eröffnet werden soll. Falsch ist die
Schlussfolgerung, dass diese offene Regelung, die im
Einzelfall verhandelt werden muss und darf, Gemeinden
vom Wechsel des Konzessionärs abhalten würde. In der
Praxis, die ich auch als aktiver Kommunalpolitiker
kenne, entscheidet die Gemeinde über den Konzessionär.
Die Verhandlungen auf Basis des § 46 Abs. 2 Satz 2
EnWG müssen anschließend Alt- und Neukonzessionär
miteinander führen. Sie pflichten mir doch bei, dass dies
zwischen den Energieversorgern im Regelfall auf Au-
genhöhe geschehen dürfte. Ich kann nicht erkennen, dass
es notwendig ist, in der im Antrag geschilderten Art und
Weise den Gemeinden beizuspringen. Sie haben nämlich
mit der Auslegung des § 46 Abs. 2 Satz 2 EnWG höchs-
tens mittelbar insofern zu tun, als sich ein Rechtsstreit
zwischen den Energieversorgern entfachen könnte.
Demgegenüber behaupten die Grünen, dass der Wechsel
nicht erfolgen würde, weil die Gemeinden angeblich
„drohende juristische Auseinandersetzungen mit einem
mächtigen und finanzkräftigen Energiekonzern“ fürch-
ten.
Meine Damen und Herren, im Gesetzgebungsverfah-
ren hat der Gesetzgeber trotz entsprechender Vorschläge
davon abgesehen, eine ausdrückliche Verpflichtung zur
Eigentumsübertragung aufzunehmen. Eine Verpflich-
tung zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeigne-
tes, aber milderes Mittel, um dem neuen Netzbetreiber
eine Verfügungsmacht über die für den Netzbetrieb not-
wendigen Anlagen einzuräumen, was sich dann auch in
der wirtschaftlich angemessenen Vergütung niederschla-
gen wird. Soweit praktische Probleme bei einer Netz-
überlassung ohne Eigentumsübertragung möglich sind
– zum Beispiel die Pflicht zur Weiterübertragung des
Netzes nach Ablauf des neuen Konzessionsvertrages –,
können diese vertraglich bei der Gebrauchsüberlassung
geregelt werden.
Mit Festschreibung einer wirtschaftlich angemesse-
nen Vergütung soll sichergestellt werden, dass der Ver-
sorgerwechsel nicht an einer eben prohibitiv hohen Ver-
gütung scheitert. Über die konkrete Höhe müssen sich
die Parteien im Verhandlungswege einigen. Die Fest-
schreibung eines konkreten Verfahrens zur Ermittlung
der Vergütungshöhe würde einen Eingriff in die Ver-
tragsfreiheit darstellen – und den wollen wir eben nicht.
Wenn teilweise sogar eine Begrenzung der Vergütung
auf den kalkulatorischen Restwert gefordert wird, wäre
dies bei abgeschriebenen Netzen faktisch eine Verpflich-
tung zur „Zwangsschenkung“. Auch das wollen wir
nicht, deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Rolf Hempelmann (SPD): Der Antrag der Grünen
geht im Kern um die Stärkung der kommunalen Energie-
wirtschaft. Damit sprechen die Grünen ein Thema an,
das auch der SPD-Fraktion am Herzen liegt. Die kom-
munalen Unternehmen haben in der Vergangenheit be-
wiesen, jedenfalls viele von ihnen haben das getan, dass
sie kundenorientierte Energiedienstleistungen mit inno-
vativen Konzepten voranbringen können. Damit schaf-
fen sie die Voraussetzungen für mehr Energieeffizienz
auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite, eine Ent-
wicklung, die wir brauchen, um ohne Lebensqualitäts-
verlust mit weniger Energie auskommen zu können.
Konkret geht es dem Antragsteller um die Schaffung
von Rechtssicherheit bei der Übertragung von Verteil-
netzen von Strom und Gas. Im Antrag ist zutreffend be-
schrieben, welche Schwierigkeiten in den letzten Jahren
immer wieder beim Wechsel von Konzessionsverträgen
aufgetreten sind. Wir teilen die Auffassung, dass eine
wesentliche Ursache in den rechtlich unbestimmten Be-
grifflichkeiten zum Konzessionswechsel in § 46 EnWG
begründet sind. Dadurch begünstigt die jetzige Gesetzes-
6990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(A) (C)
(D)(B)
lage die Fortsetzung des Status quo, führt also häufig
dazu, dass Kommunen ihr Netz nicht rückerwerben, son-
dern dem alten Konzessionär weiter überlassen.
Neben den unklaren Wechselregelungen in § 46 spie-
len auch andere vom Antragsteller angeführte Aspekte
eine den Wechsel behindernde Rolle. So fehlen in der
Tat kaufinteressierten Kommunen oft maßgebliche In-
formationen über die technische und wirtschaftliche Si-
tuation des Netzes, Informationen, die für die Bewertung
eines Netzkaufs oder Netzrückkaufs aber unbedingt er-
forderlich sind. Auch die in § 46 vorgegebene „wirt-
schaftlich angemessene Vergütung“ als Grundlage zur
Berechnung des Netzkaufpreises ist zu unbestimmt und
unklar. Viel zu oft bestehen Meinungsverschiedenheiten
zwischen Käufer und Verkäufer darüber, welches Entgelt
für die Übernahme eines Netzes tatsächlich angemessen
ist.
Was ist die Folge dieser Unklarheiten und Regelungs-
lücken? Eine der Folgen jedenfalls ist, dass eine Vielzahl
von Fällen vor Gericht geklärt werden muss. Das führt
zu jahrelanger Rechtsunsicherheit aufseiten der Kommu-
nen und nährt die Befürchtung, dass notwendige Investi-
tionen in die betroffenen Netzabschnitte ausbleiben.
Wie ich eingangs dargestellt habe, unterstützt die SPD
den Rekommunalisierungstrend im Bereich der Strom-
und Gasverteilnetze und sympathisiert insofern auch
grundsätzlich mit dem vorliegenden Antrag. Wir glau-
ben allerdings, dass noch einige Ergänzungen notwendig
und sinnvoll wären.
Erstens. Zwar fordert der Antragsteller zu Recht, ge-
stützt durch mehrere OLG-Urteile, dass zur Bestimmung
des Kaufpreises das Ertragswertverfahren vorgegeben
werden sollte. Dies wäre auch deshalb sinnvoll, weil auf
diese Weise die Kostenanerkennung durch die Bundes-
netzagentur weitgehend gesichert wäre. Um allerdings
zu vermeiden, dass quasi schrottreife Netze zu überhöh-
ten Preisen den Besitzer wechseln, muss gewissermaßen
als Korrektiv – auch das schlagen die Oberlandesge-
richte vor – aus unserer Sicht der Tagesneuwert berück-
sichtigt werden, also der tagesaktuelle Zustand des Net-
zes. Nur so wäre tatsächlich ein angemessener Kaufpreis
sichergestellt und der bisherige Eigentümer auch bei ei-
nem anstehenden Konzessionswechsel motiviert, weiter-
hin notwendige Investitionen vorzunehmen.
Zweitens. Ein weiterer Punkt, der unseres Erachtens
einer pragmatischen Lösung bedarf, betrifft die zum Teil
jahrelange Dauer und die hohen Kosten der gerichtlichen
Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten. Hier
schlagen wir die Einführung einer Verpflichtung vor,
spätestens ab einem halben Jahr Verfahrensdauer und ab-
sehbaren erheblichen Zeitverzögerungen eine Schlich-
tungsstelle anrufen zu müssen.
Drittens. Auch wenn wir die Forderung nach einer
umfassenden Informationsweitergabe frühzeitig vor
Auslaufen einer Konzession unterstützen, legen wir auf-
grund der Vielzahl betriebswirtschaftlich relevanter und
sensibler Daten Wert darauf, dass die Informationen
nicht quasi am Schwarzen Brett ausgehängt werden und
anschließend frei vagabundieren können. Dies lässt sich
zwischen den Beteiligten mit verpflichtenden Vertrau-
lichkeitsvereinbarungen regeln, deren Verletzung aller-
dings mit hohen Konventionalstrafen belegt sein muss.
Mit diesen Ergänzungen findet der Gesetzentwurf un-
sere Unterstützung. Allerdings gehen wir davon aus,
dass die Initiative in den breiteren Kontext der Novellie-
rung des Energiewirtschaftsgesetzes eingebettet werden
sollte. Diese muss ohnehin zeitnah erfolgen. Sie bietet
Gelegenheit, weitere, gerade die Verteilnetze betreffende
Fragen zu klären, zum Beispiel die Anpassung der Netz-
regulierung an neue Herausforderungen wie Smart Grids
und horizontale Stadtwerkekooperationen.
Wir werden entsprechende Vorlagen und Empfehlun-
gen formulieren, die wir unsererseits kurzfristig in das
parlamentarische Verfahren einspeisen.
Klaus Breil (FDP): Der Gesetzentwurf der Grünen
verfolgt zwei Ziele:
Erstens soll die kommunale Energiewirtschaft ge-
stärkt werden – das ist super.
Zweitens soll Rechtssicherheit bei der Übertragung
von Verteilnetzen für Strom und Gas geschaffen werden.
Das ist auch super – so weit unterschreiben wir beides:
Wettbewerb und Rechtssicherheit – toll! Auf Rechtssi-
cherheit folgt nämlich Planungssicherheit. Genau das
brauchen unsere Unternehmen. Und genau das haben
wir ihnen durch unser Energiekonzept für die nächsten
Jahre gegeben.
Verwechseln Sie Planungssicherheit aber bitte nicht
mit Planwirtschaft. In diese Richtung versuchen die Grü-
nen uns nämlich ständig bei der Energiepolitik zu drän-
gen. Dass das nur wenig bringt, zeigt der Zwischenbe-
richt der „Ökohauptstadt Freiburg“. Dort wurde das
Planziel einer regenerativen Stromerzeugung von
10 Prozent für 2010 mit 3,7 Prozent nur ganz knapp ver-
fehlt.
Aber zurück zum Anfang – Stichwort Wettbewerb:
Mehr Wettbewerb bei der Energieerzeugung – das ist
eine der Ur-Forderungen der FDP. Wie ich finde, bekom-
men die Mittelständler der Energiewirtschaft das bis
dato ganz gut hin. Sie denken fortschrittlich. Sie inves-
tieren, zwar nicht ausschließlich – aber doch ganz be-
achtlich – in klimaschonende Erzeugungskapazitäten.
Und sie stellen sich breit auf, unter anderem mit Biogas-
und Biomasseanlagen, Erdgas-BHKWs, Windkraftanla-
gen, onshore wie offshore, und mit KWK-Anlagen.
Damit tragen sie schon heute zu 8 Prozent
– 50 TWh – zur deutschen Stromerzeugung bei. Und
das wird nicht weniger werden. Im Gegenteil: Stadt-
werke können über Beteiligungen an Offshore-Wind-
parks durch das 10-Punkte-Sofortprogramm des Ener-
giekonzeptes diesen Anteil noch weiter ausbauen.
Gleiches kann die Förderung CCS-fähiger fossiler
Kraftwerke für Akteure mit weniger als 5 Prozent
Marktanteil schaffen. Ich glaube, dass wir den Stadtwer-
ken damit mehr Rückenwind für ihre Entwicklung geben
konnten. – So weit, so gut auf der Erzeugungsseite.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6991
(A) (C)
(D)(B)
Aber zwischen Erzeuger und Verbraucher steht noch
der Verteiler – also das Netz. Mehr und mehr Kommu-
nen haben in der Vergangenheit ihre Netze privatisiert.
Das war für sie – in schweren Zeiten – ein probates Mit-
tel gegen Geldnot. Man hat dann Energieunternehmen
durch Konzessionsverträge den Aufbau und Betrieb der
Versorgungsnetze erlaubt – sale and lease back. In den
kommenden Jahren laufen viele dieser langfristig ange-
legten Verträge aus. Manche Kommune sieht darin die
Möglichkeit, politischen Einfluss auf die lokale Energie-
versorgung zurückzugewinnen.
Ist das die einzige Motivation zur Rekommunalisie-
rung der Verteilnetze? Die Kommunen wollen trotz
klammer Kassen ihre Netze zurückkaufen. Gleichzeitig
kritisieren sie via Verbände die Netzentgelte als zu nied-
rig. Da stellt sich mir die Frage: Weshalb möchte man
ein Investment machen, das sich augenscheinlich nicht
lohnt? Finanziell kann das so attraktiv doch nicht sein –
erst recht nicht, wenn man die Mittel dafür nicht locker
hat.
Was ist es aber dann? Ein auslaufender Konzessions-
vertrag, der nicht verlängert wird. Und eine Kommune,
die ihr Netz selbst wieder betreiben kann. Beide ändern
nichts an den Regeln für den Wettbewerb auf dem Ener-
giemarkt. Jeder Kunde kann schon heute seinen Energie-
lieferanten frei wählen. Ihm ist es also völlig egal, wer
per Konzessionsvertrag für den Netzbetrieb verantwort-
lich ist.
Jetzt führen Sie bitte nicht an, Rekommunalisierung
diene dem Klimaschutz. Die Kommunen haben auch so
schon die Möglichkeit, in dezentrale Erzeugungslösun-
gen und erneuerbare Energien zu investieren. Dafür
brauchen sie keine eigenen Netze. Und „eigene“ meine
ich im Sinne Ihres Gesetzesentwurfes. Sie möchten, dass
die Kommunen wieder Eigentümer der Netze werden.
Da sehen wir einiges anders als Sie: Wir wollen einen
echten Wettbewerb um Konzessionen. Was wir aber
nicht wollen, ist, das Energiewirtschaftsgesetz zu einem
Schutzgesetz für die Kommunen zu machen. Das hat be-
reits das OLG Düsseldorf in aller Klarheit festgestellt –
ich zitiere –:
Der Zweck des Energiewirtschaftsgesetzes besteht
nicht in dem Schutz der Gemeinde, etwa um die
Entscheidungsfreiheit der Gemeinde zu erweitern,
sondern in der Ermöglichung des Wettbewerbs
durch Dritte.
Wir wollen keine Staatsnetze. Wir wollen, dass sich
der effizienteste Netzbetreiber im Wettbewerb um die
Konzessionen durchsetzt. Das bedeutet Transparenz und
Gleichbehandlung für alle potenziellen Bewerber um die
Netzkonzession. Die Kommune muss daher bei einer
Neuausschreibung der Konzession alle Bewerber mit In-
formationen versorgen. Sie darf nach dem Sinn des Ge-
setzes sich selbst dabei nicht bevorzugen, wenn sie das
Netz übernehmen will. Denn natürlich benötigt jeder
Wettbewerber um die Konzession Informationen über
das Netz, bevor er seine Entscheidung trifft.
Statt zu klagen, sollten die Kommunen selbst etwas
zur Besserung der Lage tun. Sie sind die Herren des Ver-
fahrens. Jede Kommune kann die Konzessionsinhaber
vertraglich verpflichten, bei Auslaufen der alten Konzes-
sion die potenziellen Mitbewerber ausreichend mit In-
formationen zu über das Netz zu versorgen. Beim Wech-
sel des Betreibers eines „Netzes zur allgemeinen
Versorgung“ gibt es im Energiewirtschaftsgesetz eine
Überlassungspflicht. Entgegen Ihrer Argumentation gibt
es darin sehr wohl eine eindeutige Regelung zur Übertra-
gung der Anlagen an einen Neukonzessionär. Allerdings
hat man damals davon abgesehen, eine ausdrückliche
Verpflichtung zur Eigentumsübertragung aufzunehmen.
Eine Verpflichtung zur Gebrauchsüberlassung ist ein
ebenso geeignetes, aber weitaus milderes Mittel. Auch
so wird einem neuen Betreiber die Verfügungsmacht
über die notwendigen Anlagen eingeräumt.
Außerdem: Mit Festschreibung einer wirtschaftlich
angemessenen Vergütung stellen wir sicher, dass der
Versorgerwechsel nicht an einer verboten hohen Vergü-
tung scheitert. Wir lehnen eine allgemeine Begrenzung
der Vergütung auf den kalkulatorischen Restwert ab. Bei
abgeschriebenen Netzen bedeutet das nämlich eine Ver-
pflichtung zur Zwangsschenkung. An dieser Stelle sei an
Art. 14 des Grundgesetzes erinnert – unzulässiger Ein-
griff in die Eigentumsfreiheit.
Daher lehnen wir Ihren Gesetzesentwurf ab.
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Die Koalition
will – ich zitiere aus ihrem zweifelhaften Energiekon-
zept – „den Wettbewerb und eine marktwirtschaftliche
Orientierung auf den Energiemärkten stärken.“ Dass es
ihr dabei ausschließlich um die Stärkung des Wettbe-
werbs für die vier Atomkonzerne geht, ist im ganzen
Land bekannt. Nicht umsonst spricht auch der Deutsche
Städtetag im Zusammenhang mit der Laufzeitverlänge-
rung von einer „Gefährdung der Wirtschaftlichkeit der
Investitionen von Städten und ihrer Unternehmen in Er-
neuerbare Energie“.
Die Linke hat ein Gegenkonzept zu dieser Agenda für
die Energiekonzerne – gegen das schwarz-gelbe Ener-
giekonzept – mit der Forderung nach einer umfassenden
Rekommunalisierung des Energiesektors. Der Energie-
sektor muss als Bereich der öffentlichen Daseinsvor-
sorge unter demokratische Kontrolle gestellt werden.
Wer sollte das besser bewerkstelligen als die Kommunen
selbst? Viele Konzessionsverträge zwischen großen
Energieunternehmen und den Kommunen laufen dem-
nächst aus. Genau da setzt ein Hebel an, der den Umbau
zu erneuerbaren Energien wesentlich antreiben kann,
denn Gemeinden können in Konzessionsverträgen fest-
schreiben, dass Gewinne in erneuerbare Energien inves-
tiert werden können; sie können Vorgaben für den
Stromeinkauf machen. Sie können mit dem Auslaufen
der Konzessionen also auf vielfältige Weise bestimmen,
wie der regionale Strommix aussehen soll.
In vielen Städten wollen die örtlichen Stadtwerke die
Netze selbst nutzen. Viele Stadtwerke mit mehrheitlich
kommunaler Beteiligung haben den Wunsch, die Bürge-
rinnen und Bürger mit regional erzeugtem erneuerbaren
Strom zu versorgen. Es ist die Aufgabe von Bundespoli-
tik, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen,
6992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(A) (C)
(D)(B)
um genau solchen Stadtwerken die Übereignung der
Energienetze so einfach wie möglich zu gestalten – für
einen nachhaltigen Klimaschutz, für Bürgerbeteiligung
und für die Wertschöpfung in regionalen Wirtschafts-
kreisläufen. Es kann deshalb nicht sein, dass sich Ener-
giekonzerne hinstellen und bei Auslaufen der Konzes-
sionsverträge horrende und völlig utopische Summen für
die zum Teil völlig überalterten Netze verlangen. Dass
das Ende von Konzessionen regelmäßig in Jahre andau-
ernden Rechtsstreitigkeiten mündet, zeugt von der
Dreistigkeit und der Profitgier der Konzerne gegenüber
Kommunen. Ein Beispiel: Die Stadt Wolfhagen hat als
erste Stadt in Nordhessen ihr Stromnetz von Eon zurück-
gekauft. Sie will bis 2015 ihren gesamten Strombedarf
aus erneuerbaren Energien decken. Die Kaufsumme für
die Netze von 2,4 Millionen Euro lag nach Einschätzung
der Stadtwerke 180 Prozent über dem tatsächlichen
Wert. Dort hat erst der Gang vor das Bundesverwal-
tungsgericht eine Lösung schaffen können. Noch ein
Beispiel: RWE musste auf Drängen des Oberverwal-
tungsgerichts 2,8 Millionen D-Mark an die Gemeinde
Nürnbrecht in Nordrhein-Westfalen zurückzahlen.
Solche Beispiele gibt es noch einige, und ohne eine
klare Regelung zur Festsetzung des wirklichen Wertes
regionaler Energienetze steht eine Flut von gerichtlichen
Auseinandersetzungen bevor – allerdings nur, wenn
Kommunen durch die Dreistigkeit der Konzerne nicht
abgeschreckt werden und die Gerichtskosten vorstrecken
können. Es ist ganz klar, dass hier massiver Handlungs-
bedarf besteht, der die Kommunen bei ihrem Streben
nach erneuerbaren Energien und Selbstbestimmung un-
terstützt. Deshalb begrüßt die Linke den Gesetzentwurf
von Bündnis 90/Die Grünen; wir halten ihn aber noch
nicht für weitgehend genug.
Kommunen, genossenschaftliche Bürgerinitiativen
und auch andere regionale Energieanbieter oder Vereini-
gungen müssen jederzeit in der Lage sein, sich gegen
Atomkraft, gegen Kohlekraft, gegen überzogene Lei-
tungsgebühren, gegen dubiose Strombörsenspekulatio-
nen und für erneuerbare Energien, für Kraft-Wärme-
Kopplung, für Energieeffizienz, für Klimaschutz und für
demokratische Mitbestimmung zu entscheiden. In den
Kommunen selbst müssen die Bürgerinnen und Bürger
durch viel niedrigere Hürden bei Bürgerbegehren und
Volksentscheiden selbst entscheiden können, ob sie wei-
terhin Strom und Gas vom fossil-nuklearen Großanbieter
beziehen wollen oder ob sie die Sache selbst in die Hand
nehmen. Dafür müssen sie Konzessionsverträge jeder-
zeit kündigen können und die Energienetze zu Konditio-
nen übereignet bekommen, die der Realität entsprechen.
Wenn die Koalition es mit der Wettbewerbsfähigkeit
ernst nimmt, dann erhört sie die Hilferufe aus den Ge-
meinden und Städten und beendet endlich ihre unsägli-
che Lobbypolitik für die Energiekonzerne. Denn was
entgegen des Atom- und Kohlewahnsinns der Koalition
tatsächlich verbraucherfreundlich und preisdämpfend
wirkt, ist die Rekommunalisierung – wie in Ahrensburg,
wo der rekommunalisierte Gasanbieter nach dem ersten
Abrechnungsjahr 1,4 Millionen Euro an die Kunden zu-
rückzahlen konnte.
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
Deutschland laufen aktuell und in den kommenden Jah-
ren Tausende sogenannter Konzessionsverträge zwi-
schen Kommunen und Energieversorgungsunternehmen
zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnetzen aus. Das
bietet Kommunen die Chance, ihre Netze in Zukunft
wieder in Eigenregie oder aber in Kooperation mit ande-
ren Kommunen betreiben zu können oder einfach nur
einen anderen Netzbetreiber zu wählen. Das ist Wettbe-
werb um die Netze, das ist originärer Handlungsspiel-
raum von Kommunen, den wir stärken sollten.
Viele Kommunen wollen mit den Verteilnetzen als
Rückgrat bei der Energiezeugung selbst aktiv werden:
dezentral, mit erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-
Kopplung vor Ort. Dabei wollen wir sie unterstützen.
Wir brauchen Kommunen mit Stadtwerken als Akteuren
im Energiemarkt. Doch leider legt das Energiewirt-
schaftsgesetz in seiner aktuellen Fassung den Kommu-
nen einen großen Stein in Form von § 46 Abs. 2 EnWG
in den Weg, wenn sie am Ende der Laufzeit von Konzes-
sionsverträgen wieder an ihre Netze kommen wollen.
So ist der aktuelle Netzbetreiber zum Beispiel nicht
verpflichtet, der Kommune relevante Daten über das
Netz und dessen Zustand zur Verfügung zu stellen. Wie
ich aus vielen Kommunen höre, geschieht dies in den al-
lermeisten Fällen auch nicht oder die Informationen
kommen unvollständig und mitunter viel zu spät und
müssen oft erst über das Gericht eingeklagt werden. Den
Kommunen fehlt damit jegliche Grundlage, über die Zu-
kunft ihrer Netze entscheiden zu können.
Aber es gibt noch mehr Probleme. Bei der Feststel-
lung eines Kaufpreises sieht das Energiewirtschaftsge-
setz eine „angemessene wirtschaftliche Vergütung“ vor,
den die Kommunen oder ein neuer Netzbetreiber an den
bisherigen zu zahlen haben. Was ist denn bitte eine „an-
gemessene wirtschaftliche Vergütung“? Die Forderun-
gen liegen oft 100 Prozent auseinander, und ich kenne
keinen Fall, wo die Sache nicht am Ende vor Gericht ge-
landet wäre. Deshalb geschieht es leider nur all zu häu-
fig, dass eine Kommune sich nur deshalb wieder für den
gleichen Netzbetreiber entscheidet, weil sie die gerichtli-
che Auseinandersetzung scheut. Das können wir nicht
wollen; wir wollen kommunale Entscheidungsfreiheit
und Wettbewerb um die Netze.
Ich habe die Bundesregierung schriftlich gefragt, ob
sie gedenkt, an der unbefriedigenden Formulierung des
§ 46 Abs. 2 EnWG etwas zu ändern. Die Antwort der
Bundesregierung war so knapp wie unmissverständlich:
Sie antwortete mit einem Wort: „Nein“. So grandios
setzt sich die Bundesregierung für die Rechtssicherheit
der Kommunen ein. Aber das passt genau ins Bild, denn
es sind in der Regel RWE & Co., welche die Verteilnetze
jetzt betreiben und diese natürlich nicht hergeben wol-
len.
Mit unserem Gesetzentwurf ließen sich diese Pro-
bleme lösen. Wir schlagen vor, den § 46 EnWG dahin
gehend zu konkretisieren, dass der Kaufpreis für die
Netze nach dem Ertragswertverfahren definiert wird.
Das ist sachgerecht und entspricht am ehesten dem Wert
der Netze. Außerdem wollen wir klarstellen, dass der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6993
(A) (C)
(D)(B)
bisherige Nutzungsberechtige und Konzessionsnehmer
das Netz dem neuen Konzessionsnehmer nicht nur wie
im gültigen EnWG formuliert überlässt, sondern über-
eignet und damit alle Rechte am Netz dauerhaft aufgibt.
Damit die Kommune überhaupt mit ausreichendem zeit-
lichen Vorlauf in die Lage versetzt wird, den Wert des
Netzes und daraus resultierende wirtschaftliche Perspek-
tiven des Netzbetriebes für sich selbst und für Dritte ein-
zuschätzen, soll der bisherige Konzessionsnehmer ver-
pflichtet werden, drei Jahre vor Vertragsende alle
diesbezüglichen Informationen zur Verfügung zu stellen.
Nur mit einem solchen Vorlauf können seriöse Verhand-
lungen auf einer soliden Grundlage an Daten und Infor-
mationen geführt werden.
Im Sinne der betroffenen Kommunen und für mehr
Wettbewerb im Energiemarkt angesichts Tausender aus-
laufender Konzessionsverträge brauchen wir eine
Neufassung des § 46 EnWG. In diesem Sinne hoffe ich,
dass wir in den Ausschüssen im Unterschied zum kate-
gorischen „Nein“ der Bundesregierung konstruktiv über
das Thema sprechen und vielleicht sogar einen Konsens
erreichen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebenen Reden
zu Beratung des Entwurfs eines Neunten Geset-
zes zur Änderung des Bundes-Immissions-
schutzgesetzes (Tagesordnungspunkt 18)
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): 50 Millionen Kraft-
fahrzeuge fahren auf den deutschen Straßen. Insgesamt
beträgt der Energieverbrauch im Verkehrssektor
28 Prozent. Dieser Energiebedarf wird fast ausschließ-
lich durch Mineralölprodukte gedeckt: durch Ottokraft-
stoffe und Dieselkraftstoffe. Es ist an der Zeit, auch in
diesem Bereich den Weg hin zu den erneuerbaren Ener-
gien zu beschreiten, sowohl um knappe Ressourcen zu
schonen als auch, um das Klima zu schützen.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, den wir
heute beraten, wird nun die Möglichkeit flankiert, ab
2011 Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumenprozent
Bio-Ethanol in Verkehr zu bringen. Anstatt wie bisher
nur Kraftstoff mit der zulässigen Beimischungsgrenze
für Bio-Ethanol von 5 Volumenprozent, werden die Au-
tofahrer künftig Kraftstoff mit 10 Prozent Ethanolanteil
an ihrer Tankstelle tanken können.
Durch die Einführung von E10 wird der Biokraftstoff-
anteil pro Liter Kraftstoff erhöht. Dies wird es überhaupt
erst ermöglichen, dass die anspruchsvollen, durch das
Biokraftstoffquotengesetz vorgeschriebenen Biokraft-
stoffanteile erfüllt werden können. Das Biokraftstoff-
quotengesetz schreibt seit dem 1. Januar 2007 eine Min-
destbeimischung von Biokraftstoffen zu Motorenbenzin
und Dieselkraftstoff vor. Es verpflichtet die Mineralöl-
wirtschaft, einen jährlich festen und mit den Jahren an-
wachsenden Mindestanteil von Biokraftstoffen in den
Verkehr zu bringen. Dieser Anteil stieg jährlich an und
beträgt in diesem Jahr 6,25 Prozent des Energiegehalts
der gesamten in den Verkehr gebrachten Kraftstoffe (§ 37a
Abs. 3 BImSchG). Mit E5 allein war diese Quote nicht
erreichbar. Durch die Einführung von E10 ist es nun-
mehr möglich, die durch das Biokraftstoffquotengesetz
vorgeschriebenen Biokraftstoffanteile zu erfüllen.
Bioethanol wird aus dem nachwachsenden Kohlen-
stoffträger Biomasse oder den biologisch abbaubaren
Anteilen von Abfällen hergestellt. Durch die zuneh-
mende Beimischung von Bioethanol werden dement-
sprechend weniger fossile Kraftstoffe verbrannt. Bei ent-
sprechender umweltfreundlicher Herstellung, die durch
entsprechende Zertifizierung des Bioethanols nachge-
wiesen wird, verbessern wir dadurch die Klimabilanz
nachhaltig.
Die Bundesregierung hat am 28. September 2010 ein
umfassendes Energiekonzept zur Sicherstellung einer
zuverlässigen, wirtschaftlichen und umweltverträglichen
Energieversorgung beschlossen. Damit liegt zum ersten
Mal seit 20 Jahren ein ideologiefreies, technologieoffe-
nes und marktorientiertes Energieprogramm vor, das alle
energiewirtschaftlich relevanten Bereiche anspricht,
auch den Verkehrsbereich.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die im Energie-
konzept aufgeführten Ziele für die Verminderung von
Treibhausgasen, für den Anteil erneuerbarer Energien
und für Energieeffizienz. Die vorgegebenen Reduktions-
ziele für den CO2-Ausstoß sind ehrgeizig: 40 Prozent
weniger CO2-Ausstoß ab 1990 bis 2020 und 80 bis
95 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2050. Ferner ist für
den Verkehrssektor im Energiekonzept ausdrücklich die
Steigerung des Anteils von Biokomponenten in Kraft-
stoffen festgeschrieben. Die Zielvorgaben für die Dekar-
bonisierung werden schrittweise anspruchsvoller. Zu-
dem ist die Treibhausgasbilanz des Kraftstoffs ein
zentraler Bestandteil für die künftige Begünstigung be-
sonders förderungswürdiger Biokraftstoffe.
Mit der gesetzlichen Regelung soll zum einen dem
Klimaschutz durch eine Verringerung der Verbrennung
mineralischer Kraftstoffe Rechnung getragen werden.
Zum anderen soll durch den Ausbau der Biokraftsstoff-
industrie eine Basis für die Versorgungssicherheit mit
Kraftstoffen geschaffen werden. Versorgungssicherheit
ist neben Klimaverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit
ebenfalls ein Ziel im Zieldreieck unserer Energieversor-
gung. Wir können so unsere Abhängigkeit von impor-
tiertem Öl senken.
Zur Einführung von E10-Kraftstoff soll das Neunte
Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzge-
setzes die Verordnungsermächtigungen des BImSchG
erweitern. Die Bundesregierung wird zum einen ermäch-
tigt, sogenannte Bestandsschutzsorten bei Kraftstoffen
zu regeln. Darüber hinaus wird die Bundesregierung er-
mächtigt, die Datenerhebung bei Mineralölunternehmen
zur Erstellung einer Ökobilanz der Treibstoffe zu regeln.
Bei der Einführung von E10-Kraftstoffen muss dafür
Sorge getragen werden, dass ältere Fahrzeuge, die mög-
licherweise E10-Kraftstoff nicht vertragen, keinen Scha-
den nehmen. Aus diesem Grund ist sicherzustellen, dass
an jeder Tankstelle weiterhin eine Bestandschutzsorte
6994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(A) (C)
(D)(B)
angeboten wird; also eine Sorte Kraftstoff, die problem-
los von allen Fahrzeugen „vertragen“ wird. Die Rege-
lung dieser Bestandsschutzsorten-E5, die wie bisher nur
bis zu 5 Prozent Bioethanol enthalten, ist notwendig, um
die kontinuierliche Versorgung aller auf dem Markt be-
findlichen Fahrzeuge mit geeignetem Kraftstoff sicher-
zustellen. Nach Angaben der Hersteller sind etwa drei
Millionen Fahrzeuge E10-unverträglich, das heißt, sie
können nur mit E5 betrieben werden. In der Hauptsache
handelt es sich um ältere Fahrzeuge. Für den einzelnen
Autofahrer muss leicht und schnell erkennbar sein, ob
sein Auto E10 verträgt oder nicht verträgt. Dazu müssen
die Hersteller, die Importeure und diesmal auch der
ADAC einen Weg finden. Es kann nicht sein, dass hie-
rüber erst im letzten Moment oder gar nicht Auskunft
gegeben wird. Die Einführung von E10 war 2008 nicht
zuletzt daran gescheitert; dies darf sich nicht wiederho-
len.
Der Gesetzentwurf dient im Wesentlichen der Umset-
zung der EU-Kraftstoff-Richtlinie im Hinblick auf die
Spezifikationen für Otto-, Diesel- und Gasölkraftstoffe
und die Einführung eines Systems zur Überwachung und
Verringerung der Treibhausgasemissionen. Darüber hi-
naus erfolgt bei dieser Gelegenheit eine redaktionelle
Anpassung von § 13 BImSchG an das neu nummerierte
Wasserhaushaltsgesetz.
Die EU-Kraftstoffrichtlinie verpflichtet die Mitglied-
staaten, bis Ende des Jahres 2010, das Inverkehrbringen
von Ottokraftstoff mit bis zu 10 Prozent Bioethanol zu
ermöglichen. Darüber hinaus sieht die Richtlinie vor,
dass für Fahrzeuge, deren Motoren einen Anteil von
10 Prozent Bioethanol im Kraftstoff nicht vertragen, si-
cherzustellen ist, dass mindestens bis zum Jahr 2013
Kraftstoffe mit einem maximalen Sauerstoffgehalt von
2,7 Prozent und einem maximalen Ethanolgehalt von
5 Prozent in Verkehr gebracht werden. Zur Umsetzung
der konkreten Anforderungen der Richtlinie soll in
Deutschland die Kraftstoffqualitätsverordnung geändert
werden. Die Regelung von Bestandsschutzsorten in ei-
ner novellierten 10. BImSchV setzt eine Ergänzung der
bereits in § 34 BImSchG vorhandenen Verordnungser-
mächtigungen voraus, die mit diesem Gesetzentwurf ge-
schaffen werden soll.
Die Umsetzung der EU-Richtlinie bis zum Jahresende
ist für die Mitgliedsländer Pflicht. Ich bitte Sie daher um
die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung.
Ute Vogt (SPD): Der vorliegende Gesetzentwurf hat
– unter anderem – die „Einführung eines Systems zur
Überwachung und Verringerung von Treibhausgasemis-
sionen“ zum Ziel, wie es die EU-Richtlinie 2009/30/EG
vom 23. April 2009 vorsieht. Ein zentraler Punkt dabei
ist die Einführung einer verpflichtenden Berichterstat-
tung der Kraftstoffvertreiber über Menge, Art, Erwerbs-
ort und Ursprung des Treibstoffes sowie die Mitteilung
über die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Ener-
gieeinheiten an den Bund. Die Informationspflicht, die
damit neu geschaffen wird, ist eine notwendige Grund-
lage für das Ziel der Verringerung der Treibhausgas-
emissionen.
Sicher ist der uns vorliegende Gesetzentwurf nur ein
winziger Baustein in einer notwendigen Reihe von
Maßnahmen, um dem Ziel der CO2-Reduktion näher zu
kommen. Unter diesem Aspekt stellt sich deshalb auch
die Frage, warum sich die Bundesregierung bis heute
Zeit gelassen hat, einen Vorschlag einer Umsetzung der
EU-Richtlinie in nationales Recht vorzulegen. Schließ-
lich muss die Verordnung laut Vorgabe der EU bis zum
31. Dezember 2010 in allen Mitgliedstaaten umgesetzt
sein. Es ist jedoch zu begrüßen, dass nun endlich eine
Umsetzung der Richtlinie erfolgt und der Einführung
von E10 nichts mehr im Wege steht. Außerdem wird der
Bestandsschutz für ältere Fahrzeuge gewährleistet, in-
dem auch weiterhin Kraftstoff mit einer geringeren Bei-
mischung von Bioethanol im Umlauf bleibt.
Die Grundlagen, die wir heute legen, können zu Ver-
besserungen des Klimaschutzes beitragen. Wir sollten
sie jedoch lediglich als kleinen Baustein auf dem Weg
der Reduktion von CO2 sehen. Denn ernst zu nehmen ist
die Kritik verschiedener Umweltverbände, dass Bioetha-
nol nicht in letzter Konsequenz „Bio“ und klimaneutral
ist. Der in Deutschland hergestellte Biokraftstoff ent-
spricht ökologischen Standards – was bedauerlicher-
weise in vielen anderen Ländern der Welt aber nicht der
Fall ist. Wir brauchen deshalb als Konsequenz auf die
Umsetzung der Verordnung rechtlich verbindliche Krite-
rien für Kraftstoffe, die gewissen Nachhaltigkeitskrite-
rien entsprechen. Ein Weg ist es, in Bioethanol nicht die
Lösung der deutschen Treibhausgasemissionen zu sehen
und alternativen Kraftstoffen ebenfalls eine Chance ein-
zuräumen. Bei Einsatz eines Hektars an Ackerfläche zur
Produktion von flüssigen bzw. gasförmigen, biogenen
Kraftstoffen, kann beispielsweise ein mit Biomethan be-
triebener Pkw eine bis zu rund dreimal so lange Strecke
zurücklegen wie ein mit Bioethanol betriebener.
Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die mit die-
ser Gesetzesänderung geschaffene Berichtspflicht für
Kraftstoffvertreiber nicht ein weiteres bürokratisches
Monstrum wird, sondern dass die gewonnenen Erkennt-
nisse zeitnah in aktuelle Politik einfließen. Die für sie
neuen, sehr umfangreichen Berichtspflichten dürfen bei
Kraftstoffvertreibern nicht den Eindruck hinterlassen, sie
werden nur um des Datensammelns willen erfasst. Es
müssen Taten folgen und entsprechende Maßnahmen
umgesetzt werden – und auch weiterhin alternative Me-
thoden, die zur Verminderung von Treibhausgasemissio-
nen beitragen können, verfolgt werden.
Es ist ein erster Schritt, über die neu geschaffene Be-
richtspflicht Fakten über Kriterien von Biokraftstoffen
zu erhalten. Aber Datensammeln allein hilft noch nichts.
Es muss in einem zweiten Schritt die gleiche Anforde-
rung an fossile Kraftstoffe gelten. Denn nur so ist eine
echte Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeit der verschie-
denen Kraftstoffarten gegeben.
Michael Kauch (FDP): Der vorliegende Gesetzent-
wurf schafft die Ermächtigungsgrundlage zur Änderung
der 10. Bundes-Immissionsschutzverordnung dahin ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6995
(A) (C)
(D)(B)
hend, dass insbesondere die Beimischungsgrenze für Etha-
nol im Ottokraftstoff von bisher 5 Prozent auf 10 Prozent
erhöht werden kann. Dies ist ein richtiger Schritt. Denn
der Straßenverkehr trägt einen erheblichen Anteil zu den
Treibhausgasemissionen in Deutschland und Europa bei.
Durch das Gesetz wird die Möglichkeit eröffnet, einen
höheren Anteil regenerativer Energien im Straßenverkehr
einzusetzen. In der letzten Wahlperiode ist die Beimi-
schung von 10 Prozent Ethanol im Benzin mit der Be-
gründung abgelehnt worden, dass es zu Problemen mit
der Motorentechnik kommen kann. Im Koalitionsvertrag
haben Union und FDP daraufhin beschlossen, die Einfüh-
rung von E10 als Option zu ermöglichen. Diese Möglich-
keit wird eröffnet durch eine klare Kennzeichnung, so
dass jeder Fahrer entscheiden kann, welchen Kraftstoff er
tankt. Dies ist ein Schritt zu mehr Klimaschutz im Ver-
kehr und schafft zugleich Sicherheit für die Autofahrer.
Für mehr Umweltschutz im Verkehr beschreitet die Ko-
alition drei Wege: mehr und bessere Biokraftstoffe,
Elektromobilität und Weiterentwicklung der Brennstoff-
zellentechnik. Als FDP wollen wir zudem nicht nur die
Beimischung von Biokraftstoff erleichtern, sondern auch
den Markt für reine Biokraftstoffe wiederbeleben. Damit
meinen wir es ernst: Die von SPD-Finanzminister Peer
Steinbrück ursprünglich zum 1. Januar 2010 vorgese-
hene Steuererhöhung für reine Biokraftstoffe haben wir
deshalb gestoppt. Mit dem Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz haben wir einen Beitrag zur Marktfähigkeit von
reinen Biokraftstoffen geleistet. Mit der Novellierung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes schaffen wir nun
die Grundlage für eine erweiterte optionale Beimischung
von Ethanol.
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Heute sprechen wir
über legalen Alkohol im Auto. Es geht nicht um die Pro-
mille beim Fahrer, sondern um den erzwungenen Alko-
holkonsum für Motoren; denn Ethanol, aus nachwach-
senden Pflanzen gewonnen, wird als CO2-neutraler
Treibstoff eingestuft. Deshalb sollen ab 2011 zwangs-
weise 10 Prozent Alkohol in die Kraftstoffe gemischt
werden; das wäre ein Alkoholanteil im Benzin wie bei
Wein. Damit hofft die Bundesrepublik die Klimaziele zu
erreichen.
Aber gerade beim Klimaschutz muss man komplex in
globalen Maßstäben denken. Ein Problem der Zwangs-
beimischung von Alkohol in diesen Mengen ist, dass
dieser aus Biomasse gewonnen wird. Zuckerrohr wird
angebaut, zu Alkohol destilliert, und dann wird alles ver-
brannt. In Europa stehen wegen Biogasnutzung, Lebens-
mittelproduktion und Agrarrohstoffversorgung bereits
heute keine ausreichenden Flächen zur Verfügung. Also
wird der Alkohol aus der Dritten Welt importiert. Da die
Kraftstoffanbieter diesen Alkohol verpflichtend brau-
chen, kaufen sie die notwendigen Agrarpflanzen auf.
Dieses Gesetz führt in den Entwicklungsländern zur
Umstellung der Nahrungsproduktion auf Energiepflan-
zenanbau. Außerdem sind die großen Kraftstoffanbieter
organisatorisch nicht in der Lage, mit Tausenden Klein-
bauern einzelne Lieferverträge abzuschließen. Also ar-
beiten sie mit Agrargroßunternehmen zusammen; diese
verdrängen dann selbstständige Bauern. So werden so-
ziale Gefüge zerstört, so haben 925 Millionen Men-
schen nicht genug zu essen, und alle sechs Sekunden
verhungert ein Kind, weil ausreichend Land für den
Nahrungsmittelanbau fehlt. Der Druck, neues Ackerland
auf bisher ungenutzte Flächen zu gewinnen, steigt – Ur-
wälder werden gerodet, und Grünland wird zu Acker-
land für Monokulturen. Die Artenvielfalt sinkt, und beim
Pflanzenanbau für Alkohol im Tank gibt es kaum Be-
schränkungen für den Einsatz von Chemikalien und gen-
manipuliertem Saatgut. Damit zerstört dieses Gesetz die
Lebensgrundlagen von Mensch und Tier. Auch Zertifi-
zierungen helfen da nichts. Was nutzt es, wenn Alkohol
für Europa aus zertifiziertem Anbau stammt und die ur-
sprünglich dort angebauten Pflanzen für andere Ab-
nehmer dann auf frischen Rodungsflächen wachsen
müssen? Wir in der Bundesrepublik müssen die Beimi-
schung von Import-Alkohol in Benzin verhindern, so-
lange noch ein Mensch auf der Erde hungert.
Ein Problem kommt auch auf die Nutzer älterer Pkw,
die sich neue Autos nicht leisten können, zu. Ältere Mo-
toren werden durch den hohen Alkoholanteil zerstört.
Ab 2014 ist dies nach dem Auslaufen der Übergangsfrist
unvermeidlich. Die Autohändler haben bereits Dollar-
zeichen in den Augen. Auch der Benzinpreis steigt durch
die Alkoholkosten und die Beimischungskosten an.
Im Öko-Mäntelchen steigern Sie die Mehrwertsteuer-
einnahmen für den Finanzminister. Durch dieses Gesetz
wird Natur zerstört werden; viele Menschen werden ihre
Existenz verlieren. Wer sich hohe Benzinpreise und neue
Autos nicht leisten kann, verliert Mobilität. – Das alles
ist nicht hinnehmbar. Von diesem Gesetz profitieren
Agrarkonzerne, Genmanipulatoren aus der Chemiein-
dustrie und Pkw-Hersteller. Wer dieses Gesetz so verab-
schiedet, zeigt Herz für Konzerne und den Menschen die
kalte Schulter. Daher sagt die Linke Nein zu diesem Ge-
setz, zu diesem Öko-Kolonialismus.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
grüne Fraktion begrüßt, dass nun die Möglichkeit ge-
schaffen wird, Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumen-
prozent Ethanol – also E10 – in Verkehr zu bringen.
Ebenfalls begrüßen wir, dass dabei Nachhaltigkeits- und
Qualitätskriterien berücksichtigt werden. Der Bundesrat
hat darauf hingewiesen, dass es Möglichkeiten gäbe, bei
Sicherstellung der Nachhaltigkeit die Kontrolle dieser
Kriterien mit weniger bürokratischem Aufwand zu be-
werkstelligen. Hier sollte die Bundesregierung noch
nacharbeiten.
Wie wir alle wissen, handelt es sich hier nur um eine
Pflichtaufgabe seitens der EU. Da, wo die Regierungs-
parteien selbst handeln müssten, versagen sie; da wo sie
handeln, machen sie alles schlimmer. Nichts ist geblie-
ben von dem Versprechen des Koalitionsvertrages, die
reinen Biokraftstoffe wieder wettbewerbsfähig zu ma-
chen. Die Besteuerung ist aktuell immer noch zu hoch
für eine Wirtschaftlichkeit; dies belegt selbst der Bio-
kraftstoffbericht der Bundesregierung. Aber es kommt
noch schlimmer: Immer noch ist geplant, die reinen Bio-
kraftstoffe zukünftig so hoch wie Diesel und Benzin zu
6996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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(D)(B)
besteuern. Wer soll hier noch auf die Politik vertrauen
und investieren?
Sie haben zwar die Wiederbelebung des realen Bio-
kraftstoffmarktes in den Koalitionsvertrag geschrieben.
Bisher ist keine Umsetzung erfolgt. Im Energiekonzept
der Bundesregierung findet sich eben keine Aussage zu
einer Steuererleichterung für die reinen Biokraftstoffe.
Sind Sie endlich ehrlich: Eine Wiederbelebung des
Marktes für reine Biokraftstoffe wird es unter Schwarz-
Gelb nicht geben.
Aber die Union und die FDP schauen nicht nur zu,
wie der Reinkraftstoffmarkt für Biokraftstoffe vor die
Hunde geht, sondern sie arbeiten auch im Quotenmarkt
für die Konzerne. Wem außer den Mineralölkonzernen
ist geholfen, wenn zukünftig die Hydrierung in der
Quote erlaubt wird? 3 Prozent Hydrierungsanteil beim
Diesel bedeuten, dass der Mittelstand aus diesem Markt-
segment gedrängt wird. Statt Rapsöl aus deutschen Lan-
den gibt es zukünftig Palmöl aus Indonesien. „Pack den
Regenwald in den Tank“ ist wohl das Leitmotiv der Bio-
kraftstoffstrategie von Röttgen und Aigner. Die Regie-
rung ist wieder den Konzern-Lobbyisten auf den Leim
gegangen.
Das sogenannte Energiekonzept ist das passende
Stichwort, Konzeptionslosigkeit ist das oberste Leitmo-
tiv. In dem ganzen Papier gibt es dutzende Prüfaufträge,
aber keine einzige Aussage dazu, wie reine Biokraft-
stoffe wieder einen Markt bekommen sollen. Ebenfalls
eine Fehlanzeige gibt es beim nationalen Aktionsplan
der Bundesregierung für erneuerbare Energien, der im
Sommer nach Brüssel geschickt wurde. Darin wird zwar
von steigenden Anteilen von Biokraftstoffen berichtet,
es gibt aber keine Maßnahme, die das unterlegen würde.
Die einzig wirkungsvolle Maßnahme für den Ausbau
der erneuerbaren Energien, die etwas Positives bewegen
wird, ist ein schnellstmöglicher Regierungswechsel.
Dies hat offenbar selbst die bayerische Staatsregierung
verstanden. Diese hat einen Antrag in den Bundestag
eingebracht, der sich in den meisten Punkten gar nicht so
schlecht liest. Leider dient der Antrag nur, in Bayern Ak-
tivität vorzugaukeln. Die Unions-Abgeordneten sollten
ihren Job tun und das umsetzen, was sie längst verspro-
chen haben. An der FDP sollte es eigentlich nicht liegen.
Die hatte noch bis zur letzten Bundestagswahl die glei-
chen Versprechen abgegeben. Jetzt müssten Sie nur ihre
eigenen Versprechen halten – und die Biokraftstoffe hät-
ten in Deutschland wieder eine Zukunft.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Biologische Vielfalt
für künftige Generationen bewahren und die
natürlichen Lebensgrundlagen sichern (Zusatz-
tagesordnungspunkt 4)
Josef Göppel (CDU/CSU): „Wir müssen Klima-
schutz und Biodiversität gemeinsam denken“, hat Frau
Bundeskanzlerin Merkel gestern in ihrer Rede auf der
Konferenz zu Klimaschutz und biologischer Vielfalt hier
im Bundestag gesagt, und sie hat es mit einem ein-
drucksvollen Beispiel belegt: Durch den klimawandelbe-
dingten Anstieg der Meeresspiegel stehen die Korallen-
riffe buchstäblich vor dem Untergang. Dieses Beispiel
zeigt, wie die Dinge zusammenhängen. Frau Merkel hat
zugleich deutlich gesagt: „Mit jedem Jahr, das wir ver-
lieren, ist die Anstrengung nachher um so größer.
Nichtstun wird sich bitterlich rächen.“ Wir alle wissen,
die Ursachen und Folgen des Artenschwundes sind auf
vielfache Weise mit den Ursachen und Folgen des Kli-
mawandels verbunden. Ein im Aufbau befindlicher At-
las der UNEP zeigt, wie Gebiete mit besonders hohem
Artenreichtum und Gebiete mit überdurchschnittlicher
CO2-Speicherung zusammenhängen. Es gilt deshalb,
dem Verlust an biologischer Vielfalt mit gleicher Priori-
tät entgegenzutreten wie den Ursachen für den Klima-
wandel.
Ich halte es, in Zeiten massiver Auseinandersetzun-
gen und Konflikte in der Atom- und Energiepolitik, für
äußerst bemerkenswert, dass es in kürzester Zeit gelun-
gen ist, einen so umfassenden und fundierten gemeinsa-
men Antrag zur Bewahrung der biologischen Vielfalt
und zum Schutz unserer Lebensgrundlagen auf den Weg
zu bringen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen
bedanken, die konstruktiv zu diesem Erfolg beigetragen
haben. Der gemeinsame Antrag ist nicht nur ein gutes
Zeichen für das deutsche Parlament, er ist auch ein ein-
deutiges Signal an unsere Partner im Kampf gegen den
Klimawandel und den Artenschwund. Ich bin der festen
Überzeugung, dass der Erhalt der Artenvielfalt nicht nur
eine ethische Verpflichtung zur Bewahrung der Schöp-
fung ist, sondern auch eine existenzielle Bedeutung für
das Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen
hat.
In wenigen Tagen wird die internationale Konferenz
zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt in
Nagoya, Japan, stattfinden. Der gemeinsame Antrag
kommt somit genau zum richtigen Zeitpunkt. Lassen Sie
mich drei Punkte herausgreifen, die zeigen, warum die-
ser Antrag so bedeutend ist. Erstens, wir brauchen ein
klares Biodiversitätsziel im strategischen Plan der Kon-
vention. Der strategische Plan ist der Teil der Konven-
tion, in dem verbindliche Ziele definiert werden. Zwei-
tens, wir brauchen eine wirksame, gerechte und
völkerrechtlich verbindliche Übereinkunft für den Zu-
gang zu genetischen Ressourcen und den Vorteilsaus-
gleich. Ein Großteil der natürlichen Vielfalt befindet sich
in den Entwicklungsländern, die nicht über die notwen-
digen Finanzmittel verfügen, um die Artenvielfalt mit all
ihren Wohlfahrtsleistungen aus eigener Kraft zu schüt-
zen. Zugleich ist die biologische Vielfalt der Regenwäl-
der ein Schatz für die Forschung und Wirtschaft in vie-
len Industrieländern. Drittens, wir brauchen einen
langfristigen und verlässlichen Finanzierungsmechanis-
mus für die Errichtung und dauerhafte Sicherung eines
weltweiten Schutzgebietsnetzes. Dazu gehört elementar
auch der Waldschutz. Deutschland hat 500 Millionen
Euro bis 2012 und ab 2012 jährlich 500 Millionen für
den Erhalt und die nachhaltige Entwicklung bedrohter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6997
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Ökosysteme, insbesondere Wälder, zugesagt. Diese Mit-
tel müssen nun auch eingesetzt werden.
Man kann die Frage stellen, warum sollen wir hier in
Deutschland für den Erhalt der tropischen Urwälder be-
zahlen. Die Antwort ist: So wie die europäischen Land-
wirte erwarten, von der Allgemeinheit für Leistungen
des Umweltschutzes entschädigt zu werden, genauso er-
warten die Menschen in den Entwicklungsländern finan-
ziellen Ausgleich für den Schutz der Artenvielfalt, deren
wirtschaftliche Vorteile hauptsächlich den Industrielän-
dern zugutekommen. Norwegen gibt für den Schutz der
tropischen Wälder seit 2007 jährlich 500 Millionen US-
Dollar und in diesem Jahr nochmals eine Milliarde US-
Dollar zusätzlich aus.
Der Biodiversitätsverlust trifft die wirtschaftlich
schwächsten Regionen der Erde am stärksten. Die biolo-
gische Vielfalt leistet besonders in Entwicklungs- und
Schwellenländern einen unverzichtbaren Beitrag zur
nachhaltigen Entwicklung, Armutsbekämpfung, Ernäh-
rungssicherung, Trinkwasserschutz, Klimaschutz und
Anpassung an den Klimawandel. Wer Leistungen für die
Gesellschaft erbringt, muss dafür besser gestellt sein als
derjenige, der nur die gesetzlichen Mindestanforderun-
gen erfüllt oder zur Zerstörung der Artenvielfalt beiträgt.
Auch in unserem Land gibt es Artenverluste. Nur ein
Beispiel: Nach dem Auslaufen der EU-Flächenstille-
gungsprogramme steht heutzutage eine der bekanntesten
Vogelarten der offenen Kulturlandschaft, die Feldlerche,
auf der Roten Liste. In Deutschland hat der Bestand zwi-
schen 1980 und 2005 um etwa 30 Prozent abgenommen.
Bei der Neuregelung der gemeinsamen Agrarpolitik
muss deshalb der Schutz der biologischen Vielfalt be-
rücksichtigt und honoriert werden. Mit dem kooperati-
ven Naturschutz, wie er mit den Landschaftspflegever-
bänden heute schon praktiziert wird, haben wir ein
brauchbares Instrument, um die biologische Vielfalt in
Deutschland zu stabilisieren.
Ich möchte zum Schluss nochmals auf die Worte von
Frau Merkel zurückkommen, des gesagt hat: „Wir müs-
sen Klimaschutz und Biodiversität gemeinsam denken.“
Ich füge hinzu, wir müssen Biodiversität und Wald-
schutz gemeinsam denken und wir müssen Biodiversität
und Landwirtschaft gemeinsam denken. Das Thema bio-
logische Vielfalt muss deshalb in allen Politik- und Wirt-
schaftsbereichen wie zum Beispiel der Haushalts-, Wirt-
schafts-, Agrar-, Fischerei-, Wald-, Klima-, Verkehrs-
und Bau- sowie der Bildungs- und Forschungspolitik ko-
operativ verankert werden.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Anmerkung zur
europäischen Wasserrahmenrichtlinie: Die Wasserrah-
menrichtlinie ist ein Positivbeispiel, wie die nachhaltige
Nutzung und der Erhalt der Fließgewässer kombiniert
werden können. Die Wasserrahmenrichtlinie sollte des-
halb in größerem Umfang für Artenschutzziele genutzt
werden.
Der Blick auf die weltweite Verantwortung darf nicht
den Blick für das konkrete Verhalten im eigenen Lebens-
bereich verdecken. Trotz der gigantischen globalen He-
rausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass jeder
seinen Beitrag zum Schutz des Klimas und der biologi-
schen Vielfalt leisten kann. Auf die konkreten Maßnah-
men kommt es an. Wir müssen jetzt handeln. Ich glaube,
dass wir mit dem heutigen Antrag auf dem richtigen
Weg sind. Wir erwarten deshalb von der Bundesregie-
rung, dass den Worten Taten folgen. Ich wünsche Frau
Merkel, Herrn Umweltminister Röttgen und der deut-
schen Delegation viel Erfolg bei den Verhandlungen in
Nagoya.
Dr. Matthias Miersch (SPD): Ich freue mich, dass es
uns gelungen ist, gerade noch rechtzeitig einen interfrak-
tionellen Antrag zur 10. Vertragsstaatenkonferenz über
die biologische Vielfalt in den Deutschen Bundestag ein-
zubringen. Dieser Antrag war zugegebenermaßen eine
schwierige Geburt. Nichtsdestotrotz möchte ich betonen,
dass ich froh über die Einigung innerhalb dieses Hauses
bin, denn eine weitere Zeitverschwendung lässt die aktu-
elle Situation nicht mehr zu.
Es ist klar, dass die europäischen, aber auch die inter-
national zugesagten Biodiversitätsziele nicht erreicht
werden. Der Verlust biologischer Vielfalt schreitet dra-
matisch voran, und je schneller wir dem Artensterben
und dem Verlust von Lebensräumen entgegenwirken,
desto besser wäre es. Bundeskanzlerin Merkel hat auf
dem gestrigen Kongress der Unionsfraktionen zur Bio-
diversität ebenfalls auf den bedenklichen Verlust von Le-
bensräumen 20 Jahre nach der Rio-Konferenz hingewie-
sen. Sie hat darauf hingewiesen, dass es bei der nach wie
vor zu hohen Flächeninanspruchnahme noch viele Pro-
bleme zu lösen gibt, dass wir ein Netzwerk von Meeres-
schutzgebieten benötigen, dass wir ein Protokoll zum
gerechten Vorteilsausgleich verabschieden müssen und
vieles mehr. Viele Worte – und die Bundeskanzlerin hat
die Lage ja auch richtig erkannt –, aber wo bleiben die
Taten, Frau Merkel?
Betrachtet man die Realität im Handeln der Bundes-
regierung, fällt auf, dass die Entwürfe der Haushalts-
pläne 2011 für das Bundesumweltministerium und das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
die auf dem Kopenhagen-Gipfel zugesagten zusätzlichen
Mittel in Höhe von jährlich 420 Millionen Euro nicht
enthalten. Mit diesem Geld sollten unter anderem An-
passungsmaßnahmen an den Klimawandel sowie der
Waldschutz finanziert werden. Bereits im Haushaltsjahr
2010 wurden neu und zusätzlich nur 35 Millionen Euro
jeweils im BMU- und BMZ-Haushalt für den internatio-
nalen Klimaschutz eingestellt. Für die restlichen
350 Millionen Euro wurden bestehende Klimaschutz-
projekte einfach umdeklariert. Diese Taschenspielerei
muss ein Ende haben. Die Bundeskanzlerin ist gut bera-
ten, dafür zu sorgen, dass die von ihr zugesagten Mittel
in voller Höhe und vor allem als „frisches Geld“ in den
Haushalt eingestellt werden.
International versprechen, national brechen – damit
setzt die Bundesregierung Deutschlands Glaubwürdig-
keit bei internationalen Verhandlungen aufs Spiel.
Deutschland läuft Gefahr, ein unzuverlässiger Vertrags-
partner zu werden. Das sind denkbar schlechte Voraus-
setzungen für die anstehenden Verhandlungen, nicht nur
6998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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in Nagoya, sondern auch bei den Klimaverhandlungen in
Mexiko.
Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: Bun-
desminister Dirk Niebel hat in seinen Haushalt keine
Mittel für das Gebiet ITT im Yasuni-Nationalpark in
Ecuador eingestellt. Es soll mit finanziellen Zusagen der
Industrieländer vor Beeinträchtigungen durch die Förde-
rung von Öl geschützt werden. Mit seiner ablehnenden
Haltung gegenüber dem Projekt brüskiert Minister
Niebel nicht nur die ecuadorianische Regierung, die gu-
ten Willens ist, das Projekt zu einem vernünftigen Ende
zu führen, sondern auch die Parlamentarier von Union,
SPD und Grünen, die sich in einem gemeinsamen An-
trag für die Unterstützung des ITT-Projektes eingesetzt
haben. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend,
dass die FDP-Politiker diesen Antrag nicht mittragen
wollten.
Und noch ein Beispiel: Ich hätte mir in unserem An-
trag mehr Mut in der Agrarpolitik gewünscht. Aber das
war mit den Agrarpolitikern aus den Koalitionsfraktio-
nen nicht zu machen. Ich hätte mir einen wichtigen
Schritt in der Fischereipolitik gewünscht, aber auch hier
gab es keine Einigung. Natürlich muss sich die Bundes-
regierung trotzdem für eine nachhaltige Agrar- und Fi-
schereipolitik in Deutschland, aber auch auf europäi-
scher Ebene einsetzen. Die Meere sind überfischt.
Darunter leidet die Biodiversität, aber auch die indige-
nen Völker und lokale Gruppen, die vom küstennahen
Fischfang leben und denen die Lebensgrundlage durch
die europäischen Trawler genommen wird. Doch auch in
der Agrarpolitik geht dieser Bundesregierung die Bedie-
nung von Lobbyinteressen vor den Interessen des Natur-
und Umweltschutzes.
Dennoch ist es wichtig, dass es diesen Antrag gibt;
der Erhalt der Biodiversität und damit der Schutz unserer
Lebensgrundlagen ist ein so bedeutendes Thema, dass
das Parlament dazu Stellung beziehen muss. Es bleibt
also viel zu tun. Ein wegweisender Schritt auf der Kon-
ferenz in Nagoya wäre dazu ein wichtiges Signal. Taten
statt Worte, Frau Bundeskanzlerin!
Angelika Brunkhorst (FDP): Die Artenvielfalt auf
der Erde ist immens – die Zahl der Arten, die täglich
ausstirbt, jedoch auch. Flora und Fauna auf unserem Pla-
neten werden in bedrohlichem Maße kleiner. Täglich
sterben rund 150 Tier- und Pflanzenarten aus: Pflanzen,
Vögel, Fische und andere Lebewesen, die wir für immer
verlieren werden.
Für das drastische Artensterben ist fast immer der
Mensch verantwortlich. Durch den Raubbau an der Na-
tur, die Zerstörung der Regenwälder, die Versiegelung
der Landschaft, die Monokulturen und durch intensive
Landwirtschaft wird vielen Arten der Lebensraum und
damit die Lebensgrundlage entzogen. Sie verschwinden
unwiederbringlich.
Bislang führten alle Versuche, dieser Entwicklung
entgegenzutreten, nicht zum gewünschten Erfolg. Mit
dem globalen Biodiversitätsziel wollten wir bis 2010
eine spürbare Reduktion des weltweiten Artenrückgangs
erreichen. Wie der 3. Bericht zur globalen Lage der bio-
logischen Vielfalt jedoch belegt, ist dies bislang nicht
gelungen. Tag für Tag verschwinden weitere fünf Arten
von unserer Erde. Teilweise sind sie uns bekannt, teil-
weise handelt es sich um noch unbekannt Arten. Einige
sind ein Verlust aufgrund ihrer Attraktivität, andere auf-
grund ihrer möglichen Heilkraft.
Die Gründe für das Verfehlen des Biodiversitätsziels
sind vielfältig. Ein großes Problem ist die mangelnde
Verankerung der Biodiversität in allen Sektorpolitiken.
Zudem mangelt es – vor allem in vielen Entwick-
lungs- und Schwellenländern – an finanziellen Mitteln
für den Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt.
Unter der CBD-Präsidentschaft Deutschlands wur-
den in den vergangenen Monaten einige zielführende
Initiativen angestoßen. Vor allem mit der Initiierung der
internationalen Studie zum ökonomischen Wert der Bio-
diversität hat das Thema eine bislang nie da gewesene
öffentliche wie auch politische Aufmerksamkeit erreicht.
Mit dem von Deutschland auf den Weg gebrachten
Grundsatzbeschluss zur Einrichtung eines internationa-
len Wissenschaftsrates, IPBES, haben wir eine weitere
wichtige Etappe erreicht. Vergleichbar dem IPCC, der
den Klimawandel ins Bewusstsein der Menschen rückte,
soll IPBES Politik und Bürger für das Artensterben sen-
sibilisieren. Denn nur wer Zusammenhänge erkennt, ist
auch bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Unter der deutschen Präsidentschaft haben wir uns
weiter für die Einrichtung eines weltweiten Netzwerkes
von Schutzgebieten starkgemacht. Diese Schutzgebiete
sind eine zentrale Voraussetzungen zum Erhalt der glo-
balen biologischen Vielfalt und damit zur Umsetzung
des Übereinkommens über die biologische Vielfalt,
CBD. Zur Unterstützung des Schutzgebietsnetzwerkes
wurde die globale Schutzgebietsinitiative „LifeWeb“ ins
Leben gerufen.
Auf internationaler Ebene haben wir uns massiv für
die Regelung des Zugangs und des gerechten Vorteils-
ausgleichs bei der Nutzung genetischer Ressourcen,
ABS-Regime, eingesetzt. Unser Ziel ist es, jetzt konkret
in Nagoya ein international verbindliches Abkommen zu
verabschieden.
Vom 18. bis 29. Oktober 2010 wird die 10. Vertrags-
staatenkonferenz des Übereinkommens über die Biologi-
sche Vielfalt in Nagoya tagen. Hier gilt es, greifende
Maßnahmen für den Zeitraum bis 2020 festzuzurren. Im
Zentrum der Verhandlungen stehen die Verabschiedung
eines umsetzbaren Protokolls zum Zugang und gerech-
ten Vorteilsausgleich bei der Nutzung genetischer Res-
sourcen, das sogenannte Access und Benefit Sharing,
ABS, die Frage der Finanzierung des globalen Biodiver-
sitätsschutzes sowie die Festlegung eines neuen interna-
tionalen Biodiversitätszieles einschließlich der Verab-
schiedung einer aktionsorientierten internationalen
Biodiversitätsstrategie von 2011 bis 2020.
Die negativen Folgen für die Vielfalt des Lebens kön-
nen nur abgewendet werden, wenn die Staatengemein-
schaft rasch wirksame Maßnahmen zur Erhaltung und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6999
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(D)(B)
nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt ergreift.
Deshalb begrüße ich, dass es uns im Hinblick auf die an-
stehende Konferenz in Nagoya gelungen ist, einen inter-
fraktionellen Antrag zur 10. CBD gemeinsam abzustim-
men und auf den Weg zu bringen.
Es gilt, die Vielfalt des Lebens auf der Erde zu schüt-
zen, zu sichern und deren nachhaltige Nutzung so zu or-
ganisieren, dass möglichst viele Menschen heute und
auch in Zukunft davon leben können. Im Bundestag ist
es uns gelungen, mit diesem Antrag über die Parteigren-
zen hinweg ein Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass wir in
Nagoya im Kampf gegen den Verlust von Artenvielfalt
umsetzbare Strategien finden, um kommenden Genera-
tionen einen vielfältigen Planeten überlassen zu können.
Sabine Stüber (DIE LINKE): Dass wir heute im Ple-
num doch noch über die biologische Vielfalt beraten,
lässt mich zumindest erst einmal hoffen. Allerdings
spricht es Bände, dass der Antrag so kurzfristig – er liegt
seit gestern vor – auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
Über all dem Hin und Her, wie man die Laufzeitverlän-
gerung für AKW am Bundesrat vorbeimogeln kann,
hatte die Koalition die Vertragsstaatenkonferenz zur bio-
logischen Vielfalt im Oktober in Japan wohl vergessen.
Drei Punkte möchte ich ansprechen. Erstens, es ist zu
spät, um der Bundesregierung noch einen parlamentari-
schen Auftrag für Nagoya mitzugeben. Wir können nur
hoffen, dass die Vorbereitung der Konferenz im Sinne
des zu beratenden Antrages gelaufen ist. Wir haben in
diesem Jahr schon oft über die biologische Vielfalt ge-
sprochen, ob hier im Plenum oder auch in den Ausschüs-
sen. Was Frau Merkel allerdings nun wirklich im Gepäck
für Japan hat? Wir, die Abgeordneten, wissen es nicht.
Der Bundesumweltminister, der sich angesichts des drit-
ten globalen Berichts zur biologischen Vielfalt fragt, ob
wir genug und ob wir das Richtige getan haben, weiß es
diesmal hoffentlich.
Meine zweite Anmerkung betrifft die Ignoranz. Ich
möchte niemandem zu nahetreten, aber ich kann Ihnen
ein Zitat des US-Amerikaners Luther Burbank an dieser
Stelle einfach nicht ersparen: „Wer nicht gerne denkt,
sollte wenigstens von Zeit zu Zeit seine Vorurteile um-
gruppieren.“
Die Linke ist mit 76 Abgeordneten nicht mehr die
kleinste Fraktion im Bundestag. Darüber sollten Sie ein-
mal nachdenken. Denn es geht nicht mehr um das Tafel-
silber, dass verspielt wird. Es geht längst um unser Haus,
in dem wir wohnen; es geht um unsere Zukunft. Da ist
Ausgrenzung nur noch kontraproduktiv. Die Linke wäre
bei dem Antrag heute gerne eine der antragstellenden
Fraktionen. Ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen
des Bundestages wäre der Problematik angemessen ge-
wesen. Nichtsdestotrotz begrüßen wir den Antrag, der
auch durch die unterschiedlichen Handschriften weitge-
hend unsere Zustimmung hat. Hätten wir mitwirken dür-
fen, hätten wir gerne für einen Aspekt Ihren Blick ge-
weitet.
Damit sind wir beim dritten Punkt unserer inhaltli-
chen Kritik. In der TEEB-Studie wird versucht, die bio-
logische Vielfalt auf Geldwerte festzulegen. Das sind für
uns die neuen Gefahren: die Ökonomisierung der Natur,
die Betrachtung der biologischen Vielfalt als Dienstleis-
tungscenter für den Menschen. Das passt zu dieser Ge-
sellschaft, das ist ein urkapitalistischer Ansatz: Was
nichts kostet, ist nichts wert. In Ihrem Antrag, klingt das
dann so: „Der Bundestag fordert die Bundesregierung
auf, aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Bio-
diversität und ihrer Leistungen für das menschliche
Wohlergehen den Schutz der biologischen Vielfalt als
Querschnittthema ihrer Politik im Sinne der Empfehlung
der TEEB-Studie weiterzuentwickeln.“
Hier wird mit einer verblüffenden Ausschließlichkeit
künftiges politisches Handeln der Bundesregierung pos-
tuliert. Dem können wir nicht zustimmen. Die Naturgü-
ter werden zu Geldwerten gemacht, so tickt Kapitalis-
mus. Aber so werden wir die Probleme weder global
noch im eigenen Land lösen.
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Es ist ein gutes Zeichen, dass es gelungen
ist, auf der Grundlage des von der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen im Mai in den Bundestag eingebrachten An-
trages „Biodiversität national und international konse-
quent schützen“, Bundestagsdrucksache 17/2005, einen
interfraktionellen Antrag zum Thema biologische Viel-
falt zu vereinbaren. Der Verlust an biologischer Vielfalt
schreitet nahezu ungebremst voran. Ihr Schutz braucht
das deutliche Engagement aller in diesem Haus vertrete-
nen Parteien. Wir brauchen verstärkte Anstrengungen
des Bundes, der Länder, der Kommunen, der Europäi-
schen Union und auf internationaler Ebene.
Auch wenn uns viele Zahlen präsent sind, war es doch
erschreckend, in diesem Jahr den dritten Globalen Aus-
blick der Biodiversitätskonvention CBD zu lesen. Von
den im April 2002 von den Vertragsstaaten des UN-
Übereinkommens über die biologische Vielfalt für das
Jahr 2010 formulierten 21 Teilzielen wurde kein einziges
erreicht. Hinter jeder Zielbewertung steht der Halbsatz:
„Im globalen Maßstab nicht erreicht“.
Das Jahr 2010 als internationales Jahr der biologi-
schen Vielfalt steht so leider für die vielen verpassten
Chancen der Vergangenheit, unsere eigenen Lebens-
grundlagen zu schützen, Lebensräume zu erhalten, den
Artenverlust zu stoppen und die genetische Vielfalt auf
unserer Erde zu sichern. Ein aktuelles Beispiel: Die Öl-
katastrophe im Golf von Mexico ist noch nicht einmal
vollends verstanden, geschweige denn bewältigt, da sind
die Überlegungen zu einem Moratorium gegen Tiefsee-
bohrungen schon wieder vom Tisch. Die Öl-Konzerne
machen einfach weiter und die Welt guckt hilflos zu. Es
ist unfassbar.
Von der globalen bis zur lokalen Ebene muss der
Schutz der Leistungen von Ökosystemen stärker als ge-
samtgesellschaftliche und ressortübergreifende Aufgabe
verstanden werden. Also ist es gut, dass wir das heute
noch einmal als Auftrag an die Bundesregierung formu-
liert haben. Ich freue mich auch, dass wir – obwohl die-
ses Ziel ja gesetzlich verankert ist – ein Bekenntnis der
Koalitionsfraktionen zum 10-Prozent-Ziel bei der Ein-
7000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(A) (C)
(D)(B)
richtung eines nationalen Biotopverbundes auf der Lan-
desfläche haben. Noch schöner wäre es natürlich, wenn
die Bundesregierung bei einer meiner nächsten Nachfra-
gen auch in der Lage wäre, mir zu sagen, wie weit wir
bei der Umsetzung dieses Zieles sind. Noch ist sie dazu
ja nicht in der Lage.
Ich denke, dass es überhaupt Zeit ist, ernsthaft über
die Einrichtung eines nationalen Monitoringzentrums zu
diskutieren. Wir brauchen die Erfassung der biologi-
schen Vielfalt an zentraler Stelle, wir brauchen auch
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, die diese Daten
interpretieren, die ökologischen, ökonomischen und so-
zialen Folgen der Veränderungen untersuchen und Ge-
genstrategien zu negativen Entwicklungen formulieren.
Was wir auch dringend benötigen, ist eine Verbesserung
der erschreckenden Situation bei der Aus-, Weiter- und
Fortbildung von Taxonominnen und Taxonomen. Wir
Grünen erwarten hier eine Initiative der Forschungs-
ministerin und kein tatenloses Zusehen, wie immer mehr
Wissen über Arten verloren geht.
Biologische Vielfalt steht für Nahrung, Baustoffe, Fa-
sern, Energie, Arzneimittel, sauberes Wasser und sau-
bere Luft. Sie liefert technische Vorbilder, stabilisiert das
Klima, schützt vor Extremereignissen und dient sogar
noch der Entsorgung vieler unserer Abfälle. Deshalb
geht es nicht um das eine oder andere possierliche Tier-
chen oder die eine oder andere exotisch-schöne Pflanze.
Es geht um unsere Lebensgrundlagen und die der Gene-
rationen nach uns. Die Studie über die Ökonomie von
Ökosystemdienstleistungen und biologischer Vielfalt,
TEEB, liefert uns dafür anschauliches Zahlenmaterial
und Handlungsempfehlungen für die unterschiedlichen
Zielgruppen. Dies ist auch ein Ergebnis der deutschen
Präsidentschaft, unter der die Studie auf den Weg ge-
bracht wurde.
Die während der 9. Vertragsstaatenkonferenz 2008 in
Bonn verabschiedete Agenda für die deutsche Präsident-
schaft enthält allerdings auch noch mehrere bis heute of-
fene Punkte. Die Bundesregierung wird der künftigen ja-
panischen Präsidentschaft also Altlasten übergeben. Dies
betrifft insbesondere die noch ausstehende Einigung auf
einen strategischen Plan für die Zeit nach 2010, die Ver-
abschiedung eines völkerrechtlich bindenden Abkom-
mens über den Zugang und gerechten Vorteilsausgleich
bei der Nutzung genetischer Ressourcen und schließlich
die Mobilisierung zusätzlicher finanzieller Ressourcen,
um die Konventionsziele erreichen zu können. So viel
Zeit, wie es einige meinen, haben wir leider nicht mehr
für die Erfüllung dieser Ziele. Die bevorstehende
10. Vertragsstaatenkonferenz im japanischen Nagoya
muss von der Bundesregierung und der Europäischen
Union energisch genutzt werden, wirklich voranzukom-
men. Der heute vorgelegte fraktionsübergreifende An-
trag richtet sich daher nicht nur an die Bundesregierung
in ihrer Eigenschaft als noch amtierende Präsidentschaft
der CBD, sondern auch als verantwortungsvolle Ver-
handlungspartnerin in Nagoya.
Der strategische Plan ist vor allem den Industrielän-
dern wichtig. Die Entwicklungsländer werden dem aber
nur zustimmen, wenn die Finanzierung verbindlich ge-
klärt wird. Da ist es nicht hilfreich, wenn die Bundes-
regierung zugesagte Mittel für Klimaschutz, Biodiversi-
tätsschutz und Entwicklungshilfe sich immer wieder
gegenseitig anrechnet und so das Kriterium der Zusätz-
lichkeit umgeht. Mehr Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit
an dieser Stelle sind zu wünschen.
Bei ABS geht es um die Unterbindung von Biopirate-
rie, ein für die Entwicklungsländer und indigene Grup-
pen enorm wichtiges Anliegen. Dem stehen die wirt-
schaftlichen Interessen der Industrieländer gegenüber,
die die Ressourcen der Entwicklungsländer kommerziell
nutzen. Es muss einen fairen Ausgleich geben.
Nicht vergessen dürfen wir auch das Biosafety-Proto-
koll. Beim Thema biologische Sicherheit haben wir uns
leider nicht einigen können, so dass der interfraktionelle
Antrag dieses Anliegen ausspart. Gentechnik gehört
zwar noch nicht zu den Hauptursachen des Verlustes an
biologischer Vielfalt, aber hier gilt es, den Anfängen prä-
ventiv zu wehren. Gentechnisch veränderte Pflanzen
sind ein Risiko, das geeignet ist, größte Schäden in unse-
ren Ökosystemen anzurichten. Auf ihre Anwendung
sollte verzichtet werden. Zumindest brauchen wir drin-
gend eine verbindliche Regelung der Haftungsfragen.
Wir Grünen unterstützen es, dass die UNEP, das Um-
weltprogramm der Vereinten Nationen, ein internationa-
les Wissenschaftlergremium für Biodiversität einrichten
will. Damit würde für politische Entscheidungsträger ein
zuverlässiges und glaubwürdiges Gremium eingerichtet.
Wir Grünen können uns auch sehr gut mit dem Gedan-
ken anfreunden, dass das IPBES, so der Name des neuen
Gremiums, auf dem afrikanischen Kontinent angesiedelt
wird. Aber ich betone: Entscheidend wird sein, wie wir
alle uns verhalten. Wir haben heute keinen Mangel an
Wissen, sondern uns fehlt die Bereitschaft entschieden
zu handeln. Daher mahne ich mit Goethe: „Der Worte
sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten se-
hen.“
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Initiative für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über die
Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsa-
chen Ratsdok. 9145/10 (Zusatztagesordnungs-
punkt 5)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): „Jemand musste
Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Bö-
ses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Mit
diesen Worten beginnt Franz Kafkas „Der Prozess“. Die-
ser Anfangssatz löst sicherlich bei jedem, der ihn liest,
ein beklemmendes Gefühl aus. Mir geht es jedenfalls
immer wieder so, wenn ich das Buch zur Hand nehme.
Diese 19 Worte spielen auf die Urangst eines jeden an:
die Sorge, in die Mühlen eines Verfahrens zu geraten,
aus dem man sich, einmal darin verstrickt, nicht wieder
herauslösen kann, eines Verfahrenes, das, weil seine Re-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7001
(A) (C)
(D)(B)
geln nicht bekannt sind, entgrenzt ist und deswegen im
Gegenzug den Einzelnen klaustrophobisch einengt.
Es ist eine der Errungenschaften des Rechtsstaates,
dass uns dieses beklemmende Gefühl heutzutage nur li-
terarisch begegnet und wir hier bei uns nicht die Sorge
haben müssen, real in eine Verfahrensmühle zu geraten,
wie Josef K. in Kafkas „Der Prozess“. Recht und Gesetz
binden Polizei und Strafverfolgungsbehörden, sie gelten
gegenüber jedermann gleichermaßen, jeder kann sich
auf seine Rechte berufen, und bei Rechtsverletzungen
besteht für jedermann die Möglichkeit, Rechtschutz in
Anspruch zu nehmen. Bei uns können die Menschen
mithin darauf vertrauen, dass die rechtsstaatlichen Re-
geln eingehalten werden – bei uns und auch in den
27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union insgesamt.
So selbstverständlich, wie alle Mitgliedstaaten der
Europäischen Union Rechtsstaaten mit einem außeror-
dentlich hohen Schutzniveau sind, so selbstverständlich
ist aber auch, dass jedes Land seine eigene Rechtstradi-
tion hat. Gerade das Strafrecht und das Strafverfahrens-
recht gehören zum Kernbereich der einzelstaatlich gere-
gelten Rechtsmaterien.
Natürlich ist es richtig, im Zuge des europäischen
Harmonisierungsprozesses auch zu einer Harmonisie-
rung strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Re-
gelungen in Europa zu kommen und das bisherige Sys-
tem der Rechtshilfe durch neue Instrumente abzulösen.
Als Kehrseite zur Freiheit, die wir in Europa genießen
dürfen, machen Kriminalität und Straftaten an den Gren-
zen der Einzelstaaten nicht halt. Hier müssen Polizei und
Strafverfolgungsbehörden selbstverständlich in ganz Eu-
ropa in die Lage versetzt werden, schnell, adäquat und
effektiv handeln zu können.
Weil Straf- und Strafverfahrensrecht aber zum Kern-
bereich rechtsstaatlichen Handelns gehören, bedarf es
bei der Harmonisierung in diesem Bereich der besonde-
ren Sensibilität. So hat das Bundesverfassungsgericht in
seinem Lissabon-Urteil ausgeführt, dass „wegen der be-
sonders empfindlichen Berührung der demokratischen
Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnor-
men … die vertraglichen Kompetenzgrundlagen …
strikt – keinesfalls extensiv – auszulegen (sind) ... Das
Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechts-
technisches Instrument zur Effektuierung einer interna-
tionalen Zusammenarbeit, sondern steht für die beson-
ders sensible demokratische Entscheidung über das
rechtsethische Minimum“. Ein wesentlicher Faktor hier-
bei ist, dass Vertrauen in die rechtsstaatlichen Gewähr-
leistungen bestehen muss. Dieses Vertrauen in die
rechtsstaatlichen Gewährleistungen in den Einzelstaaten
ist über Jahrzehnte gewachsen. Und so muss es auch in
Europa gehen: Das Vertrauen muss wachsen können. Es
lässt sich nicht verordnen.
So ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass der Europäi-
sche Rat mit den Schlussfolgerungen von Tampere 1999
beschlossen hat, den Grundsatz der gegenseitigen Aner-
kennung, der ursprünglich als Instrument zur Herstel-
lung des Binnenmarkts entwickelt wurde, im Bereich der
justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen
einzuführen. Mit dem Rahmenbeschluss über den Euro-
päischen Haftbefehl gibt es auch bereits einen ersten um-
gesetzten Rechtsakt, der diesem Prinzip folgt. Erlassen
wurde auch schon der Rahmenbeschluss zur Europäi-
schen Beweisanordnung. Dieser wurde indessen in vie-
len Mitgliedstaaten, so auch in der Bundesrepublik, noch
nicht umgesetzt.
Angesichts der Tatsache, dass Vertrauen Zeit braucht,
um zu wachsen, erscheint es übereilt, wenn mit einer Ini-
tiative zur Europäischen Ermittlungsanordnung jetzt
schon der nächste Schritt begonnen werden soll. Sinn-
voller ist es, zunächst die Umsetzung des vorhergehen-
den Rahmenbeschlusses zur Europäischen Beweisanord-
nung abzuwarten und die Erkenntnisse der Umsetzung
und Anwendung dann in eine etwaige Initiative zur Eu-
ropäischen Ermittlungsanordnung einfließen zu lassen.
Auf diese Weise kann sich das notwendige Vertrauen mit
der Zeit entwickeln.
Wir unterstützen daher die gemeinsame Initiative für
eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundge-
setzes. Es ist gut, dass wir über die Fraktionsgrenzen
hinweg eine gemeinsame Linie gefunden haben und auf
diese Weise als Parlament wahrnehmbar unsere Stimme
erheben können.
Dr. Eva Högl (SPD): Wenn heute Ermittlungs- und
Strafverfolgungsbehörden in der EU für ihre Tätigkeit
Beweismittel im europäischen Ausland beschaffen müs-
sen, ist dies langwierig und aufwendig. Vor diesem Hin-
tergrund hat Belgien eine Initiative für eine Richtlinie
zur Europäischen Ermittlungsanordnung in Strafsachen
gestartet.
Bisher greifen die Strafverfolgungsbehörden auf das
Instrument der Rechtshilfe zurück, das auf europäischer
Ebene auf dem Rechtshilfeübereinkommen des Europa-
rats von 1959 und dem der Europäischen Union von
2000 basiert. Daneben haben wir mit dem Rahmenbe-
schluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über
die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder
Beweismitteln innerhalb der Europäischen Union von
2003 sowie dem Rahmenbeschluss über die Europäische
Beweisanordnung von 2008 Rechtsinstrumente auf der
Basis der gegenseitigen Anerkennung. Im Gegensatz zur
Europäischen Beweisanordnung soll die geplante Euro-
päische Ermittlungsanordnung nicht nur für bereits erho-
bene Beweismittel, sondern auch zur Beschaffung neuer
Beweise gelten und hat damit einen erweiterten Gel-
tungsbereich.
Bei der Europäischen Ermittlungsanordnung würde
ein Standardformular ausreichen, mit dem die jeweiligen
Behörden einander ersuchen könnten, bestimmte Ermitt-
lungen durchzuführen oder Beweismaterial zu sammeln
und auszutauschen. Die Veranlassung etwa von Zeugen-
befragungen oder Hausdurchsuchungen könnte deutlich
einfacher in die Wege geleitet werden.
Entscheidend für die Verwertbarkeit der im Ausland
angeforderten Beweise ist das Vertrauen auf ihre recht-
mäßige Erhebung. Gerade wegen der besonderen Bedeu-
tung von Beweisen im Strafverfahren sind konkrete An-
forderungen an ihre Erhebung zu stellen. Nur wenn eine
7002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Behörde sicher sein kann, dass die von Partnerbehörden
anderer EU-Länder gewonnenen Beweise den rechtli-
chen Anforderungen im eigenen Land genügen, ist es für
sie sinnvoll, das Instrument der Europäischen Ermitt-
lungsanordnung anzuwenden. Das hierfür notwendige
gegenseitige Vertrauen speist sich aus vergleichbaren
Standards.
Schon 2004 hatte der Deutsche Bundestag zum Vor-
schlag für die Europäische Beweisanordnung festge-
stellt, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerken-
nung im Bereich des Strafrechts an bestehenden
Unterschieden der Rechte von Beschuldigten scheitert.
Er hat seinerzeit darauf bestanden, dass bei Eingriffen in
die Rechte von Beschuldigten jeweils gesondert festzu-
stellen ist, ob und inwieweit die Voraussetzungen für den
Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit
bestehen. Dem hatte sich im Übrigen auch die Bundesre-
gierung in einer Erklärung mit entsprechendem Vorbe-
halt angeschlossen.
Leider können wir heute noch nicht das notwendige
Maß an Einheitlichkeit dieser Standards in Europa fest-
stellen. Solange dieser Zustand besteht, bedarf es eines
allgemeinen Versagungsgrundes, damit keine Verpflich-
tung zur Anerkennung und Ausführung von Ermittlungs-
anordnungen statuiert wird, deren Erlass und Vollstre-
ckung nach nationalem Recht nicht zulässig wäre.
Wir sind der Auffassung, dass vor Einführung eines
neuen umfassenden Rechtsinstruments zur grenzüber-
schreitenden strafrechtlichen Erhebung und Verwertung
von Beweisen der Bedarf dafür gründlich geprüft und
geklärt werden sollte. Erst wenn sichergestellt ist, dass
eine Neuregelung Vorteile gegenüber den traditionellen
Instrumenten der Rechtshilfe bringt, sollte diese einge-
führt werden. Die notwendige Prüfung muss auch mögli-
che Defizite der bisherigen Rahmenbeschlüsse und die
Ergebnisse der Befragung der Mitgliedstaaten durch die
Europäische Kommission zum Grünbuch zur Beweiser-
langung in Strafsachen einschließen.
Die Europäische Kommission selbst hat 2009 im
Stockholmer Programm dargelegt, dass der Anerken-
nung, Durchsetzung und Evaluierung der bestehenden
Instrumente europäischer Zusammenarbeit im Straf-
rechtsbereich besondere Aufmerksamkeit gewidmet
werden soll. Die Richtlinie zur Europäischen Beweisan-
ordnung selbst trat erst Anfang 2009 in Kraft und ist in
den Mitgliedstaaten bis Januar 2011 umzusetzen.
Als überzeugte Europäerin liegt mir nicht daran, die
rechtspolitische Integration bzw. vertiefte Zusammenar-
beit in der Europäischen Union zu bremsen. Ich sehe je-
doch die Gefahr, dass eine vorschnelle Ausdehnung des
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf die Be-
weiserhebung noch vor Anerkennung und Einführung
gemeinsamer Mindeststandards zum Verlust von bereits
entstandenem Vertrauen und Akzeptanz führen und sich
daher kontraproduktiv auswirken kann. Das für die ef-
fektive Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen
Anerkennung notwendige Vertrauen muss erst erworben
und kann nicht vorausgesetzt werden.
Es freut mich daher, dass es uns im Rechtsausschuss
des Deutschen Bundestags gelungen ist, fraktionsüber-
greifend und einstimmig eine Stellungnahme abzugeben,
in der die kritische und gleichwohl konstruktive Haltung
deutscher Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu-
sammengefasst ist. Wir begleiten damit den Prozess der
Richtlinienentstehung mit konkreten Vorschlägen und
geben der Bundesregierung inhaltliche Empfehlungen an
die Hand.
Mit der Verabschiedung der Stellungnahme haben wir
als Deutscher Bundestag die Chance, als starke Stimme
in Europa Gehör zu finden. Ich bin sicher, dass unsere
Vorschläge und Anregungen in zukünftige Verhandlun-
gen ebenso einfließen werden wie in den angekündigten
Entwurf einer Richtlinie von Justizkommissarin Viviane
Reding. Wir können der engeren justiziellen Zusammen-
arbeit in Strafsachen in Europa optimistisch entgegenbli-
cken und werden uns weiterhin engagiert in die Debatte
auf nationaler und europäischer Ebene einbringen.
Marco Buschmann (FDP): Vorliegend befassen wir
uns mit der Initiative für eine Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über die Europäische
Ermittlungsanordnung in Strafsachen. Es geht hier im
Kern um die Frage, wann und unter welchen Vorausset-
zungen ein Mitgliedstaat die Anordnung zu einer straf-
prozessualen Ermittlungsmaßnahme eines anderen Mit-
gliedstaates exekutieren muss.
Bei Fragen strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen
ist höchste Wachsamkeit geboten. Denn es handelt sich
mitunter um tiefe Grundrechtseingriffe. Nicht umsonst
sprechen wir in Deutschland stets davon, dass es sich
beim Strafprozessrecht um konkretisiertes Verfassungs-
recht handelt. Wir sind in Deutschland stolz auf das hohe
rechtsstaatliche Niveau, das wir im Strafprozess prakti-
zieren. Dieses hohe Niveau schlägt sich insbesondere in
der Rechtsstellung des Beschuldigten sowie in der Syste-
matik der Beweiserhebungs- und Beweisverwertungs-
verbote nieder.
Gerade als überzeugte Europäer sagen wir Liberale:
Auch im Bereich der Strafverfolgung muss es eine bes-
sere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten geben. Aber es
darf keine Harmonisierung um jeden Preis geben, jeden-
falls dann nicht, wenn die Errungenschaften unseres li-
beralen Rechtsstaates in Deutschland in Gefahr geraten
könnten. Denn dies würde nicht nur dem deutschen
Rechtsstaat, sondern auch der europäischen Idee scha-
den. Die Europäische Union gründet auf Vertrauen, und
solches Vertrauen könnte in Gefahr geraten, wenn die
Mitgliedstaaten um ihre Identität fürchten müssen. Dass
der Bereich des Straf- und des Strafprozessrechts für
diese Identität besonders wichtig ist, hat das Bundesver-
fassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil unterstri-
chen.
Mit diese Sorge sind wir nicht allein: Das kann schon
deshalb jedermann erkennen, da wir diese Sorge in ei-
nem gemeinsamen Antrag der Fraktion der CDU/CSU,
FDP, SPD und Bündsnis 90/Die Grünen zum Ausdruck
gebracht haben. Auch die Fraktion der Linken teilt diese
Sorge, wie wir aus den vorangegangenen Beratungen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7003
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(D)(B)
wissen. Das Haus ist sich hier einig. Einig sind wir uns
auch mit dem Bundesrat, der bereits dieser Sorge mit ei-
ner eigenen Stellungnahme Ausdruck verliehen hat.
Auch außerhalb der obersten Staatsorgane besteht diese
Sorge. Das lässt sich beispielsweise den Stellungnahmen
des Deutschen Richterbundes, des Deutschen Anwalt-
vereins und der Bundesrechtsanwaltskammer entneh-
men.
Vor diesem Hintergrund empfiehlt Ihnen der Rechts-
ausschuss des Deutschen Bundestages, zu der Initiative
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in
Strafsachen eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des
Grundgesetzes abzugeben, in der wir Wege aufzeigen,
diese Sorgen auszuräumen.
Wichtig sind aus meiner Sicht dabei insbesondere fol-
gende Punkte. Wichtig ist, dass Mindeststandards für
Beschuldigte oder Drittbetroffene eingehalten werden.
Nur so können wir das bereits geschaffene Vertrauen der
Bürger in Europa stärken. Solche einheitlichen Mindest-
standards existieren jedoch noch nicht für alle Mitglied-
staaten. Unser Ziel muss es sein, erst die Mindeststan-
dards zu verwirklichen, bevor wir den Grundsatz der
gegenseitigen Anerkennung ausdehnen.
Ein zweites wichtiges Anliegen ist meiner Ansicht
nach die Schaffung eines allgemeinen Versagungsgrun-
des, wonach die Vollstreckung der angeordneten Maß-
nahmen versagt werden kann, wenn diese nach nationa-
lem Recht unzulässig wäre. Ein Strafverfahren, in das
wir Vertrauen haben können, kann nur dann gewährleis-
tet sein, wenn etwa der bei uns verfassungsrechtlich be-
gründete Richtervorbehalt nicht unterlaufen werden
kann.
Ein drittes wichtiges Anliegen ist der Datenschutz. Im
Rahmen der Europäischen Ermittlungsanordnung sollen
besonders sensible Daten ausgetauscht werden. Bei-
spiele dafür sind etwa DNA-Daten, Fingerabdrücke, In-
formationen über Vermögensverhältnisse oder – wie im
Fall der Wohnraumüberwachung – Daten aus dem
höchstpersönlichen Umfeld der betroffenen Personen.
Der Schutz dieser Daten muss auf hohem Niveau erfol-
gen.
Lassen Sie uns heute einen Schritt gehen, um das Ver-
trauen in Europa zu stärken. Lassen Sie uns unsere Sor-
gen für die Standards unseres Strafverfahrensrechts kon-
struktiv in Richtung der Europäischen Institutionen
artikulieren – nicht weil wir gegen jede Harmonisierung
in diesem Bereich sind, sondern weil wir uns für Rechts-
staatlichkeit und Grundrechtsschutz einsetzen.
Raju Sharma (DIE LINKE): Uns wird ja immer wie-
der nachgesagt, wir würden Europa boykottieren. Das ist
natürlich völliger Unsinn. Im Gegenteil: Wir Linken sind
ausgesprochene Europa-Fans. Wie sollten wir als Frie-
denspartei auch etwas Schlechtes darin sehen, wenn
Völker, die sich vor siebzig Jahren noch erbittert be-
kämpft haben, heute friedlich miteinander leben? Wie
könnten wir, die wir für internationale Solidarität eintre-
ten, das Verblassen nationaler Grenzen und Egoismen
verurteilen? Wenn der Weltbürger ein Ideal ist, so gilt
das selbstverständlich auch für den Europäer. Unsere
Kritik richtet sich also nicht gegen das Zusammenwach-
sen der Staaten an sich, sondern lediglich gegen manche
Regel, die für diesen Verbund aufgestellt wird. Wir hal-
ten es für undemokratisch, wenn das einzige von den
EU-Bürgern direkt gewählte Organ kein Recht auf Ge-
setzesinitiative hat. Wir wenden uns dagegen, dass wirt-
schaftliche Freiheiten über soziale Rechte gestellt wer-
den, und statt einer Militarisierung der EU wünschen wir
uns eine Verpflichtung zur Abrüstung.
Für Regelungen im Detail gilt dasselbe. Manche
Richtlinie, welche die Harmonisierung in Europa voran-
treiben soll, ist gut gemeint, im Ergebnis aber kein Ge-
winn. So ist es auch mit der Ermittlungsanordnung in
Strafsachen, deren Ziel die gegenseitige Anerkennung
von strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen ist. Das ist
für Strafverfolgungsbehörden natürlich eine verführeri-
sche Vorstellung: Das Amtsgericht Hohenschönhausen
ordnet in Palermo eine Hausdurchsuchung an und keinen
Tag später ist sie in vollem Gange. Das Ganze hat aller-
dings einen Haken: Was in einem Land übliche Ermitt-
lungspraxis ist, kann im anderen ein schwerer Verstoß
gegen Verfahrensgrundsätze sein. Diesen Unterschieden
aber schenkt die Initiative, wie sie jetzt vorliegt, kaum
Beachtung. Versagungsgründe für den Vollstreckungs-
staat bestehen so gut wie keine, verfahrensrechtliche
Mindeststandards existieren nicht. Zu befürchten wäre
im Ergebnis ein Absinken des Strafverfahrensrechts auf
den niedrigsten Level. Das aber ist gerade im grund-
rechtsrelevanten Bereich des Strafrechts nicht hinnehm-
bar. Denn hier geht es nicht um den freien Austausch
von Gurken oder Glühbirnen, hier geht es um die Frage,
ob am Ende eines Verfahrens ein Mensch seine Freiheit
verliert. Nicht ohne Grund hat die Bundesrepublik des-
halb ein hohes Maß an Beschuldigtenrechten und strenge
Regeln zur Erhebung und Verwertung von Beweisen ge-
schaffen.
Erfreulicherweise gab es in der Hochschätzung unse-
res Strafverfolgungsrechts eine ungewohnte Überein-
stimmung mit den Koalitionsfraktionen. Denn die
Rechte von Beschuldigten und verurteilten Straftätern
stehen bei der Union ja nicht immer so hoch im Kurs.
Ich erinnere nur an die Sicherungsverwahrung. Da kann
schon mal der Eindruck entstehen, einige der Hardliner
in der CDU setzen das Strafrecht mit einem hohen Straf-
rahmen gleich und kennen den Resozialisierungsgedan-
ken nur vom Hörensagen.
Bei den interfraktionellen Verhandlungen über die
Ermittlungsanordnung war hiervon jedoch nichts zu
spüren. Stattdessen wurde konstruktiv und mit überein-
stimmender Zielrichtung diskutiert, die Vorschläge aller
Fraktionen wurden ernsthaft erwogen und flossen in den
Antrag ein. Genau so stelle ich mir gelungene parlamen-
tarische Arbeit vor: getragen vom Interesse an der
Sache, vom Willen, die bestmögliche Lösung zu finden,
offen für Argumente des politischen Gegners und selbst-
bewusst genug, um eigene Irrtümer einzuräumen.
Schade ist nur, dass dieser positive Geist nicht bis
zum Ende anhielt. Bei dem von allen erarbeiteten Antrag
7004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
(A) (C)
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durfte die Linke als Urheber wieder nicht erscheinen,
ideologische Vorbehalte der Union überwogen den Wil-
len, der gemeinsamen Arbeit Rechnung zu tragen und
geschlossen gegenüber Brüssel aufzutreten – was der Sa-
che nicht gerade zuträglich ist. Dabei haben die gemein-
samen Verhandlungen doch gezeigt, dass es anders geht.
Es wäre schön, wenn die CDU das zum Anlass nähme,
ihre Haltung gegenüber der Linken endlich zu überden-
ken. Dann wäre der Antrag zur Ermittlungsanordnung
nicht nur seinem Inhalt nach, sondern auch in seinem
Entstehen Anstoß zu mehr Demokratie – hier und in
Europa.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten sind gefallen.
Das ist gut für die Bürgerinnen und Bürger in der Union,
aber leider profitieren davon auch Straftäter, die sich
ungehindert zwischen den Mitgliedstaaten bewegen kön-
nen. Die Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten
wollen deshalb – und das ist nachvollziehbar – besser
und effizienter zusammenarbeiten. Strafverfolgung
durch Polizei und Justiz erfolgt jedoch nicht gegen über-
führte Straftäter, sondern gegen – mehr oder weniger –
Verdächtige. Ein Verdacht kann grundsätzlich gegen
jede und jeden entstehen. Deshalb gilt für alle Verdächti-
gen die Unschuldsvermutung; deshalb haben Verdäch-
tige grundrechtlich und menschenrechtlich gesicherte
Rechte, die von den Ermittlungsbehörden zu achten sind.
Die Initiative von sieben Mitgliedstaaten zur Schaf-
fung einer Europäischen Ermittlungsanordnung will ein
umfassendes Instrument zur Beweisgewinnung über
Staatengrenzen hinweg schaffen, um die Zusammenar-
beit der Strafverfolgungsbehörden innerhalb der Euro-
päischen Union effizienter zu gestalten. Der Richtli-
nienentwurf sieht eine sehr weitgehende Anerkennung
und Beachtung von Beweisgewinnungsersuchen von ei-
nem Mitgliedstaat zum anderen vor. Voraussetzung der
Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger in der Europäi-
schen Union für ein solches Vorgehen ist ein grundsätzli-
ches Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der jeweiligen
Strafrechtsordnungen. Dieses Vertrauen ist von essen-
zieller Bedeutung für das Gelingen der Europäischen
Union als Ganzer und für den äußerst sensiblen Bereich
der Justiz- und Innenpolitik im Besonderen. Ich meine
nicht nur das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die jeweils
anderen Mitgliedstaaten und ihre Rechtsordnungen, son-
dern auch und insbesondere das Vertrauen der Bürgerin-
nen und Bürger der Europäischen Union in die Rechts-
staatlichkeit der jeweiligen anderen Staaten und in die
Europäische Union als Ganzes.
Nur durch ein solches Vertrauen können die teils gro-
ßen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und
den Traditionen der Mitgliedstaaten überbrückt werden.
Aber dieses Vertrauen muss erworben werden, es kann
nicht einfach vorausgesetzt werden. Der vorliegende
Richtlinienentwurf wird aber gerade das nicht leisten
können. Ganz im Gegenteil: Dieses Instrument greift
zwar nicht in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten
ein, aber es kann im Einzelfall empfindlich in die Rechte
der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Denn wir haben
leider noch keine gemeinsamen Standards im Strafver-
fahren. Die mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen
sind noch sehr unterschiedlich, dadurch kann es im Ein-
zelfall zu empfindlichen Rechtslücken kommen. Gerade
das dürfen wir nicht zulassen, denn es wird dem europäi-
schen Projekt schaden und die Entfremdung der Bürge-
rinnen und Bürger gegenüber der Europäischen Union
weiter vergrößern.
Wir müssen ein faires Strafverfahren gewährleisten
können. Dafür ist es unerlässlich, dass nationale Beweis-
erhebungs- und Beweisverwertungsverbote sowie natio-
nale Verfahrensbestimmungen nicht durch Ermittlungs-
anordnungen unterlaufen werden können und dem Be-
troffenen so im Einzelfall Rechte vorenthalten werden.
In Deutschland wären dies zum Beispiel der verfas-
sungsrechtlich begründete Richtervorbehalt, die Beleh-
rungspflichten gegenüber Beschuldigten und Zeugen so-
wie deren Aussageverweigerungsrechte. Es darf auch
nicht sein, dass deutsche Behörden verpflichtet werden,
eine Ermittlungsanordnung gegen einen nach deutschem
Recht noch nicht strafmündigen Beschuldigten zu voll-
strecken. Für solche Fälle ist es unerlässlich, einen allge-
meinen Versagensgrund vorzusehen, wenn die Vollstre-
ckung der Ermittlungsanordnung nach nationalem Recht
unzulässig wäre.
Es ist derzeit auch noch nicht möglich, völlig auf die
Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten.
Die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten weisen
nach wie vor große Unterschiede auf. Daher sollte auch
weiterhin nur bezüglich der Deliktsgruppen auf die Prü-
fung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet werden,
auf die man sich in den bisherigen Instrumenten der ge-
genseitigen Anerkennung geeinigt hat. Des Weiteren
sollten diese Deliktsgruppen näher präzisiert werden, um
mehr Rechtssicherheit zu schaffen.
Da im Bereich der Ermittlungsanordnung besonders
sensible Daten ausgetauscht werden, ist es wichtig, einen
hohen Datenschutzstandard zu garantieren. Der derzei-
tige Schutz, der noch auf der Europaratskonvention
Nr. 108, Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei
der automatischen Verarbeitung personenbezogener Da-
ten, aus dem Jahre 1981 beruht bzw. auf dem Rahmenbe-
schluss des Rates 2008/977/JI des Rates vom 27. No-
vember 2008 über den Schutz personenbezogener Daten,
die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusam-
menarbeit in Strafsachen verarbeitet werden und dessen
Umsetzungsfrist im November 2010 endet, ist nicht aus-
reichend. Der vorgenannte Rahmenbeschluss stellt nur
einen absoluten Minimalkonsens dar, der Ausdruck der
Prä-Lissabon-Regelungen – Einstimmigkeit im Rat und
lediglich Anhörung des Europäischen Parlaments – war.
Auch darf die Praxis mitgliedstaatlicher Initiativen
nicht dazu führen, dass Vorschläge mit nicht ausreichend
qualifizierten und substanziellen Begründungen zur Ver-
einbarkeit der Vorhaben mit den Grundsätzen der Subsi-
diarität und der Verhältnismäßigkeit vorgelegt werden.
Zwar ist das Initiativrecht einer Gruppe von Mitglied-
staaten in diesem Bereich sinnvoll und richtig. Die An-
forderungen an gute Gesetzgebung inklusive Folgenab-
schätzung und umfassender Begründung dürfen dabei
aber nicht vernachlässigt werden. Schließlich sollten erst
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7005
(A) (C)
(D)(B)
einmal die Umsetzung der bereits beschlossenen Euro-
päischen Beweisanordnung – die Frist endet im Januar
2011 – und die Erfahrungen mit diesem Instrument ab-
gewartet werden, bevor ein neues, wesentlich weiterrei-
chendes Instrument geschaffen wird.
Aus allen diesen Gründen wenden wir – alle Fraktio-
nen des Deutschen Bundestages – uns gegen diese Initia-
tive einiger Mitgliedstaaten über die Europäische Ermitt-
lungsanordnung in Strafsachen. Wir fordern die
Bundesregierung auf, im Sinne dieser Stellungnahme an
den weiteren Verhandlungen teilzunehmen und die Auf-
fassung des Bundestages zu achten.
Zum Schluss möchte ich allen Berichterstattern für
die konstruktive Zusammenarbeit danken. Ich möchte
aber auch noch einmal darauf hinweisen, dass ich es ge-
rade in europäischen Angelegenheiten für sinnvoll er-
achte, dass bei einem interfraktionellen Antrag des Deut-
schen Bundestages auch alle im Bundestag vertretenen
Fraktionen beteiligt werden, wenn sie sich denn auf eine
Position einigen können.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Kirgisistan unter-
stützen – Den Frieden sichern (Zusatztagesord-
nungspunkt 7)
Manfred Grund (CDU/CSU): Seit seiner Unabhän-
gigkeit im Jahr 1991 haben sich in Kirgistan, mehr als in
anderen Ländern der Region, immer wieder demokrati-
sche Bestrebungen behauptet. Aber die Folge war auch
eine Instabilität, die die Entwicklung des Landes ge-
hemmt hat. Autoritäre Tendenzen wurden wiederholt
durch politische Umstürze beendet, auf die demokrati-
sche Reformen folgten. Aber die Begleiterscheinung
dieser Entwicklungen liegt in der fortdauernden Schwä-
che der staatlichen Institutionen. Korruption und organi-
sierte Kriminalität konnten sich entfalten, die wirtschaft-
liche Entwicklung war enttäuschend. Viele Kirgisen sind
arm geblieben. Mit der Frustration der Bevölkerung ha-
ben die ethnischen Spannungen zugenommen.
Nach dem Sturz Präsident Bakijews im April hat die
neue Regierung unter Übergangspräsidentin Otunbajewa
eine ambitionierte Verfassungsreform begonnen, die ein
parlamentarisches Regierungssystem etablieren soll. In
dem Referendum vom 27. Juni konnte sie sich dafür eine
breite Unterstützung der Bevölkerung sichern. Die Re-
gierung konnte sich so eine demokratische Legitimation
verschaffen. Die Tatsache, dass eine erneute Kandidatur
von Rosa Otunbajewa bei den für Dezember 2011 ange-
setzten Wahlen ausgeschlossen wurde, war ein wichtiger
Schritt zur Vertrauensbildung. Die vergleichsweise lange
Zeit ihrer Übergangspräsidentschaft ist angesichts der
politischen Instabilität im Lande gerechtfertigt. Die für
das kommende Wochenende angesetzten Parlaments-
wahlen sollen bereits zuvor für eine demokratisch ge-
wählte Regierung sorgen.
Dadurch allein wird sich jedoch die Schwäche der
Regierungsinstitutionen nicht überwinden lassen.
Schwach ist die Kontrolle der Regierung insbesondere
über den Süden des Landes, wo Anhänger Bakijews
nach wie vor über Rückhalt verfügen, wo das organi-
sierte Verbrechen – vor allem durch den Drogenhandel –
stark ausgeprägt ist und wo das Zusammenleben zwi-
schen Kirgisen und Usbeken spannungsvoll ist. Wie es-
kalationsträchtig die Lage ist, zeigte sich an den massi-
ven Ausschreitungen gegen die usbekische Minderheit
in Osch und anderen Orten des Südens, die im Juni zu
Hunderten von Toten und Zehntausenden von Flüchtlin-
gen führten. Wie ohnmächtig die Regierung diesen Ge-
waltausbrüchen gegenüberstand, zeigten ihre Bitten um
internationale militärische Unterstützung, vor allem an
die Adresse Russlands.
Dieser Mangel an Autorität und Durchsetzungskraft
der staatlichen Institutionen stellt das größte Risiko für
den politischen Fortschritt in Kirgistan dar. Deshalb
kommt es jetzt in erster Linie auf die Stabilisierung und
Konsolidierung der Staatsmacht sowie auf den Ausbau
und die Stärkung ihrer Organe an. Gelingt dies nicht, be-
steht die sehr reale Gefahr, dass über kurz oder lang die
Vertreter korrupter und krimineller Interessen die Macht
übernehmen oder eine andauernde politische Instabilität
Kirgisistan zum Einfallstor für islamistische Kämpfer
macht.
Kirgistan wird internationale Unterstützung brauchen.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre eine deutli-
che Verbesserung der regionalen Kooperation zwischen
den Staaten Zentralasiens, die unter anderem zum Abbau
ethnischer Spannungen zwischen den Volksgruppen bei-
tragen könnte. Vor allem von Kasachstan sind bislang
Initiativen für eine Intensivierung der regionalen Koope-
ration ausgegangen. Jedoch versuchen die Staaten Zen-
tralasiens nach wie vor eher, sich gegenüber negativen
Entwicklungen bei ihren Nachbarn abzuschotten, als die
Probleme gemeinsam zu lösen.
Kirgistan wird neben zivilen Hilfen auch polizeiliche
und gegebenenfalls militärische Unterstützung zur Stabi-
lisierung der Lage brauchen. Der kasachische Vorsitz ist
dabei in der Verantwortung, die Hilfen der OSZE zu ko-
ordinieren. Wenn es zur Entsendung einer Friedens-
truppe kommt, müsste sie durch den der Sicherheitsrat
der VN legitimiert werden. Doch je kritischer sich die
Lage entwickeln mag, desto mehr würde es darauf an-
kommen, dass eine Friedensmission entsprechend robust
ist. Dafür müsste ein solcher Einsatz von einem Mit-
gliedsland getragen und geführt werden, das die erfor-
derlichen Fähigkeiten zur Verfügung stellen kann. Das
könnte nach Lage der Dinge nur Russland sein.
Ein konzertiertes Vorgehen der internationalen Ge-
meinschaft ist in dieser Situation besonders wichtig. Die
Wirksamkeit unserer Strategie wird entscheidend von ei-
ner engen Abstimmung mit Russland abhängen. Je mehr
die USA und die EU, Russland – und auch China – mit
unterschiedlichen Ansätzen gegeneinander konkurrie-
ren, desto stärker werden wir unsere konstruktiven Ein-
flussmöglichkeiten auch gegenseitig beschneiden.
7006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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In Zentralasien verfügt Russland aus geografischen
wie historischen Gründen über politische Möglichkeiten,
die die EU nicht besitzt. Weder die Europäer noch die
Amerikaner werden in Zentralasien entschieden und mit
der notwendigen Nachhaltigkeit als Ordnungsmacht auf-
treten können, wenn Krisen in der Region ein Eingreifen
internationaler Partner erfordern. Russland hat eine
Schlüsselrolle. Nur im engen Zusammenwirken mit
Russland werden wir – nicht nur in der Theorie, sondern
auch in der Praxis – einen wichtigen konstruktiven Bei-
trag zur Stabilisierung Kirgistans leisten können.
Franz Thönnes (SPD): Am 10. Oktober 2010 wird
in Kirgisistan gewählt. Damit steht dieses Land nach ei-
ner spannungsgeladenen Entwicklung vor einer erneuten
Bewährungsprobe. Denn nach dem Sturz des autokrati-
schen Präsidenten Kurmanbek Bakijew im April dieses
Jahres durch die Opposition, wurde eine Übergangsre-
gierung mit Rosa Otunbajewa an der Spitze gebildet, die
das Parlament für aufgelöst erklärte und baldige Neu-
wahlen versprach.
Im Juni 2010 erschütterten schwere ethnische Unru-
hen zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit
den armen Süden des Landes. Es starben Hunderte Men-
schen, überwiegend Usbeken, und Tausende mussten
fliehen.
Berichte informierten uns darüber, dass es durch die
Unruhen des Junis 2010 in Dschalalabad – der Heimatre-
gion des gestürzten Präsidenten Bakijew, über 370 Tote
und gut 2 300 Verletzte gegeben habe. 30 000 Menschen
ergriffen die Flucht. Für die Ursachen des Konflikts gibt
es die unterschiedlichsten Mutmaßungen. So werden
Anstachelungen durch entmachtete Regierungsvertreter
ebenso vermutet wie die Planung einer gezielten Vertrei-
bung der wohlhabenderen usbekischen Minderheit durch
die land- und arbeitslose kirgisische jüngere Generation.
Davon blieb natürlich auch die Übergangsregierung
nicht verschont. Kritiker warfen ihr vor, nicht ausrei-
chend für Stabilität gesorgt zu haben.
Am 27. Juni 2010 haben bei dem erfolgreich und rela-
tiv friedlich verlaufenden Verfassungsreferendum über
90 Prozent der Wähler, bei einer Wahlbeteiligung von
rund 70 Prozent, für den Verfassungstext gestimmt. Die-
ser sieht die Stärkung der parlamentarischen Kontroll-
rechte und die Beschränkung der Befugnisse des Präsi-
denten vor. Rosa Otunbajewa wurde mit diesem
Referendum als Präsidentin bis Dezember 2011 bestä-
tigt. Damit hat die Übergangsregierung eine gute Grund-
lage, einen glaubwürdigen Prozess der Reformen und
der Demokratisierung anzustoßen.
Aber die politische Lage in Kirgisistan bleibt kritisch.
Im Süden gibt es weiterhin Spannungen zwischen Kirgi-
sen und Usbeken. Die genauen Hintergründe der Unru-
hen zu ermitteln, insbesondere ob kirgisische Politiker
und Ordnungskräfte darin verwickelt waren, bleibt
schwierig. Hinzu kommt das große Wirtschaftsgefälle
zwischen Norden und Süden und das Ausmaß organi-
sierter Kriminalität im Süden Kirgisistans. Es wird ange-
zweifelt, ob und inwieweit die neue Regierung die Kon-
trolle über alle Sicherheitskräfte im Land hat. Auch war
sie bislang nicht in der Lage, die vollständige Sicherheit
im Süden zu erreichen. Für die Tage um die Wahlen he-
rum kann nicht ausgeschlossen werden, dass es erneut zu
einer Verschlechterung kommt. Bislang ist dies den Be-
richten nach aber Gott sei Dank noch nicht so.
Es ist gut, dass die Übergangsregierung ihre Zusage
eingehalten hat, dass nun am kommenden Sonntag Neu-
wahlen des kirgisischen Parlamentes stattfinden. Hoffen
wir, dass diese Wahlen ungestört vonstattengehen und
auch in der Zeit eine ruhige Atmosphäre bestehen wird.
Gleichwohl gilt – egal welches Resultat das Wahler-
gebnis erbringt –, dass die Staatengemeinschaft, die Eu-
ropäische Union und die Regierung der Bundesrepublik
Deutschland gefordert sind, Aktivitäten und Maßnah-
men zu ergreifen, die zur Stabilität Kirgisistans beitra-
gen. Bisher eingeleitete Unterstützungen sind da sehr
wohl noch ausbaufähig. Ja, ausbaunotwendig.
Zwar ist umfangreiche humanitäre und finanzielle
Hilfe geleistet worden, die Bundesregierung zum Bei-
spiel hat 500 000 Euro für die Versorgung der Flücht-
linge zur Verfügung gestellt und die Zentralasienbeauf-
tragte in die Region entsandt. Insgesamt aber müssen im
Rahmen eines langfristigen Prozesses gemeinsame Ini-
tiativen ergriffen werden, um neue Eskalationen der Ge-
walt zu verhindern.
So gehört natürlich die Situation in Kirgisistan auf die
Tagesordnung der Vereinten Nationen. Stabilität und Si-
cherheit in diesem Land bedürfen mit geeigneten Maß-
nahmen zur Friedenssicherung dem verstärkten Engage-
ment der Staatengemeinschaft. Dabei tragen auch die
Länder der Region im Sinne einer stabilisierenden Mit-
wirkung eine wesentliche Mitverantwortung. Und es ist
unumstritten, dass eine zu entsendende OSZE-Mission
abzusichern ist.
Die EU ist selbstverständlich aufgefordert, ihrer Ver-
antwortung im Sinne der eigenen EU-Zentralasienstrate-
gie gerecht zu werden. Zur Aufarbeitung der Unruhen
im Juni und zur Gewährleistung der Stabilität wird es
auch notwendig sein, eine internationale Untersuchung
durch die Beauftragten für Menschrechte bzw. nationale
Minderheiten der Vereinten Nationen oder der OSZE
einzuleiten.
Wir alle wissen, dass nach derartigen Entwicklungen,
wie sie die Menschen und die Gesellschaft in Kirgisistan
erfahren haben und wie wir sie von außen beobachten
konnten, eine lange Wegstrecke eines Prozesses des Dis-
kurses und der Versöhnung bis zu einem neuen, bis zu
einem friedlichen Miteinander vor uns liegt. Dafür ist
natürlich ein politischer Prozess erforderlich, der alle an
den Konflikten beteiligten Parteien, die friedens- und
stabilitätswillig sind, mit einbezieht. Die Vereinten Na-
tionen, die Europäische Union und die Bundesrepublik
Deutschland haben das Know-how für eine konstruktive
Begleitung und Absicherung dieser Wegstrecke. Sie soll-
ten dies anbieten und sich dementsprechend einbringen.
Auch ist der Forderung zuzustimmen, dass sowohl
OSZE wie auch EU helfen müssen bei einer Politik der
Good Governance und der Herstellung von Rechtsstaat-
lichkeit. Dem Recht des Stärkeren gilt es die Stärke des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7007
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Rechts entgegenzusetzen. Dazu ist einerseits eine refor-
mierte und durchsetzungsfähige Polizei erforderlich wie
ebenso auch der organisierte und wirkungsvolle Schutz
der Rechte von Minderheiten.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht
nun in den Ausschuss. Die SPD-Bundestagfraktion sieht
in vielen Bereichen eine Übereinstimmung mit den darin
wiedergegebenen Inhalten und wird sich mit ihren Posi-
tionen an den Beratungen im Ausschuss mit dem Ziel, zu
einer breiten Übereinstimmung zu kommen, beteiligen.
Noch viel wichtiger aber sind jetzt bereits konkrete ver-
stärkte internationale Aktivitäten der Bundesregierung
für Stabilität und Sicherheit in der Region, die über das
bisherige Maß hinausgehen.
Kirgisistan kann aber nur dann eine demokratische
und in Frieden lebende Republik werden, in der vor al-
lem die Menschen im Süden eine bessere Zukunft haben
und in der die usbekische Minderheit in Sicherheit leben
kann, wenn mit der Kraft der ganzen internationaler So-
lidarität hieran verantwortungsvoll gearbeitet und damit
auch die Stabilität in der ganzen Region gewährleistet
wird.
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Meiner Rede
möchte ich voranstellen, dass die FDP-Bundestagsfrak-
tion den Grundgedanken des Antrags der Grünen-Frak-
tion teilt, einen für die noch sehr junge und gebrechliche
kirgisische Demokratie unterstützenden Antrag zu ver-
abschieden. Vieles, was in dem Antrag steht, können wir
unterschreiben. Einige Passagen erfordern Redebedarf,
gleichwohl bietet der Ausschuss noch Gelegenheit dazu.
Kirgistan benötigt in seiner aktuellen Situation Unter-
stützung, aber man sollte ebenfalls zur Kenntnis neh-
men, dass das jüngst abgehaltene Referendum durchaus
als ein Erfolg zu werten ist. Zwar ist die Lage noch nicht
im ganzen Land stabil, aber die Verfassung schafft mehr
Demokratie als im jeden anderen Land der Region, wenn
auch ihre Implementierung mit schmerzhaften und wi-
dersprüchlichen Prozessen verbunden ist.
Das Land hat in den letzten Monaten eine Phase in-
tensiver politischer Auseinandersetzung und Debatten
erlebt. Es wurde dabei – neben der Personalisierung –
auch über politische Konzepte und Alternativen disku-
tiert. Der Ausgang der Wahlen am Sonntag ist ungewiss.
Und – wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben – schon
dies ist eine für diese Region ungewöhnlich erfreuliche
Situation.
Eine ebenfalls positive Nachricht – lassen Sie mich
dies noch hinzufügen – ist die Verhaftung zweier Ver-
dächtiger, die im Zusammenhang mit der brutalen Er-
mordung des kirgisischen Journalisten Gennadi Pawliuk
stehen sollen.
In Kirgistan wird der Versuch einer parlamentari-
schen Demokratie gemacht – zum ersten Mal in dieser
Region in dieser Konsequenz. Es gibt eine Chance, dass
Kirgistan beweisen kann, dass präsidentielle Systeme in
autoritärer Ausprägung nicht die einzige Option für die
Länder Zentralasiens sind und dass mehr Demokratie
möglich ist. Letztlich können ethnische, religiöse und
andere Spannungen, welche die Region immer wieder
erschüttern, nur durch Demokratie und Interessenaus-
gleich entschärft werden. Dies liegt ebenfalls im Inte-
resse Deutschlands und der Europäischen Union. Jedoch
steht der Demokratisierungsprozess sowie der Aufbau
funktionierender Institutionen in Kirgistan erst am An-
fang.
Deshalb sollte Deutschland gemeinsam mit den euro-
päischen Partnern alles Mögliche tun, um das neu ge-
wählte Parlament und die neue Regierung zu unterstüt-
zen. Die Erfahrung hat leider gezeigt, dass dazu vor
allem Geduld erforderlich ist. Für eine nachhaltige Sta-
bilisierung des Landes müssen alle Ethnien in den Pro-
zess der Nationswerdung einbezogen werden. Wir müs-
sen gleichwohl darauf vorbereitet sein, dass nach den
Wahlen abermals unruhigere Zeiten anbrechen können.
Daraus ergibt sich für mich auch die Notwendigkeit die-
ses Antrags. Und daraus ergibt sich auch die Wichtigkeit
einer erfolgreichen Umsetzung der Zentralasienstrategie
der Europäischen Union.
Das Ziel der EU sollte es vor allem sein, in den zen-
tralasiatischen Staaten Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus
und ein friedliches Miteinander zu fördern. Es ist noch
nicht lange her, dass Kirgistan am Rande eines Staatszer-
falls stand. Die schrecklichen Nachrichten, die uns
jüngst in diesem Jahr aus Kirgistan erreichten, belegen
auf bedrückende Weise, wie schnell die Situation in die-
sem Land blutig eskalieren kann. Bis heute sind die ge-
nauen Hintergründe der Juni-Unruhen nicht geklärt.
Zahlreiche Indizien sprechen für eine Verwicklung der
organisierten Kriminalität in die damaligen, pogromähn-
lichen Zustände.
Glücklicherweise ist es Rosa Otunbajewa und ihrer
Übergangsregierung zumindest teilweise gelungen das
damalige Chaos zu begrenzen und nicht wieder aufflam-
men zu lassen. Jedoch muss es das Ziel sein, dass die
neue Regierung die Kontrolle über das gesamte Land,
also auch über den Süden, und den kompletten Verwal-
tungsapparat gewinnt.
Nun steht Europa gegenüber Kirgistan in der Verant-
wortung zu beweisen, dass es Zentralasien nicht ledig-
lich aus energiepolitischer Perspektive sieht. Es muss al-
les unternommen werden, dass der eingeschlagene,
kirgisische Weg in Richtung Stabilität und Demokratie
fortgesetzt werden kann. Hierfür bedarf es eines kohä-
renten und entschlossenen Auftretens der EU, damit sich
nicht nur in Kirgistan, sondern mittelfristig in der ge-
samten Region stabile und gerechte Gesellschaften ent-
wickeln können.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): In Zentralasien ver-
sinkt ein Staat im Chaos, und die Welt ist ratlos. Wir alle
wissen, dass sich die Minderheitenkonflikte in Kirgisien
schnell zu einem Flächenbrand ausweiten können. Vie-
len ist auch klar, dass wir es in Zentralasien längst mit ei-
nem Flächenbrand zu tun haben. In dessen Zentrum und
dessen Auslöser ist der NATO-Krieg in Afghanistan. Die
wenigsten aber wollen die Destabilisierung, die vom Af-
ghanistankrieg auch für Usbekistan und Kirgisien aus-
geht, wahrhaben. Die Destabilisierung hingegen, die für
7008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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Pakistan ausgeht, ist mittlerweile unumstritten, wie in
der Rede von der „AfPak-Region“ deutlich wird. Die
beiden offensichtlichen und weithin bekannten Ursachen
für diese Destabilisierung sind die Tatsache, dass Pakis-
tan als Rückzugsgebiet islamistischer Kämpfer und als
Hauptversorgungsroute der US-amerikanischen Streit-
kräfte dient. Die völkerrechtswidrigen Angriffe der US-
Armee auf pakistanischem Boden mit unbemannten
Drohnen und zuletzt auch bemannten Waffensystemen
haben mittlerweile dazu geführt, dass Pakistan seine
Grenzen für die NATO-Transporte geschlossen hat. Die
wartenden Lkw wurden von militanten Islamisten mehr-
fach angegriffen. Fast kann man von einem gemeinsa-
men Vorgehen der pakistanischen Sicherheitskräfte mit
den Guerilla-Kämpfern ausgehen. Die Islamisten finden
breiten Rückhalt in der Bevölkerung und auch in Teilen
der Armee, weil Pakistan und die pakistanische Regie-
rung von der NATO in einen Krieg gezwungen werden,
den Armee und Bevölkerung nicht unterstützen.
Dasselbe ist in Kirgisien und Usbekistan der Fall.
Beide sind Rückzugs- und Rekrutierungsbasis für die
Gegner der NATO in Afghanistan, und über beide wi-
ckelt die NATO ihren militärischen Nachschub ab, wäh-
rend gleichzeitig die Gegenseite ihre Drogen über diese
Länder exportiert und damit die organisierte Kriminalität
in diesen Ländern zu einer politischen Macht gedeihen
lässt. Da die NATO ihren fatalen Krieg in Afghanistan
aber auf Gedeih und Verderb fortsetzen will und dazu die
Militärbasen in Termez und Manas aufgrund der jüngs-
ten Spannungen mit und Angriffe in Pakistan noch
dringlicher denn je braucht, kann sie in der Region keine
deeskalierende, unabhängige Politik verfolgen. Die Staa-
ten, die am Afghanistan-Krieg beteiligt sind, müssen auf
Biegen und Brechen mit jeder Regierung in Taschkent
und Bischkek zusammenarbeiten, egal wie korrupt diese
ist, egal ob sie sich an die Macht geputscht hat und egal
wie sehr sie ihre eigene Bevölkerung unterdrückt.
Es ist ein Wunder, dass es in diesem Kontext zu Span-
nungen kommt. Die Herrschercliquen bereichern sich
maßlos an den Einnahmen, die sich aus der Kriegslogis-
tik ergeben, die Familie des gestürzten Präsidenten
Bakijew soll alleine 2009 Aufträge in Höhe von bis zu
80 Millionen US-Dollar für das Pentagon übernommen
haben. Gleichzeitig machte das organisierte Verbrechen
Millionengewinne mit dem Opiumhandel. Für die einfa-
che Bevölkerung hingegen gibt es keinerlei Perspekti-
ven, um der Armut zu entfliehen – außer der Emigration.
2008, vor Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanz-
krise, bestand ein Viertel des kirgisischen Nationalein-
kommens aus Auslandsüberweisungen junger Kirgisen,
die überwiegend in Russland und Kasachstan beschäftigt
waren. Die Arbeitsmigranten aus den zentralasiatischen
Staaten waren diejenigen, die als erste und am härtesten
von der Wirtschaftskrise betroffen waren. Millionen von
ihnen kehrten mit der Wirtschaftskrise zurück, ge-
schätzte 500 000 alleine nach Kirgisien. Beobachter
warnten bereits Ende 2009, dass die kirgisische Wirt-
schaft diesen überhaupt keine Perspektive biete. Da jeg-
liche politische Opposition unterdrückt werde, sei abzu-
sehen, dass sich viele Arbeitslose entweder den
militanten Islamisten oder der organisierten Kriminalität
anschließen würden und es bald zu Aufständen kommen
würde.
So ist es auch gekommen. Die Pogrome im Juni 2010
trafen vor allem die usbekische Minderheit und fanden
in unmittelbarer Nähe zur usbekischen Grenze statt.
Viele befürchteten damals, der unberechenbare usbeki-
sche Präsident Karimow könnte seine Truppen mobili-
sieren und über die Grenze marschieren lassen. Diese
Eskalationsstufe wurde zum Glück vorerst noch nicht er-
reicht. Die Frage ist aber: Wie hätte die Bundesregierung
sich hierzu verhalten können, die für ihren Einsatz der
Bundeswehr in Afghanistan auf den Stützpunkt im usbe-
kischen Termez angewiesen ist und hierfür selbst zu den
schwersten Menschenrechtsverletzungen der usbeki-
schen Regierung schweigt?
Eine Schockstarre hat die internationale Gemein-
schaft nach dem Umsturz im April in Kirgisien ergriffen,
und reflexartig – wie im vorliegenden Antrag der Grü-
nen – werden altbekannte Rezepte hervorgekramt: die
Forderungen nach internationalen Polizei- und Militär-
einsätzen. Doch bislang ist kein Land bereit, sich in die-
ser Form in Kirgisien zu engagieren. Weil alle wissen,
dass sie die Lage nicht in den Griff bekommen werden,
so lange die NATO in Afghanistan ist. Keiner will die
Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat: nicht die
NATO, nicht die USA, die sich mit Osterweiterung, Af-
ghanistankrieg und der sogenannten Tulpenrevolution
tief in den Einflussbereich Russlands eingegraben und
Zentralasien zum Austragungsort eines „neuen Kalten
Krieges“ mit Russland gemacht hat, und auch nicht
Russland selbst.
Doch die altbekannten Rezepte werden den Flächen-
brand nur beschleunigen. Die International Crisis Group,
die bereits der militärischen Zerschlagung Jugoslawiens
das Wort geredet hat, schreibt: „Unglücklicherweise
könnte es schon zu spät sein für alle Bemühungen, dem
gespaltenen Land die Einheit wiederzugeben. Zu weit
sind die Desintegrationsprozesse fortgeschritten, zu viel
ist geschehen. Deshalb muss der Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen eine Krisenintervention planen, sodass
die Staatengemeinschaft in der Lage ist, kurzfristig und
effizient auf alle Wellen der Gewalt und Flüchtlings-
ströme in der Region zu reagieren.“ Hier wird einer Tei-
lung Kirgisiens unter internationaler militärischer Bei-
hilfe entlang ethnischer Linien das Wort geredet. Ein
Experiment, welches die NATO mit tatkräftiger Unter-
stützung der Crisis Group bereits auf dem Balkan durch-
geführt hat und mit dem sie bereits dort grandios ge-
scheitert ist. In Zentralasien, wo instabile Regime eine
Vielzahl von Bevölkerungsgruppen umfassen, große
Rohstoffvorkommen existieren und das durch die NATO
zum Schauplatz eines „neuen Kalten Krieges“ mit Russ-
land gemacht wurde, ist das Eskalationspotenzial noch
ungleich höher.
Die verfahrene Lage in Kirgisien und Zentralasien
muss zu einem wirklichen Umdenken führen. Die NATO
muss ihre Niederlage in Afghanistan eingestehen und
das Konfliktpotenzial, das von diesem Krieg für die ge-
samte Region ausgeht, anerkennen. Der Abzug der
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NATO aus Afghanistan muss einhergehen mit der Fest-
stellung, dass dieses Militärbündnis seine Grenzen über-
schritten hat, im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefähr-
dung des Weltfriedens darstellt und deshalb aufgelöst
gehört. Der Westen muss aufhören, seinen Einflussbe-
reich auch militärisch immer weiter in den Osten auszu-
dehnen – dies überfordert auch seine Kräfte –, und muss
die legitimen Interessen Russlands anerkennen. Grund-
lage hierfür kann der von Russland vorgeschlagene euro-
atlantische Sicherheitsvertrag sein. Nur wenn die militä-
rische Konfrontation beendet wird, kann kooperativ die
wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung Zen-
tralasiens unterstützt werden und sich diese Region sta-
bilisieren.
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Kirgisistan steht kurz vor dem Staatszerfall:
ethnische Spannungen, eine handlungsunfähige Regie-
rung und eine zusammengebrochene Wirtschaft – dies
sind die klassischen Symptome eines versagenden Staa-
tes. Das Land wird durch einen ethnischen und sozialen
Konflikt förmlich zerrissen. Eine machtlose Präsidentin
ohne nennenswerte Unterstützung verliert zunehmend
die Kontrolle über den Süden des Landes. Die Verliere-
rin in diesem Konflikt ist die usbekische Minderheit, die
zunehmend marginalisiert und verfolgt wird. Im Juni
dieses Jahres erschütterten Berichte über Hunderte Tote
und Tausende Flüchtlinge die Weltöffentlichkeit.
Wie kommt es zu dieser Verschärfung des Konflikts?
Kirgisistan ist eines der ärmsten Länder der Erde. Ein
Drittel der 5,3 Millionen Einwohner Kirgisistans lebt un-
ter der Armutsgrenze. Eine Verdopplung der Strompreise
zu Beginn des Jahres und eine extrem hohe Arbeitslosig-
keit führte im April dieses Jahres zur Erhebung der Be-
völkerung gegen den autokratisch regierenden Präsiden-
ten Kurmanbek Bakijew. Am 7. April floh Bakijew
zunächst in den Süden des Landes. Dort genießt er noch
immer einen großen Rückhalt in der Bevölkerung.
Schließlich verließ Bakijew das Land, nicht ohne seinen
Anspruch auf das Amt des Präsidenten nochmals zu be-
kräftigen.
Die im April gebildete Übergangsregierung ist sehr
heterogen und damit konfliktanfällig. Präsidentin
Otunbajewa ist es zudem nicht gelungen, ehemalige Un-
terstützer des gestürzten Präsidenten Bakijew mit in die
Regierung zu holen. Dies wäre notwendig gewesen, um
die Macht im Süden des Landes zu etablieren. Dort lebt
der Großteil der usbekischen Minderheit, die etwa
15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Im Süden
ist ihr Anteil jedoch weitaus höher. Die usbekische Min-
derheit ist wirtschaftlich besser gestellt als die Mehrheit
der Bevölkerung, politisch ist sie jedoch schwach. Füh-
rungspositionen in Verwaltung, Politik und Wirtschaft
sind hauptsächlich von ethnischen Kirgisinnen und Kir-
gisen besetzt. Politische und soziale Spannungen sind
die Folge. Diesen Konflikt machten sich Bakijew und
sein Umfeld im Juni zu nutze, um die Übergangsregie-
rung durch gezielte Aufwiegelung der ethnischen Grup-
pen schachmatt zu setzen.
Die UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay
berichtete, dass die ersten Angriffe abgestimmt, gezielt
und gut geplant stattfanden. Es ist offensichtlich, dass
vorhandene ethnische Spannungen systematisch poli-
tisch instrumentalisiert wurden. Die Folge war, dass der
Süden Kirgisistans im Chaos versank und die Über-
gangsregierung nicht in der Lage war, die usbekische
Minderheit vor Angriffen zu schützen. Weit über 1 000
Tote, eine Massenflucht und die Zerstörung ganzer
Stadtviertel waren zu beklagen. Rosa Otunbajewa rief
Russland und die USA um militärische Unterstützung
an. Doch niemand wollte sich in den Konflikt hineinzie-
hen lassen.
Obwohl das Referendum, bei dem am 27. Juni über
die neue demokratische Verfassung und über die Präsi-
dentschaft Otunbajewas abgestimmt wurde, ruhig ver-
lief, konnte die Übergangsregierung bis heute ihre
Macht im Süden des Landes nicht konsolidieren. So
scheiterte etwa die Absetzung des nationalistischen und
Bakijew-treuen Bürgermeisters von Osch am Wider-
stand der Kirgisinnen und Kirgisen im Süden. Die usbe-
kische Minderheit lebt in ihren zum größten Teil zerstör-
ten Wohnvierteln in Angst vor einem erneuten Übergriff
und ist politisch kaltgestellt. Human Rights Watch infor-
mierte in einem Bericht vom 18. August über die ethni-
sche Gewalt in Kirgisistan. Die mehrheitlich kirgisi-
schen Sicherheitskräfte haben sich danach an den
Übergriffen auf Usbekinnen und Usbeken aktiv beteiligt.
Auch vormals gemäßigte Politikerinnen und Politiker
nehmen kaum noch Partei für die usbekische Minder-
heit, Medien verbreiten nationalistische, antiusbekische
Parolen.
Am 22. Juli beschloss die OSZE, 52 Polizistinnen und
Polizisten in den Süden Kirgisistans zu entsenden. Deren
Präsenz sollte Übergriffe auf die usbekische Minderheit
unterbinden. Dies lehnte Rosa Otunbajewa ab, da sie für
die Sicherheit der Polizistinnen und Polizisten nicht ga-
rantieren konnte. Es hatte unmissverständliche Drohun-
gen gegen ein OSZE-Polizeikontingent aus dem Süden
des Landes gegeben – ein weiteres Zeichen der Schwä-
che der Zentralregierung. Der Konflikt zwischen dem
Norden und dem Süden des Landes bleibt bestehen, die
usbekische Minderheit lebt weiter in Angst und eine Es-
kalation der Lage scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Am kommenden Sonntag stehen Parlamentswahlen
bevor. Der Wahlkampf trägt seit Wochen zur Eskalation
der Lage bei. Es ist mehr als fraglich, ob diese Wahlen
eine stabile Regierung hervorbringen, da die Wahlbe-
rechtigten unter 29 Parteien wählen können, von denen
keine ihre Vorstellungen von der wirtschaftlichen und
politischen Zukunft des Landes klar und deutlich formu-
liert. Weniger politische Programme als der Machtan-
spruch konkurrierender Clans prägen die Parteienland-
schaft. Die usbekische Minderheit fühlt sich von keiner
Partei vertreten.
Viele Beobachter erwarten neuerliche Gewaltausbrü-
che. Das Fergana-Tal, willkürlich aufgeteilt zwischen
drei Staaten, ist der geografische Krisenherd. Nicht nur
der Staat Kirgisistan, sondern die ganze Region ist be-
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droht. Autoritäre Staaten mit ethnischen und sozialen
Konflikten, latente Spannungen zwischen ihnen und die
Bedrohung durch Drogenhandel und den terroristischen
Islamismus aus den südlichen Nachbarn Afghanistan
und Pakistan machen diesen Teil Zentralasiens zu einer
Gefahr für sich selbst und uns alle.
Es ist unerlässlich, besonders Kirgisistan bei seinem
wirtschaftlichen Aufbau zu unterstützen, da nur so den
Nationalisten der Boden entzogen werden kann. Auslän-
dische Polizistinnen und Polizisten können das Problem
nicht lösen. Es bedarf eines komplexen Instrumentari-
ums der Krisenprävention und der Friedenssicherung.
Dazu sind nur die Vereinten Nationen in der Lage. Des-
halb ist die Befassung des UN-Sicherheitsrates mit der
Situation in Kirgisistan notwendig. Welche Maßnahmen
sinnvoll und angemessen sind, bedarf einer genaueren
Analyse. Auf deren Grundlage muss über ein Paket aus
wirtschaftlicher Hilfe, politischen Verhandlungen und
der Herstellung und Wahrung von Sicherheit für die
Menschen nachgedacht werden. Dessen Umsetzung ist
Aufgabe der Vereinten Nationen. Die maßgebliche Be-
teiligung der Europäischen Union ist dabei sicher unum-
gänglich. Vor allem aber liegt sie in unserem eigenen In-
teresse. Kirgisistan braucht die Hilfe der internationalen
Gemeinschaft jetzt und nicht erst dann, wenn der Kon-
flikt eskaliert ist.
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7010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
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ln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
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65. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9